Wohnkultur im Alter: Eine qualitative Studie zum Übergang ins Altenheim 9783839450154

Wie gestalten Menschen im hohen Lebensalter den Übergang ins Altenheim? Welche Rolle spielt dabei das körperlich-leiblic

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German Pages 204 Year 2020

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Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Prolog
1. Einführung »Du wirst doch nicht ins Altersheim umziehen!«
2. Methodisches Vorgehen: Die Grounded Theory als Forschungsstil
3. Zur Interdependenz von Körpern, Dingen und Räumen im Übergang
4. Der Habitus als konstituierendes Element räumlicher Privatheit
5. Zur Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation im Übergang
6. Schlussbetrachtungen und Ausblick
Epilog
Ergänzungen
Literaturangaben
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Wohnkultur im Alter: Eine qualitative Studie zum Übergang ins Altenheim
 9783839450154

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Nicole Zielke Wohnkultur im Alter

ALTER � KULTUR � GESELLSCHAFT � Band 2

NICOLE ZIELKE (Dr. phil.) geb. 1984, ist Soziologin und arbeitet als freie Dramaturgin und Projektmanagerin, u.a. in der Theaterwerkstatt Bethel d. v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Als freie Dozentin gibt sie Seminare für Qualitative Forschung. Ihre Arbeits- und Forschungsschwer­ punkte sind Ästhetische Praxis und Inklusion, Raumtheorie, Übergangs­ forschung und Qualitative Methoden. [email protected]

Nicole Zielke Wohnkultur im Alter Eine qualitative Studie zum Übergang ins Altenheim

Die vorliegende Dissertation wurde 2018 von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte, Bilder und Illustrati­ onen ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: © Sonja Mense, 2019 Enniger Innenlayout: © Sonja Mense, 2019 Enniger Lektorat: Mark König und Nicole Zielke, Bielefeld Illustrationen: © Solveig Lawitzke, S. 57, 89, 109, 116, 133, 144, 153, 2017 © Sonja Mense, S. 35-38, 73-76, 127-130, 163-168, 2017 Satz: Sonja Mense, beraten und unterstützt von Laura Fronterré, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5015-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5015-4 https://doi.org/10.14361/9783839450154 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zell­ stoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/ vorschau-download

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

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Prolog 9

1. Einführung »Du wirst doch nicht ins Altersheim umziehen!« 1.1 Zur Kontextualisierung von Übergängen im Alter 1.2 Zur Konzeptualisierung von Übergängen 1.3 Der wohn(raum)bezogene Übergang im Alter 1.4 Ziel der Untersuchung 1.5 Der Aufbau der Arbeit

11 16 20 24 32 33

2. Methodisches Vorgehen: Die Grounded Theory als Forschungsstil

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2.1 Zugang zum Feld & Portraits der Einrichtungen 2.2 Überlegungen zum Sample & zur Auswahl 2.3 Zur Gestaltung der Datenerhebung 2.3.1 Die Teilnehmende Beobachtung zur Annäherung 2.3.2 Das verstehende Interview 2.3.3 Die Materialität von Erzählungen 2.3.4 Die InterviewpartnerInnen 2.3.5 Fotografien & Illustrationen 2.4 Zur Gestaltung der Datenauswertung

43 48 49 50 52 57 59 64 66

3. Zur Interdependenz von Körpern, Dingen und Räumen im Übergang

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3.1 Erfahrungsdimension Körper 78 3.1.1 Den körperlichen Leib im Zusammenbruch erfahren 80 3.1.2 Das Älterwerden im körperlichen Leib erfahren 84 3.2 Erfahrungsdimension Dinge 89 3.2.1 Grenzen der Handhabbarkeit 91 3.2.2 Mobile Dinge 92 3.2.3 Assistive Dinge 94

3.3 Erfahrungsdimension Raum 3.3.1 Der Raum des Privaten als soziale Praxis 3.3.2 Institutionalisierte Räume Raum als Produkt und Produzent sozialer Praxis 3.3.3 Die räumliche Formation von Anwesenheit und Abwesenheit 3.3.4 »Die Möbel, die werden mir das Einleben schon erleichtern« – Zur materiellen Aneignung und Herstellung räumlicher Privatheit 3.4 Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse

109

4. Der Habitus als konstituierendes Element räumlicher Privatheit

131

4.1 Der klassenspezifische Habitus 4.2 Der geschlechtsspezifische Habitus 4.3 Der generationsspezifische Habitus 4.4 Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse

5. Zur Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation im Übergang 5.1 Die erzwungene Anpassung des Habitus 5.2 Der Habitus »verschluckt« den körperlichen Leib nicht!

6. Schlussbetrachtungen und Ausblick

97 101 104

110 122

135 140 146 149

153 156 158

169

Epilog

175

Ergänzungen

177

Literaturangaben 181

Danksagung

Zuallererst bedanke ich mich bei den Interviewpart­nerInnen1 für ihre Offen­heit, ihr Vertrauen und ihre Zeit. Ohne ihre Erfahrungen und Einblicke, die sie mir ge­währt haben, wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Bei den Mitarbeitenden der Alteneinrichtungen be­danke ich mich für die Zugangs­ möglichkeiten und die Organisation. Herzlichen Dank an Prof. Dr. Tomke König für ihre wissen­schaftliche Be­ gleitung, die wertvollen Gespräche und vor allen Dingen für ihre bestär­ kenden Rück­meldungen. Bei Prof. Dr. Britta Hoffarth bedanke ich mich dafür, dass sie im Endspurt meiner Arbeit auf den ›rollenden Zug‹ aufge­ sprungen ist und mich in meinen ›letzten Zügen‹ begleitet und unterstützt hat. Prof. Dr. Birgit Geissler hat mich ermutigt, diese Forschungsarbeit zu beginnen. Ich danke ihr für ihre wertvollen Ratschläge und sachkundigen Kommentare zu meinen ersten Textentwürfen. Ich bedanke mich bei den Kolleg*innen der Forschungs­werkstatt der Fakul­ tät der Erziehungswissenschaft und der Research Class der BGHS Bielefeld für die aus­giebigen Interpretationssitzungen, die Impulse, die Diskussionen und die zahlreichen Denkanstöße. Sonja Mense und Solveig Lawitzke danke ich für die wun­derbaren, einfühl­ samen und ›auf-den-Punkt-bringenden‹ Illustrationen. Ich empfand unsere Zusammenarbeit als äußerst bereichernd für mich und den Entwicklungs­ prozess der Forschungsarbeit. Ganz lieben Dank an Sonja Mense, dass sie darüber hinaus noch federführend am Layout und der Gestaltung der Pro­ mo­tionsarbeit mitgewirkt hat. Dadurch ist ein wunderbarer, spiel­e­r­ischer Dialog zwischen Form und Inhalt entstanden. Ich danke Dr. Vera Leberecht für ihre wertschätzende Schreibberatung, die mir vor allem in der Endphase geholfen hat, meine letzten Arbeitsschritte zu strukturieren. Maike Lippelt, Lara Pötzschke, Sabine Hoffmann und Katharina Woljohann danke ich für ihre inhaltliche Unterstützung, ihre Rückmeldungen und ihre Power!

1 Ich orientiere mich in meiner Arbeit an den Grundsätzen der geschlechtersensiblen Sprache. Hierzu weitere Erklärungen siehe Fußnote 7.

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Doreen und Torsten Göhre danke ich, dass sie neben ihrer beruflichen Tä­ tigkeit und ihrer Familie Zeit gefunden haben, meine Dissertation zu lesen und ihr mit ihren Korrekturen den ›letzten Schliff‹ zu geben. Danke auch an alle Freund*innen und Arbeitskolleg­*­innen, die mich wäh­ r­end der gesamten Zeit ermutigt und mir neben meiner Berufstätigkeit den Raum gegeben bzw. den Rücken freigehalten haben, um dieses Projekt verfolgen und vollenden zu können: Anja, Ann-Cathrin, Alexandra, André, Bernadette, Bettina, Christine, Katrin, Kristin, Nicole und Matthias. Ganz besonderer Dank gilt meiner Familie und meinem Freund Mark für ihre Impulse, Korrekturen, Beglei­tung, Geduld, Zuversicht, Liebe und zahl­ reichen, ermunternden Gespräche. Ich widme diese Arbeit meiner Großtante GISELA R. , deren letzte Lebens­ phase mich zu dieser Arbeit inspi­riert und durch einen langen, sehr er­ kennt­nis­reichen, bewegenden Lebensabschnitt geleitet hat.

Prolog

Meine Großtante GISELA R. wurde 2010 in ein Alten­heim in der Nähe ihrer Schwester überwiesen. Zuvor wohnte sie über 56 Jahre lang mit meinem Großonkel HERMANN R. in einer Dreizimmerwohnung in Osna­ brück. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 2005 blieb sie weiter­hin in der Wohnung. Jede Woche machte sie einen Aus­flug in den Zoo und ging ab und an in die Stadt. Nachdem sie nicht mehr so gut zu Fuß unterwegs sein konnte und auch nicht mehr so viel Elan zum Einkaufen hatte, organi­sierte sie sich einen Lebensmittellieferanten. Mit der Zeit ver­ließ sie nur noch selten ihre Wohnung. Sie beobach­tete von ihrem Fenster aus das Treiben auf der vielbe­fahrenen Hauptstraße und telefonierte täglich mit ihrer Schwester und Nichte. Als sie in ihrer Wohnung einen Zusammenbruch erlitt, wurde ihrer Schwester vom Kranken­hauspersonal geraten, meine Großtante in ei­ nem Altenheim in Betreuung zu geben. Nach Aussagen des Fachpersonals konnte sie sich nicht mehr allein versorgen und es bestand die Gefahr, dass sie wieder einen Zu­sammenbruch erleiden könnte. Sie zog in ein Altenheim­ zimmer mit Ausblick auf einen See in Wohnortnähe ihrer Schwester. Dort teilte sie sich ein Zimmer mit einer anderen Frau, was damals noch üblich war. Das Bett meiner Großtante stand direkt am Fenster, sodass sie immer hinausschauen konnte. Die Möbel wurden ihr vom Altenheim gestellt, da sie keine eigenen Möbel mitbrin­gen durfte. Ihre Wohnung mit diversen pri­ vaten Ein­richtungsgegenständen haben ihre Angehörigen ver­kauft. Auf die Frage, was sie ins Altenheim mitnehmen möchte, wählte sie einen Teddy, der immer auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer saß, ihre Ehrenurkunde zum 25 jährigen Dienstjubiläum aus dem Gästezimmer und ein gerahmtes Foto meines verstorbenen Großonkels, das immer auf ihrem Nachtschrank stand. Bei meinem Besuch bei ihr im Altenheim erzählte sie mir, dass sie während ihrer Schwangerschaft mit meinem Groß­onkel den Teddy kaufte. Leider verloren sie das Kind und seitdem saß der Teddy auf dem Sofa. Die Ehrenurkunde hing immer über der Tür des Gäste- bzw. Esszimmers, das einmal das Kinderzimmer sein sollte. Wenn ich mit meiner Familie zu Be­ such war und wir zusammen aßen, saß ich immer meiner Großtante gegen­ über und sah über ihrem Kopf die Urkunde hängen. Ich erinnere mich an endlose Gespräche zwischen meiner Großtante, meiner Großmutter und meiner Mutter über das Berufs­leben von GISELA R. Als es um ihren Umzug ging, war ich damals sehr beein­druckt von ihrer Klar- und Entschiedenheit. Sie wusste genau, was sie unbedingt bei sich haben wollte. Für mich wäre diese Frage so existentiell und bedeutsam, dass sie mich überfordert hätte. Ich hätte mich nicht so schnell entscheiden können. Ich erinnerte mich an meinen ersten Umzug zu Studienbeginn, als ich mein Elternhaus verließ, um in meine erste eigene kleine Dachwohnung

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zu ziehen. Die zahlreichen Umzugskartons, die gefüllt waren mit Büchern, CDs und Kleidungsstücken, sind mir in guter Erinnerung geblieben. Den vollbeladenen Umzugswagen, mit den zum Teil neugekauften Einrich­ tungsgegenständen, meinem Fernseher, meinem Computer und den vielen Dingen, die sich in meinem damaligen ›Jugendzimmer‹ befanden, von denen ich mich nicht hätte trennen können, sehe ich noch vor mir. Für mich war der Auszug ein spannender und herausfordernder Neuanfang und Start in den nächsten Lebensabschnitt. Bei meiner Großtante hatte ich das Gefühl, es wäre ein Abschied. Kurze Zeit nach meinem Besuch verstarb sie. Sie wohnte vier Wochen im Altenheim. Im nach­hinein stellte ich im Gespräch mit meiner Großmutter und meiner Mutter fest, dass meine Großtante schon viel früher begann, ihren Haushalt aufzulösen bzw. sich von persön­ lichen Gegenständen zu trennen. Schon bei unseren Besuchen in ihrer al­ ten Wohnung fragte sie uns immer, ob wir etwas mitnehmen möchten oder beschenkte uns. Ich hatte aber leider nicht mehr die Möglich­keit, meine Großtante zu fragen, wann für sie der Prozess der Auf­lösung, der Vorbe­ reitung und des ›Abschieds‹ begann. Ich konnte sie nicht mehr fragen, warum sie sich gerade für ihren Teddy, ihre Ehren­urkunde und das Foto entschied. Ich konnte sie nicht mehr fragen, warum sie nicht alles zurück­ ließ und wie sie es empfand, alles zurücklassen zu müssen. Ich konnte ihr auch nicht mehr die Frage stellen, wie sie sich in ihrem Zimmer fühlte. Die Frage Was bleibt? ließ mich nicht mehr los. Didier Eribon schrieb in seinem Buch »Gesellschaft als Urteil« in Anlehnung an Marcel Proust sehr treffend: »Der Tod eines anderen Men­schen bedeutet die Unmöglichkeit, Antwor­ ten auf Fragen zu bekommen, die man immer hätte stellen sollen, die man vor sich hergeschoben hat, weil sie nicht drin­gend genug erschienen und nun für immer unbeantwortet, eine Obsession bleiben.« (Eribon 2017: 25) Genau aus diesem Grund, weil ich meiner Großtante nicht mehr Fragen stellen konnte und von ihr keine Ant­worten mehr bekam, wollte ich erfah­ ren, wie andere Menschen diesen Prozess erlebten. Ich wollte heraus­fin­den, wel­che Entscheidungen die Personen zu tref­fen hatten und welche sie noch eigenständig treffen konn­ten. Ich wollte wissen, ob und welche Dinge sie mitnahmen und die Gründe dafür. Ich wollte einen Einblick be­kom­men, wie sie sich in ihrem neuen Zu­hause ein­richt­eten und ob das Zimmer zu ihrer neuen »Adresse«2 wurde. Mein Er­lebnis mit meiner Großtante GISELA R. gab den Anlass, diese oben genannten Fragen in meiner Unter­suchung durch mehrere Interviews und Teil­­nehmende Beobachtungen zu beantworten.

2 Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1254. Alle Namen und Angaben zu den befragten Personen sind anonymisiert. Nähere Erläuterungen zur Anonymisierung, siehe Kap. 2.4.

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1.  Einführung »Du wirst doch nicht ins Altersheim umziehen!«

» […] »Du wirst doch nicht ins Altersheim umziehen!« Sie allerdings ist entschlossen. Sie hat sich bereits unter den in Frage kommenden Heimen umgesehen, packt und vollzieht den Wechsel in die neue Umgebung. Hier im Seniorenstift nun fällt ihr auf: In gemütlicher Runde […] berichten Bewohner gelegentlich, was sie, als sie hier ins Stift übersiedelten, alles zurückgelassen haben: etwa das geräumige Haus, gebaut nach eigenen Wünschen und Plänen mit einem wundervoll gepflegten Garten. […] Und immer ist bei ihrem Erzählen ein feiner Schmerz zu spüren; denn hier im Stift ist das alles nun nicht mehr von Bedeutung: […] Der einzelne Heimbe­ wohner ist hier nur einer unter 199 anderen. Nur er, er als Person zählt. Sie beginnt zu verstehen. Solche oder ähnliche Bedenken mochten auch ihre Bekannten veranlasst haben, sie vor einem Umzug ins Heim zu warnen. Doch sie blieb damals bei ihrem Entschluss, und sie bereut diesen nicht. Sie weiß, sie hat letztlich nichts zu verlieren. Sie hat nur sich selbst. Sonst gibt es nichts, was sie herausheben würde aus dieser Schar alter, allmählich schwächer werdender Menschen. So stellt sich auch für sie die Frage: Wer bin ich nun hier in diesen andersartigen Lebenszusammenhängen? […] « ( Lehmann 2016: 48 f.,Hervorh. i. Orig.) Im Buch »Spiegelbild« der Autorin Else Lehmann wird der Entscheidung der Protagonistin, in ein Altenheim3 umzuziehen, mit Unverständnis und Bedenken begegnet. Doch für die Protagonistin stand der Entschluss fest. Sie hatte sich für eine Einrichtung entschieden und den Umzug vollzogen. In ihrer neuen Umgebung erfährt sie den Verlust an Kontinuität, Stabili­ tät und Anerkennung und die Reduktion von Individualität, die mit dem Übergang in eine völlig neue, fremde, institutionalisierte Umwelt spürbar werden. Obwohl sie nun die Bedenken ihrer Bekannten nachvollziehen kann, bereut sie ihre Entscheidung nicht. Denn sie weiß, dass sie »nichts zu verlieren« hat. 3  Ich  werde in den einführenden Kapiteln z. T. von ›Alten- und Pflegeheimen‹ schreiben, weil in den letzten Jahrzehnten die Angebote der Alten- und Pflegeheime immer mehr zu­sam­ mengewachsen sind, sodass das Drei-Schritte-Modell (autonomes Wohnen in der Alterswohnung – Umsiedlung ins Altersheim – Umzug ins Pflegeheim) zunehmend von mehrgliedrigen Alteneinrichtungen, als Kombination aus Alten- und Pflegeheimen, ab­gelöst wird. Mein Forschungsinteresse bezieht sich jedoch auf Altenheime, in denen hauptsächlich ältere Menschen betreut werden, bei denen in manchen Fällen keine Pflege­stufe, aber eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz vorliegt. Synonym verwende ich auch die Be­griffe ›Alteneinrichtung‹ und ›Seniorenheim‹ bzw. ›Seniorenzentrum‹.

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Wie die Autorin Else Lehmann beschreibt, ist es für viele Personen erstre­ benswert, sich bis zum Schluss allein bzw. mit externer Unterstützung versorgen zu können und in seinen › eigenen vier Wänden‹ zu sterben ( vgl. Hochheim/Otto 2011). Prospektiv wird der Übergang als Umbruch mit der gesamten bisherigen Lebensführung ( vgl. Seifert, A. 2018 ) oder als ein »kriti­sches Lebensereignis« ( Höblich/ Meuth 2013 : 293) verstanden, der zu einem umfassenden und nicht mehr zu kompensierenden Verlust von Lebensqualität führen kann.4 Für viele der betroffenen Personen kommt ein wohnraum­bezogener Übergang in ein Alten- und Pflegeheim erst dann in Frage, wenn es die materielle Not oder die körperliche Verfasstheit er­ zwingen (  vgl. Niejahr 2005 : 156). Denn in einer Lebensphase, in der sich der Aktionsradius zunehmend verkleinert, die Wohnung und das Quartier einer der wichtigsten und vertrautesten Lebensmittelpunkte sind, erfährt der Mensch, wie beim Erleben der Protagonistin sichtbar wird, eine Verän­ derung der »Person-Umwelt-Relation« (Wahl/Mollenkopf/Oswald 1999: 18), bei der die Identität und Kontinuität einer Biographie erst einmal aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Darüber hinaus fühlt sich die Prota­ gonistin in »Spiegelbild«, aufgrund der Institutionalisierung von Struktu­ ren und Organisationsformen und der »bürokratischen Überformung von Subjekten« ( vgl. Trescher 2012: 245 ), zunächst nur als »eine[r] unter 199 «. Ihre individuellen Handlungsmöglichkeiten bzw. Gestaltungsfreiheiten schei­nen begrenzt ( vgl. Prahl/Schroeter 1996: 176 ). Günter Burkart (2009) kommt deshalb zu der Schlussfolgerung, dass die Privatheit des bisherigen Wohnens in den ›eigenen vier Wänden‹ in den Einrichtungen der statio­ nären Altenhilfe aufgehoben wird. » […] insbesondere der unfreiwillige Umzug in ein Heim [kann] bei hoher Vulnerabilität5 zu Funktionseinbußen, geringer Lebenszufriedenheit, niedrigem Wohlbefinden und erhöhter Mortalität führen.« ( Oswald/Franke 2014: 206) Jedoch sind der Anpassung von Wohnformen sowie der häuslichen Pflege6 durch Angehörige oder die Finanzierung qualifizierten Personals 4 Siehe auch Forschungsprojekt »Zonen des Übergangs – Dimensionen und Deutungsmuster des Alterns« (Graefe/van Dyk/Lessenich 2012) bei jungen, älteren und alten Menschen. 5  Die Verletzlichkeit einer Person wird als Vulnerabilität bezeichnet. Der Begriff wird häufig in der Medizin verwendet, um die Anfälligkeit für gewisse Erkrankungen zu beschreiben. In dieser Arbeit wird der Begriff Vulnerabilität aber breiter verstanden. In Anlehnung an Gasser/Knöpfel/Seifert, K. verwende ich ihn, um nicht nur die körperliche und psychische Verletzlichkeit, sondern auch die ökonomische und soziale Verwundbarkeit einer Person zu benennen ( vgl.  Gasser/Knöpfel/Seifert, K. 2015: 44). 6 Der Trend geht, aufgrund der Lebensvorstellung eines Großteils der älteren Menschen wie auch bedingt durch die Kostenplanung, weg von vollstationären Einrichtungen hin zu am­bulanten, teilstationären oder mehrgliedrigen Versorgungsformen. Die 5. Generation an Senio­reneinrichtungen sind eigentlich keine Heime mehr, sondern andere Heime im Sinne von örtlichen Kompetenzzentren und kollektiven Versorgungseinrichtungen, die auf dem Leben in Privatheit, Gemeinschaft und Öffentlichkeit basieren. Innerhalb dieser Kompetenzzentren werden verschiedene Leistungsangebote medizinischer Art wie auch in Form von Spezialpflegen miteinander verknüpft und als zentrale Mosaiksteine im Sozialraum Beratungs- und Steuerungsaufgaben übernehmen ( vgl. Arend 2015: 183).

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Umzüge oder Übersiedlungen im ›hohen Alter‹ werden zwar unter der Übergangsperspektive (Oswald 2014, Karl 2013) betrachtet, bislang fehlen allerdings in der Lebenslauf- und Übergangsforschung Erkenntnisse dar­ über, wie sich dieser Übergang ins Altenheim unter der Perspektive von Räumlichkeit gestaltet. Oftmals verschließen Perspektiven wie die der Al­ ten- und Pflegeheime als »Abweichungs- oder Krisenheterotopien«9 oder »Totale Institutionen«10, in denen Alten- und Pflegeheime als geschlossene Machtbehälter, als Formen der Disziplinierung angesehen werden, den Blick auf die aktiven Entscheidungen, die Prozesse des Aushandelns und der (symbolischen) Aneignungsstrategien ( vgl. Hänel/Unterkircher 2010: 16),

  7 Ich orientiere mich in meiner Arbeit an den Grundsätzen der geschlechtersensiblen Sprache, die durch die Nennung und Sichtbarmachung der Geschlechter die Gleichwertigkeit aller Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht – ausdrückt (vgl. Gäckele 2017). Daher ver­wende ich das Gender­sternchen (*), wenn ich keine Kenntnis über die geschlechtliche Iden­tität habe bzw. in Kontexten, in denen ich die Geschlechtervielfalt sichtbar machen will. Bei den UntersuchungsteilnehmerInnen sind die geschlecht­lichen Identitäten bekannt, sodass ich das Binnen-I anwende.   8  Die Anzahl der in Heimen vollstationär versorgten Pflegebedürftigen ist unterdurchschnittlich um 2,5 % (19.000) gestiegen ( vgl. Statistisches Jahrbuch 2017).   9 Michel Foucault hat mit seinem Ansatz der Heterotopien auf die Disziplinierungs- und Institutionalisierungsmechanismen hingewiesen. Seiner Meinung nach werden Individuen, deren Verhalten abweichend im Verhältnis zur Norm ist, in Räume wie Erholungsheime, psychiatrische Kliniken und Altersheime ›gesteckt‹ ( vgl. Foucault 2005: 12). Gerade das Alter stellt in diesem Sinne eine Abweichung oder auch Krise in unserer Gesellschaft dar, »wo die Freiheit die Regel ist, der Müßiggang eine Art Abweichung ist« (Foucault 2002: 41). 10  »Totale Institutionen« sind dem Soziologen Erving Goffman zufolge »Wohn- und Arbeits­ stätten einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen, die für längere Zeit von der übrigen Ge­sellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen« (Goffman 1973: 11). Typisch für »Totale Institutionen« ist, dass sich alle Angelegenheiten des Lebens an ein und derselben Stelle abspielen, d. h. an dem festen Ort der Einrichtung. Somit werden nach Goffman bestimmte altersspezifische Wohnformen als »Totale Institutionen« bezeichnet, da sie sich zumeist auf einen Ort beschränken und zudem ein weiteres zentrales Merkmal aufweisen, nämlich die Vorgeplantheit der Tages­ struk­tur durch das Personal. Weiterhin besteht wenig Privatsphäre innerhalb dieser stark struk­tur­ierten Institutionen, da das Personal zu jeder Tages- und Nachtzeit die Zimmer betreten kann.

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Einführung

ab einem bestimmten Pflegebedarf Grenzen gesetzt, sodass der Übergang in ein Alten- und Pflegeheim unausweichlich wird und die betroffenen Personen, wie die Protagonistin und die Untersuchungsteilnehmer­Innen7, »nichts [mehr] zu verlieren« (d.Verf.) haben. Im Dezember 2015 waren knapp 2,9 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI ); die Mehrheit davon (64 %) waren Frauen. Fast drei Viertel (73 % bzw. 2,08  Millionen) der Pflegebedürf­ tigen wurden zu Hause versorgt. 27 % (783 000 Pflegebedürftige) wurden in Pflegeheimen vollstationär betreut. Obwohl der Anteil derjenigen, die Zuhause versorgt werden, größer ist, ist bei der stationären Versorgung insgesamt im Vergleich zu 2013 ein Wachstum zu verzeichnen.8 Auch in Zukunft gehen Bedarfsschätzungen von einer Zunahme zwischen 50 % und 60 % für den stationären Sektor aus ( vgl. Statistisches Jahrbuch 2017).

durch die die Akteur*innen11 die Möglichkeit haben, sich mit den »anders­ artigen Lebenszusammenhängen« zu arrangieren und ihre Räume des Privaten12 im Altenheim wieder aktiv herzustellen. Aus diesem Grund zeige ich in meiner Arbeit die Übergangser­ fahrungen und Sichtweisen der Einzelnen auf. Anhand der Analyse von verstehenden Interviews und Beobachtungsnotizen versuche ich, die relevant gesetzten Übergangsmomente, deren individuelle Gestaltung und Be­ wältigung zu ana­­lysieren: Welche Umstrukturierungen gehen mit der Ent­scheidung zu einem Übergang einher? Wie werden diese Veränderungen bewältigt? Welche­Chancen haben die Akteur*innen, ihren wohnraumbezogenen Übergang 13 ins Altenheim frei gestalten zu können? Denn obwohl der Übergang ins Altenheim in der späteren Lebensphase weniger institutio­ nalisiert oder durch gesetzliche Regelungen bestimmt ist als z. B. der Ren­ teneintritt, wirken auch hier demografische Entwicklungen, Altersbilder, Wohnkonzepte für pflege- und betreuungsbedürftige Menschen und nor­ mative, gesell­schaftlich-geprägte Erwartungen. Diese werden seitens der Professionellen (Fachärzt*innen, Pflegekräfte, gesetzliche Betreuer*innen) und Institutio­nen mit Anforderungen an die Individuen übersetzt und mit Blick auf Wohnformen, Wohngröße, Wohnlage, Angebots- und Tagesstruk­ turen und Geldleistungen entsprechend als angemessen bzw. unangemes­ sen bewertet ( vgl. Höblich/Meuth 2013: 295). Mein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der mate­riell-räumlichen Dimension von Übergängen, denn ich gehe davon aus, dass sich der Übergang nicht nur in institutionellen Prak­ tiken, Diskursen, Statusveränderungen oder Personen vollzieht, sondern auch in materiell-räumlichen Konstruktionen. Diese können als Schlüssel zu Lebensweisen, Wertevorstellungen, Erwartungen, Erinnerungen und Er­fahrungen fungieren.

Charakter der Untersuchung Der Ausgangspunkt meiner Arbeit war, wie im Prolog schon erwähnt, die Frage nach der Beziehung zwischen Mensch und Ding 14 und deren Verän­ derung im Übergang, um die materielle Dimension für die Beschreibung von Übergängen ins Altenheim stärker zu erforschen. Dazu griff ich den objektsoziologischen Ansatz von Aida Bosch auf. In ihrer Arbeit »Kon­ sum und Exklusion – Eine Kultursoziologie der Dinge« nimmt sie einen 11 Siehe Fußnote 7. 12  Für Carmen Keckeis sind die ›eigenen vier Wände‹ »institutionalisierte Räume des Privaten und Intimen«, weil diese der strukturellen Unterscheidung von öffentlich und privat, wie sie z. B. an gebauten Räumen ablesbar ist, folgen ( vgl. Keckeis 2017: 45). Weitere Erläuterungen siehe Kap. 3.3.1. 13  Zur Definition ›wohnraumbezogener Übergänge‹ im Verhältnis zu ›wohnbezogenen Übergängen‹ siehe Kap. 1.3. 14  Die Begriffe Dinge, Objekte, Gegenstände, Sachen verwende ich weitestgehend synonym. Hierzu nähere Informationen in Kap. 3.2.

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15 Diese Arbeit stützt sich im Wesentlichen auf die Verfahrensprämissen und Kodierproze­ duren der Grounded Theory, die von Glaser/Strauss in »The Discovery of Grounded Theory: Strategies of Qualitative Research« (1967 (orig.); 1979; dt. Übersetzung 2005) und von Glaser in »Theoretical Sensitivity« (1967) entwickelt wurden.

15

Einführung

Blickwinkel ein, der die Relevanz materieller und körperlicher Strukturen und Phänomene für die soziologische Theorie und Forschung hervorhebt. Ausgehend von ihrer Beobachtung, dass Dinge nicht nur von materieller Beschaffenheit bestimmt sind, sondern auch als Symbole »von Bedeutung, als Repräsentanz von Zeichen, Ideen und symbolischen Vorstellungen« (Bosch 2012: 52) zu verstehen sind, entwickelt sie eine ›Soziologie der Dingwelt‹, die sich u. a. auf dem Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu und der Kategorie des demonstrativen Konsums von Thorstein Veblen gründet. Sie hebt hervor, dass die persönlichen Dinge als Schalt- und Schnittstellen in individuellen Biographien gelten. Über sie erhält man Zugang zu Wende­ punkten, persönlichen Selbstentwürfen, identitätsprägenden Erfahrungen und Erlebnissen, zu Verlusten und Gewinnen im Lebenslauf ( vgl.  Bosch 2010: 469). Diese eigens entwickelte ›Objektesoziologie‹ wird in ihrer Arbeit zur Grundlage, die Dingwelten gesellschaftlicher Milieus in sozialen Rand­ lagen und deren soziale Inklusions- bzw. Exklusionskraft zu untersuchen. Jedoch differenzierten sich im Sinne des Zirkularitätsprinzips von Datenerhebung und -auswertung der Grounded Theory15 – im Zuge der ersten Auswertungen des Beobachtungsmaterials und der Interviews – die Forschungsfrage und das Erkenntnisinteresse weiter aus. Letzteres ver­schob sich stärker auf den wohnraumbezogenen Übergang und seine Ge­stal­tungs­möglichkeiten. Die Beziehungen zwischen Menschen und Dingen konnten nicht unabhängig der wohnraumkonstituierenden Handlungen betrachtet werden. Der ursprüngliche konzeptionelle Ausgangspunkt die­ ser Untersuchung generierte zu einer Subkategorie Erfahrungsdimension Dinge, die unter Berücksichtigung der Sozialität von Dingen, also der Per­ son-Objekt-Beziehungen und deren Wandelbarkeit im Übergangsprozess, interpretiert und theoretisiert wurde. Entsprechend dieser Verwobenheit von Datensammlung und -analyse, von permanentem Vergleichen und Prüfen, versuche ich in dieser Arbeit zu vermitteln, wie ich mein theoretisches Konzept aus den Daten erhoben habe und sich mein Forschungsprozess vollzogen hat. Aus diesem Grund werde ich im einleitenden Kapitel nicht auf meine theoretischen Bezugspunkte eingehen, sondern diese ähnlich der iterativ-zyklischen Vorgehensweise im Forschungsprozess erst in bestimmten Erläuterungs­ zusammenhängen des empirischen Kapitels (Kap. 3 – 5) einpflegen. Dieses einleitende Kapitel soll einen Überblick über die Themenstellung und ihren Hintergrund (Kap. 1.1) geben. Es soll wesentliche Begriffe und Konzepte (1.2/1.3) sowie das Ziel dieser Arbeit (Kap. 1.4) erklären. Zum Abschluss der Einleitung gehe ich auf die Gliederung der Arbeit ein (Kap. 1.5).

1.1   Zur Kontextualisierung von Übergängen im Alter »Das Konzept Lebenslauf basiert in großem Maße auf soziokulturellen Theorien des Alter(n)s und der sozialen Beziehungen, auf sozialkognitiven und entwicklungspsychologischen Theorien der Lebensspanne, sowie auf institutions- und strukturtheoretischen Zugängen.« (Raithelhuber 2011: 9) Dabei stellt der Übergang für die Lebenslaufforschung eines der wichtigsten theoretischen Konzepte dar. Traditionell befasst sich dieser For­schungszweig mit Übergängen von einer Altersstufe zur anderen (Kind­ heit, Jugend, Erwachsenen- und Ruhestandphase), von einer Tätigkeit zur anderen (Ausbildung, Beruf, Rente) oder von einer Situation zur anderen (Heirat, Umzug, beruflicher Auf- oder Abstieg) ( vgl. von  Felden 2010: 21). Dabei geht es nicht nur um die Betrachtung der individuellen Bewältigung von Zustandswechseln bzw. wie jemand in einen Folge- bzw. Endzustand gekommen ist, sondern auch um die gesellschaftliche Organisation und Konstitution von Übergängen ( vgl. Struck 2001: 31). In der Analyse von Übergängen lassen sich kausale Abfolgen, ( Übergangs-)Entscheidungen oder Ereignisse in Abhängigkeit von inneren und äußeren Determinanten iden­ ti­fizieren und ihre Wirkung sowie die institutionellen Rahmungen und Handlungsbedingungen bestimmen. An Übergängen werden gesellschaft­ liche Normen und Normalitätserwartungen sichtbar. Zudem kann an Üb­ergängen beobachtet werden, wie bestimmte ( Ungleichheits-)Strukturen reproduziert und individuelle Unsicherheiten und Ungewissheiten ver­ handelt werden. Sie sind ein »zentrales Motiv des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, [d. h.] der gesellschaftlichen Koor­di­nierung und Regulierung durch Institutionalisierung und Ritualisierung [einer-] und der subjektiven Praxis des individuellen ›Leben selbst‹ [andererseits]« (Walter/ Stauber  2013: 23, d.Verf.). Die Perspektive auf den Lebenslauf als Verzeitlichung, Institutionalisierung und Individuali­sierung des mensch­ lichen Lebens ( vgl. Kohli 2002: 310 f.) hebt zugleich die soziale Bedeutung des Alter(n)s nicht nur als biologischen Fakt oder chronologische Abfolge von Ereignissen, sondern in seiner institutionellen und individuellen Kon­struktion hervor.

16  Die  Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung definiert, in Verbindung mit tarifver­traglichen und dienstrechtlichen Regelungen, den institutionellen Beginn der Alters­ phase. Amrhein stellt fest, dass »jenseits dieser Altersgrenze […] das deutsche Recht mit Bezug auf das höhere und hohe Alter in weiten Teilen altersunspezifisch ausgerichtet [ist] « (Amrhein 2013: 12). Weder die gesetzliche Kranken- noch die soziale Pflegever­sicherung oder das Betreuungsrecht sind an ein bestimmtes Alter gebunden, d.h. die Leistun­gen werden altersunabhängig gewährt. Dies gilt ebenso für das deutsche Recht, das »über­wiegend alters­integrativ ausgerichtet [ist] und […] älteren und alten Menschen in sozial inklusiver Ab­sicht die Kompetenzen des mittleren Lebensalters [unterstellt] « (Amrhein 2013: 12). Daher fasst Amrhein zusammen, dass Hoch­altrigkeit keine rechtlich definierte Lebensphase darstellt und demnach nicht in dem Maße institutionalisiert ist wie die Vorbereitungsoder Erwerbsphase ( vgl. Amrhein 2013: 13).

16

Seit der Industrialisierung stellte das ›Alter‹ aus sozialpolitischer Sicht eine Lebensphase dar, »die durch die Ausgliederung aus dem Erwerbsleben de­ finiert und kollektiv erfahrbar gemacht« ( Gasser/Knöpfel/Seifert, K. 2015: 14) wurde. Aufgrund der anhaltenden Tendenz einer erhöhten Lebens­er­ war­tung hat sich wissenschaftlich wie auch sozialpolitisch in den vergan­ genen drei Jahrzehnten eine analytische Zweiteilung der Altersphase in ein ›drittes, junges und gesundes ‹ sowie in ein ›viertes Alter‹ der stärker durch Krankheit, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit geprägten Hochaltrigkeit durchgesetzt ( vgl.  Mehlmann/Ruby 2010: 15).

17  Aufgrund  dieser konstitutiven Bedeutung des ›mittleren Alters‹ für die Entstehung und Kontinuität gesell­schaftlicher Ordnung schlussfolgert Amrhein, in Anlehnung an Pierre Bourdieus Geschlechtertheorie, dass es »komplementär zur ›männlichen Herrschaft‹ (Bourdieu) auch eine ›Herrschaft des mittleren Alters‹« (Amrhein 2013: 12) gibt.

17

Einführung

Dabei bezieht sich die institutionelle Konstruktion von ›Alter‹ und ›Altern‹ auf die formell konstituierte Altersordnung einer Gesellschaft oder Organisation, die durch gesetzliche bzw. vertragliche Normen und offizi­ elle Altersdefinitionen festgeschrieben wird. Wie im institutionalisierten Lebenslauf mit seiner idealtypischen Dreiteilung von Jugend /Ausbildung– Erwachsenendasein /Erwerbstätigkeit–Alter/Rente ( u. a. Kohli 1985, 2002) sichtbar wird, definieren formelle Altersgrenzen altersspezifische Rechte und Pflichten16, regulieren den Zugang zu sozialen Positionen ( altersko­ dierte Inklusionen und Exklusionen) und errichten altersspezifische Sozial­ räume ( z. B. Kindergärten, Arbeitsplätze oder Senioreneinrichtungen). Die Gesamtheit dieser Regelungen führt zur Altersschichtung einer Gesell­ schaft in fest definierte Altersgruppen und Lebensphasen. Die dreiteilige Struktur, die allgemein als Normallebenslauf bzw. Normalbiographie ihre Gültigkeit erlangte, reguliert diese Prozesse. Mit dieser Dreiteilung wird jedoch ein ›mittleres Alter‹ in Abgrenzung zu den ( zu ) ›Jungen‹ und den ( zu ) ›Alten‹ definiert, das als das ›richtige‹ oder ›beste‹ Alter im Sinne der Erwerbszentrierung und Leistungsfähigkeit gilt. Denn auch hier laufen »Klassifizierungen nach dem Alter ( aber auch nach dem Geschlecht und natürlich nach der Klasse…) […] immer darauf hinaus, Grenzen zu setzen und eine Ordnung zu produzieren, an die sich jeder zu halten hat, in der jeder seinen Platz zu behalten hat.« (Bourdieu 1993: 136 f.) Das mittlere Alter, weder zu jung noch zu alt, erweist sich somit als normativer Bewertungs­ standard für alle anderen Altersgruppen.17 ›Jung‹ ist, wer noch eine Zukunft – d. h. eine soziale Laufbahn – vor sich hat, als ›alt‹ wird umgekehrt eine Person bezeichnet, die an einem Endpunkt ihrer sozialen Entwicklung angekommen ist. Damit werden ›Alter‹ und ›Altern‹ durch die Festlegung von numerischen Altersgrenzen bzw. Zugehörigkeitsdauern und die Ein­ führung einer Alt-Jung-Relation mit gegenteiligen symbolischen Alterszu­ schreibungen (›Jugendlichkeit‹ versus ›Seniorität‹) sozial konstruiert.

18 Vorbereitungsphase

Kindheit

Schule

Berufsaus­bildung

Erwerbsphase

Erwerbsarbeit

Familie

Ruhestand

drittes Lebensalter

viertes Lebensalter

Abbildung 1: Lebenslaufmodell (Gasser/Knöpfel/Seifert, K. 2015: 13)

Das sogenannte ›dritte Alter‹ beginnt mit der Verrentung oder Pensionie­ rung. Dabei handelt es sich um eine Phase, bei der die Pension­ierten »ihre neugewonnene freie Zeit auskosten, neue Erfahrungen sammeln, sich verwirklichen und sich für die Gesellschaft einsetzen« (Gasser/ Knöpfel/ Seifert, K. 2015: 14). Demgegenüber steht das ›vierte Alter‹ als letzte Phase des Lebens, deren Beginn angesichts der ausgeprägten Heterogenität von Alternsprozessen umstritten ist18, aber vielfach zwischen dem 80. und 85. Lebensjahr ( vgl. Amrhein 2013: 10, Wahl/Rott 2002: 26) angesiedelt ist. Diese letzte Phase des Lebens ist durch gesundheitliche Einschrän­­kungen, Pflegebedürftigkeit, soziale Verluste (Partner-, Freund*innenverlust u. a.) ge­ kenn­zeichnet und endet mit dem Tod. Auffällig ist, dass im Gegen­satz zur positiven Aufwertung des dritten Lebensalters das hohe Alter nach wie vor mit negativen Attributen versehen wird ( vgl. Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 695). » […] Die ›jungen Alten‹ werden als aktive selbstver­antwortliche Koproduzenten ihrer Lebensbedingungen angerufen, hoch­altrige Menschen hingegen vorrangig als zu Pflegende, zu Betreuende und zu Versorgende wahrgenommen und verbleiben damit im Objektstatus.« (Amrhein 2013: 13) Für Silke van Dyk und Stephan Lessenich ist die Aufwertung des jungen Alters zurückzuführen auf ökonomische und arbeitsmarktpolitische Interessen an den Ressourcen des Alters ( vgl. van Dyk/Lessenich 2009: 37). Dabei fallen jedoch die ›alten Alten‹ oder ›hochbetagten Alten‹ aus der positiv konnotierten, vital dynamischen und konsumfreudigen Beschrei­ bung des Alters heraus und werden eher mit Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Verlust der selbstbestimmten Lebensführung assoziiert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich demographische Bedrohungsszenarien immer mehr auf das hohe Lebensalter konzentrieren, etwa wenn von unbe­ zahlbaren Gesundheitskosten, steigenden Krankheits- und Pflegeausgaben und Pflegenotstand die Rede ist.

18  Derartige  Einteilungen und wissenschaftliche Abgrenzungen sind bisher nicht klar voneinander abgegrenzt und bleiben daher eher diffus.

19 Konzeptionell ist nicht jeder Übergang für die Autor*innen gleich ein Altersübergang, denn nur die wenigsten Übergänge werden ihnen zufolge in diesen Zusammenhang gestellt. Daher unterscheiden sie zwischen Übergängen zum Alter, in denen das Altern ausdrücklich thematisiert wird, und Übergängen im Alter, die oftmals zum Altern nicht in Bezug gesetzt werden ( vgl.  Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 696).

19

Einführung

»Die individuelle Konstruktion von ›Alter‹ und ›Altern‹ drückt sich in per­ sönlichen Altersbildern, subjektiven Altersidentitäten, individuellen Ent­ wicklungskonzepten und verinnerlichten Altersnormen aus.« (Amrhein 2013: 12) Diese Selbstkonzepte entstehen nach Amrhein in einem lebens­langen Wechselverhältnis zwischen institutionellen und kulturellen Alter(n)s­konstruktionen und der Reflexion eigener biographischer Erfahrungen und Erlebnisse ( vgl. Amrhein 2013: 12). Das Individuum eignet sich i­mmer wieder aufs neue historisch bedingte Alter(n)sschemata an, die in Ge­ sprächen und Erzählungen narrativ entworfen bzw. aktualisiert werden oder sich in »spezifischen psychophysischen Dispositionen (Altershabitus)« (Amrhein 2013: 12) zeigen. Stefanie Graefe, Silke van Dyk und Stephan Lessenich haben sich in ihrer Befragung von Personen verschiedener Altersgruppen mit unterschiedlichen Deutungen des eigenen Älterwerdens befasst. Dabei haben sie nach der Relevanz, die dem Älterwerden sowie den Altersübergängen19 in verschiedenen Lebensbereichen (Gesundheit, Körper, Arbeit, soziale Netzwerke, Wohnen, Engagement, Freizeit, Repro­ duktion) zugeschrieben wird, gefragt ( vgl. Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 696). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es vom ›zweiten‹ ins ›dritte‹ Lebensalter eigentlich keine altersspezifischen Begründungen biographi­ scher Übergänge gibt. Das Älterwerden spielt sogar in den Selbstkonzepten keine Rolle. Die Interviewpartner*innen nehmen eher eine »ungebrochene Kontinuität des ›normalen‹ Erwachsenendaseins – in Anspruch« (Graefe/ van Dyk/Lessenich 2012: 697). Der klassische dreigeteilte Lebenslauf er­ weitert sich gegenwärtig in den subjektiven Wahrnehmungen älterer Menschen nicht um die Phase eines nachberuflichen, aktiven ›jungen Alters‹. Die Autor*innen formulieren hierzu, dass das ›junge Alter‹ eher ein »äußerst machtvolles mediales, sozialpolitisches und nicht zuletzt marke­ ting-relevantes Artefakt [ist], jedoch […] in den gedeuteten Erfahrungen der alternden Subjekte keine strukturierende Rolle [spielt].« (Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 698) Erst im antizipierten Übergang ins pflegebedürf­ tige, abhängige ›vierte‹ Alter manifestiert sich das Altsein mit seiner dazu­ gehörigen Gebrechlichkeit und schwindenden Autonomie. Dieser Eintritt in die abhängige Lebensphase wird »prospektiv als Bruch mit der gesamten bisherigen Lebensführung antizipiert und dabei zunächst nicht am Errei­ chen einer bestimmten kalendarischen Altersgrenze festgemacht, sondern an einem befürchteten umfassenden und nicht mehr zu kompensierenden Verlust von Lebensqualität« (Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 302). Denn mit dem antizipierten Übergang ins abhängige, pflegebedürftige Alter gelingt die subjektive Selbstverortung im relativ alterslosen Erwachsenen­ dasein nicht mehr und die Entstigmatisierung des Alters stößt an ihre

Grenzen ( vgl. Graefe/van Dyk/Lessenich 2012: 699). Jedoch führen sie weiter aus, dass der Übergang retrospektiv von pflegebedürftigen Hoch­ altrigen, die z. T. in einer betreuten Wohnform leben, nicht als Bruch der eigenen Lebensführung und des Selbstkonzeptes beschrieben wird, son­ dern als Fortführung und Möglichkeit. Die Autor*innen fassen zusammen, dass in den subjektiven Konstruktionen nach wie vor ein dreigeteilter Lebenslauf existiert. Allerdings nicht entlang der üblicherweise unter­schied­e­ nen Stufen, sondern entlang der Phasen ›Jugend – berufliches/nachberufli­ ches Erwachsenendasein – hinfälliges Alter‹.

1.2   Zur Konzeptualisierung von Übergängen Ältere Übergangskonzepte (Arnold van Gennep, Victor Turner, Anselm Strauss/Barney Glaser) setzen sich eher mit einfachen, linearen und klar definierten Übergangsprozessen auseinander, wie bei Arnold van Gennep (2005), der in den 60er Jahren durch seine Beobachtungen von Initiationen in archaischen Gesellschaften eine Dreiphasenstruktur entwickelt hat, mit der er erklärt, wie Individuen in klar definierte soziale Rollen und Status­ positionen ein- und austreten. Die einzelnen Phasen20 werden durch spe­ zifische Riten begleitet, bis sich das Individuum in der Integrationsphase mit Hilfe von Eingliederungsriten wieder in einen neuen Rahmen aus Regeln, Rollen und Verpflichtungen einfügt. Victor Turner orientiert sich am Phasenmodell von van Gennep und modifiziert es dahingehend, dass er zwischen »state« als einer Art stabiler und periodisch wiederkehrender Situation, die kulturell anerkannt bzw. vorgesehen ist, und »transition« unterscheidet.21 Seinen Hauptfokus richtet er primär auf die Liminalphase, d. h. das Zwischenstadium zwischen zwei Positionen. Sowohl bei van Gennep als auch bei Turner werden in den jeweiligen Phasen die sozialen Strukturierungen von Übergangsriten sichtbar. Die Organisation von Initia­ tionsriten hat somit u. a. die Funktion der Reproduktion des Bestehenden und der Einbindung der Menschen in Regeln und Konventionen, die für die Einzelnen auch entlastende Wirkungen haben. In der Reproduktion des Bestehenden zeigt sich eine Organisation von Gesellschaften in Klassen, Hierarchien, gestuften Positionen oder Machtverteilungen. In diesem Sinne sind Übergänge für die Produktion und Reproduktion von Strukturen maßgeblich mitverantwortlich. 20  Die erste Phase seiner Dreiphasenstruktur (»rites de passages«), in der sich das Individu­um aus seiner bisherigen sozialen Position löst, wird durch Trennungsriten begleitet. In der zweiten Phase durchläuft das Individuum ein sogenanntes Zwischenstadium, das seinen Ausdruck in Schwellen- und Umwandlungsriten findet ( vgl. van Gennep 2005: 21). 21 Im Gegensatz zu van Gennep interessiert er sich weniger für den Lebenslauf als eine struk­ turierte Abfolge, in der Übergänge von einer in eine andere Position erfolgen, sondern sein Fokus richtet sich auf den Übergang in seiner Prozesshaftigkeit und Dynamik. » […] but I prefer to regard transition as process, a becoming, and, in the case of rites de passage, even a transformation […].« (Turner 1967: 84, Hervorh. i. Orig.)

20

22 Der Originaltext ist 1965 unter dem Titel »Awareness of Dying« erschienen.

21

Einführung

Glen Elder rückt hingegen mit seiner Life Course Perspective noch einmal stärker die aktive Mitgestaltung, d. h. die Bewältigung von Über­ gängen ohne traditionelle soziale Regulierungen, in den Mittelpunkt. In seinem grundlegenden Konzept der »pathways«, d. h. Lebensbahnen eines Individuums, beschreibt er Übergänge (»transitions«) im Lebenslauf nicht nur als strukturell vorgegeben, sondern als individuelle Bewältigungs­ leistung, die von der Integrationsleistung der Individuen, einschließlich ihrer persönlichen Eigenschaften, Erfahrungen und Lebensgeschichten, ab­ hängig sind ( vgl. Elder 1985: 17 f.). Elders Konzept der Lebensbahnen, das die individuelle Handlungsfähigkeit und die Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt stellt, gilt als Orientierungsrahmen für viele weitere Über­ gangskonzeptionen, die die individuelle Auseinandersetzung und Bear­ beitung normativer Übergänge untersuchen, wie z. B. das Konzept der Statuspassagen von Glaser/Strauss. Barney Glaser und Anselm Strauss greifen zwar den Begriff der Passage von van Gennep auf, bezweifeln aber die standardisierte, schema­ tisierte, regulierte oder strukturierte Abfolgeordnung von einer Position in eine andere. Eher sind für sie das Erleben, die Erfahrung und die Interak­ tion ausschlaggebend, sodass sie den Prozess und die aktive Mitwirkung stärker in den Vordergrund rücken, wie z. B. in ihrer Studie »Interaktion mit Sterbenden«22 (1974), in der sie sich mit der Interaktion zwischen Kran­ ken, die im Sterben liegen und dem Krankenhauspersonal beschäftigen ( vgl. Glaser/Strauss 1974: 5). Dabei geht es ihnen nicht nur um die Aus­ handlungsprozesse der Passierenden einer Statuspassage, sondern auch um die Aushandlungsprozesse der Personen, die diesen Übergang begleiten, kontrollieren und auf diesen einwirken. Denn je nach Bewusstheitszustand verändern sich permanent die Aufgaben bzw. das Zusammenspiel zwischen den Passierenden und deren Begleiter*innen. Demnach entstehen Verän­ derungen im Sozialgefüge, sobald sich das individuelle Übergangsmuster verändert. Ihr Ansatz der Statuspassagen (2010, 1971) soll die Verschrän­ kung von strukturellen und persönlichen Bedingungen begreifbar machen. Dabei verstehen sie Statuspassagen als Prozesse, bei denen Menschen miteinander interagieren und sich wechselseitig beeinflussen. Zudem geht das Konzept der Statuspassagen, wie z. B. beim Sterbeprozess, von einer stärkeren Nichtlinearität und einer geringeren Strukturierung aus. »If we conceive of dying as a passage between statuses, then its major properties appear to be: dying is almost always unscheduled; the sequence of steps is not institutionally prescribed; and the actions of the various participants are only partly regulated.« (Glaser/Strauss 2010: 8) Wie auch das Konzept der Statuspassagen geht der Transitionsansatz von Harald Welzer von einem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und individuellen Möglichkeiten aus. Insbesondere berücksichtigt er die

aktive Mitgestaltung der Individuen, indem er die subjektiv-biographi­ schen Konstruktionen mit einbezieht. In Folge seiner eigenen Forschungs­ arbeiten distanziert er sich jedoch von Begriffen der Passage, des Übergangs sowie der Logik der linearen Abfolge und Kausalität, d. h. der Gerichtetheit und dem phasenhaften Verlauf. Denn laut Welzer hat man es mehrheitlich mit Prozessen zu tun, in denen sich Anfangs- oder Endpunkte nur sehr schwer bestimmen lassen, wie z. B. der Endpunkt der Erwerbslosigkeit nach einem Hochschulstudium. Aus diesem Grund richtet sich seine Kritik auch an Phasenmodelle zur Beschreibung von Übergängen, weil diese den Anschein linearer Abläufe erwecken ( vgl. Welzer 1993: 145). Daher plädiert er für die Verwendung des Begriffs der Transition. Dieser umfasst eher die Bewegungsmomente und -sequenzen, die ineinander übergehen, sich über­ lappen und von verschiedenen Faktoren abhängig sind, die es zu bestimmen gilt. Sie werden vielmehr als ein Nebeneinander von konstruktiven, auf­ bauenden und destabilisierenden, entstrukturierenden Prozessen konzeptu­ alisiert. »Transitionen bezeichnen demnach sozial prozessierte, verdichtete und akzelerierte Phasen in einem in permanentem Wandel befindlichen Lebenslauf.« (Welzer 1993: 37) Indem sein sozialpsychologisch ausgerich­ teter Begriff der Transition die subjektiven biographischen Konstruktionen in den Blick nimmt und nach der Genese von Übergängen fragt, ist er auch mit dem Ansatz der Biographieforschung verknüpfbar. Dieser erfasst eben­ falls in der Eigenperspektive, den Sinnbildungsprozessen und subjektiven Deutungsmustern der Individuen die subjektive Verarbeitung einzelner Übergänge sowie die strukturellen Rahmenbedingungen und Zumutungen. In diesem Sinne wird der Lebenslauf als Impulsgeber verstanden, zu dessen Impulsen sich das Individuum verhalten muss. Mit der Enttraditionalisie­ rung und auch Entstandardisierung23 der klassischen Industriegesellschaften seit den 60er Jahren nahmen zwar institutionalisierte und strukturelle Vorgaben nicht gänzlich ab, bestimmte Automatismen in der Abfolge von Übergangsschritten und Lebensphasen verloren aber an Sicherheit und Bedeutsamkeit. Die eindeutigen und klar institutionalisierten Lebensphasen wurden unsicherer, differenzierten sich, klafften auseinander und wurden immer kürzer. Infolgedessen stellt das biographische Handeln eine Möglich­ keit dar, das ›Ich‹ vor situativen Zumutungen zu bewahren und individuelles Handeln plan- und vorhersehbar zu machen ( vgl. Kohli 2002: 314 ff.). Die biographische Perspektive auf Übergänge ermöglicht, die Sinnbildungs­ prozesse der Einzelnen in ihren gesellschaftlichen und institutionellen Rahmungen abzubilden. Dadurch lässt sich herausfinden, »wie Einzelne mit normalbiographischen Vorgaben und Normalitätsunterstellungen umgehen, sie erfüllen (wollen) oder sie unterlaufen« (von Felden 2010: 25).

23 Damit ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, der Abschied von der bürgerlichen Klein­familie und der zunehmende Individualisierungsschub, der aus Normal- Bastelbiographien (Beck/Beck-Gernsheim 1993) werden ließ bzw. zu einer Pluralisierung von Lebensläufen führte, gemeint.

22

24 Andreas Walther und Barbara Stauber stellen in ihrem Projekt »Doing Transitions — Formen der Gestaltung von Übergängen« (2017) die Gestaltung von Übergängen als Wechselspiel zwischen individuellen Herstellungsleistungen und gesellschaftlichen Reproduktionsmechanismen in den Mittelpunkt. Eberhard Raithelhuber (2011) entwickelt mit seiner sozial­ theoretischen Reflexion des Konzepts ›agency‹ einen relati­o­nalen Ansatz, der im Anschluss an Bruno Latour, Alfred Gell und Barry Barnes ›agency‹ nicht mehr nur individuellen Personen zurechnet, sondern ›agency‹ in sozialen Verhältnissen und Beziehungen zwischen Personen bzw. zwischen Personen und Objekten verortet. 25 Über soziale Praktiken werden Passungen zwischen institutionellen und subjektiven Modi der Gestaltungen hergestellt ( vgl. Bourdieu 2014: 108 f.). 26 Die Dinge sind eben nicht nur Bedeutungs- und Funktionsträger, sondern legen Handlungen nahe, beeinflussen diese und können ermutigend und als Vermittler (Mediatoren) wirken. » […] sie haben diese Dinge nur als einfache Vermittler verstanden, als einfache Übertragun­gen einer Kraft, die von einer anderen Ressource stammt, und zwar von einer Gesellschaft sui generis. […] Aber die Objekte sind nicht die Mittel, sondern die Vermittler – wie andere Aktanten auch.« (Latour 2001: 250)

23

Einführung

Aktuellere Ansätze 24 beschreiben Übergänge nicht länger als Wech­ selbeziehung zwischen der Institutionalisierung des Lebenslaufs und der biographischen Konstruktion der Subjekte, sondern als »soziale Vollzugs­ wirklichkeiten« (Hitzler/Messmer 2011: 307 f.), die ständig (neu) konstru­ iert und gestaltet werden ( vgl.  Meuth/Hof/Walter 2014: 9). Demnach tragen Individuen aktiv zur Gestaltung ihres Lebenslaufs und zur Aus­ gestaltung ihrer Biographien bei, die soziale Praxis25 ist jedoch stets in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet und verweist auf die In­ korporierung gesellschaftlicher Ordnungen und die leibliche Verfasstheit individueller Akteur*innen. » […] die kulturelle und soziale Ordnung [ist] weder ausschließlich in den Strukturen und Institutionen noch in den Köpfen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder, als vielmehr in der sozialen Praxis zu verorten […].« (Hörning/Reuter 2004: 15) Mit dem Ansatz der Herstellung und Gestaltung von Übergängen werden zunehmend auch die Emotionalität, Körperlichkeit und die Sozialität von Objekten26 in den Vorder­ grund gerückt ( vgl. Raithelhuber 2011: 220). Eberhard Raithelhuber arbeitet mit seiner Perspektive auf Agency und Übergänge einen relationalen Ansatz heraus, der Übergänge eben nicht nur aus einem gesellschaftlichen insti­ tutionellen oder individualistischen handlungstheoretischen Blickwinkel betrachtet, sondern in ihrer Prozesshaftigkeit, in sozialen Praktiken, die in der Verbindung von Menschen und Dingen entstehen ( vgl.  Raithelhuber 2011: 157). Auf der Basis seiner Theorieerörterung des Akteur-NetzwerkAnsatzes von Bruno Latour und der Kunsttheorie Alfred Gells plädiert Raithelhuber dafür, Dinge als Akteure und Teilnehmer im Ablauf von Hand­ lungen zu akzeptieren. Denn Objekte sind ein notwendiger Bestandteil sozialer Praktiken, da »Praktiken sich aus Körperbewegungen zusammen­ setzen und […] in der Regel Verhaltensweisen mit Dingen, mit Arte­fakten bilden, in deren Zusammenhang das praktische Wissen aktiviert wird.« (Reckwitz 2004: 45) Seiner Meinung nach muss für die Konstruktion von Handlungsmöglichkeiten und -optionen in Zukunft stärker die heraus­

ragende Rolle von Mensch-Ding und Ding-Ding-Verbindungen berücksich­ tigt werden, die als Teil des Sozialen Verstetigungen, Verräumlichungen und Ausdehnungen erst möglich machen ( vgl. Raithelhuber 2013: 128). Ob­ wohl hier weder der agency-Ansatz noch Latours Konzept der Objekte als Vermittler/Aktanten im Mittelpunkt stehen sollen, eröffnet die Auffassung Raithelhubers einen Raum für weitere empirische Forschungsarbeiten, die sich der materiell-räumlichen Dimension von Übergängen, der Ent- und Verräumlichung von Anforderungen, Erwartungen und Ungleichheiten sowie den Aushandlungs- und Aneignungsstrategien widmen.

1.3   Der wohn(raum)bezogene Übergang im Alter In Bezug auf Übergänge im Alter werden hauptsächlich Übergänge von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand ( Schön 2007), Übergänge vom › dritten‹ ins ›vierte‹ Lebensalter ( Gasser/Knöpfel/Seifert, K. 2015, Graefe/van Dyck/ Lessenich 2011), in die Pflegebedürftigkeit bzw. in Pflegeverhältnisse (Backes/Wolfinger/Amrhein 2008, Kralik/Visentin/van Loon 2006), Pro­ zesse der Fragilisierung 27 (Höpflinger 2017), familiäre Übergänge im Alter (Ryan/McKenna/Slevin 2011, Davies 2004), Risiken der Versorgung (Böhm/ Tesch-Römer/Ziese 2009, Höpflinger/Hugentobler 2005) und Übergänge in den Tod und das Sterben (Bejick 2017, Horn 2017, Hurd Clarke 2002), d. h. die Auseinandersetzung mit dem Lebensende, betrachtet. Im Folgenden gilt mein Interesse insbesondere dem aktuellen Forschungsstand zu wohn(raum)bezogenen Übergängen ins Alten- und Pflegeheim. Denn mit der Entstandardisierung und -strukturierung nor­ maler Lebensläufe ging auch die Entstrukturierung des Wohnens einher, sodass nach Davina Höblich und Miriam Meuth das Wohnen als über­ gangshaftig zu betrachten ist und als Teilübergang eine gewisse Bewälti­ gungsleistung erfordert ( vgl. Höblich/Meuth 2013: 291). Wohnen gilt als elementares Grundbedürfnis und hat nach den Soziologen Häußermann und Siebel (1996) eine funktionale, soziale und sozialpsychologische Be­ deutung. »Im Wohnen drücken sich […] individuelle wie gesellschaftlichsystemische Praktiken des Lebens an Ort und Stelle aus.« (Hasse 2009: 39) Vor dem Hintergrund, dass das Wohnen mit Geborgenheit, Schutz, Ruhe und Gewohnheit verbunden ist, wird der Wechsel des Wohnortes oftmals als ein kritisches Lebensereignis bezeichnet ( vgl. Höblich/Meuth 2013: 293). Als »Alltagspraxis und Subjektivierungspraktik« (Hasse 2009: 32) ist das Wohnen mit einer kulturgeschichtlich-historisch etablierten Idee des priva­ ten Ortes verbunden, der vom öffentlichen Raum abgetrennt ist und dessen 27  Der  Übergang vom aktiven ›dritten‹ zum pflegebedürftigen ›vierten‹ Lebensalter wird als Prozess der Fragi­lisierung bezeichnet. Demnach wird mit ›Fragilität‹ die Zwischenstufe zwischen gesunden und hilfsbedürftigen alten Menschen benannt. Das Konzept der Fragilität ist in der Gerontologie und Geriatrie weit verbreitetet ( vgl.  Gasser/Knöpfel/ Seifert, K. 2015: 22).

24

In einer qualitativen Studie untersuchen Hochheim und Otto (2011) den Zusammenhang von Wohnen und Alter bei Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Obwohl in der Studie nicht der wohnbezogene Übergang in Alteneinrichtungen im Fokus steht, werden durch die antizipierten Wohnszenarien der Zukunft die Alterskonzepte, Haltungen und Wohnvor­ stellungen herausgearbeitet, die letztlich auf die individuelle Gestaltung des Übergangs wirken. An der Studie nehmen sechs Männer und dreizehn Frauen im Alter von 40 bis 72 Jahren teil. In narrativen Interviews werden von den TeilnehmerInnen verschiedene biographische Einschnitte, z. B. Auszug der Kinder und Verwitwung, genannt, die aber nicht mit dem Alter verknüpft werden. Ebenso stellt die Verrentung häufig keine Ver­ änderungserfahrung des Wohnens dar. Erst antizipierte Wohnszenarien im hohen Lebensalter sind bei den TeilnehmerInnen verknüpft mit Alters­ übergängen. Dabei kristallisieren sich drei Übergangstypen heraus: Typ I – Kontinuität, Typ II – Diskontinuität und Typ III – Ungewissheit. Der Typ I verfolgt das Ziel, solange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu wohnen und dort auch zu sterben. Dementsprechend nimmt er auch schon Wohnraumumgestaltungen oder Veränderungen hinsichtlich des Wohnarrangements vor. Als Grenze dieser Wohnszenarien werden der schwerwiegende Pflegebedarf und die zunehmende Belastungssituation für Angehörige benannt. Jedoch stellen Hochheim und Otto fest, dass »für den Fall des Auftretens eines solch schwerwiegenden Pflegebedarfs […] kein weiteres Wohnszenario benannt oder gar ausbuchstabiert [wird] «

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Einführung

Zugang sich kontrollieren lässt. Wie die Idee des Wohnens bzw. bestimmte Wohnnormen kulturell geprägt sind, sieht man an der Wandelbarkeit von Wohnweisen, an Grundrissen von Häusern und Wohnungen resp. der mate­ riellen Basis des Wohnens. Gute Wohnbedingungen sind ausschlaggebend für die Partizipationsmöglichkeiten der Individuen, d. h. die Wohnsituation ist entscheidend für das Erleben sozialer, institutioneller und ökonomischer Ausgrenzung. Gerade im höheren Alter ist das Wohnen ein Dreh- und Angelpunkt für Isolations- und Ausgrenzungserfahrungen ( vgl.  Kümpers/ Alisch 2018, Petrich 2011). Nach Otto Friedrich Bollnow erfordert das Wohnen einen bestim­m­ten Wohnraum, d. h. einen räumlichen Bereich, wie z. B. eine Woh­ nung ( vgl. Bollnow 1971: 128). In dieser Arbeit soll nicht »die Weise, wie der Mensch in seinem Hause lebt« (Bollnow 1971: 125), sondern die Wie­ derherstellung und Aneignung von Wohnraum, d. h. das Nebeneinander von Ent- und Verräumlichungspraktiken, im Mittelpunkt stehen. Aus diesem Grund benutze ich in dieser Arbeit überwiegend den Begriff der wohnraum­ bezogenen Übergänge, um den Aspekt der Aneignung und Herstellung von Räumlichkeit hervorzuheben. Im folgenden Kapitel wird nun ausgewählte Literatur aus der Übergangs- und Lebenslaufforschung sowie der Geron­ tosoziologie betrachtet, die sich in besonderem Maße mit wohnraumbe­ zogenen Übergängen auseinandersetzt.

(Hochheim/Otto 2011: 309). Der Typ II ist sich zwar eines zukünftigen Pflegebedarfs und einer Unausweichlichkeit der Veränderung der Wohn­ situation bewusst, trotzdem kommt zum Zeitpunkt des Interviews kein freiwilliger Umzug infrage. Personen dieses Typus informieren sich zwar schon über Wohnformen im Alter, jedoch » erfolgt die Wohnveränderung erst wenn ein Leben im eigenen Haushalt nicht länger realisierbar er­ scheint« (Hochheim/Otto 2011: 310). Für den Typ III gelten das Leben, die Veränderungen und auch das Wohnen im Alter als nicht planbar. Zukünftige Wohnszenarien sind eher von einer hohen Flexibilität und Ungewissheit gekennzeichnet. Infolge­dessen bleibt die ›vorsorgliche‹ Auseinandersetzung mit den auf Pflegedürftigkeit ausgelegten Wohnformen aus. Letztlich spielt für die Wohnvorsorge die Ausstattung mit ökonomischen, korporalen und sozialen Ressourcen eine entscheidende Rolle.28 Desweiteren werden Umzüge 29 unter der Übergangsperspektive betrachtet. Oswald/Franke rücken in ihrer Studie unter einer sozio-gerontologischen Perspektive die individuellen Austauschprozesse zwischen Person und sozial-räumlicher Umwelt und Veränderungen von Person-Umwelt-Gefügen in den Mittelpunkt ( vgl. Oswald/Franke 2014: 190). Dabei handelt es sich um Prozesse, die auf einer biographisch gewachsenen, subjektiven, emotio­ nalen und kognitiven Verbundenheit zur gewohnten Wohnumwelt basieren und die sich wiederum auf die eigene Identität auswirken. Mit zunehmen­ dem Alter werden die Wohnung und das unmittelbare Wohnumfeld immer stärker zum Mittelpunkt der Lebensgestaltung, sodass der Wohnortwechsel häufig »massive Eingriffe in das gewohnte Leben [darstellt], beispielsweise wenn der Selbstständigkeitserhalt in Frage steht und eine Übersiedlung in eine Institution oder andere Wohnform angebracht erscheint« ( Oswald/ Franke 2014: 201 f.). Sie unterscheiden in ihrer Untersuchung zwischen Umzügen in private Haushalte und in betreutes, gemeinschaftliches und in­ stitutionalisiertes Wohnen. Den Autoren zufolge sind für die individuellen Austauschprozesse zwischen Person und sozial-räumlicher Umwelt sowohl die subjektive Bewertung (Bedeutungszuschreibungen und Verbundenheit mit der Umwelt) als auch die objektiven Handlungen (Auseinandersetzung und Aneignungsprozesse) gleichermaßen von Bedeutung. In ihnen spiegeln sich spezifische Wohnmotive wider. Zusammenfassend stellen sie fest, dass die Entscheidungsspielräume, d. h. die gesellschaftliche und individuelle Gestaltbarkeit, für die Lebenszufriedenheit, für das Wohlbefinden und die Umzugsbereitschaft eine entscheidende Rolle spielen. 28  Weitere  Ausführungen zu den Ausstattungen mit Kapitalsorten und zur Sozialtheorie Bourdieus siehe Kap. 4. 29 Weitere Analysen von Umzügen unter gerontopsychologischen Gesichtspunkten oder Aspek­ ten der pflege­rischen Versorgung siehe: Mischke 2015, Dreizler et al. 2013, Thiele-Sauer/ Feichtinger/Baumann 2008, Tracy/DeYoung 2004, Thiele et al. 2002, Lee/Woo/Mackenzie 2002, Young 1998, Wilson 1997.

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30  In  Heimverträgen werden die einziehenden Personen bzw. Mieter*innen kurz als ›Bewohner‹ oder ›Bewoh­nerin‹ benannt (siehe u. a. www.pflege-navigator.de oder www.drk-altenpflegeheimkaufungen.de). Ich verwende diese Benennung z. T. in meiner Arbeit mit einfachen An­ führungszeichen, um mich von den impliziten Zuschreibungen, Erwartungen und Pflichten, die diese Adressierung birgt, zu distanzieren und diese nicht einfach unkommentiert zu reproduzieren. 31 Siehe Burkarts Stufen der Privatheit: »a) die Innenwelt der Person, b) die Intimsphäre oder Sphäre der höchst­persönlichen Bindungen, Freund­schaften und Liebesbeziehungen, c) die häusliche Sphäre und die Sphäre der privaten Lebensformen, d) das Privateigentum und die marktförmigen Beziehungen zwischen ›Privatleuten‹.« (Burkart 2002: 402) Darüber hin­aus weist Burkart darauf hin, dass die »Stufen der Privatheit« keineswegs fixiert sind, sondern sie unter­scheiden sich in Abhängigkeit von Kultur, historischer Epoche und Sozialmilieu.

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Einführung

Für Günter Burkart ist der »Weg ins Heim« ein komplexer und in mehreren Dimensionen ablaufender Prozess, in dem sich eine Vielzahl objektiver und subjektiver Faktoren bündeln ( vgl. Burkart 2009: 54). Den Heimeinzug bezeichnet er als ein kritisches Lebensereignis aufgrund der plötzlich entstehenden Notwendigkeit, dem sich verändernden Gesund­ heitszustand, einer mangelnden Vorbereitung, der Alternativlosigkeit sowie der sich verändernden Wohnumwelt. Ebenso bezeichnet er die veränderten Tagesstrukturen und das neue soziale Netzwerk als herausfordernd für die betroffenen Personen. Neben einem quantitativen Untersuchungsteil setzt er sich in seinem qualitativen Forschungsteil mit biographischen Aspekten des Übergangs auseinander. Er fragt nach den Gründen für eine Heimunterbringung und nach den Lebensbedingungen der sogenannten ›Bewohner*innen‹ 30. Ebenso sind für ihn die Form und Besonderheit des individuellen Einlebens im Heim und die persönliche Auseinandersetzung mit dem Einfluss der Institution von Interesse ( vgl. Burkart 2009: 55). Er stellt fest, dass die Privatheit 31 des bisherigen Wohnens in den ›eigenen vier Wänden‹ in den Einrichtungen der stationären Altenhilfe aufgehoben wird ( vgl. Burkart 2009: 56). Dem selbstbestimmten Raum des Rückzugs stehe nun ein Raum gegenüber, der von professionellen Interventionen gleich mehrerer unterschiedlicher Berufsgruppen durchdrungen scheint ( vgl. Burkart 2009: 195). Daher ist für Günter Burkart die Aufrechterhal­ tung von Autonomie ein wesentlicher Indikator für Handlungsspielräume im Seniorenheim. Seiner Meinung nach sind die Menschen dann autonom, wenn sie die Möglichkeit haben, Entscheidungen über die Hilfen Dritter treffen zu können ( vgl. Burkart 2009: 33). Zur näheren Beschreibung von Umzügen in Alteneinrichtungen sind Phasenmodelle ein sehr gängiges Prinzip. Nach Youngs stufenför­mi­ gem Verlaufsmodell (1998) lässt sich der Umzug in Wohngemeinschaften bzw. -anlagen in vier Phasen unterteilen: 1. die Entscheidungsphase, 2. die Vorbereitungsphase, 3. die Umzugsphase und 4. die Eingewöhnungsphase ( vgl. Young 1998: 154). In der Entscheidungsphase wird der Bedarf nach stationärer Betreuung erkannt, die Entscheidung getroffen und die Pflegeund Betreuungseinrichtung ausgewählt. Die Vorbereitungsphase ist für Heather Young die aufwendigste und krisenbesetzteste Phase, weil in ihr

die persönlichen Dinge sortiert bzw. aussortiert werden und dieser Pro­ zess außerdem für die umziehenden Personen am wenigsten übertragbar auf Familienmitglieder oder Freunde ist. So schlussfolgert die Autorin, dass bei Akteur*innen, die diesen Prozess nicht aktiv mitgestalten können, die Unzufriedenheit steigt. »Those who were unable to participate in this process were the most unhappy with the move and were plagued by ques­ tions about the whereabouts of certain significant items.« (Young 1998: 157) Der Umzug wird hingegen eher als unproblematisch bzw. nebensächlich dargestellt.32 Die Phase der Eingewöhnung wird der Autorin zufolge von vier Ereignissen bestimmt: »nesting, working out logistics, fitting in and reconciling life changes« (Young 1998: 158). Mit »nesting« bezeichnet Young die Aneignung der neuen Umgebung, indem sich die Akteur*innen ein neues Zuhause schaffen. Sie eignen sich ihre neue Umgebung an, machen sich vertraut mit ihrer neuen Umwelt, den räumlichen Gegeben­ heiten und dem nahen Umfeld. In der zweiten Phase des »working out logistics« stellt sich eine gewisse Vertrautheit mit den (Tages-)Strukturen und Ressourcen der Einrichtung ein. Die Ambivalenz weicht zunehmend einer Klar-und Sicherheit, während sich die Interviewpartner*innen immer mehr ihr neues soziales Umfeld erschließen. Mit »fitting in« be­ zeichnet Heather Young die dritte Phase der Eingewöhnung, d. h. die Phase, in der man sich mit dem sozialen Umfeld und den anderen ›Bewohner*innen‹ auseinandersetzt sowie Abgrenzungen stattfinden und Territorien markiert werden, z. B. wenn neue Personen hinzukommen. Die vierte Phase der Eingewöhnung beschreibt sie als »reconciling life changes«, eine Phase, in der sich die Akteur*innen mit ihren Veränderungen im Lebensverlauf und ihrer neuen Lebenssituation abfinden. Die Akteur*innen reflektieren, deuten ihre Situation und setzen sie in Bezug zur Vergangenheit, Gegen­ wart und Zukunft. Für Heather Young kommt in dieser Phase der eigene Tod viel stärker zum Ausdruck.33 Dreizler et al.34 (2013) haben in Anlehnung an Youngs Stufenmodell ein Phasenmodell mit dem Schwerpunkt auf der Phase der Entscheidungsfindung für den deutsch-schweizer Raum ent­ wickelt. Ihr Hauptaugenmerk liegt vor allen Dingen auf der erfolgreichen Bewältigung von Übergangsprozessen, sodass ihre Erkenntnisse auch zu einem besseren Verständnis der betreuenden Fachleute beitragen sollten. In Anlehnung an Young unterteilt sich ihr Modell in drei aufeinanderfolgende Phasen: 1. die Planungsphase, 2. die Entscheidungsphase und 3. die Phase

32 »The act of physically relocating, or transferring self and belongings, constituted a relatively small and unimportant phase of the total process, highlighting the significance of the pre- and post-move phases of relocation.« (Young 1998: 162) 33 »The meaning of the move to congregate housing was constructed as a transition into a new developmental phase, the last stage before death. For the first time, the participants viewed their futures as bounded by death.« (Young 1998: 161) 34 Vgl. Forschungsprojekt Mischke et al. 2005. Bei den Forschungsprojekten von Dreizler et al. und Mischke et al. handelt es sich um eine gemeinsame Forschungsarbeit, die zu unterschiedlichen Publikationen (2005, 2013) führte.

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Die hier angeführten Stufen- bzw. Verlaufsmodelle zu Umzügen von Young und Mischke beschreiben zwar das Phänomen Übergang in seiner Prozess­ haftigkeit, jedoch eher unter einer individualistischen, handlungstheo­ retischen Perspektive, ohne explizit die materiell-räumliche Dimension in der »Gleichzeitigkeit [von] Herstellung und Wiederherstellung« (Dirks/ Kessl 2012: 517, d. Verf.) von Räumen zu berücksichtigen.

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Einführung

der Transition. Im Unterschied zu Young stellen sie für die Planungsphase fest, dass es Akteur*innen gibt, die eher langfristig im Voraus planen und Personen, die ungeplant und kurzfristig ins Heim übersiedeln. Dabei hat die langfristige Vorbereitung den Vorteil, dass die betroffenen Personen ihren Heimeintritt selbstbestimmt organisieren können. Sie haben noch die Fähigkeiten und die Zeit, sich über Vorsorgemaßnahmen bewusst zu wer­ den oder alternative Wohn- und Pflegeformen zu prüfen. Ihrer Meinung nach endet die Planungsphase mit der Auswahl des Pflegeheims. Dabei spielen Kriterien wie die geografische Lage, die Ausstattung, die Gestaltungs­ möglichkeit, das Personal und die anderen Nutzer*innen eine bedeutsame Rolle. In einer Veröffentlichung, die unter Mischke et al. publiziert wurde, kommen die Autorinnen in der Interpretation ihrer Befragung jedoch zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Planungsphase eher um unverbindliche Planungen handelt, d. h. dass die Pläne im Laufe der Zeit bis zur unwider­ ruflichen Entscheidungsfindung noch einmal verändert bzw. umgeworfen werden können ( vgl. Mischke et al. 2005: 76). Für die Entscheidungsphase, die häufig von Familienangehörigen als Gesprächspartner*innen und Hilfe­ steller*innen oder Professionellen unterstützt oder vorangetrieben wird, ist den Autor*innen zufolge der Grad der Selbstbestimmung bzw. aktiven Mitgestaltung äußerst wichtig. Je fremdbestimmter die Entscheidung getroffen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die betroffenen Personen Widerstand leisten. Die Phase der Transition, die die Haushalts­ auflösung, die Umzugsplanung und -umsetzung umfasst, definieren sie als die Phase, in der äußerst ambivalente Reaktionen, die ein Heim­eintritt hervorruft, auftreten können ( vgl. Mischke et al. 2005: 77). Ängste vor be­ stehenden Verlusten oder Einsamkeitsmomenten sowie Entlastungsgefühle werden geäußert. Dabei fällt es den Personen leichter, die neue Wohnund Lebenssituation zu akzeptieren, die ihren Umzug schon langfristiger geplant hatten, als denjenigen, die aus einer Notwendigkeit heraus oder ziemlich kurzfristig umziehen mussten. Erst wenn die betroffenen Perso­ nen die Situation akzeptiert haben, kann man nach Mischke et al. von einem Abschluss der Transition sprechen. Die Autor*innen stellen abschließend fest, dass für den Erfolg der Transition die langfristige Planung sowie die Beteiligung im Entscheidungsprozess bedeutsam sind ( vgl. Mischke et al. 2005: 79). Erst wenn die Akteur*innen zufrieden sind mit ihrer Entschei­ dung, die sie bestenfalls selbstständig getroffen haben, handelt es sich um eine gelungene Transition.

Miriam Meuth hat u. a. am Beispiel von pädagogisch begleiteten wohn­ bezogenen Übergängen junger Frauen und Männer (Jugendwohnen) einen mehrdimensionalen Wohnbegriff entwickelt. Ausgehend von soziologi­ schen und philosophisch-phänomenologischen Ansätzen unterteilen sich ihre Dimensionen des Wohnens in die Wohnbeschaffenheit (physisch-mate­ rielle Dimension), den Haushalt (sozialstrukturelle Dimension), das Zuhause (emotional-kognitive Dimension) und die Wohn-Tätigkeit (Handlungs­ dimension) ( vgl. Meuth 2014: 105). Um das Wechselverhältnis zwischen diesen unterschiedlichen Dimensionen näher zu bestimmen, rückt sie das Wohnen als gesellschaftliche Praxis und die Wohnung als einen gesellschaft­ lichen Ort ins Zentrum ihrer Betrachtung. Unter Einbezug des relationalen Raumverständnisses von Martina Löw erörtert sie die Räumlichkeiten der Wohneinrichtungen und verweist auf das Wohnen als ein gesellschaftlich konstituiertes Phänomen, welches sich in der Produktion und Reproduktion räumlicher Praktiken zeigt. Nach dem relationalen Ansatz von Martina Löw (2012) ist Raum nämlich nicht per se als eine Art Behälterraum vorhanden, sondern wird erst durch bestimmte soziale Praktiken hergestellt. Löw ver­ steht Raum als »eine relative (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern« (Löw 2012: 159 f.). Die Herstellung von Räumen ist durch zwei sich gegenseitig bedingende Prozesse, 1. der Syntheseleistung und 2. dem Spacing (Platzierungspraxis), bestimmt. Mit der Syntheseleistung bezeich­ net sie den Prozess der relationalen Verknüpfung von sozialen Gütern (Men­ schen, Tieren, Pflanzen, Gewässern, etc.) durch Wahrnehmungsprozesse zu ein- und ausschließenden Räumen. Mit dem Spacing ist die Handlung des Errichtens, Bauens, Positionierens von Dingen und Körpern, d. h. sozialen Gütern, gemeint. Im Anschluss an den relationalen Ansatz hebt Miriam Meuth noch einmal stärker die Materialität als Produzent und Produkt von Raum(re)produktionen hervor. »Materialität wird von ihr [Martina Löw] jedoch vor allem in der Relevanz für Handlungen gedacht und kaum als Effekt von Prozessen der Raum(re)produktion.« (Meuth 2017: 108) 35 Miriam Meuth problematisiert in ihrer Arbeit das ›Private‹ im Verhältnis zu »semi-öffentlichen [Räumen] des institutionellen Wohnens« (Meuth 2013: 132), in denen bestimmte Skripte von Verhalten und Erwar­ tungen, über die Einhaltung bestimmter Regeln vorhanden sind, die das Handeln sowohl der Mitarbeitenden als auch der Nutzer*innen prägen. Damit berücksichtigt sie, im Vergleich zu bisherigen, eher institutionell oder subjektorientierteren Übergangskonzepten und Verlaufsmodellen, stärker »die materiell-räumliche, emotional-kognitive, nicht so stark insti­ tutionalisierte Dimension, sowie die Handlungsebene als gesellschaftlich wie biografisch relevante Elemente von Übergängen« (Meuth 2014: 119).

35  I n Kapitel 3.3.1 werde ich näher auf das relationale Raumverständnis von Martina Löw in Be­zug auf den wohnraumbezogenen Übergang ins Altenheim eingehen, da es sich für meine Arbeit als grundlegender Ansatz herausgestellt hat.

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Aus den erfolgten Ausführungen wird deutlich, dass die bisherige (wohn­ bezogene) Übergangsforschung vorwiegend der im Lebenslauf institutio­ nalisierten Gliederung von Lebenszeit entlang von Lebensaltersphasen und den darin enthaltenen Normalitätsannahmen und sozialen Konstruktionen folgt. Unter handlungs- und strukturtheoretischer Perspektive werden (wohnbezogene) Übergänge im Alter meist gesetzt, ohne ihr Entstehen oder ihre Herstellung und Gestaltung zu betrachten. Jedoch liegt nur wenig Wissen darüber vor, wie diese Übergänge zustande kommen und welchen Prozessen sie sich verdanken ( vgl.  Walther/Stauber 2017). Die Forschungs­ arbeiten der ökologischen Gerontologie rücken zwar unter »räumlich-­ sozialer Perspektive« (Wahl/Oswald/Mollenkopf 1999: 18) die Person-­ Umwelt-Wechselwirkungen und Anpassungs- und Aneignungs­prozesse von Wohnumwelten in den Vordergrund, jedoch ohne dabei der Verräum­ lichungspraxis größere Aufmerksamkeit zu geben. Ähnlich verhält es sich bei Forschungen, die sich mit »typischen Ausformungen im Lebenslauf alter Menschen« (König, P.-C. 2010), die zu einer Übersiedlung in ein Pfle­ geheim führen, und der institutionellen Regulierung von Anpassungs- und Aneignungsprozessen befassen. Daher konzentrieren sich neuere Ansätze weniger auf die lebens­ laufbezogenen Effekte wohnbezogener Übergänge oder deren Reflexion im Rahmen biographischer (Re-)Konstruktion. Sie heben hingegen mehr die Handlungsfähigkeit von Individuen (Raithelhuber 2011) in komplexen Gefügen zwischen Personen bzw. zwischen Personen und Dingen sowie die materiell-räumlichen, emotional-kognitiven Aspekte als gesellschaft­ lich wie biographisch relevante Elemente von Übergängen (Höblich/Meuth 2013) hervor. Übergänge werden zunehmend als gestalt- und konstruierbar verstanden (Walther/Stauber 2017). Damit »wird der Blick nicht nur für die Herstellung neuer Übergänge geschärft, sondern auch für die Neugestal­ tung bereits bestehender Übergänge sowie für das Wechselverhältnis aus artikulierten Anforderungen und Erfolgskriterien, Praktiken ihrer Vermitt­ lung sowie Prozessen ihrer Aneignung« (Walter/Stauber 2017: 10). Vor allem fehlt es bisher an empirischen Untersuchungen, die stärker die materiell-räumliche Dimension und die individuelle Gestal­ tung wohnraumbezogener Übergänge ins Altenheim berücksichtigen, wie es Miriam Meuth für die Betrachtung wohnbezogener Übergänge junger Erwachsener vorgeschlagen hat. An der Herangehensweise von Miriam Meuth lässt sich aufzeigen, wie die materiell-räumliche Perspektive als Schlüssel zu Interpretations- und Handlungsmustern, strukturellen Bedin­

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Zwar ist ihr mehrdimensionaler Wohnbegriff an eine differenziertere Analyse von anderen Übergängen anschlussfähig, bezieht sich jedoch stärker auf das Phänomen ›Wohnen‹ im jungen Erwachsenenalter aus der Perspektive von Räumlichkeit und weniger auf die Prozesse von Ent- und Verräumlichung bzw. der individuellen Gestaltung von Übergängen unter der Perspektive von Räumlichkeit.

gungen und Leidens- und Bewältigungsprozessen fungieren kann. Unter Einbezug der materiell-räumlichen Dimension ergeben sich daraus für die vorliegende Untersuchung Fragen der individuellen Bewältigung und Gestaltung von wohnraumbezogenen Übergängen.

1.4   Ziel der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung zielt auf die Rekonstruktion individueller Bewältigungs- und Gestaltungsprozesse wohnraumbezogener Übergänge betroffener Personen. 36 Daher bezieht sich die grundlegende und offene Frage auf den prozesshaften Charakter von Übergängen und die Prozesse der Ent- und Verräumlichung, die von den Akteur*innen relevant gesetzt werden. Um letztlich, wie Harald Welzer schon mit seinem Begriff der Transition herausgestellt hat, dem Sachverhalt gerecht zu werden, dass Übergänge nicht linear verlaufen und dass es äußert schwierig ist, einen genauen Anfangs- oder Endpunkt zu bestimmen, wird der wohnraum­ bezogene Übergang hier weniger als spezifisches Ereignis, sondern als Prozess betrachtet, welcher biographisch relevant ist und im Rahmen von Entscheidungen und Weichenstellungen selbst geformt werden kann. In einem zweiten Schritt wird daher nach den Herausforderungen und Aneignungspraktiken bzw. Gestaltungsmöglichkeiten, die immer im Kontext struktureller Bedingungen und altersspezifischer Leitbilder zu fassen sind, gefragt. Denn wie schon in Kapitel 1.1 erwähnt, ist der wohn(raum)be­ zogene Übergang in der späteren Lebensphase weniger institutionalisiert oder durch gesetzliche Regelungen bestimmt als z. B. der Übergang in die Grundschule oder der Renteneintritt, doch auch hier wirken demografische Entwicklungen, Altersbilder, Wohnkonzepte für pflege- und betreuungs­ bedürftige Menschen und normative, gesellschaftlich-geprägte Erwartungen ( vgl. Höblich/Meuth 2013: 295). Das zentrale Anliegen der vorliegenden Forschungsarbeit, den wohn­ raumbezogenen Übergang ins Altenheim aus Sichtweise der Einzelnen aufzuzeigen, lässt sich methodisch durch die Teilnehmende Beobachtung und das verstehende Interview (Jean-Claude Kaufmann 1999) erfassen. Ich habe mich während meines Forschungsprozesses (siehe Kap. 2) gegen eine Ethnographie von Umzügen und gegen prozessbegleitende Interviews vor, während und nach dem Übergang entschieden. Ich habe festgestellt, dass bestimmte Aneignungs- und Bewältigungsprozesse in Bezug auf die insti­ tutionellen Formen der Regulierung, die Auswirkungen auf den Lebenslauf

36 Meine Untersuchung bezieht sich auf die Gestaltung wohnraumbezogener Übergänge in Altenheime in Deutschland, d. h. die Rahmenbedingungen, Themen und Schwerpunkt­ setzungen basieren auf dem deutschen Pflege- und Altenhilfesystem. Ein internationaler Vergleich von Übergängen in Pflege- und Betreuungs­systeme wäre ein Ausgangspunkt für weitere Forschungen.

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1.5   Der Aufbau der Arbeit Nachdem ich im ersten Kapitel die thematische Verortung, die zentralen Begriffe und die Relevanz des Forschungsthemas dargelegt habe, werde ich im zweiten Kapitel auf die methodischen und methodologischen Überlegungen, d. h. die Grounded Theory als Forschungsstil, den Zugang zum Feld und Entscheidungen zum Sampling, eingehen. Weiterhin wird der Ablauf des Forschungsprozesses entlang der Methoden der Datenerhebung und -auswertung dokumentiert. Anschließend nehme ich auf die Illustra­tionen, die sich wie ein eigenständiger roten Faden, mal visualisierend, mal explizie­ rend, mal kontrastierend, durch meine Arbeit ziehen, Bezug. Diese sind, im Rahmen des Kooperationsprojekts »Art &Science« zwischen der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS ) der Universität Biele­ feld und der Fachhochschule Bielefeld, in gemeinsamen Gesprächen und Entwicklungsphasen mit den Illustratorinnen Sonja Mense und Solveig Lawitzke entstanden. Daraus hat sich auch das gemeinsame Buchprojekt für meine Promotionsarbeit mit Sonja Mense entwickelt, das hiermit vorliegt. Die Ergebnisse meiner Untersuchung stelle ich im Anschluss in drei inhaltlichen Kapiteln dar: Zur Interdependenz von Körpern, Dingen und Räumen im Übergang, Habitus als konstituierendes Element räum­ licher Privat­heit und Zur Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation im Übergang. Kern des ersten inhaltlichen Kapitels (Kap. 3) sind die drei Dimen­ sionen, die sich als bedeutsam für den Übergangsprozess herausgestellt haben. Der Begriff der Interdependenz als gegenseitige Abhängigkeit hebt die zentrale Bedeutung des körperlichen Leibes, der Sozialität der Dinge und der räumlichen Privatheit für den Übergangsprozess hervor. Darin spiegelt sich eines der wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit wider, dass in den Pro­ zessen der Ent- und Verräumlichung (von Entscheidungs- über Planungszu Aneignungsprozessen) die Wiederherstellung materiell-räumlicher und

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und die Selbstkonzepte noch einmal stärker zum Ausdruck kamen, wenn die Übergangsprozesse im Wesentlichen schon abgeschlossen waren. Mit der Datenerhebung und -analyse nach den Prämissen der Grounded Theory wird nicht der Anspruch der quantitativen Repräsenta­ tivität verfolgt, vielmehr geht es um die Entwicklung einer theoretischen Skizze auf Basis mikroanalytischer Rekonstruktionen. Die vorliegende Studie hat zum Ziel, eine empirisch fundierte Analyse von wohnraumbezogenen Übergangserfahrungen ins Altenheim vorzulegen, die unter Berücksichtigung der materiell-räumlichen Dimension zu einem ganzheitlichen, umfassenden, mehrdimensionalen Übergangs­ verständnis beiträgt, das sowohl die Handlungsebene, die Erfahrung und das Erleben als auch die Strukturebene und die soziale Konstruiertheit mit berücksichtigt.

körperlicher Privatheit angestrebt wird. Um die Konstitutionsprozesse räum­ licher Privat- und Vertrautheit zu beschreiben, beziehe ich mich auf das relationale Raumverständnis von Martina Löw und den Ansatz zu räum­ licher Privatheit von Carmen Keckeis. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, den ich in diesem Kapitel behandle, ist das Verhältnis der Wiederherstellung räumlicher Privatheit in einem institutionalisierten Raum (Altenheim). Das zweite inhaltliche Kapitel (Kap. 4) stellt den Habitus, der neben den räumlichen Strukturen die Herstellung räumlicher Privatheit wesentlich bedingt, in den Fokus. Dabei geht es vordergründig um die klassen-, geschlechts- und generationsspezifisch habitualisierten Wieder­ herstellungspraktiken räumlicher Privatheit, die ich nach meiner Darlegung des Habituskonzeptes von Pierre Bourdieu erläutere. Bestimmte Aneignungspraktiken bzw. die Entscheidung zum Über­ gang gehen aus der (erzwungenen) Habitusmodifikation, verstanden als (unbewusste/bewusste) Anpassung, hervor. Dem Wechselverhältnis zwi­ schen Habituspersistenz als ›Modi der Gestaltung‹ sowie der Habitus­ modifikation widme ich mich im dritten inhaltlichen Kapitel (Kap. 5). Ich erkläre, wie ich die Begriffe der Persistenz und Modifikation verwende. Ebenso gehe ich auf die erzwungene Habitusmodifikation ein, die sich pri­ mär in Fremdheits- und Leidenserfahrungen äußert. Zudem geht es um den Zusammenhang zwischen dem Prozess des Älterwerdens und dem Habitus als Weichenstellung für den Übergang ins Altenheim, der bisher in der Forschung nur wenig betrachtet wurde. In Kapitel 6 fasse ich die Erkenntnisse noch einmal zusammen und setze sie in Bezug zu aktuellen Debatten. Abschließend beschäftige ich mich im Epilog mit dem ursprünglichen Titel der Untersuchung.

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2.  Methodisches Vorgehen: Die Grounded Theory als Forschungsstil 37

Das zentrale Anliegen dieser Untersuchung ist es, aufzuzeigen, wie wohn­ raumbezogene Übergänge ins Altenheim aus Sichtweise der Einzelnen gestaltet werden. Dabei spielt aufgrund des wohnbezogenen Übergangs, wie Miriam Meuth mit ihrer Studie deutlich gemacht hat, die materiellräumliche Dimension eine zentrale Rolle. Wenn, wie Meuth im Rückgriff auf Martina Löw beschreibt, Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinne­ rungsprozesse zentrale Elemente der Konstitution von Raum darstellen, sind Räume an subjektive Perspektiven gebunden. Damit nehme ich mit mei­ nem Forschungsinteresse eine Perspektive auf Übergänge ein, die von den Intentionen, Kognitionen, Wissens- und Deutungsmustern der Individuen ausgeht und eigene Verortungen sichtbar macht. »Dies erfordert zum einen von Seiten der Forschung grundsätzlich das verstehende Nachvollziehen dieser Perspektiven und impliziert damit ein interpretatives Paradigma.« (Kaspar 2013: 180) Im Bereich der qualitativen Sozialforschung ist in den letzten Jahr­zehnten zunehmend eine Erweiterung des Repertoires qualitativer Methoden um Erhebungsverfahren zu verzeichnen, mit denen die Herstel­ lung von Räumen empirisch greifbar gemacht sowie implizit vollzogene Sinndeutungen aufgeschlüsselt werden können (Mobile Interviewverfah­ ren, Walking Interviews (Kühl 2016), das beobachtende Interview (Berndt 2008), Methoden der Ethnographie). In diesem Zusammenhang werden bisherige Interviewtechniken, wie z. B. narrative Interviews, aufgrund ihrer Be­grenztheit, Alltags- und Umwelterfahrungen anderer Menschen zu rekons­truieren, eher kritisiert. Kusenbach schreibt dazu, dass es prak­ tisch unmöglich sei, »alle Aspekte der Alltagserfahrung durch Interviewen auszuleuchten – entweder weil sich Befragte dagegen wehren, über be­ stimmte Dinge zu reden oder weil sie einfach nicht dazu in der Lage sind« (Kusenbach 2008: 352). Ein zweiter Einwand bezieht sich auf den Forma­ lisierungsgrad der Interviews, da bestimmte Aktivitäten in Interviews eher als störend erlebt werden. Diese Kritik kann ich nur schwer nachvollziehen,

37  Ich  verwende hier den Begriff ›Forschungsstil‹, den Franz Breuer in »Reflexive Grounded Theory« verwendet, um meine Perspektive und Arbeitsweise als Forscherin zu betonen. »Sozialwissenschaftliches Forschen zeichnet sich nicht durch eine universale monoli­ thische Methodologie, sondern durch eine Vielfalt von Erkennt­nisvarianten aus, die mit Wissenschaftlerpersonen und -gruppierungen, kulturellen und instrumentellen Denkund Handlungsweisen verbunden sind.« (Breuer 2010: 40)

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weil sich zunehmend auch bestimmte Interviewtechniken auf räumliche Kontexte oder Objekte (Fotos, Bücher, Mental Maps) stützen. Trotz o. g. Kritikpunkte habe ich mich neben der Methode der Teilnehmenden Beobachtung zur Erschließung des Altenheims für das verstehende Interview als primäres Erhebungsinstrument entschieden. Mit dem verstehenden Interview war es mir möglich, Zugang zu den subjektiven Sinnkonstruktionen zu erhalten und die Wahrnehmungs- und Platzierungsprozesse auf kommunikativem, offenem Wege zu erschließen. Sowohl für den Erhebungs- als auch für den Auswertungsprozess soll­ ten die Kategorien ›Raum‹ oder ›Materialität‹ nicht den einzigen Zugang zu den Erzählungen und Erfahrungen darstellen bzw. sogar die Inter­ view­partner*innen zu einer ›Verräumlichung‹ ihrer Sichtweisen drängen, wie bei der Ethnographie wohnraumbezogener Übergänge zu befürchten wäre. Es war mir wichtig, die Relevanzsetzungen der Teilnehmer*innen zu wahren, d. h. ihre Themen und Begrifflichkeiten aufzugreifen und die Nennung­ spezifischer Kategorien wie Raum, Körper oder Materialität den Untersuchungs­teilnehmer*innen zu überlassen. Mit dem verstehenden Interview konnte ich anhand der Art und Weise des Erzählens und Beschreibens sowohl Muster impliziter Sinn­ deutungen erschließen und gleichermaßen soziale Praktiken auf Grundlage des gesprochenen Wortes analysieren ( vgl. Kaufmann 1999: 11), als auch eine Rekonstruktion der sozialen Genese der empirisch identifizierten Muster, etwa durch die Berücksichtigung biographischer Kontexte, leisten. Für dieses interpretative, explorative und verstehende Forschungsinter­ esse, dass die Bedeutungsstrukturierung der Inhalte bei den Akteur*innen belässt, orientierte ich mich zur Datenerhebung und -auswertung an den Prämissen der Grounded Theory nach Barney Glaser und Anselm Strauss (2005, 1965), die sie u. a. in ihren Feldaufenthalten zu den Arbeiten zum Sterben und zu Statuspassagen38 entwickelten. Ein Kerncharakteristikum der Grounded Theory ist, systematisch eine Theorie bzw. Konzeption zu entwickeln, die aus den Daten begrün­ det wird. Dabei geht es weniger um das deskriptive, illustrierende und ex­ plorative Schreiben, wie es überwiegend in der ethnographischen Praxis betrieben wird, sondern viel mehr um die gegenstands­bezogene und empi­ riebegründete Generierung von Theorie. Damit markieren ­Glaser & Strauss vor allen Dingen ihre Distanz zu der in den 60er Jahren üblichen deduk­ tiven Forschungslogik der Hypothesentestung. Sie verstehen die Groun­ ded Theory nicht einfach als eine Untersuchungsmethode oder ein Aus­ wertungsverfahren, sondern als eine Sammlung von Vorschlägen, wie man unabhängig von Forschungsinteressen oder Datentypen gehaltvolle The­ orien über sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche erzeugen kann

38 Vgl.  »Awareness of Dying« (1965) und »Status Passage« (1971).

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Für meine Untersuchung habe ich diese unterschiedlichen Verfahrens­ vorschläge gegenstands- und prozessorientiert kombiniert. Denn letztlich geht es mir nicht um eine Diskussion der Differenzierungen und Diver­si­­ fikationen, sondern um die zentralen Grundelemente der Grounded Theory, die allen Ausrichtungen zugrunde liegen und für mein Forsch­ungs­in­te­ resse impulsgebend und hilfreich gewesen sind: der iterative Prozess von Datenerhebung und -auswertung, das kontrastierende/vergleich­ende Kodier­ prozedere, das theoretische Sampling, das die Auswahl der Fälle bestimmt,

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Methodisches Vorgehen

( vgl. Strübing 2008: 7). In einem zirkulären Erkenntnisprozess von Daten­ erhebung, Auswertung und Theoriebildung soll der Forschungsgegen­ stand immer weiter konkretisiert und die sich im Kodierverfahren entwik­ kelten Hypothesen an den Daten geprüft werden. Grundsätzlich gilt für die gesamte Untersuchung, dass die drei Verfahrensschritte – Datenerhebung, Analyse und Theorieproduktion – nicht als sequenzielle Abfolge aufeinan­ der aufbauender, sondern als dynamisch miteinander verknüpfte, parallel stattfindende Schritte vollzogen werden sollen. Je nachdem, ob man eine ma­ teriale oder formale Theorie entwickelt, werden verschiedene Daten für die vergleichende Analyse erhoben. Als ›material‹ bezeichnen Glaser & Strauss Theorien, die sich auf ein bestimmtes Sachgebiet oder empirisches Feld be­ ziehen. ›Formal‹ hingegen sind Theorien, wenn sie sich in einem bestimm­ ten formalen oder konzeptuellen Bereich der Sozialforschung bewegen, in dem mehrere Felder miteinander in Beziehung gesetzt werden ( vgl. Glaser/ Strauss 2005: 42 f.). Nach dem Erscheinen von »The Discovery of Grounded Theory« trennten sich die Wege von Glaser & Strauss, woraufhin bis heute drei wesentliche Richtungen, die Methode zu verstehen und weiterzuentwik­ keln, entstanden sind: 1. Ausgehend vom Konzept-Indikator-Modell, das besagt, dass durch die Kodierung von Daten diese daraufhin zu Indikatoren für jeweils hinter ihnen liegende Konzepte werden, differenziert Barney Glaser in seiner Veröffentlichung »Theoretical Sensitivity« (1978) zwischen gegenstands­ be­zogenem und theoretischem Kodieren, wobei sich das gegenstands­ bezogene noch in ein offenes und ein selektives Kodieren unterteilt. Als heu­ristischen Rahmen verwendet er unterschiedliche Kodierfamilien. 2. Anselm Strauss und Juliet Corbin (u. a. 2008, 1996) setzen am Konzept-Indikator-Modell an, um ein Kodierparadigma zu entwickeln, das drei Kodierschritte (offenes, selektives und axiales Kodieren) beinhaltet und die aus den Daten herauskristallisierten Phänomene hinsichtlich der Ur­sachen, Kontexte, Bedingungen, Strategien und Konsequenzen ordnet. 3. Kathy C. Charmaz stellt mit ihrer konstruktivistischen Grounded Theory (2011) noch einmal stärker die reflexive Haltung der Forscher*innen im Methodenprozess zur Diskussion. Sie geht davon aus, dass die For­ schungsprozesse und -ergebnisse keineswegs neutral oder objektiv, sondern konstruiert sind.

die induktive Vor­gehensweise39, die theoretische Sensibilität, d. h. sich nicht von bestehenden Konzeptionen leiten zu lassen, sondern in der Theorie­ generierung einen reflektierten Umgang mit Literatur und (Vor-)Wissen bzw. der Einbindung bestehender Theorien zu pflegen, das Arbeiten in Interpretationsgruppen und die theoretische Sättigung. Das mit der theore­ tischen Sensibilität angedeutete Prinzip der Offenheit, das allgemein für qualitative Methoden gilt, hat mir als Forscherin ermöglicht, auf bestimmte Phänomene erst im Forschungsprozess und nicht durch die vorherige Theo­ rielektüre aufmerksam zu werden, meine methodische Vorgehensweise im Forschungsprozess weiterzuentwickeln und immer wieder auch Hypothe­ sen/Themen/Konzepte zu verwerfen. Nachdem ich den spezifischen methodischen Zuschnitt der vorliegenden Untersuchung anhand zentraler Aspekte der Grounded Theory zur Erhe­ bung und Interpretation transparent dargestellt und plausibilisiert habe, sollen im folgenden Kapitel (Kap. 2.1) der Feldzugang und die Altenein­ richtungen beschrieben werden. Daraufhin stelle ich die Überlegungen zur Auswahl des Samples dar (Kap. 2.2). Anschließend wird die Gestaltung der Datenerhebung (Teilnehmende Beobachtung & das verstehende Interview) noch einmal genauer skizziert (Kap. 2.3). Dabei gehe ich auf die Materialität von Erzählungen ein (Kap. 2.3.3). Im Sinne eines »Biografischen Lektürefüh­ rers«, wie Jean Claude Kaufmann (2005) ihn des öfteren in seinen Arbeiten verwendet, folgt nach der Darstellung der Erhebungsmethoden ein kurzes Portrait der InterviewpartnerInnen, um einen Einblick in deren Lebens­ geschichte und Eindruck der Interviewsituation zu vermitteln (Kap. 2.3.4). Weiterhin wird die Funktion der Fotografien und Illustrationen für den Forschungsprozess geklärt (Kap. 2.3.5), ehe ich abschließend das Kodierver­ fahren und die Entwicklung der theoretischen Skizze darlege (2.4). Entsprechend des iterativen Prozesses von Datenerhebung und -auswertung findet in der Grounded Theory keine strikte Trennung zwi­ schen Erhebung und Datenanalyse statt, wie es in anderen Forschungsan­ sätzen praktiziert wird. Vielmehr » […] entstehen gegenstandsbegründete verallgemeinernde Begriffe (Kodes, Kategorien), die im Laufe der Zeit immer weiter ausgearbeitet, zueinander in Beziehung gesetzt und theo­ retisch verdichtet werden […], [im Wechsel, im Hin und Her zwischen Datenerhebung und Datenauswertung] « (Breuer 2010: 52). Auch wenn ich in den nun folgenden Kapiteln die Forschungspraxis der Datenerhebung und -auswertung zum besseren Verständnis einzeln betrachte, verstehe ich sie als miteinander verknüpft.

39 Die Grounded Theory beginnt zwar mit der induktiven Analyse der Daten, übernimmt aber alsweilen eine abduktive Logik, um eine imaginative Interpretation (der Reflexion überraschender Befunde) des untersuchten Lebens hervorzubringen ( vgl. Charmaz 2011: 192).

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Über den Untersuchungszeitraum hatte ich mal längere, mal kürzere Feld­ forschungsaufenthalte in fünf Senioreneinrichtungen (Seniorenresidenz, Senioren- und Pflegeheim, Wohnstift, Seniorenzentrum, anthroposophische Wohnanlage), wobei für die Interpretation letztendlich zwei Einrichtungen entscheidend waren (siehe Kap 2.2). Bei den fünf Senioreneinrichtungen waren mir vor allen Dingen die unterschiedlichen Trägerschaften (staatlich (städtisch), kirchlich oder privat), die unterschiedlichen Standorte (Einwoh­ nerzahl, Bundesland) und die Konzepte (anthroposophisch, seelsorgerische Begleitung, Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden, betreutes Wohnen, Leistungsspektrum) wichtig. Für den Erstkontakt mit den Einrichtungen konnte ich an schon bestehende Feldkontakte zu Einrichtungsleiter*innen aufgrund meiner vorherigen Forschungsarbeit zum Thema »Zweierbezie­ hungen und Demenz« anknüpfen. In einem ersten Schritt habe ich die Heimleitungen angeschrieben oder direkt vor Ort einen Gesprächstermin vereinbart. 1) Der erste größere Feldaufenthalt fand von Mai bis Juli 2011 in einem vom DRK finanzierten Senioren- und Pflegeheim in einer mittelgroßen Stadt in Ostwestfalen-Lippe statt. Nach einem kurzen Vorgespräch mit der Heim­ leiterin führte ich das erste inhaltliche Gespräch mit einer Mitarbeiterin des Qualitätsmanagements. Direkt im Anschluss an den Termin wurde ich durch die Einrichtung geführt, mir wurden die Wohnungen gezeigt und wir legten einen Aufenthalts- bzw. Interviewzeitraum fest. Da es sich um meinen ersten Einstieg in das Forschungsprojekt handelte, war ich zunächst einmal im Wesentlichen nur für die Interviewphasen im Seniorenund Pflegeheim anwesend. Darüber hinaus begleitete ich noch ein Einzugs­ gespräch und einen Einzug. Ich hatte gleich zu Anfang bei den Gesprächen mit den Mitarbeitenden darauf hingewiesen, dass ich gerne bei Einzugs­ gesprächen oder Einzugsprozessen dabei sein würde. In Absprache mit den betreffenden Personen war die Begleitung eines Einzugsgespräches im November 2011 möglich. Die Erstkontakte zu den Interviewpartner*innen wurden über eine Mitarbeiterin des Qualitätsmanagements organisiert. Sie hatte zuvor den ›Bewohner*innen‹ mein Exposé gegeben und angefragt, ob sie für einen Interviewtermin bereit wären. Neun ›BewohnerInnen‹ willigten ein. In den Vorgesprächen wurden das Forschungsinteresse und das Interview­ vorhaben dargelegt. Sofern die ›BewohnerInnen‹ mit einem Gespräch einverstanden waren, wurde ein Interviewtermin vereinbart. Acht Inter­ viewtermine fanden statt, eine Interviewpartnerin nahm ihre Zusage nach dem Erstkontakt wieder zurück, weil sie noch nicht bereit gewesen war, über ihren Übergang zu sprechen. Die Interviews fanden in den Zimmern der UntersuchungsteilnehmerInnen statt, sodass man einen direkten Bezug zum Seniorenheimzimmer und zu dessen Gestaltung herstellen konnte.

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Methodisches Vorgehen

2.1   Zugang zum Feld & Portraits der Einrichtungen

Mit zwei Interviewten gab es noch einen weiteren Interviewtermin. Die Gespräche dauerten zwischen zwei und drei Stunden. Die Interviewpart­ nerInnen (sechs Frauen und zwei Männer) lebten zum Zeitpunkt der Interviews zwischen zwei Monaten und sechs Jahren in dem Senioren­ heim. Sie waren zwischen 70 und 90 Jahren alt. Das Senioren- und Pflegeheim wurde 1930 gegründet und von 2006 bis 2008 erneuert und erweitert, sodass dort 71 Personen in ca. 18 qm großen Einzelzimmern mit eigenem Bad leben. Das Heim, als Wohnund Lebensraum, orientiert sich an der Individualität und Privatheit der ›Bewohner*innen‹ und kombiniert die Pflegeerfordernisse mit den Bedürf­ nissen der Menschen. Das eigentliche Klientel, das durch Leistungen und Angebote angesprochen werden soll, sind die Gruppe der Hochbetagten mit einer hohen Pflegebedürftigkeit und Multimorbidität, die dort ihr Lebensende verbringen. Das Seniorenheim liegt in der Nähe eines Parks und befindet sich in einem Wohngebiet mit Familienhäusern. Die nahe­ gelegene Haltstelle ermöglicht den ›Bewohner*innen‹ die Anbindung zur Innenstadt. Die Einzelzimmer sind auf drei Etagen verteilt. Im Erdgeschoss befindet sich für Menschen mit »dementiell bedingten Veränderungen« ein intensiv betreuter Wohnbereich. Die Wohngruppen von ca. 10–16  Per­ sonen verteilen sich auf den oberen Etagen. Sie sind mit einer Wohnküche ausgestattet, die als Treffpunkt für die ›Bewohner*innen‹ genutzt werden kann. Täglich finden im Seniorenheim Tagesangebote wie Lesestunden, Spieltreffs, etc. statt. Über die Tagesangebote kann im Heimbeirat diskutiert und abgestimmt werden. Der Heimbeirat kann aber auch über die Innenge­ staltung der Gemeinschaftsräume entscheiden, sodass z.B. zum Zeitpunkt des Feldaufenthaltes auf den Fluren eine Kunstausstellung an den Wänden installiert war. Die Einzelzimmer sind mit Namen und Klingel versehen, damit man sie nicht ohne weiteres betreten kann. 2) Die zweite Feldphase fand von August bis Dezember 2011 in einem Seniorenzentrum im Rhein-Kreis Neuss, in einer Kleinstadt in NordrheinWestfalen gelegen, statt. Ich hatte mich nach der kürzeren Feldforschung, in der ich mich stärker auf die Interviews konzentrierte, für eine längere Teilnehmende Beobachtung entschieden, um die Organisations- und Hand­ lungsstrukturen, Alltagsabläufe und Interaktionen erheben zu können. Nach einem telefonischen Vorgespräch mit dem Heimleiter und einem E-Mail-Kontakt, über den ich ihm mein Exposé zukommen ließ, fand der Erstkontakt vor Ort mit dem Heimleiter und der Pflegedienstleiterin statt. Wie auch schon im Senioren- und Pflegeheim (DRK ) habe ich die Heim­ leitung und Pflegedienstleitung als sehr interessiert und kooperativ wahr­ genommen, sodass ich bei dem Gesprächstermin mein Forschungsvorhaben und mein Interesse sehr ausführlich darlegen konnte. Nach dem Gespräch wurde mir das Seniorenzentrum gezeigt und ein Zeitraum für den Feld­ forschungsaufenthalt festgelegt. Schon mit dem Beginn des Feldeinstiegs wurde mir eine organisations-interne Rolle zugewiesen ( vgl.  Bachmann

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Im Gegensatz zum ersten Senioren- und Pflegeheim (DRK ) handelte es sich bei diesem ›Seniorenzentrum‹ um eine diakonische Einrichtung, die ihre Arbeit als einen Ausdruck christlicher Nächstenliebe versteht. Regelmäßig finden dort Gottesdienste und Andachten statt. In der Informationsbro­ schüre wird zudem darauf hingewiesen, dass das Personal z. T. auch der evangelischen oder katholischen Kirchengemeinde angehört. Es wurde 2004 erbaut und verfügt über Einzel- und Doppelzimmer für 80 Personen. In der Nähe des Seniorenzentrums, das im Grünen liegt, befinden sich eine Bushaltestelle und eine Einkaufsmöglichkeit. Wie auch im ersten Senio­ renheim entsprechen die Zimmergrößen der Norm von 18 qm und besit­ zen ein eigenes Bad. Die Einzel- als auch die Doppelzimmer sind mit Namen versehen, aber nicht mit Klingeln. Die ›Bewohner*innen‹ ­haben auch nicht die Möglichkeit, ihre Türen abzuschließen. Im Erdgeschoss gibt es eben­ falls einen Bereich für »gerontopsychiatrisch veränderte« Menschen, in der Broschüre als »geschützter Bereich« betitelt. Im Foyer befinden sich der Empfang, ein kleiner Imbiss und ein Friseur. Die zwei oberen Etagen glie­ dern sich in vier Wohnbereiche mit einem jeweils eigenen Ess- und Wohn­ bereich. Die Tagesangebote finden in einem großen Gemeinschaftsraum

40  Weitere Erläuterung siehe Kap. 2.3.3.

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Methodisches Vorgehen

2009: 253). Ich wurde als Hospitantin und Studierende mit ihrem Pro­ motionsvorhaben den ›Bewohner*innen‹ und Mitarbeitenden vorgestellt. Im Gegensatz zur ersten Feldphase im Seniorenheim (DRK ) war es durch die längere Präsenzzeit möglich, eigene Kontakte mit möglichen Interview­ partner*innen aufzubauen, sie in ihrem Alltag zu begleiten, eine gewisse Vertrautheit mit ihnen und der Umgebung zu gewinnen. Ich konnte somit gezielt nach Interviewpartner*innen Ausschau halten, die mir in meinem Sampling noch fehlten, die z. B. in den Vorgesprächen einen Aspekt der Übergangssituation nannten, der noch nicht in meiner Untersuchung erwähnt wurde. Durch die immer wieder stattfindenden Gespräche mit der Heimleitung und Mitarbeitenden war es darüber hinaus möglich, bei Besichtigungsterminen und Informationsgesprächen mit Interessierten dabei zu sein. Ebenso wurden mir Biographiebögen der InterviewpartnerInnen und weitere Materialien, wie ›Checklisten zur Heimaufnahme‹, Grundrisse und Veranstaltungspläne zur Verfügung gestellt. Vor Ort wurden insge­ samt 17 Interviews (16 Frauen und ein Mann) mit InterviewpartnerInnen zwischen 70 und 96 Jahren geführt. Die Interviews dauerten insgesamt zwischen zwei und zehn Stunden, wobei die längeren auf mehrere Tage verteilt stattfanden. Wie auch in der ersten Feldphase wurden sie in den Zimmern der InterviewpartnerInnen geführt, damit sich diese in meinem Beisein in Beziehung zu ihren jeweiligen Räumlichkeiten setzen konnten und ich als Forscherin dadurch einen Eindruck ihrer Verbindung zur mate­ riell-räumlichen Dimension erhielt. 40

im Erdgeschoss statt. Wie schon im Seniorenheim des DRK beinhalten sie Gedächtnistraining, Spaziergänge, Bingo, Lesestunden, aber auch sport­liche Aktivitäten mit der Wii. Zwischendurch finden Sommerfeste statt oder es werden Ausflüge, z. B. in den Tierpark, unternommen. Für die Organisation sind Mitarbeitende des Sozialen Dienstes zuständig, die die ›Bewoh­ner*innen‹ zur Teilnahme motivieren, aber auch Interessierte die nicht mehr mobil sind, zum Gemeinschaftsraum befördern. Mitarbeitende des Sozialen Dienstes sind für kleine Besorgungen in einem Einkaufsmarkt zuständig. Die Durchführung der Angebote übernehmen professionelle Therapeuten und Künstler*innen sowie Ehrenamtliche. Das Pflegepersonal ist für die medizinische und hygienische Betreuung sowie für die Versorgung mit den täglichen Mahlzeiten verantwortlich. Anson­sten haben die ›Bewohner*in­ nen‹ in den Bereichsküchen die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen, was jedoch von den wenigsten in Anspruch genommen wird bzw. werden kann. Die Mahlzeiten können gemeinsam im Essbereich eingenommen werden, sofern die ›Bewohner*innen‹ daran Interesse haben. Die Wohnbereiche werden oftmals für Spiele, Gespräche oder Fernsehaktivitäten genutzt. Das Seniorenzentrum bietet wie auch das Senioren- und Pflege­ heim des DRK eine Versorgung für »alle älteren Menschen von Pflege­ grad 1 bis 5 « 41 an. Die monatliche Zahllast wird bestimmt durch die Pflegegrade und der daraus sich ergebenden Pflegekassenzuzahlung. Von der Zuzahlung ausgenommen ist der Pflegegrad 1, daher sind in den Einrichtungen eher Personen mit dem Pflegegrad 2–5 42 vertreten. Jeder Versicherte, dem ein Pflegegrad bewilligt wurde, hat Anspruch auf Leis­ tungen für die Pflege in einer stationären Einrichtung wie einem Altenund Pflegeheim, die je nach Pflegebedürftigkeit variieren. Die PflegeheimKosten verringern sich stets um die Leistungen, die die Pflegeversicherung übernimmt. Die Altenpflege im Heim ohne Pflegegrad zu finanzieren ist möglich, aber teuer, da die Leistungen der Pflegeversicherung entfallen und das Sozialamt nicht unterstützt. Grundsätzlich muss eine Heimbedürftig­ keitsbescheinigung vorgewiesen werden. Hinzu kommt, dass in manchen

41  Seit  Januar 2017 werden Pflegebedürftige und Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz wie z. B. Demenzkranke, längerfristig psychisch Erkrankte oder geistig Behinderte je nach ihrer vorhandenen Selbstständigkeit in die Pflegegrade 1, 2, 3, 4 und 5 eingestuft und erhalten entsprechende Leistungen aus der Pflegeversicherung. Die drei Pflegestufen sowie die Anerkennung von eingeschränkter Alltagskompetenz z. B. von Demenzkranken (»Pflege­ stufe 0«) wurden durch die Pflegegrade komplett ersetzt. Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (M D K) oder andere Prüforganisationen kontrollieren alle neuen Antragsteller auf Pflegeleistungen anhand ihrer noch vorhandenen Selbst­ständigkeit. Entsprechend des Gutachtens entscheidet die zuständige Pflegekasse, ob sie den Antrag ihres Versicherten auf einen Pflegegrad bewilligt oder ablehnt ( vgl. www.pflege.de). 42 Die Zuzahlungen bewegen sich zwischen 770 Euro (Pflegegrad 2) bis 2.005 Euro (Pflegegrad 5), sodass im Seniorenzentrum (Diakonie) eine monatliche Zahllast zwischen 2.936 Euro (Pflegegrad 5) bis 3.200 Euro (Pflege­grad 1) entsteht. Im Senioren- und Pflegeheim (DRK) entsteht hingegen eine Zahllast von 2.047 Euro (Pflegegrad 5) bis 2.563 Euro (Pflegegrad 1). Die monatlichen Zahllasten variieren je nach Einrichtung und Pflegegrad.

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3) Nach den beiden größeren Feldaufenthalten führte ich im Dezember 2011 zur Kontrastierung noch weitere Interviews in einer anthroposophischen Wohnanlage. Durch Internetrecherchen bin ich auf sie aufmerksam gewor­ den. Der Erstkontakt fand mit der Leitung der Einrichtung statt, die mir einen Einblick in die Wohnanlage gewährte und die Leitideen des Wohn­ projektes erläuterte. Da es sich in der anthroposophischen Wohnanlage um eine betreute Wohnform handelte, fragte die Einrichtungsleitung zu­ nächst verschiedene Personen für einen Gesprächstermin an und ich wurde direkt an die möglichen Interviewpartner*innen weiterverwiesen. Die Wohnanlage, gelegen in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen, vertritt die Prämisse, ›anders alt zu werden‹. Das Wohnprojekt umfasst fünf Häuser, in denen ca. 100 Frauen und Männer leben. Die Wohnhäuser sind durch selbstangelegte Gartenanlagen verbunden. Im gemeinschaftlich genutzten Veranstaltungsraum finden Lesungen statt oder werden Theater­ stücke aufgeführt. Die Wohnungen sind zwischen 30 und 110 qm groß und mit Terrassen, Balkonen oder Loggien ausgestattet. Alle Gebäude sind altersund pflegeregerecht angelegt und ein Pflegedienst kann bedarfsweise in Anspruch genommen werden. Insgesamt interviewte ich zwei Frauen und ein Ehepaar. 4) Im Februar 2013 hatte ich noch einmal die Gelegenheit, zur Kontra­s­ tierung einen Einzug ins Seniorenheim (DRK ) zu begleiten. Da ich mein Forschungsvorhaben auch in meinem sozialen Umfeld bekannt machte, hatte mir eine Bekannte angeboten, den Einzug ihrer dementiell erkrankten Mutter ELISABETH SCHIERMEYER zu beobachten. Nach dem Einzug und den Einzugsgesprächen mit dem Personal führte ich noch am gleichen Tag ein Interview mit ihr und ihren Töchtern, die den Umzug hauptsächlich ­organisierten. Es folgten noch weitere kurze Feldaufenthalte zwischen 2013 und 2017 in einem Wohnstift in Niedersachsen und einer Seniorenresidenz in Sachsen-Anhalt, die aber nur ansatzweise für die Interpretationen ausschlaggebend gewesen sind, weil sie über das Forschungsinteresse ­hinaus­wiesen und für meine Studie auch keine zusätzlichen Informationen be­ reithielten.

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Methodisches Vorgehen

Alten- und Pflegeheimen unterschiedliche Zimmer unterschiedliche Kosten verursachen. Um den Eigenanteil für die Kosten im Pflegeheim zu decken, müssen die ›Bewohner*innen‹ auch ihr Vermögen ( Haus, Eigentum, etc.) zur Bezahlung der Kosten verwenden. Was ihnen noch bleibt, ist das sogenannte Schonvermögen von 5.000 Euro. In Nordrhein-Westfalen, Meck­ lenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein kann man Pflegewohngeld als Zuschuss zu den Kosten beantragen ( vgl.www.pflege.de/altenpflege).

2.2   Überlegungen zum Sample & zur Auswahl Insgesamt habe ich im Untersuchungszeitraum von 2011 bis 2017 32 Inter­ views geführt. Davon sechs mit Männern und 26 mit Frauen im Alter zwischen ca. 40 und 97 Jahren. Diese setzen sich zusammen aus acht Inter­ views (zwei Männer/ sechs Frauen) mit ›BewohnerInnen‹ im Senioren- und Pflegeheim (DRK ), 17 Interviews (16 Frauen/ein Mann) im Seniorenzen­ trum (Diakonie) und drei Interviews (zwei Frauen/ein Ehepaar) in der anthroposophischen Wohnanlage. Zusätzlich habe ich im Senioren- und Pflegeheim (DRK ) noch ein Einzugsgespräch zwischen INGE BÖGE , ihren beiden Angehörigen (Sohn und Schwiegertochter) und dem Heimleiter be­ gleitet und den Einzug von ELISABETH SCHIERMEYER mit ihren beiden Angehörigen (Töchter) beobachtet. Von allen Interviews habe ich 13 transkri­ biert, von denen sieben sowie die Beobachtungsnotizen (Einzugsgespräch, Einzug, etc.) im wesentlichen als Grundlage für die Datenauswertung dien­ ten. Das Altersspektrum der InterviewpartnerInnen lag zwischen 40 und 97 Jahren aufgrund der Gespräche mit den Angehörigen. Ansonsten waren die Befragten zwischen 78 und 97 Jahren alt. Ihre vorherigen Berufe sind breit gestreut gewesen: Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, Selbstständige im kaufmän­nischen Bereich, Berufe im Verwaltungsbereich, handwerk­ lich-­gewerbliche Berufe. Die höhere Anzahl von weiblichen Interviewpart­ ner­innen hängt, wie im Einleitungskapitel kurz erwähnt, mit dem hohen Frauenanteil in Alteneinrichtungen zusammen. Neben dem Versuch der breiten Streuung sozialstatistischer Merkmale wie Herkunft, Alter und Geschlecht bedurfte es eines Samples aus Perso­ nen, deren Übergangssituationen unterschiedlich organisiert wurden, z. T. unter Beteiligung von Angehörigen oder Professioneller, und sich durch unterschiedliche Einrichtungsstile auszeichneten. Zwar wurde versucht, eine große Bandbreite an Lebenshintergründen abzudecken, jedoch ist die ›Bewohnerschaft‹ in den Senioreneinrichtungen äußerst heterogen. Dieses breite Spektrum sollte durch die unterschiedlichen Übergangsmomente, Aneignungsstrategien und Einrichtungstypen erreicht werden. Ziel war, Verzerrungen zu vermeiden. Das hier vorliegende Spektrum deckt eine Vielzahl an Lebensumständen und Handlungsstrategien ab, sodass das Material hinreichend nach stark unterschiedlichen (maximale Kontra­s­ tierung) oder vergleichsweise ähnlichen (minimale Kontrastierung) Aus­ sageereignissen analysiert werden konnte. Ein weiteres Kriterium waren die Fähigkeiten zur Reflexion und Rekonstruktion von Geschichten. Einige Interviews mussten, obwohl die Personen gerne teilnehmen wollten, ab­ gebrochen werden bzw. entsprachen aufgrund zu großer Abschweifungen nicht dem Forschungsinteresse. Hinzu kam, dass die Wohndauer entschei­ dend gewesen war, d. h. dass es UntersuchungsteilnehmerInnen gab, deren Umzug erst kürzlich vollzogen wurde, und TeilnehmerInnen, deren Umzug schon länger zurück lag.

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2.3  Zur Gestaltung der Datenerhebung Um das Untersuchungsfeld mit seinen Alltagspraktiken und -routinen, Angebotsstrukturen, formellen Abläufen sowie die Selbstverhältnisse und Erfahrungen der UntersuchungsteilnehmerInnen zu durchdringen, kombi­

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Methodisches Vorgehen

Nach dem ersten ethnographischen Feldaufenthalt fing ich an, Memos zu schreiben, Hypothesen zu bilden, meine Daten in Interpretationssitzungen zu analysieren. Dieser Prozess beeinflusste sowohl meine methodische Vorgehensweise, indem ich Erzählimpulse erweiterte, als auch die Auswahl weiterer Interviews. Um das Spektrum erst einmal offen zu halten, führte ich Interviews in einer anthroposophischen Wohnanlage durch. Doch nach der gemeinsamen Reflexion in Interpretationsgruppen stellte sich heraus, dass für mein Forschungsinteresse alternative, teilstationäre u. ä. Wohn­ projekte nicht von Interesse waren, weil den beforschten Personen ein endgültiger letzter Umzug, wie ihn auch Anamaria Depner (2015) in ihrer Untersuchung beschreibt, noch bevorstand. Viele InterviewpartnerInnen der anthroposophischen Wohnanlage betonten, dass sie im Falle einer schweren Krankheit bzw. Pflegebedürftigkeit ihren Wohnort noch einmal verändern müssten. Sie hatten sich für die Wohnanlage nach ihrer Berufsund Familienzeit entschieden. Es war demnach wahrscheinlich nicht der letzte wohnraumbezogene Übergang. Aufgrund dessen legte ich in den da­ rauffolgenden Erhebungsphasen meinen Fokus auf vollstationäre Einrich­ tungen, die in den meisten Fällen sowohl Lebens- als auch Sterbeort sind. Durch den leichteren Zugang zu den InterviewpartnerInnen über die jeweiligen Senioreneinrichtungen lagen die Übergänge in den meisten Fällen zwischen zwei Monaten und sechseinhalb Jahren zurück. Das ermög­ lichte, dass die befragten Personen retrospektiv ihre Übergangserfahrungen betrachten, erinnern und rekonstruieren konnten, d. h. nicht nur den ›Auszug-Umzug-Einzug‹, sondern auch ihre Motivationen, Entscheidungen, ihre Auswahl hinsichtlich der Senioreneinrichtung und der Dinge sowie ihre Aneignung des neuen sozialen Umfeldes. Nach dem Zirkularitätsprinzip der Grounded Theory, das maßgeblich meinen Untersuchungsverlauf be­ stimmte wollte ich aber die Auswahl weiterer Interviews überprüfen, sodass ich einen Einzug in ein Seniorenheim beobachtete. Letztlich waren die Be­ obachtungsergebnisse und Interviews viel zu konkret auf die gegenwärtige Umzugssituation gerichtet und konnten mir zu den Übergangserfahrungen nur teilweise Informationen liefern, weil bestimmte Auseinandersetzun­ gen mit der Institution z. B. noch nicht zu erfahren waren. Der Übergang war noch zu präsent und aufregend für alle Beteiligten. Aus diesem Grund bewegte ich mich weiterhin im Kontext der Senioreneinrichtungen. Somit wurde das Sample im Forschungs­prozess immer wieder neu verhandelt, begründet und überprüft.

nierte ich die ethnographische Methode der Teilnehmenden Beobachtung mit der qualitativen Methode des verstehenden Interviews nach JeanClaude Kaufmann. Der Einsatz des verstehenden Interviews zusammen mit der Teilnehmenden Beobachtung ermöglichte es, »Differenzen zwischen den diskursiv vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungs­ strukturen zu erfassen« (Münst 2010: 384) bzw. bestimmte Gesprächs­ themen durch beobachtete Situationen und Handlungsweisen zu ergänzen. Mit der Teilnehmenden Beobachtung konnten habitualisierte Handlungen, die zugrunde liegenden Orientierungs- und Handlungsschemata, bestimmte situative Abweichungen z.B. in Konfliktsituationen, die nicht immer dis­ kursiv vermittelbar sind, erfasst werden.

2.3.1  Die Teilnehmende Beobachtung zur Annäherung Bevor ich die Interviews mit den UntersuchungsteilnehmerInnen führte, wollte ich mir das Untersuchungsfeld durch die Teilnehmende Beobach­ tung erschließen. Mein Forschungsinteresse hatte nicht zum Ziel, mein Forschungsfeld zu ›sezieren‹ bzw. so detailliert wie möglich alle sozialen Phänomene zu registrieren. Es ging mir vielmehr um das ›Aufbrechen‹, ›Eintauchen‹ und um die Möglichkeit vielfältiger persönlicher Kontakte und Beziehungen. Ein wesentlicher Aspekt der Teilnehmenden Beobach­ tung ist nämlich, dass die forschende Person bei sozialen Prozessen bzw. Alltagsabläufen des Feldes anwesend ist, sodass ich durch die längere Ko-Präsenz die Akteur*innen über einen größren Zeitraum in ihrem sozi­ a­len Umfeld begleiten, Expert*innen für Interviews identifizieren und mit ihnen eigenständig Kontakt aufnehmen konnte. Ich war somit unab­hän­gig von der Vermittlung von Interviewpartner*innen durch Mitarbeitende und hatte die Möglichkeit, das Sample selbst zu gestalten. Darüber hinaus zeichnet sich die Teilnehmende Beobachtung durch die Gleichörtlich- und Gleichzeitigkeit der sozialen (alltäglichen) Ereignisse aus ( vgl. Münst 2010: 380, d. Verf). Meine Beobachtungen führte ich ganztägig in den Senioren­ heimen durch, begleitete die ›Bewohner*innen‹ der Einrichtungen längere Zeit und nahm auch an Freizeit- und Tagesangeboten teil. Die längere KoPräsenz ermöglichte mir, die nicht-sprachlichen Alltagspraktiken, die Or­ ganisationsstrukturen und die Materialität des Feldes kennenzulernen. Im Gegensatz zum verstehenden Interview konnte durch die Fokussierung der Teilnehmenden Beobachtung Sicht-, Hör- und Spürbares, also das durch alle Sinne Wahrnehmbare, festgehalten werden ( vgl. Münst 2010: 380). Ich wollte die Akteur*innen in ihrem Alltag erleben, wie sie unter bestimmten Handlungsbedingungen interagieren und kommunizieren. Vor allen Dingen sollten dabei systematisch diejenigen Phänomene besondere analytische Aufmerksamkeit bekommen, die für die Akteur*innen im Feld relevant waren ( vgl. Kuhn 2013: 29). In der Rolle der Beobachtenden hatte

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ich mich von meinen Alltagsselbstverständlichkeiten, Bewertungs- und Denkmustern zu distanzieren, um mich ausschließlich vom Forschungs­ gegenstand leiten zu lassen. Ich war zwar als Beobachtende im Feld an­ wesend, nahm jedoch nicht unmittelbar als Akteurin am Geschehen teil, da die sozialen Handlungsweisen der Beforschten impulsgebend sein soll­ ten. Aus diesem Grund wird die Forschungspraxis und Datenqualität als »in hohem Maß von der Persönlichkeit der [Forschenden], von der Beschaf­ fenheit des Feldes und von dem mehr oder weniger zufälligen Ausgang der Interaktion der [Forschenden] mit dem Feld abhängig« (Bachmann 2009: 250) beschrieben. Nach oder direkt in der beobachteten Situation war es sinnvoll, die sozialen Interaktionen oder Handlungsabläufe niederzuschreiben. Dieser fortwährende, analytisch Präzision schaffende Schreibprozess ist ebenfalls im Forschungsstil der Grounded Theory begründet, sodass unterschied­ liche Schreibprozesse für den gesamten Forschungsverlauf dieser Studie konstitutiv waren: In den drei Feldphasen wurde das Alltagsgeschehen im Seniorenheim in situ des Feldes teilnehmend beobachtet und während oder nach den Interviews wurden Beobachtungsnotizen zur Atmosphäre, zu den Grundrissen oder bestimmten Körperhaltungen angefertigt. Dabei ist die Datenqualität im wesentlichen »davon abhängig, dass das Niederschrei­ ben der sozialen Interaktionen und der Handlungsabläufe [zunächst einmal] getrennt vom persönlichen Erleben und den vorläufigen Interpretationen erfolgt« (Münst 2010: 382, d. Verf.). Jedoch sollen im Forschungstagebuch durchaus persönliche Gefühle oder Erfahrungen notiert werden, da diese im Sinne der Subjektivitätscharakteristik zur Interpretation der Daten bei­ tragen, indem z. B. auch aktive Interventionen, Konstruktionsleistungen sowie die Präsenz der Forscher*in berücksichtigt werden können. In meinen Forschungstagebüchern protokollierte ich neben meinen Beobachtungen der Tagesabläufe, der Angebotsstrukturen, der Interaktions- und Kommuni­ kationsformen wesentliche Informationen zu Personen aus Gesprächen und den Biographiebögen, Inhalte der Vorgespräche, die für das Interview noch hätten wichtig sein können, Hypothesen oder offene Fragestellungen. Zudem nahm ich in Beobachtungsprotokollen, manchmal während oder nach den Interviews, Kontextbeobachtungen, die das Tonbandgerät nicht erfassen konnte, auf. Im Verlauf des Feldforschungsaufenthaltes legte ich mich auf bestimmte Fokussierungen fest, um nicht zu viel überflüssiges Datenmaterial zu produzieren, d. h. ich beobachtete Interaktionen und Bruchstellen, die sich auf die Materialität und Räumlichkeit bezogen, weil sich gerade auch in Bruchstellen bzw. Konfliktsituationen viel über die Institution und deren ›Bewohner*innen‹ erfahren lässt ( vgl.  Bachmann 2009: 257). Zum Niederschreiben zog ich mich zumeist in das Büro des ­Sozialen Dienstes zurück. Oft fertigte ich auch am Ende des Tages in meiner Unterkunft noch eine Notiz als Erinnerungsstütze an, in der ich zusätzlich festhielt, mit wem ich noch Kontakt aufnehmen bzw. welchen Sachverhalt ich noch einmal fokussierter betrachten sollte.

2.3.2  Das verstehende Interview Mit der offenen Herangehensweise des verstehenden Interviews von JeanClaude Kaufmann sollten die vorherige Wohn- als auch Lebenssituation, die zum Umzug geführt hat, wie auch die Gestaltung des Übergangs ins Seniorenheim erfasst werden. Mit dem verstehenden Interview war es möglich, Übergangsprozesse als auch Aneignungs- bzw. Herstellungsprak­ tiken auf Grundlage des gesprochenen Wortes zu analysieren ( vgl.  Kauf­ mann 1999: 11). Das verstehende Vorgehen Jean-Claude Kaufmanns bezieht sich auf die Verstehende Soziologie Max Webers und stützt sich auf die Überzeugung, dass die Menschen nicht einfach nur Träger von Strukturen sind, sondern aktive Produzenten des Gesellschaftlichen und als solche über ein spezifisches Wissen verfügen ( vgl. Kaufmann 1999: 34). Max Weber folgend ist das Verstehen eng mit dem sozialen Handeln verknüpft. Dem­ nach ist das soziale Handeln an den Menschen gebunden und das Subjekt wird ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt. Für Weber gilt, dieses soziale Handeln deutend zu verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich zu erklären ( vgl. Weber 1980: 1). Mit dem deutenden Verstehen wird versucht, den subjektiven Sinn einer Handlung zu rekonstruieren, denn eine Handlung ist nur bedeutsam, wenn sie die be­ treffende Person mit einem Sinn belegt ( vgl. Misoch 2015: 5 f.). Die Kontexte und Strukturen werden letztlich im zweiten Schritt durch das »ursächliche Erklären« (Weber 1980: 1) mit berücksichtigt. Kaufmann greift mit seinem verstehenden Interview diese Gedanken auf und versucht durch eine struk­ turierte, aber auch für methodische Innovationen offene Vorgehensweise, die Sinnhorizonte seiner Interviewpartner*innen zu erfassen und auch die rein habituell im ersten Tun nicht reflektierten Handlungen zu verstehen ( vgl. Kaufmann 1999: 57). Dabei bleibt er immer nah an den Selbstdeu­ tungen der Akteur*innen und deren Lebenswirklichkeiten. In der von Kaufmann beschriebenen Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit eignete sich das verstehende Interview sowohl für das Forschungsinteresse als auch für das Forschungsfeld. Die Interviewtechniken und die Grundlagen der Durchführung konnten aufgrund der Priorisierung des dialogischen Prinzips den Bedürfnissen der InterviewpartnerInnen, ihren körperlichen und kognitiven Möglichkeiten angepasst und modifiziert werden. Im Mit­ telpunkt stand eine Haltung der Interviewerin, die auf Aufmerksamkeit und Wertschätzung gegenüber den Interviewpartner*innen basierte. Wie in der Grounded Theory geht es Kaufmann bei seiner Vorgehensweise um das Ineinandergreifen von Feldforschungsaufenthalt und Theoriebildung, so­ dass die untersuchten Feldprozesse und Selbstdeutungen der Akteur*innen materialgesättigte Begrifflichkeiten mit einem hohen Verallgemeinerungs­ potential überführt werden können ( vgl. Paris 2008: 382). Das Verstehen und das Erklären gehen ineinander über. Im Kern der Durchführung ver­ stehender Interviews stehen vier wesentliche Aspekte:

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Es ging darum, den Forschungsgegenstand zu klären, d. h. herauszufinden, was sowohl ich als Interviewerin als auch die Interviewten unter dem Gegenstand verstehen. Von welchen Vorannahmen geht die Interviewerin aus? Sind bestimmte Thematiken genauso relevant für die Interviewten bzw. wie stark reflektieren die Interviewten eigentlich die materiell-räum­ liche Dimension des Übergangs? Welche Bedeutung haben z. B. die Dinge? Wie haben die Interviewten die Haushaltsauflösung erlebt? War es für sie ein willkommener Schlussstrich? Spielen nicht andere Themen wie Ge­ sundheit, Mobilität oder soziale Verluste eine entscheidendere Rolle für das Übergangserleben als die Materialität von Übergängen? Wie groß ist das Gefälle zwischen Interviewten und Interviewerin in Bezug auf das Ver­ ständnis des Forschungsgegenstandes? Welche Aspekte werden stärker erläutert und welche werden nur kurz angerissen? Worin liegt der Maßstab für Zensur? Gleichzeitig gilt es, die Befragungssituation mit einzubeziehen, die sich als soziale Beziehung auf das Gesagte und die Ergebnisse auswirkt. Es gilt, Verzerrungen zu erkennen und zu kontrollieren, d. h. »die Effekte der gesellschaftlichen Struktur, innerhalb derer sich das Interview voll­ zieht, wahrzunehmen und zu kontrollieren« (Bourdieu 2005: 394), sodass im ersten Schritt alle Vorabkonstruktionen als auch Vorverständnisse in Frage gestellt werden müssen. In den Interviews sollte meine Perspektive sukzessive durch die der Interviewten ersetzt werden. Damit ist beim Interview eine Haltung verbunden, die Pierre Bourdieu im »Elend der Welt« als sich rückhaltlos der befragten Person zur Verfügung zu stellen und sich der Einzigartigkeit ihrer besonderen Geschichte zu unterwerfen beschrieben hat ( vgl.  Bour­ dieu 2005: 395). Das Ziel ist, sowohl den Interviewten aus seinem ge­ wohnten Rahmen herauszuführen und ihn zu einer reflexiven Haltung anzuregen ( vgl. Kaufmann 1999: 91), als auch sich der Interviewsituation bewusst zu werden, d. h. das Gespräch einerseits sehr offen und zuge­ wandt zu führen, andererseits aber nicht die Struktur bzw. das Erkennt­ nisinteresse außer acht zu lassen. Für Kaufmann ist entscheidend, dass die Inter­viewpartner*innen sich ihrer Rollen bewusst sind und diese auch im Interview zum Tragen kommen. Sie sollen erkennen, dass sie über ein wertvolles Wissen verfügen, über das die Interviewer*in nicht verfügt. Und dass die Interviewer*in gleichzeitig die Regeln vorgibt, die Fragen stellt und die Interaktion in Gang hält. »Auf diese Weise kann es in dieser Austausch­ beziehung zu einem wirklichen Gleichgewicht zwischen zwei starken und kontrastierenden Rollen kommen.« (Kaufmann 1999: 71)

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Methodisches Vorgehen

a)  Strukturierung der Interviews

b)  Der Erzählimpuls Für die vorliegende Forschung wurde am Anfang des Interviews eine offene Fragestellung formuliert, die zu einer Stegreiferzählung führen sollte, in der eigene Relevanzsetzungen einen Raum bekamen. Die an­ schließenden Fragen leiteten sich sowohl aus dem bereits Gesagten bzw. nur kurz in einem Nebensatz Erwähnten ab, als auch aus dem, was nicht gesagt worden ist und dem Interesse, warum bestimmte Thematiken nicht angesprochen wurden. Bei der offenen Fragestellung und auch bei den anschließenden Fragen galt es, dem Interviewten Vorrang zu lassen und keine Antworten vorzugeben. Für Jean-Claude Kaufmann geht es in die­ ser Phase des Interviews darum, den Rhythmus des Interviews zu finden und sich als Interviewer*in zwischen schnellen, lebhaften Gesprächsteilen, und langsamen, von Schweigepausen unterbrochenen Sätzen, zwischen Antworten, die an der Oberfläche bleiben oder die ausschweifend sind, kontrolliert zu bewegen. Zur Haupterzählung: In der ersten Feldphase wählte ich einen stär­ keren objektsoziologischen Zugang (Bosch 2010), d. h. ich habe die Dinge als Erzählimpulse eingesetzt. Ich fragte nach der Bedeutung der Dinge für den Umzugsprozess und nach deren Auswahl. Ich habe mir zusammen mit den Interviewten ihr Zimmer angeschaut, wir sind an einzelnen Dingen stehen geblieben und besprachen ihren biographischen, »emotionalen«43 Hintergrund. Jedoch erwies sich diese Form als zu direktiv, mein Einfluss für den Interviewverlauf war zu groß. Es stellte sich heraus, dass meine eigenen Relevanzsetzungen und Interessen sehr stark zum Ausdruck ka­ men. Die Objekte spielten eine zu starke Rolle, da die Thematik von mir gesetzt war. Mich interessierten aber auch andere Erfahrungen, Themen sowie allgemein die Raumpraktiken im Übergang. Leider war es mir nicht möglich, im späteren Verlauf des Interviews noch einmal stärker auf biographische Aspekte, Sozialisationserfahrungen, familiäre und beruf­ liche Situationen oder vorherige Übergangserlebnisse einzugehen. Für die InterviewpartnerInnen war der Schritt von diesem sehr ›fokussier­ ten, problemzentrierten‹ Einstieg bis hin zur Öffnung des Interviews nicht vollziehbar. Aus diesem Grund änderte ich meine Vorgehensweise. Ich leitete das Interview mit einem Erzählimpuls ein, der die Interview­ partnerInnen animieren sollte, über ihre Lebensgeschichte, von ihrer Kindheit bis zu ihrem Umzug ins Seniorenheim, zu sprechen, um eine möglichst lange, narrative und ›offene‹ Gesprächsphase zu initiieren und die Datenbasis nicht im vorhinein schon künstlich zu verengen. Im ersten Teil verzichtete ich, angelehnt an die Stegreiferzählung im narrativen Inter­ view (Schütze 1977, Küsters 2006), weitestgehend auf Zwischenfragen oder

43 »  […] der (Anmerk.: Porzellanhund) hat aber einen ganzen anderen emotionalen Wert. […] das ist eine Kreatur. Da kann man nicht von praktisch reden. […] das sind Andenken […] das sind Erinnerungen.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z . 1470–1476)

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Methodisches Vorgehen

Kommentare, außer es gab wesentliche Verständnisschwierigkeiten bzw. Erklärungsbedarfe seitens der InterviewpartnerInnen. Nur durch kleine mimische oder parasprachliche Äußerungen wie › mmh ‹, › okay‹ oder ›ja‹ signalisierte ich den GesprächspartnerInnen meine Aufmerksamkeit und hielt den Erzählfluss aufrecht. Wenn Situationen entstanden, in denen der Erzählfaden verloren ging oder der Erzählfluss stockte, versuchte ich durch Nachfragen oder zuletzt thematisierte Gesprächsthemen, diesen wieder in Gang zu bringen. Die Methode des narrativen Interviews diente in dieser Phase für die Ausformulierung der erzählstimulierenden Fragestellung als impulsgebend. Da es sich jedoch nicht um ein im engeren Sinne biogra­ phisches Forschungsinteresse handelte, sondern stärker die Handlungsund Orientierungsmuster und lediglich biographische Einordnungen und Bezüge erhoben werden sollten, verzichtete ich auf weitere Techniken des narrativen Interviews. Zur Nachfragephase: Als die erste offene Erzählung, durch Signale der InterviewpartnerInnen, eindeutig ab­geschlossen war stellte ich Nachoder auch Verständnisfragen. Diese bezogen sich auf die angedeuteten Erzählungen und Informationen. Zusätzliche Aspekte und Hintergrunder­ eignisse, die bereits in der Anfangserzählung thematisiert wurden, sollten weiter aufgegriffen oder ausgeschöpft werden. Die Frage nach dem Wie von Ereignisabläufen hatte dabei einen zentralen Stellenwert. In der Haupter­ zählung wurde die Gestaltung des Übergangs schon erwähnt, außer bei einer Gesprächspartnerin, deren Sohn ihren gesamten Hausstand wegwarf. Ich konnte aber im Nachfrageteil konnte ich aber noch einmal spezifischer auf Platzierungen, Arrangements, Einflussfaktoren, Bedingungen, etc. einge­ hen. Oftmals regte ich die InterviewpartnerInnen dazu an, ihre Erfahr­un­gen noch einmal dezidierter zu schildern, z.B. wenn sie wie PAUL TRAMPE erwähnten, wie katastrophal der Umzug gewesen sei oder als LUISE IMHOLZ ihre Lebensgeschichte ab einem bestimmten Zeitpunkt als Leiden­s­ zeit betitelte. Auch wenn ich nicht sofort auf diese Markierungen einging, so griff ich diese später wieder auf. Zwischendurch machte ich mir immer wieder Notizen für weitere Nachfragen. Zugleich hatte ich einen Leitfaden für den Nachfrageteil der sich vor allen Dingen auf die konkrete Um­ zugserfahrung, die Kategorien ›Materialität‹ und ›Raum‹ und die Veror­ tung im Seniorenheim bezog. Dieser diente für mich als ›Backup‹, um den Erzählfluss anzuregen bzw. zu steuern. Manchmal griff ich auch noch einmal sich im Zimmer befindende Objekte auf, die einen sehr präsenten Platz einnahmen und deren Kontexte mich interessierten, weil sie bspw. im Inter­view noch nicht erwähnt wurden, wie z. B. der Buddha bei GERDA VON OELDE oder das Kreuz bei PAUL TRAMPE . So wurde erreicht, dass die Befragten in ihrer Erzählung auf ihren Raum und die platzierten Objekte Bezug nahmen, ohne jedoch in ihrer Haupterzählung zu sehr eingeschränkt zu sein. In meinem zweiten größeren Feldaufenthalt in einer diakonischen Einrichtung hatte ich die Möglichkeit, die Interviews auch während meines Aufenthaltes zusammenzufassen und schon erste Analysen anzufertigen,

sodass ich die Gelegenheit nutzte, um noch einmal Verständnisfragen als auch Hypothesen rückzukoppeln bzw. zu konkretisieren. Direkt im Anschluss an das jeweilige Interview fertigte ich eine Situationsbeschreibung an. Neben Zeit, Ort und Dauer wurden der sub­ jektive Eindruck hinsichtlich des Interviewverlaufs und der Atmosphäre festgehalten sowie sonstige Besonderheiten, spannende Momente, Auf­ fälligkeiten, unbeantwortete Fragen vermerkt, da diese Aspekte möglicher­ weise zur Interpretation des Interviews beitragen konnten.

c)  Empathie Um, wie schon bei Bourdieu formuliert, die soziale Distanz in der Befra­ gungsbeziehung zu überwinden, sich gedanklich in die Interviewpartner*­ innen hineinzuversetzen, eine Einsicht in die psychischen und sozialen Prägungen, die mit der Position und dem biographischen Werdegang dieser Person im Sozialraum einhergehen, zu bekommen ( vgl. Bourdieu 2005: 398), ist die von Kaufmann beschriebene Empathie unerlässlich. Er versteht diese als eine Art der Haltung, den anderen entdecken zu wollen, für die befragte Person Sympathie zu entwickeln und gleichzeitig seine mentalen Struk­turen zu begreifen ( vgl. Kaufmann 1999: 76). Für mich war jedes Inter­ view mit einem »Aufeinander-Eingehen« und »Sich-Einlassen« verbun­ den, d. h. den InterviewpartnerInnen mit einer wertschätzenden Haltung gegenüber ihrer Bereitschaft, Offenheit und Geschichte zu begegnen. Da­ mit verbunden war für mich, sich auf Situationen und Erfordernisse einzu­ lassen bzw. z. T. anzupassen. Bei manchen InterviewpartnerInnen musste ich die Fragen mehrmals wiederholen, deutlicher oder langsamer sprechen. Ich musste mich näher an Personen heransetzen, damit sie die Fragen verstehen konnten. Wenn meine InterviewpartnerIn den ›Faden‹ verlor, versuchte ich, zu assistieren, damit sie/er ihre Erzählung fortführen konnte. Ich ließ ›Abschweifungen‹ zu, die oftmals nichts mehr mit meinem Er­ kenntnisinteresse zu tun hatten, um die Erzähllogik der Interviewten nicht zu unterbrechen und keine Irritationen hervorzurufen. Einige Interviews mussten wegen der geistigen und körperlichen Konstitution abgebrochen werden, denn mir war es wichtig, dass die GesprächspartnerInnen das Erzählte selbst verantworten konnten und auch ihre Grenzen wahrten. In der Interviewsituation entwickelt sich zwischen den Gesprächs­ partner*innen eine mehr oder weniger flüchtige Beziehung. Ein doch überwiegend einmaliger Dialog zwischen zwei Menschen, der von beiden Persönlichkeiten mitgestaltet wird, wobei natürlich der Hauptanteil des Gesprächs bei der/dem Befragten bleibt. Trotzdem plädiert Kaufmann dafür, sich nicht in Zurückhaltung zu üben, sondern vielmehr diesen Moment der Flüchtigkeit, des Unbekannten auszuschöpfen, indem sich die Interviewer*in selbst einbringt und somit vertrauensstiftend und in­ haltlich vertiefend wirkt ( vgl. Kaufmann 1999: 78 f.). Dieser Moment der

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d) Der dialektische Prozess Mit der Empathie und dem beidseitigen ›Sich­Einbringen‹ beginnt für Kaufmann der dialektische Prozess, der jedoch zusätzlich noch aus dem Gegenstand der Forschung als wichtigem dritten Pol besteht. Denn für die Interviewer*in schreibt sich der Grundstoff des Interviews in ein größeres Ganzes ein: die Fragestellung der Forschungsarbeit ( vgl. Kaufmann 1999: 80). Wohingegen der Informant seine Teilinformationen als Gegenstand der Forschung versteht. Obwohl also dieser dritte Pol nicht eindeutig zwischen den Interviewpartner*innen geklärt ist, führen sie das Interview weiter zu relevanten Erkenntnissen und die Interviewpartner*innen wird dazu gebracht, an seinem eigenen Leben eine theoretische Arbeit zu vollziehen ( vgl. Kaufmann 1999: 81).

2.3.3 Die Materialität von Erzählungen Wie auch schon Anamaria Depner (Depner 2015: 11) betont, sind die Be­ ziehungen zu Objekten im Alltag extrem selbstverständlich und in den meisten Fällen ist der Umgang mit ihnen reibungslos, weil das Wissen um deren Funktionen, Bedeutungen und Symboliken habitualisiert ist. Der anfangs gesetzte Erzählimpuls evozierte durch die Markierung Umzug eine Retrospektive, in der die InterviewpartnerInnen von sich aus die materiell-räumliche Dimension des Übergangsprozesses explizierten. Die Erzählungen wurden zum Teil durch die Materialien angereichert oder visualisiert. Die Gegenstände hatten einen erläuternden Charakter, Fotoalben, Bücher, Splitter einer Granate, Teddybären, Heiligenbilder, Postkarten wurden zur Demonstration bzw. Verdeutlichung der Geschichten mit herangezogen. Bestimmte Objekte, die mit der Erzählung im Zusammenhang standen, wurden benannt, im Raum verortet oder es wurde auf sie gezeigt. Die Gegenstände fungierten zum Teil als Erinnerungsstützen, Impulsgeber oder ›Schlüssel‹ zu bestimmten Erfahrungen oder auch nicht­sprach­ lichen Verweisen, wie Lebensweisen, Praxen, Geschmacksvorstellungen, etc. ( vgl. Bosch 2010: 262).

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Methodisches Vorgehen

Flüchtigkeit, der Fremdheit war nicht außer acht zu lassen bei der Offenheit mancher InterviewpartnerInnen oder auch der Vertraulichkeit mancher Themen, die angesprochen wurden, weil man als Interviewerin in keinem persönlichen Verhältnis miteinander stand und auch die Wahrscheinlichkeit des Wiedersehens relativ gering war. In dieser Haltung verbindet sich das sich rückhaltlos der befragten Person ›zur­Verfügung­Stellen‹, das sich der Einzigartigkeit ihrer besonde­ ren Geschichte Unterwerfens mit einer methodischen Konstruktion, die sich der objektiven Bedingungen bewusst ist ( vgl. Bourdieu 2005: 395).

Das Sprechen über Dinge, das aus der Erfahrung mit kulturell­ spezifischen Kontexten resultiert, zeigte über die Bedeutungs- und Funk­ tionszuschreibungen hinaus Effekte für die Handlungssituationen, Ent­ scheidungen sowie räumliche Konstitutionsmomente. Weiterhin konnten durch die Objekte Verlust- und Leidenserfahrungen thematisiert werden, ohne die GesprächspartnerInnen direkt darauf angesprochen zu haben ( vgl. Höpfner 2016: 28). Die Objekte erleichterten sowohl für die Inter­ viewten als auch für die Interviewerin das Spiel aus Nähe und Distanz. Nach Rixta Wundrak ist die Materialität eine Dimension der Gesamtgestalt biographischer Selbstpräsentation ( vgl. Wundrak 2015: 363 f.). Die exakte Materialisierung der persönlichen Geschichte in Interviews ergibt sich aufgrund der Bedeutung, die die GesprächspartnerInnen diesen Dingen für die Konstitution ihrer eigenen Erfahrungen zuerkennen bzw. die die Dinge in ihnen auslöst. Dem Gesprochenen wurde durch die Verwendung von Dingen eine soziale, kulturelle und symbolische Bedeutungsebene hin­ zugefügt. Der kulturelle Kontext wurde durch die an- und abwesenden Gegenstände sichtbar gemacht. In den Dingen steckt alles gleichzeitig: Sie sind symbolischer Speicher von Erfahrungen, von Relevanzstrukturen und kog­nitiven Präferenzstrukturen. Sie sind sozial an ein bestimmtes Milieu, an eine Schicht, an eine Interessensgruppe gebunden und verweisen damit auf eine soziale Platzierung (vgl. Bosch 2012, Depner 2015). Sie umgibt ein symbolischer Wiedererkennungswert. Mit den Dingen zeigt eine Person an, wer sie ist, was ihr wichtig ist, was sie gerne tut, d. h. über die Objekte wird nicht nur auf vergangene Prozesse Bezug genommen, sondern es wird auch eine »Detailaufnahme der situativen Konstruktion von Wirklichkeit« (Löw 2016: 87) geschaffen. Mit der Markierung Umzug wurde aber nicht nur sichtbar, wie die Dinge, sondern auch wie die Räume (Seniorenheimzimmer), der institu­ tionelle Ort (Seniorenheim) und der Körper mitwirken, was wie erinnert und erzählt wird ( vgl. Wundrak 2015: 355).44 Sich während des Interviews im Seniorenheim zu befinden, ermöglichte es den InterviewpartnerInnen, Gedanken, die an den Raum geknüpft sind, zu reflektieren sowie Dinge zur Explikation heranzuziehen, sich im Raum zu bewegen und diesen gemein­ sam ›abzuschreiten‹. »Gleichzeitig ist anhand von Gesprächen über das unmittelbar Erfahrene erkennbar, inwiefern sich die TeilnehmerInnen von ihrer Umwelt sinnlich angesprochen fühlen und welche Konsequenzen sich hieraus für die sinnhafte Aneignung ihrer Umwelt ergeben.« (Kühl 2016: 39)

44 Hierzu noch vertiefende Darlegungen siehe Kap. 3.

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Zur Veranschaulichung und Erläuterung meiner Ergebnisse werde ich im Kap. 3 bis 5 verschiedene Sequenzen aus den Interviews (fünf Frauen und zwei Männer) und meinen Beobachtungsnotizen45 heranziehen und zitieren. Bevor ich zur Forschungspraxis der Datenauswertung und zum empirischen Kapitel komme, werde ich im Folgenden die Interviewpart­ nerInnen kurz vorstellen und einen Einblick in die Interviewsituation bzw. den Verlauf geben. GERDA VON OELDE ist 1921 geboren und lebt seit 2005 im Seniorenheim (DRK ). Sie war während der Kriegszeit als Sekretärin tätig, später arbeitete sie in einer Schule und einer Buchhandlung. Mit ihrem Ehemann, den sie nach dem Krieg heiratete, bereiste sie die ganze Welt. Sie hat zwei Kinder. Ihre Tochter lebt in ihrer Nähe und besucht sie wöchentlich. Mit ihrem Sohn hat sie telefonischen Kontakt. Mit der Familie und einem »Hausmäd­ chen« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 206) bewohnte sie 16 Jahre lang eine Vierzimmerwohnung. Als die Kinder auszogen, verkleinerte sich das Ehepaar in seiner Wohngröße. Mit dem Tod ihres Ehemannes 1996 zog sie schließlich in eine kleine Eigentumswohnung. Aufgrund ihrer zahlreichen Erkrankungen (u. a. Brustkrebs, Hüftoperation) entschied sie sich 2005 für einen Umzug in ein Seniorenheim, das sich in ihrem »Viertel« befand. Ihre Tochter löste die Eigentumswohnung zwar endgültig auf, jedoch verkaufte GERDA VON OELDE schon vor ihrem Umzug ihr modernes Wohnzimmer mit der Bücherwand, inklusive der Bücher und den drei kleinen Ledersofas. Ihr von der Familie (Mutter) geerbtes Biedermeierzimmer, bestehend aus einer Kommode, einem Ohrensessel, einem Glasschrank, einem Schreib­ tisch und einem Sofa, behielt sie als Mobiliar für ihr Seniorenheimzimmer. Im Seniorenheim bewohnte sie zuvor erst ein kleineres, ehe sie in ihr ak­ tuelles, größeres Zimmer umzog. Dort empfängt sie mich. Sie nimmt auf ihrem Sofa Platz, ich setze mich ihr gegenüber. Zwischendurch kommt eine Mitarbeiterin und bringt uns Tee und Pralinen. Während des Interviews stehe ich auf und gehe im Zimmer umher. GERDA VON OELDE zeigt mir ihre Dinge und lenkt meinen Blick. Bei dem Buddha, der oben auf der Vitri­ne platziert ist, werden ihre Äußerungen detaillierter. Sie hatte eine große Buddhasammlung, un­gefähr 150 Stück. Ihren ersten Buddha bekam sie von ihren Eltern auf einer Reise geschenkt, als sie ihn in einem Schau­ fenster entdeckte. Sie erzählt mir lachend, dass sie von den dicken Bäuchen

45 Zur Präzisierung meiner Erläuterungen habe ich auf meine Beo­bachtungsnotizen zurückge­ griffen. Auf ausführliche Beschreibungen der beobachteten Personen (INGE BÖGE, ELISABETH SCHIERMEYER, LISELOTTE OLSCHWESKI) verzichte ich jedoch, da mir durch die z. T. emo­ tional hoch belastenden Beobachtungssituationen keine ausführlicheren biografischen Daten vorliegen. Von der Interviewpartnerin HILDE SCHULTHEIS steht mir nur eine kurze Inter­ view­passage zur Verfügung, weil das Interview unterbrochen werden musste und kein neuer Termin arrangiert werden konnte. Daher verzichte ich auch hier auf biografische Angaben.

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Methodisches Vorgehen

2.3.4  Die InterviewpartnerInnen

fasziniert gewesen war, da sie einen schlanken Ehemann hatte. Von ihren gemeinsamen Reisen brachten sie immer einen Buddha für ihre Sammlung mit. Auf meine Frage, was mit der Sammlung passiert sei, berichtet sie, dass ihre Kinder kein Interesse daran hatten. Daraufhin verschenkte und verkaufte sie ihre Buddhas. Den größten Buddha hat sie aber behalten und oben auf der Vitrine platziert. Es kommt auch vor, dass ihr Besucher*innen erzählen, dass sie den von ihr geschenkten Buddha noch besitzen und ihr berichten, wo sie ihn hingestellt haben. Immer wieder nimmt sie entlang ihrer Einrichtungsgegenstände und ihres Lebensstils Bezug zu ihrer Her­ kunftsfamilie. Zum Schluss des Interviews geht sie noch einmal stärker auf ihren Alterungsprozess und derzeitigen körperlichen Zustand ein. Wie auch andere InterviewpartnerInnen betont sie, dass sie bereit ist zu sterben. INGRID LAMMERT ist 1926 geboren und lebt zum Zeitpunkt des In­ terviews seit zweieinhalb Jahren im Seniorenheim (DRK ). Im Vergleich zu GERDA VON OELDE bewohnt sie ein viel kleineres Zimmer. Sie hat nicht die Möglichkeit, ein Sofa bzw. einen Sessel aufzustellen. Sie empfängt mich in ihrem Zimmer und wir nehmen auf ihren Stühlen, die um einen kleinen Tisch positioniert sind, Platz. Da sie nach dem ersten Interview einen Termin beim Friseur hat, verabreden wir uns noch einmal für ein zweites Interview an einem anderen Tag. INGRID LAMMERT entschied sich 2009, nachdem sie zwei Jahre lang ununterbrochen gesundheitliche Probleme hatte, auf ärztlichen Rat hin für einen Umzug. Ihre gesundheit­ lichen Probleme, die sie nicht genauer expliziert, stehen für sie in engem Zusammenhang mit ihrer Geschäftsaufgabe. Sie führte als Selbstständige ein Reise- und Versicherungsgeschäft, das sie im Alter von 80 Jahren auf­ geben musste, weil auch ihre Tochter sie nicht mehr unterstützen konnte. Neben ihrem eigenen Geschäft hebt sie noch zwei weitere Anlaufstellen, die sie in ihrem Leben hatte, hervor: Ihr Zuhause, worauf sie im Inter­ view aber nicht weiter eingeht, und ihr Wochenendhaus, das sie 40 Jahre gemeinsam mit ihrer Familie am Stadtrand besaß. Im Gegensatz zu ihrem Zuhause spricht sie im Interview sehr viel über das Wochenendhaus. Sie erzählt von den Ausflügen, von den Familientreffen, von der Einrichtung des Hauses. Das Haus verkaufte sie in vollständig möbliertem Zustand ein Jahr vor dem Umzug (2008), nachdem sie zuerst ihr Auto und dann ihr Geschäft im Alter von 80 Jahren aufgab. Wie auch GERDA VON OELDE bewohnte sie ihr Zuhause nicht bis zum Schluss, sondern zog zuvor schon in eine großzügig geschnittene Architektenwohnung mit zwei Zimmern. Für INGRID LAMMERT erfolgte der Umzug ins Seniorenheim weniger aus einer Notlage heraus, sondern sie hatte die Möglichkeit, sich vorzu­ bereiten. Sie besichtigte mit ihrer Tochter verschiedene Senioreneinrich­ tungen. Da ihre Tochter in der Nähe wohnte, war diese letztendlich auch für die endgültige Wohnungsauflösung verantwortlich, bei der INGRID LAMMERT nicht dabei sein wollte. Seit ihrem Einzug engagiert sie sich im Heimbeirat als Vermittlerin zwischen Heimleitung und ›Bewohnerschaft‹.

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PAUL TRAMPE ist 1927 geboren und wohnt zum Zeitpunkt des Interviews seit zwei Monaten im Seniorenheim (DRK). Im Gegensatz zu den anderen Interviews gibt es bei PAUL TRAMPE nicht viele Vorerklärungen oder Nachfragen. Er steigt direkt in die Erzählung ein und klärt gleich am An­ fang, wie das Interview verlaufen soll. Er erklärt mir, dass ich eine gewisse Ehrlichkeit in Kauf nehmen müsse und fährt mit seiner Erzählung fort. Zwischendurch beendet er Sätze mit den Worten »fertig aus« (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 81). Manche Fragen möchte er nicht beantworten, wie z. B. solche zu seiner Kindheit und seiner Beziehung zu seinen Eltern. Gleichzeitig versucht er, eine Machtposition auszuspielen und spannt mich als Interviewerin ›auf die Folter‹, indem er bestimmte Sachverhalte zuerst nicht vertiefen möchte, sich dann aber anders entscheidet, wie z. B. bei seiner Erzählung über seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS und dass er von seinem Großvater erfahren hat, dass dieser Halbjude gewesen war. Worauf er im Interview immer wieder hinweist und wie durch das Interview auch deutlich wird, ›weiß er, was er will‹. Gleich zu Beginn erzählt er mir, dass er zuvor vier Jahre allein in der 60 qm großen Dreizimmerwohnung gelebt hat, die er 40 Jahre lang mit seiner zweiten Ehefrau bewohnte. Er betont, dass er nicht gerne allein gewesen ist, weil sie 56 Jahre miteinander ver­ heiratet gewesen waren. Sie haben nicht nur zusammen gewohnt, sondern er hat seiner Frau auch, nachdem er als Mitarbeiter der Gewerbeaufsicht pensioniert wurde, bei der Arbeit geholfen. Sie waren also nur sehr sel­ ten voneinander getrennt. Nach ihrem Tod hatte er eine Haushaltshilfe, die ihn unterstützte. Als er an einer Gürtelrose erkrankte und bettlägerig gewesen war, gab es niemanden, der ihn hätte versorgen oder verpflegen können. Zu seinen drei Kindern (zwei Söhne und eine Tochter) hatte er nur mä­ßigen Kontakt. Wieder betont er, dass er allein war. Als sich die Situ­ ation zuspitzte und er nicht mehr aß und trank, beantragte er mit Hilfe einer Sozialarbeiterin einen Heimplatz. Er verkaufte sein Auto und mit Unter­ stützung seiner Schwägerin organisierten sie eine Entrümpelungsfirma, die für seine Wohnungsauflösung zuständig gewesen war. Er ist einer der wenigen Interviewpartner, der die finanziellen Aufwend­ungen bzw. seine Verschuldung, die die Haushaltsauflösung mit sich brachte, hervorhebt. Er beschreibt, wie traurig er ist, dass materielle/immaterielle Werte (Bücher­ regale, Bücher und Wissensspeicher) verloren gegangen sind. Da er erst seit kurzem im Seniorenheim wohnt, ist sein Zimmer noch nicht vollends eingerichtet. Ein paar Einrichtungsgegenstände will er noch erset­zen bzw. umstellen.

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Methodisches Vorgehen

Sie nimmt an den Angeboten der Einrichtung teil. Ebenfalls versucht sie, trotz Rollator und eingeschränkter Mobilität, sich auch weiterhin, außer­ halb des Zimmers zu bewegen und im umliegenden Park spazieren zu gehen. Sie beschreibt sich als »Naturmensch« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 657), womit sie auch ihre enge Beziehung zum Wochenend­ haus begründet.

LUISE IMHOLZ ist 1923 geboren und lebt zum Zeitpunkt des Interviews

seit elf Wochen im Seniorenzentrum ( Diakonie ). Mit LUISE IMHOLZ finden mehrere Gespräche statt, u. a. schauen wir gemeinsam Fotoalben an und sie liest mir aus ihren selbstgeschriebenen Büchern vor. Wenn sie Objekte, die sie mir gerne zeigen will, nicht findet, verabreden wir uns für einen neuen Termin, zu dem sie die Objekte heraussucht. Sie erklärt mir ausführlich, wie sie ihre Puppen selbst anfertigte. Ihre Erzählung wird durch zwei große Themenbereiche bestimmt: die Demenzerkrankung ihres Ehemannes und ihr verhinderter Berufsweg. Als fünftes Kind in einer Familie, in der der Vater schon früh verstarb, fing sie schon in ihrer Kind­ heit an zu arbeiten, um ihre Mutter und ihre Geschwister zu unterstützen. Aufgrund ihrer finanziellen Lage hatte sie trotz großen Talents jedoch nicht die Möglichkeit, eine Ausbildung zur Kunststopferin zu machen. Sie wurde Schneiderin. Einen Umstand, den sie im Interview immer wieder bedauernd erwähnt. Seit 2002 ist sie Mitglied einer Handarbeitsgruppe und fertigte u. a. Puppen, Decken und Kissen für Aids-Projekte an. Insge­ samt stellte sie 350 Puppen her. Ebenso veröffentlichte sie 1999 ein Buch mit plattdeutschen Gedichten aus ihrer Heimat. Ihren Ehemann lernte sie nach Kriegsende kennen. Sie bekamen zwei Töchter. Zusammen teilten sie die Leidenschaft für kreative Arbeiten. Nachdem sie ihren Mann aufgrund seiner Demenzerkrankung sieben Jahre lang häuslich versorgt hatte, zog er 2011 in ein Pflegeheim. Infolgedessen litt sie unter schweren Depressionen und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich. Sie bekam starke Pro­ bleme mit ihrer Hüfte und den Knien. Als ihr Ehemann, bedingt durch seine Erkrankung, eine andere Frau kennenlernte, konnte LUISE IMHOLZ diesen Umstand nur sehr schwer akzeptieren. Sie beschwerte sich bei der Heimlei­ tung und versuchte mit einem Rechtsanwalt gegen diese vorzugehen. Nach ihrer zweiten Hüftoperation und durch eine sehr starke Sturzgefährdung musste sie ebenfalls in eine stationäre Einrichtung umziehen. Jedoch war es ihr durch den Vorfall nicht mehr möglich, bei ihrem Ehemann zu wohnen. Dieser Umstand ist für LUISE IMHOLZ nur sehr schwer zu ertragen. Zum Zeitpunkt des Interviews wurde ihr Fachwerkhaus gerade von der Tochter an ihre Nachbarn verkauft, sodass die Haushaltsauflösung noch nicht ganz abgeschlossen ist. Zwar hat sie ihre Decken, Kissen, Puppen und Möbel schon arrangiert. Doch die restlichen Gegenstände, die sich nach wie vor im Haus befinden, werden von den Töchtern noch sukzessive verschenkt oder verkauft. WALTER NIERMANN ist 1919 geboren und zum Zeitpunkt des Inter­

views lebt er seit fünf Wochen mit seiner Ehefrau im Seniorenzentrum (Diakonie). Gemeinsam beziehen sie ein Ehepaarzimmer mit Wohn- und Schlafbereich. Das Interview findet in ihrem Wohnbereich statt. WALTER NIERMANN sizt mir an einem kleinen Tisch gegenüber. Seine an Demenz erkrankte Frau sitzt auf dem Sofa und verfolgt unser Gespräch. Bei einem Vorgespräch, das ich mit beiden führte, stellte sich heraus, dass WALTER

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nur dabei sein möchte. Während des Interviews adressiert sie ihn das ein oder andere Mal, woraufhin er kurz auf ihre Äußerungen eingeht. WALTER NIERMANN erzählt sehr ausführlich über seine Kriegszeit, wie er sich 1939 freiwillig zum Kriegsdienst meldete und zunächst als Kriegsfreiwilliger und anschließend als Feldwebel stationiert gewesen war. Auf Drängen des Vaters begann er nach Kriegsende eine Ausbildung zum Malermeister. Als Meisterschüler lernte er seine Frau kennen. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Später arbeiteten beide als Angestellte bei einer Organisation des Bundes. Bedingt durch seine Berufstätigkeit zog die Familie mehrmals um. Er war sehr viel unterwegs, reiste viel mit seinem Wohnwagen. Zudem besaß er ein Motorboot. Als seine Armsehne 2009 riss, erlitt er einen gros­ sen Zusammenbruch. Seine Ehefrau zog in ein Pflegeheim, als sie an De­ menz erkrankte, und er zu seiner Tochter. Die damalige Wohnungsauflösung organisierte seine Tochter mit ihrem Ehemann. Er äußert immer wieder seine Unzufriedenheit über die Wohnungsauflösung, die seiner Meinung nach unter Zeitnot und -druck verlief. Viele Gegenstände wurden schon damals verschenkt oder verkauft. Zwei Jahre lebte er bei seiner Tochter, die berufstätig gewesen war, sodass sich ihr Ehemann um WALTER NIERMANN kümmerte. Als dieser schwer erkrankte, war für die Tochter die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege nicht mehr zu gewährleisten, sodass WALTER NIERMANN zusammen mit seiner Ehefrau ins Seniorenzentrum in der Nähe seines Sohnes zog. Nachdem WALTER NIERMANN die Mög­ lichkeit hatte, sich das Seniorenzentrum anzuschauen, übernahm der Sohn die Organisation des Umzugs. Durch die vorherige Wohnungsauf­lösung hatte er nur noch wenige Einrichtungsgegenstände, wie z. B. seinen Com­ puter, ein paar Bücher und seinen Schreibtisch. Insgesamt beschreibt er den Umzug ins Seniorenheim als Entlastung für die familiäre Beziehung und als Verbesserung der Versorgung. MARTHA GEHL ist 1920 geboren und lebt zum Zeitpunkt des Interviews

seit zwei Monaten im Seniorenzentrum (Diakonie). Das Interview ist sowohl für sie als auch für mich als Interviewerin sehr herausfordernd. Das liegt einerseits an den Verständigungsschwierigkeiten und sprach­li­chen Problemen, andererseits aber auch an den hoch emotionalen, äußerst inten­ siven (Flucht-)Erfahrungen und ihrer Inhaftierungserlebnisse. Obwohl sie immer die Möglichkeit hat, das Interview zu beenden, hört sie nicht auf zu erzählen. Bei unserer Verabschiedung deutet sie an, wieviel Kraft ihr das Interview und die Reflexion ihrer Lebensgeschichte gekostet haben. MARTHA GEHL ist mit vier Geschwistern aufgewachsen, die heute u. a. noch in Nordamerika und Deutschland leben. Sie wuchs unter starken Hungers­ nöten und in prekären Wohnverhältnissen auf. 1944 musste sie mit ihrer Familie flüchten. Sie wurden in ein Arbeitslager deportiert, in dem sie 15 Jahre unter schwersten Bedingungen leben und arbeiten mussten. Nach ihrer Freilassung wurde ihnen eine Wohnung, in der mehrere Familien

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Methodisches Vorgehen

NIERMANN hauptsächlich das Interview geben und seine Frau einfach

untergebracht wurden, zugeteilt. Als ihr Bruder aufgrund eines Bürger­ krieges aus einem osteuropäischen Land nach Deutschland migrierte, folgte sie ihm 1992 mit ihrer Schwester. Mit dieser lebte sie 19 Jahre in einer betreuten Zweizimmerwohnung. Sie erzählt, wie überrascht sie gewesen war, dass ihnen beiden zwei Zimmer zur Verfügung gestellt wurden. Sie war es gewohnt, auf engstem Raum mit vielen Menschen zu leben. Ihre Familie unterstützte sie finanziell, um sich in der Wohnung neu einrichten zu können. Sie wiederholte immer wieder, dass sie »nichts« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 577) hatten, als sie nach Deutschland kamen. Manche Einrichtungsgegenstände wurden ihnen auch von Nachbarn geschenkt oder zur Verfügung gestellt. Dabei stellte sie immer wieder die Frage, wofür sie das brauchen würde und machte somit deutlich, dass es ihr um das Not­ wendigste ging. Nachdem ihre Schwester erkrankt war, lebte sie allein in der Wohnung. Als sie plötzlich unter Lähmungserscheinungen litt, musste sie zur Untersuchung in ein Krankenhaus. Nach ihrer Genesung überwies sie ihr behandelnder Arzt ins Seniorenzentrum. Nach seiner Einschätzung war sie nicht mehr in der Lage, sich allein zu versorgen. MARTHA GEHL kannte das Seniorenheim schon von ihrer Schwester, die dort ebenfalls bis zu ihrem Tod 2009 lebte. Ihren Umzug und die Wohnungsauflösung orga­ nisierte ihr gesetzlicher Betreuer. Sie erzählt, dass sie letztendlich sehr froh gewesen ist, dass er mehr Einrichtungsgegenstände mitnahm, als sie eigent­ lich vorhatte, und sie dadurch nicht so viel ungenutzten Platz in ihrem Zim­ mer hat. Im Gegensatz zu manchen Dingen, die sie eher faktisch aufzählt, wie den Sessel, den Fernseher, den Schrank, erwähnt sie ihre Heiligenbilder, die auf ihre Familie und Religiosität bzw. religiöse Praxis verweisen, sehr liebevoll.

2.3.5  Fotografien & Illustrationen Direkt im Anschluss an das Interview oder z. T. auch noch im Verlauf des Feldaufenthalts fertigte ich in der ersten Untersuchungsphase Grundrisse von den Zimmern an, d. h. zeichnerische Abbildungen der Bodenflächen mit den Raummaßen und Möbelstücken. Dabei ging es mir nicht um Voll­ ständig- oder Genauigkeit, sondern um die Dokumentation als Erinner­ ungsstütze. In der zweiten Feldphase ersetzte ich die skizzierten Grundrisse durch dokumentarische Fotografien der Zimmer und der in den Interviews thematisierten Objekte. Die Foto­grafien waren viel genauer und ermög­ lichten mir, die Dinge, ihre Arrangements, ihre Präsentation, die Beziehung zwischen den Dingen sowie die Spuren der Praxis und des Gebrauchs von Dingen festzuhalten. Mit der Visualisierung der materiellen Gestalt des Seniorenheimzimmers konnte ich zudem die nicht-sprachlichen Wissens­ formen und kulturellen Kontexte einfangen ( vgl.  Bosch/ Mautz 2012: 4). Es gelang mir eine mehrdimensi­onale Darstellung der Lebenssituationen, der Räume und Arrangements. Obwohl ich in meiner Untersuchung keine Bild­

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Methodisches Vorgehen

analyse durchführen wollte, waren die abgebildeten Objekte und Räume hilfreich für die Interpretation der Interviews, um die Bezugnahmen der InterviewpartnerInnen zu den Objekten, zu ihrer Platzierung, zu den anund abwesenden Dingen nachvollziehen zu können. Die Fotografien geben Informationen zu den Farben, dem Material, der Größe und dem Zustand der anwesenden Objekte, worauf die Befragten in den Interviews eher selten eingegangen sind. So konnten die Abbildungen bestimmte Eigen­schaften der Räume und Dinge ergänzen, die die Befragten in ihren Aus­sagen aus­ ließen. Dinge, die nicht vor Ort waren, konnten nur verbal erläutert und nicht fotografiert werden, d. h. das Verhältnis zwischen anwesenden und abwesenden Objekten lässt sich mit den Fotografien nicht aufzeigen. Elena Höpfner schreibt in »Menschen auf der Flucht […] « ganz treffend, dass sie mehrere leere Seiten in ihre Arbeit hätte einfügen müssen, um dem wirk­ lichen Verhältnis von abwesenden und anwesenden Dingen gerecht zu werden ( vgl. Höpfner 2016: 30). Mit den Fotografien wollte ich den Leser*innen aber auch eine bessere Vorstellung von den anwesenden Dingen und den Räumlichkeiten vermitteln. Ich wollte nicht nur die InterviewpartnerInnen, sondern auch ihre »Territorien des Selbst« (Goffmann 1982: 54 ff.) zu Wort kommen lassen. Ich wollte einen Eindruck von den Zimmern bzw. den Lebensräumen ver­ mitteln, in denen die InterviewpartnerInnen lebten. Zugleich wollte ich durch die Fotografien bestimmte Interviewpassagen verdeutlichen. Das Kooperationsprojekt »Visualising Research« (2015–2016) der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS ) mit dem Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld stimmte genau mit meinen Vorstellungen von Visualisierung und Vermittlung überein. Das Projekt verfolgte die Idee, dass Kunst und Wissenschaft zusammenarbeiten, um eine grafische Übersetzung für geisteswissenschaftliche Forschungsthemen zu finden, die oftmals einen Forschungsgegenstand beinhalten, der im Gegensatz zu den Naturwissenschaften schwerer zu vermitteln bzw. zu transformieren ist. Die Illustrationen von Sonja Mense und Solveig Lawitzke machen die individuellen Perspektiven, Intentionen und Gestaltungsweisen der AkteurInnen sichtbar. Sie erfassen mit ihren ästhetischen Übersetzungen und Deutungen die Ambivalenz zwischen Rationalität und Emotionalität, die diesen Übergangsprozessen innewohnt. Die Grundlage für die Zeich­ nungen bildeten zahlreiche Gespräche mit den beiden Künstlerinnen, ver­ gleichbar mit Interpretationssitzungen, in denen ich meine Erkenntnisse systematisierte und durch die gestalterischen Impulse und Nachfragen kontrastierte. In den mehrmalig stattfindenden Einzelgesprächen mit den Illustratorinnen erzählte ich ihnen von den InterviewpartnerInnen, den Feldforschungsaufenthalten, meinen Eindrücken und Erlebnissen und ak­ tuellen Forschungsergebnissen. Daraufhin entwickelten sie Entwürfe, die wir im Dialog diskutierten und die sie daraufhin weiter ausarbeiteten. Die Zeichnungen entstanden ohne Kenntnis der Fotografien und Grundrisse

und stellen eigene Interpretationen der Grafikerinnen auf Grundlage der Gespräche dar. Sie gewähren deshalb im Gegensatz zu den Fotografien ein höheres Maß an Anonymität gegenüber den InterviewpartnerInnen. Ihre unterschiedlichen Interessen und grafischen Ansätze greifen den materi­ ell-räumlichen Zugang auf und verdeutlichen, wie die Interviewten über die unterschiedlichen Facetten des Übergangs gesprochen haben und verwei­ sen auf die Individualität bzw. die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. So­ mit versammeln sich in dieser Untersuchung nicht nur meine Interpretatio­ nen und Konzeptionen, sondern auch die Interpretationen und Erkenntnisse der Illustratorinnen Sonja Mense und Solveig Lawitzke. 46

2.4  Zur Gestaltung der Datenauswertung Die Grundidee der Auswertung mittels der Grounded Theory geht davon aus, dass zu einem interessierenden Phänomen Daten erhoben werden. Den in den Daten vorfindbaren Ereignissen wird ein zusammenfassender Begriff (Kode) zugewiesen ( vgl.  Mey/Mruck 2011: 34 f.) Durch diese Zu­ weisungen werden die Daten zu »Indikatoren« für ein dahinterliegendes Konzept. Dieses wird durch den Kode benannt. »Im Zuge der weiteren Kodierarbeit, durch weitere Vergleiche und den Einbezug weiterer Fälle mittels ›Theoretical Samplings‹ sollen Kodes dann so zu Kategorien ver­ dichtet werden, dass am Ende eine Kernkategorie herausgebildet wird, die in zu definierenden Beziehungen zu allen anderen herausgearbeiteten Kategorien steht und das interessierende soziale Phänomen oder Pro­ blemfeld am Besten erklärt.« (Mey/Mruck 2011: 35). Mit dem theoretischen Sampling wird der Einbezug von neuen Fällen gesteuert. Es handelt sich um eine spezifische Variante der sukzessiven Auswahl von im Zuge der Theorienentwicklung sich als relevant erweisenden, neu zu erhebenden Daten. Dabei geht es mit dem »Theoretical Sampling« nicht wie in sta­ tistischen Verfahren darum, aus einer Stichprobe Aussagen über eine Grundgesamtheit treffen zu können. Vielmehr wird das Ziel verfolgt, eine »konzeptuelle Repräsentativität« (Strübing 2014: 31), im Sinne einer detail­ lierten Entwicklung theoretischer Konzepte und Kategorien, zu errei­chen. Als weitere wesentliche Kernprozedur werden die Daten 47 auf Ähnlichkei­ ten und Unterschiede hin verglichen. Bei der Methode des ständigen Ver­ gleichens wird das Material einerseits begrenzt oder bewusst ausgedehnt, anderseits werden die Ergebnisse immer weiter fokussiert, präzisiert und vervoll­ständigt. Die Abstraktion hin zu einer Grounded Theory wird somit durch spezifische Kodierprozeduren geleistet, durch die empirische Daten sukzessive verallgemeinert werden.

46 Die Illustrationen dienten nicht als Interpretationsgrundlage, sondern nur zur Visualisierung und Vermittlung der materiellen Gestaltung und kulturellen Kontexte. 47  Dabei können u. a. empirische Daten und aus ihnen generierte Kodes verglichen werden.

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Gegenstandsbezogenes Kodieren Offenes Kodieren

Selektives Kodieren

Analyse/Vergleich möglichst klein­teiliger Einheiten (in der Regel line by line coding) mit dem Ziel, zentrale Handlungsprobleme im Unter­suchungs­feld zu identifi­ zieren und möglichst als In-vivoKodes zu benennen. Im Zuge des offenen Kodierens erfolgt, basie­­rend auf permanenten Vergleichs­prozessen, die Verdichtung vieler konzeptueller Kodes zu einer überschaubaren Anzahl an Kategorien.

Beginnt, wenn die vorläufige Schlüsselkategorie (core category) identifiziert werden konnte, die das Handeln im Feld bezogen auf das Ausgangsproblem am besten erklärt. Alle nun folgenden Kodierprozeduren werden auf diese Schlüsselkategorie hin ge­­leistet, ebenso ist das dann folgende Sampling auf die Schlüsselkategorie bezogen, d. h. Berücksichti­ gung von in­versen, gegensätzlichen, allge­meinen und speziellen Fällen mit dem Ziel der Sättigung des Kategorien­systems und der (weiteren) Ent­wicklung einer vorläufigen Leitidee.

Theoretisches Kodieren

Ausdifferenzierung der Leitidee durch Integration der Kernkatego­ rie und der anderen auf sie bezogenen Kategorien in ein theoretisches Modell, das die Handlungs­ probleme im Feld und die auf sie bezogenen Handlungen am besten erklärt (Ent­wicklung der Kern-/ Schlüssel­kategorie und der Beziehung zwischen den Kategorien inkl. der Bestim­mung der Bedingungen, unter denen die Beziehungen gelten). Hierbei kann auf Vorwissen/bereits verfügbare Modelle zur Integration von Theorie zurückgegriffen werden.

Abbildung 2: Kodierprozeduren nach Glaser (1978), (Mey/Mruck 2011: 36)

Der erste Schritt des offenen Kodierens diente dem ›Aufbrechen‹ der Daten durch das Benennen und Konzeptualisieren wichtiger Phänomene und Eigenschaften ( vgl.  Strauss/Corbin 1996: 43 ff.). Wie schon Max Weber for­muliert hat, geht es bei einem tieferen Verständnis, das über den sub­ jektiv gemeinten Sinn hinausgeht, darum, die Logik der Sinnproduktion zu verstehen und diese kontextualisieren zu können. Es handelt sich also nur um ein wirkliches Verstehen, wenn man es z. B. schafft, aus den Worten die Sinn­struktur der objektiven gegenwärtigen und vergangenen Beziehungen zwischen dem Werdegang der AkteurInnen und den Struk­ turen des Senio­ren­heims sowie des Altenhilfesystems zu verstehen, die

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Methodisches Vorgehen

Entsprechend meiner Forschungsfrage und meines Forschungsprozesses wurde meine Vorgehensweise von drei wesentlichen Aspekten durchzogen: gegenstandsbezogenes Kodieren, theoretisches Sampling und Vergleiche. Die Variante von Barney Glaser, die methodischer Bezugspunkt für meine For­ schungsarbeit war, sieht einen zweistufigen Prozess des Kodierens vor, d. h. zum einen das gegenstandsbezogene Kodieren, das sich in offenes und selek­tives Kodieren unterteilen lässt, und zum anderen das theore­tische Kodieren, bei dem das bereits vorhandene Vorwissen einbezogen werden kann (siehe Abb. 2). Anders als bei Barney Glaser teilte sich mein Kodier­ verfahren jedoch nicht in das gegenstandsbezogene und das theoretische Kodieren, sondern letztlich waren alle drei Kodierprozesse gegenstands­ bezogen und iterativ-zyklisch (siehe Abb. 3). In allen drei Phasen war die wiederkehrende Rückbindung an Daten äußerst hilfreich, um Kodes oder Kategorien noch einmal zu überprüfen und zu sortieren.

darin zum Ausdruck kommen ( vgl.  Bourdieu 2005: 403). Es ist unvermeid­ bar, die immanenten Strukturen situationsbedingter und im Rahmen einer punktuellen Interaktion hervor­ge­brachter Äußerungen an die Oberfläche zu bringen, um zu Erkennt­nissen zu gelangen ( vgl. Bourdieu 2005: 403).

Offenes Kodieren

Selektives Kodieren

Theoretisches Kodieren

Theoretische Sensibilität

Gegenstandsbezogener Kodierprozess

Theoretisches Sampling: Repräsentativität an Fällen

Komparative Analysen: Vergleiche zwischen den Handlungsbedingungen und -kontexten der InterviewpartnerInnen, zwischen empirischen Daten zwischen den Kodes, etc.

Abbildung 3: Kodierverfahren

Die Phase des offenen Kodierens fand größtenteils in kollektiven Inter­preta­tions­sitzungen in der Bielefelder Forschungswerkstatt, in der Re­ search Class der BGHS und mehreren kleineren Interpretationsgruppen statt. Qualitative For­schung in Teams oder Forschungswerkstätten sind mit der Geschichte der Grounded-Theory-Methodologie (GTM ) von Beginn an eng verbunden, denn »die in der GTM zu leistenden Schritte – das kon­ zeptuelle Arbeiten an Einzelfallmaterial, der kontrastive Vergleich unter­ schiedlicher Materialien und die darauf aufbauende Ent­wicklung theore­ tischer Modelle – können wesentlich effektiver in einer Arbeitsgruppe umgesetzt werden […] « (Mey/Mruck 2011: 34). Das äußerst produktive Potenzial dieser regelmäßigen kollegialen Interpretationsrunden wurde für die sequenz­analytischen Interpretationen und die Diskussion von Inter­ preta­tions­texten genutzt. Der von Kathy Charmaz entworfene Ansatz, die »Subjek­tivitäts- und Interaktionscharakteristik« (Breuer/Mey/Mruck 2011:

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Methodisches Vorgehen

434) als Erkenntnisfenster zu nutzen bzw. diesen Ansatz in der Er­hebung und Interpretation mitzuführen, hatte sich insofern als hilfreich erwiesen, als dass die Selbstthematisierungen, die eigenen Erfahrungs­hintergründe und Wissensbestände, die Reflexionen des Kontakts mit dem Feld und seinen Mitgliedern, die Interaktion mit den Interviewpartner­Innen, die vorherrschenden Dominanzverhältnisse oder auch Bedingungs­faktoren (wie z. B. Altersunterschiede) thematisiert wurden und in die Interpre­ tation mit eingeflossen sind. In den Interpretationssitzungen spielte die Interaktion zwischen Forscherin und Beforschten immer wieder eine Rolle. Des öfteren diskutierten wir über die Auswirkungen des Alters- oder auch des Geschlechterunterschieds auf die Interviewsituationen und die verhandelten Inhalte. Oft wurde ich während des Interviews mit MARTHA GEHL als »liebes Kind« (Interview 22; MARTHA GEHL : Z. 58) adressiert, das sich die Ausmaße der Hungersnot und Zwangsarbeit nicht vorstellen kann. Der Gesprächspartner PAUL TRAMPE versuchte mir gegenüber ein Dominanzverhältnis aufzubauen, indem er mir gleich zu Anfang mitteilte, dass ich im Interview eine gewisse Ehrlichkeit in Kauf zu nehmen habe ( vgl. Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 44). Immer wieder versuchte er durch Verzögerungstaktiken seine Machtposition als ›Experte‹ auszuspie­ len. Auf bestimmte Fragen wollte er zunächst nicht antworten, entschied sich dann aber wieder um. Bestimmte Ausführungen beendete er dermas­ sen abrupt, dass ich als Interviewerin das Gefühl hatte, er würde keine weiteren inhaltsbezogenen Nachfragen akzeptieren. Immer wieder wurde die Beziehung zwischen Forschungs­teilnehmerIn und Forscherin behan­ delt, die den Interviewverlauf, das Gesagte und die Alltagssituationen maßgeblich mitbestimmte. In manchen Interviews fiel es mir aufgrund sprachlicher Barrieren, unterschiedlicher Lebenserfahrungen oder der An­ spannungen seitens der InterviewpartnerInnen schwer, den Erzählfluss aufrechtzuerhalten und einen Zugang zu den Interviewten zu bekommen, was sich wiederum auf die Interviewsituation und meine Fragestellungen auswirkte. Ebenso wurde meine Position als Forscherin und Akademikerin von Mitarbeiter*innen und TeilnehmerInnen kritisch betrachtet und beein­ flusste die Bereitwilligkeit, über Erfahrungen, Entscheidungen, Strategien oder biographische Hintergründe zu berichten. Hinzu kamen meine eige­ nen Beweggründe, sich mit dem Forschung­sthema auseinanderzusetzen. Oft habe ich in Interpretationsgruppen über meine Sichtweisen, Annahmen, Vorstellungen und Erwartungen bezüglich der The­men wie Vergänglichkeit und Sterben gesprochen. Denn genau diese Annahmen und Vorstellungen, meine Erlebnisse sowie die Lebensphase, in der ich mich befand, waren ausschlaggebend für bestimmte Fragestellungen und Vorannahmen, die z. T. in Fragestellungen zum Ausdruck kamen. Außerdem konnten die kollektiven Analysesitzungen in Forschungswerkstätten und Teams die Qualität und Validität von Ergebnissen sicherstellen, indem verschiedene Lesarten diskutiert und abgeglichen sowie Übereinstimmungen über In­ terpretationsrichtungen gefunden wurden.

Als Grundlage für die Interpretationssitzungen dienten neben den Aus­ zügen aus den Feldforschungstagebüchern und den Gesprächsproto­kollen die Teil- und Volltranskripte, die auf Basis der Audioaufzeichnungen der Interviews entstanden. Mit der Verschriftlichung wurde eine Inter­ pretation des Materials vorgenommen, die nicht der phonetischen Tran­ skription entspricht, sondern in Ansätzen dem Basistranskript (GAT ), das jedoch eher in seltenen Fällen die Gestik und Mimik der Personen mit einbezieht.48 In den Transkripten wurde die mündliche Rede wörtlich do­ kumentiert, sodass z. T. vorhandene Dialekte oder sprachliche Eigenheiten beibehalten wurden. Wortdoppelungen, Satzabbrüche, Satzformen, Verspre­ cher, Stottern oder Laute wurden ebenfalls verschriftlicht. Die »Valeurs der Sprache« (Küsters 2006: 73), die Betonungen, die Tonhöhenunterschiede und die Lautstärke wurden in Teiltranskripten durch Textformatierungen gekennzeichnet. Entsprechend meiner Fragestellung habe ich im fort­ schreitenden Forschungsprozess nur Basistranskripte von ›interessanten‹, erkenntnisbringenden Passagen angefertigt und die ande­ren Interview­ passagen z. T. verschriftlicht, ohne gesprächsanalytische Prinzi­pien zu berücksichtigen oder sie auch gelöscht, weil die Erzählpassagen nicht forschungsrelevant waren. Bei der Anonymisierung der Interviews habe ich mich an den Richtlinien der faktischen Anonymisierung orientiert, um eine Reidentifikation der Befragten größtmöglich zu verhindern. Ein­ zelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse habe ich durch Pseudonyme oder sozialwissenschaftlich relevante Informationen ersetzt ( vgl. Kretzer 2013: 5). Dabei habe ich einerseits versucht, Äquivalente zu wählen, und andererseits durch Erläuterungen bzw. Schlagworte die per­ sönlichen Hinweise so entstellt, dass sich keine Rückschlüsse mehr ziehen lassen und für mich trotzdem noch eine inhaltliche Nachvollzieh- und Interpretierbarkeit besteht.49 Für das sequenzanalytische Vorgehen wurden die aus dem um­ fangreichen Datenmaterial selektiv ausgewählten Sequenzen, d. h. einzelne Phrasen, die als Indikator für das zu unterscheidende Phänomen betrachtet wurden, in die Datensitzungen eingebracht. Für die Frage nach der selek­tiven

48  Sowohl  die Verschriftlichungen als auch die Audioaufzeichnungen sind konstruiert, da sie jeweils höchst selektiv sind. Denn obwohl Audioaufzeichnungen zunächst als Abbildungen der Situationen erscheinen, können sie keine Gestiken, Mimiken, Körperhaltungen, Be­ wegungen, Anordnungsprozesse, etc. erheben. Zudem registrieren die Verschriftlichungen von Audioaufzeichnungen bestimmte Satzabbrüche, Betonungen und Geräusche, die die UntersuchungsteilnehmerInnen selbst nicht wahrnehmen. Daher sind »jegliche Rekon­struk­tionen, egal ob Audioaufzeichnungen oder ethnografische Beschreibungen […], somit unweigerlich etwas anderes als die Wirklichkeit selbst« (Kelle 2004: 646, zit.n. Kuhn 2011: 42). 49 Für die vorliegende Arbeit habe ich entsprechend der Lesbarkeit parasprachliche Äuße­­r­ungen z. T. weggelassen und Auslassungen in den Interviewauszügen markiert. Ebenso habe ich auf bestimmte Versprecher, Dehnungen, etc. verzichtet. Jedoch wurde kein Wort durch ein anderes ersetzt und auch die Reihenfolge der Aussagen ist unverändert. Hinter den verwendeten Interviewzitaten sind jeweils die Interviewnummer­ierungen, die Namen der interviewten Personen und die Zeilenangaben aufgeführt.

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50 ATLAS.ti ist ein Computerprogramm zum Verwalten, Extrahieren, Analysieren und Vergleichen von Daten ( vgl.  Rühl 1997). Der Aufbau und die Struktur sind an der Grounded Theory aus­ge­ richtet. Die Texte habe ich primär mit Hilfe von ATLAS.ti strukturiert, indem ich ›interessanten‹ Textstellen Kodes zugeordnet und im Anschluss daran in Form von Memos Analysetexte, Hypothesen bzw. weitere Fragestellungen notiert habe. Aufgrund dieser Systematisierung konnte ich für die vergleichende Analyse Tabellen zu den Kodes anfertigen.

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Methodisches Vorgehen

Auswahl von Interviews und darin enthaltener einzelner Sequenzen zur weiteren Interpretation bietet nach Truschkat et al. die Methodologie der Grounded Theory eine hilfreiche Strategie an. Das »Theoretical Sampling« kann aufgrund von entwickelten Hypothesen und Kategorien bedeuten, noch weitere Daten zu erheben oder sich auf seine schon bestehenden Daten zu beziehen ( vgl. Truschkat/Kaiser-Belz/Reinartz 2007: 255). Das Prinzip des »Theoretical Sampling« kann demnach nicht nur auf die Datenerhebung angewandt werden, sondern auch auf das erhobene Datenmaterial. Unter der Strategie des »Theoretical Sampling« wurden aus dem in vier Feldpha­ sen generierten, umfangreichen Korpus an Beobachtungsnotizen und Inter­ viewmaterialien nach dem Vergleichsprinzip der möglichst großen Varia­ tion (Kontrastierung) verschiedene Sequenzen zur weiteren Interpretation ausgewählt. In kleinschrittigen Feinanalysen wurden die ausgewählten Sequenzen Wort für Wort bzw. Zeile für Zeile und zu späteren Zeitpunkten abschnittsweise anhand von sogenannten W-Fragen (Was? Wer? Wie? Warum? Wozu?), die dem Kodierparadigma von Strauss und Corbin ent­ lehnt sind, kodiert ( vgl. Böhm 1994: 127). Zum Teil wurden mehrere Kodes für eine Situation vergeben, sozialwissenschaftliche Termini (»Altersdiskurse«, »Status«, »Milieuzugehörigkeiten«) oder aus dem Material entlehnte, alltags­ sprachliche In-vivo-Kodes (»ich war zeitlebens mit Büchern verbunden«, »ich bin katholisch erzogen worden und so lebe ich auch«) genutzt. Durch die computergestützte Umsetzung der Kodierschritte mittels ­ATLAS.ti (5.0)50 konnten parallel Memos zu den ersten Konzeptideen notiert und die Kodierungen beschrieben werden. Das (Fort-)Schreiben der Memos glich den Eintragungen in einem Forscher*innentagebuch, in dem auch Blitz­ gedanken oder offene Fragen, Unklarheiten und theoretische Bezüge pro­ tokolliert werden. In dieser ersten Phase des offenen Kodierens wurden somit alle Facetten eines jeweiligen Phänomens detailliert und vollständig herausgearbeitet. »Grundlegend zielt dieses Vorgehen auf eine analytische Komplexitätssteigerung, was sich in Interpretationstexten spiegelt, die um ein Vielfaches umfangreicher sind als die interpretierten Beobachtungs­ sequenzen selbst.« (Kuhn 2013: 37) Die Interpretationstexte dienten als Grundlage für die Vergleiche zwischen den Kodes, aber auch zwischen den weiteren InterviewpartnerInnen. »Die zentrale Frage bei diesem Schritt lautete: Unter welchen Bedingungen tritt ein bestimmtes Phänomen in immer gleicher Weise auf und welche veränderten Bedingungen führen zu abweichenden Phänomenen?« (Pelizäus-Hoffmeister 2013: 190 f.) Die ent­wickelten Hypothesen und Kodierungen wurden im Sinne der Spiral­

förmigkeit der Erkenntnisentwicklung anschließend vor dem Hintergrund weiterer Fälle – die Auswahl erfolgte mit Hilfe des theoretischen Samples – einer empirischen Prüfung unterzogen ( vgl. Glaser/Strauss 2005: 55). Durch die bewusste Einbindung von theoretischer Vorüberlegungen und vorhandener Theorien (»Theoretische Sensibilität«) war eine über die Deskription hinausgehende Konzeptualisierung möglich. Mit fortschreitendem Prozess wurden nicht mehr nur Textstellen mit Kodes versehen, sondern die Kodes wurden miteinander verknüpft und zu übergeordneten Kategorien verdichtet. Durch das Kodieren der Transkripte ließen sich relevante Konzepte mit ihren dazugehörigen Eigenschaften (Dimensionen) herausarbeiten. Immer wieder wurden neue Eigenschaften durch die Minimierung bzw. Maximierung der Differenzen entwickelt und weitere Interviews, Beobachtungen und Erzählungen, die nicht aufgezeichnet wurden, in die Analyse mit ein­ bezogen. Durch den zyklisch-iterativen Forschungsprozess wurde die Zu­ verlässigkeit und Angemessenheit der Ergebnisse auf jeder Stufe erneut geprüft und bewertet. Außerdem wurde auch die Masse an Daten durch diese Form des »Theoretical Sampling« reduziert bzw. konzentriert. Die systematischen, fallvergleichenden und ­kontrastierenden Ana­ lysen im zweiten Schritt, dem selektiven Kodieren, hatten zum Ziel, zu jedem ›Thema‹ unterschiedliche Varianten zu finden und systematisch Eigenschaften der Kategorien herauszukristallisieren, die dann weiter verglichen wurden, um die Kategorien zu sättigen, bis klar wurde, welche die Schlüsselkategorien sind. Die erarbeiteten theoretischen Zusammenhänge wurden in wenigen Hauptkategorien zusammengeführt, die die Basis der erarbeiteten theoretischen Skizze bzw. des Konzepts bildeten. Mit dem theoretischen Kodieren wurden sowohl die Beziehungen zwischen den Kategorien heraus­ als auch theoretische Bezüge hergestellt. Die substanziel­ len Kodes, die im offenen Kodieren entwickelt wurden, wurden mit Hilfe theoretischer Kodes zueinander in Beziehung gesetzt ( vgl. Strübing 2011: 268) und schließlich mittels der im Kodierprozess generierten Schlüsselkategorie in ein Konzept integriert. Als neue Daten ab einem bestimmten Zeitpunkt bis auf weiteres keinen substanziellen Wissenszuwachs für die generierte theoretische Skizze mehr lieferten, wurde der Punkt der theoretischen Sättigung bzw. der (vorläufige) Endpunkt der Analyse erreicht. Die hier vorgelegte For­ schungsarbeit versteht sich nicht als eine ›neue‹ Theorie der Gestaltung von Übergängen, gegenstandsbezogen und empirisch begründet generiert, wie es dem paradigmatischen Anspruch der Grounded Theory entspräche. Sie entspricht eher einer interpretativen Darstellung51 oder eines Konzepts im Sinne eines Erklärungsansatzes.

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Die Bezeichnung »Interpretative Darstellung« zielt darauf ab, dass die Analyse nicht als objektiver Bericht oder einzige Sichtweise der Th   ematik gilt. 

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3. Zur Interdependenz von Körpern, Dingen und Räumen im Übergang

In der Analyse des Materials konnten drei Erfahrungsdimensionen des wohnraumbezogenen Übergangs identifiziert werden: Körper – Dinge – Räume. Diese Erfahrungsdimensionen werden im folgenden Kapitel zwar in Hinblick auf den Körper, die Dinge und den Raum dargestellt, aber nicht als voneinander abgegrenzt oder abgrenzbar verstanden. Vielmehr wird durch die Darstellung deutlich, wie sie aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig bedingen. Daher bezeichne ich sie als interdependente Erfahrungsdimensionen, die in einem komplexen Beziehungsgefüge bzw. Verweisungszusammenhang stehen. Die Beziehung zu den Dingen z. B. wird sowohl im Verhältnis zum körperlichen Leib als auch im Verhältnis zum Raum relevant gesetzt. Die räumlichen (Wieder­)Herstellungspraktiken, von der Auswahl der Einrichtung bis zur Aneignung des ›gebauten Raumes‹, sind nicht ohne die materielle Dimension zu betrachten und setzen immer am körperlichen Leib der AkteurInnen an. In einzelnen Übergangsstationen stehen die Erfahrungsdimensionen in einem kausalen Zusammenhang. So würde ich die Veränderungen des körperlichen Leibes in Kombination mit der privaten Betreuungs­ als auch Wohnsituation 52 als ausschlaggebend für die Entscheidung zum Übergang ins Seniorenheim ansehen. Zwar beschreibe ich die Erfahrungsdimensionen entlang von einzelnen Übergangsphasen wie der Entscheidung zum Übergang, der Auswahl der Senioreneinrichtung, der Haushaltsauflösung oder dem eigentlichen Umzug, jedoch sind diese nicht in einer chronologischen Abfolge oder als ein Verlaufsmodell zu verstehen, sondern als miteinander verwoben bzw. wechselseitig verschränkt. Meine Ausführungen werde ich mit der Erfahrungsdimension Körper beginnen, da sich dieser in seiner Veränderung, in seinem Erleben und als Grundlage von Zuschreibungen und Kategorisierungen als einer der wesentlichsten und entscheidendsten Bedingungsfaktoren für den Übergang ins Seniorenheim erwiesen hat.

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Ich werde das ein oder andere Mal auf die private Betreuungssituation oder die Rolle der Angehörigen eingehen, jedoch geht es in meiner Arbeit nicht explizit um die Rolle der Angehörigen im wohnraumbezogenen Übergang ( vgl. Teti et al. 2012, Mischke et al. 2005). Hier wären m. E. weitere Forschungsarbeiten notwendig.

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3.1  Erfahrungsdimension Körper In den Interviews sowie in Gesprächen mit Mitarbeitenden zeichnet sich ab, dass es sich bei der Entscheidung zu einem Übergang um keinen leichten Entschluss handelt. Keiner der InterviewpartnerInnen hat die Entscheidung für einen Übergang ins Seniorenheim ›präventiv‹ getroffen, sondern eher »fünf nach 12 als fünf vor 12«53. PAUL TRAMPE hat lange Zeit versucht, mit Hilfe einer Haushaltsunterstützung Zuhause zu bleiben. Erst als die Versorgungssituation durch seine Gürtelrose-Erkrankung lebensgefährlich wurde, er nicht mehr essen und trinken wollte und konnte, entschied er sich für einen Übergang. WALTER NIERMANN hatte, bevor er sich endgültig für einen Übergang ins Seniorenheim entschied, bei seiner Tochter gelebt. Als die fa­ miliäre Versorgungssituation immer unsicherer wurde, war der Übergang ins Seniorenheim unausweichlich. INGRID LAMMERT und GERDA VON OELDE hatten sich nach dem Auszug ihrer Kinder und ihrer Verwitwung schon für eine kleinere Wohnung entschieden. Sie wollten einen Wohn­ raum, der angemessen für eine Person und damit auch leichter zu hand haben war. Ihre zahlreichen Krankheiten und Zusammenbrüche führten jedoch dazu, dass sie sich nicht mehr allein versorgen konnten und mit Ungewiss­ heiten und Unwägbarkeiten konfrontiert sahen, sodass sie die Grenzen ih­ rer bisherigen Lebensführung erreichten. Der Übergang ins Senio­renheim war für INGRID LAMMERT dementsprechend notwendig, um ihre ge­ sundheitlichen Probleme zu bewältigen und professionell versorgt zu sein. Bei allen InterviewpartnerInnen markiert der Körper einen Wendebzw. Interpretationspunkt 54, durch den die Zukunft neu geplant werden muss. In den Interviews werden verschiedene Krankheiten beschrieben, von Krebserkrankungen über Hüftoperationen zu lebensgefährlichen Infek­ tionskrankheiten wie z. B. der Gürtelrose. Dem leistungsfähigen, produk­tiven, selbstverständlichen Körper, der zunehmend von Krankheiten be­ stimmt wird, sind Grenzen gesetzt, über die sich die Interviewpartner­ Innen nicht mehr hinwegsetzen können. GERDA VON OELDE beschreibt, dass sie mehrere Krankheiten hatte und noch vor dem Übergang ins Seniorenheim wegen ihrer Brustkrebs­­erkrankung operiert werden musste. Gerade ihre Multimorbidität und ihre familiäre Situation als Witwe, deren Kinder schon seid längerem ausgezo­ gen waren, führten zu der Angst, sich nicht mehr selbstständig versorgen zu können. 53  Aus  dem Gespräch mit Richard Dombrowski, Stiftsleiter des diakonischen Wohnstifts in Niedersachsen, am 13.10.2017. 54  Der Begriff »Interpretationspunkt« wurde von Wolfram Fischer in die Diskussion um die Konstitution von Lebensgeschichten eingeführt. Dieser markiert die »Gegenwartsschwelle«, die konstitutiv für die »retrospektive Ausbildung der Lebensgeschichte« (Fischer 1978: 319) ist. Dieser Interpretationspunkt kann durch gesellschaftliche Entwicklungen, durch Verän­de­r­ungen im Familiensystem oder biographische Wendepunkte wie z. B. Verwitwung, Scheidung, Erkrankung und Wohnortwechsel ausgelöst werden ( vgl. Rosenthal 2010: 206).

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» […] ich habe sehr viele Krankheiten gehabt und ich hatte damals Brustkrebs operiert gekriegt. Meine Kinder waren beide aus dem Haus. Ich hatte Sorge, dass ich alleine nicht zu Recht kommen würde. Das ist eigentlich typische- Angst […].« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 272–276)

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nacheinander hatte und die sich, aus der Routine hervortretend, als ein­ schneidende Ereignisse präsentierten. Denn bis zu ihrem 80. Lebensjahr war sie erwerbstätig, selbstständig mit einem Versicherungsgeschäft, produktiv und leistungsfähig gewesen. Sie hatte drei Anlaufstellen. Als sie altersbedingt und aufgrund der fehlenden Nachfolge mit 80 Jahren ihr Geschäft aufgeben musste, verlor sie ihren Lebensmittelpunkt, ihre Aufgabe und Orientierung. Ihre Ausgliederung aus der Erwerbsarbeit, geknüpft an die unvermittelte Erfahrung von ›Leerlauf‹, waren für INGRID LAMMERT ausschlaggebend für ihre Zusammenbrüche. » […] was hast du alles gemacht und was konntest du alles machen. Du brauchtest niemanden zu fragen. Du hattest dein Zuhause. Du hattest das Geschäft. Du hattest- ich hab ja von dem Häuschen gesprochen und ich hatte mein Auto. Ich war eigentlich schon ein freier Mensch. Und dann kam diese Zusammenbrüche, zweimal hintereinander und […] da war nix mehr wie vorher […].« (Interview 3 ; INGRID LAMMERT: Z. 1019–1025) Wo zuvor in den Erzählungen über Alltagspraktiken und Routinen der befragten Personen der Körper eher eine marginale Rolle spielte, so wird es durch Krankheiten, Operationen und Multimorbidität legitim, über die veränderte Körperlichkeit zu sprechen. Menschen erfahren zwar im Laufe ihres Lebens eine ganze Reihe körperlicher, gesundheitlicher und psycho­ somatischer Veränderungen, doch wird der Körper erst dann wahrgenom­ men, wenn Störungen auftreten und/oder er in Form spürbarer Schmerzen Widerstand leistet, denn »dann wird aus dem unmittelbar erfahrenen Leib der mittelbar erlebte Körper« (Schroeter 2008: 265 f.). Wie auch Anamaria Depner (Depner 2015: 11) festgestellt hat, dass Dinge erst in Umbrüchen thematisiert werden, so wird der Körper hier erst durch die Zusammenbrüche relevant gesetzt. Mit den Brüchen teilt sich die Erzählung INGRID LAMMERT s in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹. In ein ›Vorher‹, in dem sie unabhängig und frei gewesen war, ihr Geschäft, ihr Wochenendhaus, ihr Zuhause und ihr Auto hatte. In ein ›Nachher‹, nach den Transformations­ prozessen, Zusammenbrüchen, Entscheidungen, die sie zu treffen hatte: ein ›Nachher‹, das eben nicht mehr von ihren Anlaufstellen, ihrer Unabhängig­ keit oder Freiheit geprägt war. Denn die Zusammenbrüche hatten zur Folge, dass sie sich nicht mehr selbstständig, ohne Rollator, bewegen konnte. Sie hatte nicht mehr die uneingeschränkte Möglichkeit, Ausflüge in die Natur

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INGRID LAMMERT berichtet von ihren zwei Zusammenbrüchen, die sie

zu machen bzw. ihren Familienort, das Wochenendhaus, aufzusuchen. Mit den Brüchen thematisieren die AkteurInnen die Erkrankungen, die Opera­ tionen, die Multimorbidität und den Bruch zwischen ihrem gegenwärti­ gen (ich-kann-es-nicht-mehr) und ihrem früheren Körper (was-du-alles-­ gemacht-hast). Diese Teilung zwischen einem ›Vorher‹, wie es bei WALTER NIER­ MANN mit »so ist mein Leben gewesen«55 benannt wird, und einem ›Nachher‹ begleitet bei allen InterviewpartnerInnen den Übergangsprozess als Vergleichsmoment, der nicht nur die korporale Erfahrungsdimension, sondern auch die materielle und räumliche betrifft.

3.1.1  Den körperlichen Leib im Zusammenbruch erfahren An ihren Krankheitsgeschichten lässt sich erkennen, wie die Akteur­Innen ihren körperlichen Leib als zunehmend mitgestaltend und eingeschränkt erfahren. Ich greife hier den Begriff des körperlichen Leibes von Ulle Jäger auf, der auf der Unterscheidung von Körper und Leib basiert, »die sich in der sozialwissenschaftlichen Körperthematisierung durch­gesetzt hat« (Dutt­ weiler 2011: 163). Die Unterscheidung Körper/Leib hat Helmuth Plessner (1975) schon früh in seinen »Stufen des Organischen und der Mensch« eingeführt, um die exzentrische Positionalität des Menschen zu verdeut­ lichen. Während Tiere aus ihrer Mitte heraus leben, also zen­trisch organi­ siert sind, können Menschen sich reflexiv auf sich selbst beziehen; während Tiere ihren Leib sind, haben Menschen auch einen Körper. Der Mensch ist in seinem Erleben Leib, in der Selbstreflexion hat er einen Körper. »Der wahrnehmend-wahrnehmbare, spürend-spürbare Leib und der Körper als form- und manipulierbarer Gegenstand bilden eine untrennbare, sich wech-­ sel­seitig prägende Einheit.« (Gugutzer 2006: 30) Diese Unterscheidung, die Robert Gugutzer als zwei untrennbare Facetten des menschlichen Daseins, die sich wechselseitig bedingen ( vgl.  Gugutzer 2004: 146) beschreibt, ermöglicht noch einmal genauer, erstens den Körper als Gegenstand, der über objektive Gegebenheiten (Auge, Hände, Beine, etc.) verfügt und von außen wahrgenommen wird, und zweitens den Körper als diskursives Produkt, das Zuschreibungen erfährt (»dem Alten, der stirbt sowieso bald, dem bauen wir das ein«), das von Wissenskon­ zepten durchzogen ist, kulturell und sozial geformt wird, und drittens die gelebten, leiblichen Erfahrungen, wie z. B. Schmerz, Unsicherheit, Angst, das ›nicht-mehr-Können‹ (Selbststellung) zu erkennen ( vgl. Jäger 2004: 132 f.). Jedoch entzieht sich der Begriff des körperlichen Leibes als Ver­ schränkung von Körper und Leib einem ›entweder – oder‹ und verweist 55 » […] das ist so mein Leben gewesen und ich war mit dem Leben eigentlich zufrieden bis vor zwei Jahren […].« ( Interview 15; WALTER NIERMANN: Z.465–466)

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Die AkteurInnen erleben, wie die Allgegenwart des körperlichen Leibes brüchig wird und dieser immer mehr als Widerstand auftritt. WALTER NIERMANN berichtet von seiner langen Krankheitsgeschichte mit seinem Knie, das sich nach der Implantation eines künstlichen Gelenkes immer wieder entzündete, sodass er das Gefühl hatte, sein Knie wäre so groß wie das eines Elefanten. Er erzählt von seinen mehrmaligen, Krankenhausauf­ enthalten und dass er insgesamt zehnmal am Knie operiert werden musste. » […] ich habe vor einigen Jahren mal ein künstliches Knie bekommen und das ging ganz gut. […] Dann entzündet sich mein Knie. Ich geh ins Krankenhaus. Ich hatte ein Bein wie ein Elefant. […] habe ich so zwei Jahre lang fast jetzt immer wieder im Krankenhaus verbracht. Dieses Knie wurde zehnmal insgesamt aufgemacht […].« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 597–612) WALTER NIERMANN erfährt sich als »halblebige Gestalt«, die sich nicht mehr bewegen, nicht mehr das Krankenhauszimmer verlassen, nur noch im Bett liegen kann und auf die Hilfe anderer angewiesen ist.

» […] ich habe fast vier Monate in einem Zimmer gelegen, weil man mir das Gelenk rausgenommen hat, die Entzündung musste zurückgehen. Ich habe in einem Raum gelegen, aus dem ich nicht rauskam. Das Klo war Gott sein Dank in Verbund. Das war das einzige Bequeme. Ansonsten hat man mir das Essen ans Bett gebracht. Ich habe bloß als halblebige Gestalt dagelegen. Also es war schlimm. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 708–713) Indem er sich als »halblebige Gestalt« bezeichnet, macht er deutlich, wie exis­ tentiell gefährdet bzw. beeinträchtigt er sein Leben wahrnimmt. Es ist ihm nicht mehr möglich, sich von der Präsenz seines gefährdeten körper­lichen Leibes zu distanzieren. Entsprechend seines Zustands spielt der Raum während seines Krankenhausaufenthaltes eine immer wichtigere Rolle. Es zeigt sich einerseits, wie stark der Körper die Verfügungsmöglichkeiten über Raum, darüber, sich Raum anzueignen und mobil zu sein, einschränken kann und andererseits, wie sehr der versehrte Körper aufgrund der Technisierung der Medizin in die Raumarrangements des Krankenhauses integriert wird ( vgl. Löw 2016: 79). Denn wenn nicht nur Steine, Fenster oder Schränke, sondern auch Körper Materialien sind, aus denen Räume geschaffen werden, dann prägen die Körpertechnologien ebenfalls die Raum(re)produktion. Dadurch, dass es WALTER NIERMANN nicht mehr möglich ist, sein Bett

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auf die drei möglichen Perspektiven des menschlichen Daseins ( vgl. Jäger 2004: 215). Außerdem ermöglicht der Begriff des ›körperlichen Leibes‹ auch, die Perspektiven von Leiblichkeit, Lebendigkeit und Erfahrung mit zu erfassen ( vgl. Jäger 2015: 100).

zu verlassen, zeigt sich, wie sehr der Körper der Ausgangspunkt jeglicher räumlicher Orientierung ist. Ohne den Körper wäre der Raum nicht wahr­ nehm- bzw. erfahrbar ( vgl. Schroer 2012: 277). WALTER NIERMANN schafft es zwar gerade noch, zur Toilette zu gehen, ansonsten hat er aber aufgrund seines körperlichen Leibes keine Möglichkeit mehr, das Kranken­ hauszimmer zu verlassen. Die Handlungsräume sowie die räumlichen Ver­ fügungsmöglichkeiten verdichten sich aufgrund der Verfasstheit seines körperlichen Leibes zunehmend. Er ist auf den ›gebauten Raum‹ an­ge­ wiesen, sodass er ihn mehr und mehr als Behälterraum, in dem er »gelegen hat und nicht rauskam«, wahrnimmt und beschreibt. PAUL TRAMPE erzählt, dass er schon seit längerer Zeit an einer Gürtelrose-Erkrankung leidet. Zur Behandlung war er bereits im Kranken­ haus gewesen. Doch nachdem er erneut erkrankt war, fühlte er sich nicht mehr dazu in der Lage, ohne Vollzeitversorgung (über-)leben zu können. Hinzu kam, dass seine Frau vier Jahre vor dem Interview verstarb und er Zuhause niemanden mehr hatte, der ihn unterstützen, versorgen und ver­ pflegen konnte. » […] Ich habe voriges Jahr von Juli bis November im Krankenhaus gelegen mit einer Gürtelrose und mit einer Lungenembolie. […] Und dann war ich dies Jahr schon wieder krank und da habe ich Zuhause gelegen. Niemand war da. Ich musste aufstehen. Ich musste mein Essen- also ich war eben allein. Fertig […].« (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 72–81) Nachdem MARTHA GEHL eine seltene, schwer diagnostizierbare Krank­ heit bekam, konnte sie weder »die Beine […] [noch ihren] Kopf […] heben [und] nicht essen« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 464–465, d. Verf.). Sie hatte das Gefühl, einen Schlaganfall zu erleiden. Sie konnte nicht mehr auf­ stehen und war bettlägerig geworden. Selbst die Krankenhausärzt*innen konnten die Ursachen nicht genau bestimmen. Sie wusste nicht, ob sie je­ mals wieder genesen würde. LUISE IMHOLZ erzählt, wie alltägliche Aufgaben, die zuvor rou­ tiniert und schnell zu erledigen waren, durch die Hüftoperation erschwert wurden und sogar das Unfallrisiko erhöhten. Als sie beim Schuhe zubinden umkippte, fiel sie auf ihre frisch operierte Hüfte, sodass sie unter starken Schmerzen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. » […] und bin dann mit dem linken Schuh zumachen, bin ich denn umgekippt. Hat das Bein sich sicher wieder nach innen versetzt. […] und bin denn so auf diese Seite gefallen, […] auf das operierte Gelenk und dann ist das auseinandergesprengt. Dann hab ich geschrien und hatte den Piepser um, konnte die Zentrale benachrichtigen und dann kam direkt der Krankenwagen. […] wie ich wach wurde, da hatte ich keine Schmerzen mehr, […] nur musste ich furchtbar aufpassen, weil

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An dem Interviewauszug wird deutlich, welche Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen, Routinen und den körperlichen Mög­ lichkeiten besteht. Bestimmte körperliche Funktionsweisen bzw. Körper­ teile (Beine) entziehen sich zunehmend ihrer Kontrolle. Weiter erzählt sie, dass sie sich durch ihre körperliche Behinderung als »umständlich geworden« fühlt. Ihre gesundheitlichen Probleme und die Hüftoperation bezeichnet sie als behindernd. Ein Umstand, der sich wiederum auf ihr Erleben, sich im Umgang mit alltäglichen Aufgaben als umständlich wahr­ zunehmen, auswirkt. » […] Und da habe ich das (Anmerk.: der Fernseher) so gepackt und umständlich wie man nun geworden ist durch die Behinderung […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1064–1065) Die AkteurInnen haben aufgrund ihrer körperlichen Kompetenzen nicht mehr die Möglichkeit, sich den Raum anzueignen bzw. ihn zu gestalten, wie es Martina Löw mit ihrem relationalen Raumverständnis der Kon­stitution von Räumen beschreibt. Es zeigt sich, dass der körperliche Leib konstitutiv für die Herstellung, Aneignung und Erfahrung von Raum ist. » […] Daher macht es [auch] wenig Sinn, [den Raum ohne den körperlichen Leib] oder [den körperlichen Leib ohne Raum] zu betrachten.« (Bauriedl et al. 2000: 130, d.Verf.).56 Hinzu kommt, dass der körperliche Leib bzw. bestimmte Körperteile durch Fremdzuschreibungen zu einem ›alten, hinfälligen, fragilen‹ Körper gemacht werden. Ein Arzt von WALTER NIERMANN hatte ihm aufgrund seines Alters und der ihm aberkannten körperlichen Fitness ein Kniegelenk eingesetzt, das nicht den damaligen Behandlungs- und Versorgungsstan­ dards entsprach. Sein Körper wurde zur Grundlage von Zuordnungen, Kategorisierungen und Hierarchisierungen. Was zur Folge hatte, dass WALTER NIERMANN immer wieder Entzündungen erleiden, zehnmal an seinem Knie operiert werden musste und z. T. bettlägerig war. » […] ich war ja inzwischen schon 90 und mit 90 […] da sagt man lieber, das Bein ab. Da hat man keine großen Schwierigkeiten mehr, aber ich habe mit dem Arzt gesprochen […], sagt er, nein sie sind noch relativ vital, […] wenn sie jetzt schon dement gewesen wären oder so, dann hätte ich gesagt, geht nicht anders, wir müssen das Bein abnehmen. Dann hat der auch gesagt, man hat ihnen da ein Knie eingebaut, das war vor 20 Jahren eines der ersten künstlichen Kniegelenke- das 56 Nähere Beschreibungen siehe Kap. 3.3.

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das Bein nicht wollte, wie ich wollte […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 761–770)

hat man aus dem Schrank geholt, […] weil man es schon jahrelang nicht verwenden konnte und hat gedacht, dem Alten, der stirbt sowieso bald, dem bauen wir das ein. Ich hab das nie gewusst, erst durch das Nachröntgen hat sich das rausgestellt […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 618–627) Zudem konnte er sich den Zuschreibungen und der sozialen Ordnung nicht mehr entziehen. In seinen Äußerungen scheint das kulturell konstruierte und medial kommunizierte Bild des ›hinfälligen, inoperablen Körpers im hohen Alter‹ durch und konkretisiert sich lebenspraktisch in seinen eigenen Entscheidungen bzw. Einstellungen. Durch die Erfahrung, als »halblebige Gestalt« im Krankenhaus zu liegen mit Verweis auf sein kalendarisches Alter, ist er der Meinung gewesen, dass sein Bein amputiert werden müsste. Woraufhin ihm sein neuer behandelnder Arzt mit Hinweis auf seine noch bestehende Vitalität und unabhängig seines kalendarischen Alters von der Amputation abriet. Darin zeigt sich, in welchem Abhängigkeitsverhältnis sich betrof­ fene Personen wie WALTER NIERMANN befinden, wenn sich der Körper zunehmend der Selbstführung entzieht ( vgl. Dederich 2010: 119) und in­ wieweit sich Alternsbilder und -konzepte auf den eigenen und fremden Umgang mit dem körperlichen Leib auswirken.

3.1.2  Das Älterwerden im körperlichen Leib erfahren Die Erfahrungen der Zusammenbrüche, der Immobilität, der unwiderruf­ lichen Veränderung des körperlichen Leibes werden verknüpft mit der Er­ fahrung des Alterns. Der stetig fortschreitende Prozess des Älterwerdens materialisiert sich zunehmend im Körper ( vgl.  Mehlmann/Ruby 2010: 10). Altwerden findet einen körperlichen Ausdruck, der den Alltag mit einer deutlichen Intensität durchdringt, der unwiderruflich ist, den man nicht durch medizinisch-technische Verfahren behandeln kann, sondern den es zu akzeptieren gilt. » […] erst mal den körperlichen Zustand akzeptieren. Das ist schon eine Aufgabe für sich. Also das ist ein Lernprozess, immer wieder was Neues.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1541–1543) Die körperlichen Zustände sowie die leiblichen Erfahrungen bedeuten eine permanente Auseinandersetzung mit und Aneignung von Unvertrautem, das sich dem bisherigen Körperwissen entzieht. Mit Körperwissen wird ein »privates und intimes Wissen über den eigenen Körper, seine inneren oder äußeren Zustände und Prozesse, seine Veränderungen im Lebenslauf, Leistungsfähigkeiten und -grenzen, seine Verletzungen und potenziellen

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» […] das ist überhaupt so, alt werden […] muss man erst lernen. Ganz bestimmt genauso wie ein Kind das Laufen lernen muss. So muss man das erst lernen, was geht jetzt mit dir vor.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1534–1537) Für INGRID LAMMERT ist das Altwerden ein Lernprozess, der leiblich erfahren wird, vergleichbar mit einem Kind, das zu laufen lernt. Obwohl Altern im medialen, öffentlichen Diskurs mit Krankheit gleichgesetzt oder pathologisiert wird, relativiert sie diese Perspektive auf den Alterungs­ prozess durch ihren Vergleich mit dem Lernprozess eines Kindes. Wie bei einem Kind handelt es sich um einen Entwicklungsschritt, der einen Lernprozess nach sich zieht. Sie vergleicht die kindliche Entwicklung mit dem Älterwerden und beschreibt dieses als »etwas, das mit dir vorgeht«. Älterwerden als etwas Unkontrollierbares, Neues, Unbekanntes, mit dem man sich auseinanderzusetzen hat. »So wie die korporalen Kompetenzen in Kindheit und Jugend auf das ›noch nicht‹ verweisen, auf das ›nochnicht-Können‹, das ›noch-nicht-Dazugehören‹ « (Schroeter 2009: 168), so verweisen nach INGRID LAMMERT die korporalen Kompetenzen im Alter eben nicht nur auf das ›nicht mehr‹ (Können, Dazugehören, usw.), sondern ebenso auf ein ›noch-nicht-Können/Dazugehören‹, indem man lernen muss, mit den korporalen Veränderungen umzugehen. Doch räumt INGRID LAMMERT ein, dass die Entwicklung eines Kindes und die eines älteren Menschen verschieden sind. Denn als wir auf­ die Fotos an ihrer Wand über ihrem Bett zu sprechen kommen und ich nach ihrer Bedeutung für INGRID LAMMERT frage, antwortet sie, dass mit den

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Stigmata, seine Schmerz- und Lustempfindungen, den situierten und situ­ ativen Umgang mit Tabus und Anforderungen der menschlichen Körper­ lichkeit, den körperlichen ›Neigungen zur Eigensinnigkeit‹ und den mehr oder weniger erfolgreichen Strategien zur Überlistung der eigenen Körper­ lichkeit, gewonnen aus der biographischen Erfahrung des gelebten Lebens« (Keller/Meuser 2011: 9) bezeichnet. Keller/Meuser zufolge entsteht das gelebt-erfahrene Körperwissen in Sozialisationsprozessen und wird durch das in der Lebenswelt des Alltags tradierte Wissen über Körperlichkeit einschließlich der darin verwickelten normativen Folien und Normalisie­ rungen (wie z. B. über den alternden Körper, den Geschlechtskörper, den optimierbaren, fitten Körper) beeinflusst ( vgl.  Keller/Meuser 2011: 9). Ge­ rade die Diskrepanz zwischen gelebt-erfahrenem, sozialisiertem Körper­ wissen und dem Erleben des ›hinfälligen‹, ›brüchigen‹ körperlichen Leibes stellt für die InterviewpartnerInnen eine zu bewältigende Aufgabe dar. Die Erfahrung des »körperlichen Zustands« entspricht nicht mehr dem bishe­ rigen Körperwissen, sodass die AkteurInnen dieses weiterentwickeln bzw. ihrem körperlichen Leib entsprechend dazulernen müssen. Mit der Erfah­ rung des Älterwerdens werden die Prozesshaftigkeit, der Lernprozess und die Entwicklung beschrieben.

Fotos die Vorstellung verbunden sei, dass die Kinder heranwachsen und nicht älter werden, sie selbst aber schon älter wird. Sie differenziert zwi­ schen ›den Kindern‹, die heranwachsen, und einem ›wir‹, das sich verändert. »Die Vorstellung, vor allen Dingen die Kinder, wie die heranwachsen und auch wie wir uns verändern. Die werden ja auch nicht älter, aber wir werden immer älter.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 526–528) Zwar wird in dem Interviewauszug nicht deutlich, worauf sich das »wir« bezieht, jedoch könnte sie damit Menschen meinen, die sich in ihrem Alter befinden. Sie vergemeinschaftet sich mit einer Personengruppe, die »immer älter wird«. Obwohl die Vergänglichkeit des Körpers nicht nur eine Frage des Alter(n)s, sondern auch ›von Geburt an‹ in die Körperlichkeit mensch­ licher Existenz eingeschrieben ist, altern die Kinder hingegen nicht, son­ dern wachsen heran. Damit wird das Heranwachsen der Kinder eher als ein positiv konnotiertes Geschehen gedeutet, das mit Wachstum und wün­ schenswertem Fortschritt verbunden ist. Sie differenziert zwischen ›den Jungen‹, die eine Zukunft haben, und ›den Alten‹, die nicht mehr heran­ wachsen, die sich verändern und altern.57 Die ›Kinder‹ entsprechen nicht ihrer Vorstellung von einem Älterwerden. Das Älterwerden der Kinder unterscheidet sich von einem Älterwerden im hohen Alter bzw. in ihrem Alter. Damit benennt sie auch die Dimension der Zeit, die sich im Heran­ wachsen nicht so deutlich wie im kalendarischen Alter und im kontinuierlichen Verstreichen körperlicher Möglichkeiten widerspiegelt. Denn mit dem Älterwerden ist für die InterviewpartnerInnen ein fortschreitender, vor allen Dingen körperlich-geistiger Transformationsund Lernprozess bis hin zum Tod gemeint. Dieser Aspekt wird vor allen Dingen in den Interviews mit INGRID LAMMERT und GERDA VON OELDE, deren eigentliche Umzüge schon länger zurück liegen, benannt. Seit ihrem Übergang ins Seniorenheim hat INGRID LAMMERT s Seh­ fähigkeit im Laufe der Zeit sukzessive abgenommen. Sie kann nicht mehr so viel lesen, wenn überhaupt gerade einmal die Tages­zeitung. Zwar versucht sie, sich noch die tagesrelevanten Nachrichten anzueignen, aber darüber hinaus bleibt ihr der Zugang zu anderen Stoffen, die sie eigentlich auch gerne lesen würde, verwehrt.

57 Dies würde der Leitidee der Adoleszenz-Maximum-Kurve entsprechen, die von dem USamerikanischen Psychologen und Begründer der instrumentellen Konditionierung, Edward Thorndike, in den 1920er Jahren entwickelt und widerlegt wurde. Die Adoleszenz-Maxi­mum-Kurve orientiert sich an einer Defizitsicht des Alterns, der die Annahme zugrunde liegt, dass der Zenit der kognitiven Leistungs- bzw. Lern­fähigkeit im 20. bis 30. Lebensjahr er­ reicht ist und diese danach einem stetigen Verfall ausgesetzt ist ( vgl. Thorndike et al. 1928).

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Die Grenzen der Verfügbarkeit, dass sich der Körper immer mehr der Kon­ trolle entzieht, sind offensichtlich und werden genannt. Sie hat sich mit ihrem eigenen Alter abgefunden, mit ihren Möglichkeiten und Einschrän­ kungen. Die leiblichen Grenzerfahrungen des ›ich-kanns-nicht-mehr‹, des ›nicht-mehr-zurückdrehens‹ verweisen auf eine nicht hintergehbare Mate­ rialität des Körpers. Die Annahmen des ›und-so-weiter‹ und des ›ich-kannimmer-wieder‹ sind widerlegt und haben sich im ›was-fortan-anders-ist‹ und ›was-man-nicht-mehr-tun-kann‹ konkretisiert. Der fortschreitende Prozess des Alterns formt den Körper von INGRID LAMMERT und scheint als unausweichlicher physischer Verfall in ihn eingeschrieben worden zu sein ( vgl.  Mehlmann/Ruby 2010: 10), sodass sie viel Zeit und Raum hat, sich in eigene Gedanken und Grübe­leien zurückzuziehen. Altsein wird hier als Integration der Erfahrungen des körperlichen Leibes in das Selbstkonzept sichtbar, d. h. die Individuen sind sich durch die Materialität des Körpers seiner Grenzen der Verfüg- und Gestaltbarkeit bewusst. Die Interviewten wissen über ihre noch bestehenden Handlungsoptionen. Für INGRID LAMMERT ist das Altsein bzw. die Akzep­tanz des Alters in seinem körperlich-leiblichen Ausdruck demnach die Voraus­set­ z­ung für den wohnraumbezogenen Übergang. »Ich hatte ganz andere Probleme als ich umzog […] das ist einfach gesteuert […] von was kannst du jetzt machen mit deinem Leben? Wie kannst du das am besten in Griff kriegen? […] ich glaube, das sieht man auch erst anders, wenn man alt ist […].« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1529–1534) GERDA VON OELDE beschreibt zum Beispiel, wie sie seit dem Einzug

ins Seniorenheim vor sechs Jahren noch weitere Veränderungen ihres kör­ perlichen Leibes erlebt hat. Sie wurde an ihrer Brust, ihrem Knie, ihrem Herzen, ihrem Fuß und zuletzt an ihrem Auge operiert. Die Erfahrung des gefährdeten, pflegebedürftigen Körpers ist der Erfahrung des ›unwider­ ruflich vergänglichen‹ Körpers gewichen. Auch durch ihre langwierigen Augenoperationen und die Tatsache, dass sie nur noch auf einem Auge sehen kann, ist für sie eine Grenze erreicht, die sie u. a. durch das Wort »Lachkrampf« zum Ausdruck bringt.

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»Ja, im Prinzip träumt man ja den ganzen Tag, wenn wir alt sind. Es ist wirklich wahr. Man kann ja nicht mehr viel. Also meine Augen sind nicht mehr so gut. Also dass ich so lesen kann, wie ich das mal gerne gemacht hätte. Ich komme gerade mit der Tageszeitung klar. Und das bleibt einem ja nicht viel. Also da ist viel Platz und viel Zeit zum Grübeln und Nachdenken […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 471–475)

» […] ich habe inzwischen ja noch viel mehr hinter mir wie vorher. […] Sie kriegen einen Lachkrampf, wenn sie das hören – Knie, der Fuß wurde operiert, der misslang dann […] dann kriegte ich ein Schrittmacher, weil meine Pumpe nicht in Ordnung war. Dann kriegte ich Brustkrebs, die Brust wurde abgenommen und dann anschließend kriegte ich jetzt nun noch die Augengeschichte. Ich habe ja nur noch ein Auge und dann bin ich inzwischen glaub ich sieben- oder achtmal dran operiert.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 322–331) Es wird deutlich, wie stark ihre Multimorbidität an ihrer Lebensenergie zehrt, wie weit ihre soziale Sichtbarkeit sukzessive sinkt und die angepran­ gerte Negativverwandlung des Ichs in ›weniger Ich‹ ihren Vollzug nimmt. Die körperlichen Transformationen, die körperlich-leiblichen Erfahrungen stellen immer deutlicher die Weichen für das Sterben. GERDA VON OELDE möchte ihren maladen, kranken Körper, in dem sie sich unwohl fühlt, nicht mehr tragen bzw. ertragen. Letztlich sind es auch bestimmte Erkrankungen, wie die Augenoperationen bei GERDA VON OELDE, die umso mehr die Lebensenergien ›rauben‹ und die Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen. » […] das ist in letzter Zeit entstanden. Erst hierdurch natürlich durch meine Augengeschichte. Ich habe ja kein Auge mehr, das wissen sie. Und das hat mir zugesetzt, muss ich ehrlich sagen. Und dann bin ich so- Entschuldigung, hätte beinah lahmarschig, […] ich mag nicht mehr. […] Ich sehe keinen Sinn mehr, ich sehe absolut keinen Sinn mehr, nur meinen maladen Körper oder meinen kranken Körper durch die Tage tragen. Wofür denn? Wofür denn, als junger Mensch hat man wenigstens ein Ziel oder denkt in 14 Tagen geht’s dir besser oder schlechter oder dann machst du dieses oder jenes. Ich kann gar nix mehr.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 1002–1018) Für sie ist ihr Körper durch die zahlreichen Operationen und die vielen Krankheiten unbeweglich und langsam geworden – zu einer Last, die es letztlich nur noch zu (er-)tragen gilt. Im Vergleich zu »junge[n] Menschen« sieht sie keine Verbesserungsmöglichkeiten, was ihren körperlichen Zu­ stand anbelangt. Hinzu kommt, dass es auch keinen Plan, kein Ziel mehr zu verfolgen gibt, das dem Handeln noch einen Sinn geben würde. Denn gerade diese Prospektivität, die Aussichten auf Verbesserungen in ›jungen Jahren‹ geben dem Leben einen Sinn, jedoch nicht ein »malade[r] Körper«. Nach Reichertz wird mit ›Sinn‹ das bezeichnet, »was Einzelne ihrem Han­ deln und der Welt geben – stets bezogen auf das eigene Leben und seine Gestaltung« (Reichertz 2010: 24). Verbunden mit ihrem körperlichen Leib ist die Sinnhaftigkeit des ›Leben-in-den-Griff-zu-bekommens‹, des ›Wei­ terleben-wollens‹ nicht mehr gegeben.

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Der fortschreitende Prozess des Älterwerdens, der sich vor allen Dingen im körperlichen Leib manifestiert, äußert sich darüber hinaus auch in der Aneignung des Seniorenheimzimmers. Die Gestaltung des Seniorenheimzimmers ist nicht mit der Wiederherstellung eines Raumes des Privaten58 beendet, sondern entsprechend der Transformation des körperlichen Leibes wird auch der Raum des Privaten gestaltet und genutzt. Für GERDA VON OELDE ist das Altenheimzimmer nicht mehr nur ihr neues Zuhause, sondern sie konstituiert ihr Zimmer und ihre Umgebung zunehmend als »Platz zum Sterben«. Immer weniger nimmt sie z. B. an den Tagesangeboten teil und immer weniger geht sie intensivere Beziehungen ein. Ihr Aktionsradius verkleinert sich eher, sie zieht sich mehr und mehr in ihr Zimmer zurück, sodass sie nur noch selten ihr Essen im Gemeinschaftsraum zu sich nimmt. Das Älterwerden des körperlichen Leibes prozessiert somit permanent die Gestaltung und Aneignung von Räumen.

3.2 Erfahrungsdimension Dinge Wie in den vorherigen Ausführungen teilweise sichtbar wurde, handeln die AkteurInnen bei fast allem, was sie erleben oder tun, gemeinsam mit den Dingen oder auch gegen ihre Widerspenstigkeit. Der Begriff des ›Dings‹ wird in den verschiedenen Fachdisziplinen und Forschungskonzepten sehr vielfältig verwendet und definiert. Wenn man sich dem Begriff des ›Dings‹ nähern will, dann gilt vor allen Dingen die Differenzierung zwischen ›Ding‹, ›Zeug‹ und ›Werk‹, die auf Martin Heidegger zurückzuführen ist, als forschungsgeschichtlich relevant ( vgl. Hahn/Eggert/Samida 2014: 2). Für Heidegger (1927) nimmt das ›Zeug‹ eine Zwischenstellung zwischen ›Ding‹ und ›Werk‹ ein. Mit ›Ding‹ ist eher das naturgegebene Ding gemeint, wie der Granitblock. Wohingegen das ›Zeug‹ einem bestimmten Zweck dient, wie z. B. der Hammer, um ein Werk, d. h. das Endprodukt, herzustellen. Das ›Zeug‹ ist demnach nur im Gebrauch verfüg- und wahrnehmbar. Hingegen 58

Siehe Kap. 3.3.

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»B: Ich weiß nicht, ob sie das verstehen können, das ist so, also der eine, der hierherkommt, sagt immer Quatsch, dass ich hierherkomme. Ich will doch noch. Ich kann doch noch und ich mach doch noch und wieso […] und der andere sagt, na endlich hab ich einen Platz zum Sterben gefunden. I: Und wie sehen sie das? B: Liebe Frau Zielke, ich will lieber heute wie morgen meine Augen zu machen. Ich will nicht mehr. I: Und war das von Anfang an so? B: Nein, nein, das ist in letzter Zeit entstanden. Erst hier […] durch meine Augengeschichte […]. « (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 989–1003)

findet die Unterscheidung von Hans Linde zwischen »gemachten Sachen« und »naturgegebenen Dingen« (Linde 1972: 12) kaum noch Verwendung. Das Wort ›Ding‹ gilt eher als übergeordnete Kategorie, die sowohl die »gemachten Sachen« als auch die »naturgegebenen Dinge« umfasst. Die Begriffe ›Dinge‹, ›Objekte‹, ›Gegenstände‹ und ›Artefakte‹59 werden oftmals synonym verwendet. Ich werde, angelehnt an den empirischen Ansatz von Aida Bosch und ihrer Ausarbeitung einer Kultursoziologie der Dinge, vor­ wiegend von ›Dingen‹ und ›Objekten‹ 60 schreiben. Für Aida Bosch (2012) sind Dinge »alle alltäglichen Gegenstände des Menschen wie Werkzeuge, Hilfsmittel, Geräte, Nutzobjekte aller Art oder auch rituelle Objekte« (Bosch 2012: 51). Dabei stellt sie zwei wesentliche Aspekte von Dingen heraus: den Symbolcharakter, d. h. die symbolische Wirkung von Dingen, die durch eine gewisse Zeichenhaftigkeit und die darüber vermittelten Aussagen erzielt wird, und die Dinglichkeit bzw. stoffliche Materialität, d. h. die materiellen Eigenschaften, Funktionen und Gebrauchsweisen. Diese beiden Aspekte stehen Aida Bosch zufolge in einem ständigen Wechselverhältnis zueinan­ der und sind nicht voneinander zu trennen. Gerade die Stofflichkeit, Form und Funktion von Objekten, die dem Menschen bestimmte Handlungswei­ sen nahelegen ( vgl. Meyer-Drawe 1999), sind für die folgenden Interpreta­ tionen von Interesse. Denn das Wissen über bestimmte Handlungs- und Funktionsweisen wird in der Regel eher habituell als reflexiv angewandt, d. h. das Öffnen einer Tür mit einem Schlüssel, das Staubwischen der Bücherregale oder die Bedienung eines Automobils vollziehen sich zwi­ schen körperlichem Leib und Ding oftmals völlig unbewusst. Sowieso wird die Beziehung zwischen körperlichem Leib und Objekt umso enger, je län­ ger der menschliche Akteur mit dem Ding zusammenwirkt und –arbeitet. Wie sich in den Interviews mit den AkteurInnen zeigt, ändern sich jedoch mit den Veränderungen des körperlichen Leibes diese habitualisierten Anwendungen und das symbolisch-rituelle Wissen. Die Erfahrung des ›behinderten‹, ›eingeschränkten‹, ›immobilen‹ körperlichen Leibes wirkt sich auf die Beziehung zu den Dingen bzw. auf den sonst eher habituellen Umgang mit diesen aus. Obwohl die Dinge sonst, indem sie erprobte Hand­ lungsmöglichkeiten anbieten und erhalten, zur Stabilität und Sicherheit beitragen, werfen sie in ihrer Handhabbarkeit und ihren Anforderungen immer mehr praktische Probleme auf.

59  Mit  ›Artefakten‹ werden von Menschen gemachte Dinge bezeichnet. 60  Den Begriff ›Objekt‹ verwende ich zusätzlich zum Begriff des ›Dings‹, weil ich damit eine Bezeichnung und Differenzierung der Interviewpartnerin INGRID LAMMERT aufnehme, die im Interview zwischen Erinne­rungsobjekten, die emotional behaftet sind, und Funk­ tionsobjekten, die einem bestimmten Zweck und Pragma­tismus dienen, unterscheidet (siehe Fußnote 43, Kap. 2.3.2).

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In der Interaktion mit Dingen wird den AkteurInnen der Verlust ihrer kör­ perlichen Selbstverständlichkeiten bewusst. Obwohl die Veränderungen des körperlichen Leibes in der Regel nicht abrupt auftreten, so erscheinen sie doch unregelmäßig und ziehen Veränderungen der Körperroutinen, automatisierter, habitualisierter Handlungsabläufe und Gewohnheiten un­ aufhaltsam nach sich. GERDA VON OELDE erzählt, dass sie als Sekretärin ständig Formulare auszufüllen hatte, doch durch ihr Alter und ihre Unfälle, wie z. B. den Treppensturz, ist es ihr nicht mehr möglich, diese Aufgabe eigenständig zu bewältigen. » […] Ich kann’s nicht mehr. Alle diese Dinge, die mit den Formularen zu tun haben, macht jetzt meine Tochter für mich. Ich kann’s nicht mehr. Ich bin 90, dürfen sie nicht vergessen. Und das kommt ruckartig. Irgend­ wann bin ich mal die Treppe runtergefallen, soll ja vorkommen, und auf den Kopf gefallen. Ich merke, dass das weniger wird und das ärgert mich eigentlich. Ich versuche das dann immer selbst mal und dann muss ich aber immer zugeben, dass ich kapitulieren muss. Ich kann’s nicht mehr.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 879–888) In ihrer Erzählung zeigt sich, dass ihr eigener Widerstand dem des ›nicht -mehr-so-wie-bisher-Könnens‹ gegenüber vergebens ist. Der Versuch, die Formulare weiterhin selbstständig auszufüllen, bleibt erfolglos. Sie muss ­kapitulieren, was in der Vergangenheit immer wieder zu Ärger führte, so­ dass ihre Tochter ihre Formalitäten übernahm. Gleichzeitig legitimiert sie auch die leibliche Erfahrung des ›ich-kanns-nicht-mehr‹ durch ihr kalenda­ risches Alter. Sie kann ihre ›Einschränkung‹ nicht unkommentiert stehen lassen, sondern markiert mit dem Verweis auf ihr kalendarisches Alter, dass sie sich in einem Alter befindet, in dem es legitim ist, Formulare nicht mehr selbstständig ausfüllen zu können. Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, warum sie, wie einige andere InterviewpartnerInnen auch, auf ihr kalendarisches Alter verweist. Diese Frage lässt sich nicht eindeutig be­ antworten, aber eine mögliche Erklärung ist, dass sie gegenüber der jüngeren Interviewpartnerin einen Legitimationszwang empfindet. Sie könnte aber auch gegenüber einer Leistungs- und Optimierungsgesellschaft, in der dem fitten, schnellen, funktionstüchtigen und leistungsfähigen Körper eine hohe Bedeutung für soziale Anerkennung zukommt, einen Legitimationszwang für ihren körperlichen Leib, der nicht mehr manipulier- bzw. modellierbar ist oder verbessert werden kann, verspüren. Wie in Kapitel 3.1.1 beschrieben, erlebt sich LUISE IMHOLZ durch ihre Hüft­operation als ›behindert‹. Dieses Erleben wird vor allem durch die Interak­ tion mit Dingen verstärkt, wie sich am Beispiel des Fernsehers erkennen lässt.

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3.2.1  Grenzen der Handhabbarkeit

» […] der Fernseher stand im Erkerzimmer, […] ist mir gefallen, drum ist da die Beule drin. Irgendwie wollte ich den hinteren Stöpsel, den konnte ich nicht rauskriegen. […] Und da habe ich das so gepackt und umständlich wie man nun geworden ist durch die Behinderung, ist mir das hier weggerutscht und ist da auf die Nase gefallen, aber Gott sei Dank, es tut es noch. Es ist noch alles heile […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1060–1067) Es war ihr nicht mehr möglich, den Fernseher einfach umzustellen. Ihr fehlte zunehmend die Kraft und die Beweglichkeit, sodass ihr schließlich das Gerät herunterfiel. Sie erlebte sich in der Interaktion mit dem Strom­ stecker des Fernsehers durch ihre Behinderung als ›umständlich geworden‹. Vor allen Dingen gefährdete sie durch ihre ›Umständlichkeit‹ die Funktionsweise des Fernsehers, weil sie sich nicht sicher sein konnte, das dieser noch funktionierte. Sie unterstreicht damit ihre Sorge, alltägliche Abläufe nicht mehr selbstständig verrichten bzw. alltägliche Interaktionen mit Objekten nicht mehr sicher und gefahrlos gewährleisten zu können, wie z. B. die ›klassische‹ Situation des Kochens mit dem Herd.

3.2.2  Mobile Dinge Die Veränderungen des körperlichen Leibes und z. T. das kalendarische Alter sind für einige AkteurInnen auch ein Grund dafür, sich vor dem ei­ gentlichen Umzugstermin in ihrer ›Dingwelt‹ anzupassen und sukzessive von bestimmten Dingen zu trennen. Primär werden hier mobile Dinge, wie das Auto, genannt. WALTER NIERMANN hat sich einerseits durch seine zahlreichen Knieoperationen, andererseits durch sein kalendarisches ­Alter sukzessive von seinen mobilen Dingen, wie z. B. dem Motorboot, dem Wohnwagen und letztendlich seinem Auto, getrennt. » […] das Boot hab ich vor sechs Jahren verkauft, den Wohnwagen vor fünf Jahren, das Auto habe ich dieses Jahr verschenkt. Das habe ich immer noch gehabt. Das habe ich meinem Schwiegersohn gesagt, hier hast es, sieh, dass du es verscherbelst. Ich will nie mehr Auto fahren. Mit meinem Bein ist nicht ganz in Ordnung und ich bin ja 92. Das darf man ja auch nicht vergessen, ne. Und da habe ich mir gesagt, ich höre freiwillig auf […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 488–493) Obwohl sich das Bundesverkehrsministerium mit der Begründung, dass nicht das Lebensalter, sondern der Gesundheitszustand und die in einem langen Kraftfahrerleben erworbene Fahrroutine entscheidend für eine un­ fallfreie Teilnahme am Straßenverkehr sind, gegen generelle Fahrtests für

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» […] in meinem ganzen Leben bin ich nie in die Flensburger Kartei ge­ kommen, obwohl ich ja außergewöhnlich viel unterwegs war. Nur einmal da bin ich mal abends so ein Schwarzwaldweg einem andern Fahrzeug begegnet und hab’n berührt. […] Meine einzige Verkehrsstrafe, die ich bekommen habe, ansonsten nie.« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 493–499) Bei GERDA VON OELDE fällt die Aufgabe des Autos mit der Entscheidung zum Übergang ins Seniorenheim zusammen, weshalb sie die Situation als »Rieseneinschnitt« in ihrem Lebenslauf bezeichnet. Letztlich hat sie sich nicht nur durch die Auflösung ihrer Wohnung materiell und räumlich ver­ ändern müssen, sondern auch durch die Aufgabe ihres Autos. Indem sie Menschen, die kein Auto mehr besitzen, als »halbe Menschen« bezeichnet, macht sie deutlich, dass die Automobilität einen fundamentalen, vertrau­ ensstiftenden und stabilisierenden Einfluss auf das Selbst, der über das reine Verkehrshandeln hinausreicht, hat. » […] ich habe zur gleichen Zeit mein Auto abgeben und das ist ein Rieseneinschnitt. Das werden sie immer wieder hören, wenn die Leute kein Auto mehr haben, sind sie nur halbe Menschen. […] man gewöhnt sich aber mit der Zeit da dran, aber das ist schon ein Einschnitt und dann gleichzeitig ohne Auto. Also das war Weltuntergang gerade zu.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 913–918) Darüber hinaus stellt sie vor ihrem eigenen Erfahrungshintergrund, immer ein Auto besessen zu haben, und ihrer kulturellen Prägung, immer ein Auto besessen zu haben, eine Regelhaftigkeit auf, dass es nicht nur ihr so ergangen sei, sondern auch andere Menschen diese Erfahrung teilen. In diesem Sinne behält GERDA VON OELDE Recht, da alle Autobesitzer­ Innen, die ich interviewt habe, in den Interviews in Bezug auf ihre Über­ gangserfahrungen die Aufgabe des Autos thematisiert haben. Denn das Auto symbolisiert für viele interviewte AutomobilbesitzerInnen Freiheit, räumliche und soziale Unabhängigkeit, Beweglichkeit und Optionsvielfalt. Es dient der Überwindung von Raum und der Verknüpfung verschiedener 61  Vgl. www.handelsblatt.com

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ältere Autofahrer ausgesprochen hat61, sind für WALTER NIERMANN sowohl sein Lebensalter als auch die Verfassung seines körperlichen Leibes relevant für die Aufgabe seines Autos. In der Dualität von körperlichem Leib und kalendarischem Alter sieht er ein Risiko für den Umgang mit dem Auto sowie die Einhaltung der Verkehrsordnung. Er hat das Auto letzt­ endlich abgegeben, weil er vermeiden wollte, in Zukunft verkehrswidrig zu fahren. Zugleich wollte er auch selbstbestimmt die Entscheidung treffen und nicht den Führerschein entzogen bekommen.

Orte ( vgl. Pfaffenthaler 2014: 323 f.). WALTER NIERMANN ist durch sei­ nen Wohnwagen, sein Motorboot und seine Berufstätigkeit immer mobil gewesen, genau wie INGRID LAMMERT, die wöchentlich zum Markt ge­ fahren oder an den Wochenenden zu ihrem Wochenendhaus am Stadtrand gependelt ist. » […] du brauchtest niemanden zu fragen. Du hattest dein Zuhause. Du hattest das Geschäft. Du hattest, ich habe ja von dem Häuschen gesprochen. Und ich hatte mein Auto und ich war eigentlich schon ein freier Mensch […].« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1020–1023) Das Auto ermöglichte ihnen sowohl räumliche als auch zeitliche Flexi­ bilität. Zudem gilt es als Zeugnis eines erhöhten Aktivitätsradius. Das Pendeln, Reisen, die räumliche Verknüpfung verschiedener Orte (z. B. die ›drei Anlaufstellen‹ Wochenendhaus, Geschäft und Zuhause bei INGRID LAMMERT ) waren Bestandteile ihres Lebens. Daher verstärkt die Aufgabe des Automobils ihre körperliche Selbstwahrnehmung von ›Immobilität‹ und ›Begrenztheit‹. Denn das Auto ist für sie ein Ausdruck eines körper­ lichen Selbst gewesen, das sich als aktives Subjekt verstand,» das automobil [gewesen] ist und den Raum beherrscht [hat], das viele Möglich­ keiten unter Kontrolle hat[te] « (Bosch 2010: 94, d.Verf.).

3.2.3  Assistive Dinge Der ›eingeschränkte‹, ›behinderte‹ körperliche Leib geht nicht nur mit dem Verlust bestimmter Fähigkeiten und infolgedessen mit einer veränderten Umgangsweise oder der Trennung von Dingen einher, sondern führt auch zunehmend zur Interaktion mit ›neuen, ungewohnten‹ Dingen. INGRID LAMMERT stellt dar, wie sie aufgrund ihrer Zusammenbrüche »nicht mehr frei gehen« konnte und auf »Gehhilfen« angewiesen war. Um sich über­ haupt noch eigenständig und selbstständig bewegen zu können, ist sie immer stärker von assistiven Dingen abhängig, d. h. sie ist auf Dinge ange­ wiesen, auf die sie zuvor nicht angewiesen war. » […] ich musste mich mit Gehhilfen abfinden. Ich konnte nicht mehr frei gehen. Da kann man eigentlich nur mit dem Verstand rangehen, sonst könnte man dran zerbrechen.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1035–1038) Mit assistiven Dingen sind unterstützende, helfende Dinge gemeint, die den alltäglichen Ablauf ordnen bzw. verschiedene Handlungen weiter mög­ lich machen. Den Begriff habe ich aus der Entwicklung der »Ambient Assisted Living«-Technologien entnommen, die als altersgerechte Assis­tenz­

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Im Interview mit INGRID LAMMERT zeigt sich aber auch, dass sie trotz der assistiven Dinge in ihrer Mobilität eingeschränkt bleibt und dass die Erfahrung, »umständlich« oder unfrei zu sein, von ihnen z. T. sogar noch verstärkt wird. » […] das ist etwas, wo man dann manchmal sagt, ach mach das jetzt auch mal wieder, aber geht ja nicht mehr. Da oben kann ich nicht mehr laufen, macht mein Rollator nicht mit […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 516–519) Wie in o. g. Interviewauszug erkennbar ist, werden das eigene Körper­ empfinden und die Veränderung des körperlichen Leibes im physischen Umgang mit den assistiven Objekten fortwährend angesprochen bzw. sind sie präsent. Ein Umstand, der für INGRID LAMMERT herausfordernd und emotional besetzt ist. » […] also was ich nicht gerne tu, ist im Bett bleiben. […] Also wenn ich mich nicht wohlfühle, […] dann ziehe ich mich fast immer an und setz mich lieber irgendwo hin. Also […] da habe ich eine Antipathie gegen ((lacht)).« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1165–1169)

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systeme für ein selbstbestimmtes Leben bezeichnet werden ( vgl. Kollewe 2017: 92). Damit sind jedoch in diesem Zusammenhang keine Technologien wie Sensormatten, automatische Herdabschaltungen oder sensorgestützte Haus­notrufsysteme gemeint, sondern einzelne alltagsnahe, gebräuchliche Dinge wie Rollatoren, Gehstöcke, Schnabeltassen, Hörgeräte, Gesundheits­ betten, etc., die den Alltag sukzessive durchziehen und im Übergang be­ nannt werden. In meinen Beobachtungen von Alltagssituationen spielen hauptsächlich die assistiven Dinge als Gegenüber bzw. Handlungspartner eine grundlegende Rolle. Eine Akteurin gibt ihrem Gehstock sogar einen Spitznamen und bezeichnet ihn immer mit »mein Mann«. Andere Akteur­ Innen verzieren bzw. personifizieren ihren Rollator über das Namensschild hinaus, indem sie Anhänger anbringen oder ihn mit Blumen verzieren. Sie eignen sich die assistiven Dinge an. Wiederum andere bringen persönliche oder alltägliche Gegenstände, die sie täglich benötigen, wie z. B. Handta­ schen, Tabletten, Taschentücher, darin unter. Bei manchen AkteurInnen ist zu beobachten, wie die assistiven Dinge regelrecht zu Verlängerungen des Körpers werden bzw. wie stark sie mit dem Körper verbunden sind, sodass sich z. T. Haltungen verändern oder die AkteurInnen sich gar nicht mehr ohne ihren Rollator bewegen wollen. Bei einer Akteurin habe ich immer wieder beobachten können, wie sie sich ihren Gehstock auf den Schoß legte.

Deshalb versucht sie auch, so wenig wie möglich von assistiven Dingen abhängig zu sein bzw. nicht so viel Zeit mit Dingen zu verbringen, die einen assistiven Charakter haben und im Alter, z. B. im Fall von Bettlägerigkeit, immer mehr an Bedeutung gewinnen und zunehmend zum Interaktions­ partner werden. Wie in den vorherigen beiden Kapiteln erläutert wurde, entzieht sich der Körper zunehmend der Kontrolle der AkteurInnen, was wiederum dazu führt, dass diese sich unsicher und ängstlich in ihrem bisherigen Wohn­ umfeld fühlen. Manche AkteurInnen beschrieben, dass sie sich auch schon vor ihrem Übergang ins Altenheim an die Veränderungen im Lebenslauf, wie Auszug der Kinder bzw. Verwitwung, angepasst und sich eine kleinere Wohnform gesucht hatten. Andere wiederum hatten aufgrund der zu­ nehmenden Pflegebedürftigkeit ihren Wohnort gewechselt und sind in die Wohnung /das Haus ihrer Kinder gezogen oder hatten sich eine Form der häuslichen Unterstützung organisiert. Die ›Fragilität‹ des körperlichen Leibes schreitet jedoch unaufhörlich voran und führt zudem zu einem­ materiellen Transformationsprozess. Zum einen entziehen sich die alltäg­ lichen Dinge der bisherigen habituellen Umgangsweise, zum anderen sind die Akteur­Innen zunehmend auf assistive Dinge wie Rollatoren, Hebe­ vorrichtungen, Notknöpfe, Gehstöcke, etc. angewiesen. Es handelt sich demnach um ­einen existenziellen, körperlich-materiellen Transformations­ prozess, der das bisherige Wohnen in den eigenen ›vier Wänden‹ ohne eine ›Rund-um-die-Uhr-Versorgung‹ für die AkteurInnen und z. T. auch das soziale Netzwerk (Angehörige, Professionelle) unmöglich macht und die Entscheidung zum Übergang ins Altenheim vorstrukturiert. Obwohl immer wieder beschrieben wird, dass »fast alle den Eintritt ins Heim vermeiden wollen« (Kipfer/Koppitz 2018: 14) oder den Einzug bis zuletzt hinauszögern möchten ( vgl. Hocheim/Otto 2011), heben viele der AkteurInnen, zunächst einmal unabhängig von ihrem Grad der Selbst­ bestimmung und Entscheidungsspielräume, das Potential bzw. die positiven Aspekte, die mit einem Übergang ins Altenheim verbunden sind, hervor. » […] ich habe zwölf Pfund abgenommen. Ich brauchte dann Pflege.« (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z.176–177) Mit der Entscheidung ist die Möglichkeit verbunden, ein Gefühl von Sicherheit in Bezug auf die Versorgung des körperlichen Leibes wieder­ herzustellen bzw. dem körperlichen Leib einen Schutzraum zu geben, in dem die Behandlung und Versorgung des pflegebedürftigen Körpers von Professionellen übernommen wird. Gleichzeitig geht die Entscheidung für einen Übergang ins Seniorenheim mit der Entlastung der familiären Versorgungssituation und Beziehungen einher. Die AkteurInnen sind nicht mehr auf ihre Angehörigen angewiesen bzw. allein für die Selbstsorge ver­ antwortlich, da die Versorgung von Fachpersonal übernommen wird, das

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3.3  Erfahrungsdimension Raum Schon die Auswahl der Senioreneinrichtung bezieht sich auf den Konstituti­ onsprozess eines als privat und vertraut definierten und symbolisierten Rau­ mes, der mit Zuschreibungen wie ›Zuhause‹ oder ›Freiraum‹ verbunden ist. » […] ich hab mir diesen Raum unter mehreren Häusern in Stadt aus­gesucht und hab- bin eigentlich mit dem Bewusstsein hergegangen dass das jetzt mein Zuhause ist […].« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1001–1003) Beate Rössler differenziert drei Dimensionen des Privaten: 1. ­Dezisionale Privatheit (Entscheidungs- und Handlungsspielräume), 2. ­Informatio­nelle Privatheit (Kontrolle über private Daten und Informationen) und 3. ­Lokale Privatheit. Mit lokaler Privatheit ist die Privatheit des Hauses, der Woh­ nung, des Zimmers oder persönlicher Gegenstände gemeint. Erst das Recht, ein Zimmer für sich allein haben zu können, gibt den AkteurInnen die Möglichkeit, sich jenseits der Anforderungen, Erwartungshaltungen und Blicken anderer selbst zu inszenieren, seine Rollen abzulegen und sich selbst (er-)finden zu können ( vgl. Rössler 2001: 265). Im Interview mit INGRID LAMMERT lässt sich aufzeigen, dass sie sich ein Seniorenheim und ein Zimmer ausgewählt hat, das ihrer Vorstellung eines ›Zuhauses‹ annähernd entspricht. Sie ist mit dem Bewusstsein ins Seniorenheim gezogen, dass dieses ihr Zuhause wird. Dabei betont sie, dass sie sich nicht für ein Altenheim hätte entscheiden können, in dem sie das Zimmer mit einer anderen Person hätte teilen müssen. Selbst mit ihrem Ehepartner wäre das unvorstellbar gewesen. Sie braucht ihren Frei- bzw. Rückzugsraum, den man nicht mit einer anderen Person teilen muss, in dem die eigene Intimität gewahrt bleibt. »Ja das ist ja wichtig, dass man eine Privatsphäre hat. […] Ich könnte mir nie vorstellen, dass ich diesen Raum mit einem anderen Menschen teilen müsste. […] auch wenn’s sagen wir mal Eheleute wären. […] man hat ja überhaupt kein Freiraum mehr. […] Ich kenne Fälle, wo die

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sie auch ganz anders als ihre eigenen Angehörigen adressieren kann. Denn im Gegensatz zur familiären Pflege wird die Interaktion und Kommunika­ tion in Alterseinrichtungen stärker durch beruflich-funktionale Gesichts­ punkte bestimmt. Zwar treten auch in der professionellen Pflege systema­ tische Diskrepanzen zwischen den Ansprüchen der ›BewohnerInnen‹ und den Arbeitsanforderungen des Personals auf, doch die AkteurInnen heben positiv hervor, dass familiäre Konfliktsituationen, Schuldzuweisungen oder Belastungsempfindungen entfallen.

Eheleute […] beide in Obhut sind, aber jeder braucht seine Privat­sphäre. […] Das wäre auch nicht zumutbar […].« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1044–1050) Die Dimensionen des Privaten von Beate Rössler beziehen sich wechsel­ seitig aufeinander, sodass die InterviewpartnerInnen im Interview auch immer wieder auf ihre ›aktive Rolle‹ bzw. dezisionale Freiheit, sich im Übergangsprozess die Senioreneinrichtungen nach ihren eigenen Vorstel­ lungen und Bedürfnissen ausgesucht zu haben, hinweisen. » […] naja viele […] haben nicht die Gelegenheit, sich durchzudenken, bevor sie den Schritt machen, weil es ist ja meist aus einer Notlage heraus (.) Ich denke, für die ist es noch anders, als wenn man im Prinzip- Ich habe mir ja diesen Raum ausgesucht quasi […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 997–1001) Wie für die anderen InterviewpartnerInnen war für INGRID LAMMERT das Zimmer, einschließlich des Grundrisses, der Größe, der Fenster und der Sonneneinstrahlung, ein wesentliches Kriterium der Auswahl. Da die grös­ seren Zimmer vergeben waren, entschied sie sich für einen Raum, der zwar nicht so große Fenster hatte, sich dadurch aber auch weniger aufheizte. » […] dieses hat mir eigentlich so am besten gefallen, sehr offen, sehr hell und es kommt so freundlich auf ein zu. […] Und dann habe ich mir auch dieses Zimmer ausgesucht. […] Da waren zwar ein paar etwas größere, da hätte ich auch gerne eins von gehabt, aber die waren schon vergeben. Und ich habe dann dieses Zimmer ausgesucht, weil mir die anderen- ich habe gedacht, so schön, wie offen die großen Fenster sind, aber wenn die Sonne drauf steht wird’s sehr heiß ((lacht)) […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z.125–134)

Die Atmosphäre Die Vorstellung von einem ›Zuhause‹, die sich nicht nur auf das Senioren­ heimzimmer (›place‹), sondern auf das gesamte Umfeld (›space‹), wie auch Falk et al. in ihrem Modell »Creating a home in residential care« hervorhe­ ben ( vgl. Falk et al. 2012: 1002) bezieht, impliziert auch die Ausstrahlung und Offenheit, d. h. die Atmosphäre des Seniorenheims und der Zimmer. » […] letztendlich muss man sich auch dann mal außerhalb des Raumes wohl fühlen. Hier die Atmosphäre ist auch sehr wichtig. Es ist ja nicht nur der Raum und die Gegenstände, sondern einfach auch die Atmosphäre im Haus.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 576–579)

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Für PAUL TRAMPE bezieht sich die Atmosphäre aber nicht nur auf die Ausstrahlung der sozialen Güter, der ›gebauten‹ Räume, sondern auch auf das Wechselverhältnis zwischen der Außenwirkung der sozialen Güter und der Menschen ( vgl. Löw 2012: 205). Für ihn war das Personal und darüber hinaus dessen Professionalität essentiell für die Auswahl der Einrichtung. » […] vernünftiges Personal. Ich war früher dienstlich in der Gewerbe­ aufsicht. Ich habe viel gesehen, viel kontrolliert. […] Ich wusste, was ich wollte. Und bei mir kommt’s auf's Personal an. Freundlichkeit. Denn auf die Menschen hier drin im Allgemeinen, die hier untergebracht sind, kann man nicht immer gehen […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 114–118) Denn die Mitarbeitenden sind für die Pflege und Versorgung verantwort­ lich und letztendlich auch seine Ansprechpartner*innen. Aufgrund seiner Berufsbiographie in der Gewerbeaufsicht besitzt PAUL TRAMPE ganz klare Vorstellungen, was er von den Mitarbeitenden und anderen ­›Bewohner­*­innen‹ erwartet bzw. zu erwarten hat. Er differenziert zwischen dem Fach­ personal und den »Menschen hier drinnen, auf die man nicht gehen kann«, auf die man sich seiner Meinung nicht verlassen kann oder die für ihn auch keine adäquaten Gesprächpartner*innen sind.

Das vertraute Wohnviertel Für GERDA VON OELDE war das entscheidendste Kriterium, dass sich das Seniorenheim in ihrer vertrauten »alten Gegend« befand. » […] also mir blieb nur so ein Heim und da kam eigentlich nur […] dieses für mich in Frage. Erst mal war’s in meiner alten Gegend […].« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 689–690)

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Mit Atmosphären sind die räumlich spürbaren Stimmungsqualitäten ( vgl. Böhme 2014: 25), die von der Außenwirkung und Anordnung der Objekte ausgehen, gemeint. INGRID LAMMERT betont, dass man sich ne­ ben dem Zimmer und den Dingen im gesamten Seniorenheim wohlfühlen sollte. Damit ist die Atmosphäre als Wahrnehmungsaktivität des körper­ lichen Spürens ganz stark an den körperlichen Leib gebunden ( vgl. Löw 2012: 196). Sie beschreibt, als wie freundlich und offen sie das Senioren­ heim wahrgenommen hat. Vielleicht war das auch ein Grund dafür, warum sie in Absprache mit der Heimleitung eigene Möbel, die sie nicht mehr in ihrem Zimmer anordnen konnte, in den Gemeinschaftsräumen platziert hat. Somit schuf sie sich im gesamten Seniorenheim einen Raum zum ›Wohlfühlen‹.

Sie wollte sich weiterhin auch in ihren räumlichen Routinen bewegen, d. h. die Möglichkeit haben, in den gewohnten Supermarkt zu gehen und weiter­ hin ihre nachbarschaftlichen Kontakte zu pflegen. Dadurch bietet sich ihr die Möglichkeit, sich nach wie vor in einer für sie gewohnten Anordnung von Dingen, Menschen, Orten und Plätzen zu bewegen. Dementsprechend muss sie sich zwar in Bezug auf ihren Wohnraum, aber nicht auf ihren Wohnort umorientieren. Ihr ging es darum, ›nicht entwurzelt‹ zu werden, d. h. nicht den Wohnort zu wechseln, um in der Nähe der Angehörigen zu wohnen. Denn gerade die »fremde Umgebung«, die fehlenden Kontakte und die sich reduzierenden Besuche der Angehörigen können dazu führen, dass man sich anschließend »stock allein« fühlt. » […] anfangs kommt Tochter und Sohn […] und dann ist es alles schön und gut. Das reduziert sich dann sehr schnell und dann ist man eben in einer fremden Umgebung stock allein.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 702–705) Dadurch, dass es sich in ihrer Gegend befand, war ihr das Seniorenheim außerdem schon vertraut, und sie hatte durch Besuche bei Freunden und Angehörigen, ähnlich wie das bei PAUL TRAMPE und MARTHA GEHL der Fall gewesen war, schon vorher Kontakte zum Pflegepersonal. Auf die Frage, warum sie sich nicht für eine alternative Wohnform wie das Mehrge­ nerationenhaus oder z. B. eine Wohngemeinschaft entschieden hat, räumt GERDA VON OELDE ein, dass Wohngemeinschaften nur für »jüngere Jahre« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 624) in Frage kämen und diese Wohnformen zur damaligen Zeit auch noch nicht in diesem Umfang zur Verfügung standen bzw. teilweise ihren persönlichen Kriterien nicht entsprachen. » […] wie ich vor fünf oder fast sechs Jahren hierher gegangen bin, da gab’s das noch gar nicht in dieser Form, die sogenannten Wohnge­ meinschaften. […] Also mir blieb nur so ein Heim […]. « (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 686–689) Dies entspricht auch meiner Erfahrung mit der anthroposophischen Wohn­ anlage, in der die ›Bewohner*innen‹ mir erklärten, dass sie im Falle einer erhöhten Pflegebedürftigkeit noch einmal in ein Alten- und Pflegeheim umziehen müssten (weshalb diese Wohnangebote für Menschen mit einem höheren Pflegebedarf oftmals nicht in Frage kommen).

›Der Sinn für das Schöne‹ Für die Auswahl eines Seniorenheims waren für LUISE IMHOLZ einerseits das ›Ländliche‹, d. h. die Natur, die Umgebung, andererseits die ästhetischen

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» […] ich liebe hier das Ländliche. Ich wusste, hier sind auch wohl­habende Leute, die auch ein bisschen was Schönes- sich wenn auch was mehr kostet, sich hier eingewöhnen. Ich wusste, man kann Möbel mitbringen […].« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1103–1105) Dieser Sinn für Schönheit äußert sich für die Interviewpartnerin in der Gestaltung des Seniorenheimzimmers mit eigenen Möbeln. LUISE IMHOLZ zufolge ist die Empfindung von Schönheit gebunden an den materiellen Wert der Dinge und den Milieuhintergrund der Akteur*innen. ›Wohlha­ bende Menschen‹, d. h. Menschen ihrer Milieuzugehörigkeit, verspüren eher die Intensität, die das Schöne charakterisiert und benötigen das Schöne, wie sie, um sich einzugewöhnen. Darin verdeutlicht LUISE IMHOLZ, dass die Wahrnehmung von Dingen, Menschen und deren Konstellationen ver­ knüpft ist mit dem Bildungshintergrund und der Milieuzugehörigkeit, d. h. auf den Habitus der Wahrnehmenden zurückzuführen ist. Denn » […] die Wahrnehmung der umgebenden Welt ist kein Prozeß, der für alle Menschen gleich abläuft, sondern er ist geprägt vom Habitus als einem ›Wahrneh­ mungsschema‹« (Löw 2012: 197). Schließlich ist die Auswahl der Einrichtungen den AkteurInnen zufolge von folgenden Faktoren abhängig: 1. der Vertraut- und Bekanntheit des Altenheims, 2. der familiären Anbindung, 3. davon, ›nicht entwurzelt zu werden‹, 4. davon, räumliche Routinen und Gewohnheiten sowie soziale Kontakte aufrechterhalten zu können, 5. der Milieuzugehörigkeit und den finanziellen Mitteln, 6. der Professionalität der Versorgung und den Mit­ arbeiter*innen, 7. der Atmosphäre, d. h. der Ausstrahlung der Dinge und Menschen und von 8. Empfehlungen Professioneller (Ärzt*innen, Betreu­ er*innen, Mitarbeiter*innen der Sozialen Dienste).

3.3.1  Der Raum des Privaten als soziale Praxis Die soeben beschriebene Auswahl der Senioreneinrichtung nach der Vor­ stellung eines ›zukünftigen Zuhauses‹ verweist auf das Bedürfnis nach räumlicher Privatheit, das durch den Übergang nicht verschwindet. Denn schon im Sozialisationsprozess wird gelernt, wie gebaute Räume in ihrer physisch-materiellen Dimension als öffentlich oder privat wahrzunehmen und zu erkennen sind. Diese normativen Vorstellungen der › eigenen vier Wände‹, Zimmeraufteilungen, Nutzungsmöglichkeiten, Zugänglichkeiten, der Kontrolle und Privatsphäre, mit denen die Individuen sozialisiert wur­ den, fließen in die Auswahl der Senioreneinrichtung wie in die Aneignung

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Präferenzen der anderen ›Bewohner*innen‹ im Heim ausschlag­gebend. Ihr war es wichtig, dass sie eigene Möbel mitbringen durfte und auch die ande­ ren ›Bewohner*innen‹ ihren Sinn für Schönheit teilten.

der Seniorenheimzimmer ein. Sobald die AkteurInnen dem gebauten Wohnraum repetitiv62 das Attribut ›privat‹ zuordnen, reproduzieren sie entsprechend den institutionalisierten Raum des Privaten und Intimen63 an diesen Orten (Keckeis 2017). Carmen Keckeis hat Beate Rösslers Verständ­ nis der lokalen Dimension von Privatheit erweitert, indem sie Privatheit64 im Anschluss an die relationalen Raumtheorien von Henri Lefebvre65 und Martina Löw als dynamisches, soziales Konstrukt, das hergestellt und stetig ausgehandelt wird, definiert. Ihrer Meinung nach basiert die Dimension der lokalen Privatheit eines Zimmers, einer Wohnung oder eines Hauses, wie Beate Rössler sie entwickelt, auf einer Logik von Behälterräumen, die die Individuen wie schützende Behälter umgeben ( vgl. Keckeis 2017: 22 f.). Für Carmen Keckeis hingegen bestehen Räume des Privaten nicht per se, ohne Aushandlungs- oder Konstitutionsleistungen sozialer AkteurInnen, son­ dern die Frage, inwieweit z. B. sogenannte ›Bewohner*innen‹ öffentlicher Einrichtungen ›Räume des Privaten‹ errichten können, ist »vielmehr ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse und Praktiken sowie Ergebnis subjekti­ ver Wahrnehmungs-, Deutungs- und Aneignungsstrategien, die im Handeln und Erleben sozialer AkteurInnen konstituiert und als solche erkannt und identifiziert werden« (Keckeis: 2017: 37). Demnach ist der Mensch aktiv am Prozess der Konstitution von räumlicher Privat- und Vertrautheit beteiligt. Ich möchte in diesem Zusammenhang das im Einleitungskapitel kurz darge­ legte relationale Raumverständnis von Martina Löw vertiefender erläutern, weil es zum Verständnis der weiteren Interpretationen und der Entwick­ lung der theoretischen Skizze beiträgt. Ausgangspunkt ihrer raumsozio­ logischen Überlegungen ist die Kritik an bisherigen absolutistischen und relativistischen Raumvorstellungen, die den Raum als Behälterraum oder als Territorium begreifen. Löw verweist hingegen auf die unterschied­liche, plurale und differente Herstell- und Gestaltbarkeit von Raum. Für sie ist Raum nicht einfach nur eine Kulisse, vor der sich soziales Handeln abspielt,

62  Weitere  Beschreibungen zum Begriff ›repetitiv‹ auf der folgenden Seite. 63  »Bezogen auf die eigenen vier Wände bedeutet dies, dass die spezifische Anordnung der ge­ bauten Wohnräume, die materiell über die Grenzen der eigenen vier Wände festgeschrieben ist, sowie die damit verknüpften Möglichkeiten und Einschränkungen von Handlungen, die durch soziale Normen bedingt werden, durch regelmäßige soziale Praktiken im Handeln reproduziert wird.« (Keckeis 2017: 45) 64 In Anlehnung an Ochs/Löw (2012) beschreibt Carmen Keckeis fünf Dimensionen von Privat­heit: 1. Privatheit als Kontrolle persönlicher Informationen und Regulierung des Zugangs zum Selbst, 2. Privatheit als Bestandteil aller sozialen Beziehungen und als soziale Konstruk­ tion, 3. Privatheit als anthropologisch universell, aber kulturhistorisch kontingent, 4. Privatheit als individuelles und kollektives Phänomen, 5. Privatheitsnormen als Ansatzpunkt soziologischer Privatheitsforschung ( vgl. Keckeis 2017: 25). 65  Nach Henri Lefebvre hat der Mainstream der Wissenschaft den Raum lange Zeit als Con­ tainer der Dinge betrachtet. Daher forderte er, dass sich eine zeitgenössische Raumanalyse nicht nur allein mit den Dingen im Raum beschäftigt, sondern » […] space itself, with a view to uncovering the social relationships embedded in it.« (Lefebvre 1991: 89) Seiner Vorstellung nach, ist der Raum nicht per se vorhanden, sondern wird (re-)produziert.

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sondern Raum ist in permanenten Verweisungs- und Bezugszusammen­ hängen einbegriffen ( vgl. Löw 2005: 265). Damit nimmt sie das Wie, d. h. die sozialen Praktiken, in denen Räume hergestellt werden, mehr in den Blick. »Raum [wird somit] als Konstruktionsprinzip von Wirklichkeit« (Löw 1997: 30) verstanden, in der Raum und Zeit hergestellt werden und nicht per se vorhanden sind. Martina Löw zufolge konstituiert das Indivi­duum Raum durch seine Fähigkeit zu Spacing (Platzierungspraxis) und Synthe­ seleistung (Verknüpfung über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinne­ rungsprozesse), die wechselseitig aufeinander bezogen sind, d. h. Dinge, Menschen und Körper, die im Prozess des Spacings platziert werden, können nur mittels »Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozessen« (Löw 2012: 159, d.Verf.) zu Räumen zusammengefasst werden. Im Prozess des Spacings machen die InterviewpartnerInnen mit­ tels ihrer sozialen Güter, signifikanten Zeichen und Symbole für Außen­ stehende kenntlich, dass sich dieses Zimmer in ihrem ›Besitz‹ befindet bzw. es sich dabei um ihren Raum handelt. Mit sozialen Gütern sind sowohl materielle (Tische, Stühle, Schrankwände, etc.) als auch symbolische Güter (persönliche Objekte, Lieder, Vorschriften, etc.) gemeint. Die Anordnungen finden oftmals eher mit materiellen Gütern statt, jedoch können sie nur verstanden werden, wenn auch die symbolische Eigenschaft der Güter erfasst werden kann ( vgl. Löw 2012: 153). Die Wahrnehmungs-, Vorstel­ lungs- oder Erinnerungsprozesse, die soziale Güter, Menschen, Tiere, Pflan­zen oder Gewässer zu Räumen verknüpfen, bezeichnet Martina Löw als Syntheseleistung ( vgl. Löw 2012: 159). Ein abgegrenzter Innenraum, eine spezifische Materia­lität, wird erst durch bestimmte Wahrnehmungen, Deutungen und Erinnerungen als Raum des Privaten identifiziert. Die Deutung eines Ortes und die bauliche Gestaltung basieren auf bestimmten Raum­ vorstellungen bzw. Normen, den damit zusammenhängenden Synthese­ leistungen, oder auch auf bestimmten Tätigkeiten, Konnotationen, Ideen und Funktionen, die kulturgeschichtlich-gesellschaftlich geprägt sind. Innerhalb einer Wohneinrichtung können verschiedene Wohn-Räume konstituiert werden. In den seltensten Fällen verständigt man sich über die alltägliche Konstitution von Räumen, denn Menschen handeln in der Regel repetitiv (›man macht‹) und verfügen über Handlungsrepertoires, die sie gewohnheitsmäßig anwenden und die in gesellschaftliche Normen und Werte eingeschrieben sind. Die Beständigkeit von Räumen erklärt Löw durch Routinen und Raumbilder. In diesem Zusammenhang spricht sie, in Anlehnung an Giddens, von der Institutionalisierung von Räumen. Für Anthony Giddens sind die wichtigsten Aspekte von Struktur, »Regeln und Ressourcen, die rekursiv in Institutionen eingelagert sind.« (Giddens 1988: 76) Durch die Institutionalisierung wird die Dauerhaftigkeit bzw. Konti­ nuität sichergestellt.

3.3.2  Institutionalisierte Räume – Raum als Produkt und Produzent sozialer Praxis In den Interviews ist festzustellen, wie sehr die Herstellung räumlicher Privat- und Vertrautheit durch Raumvorstellungen und institutionalisierte Raumkonstruktionen vorstrukturiert ist ( vgl. Löw 2012: 225). Der institu­ tionalisierte Raum ›Seniorenheim‹ bedingt das Sortieren, Organisieren, Wegwerfen und Weitergeben von Dingen in der Phase der Haushaltsauflö­ sung und das Ausmaß in dem der gewohnte, vertraute Raum des Privaten wiederhergestellt wird. Angepasst an die räumlichen Gegebenheiten, den Grundriss des Seniorenheimzimmers, der jeweiligen Hausordnungen der Senioreneinrichtungen, die u. a. auf die Vermeidung von Stolpergefahren, den ungestörten Handlungsablauf und die Möglichkeit der Reinigung ein­ gehen, lösen die InterviewpartnerInnen ihren Haushalt, u. a. mit Hilfe von Familienangehörigen oder Betreuer*innen, auf. PAUL TRAMPE z. B. hätte gerne sein eigenes, besseres Gesundheitsbett mitgenommen, weil es mit einem angenehmeren körperlichen Wohlbefinden verbunden ist. Doch die Hausordnung untersagte ihm die Mitnahme aus hygienischen Gründen. Er rangierte sein Bett daraufhin aus. » […] Ich habe besseres Bett Zuhause gehabt […], das durfte ich leider nicht mit herbringen. Das wusste ich aber, weil das sind gewisse Heimvorschriften, die ich auch kannte. Also hätte ich aber gern hier mit hergebracht, denn das ist unmöglich. Das ist nur ein Gesundheitsbett, aber da kann man nix dafür. Das ist nun da und fertig aus […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 247–254) In o. g. Aussage kommt die Wirkmächtigkeit von institutionalisierten, star­ ren Räumen zum Ausdruck, indem sie den Auflösungsprozess als Herstel­ lungsprozess privater Räume strukturieren. Als institutionalisierte Räume bezeichnet Martina Löw Räume, in denen die (An-)Ordnungen über das individuelle Handeln hinaus wirksam bleiben und die genormte Platzie­ rungen und Syntheseleistungen nach sich ziehen ( vgl. Löw 2012: 164). Dies zeigt sich z. B. in der Gestaltung von Einrichtungen wie dem Krankenhaus oder dem Seniorenheim, von Innenstädten oder Privaträumen, die auf im­ mer gleichen (An-)Ordnungen bzw. Wiederholungen basiert. Die Zimmer in den Einrichtungen des DRK und der Diakonie sind normiert und haben dementsprechend standardisiert nach der HeimMindBauV 66eine Wohn­ raumfläche von ca. 12 m² für eine Person und ca. 18 m² für zwei Personen. » [Größere] Raumansprüche wären weder sozialstaatlich noch versiche­r­ungsrechtlich finanzierbar.« (Hasse 2009: 130, d.Verf.) Sie sind mit einem

66 Die Heimmindestbauverordnung gilt auf Bundesebene. In einigen Anforderungen, wie z. B. dem Sanitär­bereich, entspricht die Verordnung längst nicht mehr den Ansprüchen der Bewohner*innen, eine Änderung im Länderrecht ist angestrebt ( vgl. www.gesetze-im-internet.de).

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»Was brauch ich das?« Denn bei einem Übergang, der einen ›endgültigen Schritt‹ darstellt, gilt es, pragmatisch abzuwägen und letztlich die Konstitution des neuen Zim­ mers zu antizipieren, bevor man den Umzug durchführt. Wie INGRID LAMMERT betont, sind die Selektionsentscheidungen endgültig, da die Betroffenen in den wenigsten Fällen noch einmal umziehen. Sie sind aber auch in der Hinsicht endgültig, dass die aussortierten Dinge entrümpelt und verkauft werden und somit unwiederbringlich sind. » […] bevor man hier ankommt, muss man da ja schon drüber nachdenken, das ist nicht getan, wenn man hier ist. Dann ist man hier, dann ist es ein Schritt, den kann man nicht rückgängig machen […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 975–977) Aufgrund des logistischen Aufwands gilt es ebenso, pragmatische Ent­ scheidungen zu treffen. INGRID LAMMERT macht darauf aufmerksam, dass man die Dinge nicht einfach wieder abtransportieren kann, wenn

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eigenen Sanitärbereich, einem seniorengerechten Bett bzw. Pflegebett und je nach Bedarf mit einem Kleiderschrank und Nachtschränkchen ausgestattet. Die Zimmer des DRK z. B. sind abschließbar und mit eigenen Namensschil­ dern versehen, sodass Besucher*innen nicht unangekündigt im Zimmer ste­ hen bzw. auch Nachbar*innen die Räume nicht einfach betreten können. Für den Notfall hat das Personal einen Generalschlüssel. Darüber hinaus haben die Zimmer entsprechend den Erfordernissen der Pflege und der Reinigung eingerichtet zu sein. Die Einrichtungsgegenstände und Dinge müssen hygie­ nisch und technisch einwandfrei sein. In manchen Fällen, wie bei INGRID LAMMERT, konnte mit der Heimleitung abgesprochen werden, inwie­ weit großes Mobiliar mitgebracht bzw. Möbel auch in den Flurbereichen aufgestellt werden durften. Zudem ist verhandelbar, ob Haustiere gehalten werden dürfen oder auf den Zimmern geraucht werden darf. An instituti­ onalisierten Räumen lässt sich erkennen, dass Räume »Strukturierungen (sind), die im gesellschaftlich geprägten Prozess der Wahrnehmung oder der Platzierung konstituiert, durch Regeln abgesichert und in Institutionen eingelagert sind« (Löw/Geier 2014: 124). Räume entstehen nicht nur im Handeln, sondern strukturieren dieses auch. Sie sind sowohl Produkt als auch Voraussetzung und Ergebnis sozialer Praxis ( vgl. Schmincke 2009: 47), d. h. die Zimmergröße, der Grundriss und die Hausordnung sind maß­ geblich für die Auswahl und die Platzierung von Einrichtungsgegenstän­ den mitverantwortlich. Es gilt, den Platz, der zur Verfügung steht, bis auf die letzte Ecke zu nutzen und auszuschöpfen. Immer wieder stellt sich den Interviewten die Frage: »Was brauch ich das?« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 541–542)

man feststellt, dass man sie nicht benötigt. Deshalb orientieren sich die AkteurInnen auch an den räumlichen Strukturen, an den Vorgaben und Maßen, denn es ist allen klar, dass es nicht möglich ist, ihr gesamtes bishe­ riges Habitat, d. h. ihre gesamte Wohnungseinrichtung, ins Seniorenheim zu transferieren. Immer wieder beziehen sich die InterviewpartnerInnen auf die Zimmergröße, die als äußerst standardisierend und normierend empfunden wird. Deshalb wird auch häufiger Kritik an der Bauverord­nung genommen (siehe Fußnote 67), die einfach nicht mehr den Anforderungen der AkteurInnen entspricht. Die Zimmergröße, d. h. der zur Verfügung stehende Platz, wird vor allem vor dem Hintergrund bestimmter ›Wohn­ biographien‹ als äußerst einschneidend erlebt, z. B. wenn Interviewpartner­ Innen zuvor in einer 40 m² Wohnung oder einem Fachwerkhaus gewohnt haben, d. h. je größer die vorherige Wohnfläche war, als desto einschneiden­ der wird die Zimmergröße im Seniorenheim erlebt. »Ja, das Problem liegt da auch, die Größe, die man zur Verfügung hat. Man kann ja nicht viel wirklich mitnehmen. Und was man auch wirklich braucht. Man kann ja nicht alles mitnehmen. Und da fängt schon die Schwierigkeit an. Dann haben wir erst mal alles ausgemessen und versucht, was passt da drüben rein. Wenn man erst ankommt mit den Sachen und man muss das wieder wegtransportieren, dann ist das ja noch schwieriger […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 27–32) Die Frage »Was brauch ich das?« beinhaltet aber auch den Umstand, dass bestimmte Dinge im Seniorenheim obsolet werden. Putzmaterialien, Ge­ schirr oder Küchenbesteck verlieren ihre Funktionen. Bestimmte alltäg­ liche Verrichtungen und Versorgungsaspekte werden vom Seniorenheim übernommen, wie z. B. die Verpflegung oder die Zimmerreinigung. Auf den Fluren stehen Gemeinschaftsküchen zur Verfügung, sodass man keine Kochutensilien mehr benötigt. Infolgedessen verlieren auch bestimmte Möbelstücke ihre Funktionen. Wo sie im vorherigen Wohnzimmer für das Geschirr oder Dekorationsgegenstände Platz boten, benötigt man diesen Platz bzw. diesen Schrankteil nicht mehr. » […] in der Mitte war noch ein anderer (Anmerk.: Schrank). Der war auf einer Seite und jenes auf der anderen (Anmerk.: Schrankwandteil) und in der Mitte war noch speziell fürs Geschirr. Das hab ich nicht genommen. Das blieb. Was brauch ich das?« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 539–542) Die Dinge werden nicht nur dem neuen, institutionalisierten Raum ent­ sprechend arrangiert, sondern den eigenen Bedürfnissen nach modifi­ ziert verwendet. MARTHA GEHL verzichtet z. B. auf ihr Schrankteil fürs Geschirr, weil sie im Altenheim kein eigenes Geschirr mehr benötigt.

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»Also für mich war das Wichtigste das Bücheregal. Ich konnte leider nicht alle drei mitnehmen. […] Also bei mir sind Werte verloren jegangen und da bin ich so ein bisschen traurig drüber.« (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 273–279) Das Bewusstsein über die Wirkung der Dinge, über einen Teil der Biogra­ phie der Dinge, über die Zeit, die der Gegenstand in Familienbesitz gewe­ sen war, über das sich im Bücherregal angehäufte Wissen, ist bezeichnend für den Verlust, den viele InterviewpartnerInnen beschreiben. Wie INGRID LAMMERT schildert, sind zwar manche Dinge schon älter oder »überholt«, aber gerade deswegen haben sie diesen besonderen Wert für die befragten Personen. » […] das ist einfach etwas, was mich an mein Leben sagen wir mal erin­ nert und auch lieb geworden ist und es ist zum Teil alles längst überholt sagen wir mal aber grade das ist es ja, was einem dann verloren geht […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 33–36) Sie gehören zum Habitat, sind die gewohnten Dinge, die immer da gewesen sind, die den Raum des Privaten charakterisieren, die letztlich routiniert gebraucht und arrangiert werden und an vergangene Erlebnisse erinnern. Wie auch schon in der Phase der Neuordnung des körperlichen Leibes wird in der Phase der Selektion und Reduktion die emergente, herausfor­ dernde Präsenz von Dingen deutlich ( vgl. Depner 2015: 61). Immer wie­ der sind die UntersuchungsteilnehmerInnen gezwungen, sich mit ihren

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Notwendigkeit und Pragmatismus strukturieren den Selektionsprozess. Es geht zunächst einmal nicht um die Dinge, »die einem lieb geworden sind«, sondern um die, die funktional und brauchbar sind und im Verhältnis zur Zimmergröße stehen. Dabei gibt die räumliche Struktur Relevanzen an bzw. macht sie in Bezug auf die Dinge sichtbar. Wie sich in den vorherigen Ausführungen gezeigt hat, sind die Selektion und die damit einhergehende Konstitution des Seniorenheimzim­ mers nie völlig ›frei‹ von den räumlichen Strukturen, daher wird die Phase der Selektion und Reduktion häufig als aufwendigste und krisenbesetzteste Phase bezeichnet ( vgl. Young 1998: 157). Im Enträumlichungsprozess, d. h. in der materiell-räumlichen Reduktion, wird den AkteurInnen der Wert und die symbolische Außenwirkung der Dinge umso bewusster, sodass sie des öfteren von Verlusterfahrungen sprechen. Der Verlust ist ein immer wie­ derkehrendes Moment, das den Auflösungsprozess, die Phase der Selektion und die endgültige Wohnungsauflösung begleitet. PAUL TRAMPE hätte gerne seine drei Bücherregale mitgenommen. Doch musste er nur sich aufgrund der räumlichen Maße und seiner pragmatischen Abwägungen, noch verschlossenen Stauraum für seine Unterlagen zu haben, zu seinem Bedauern von zwei Regalen trennen.

­ ingen auseinanderzusetzen, ob in der Phase der (Zusammen-)Brüche mit D dem abweichenden Umgang oder der der Selektion und Reduktion mit stetigem Wechsel zwischen kontextbezogener Bedeutung und Bedeu­ tungslosigkeit. Aus diesem Grund haben sich einige Interviewpartner­ Innen, wie z. B. INGRID LAMMERT, bewusst gegen eine Mitwirkung bei der ›endgültigen‹ Haushaltsauflösung entschieden und die Entsorgung eher von Angehörigen oder Bekannten organisieren lassen. Für INGRID LAMMERT wäre dieser Moment emotional zu belastend gewesen, in dem sie sich gezwungen gefühlt hätte, bestimmte Dinge zu Müll zu deklarieren, die für sie aber eigentlich noch bedeutungsvoll gewesen wären.

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»Meine Wohnung auf- das war sehr schmerzhaft für mich. […] Ich habe also alles sortiert und vorbereitet und dann bin ich auch weggegangen, weil ich gar nicht wusste, wohin mit den anderen Sachen. Meine Kinder konnten das auch alles nicht unterbringen. Das ist etwas wo ich auch noch oft drüber nachdenke, dass ich überlege, wo ist das und das wohl geblieben. Und ich mag meine Tochter nicht fragen ((eingeschränktes Lachen)), weil ich Angst habe, es wird mir nicht gefallen […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 139–146) Was wiederum dazu führt, dass die UntersuchungsteilnehmerInnen ganz oft kein Wissen über den Verbleib der letzten Dinge haben oder dass sie sich häufig über ihren Verbleib Gedanken machen. » […] jetzt fällt mir dann manchmal irgendwas ein, also eine Lampe oder was ähnliches, oh Gott, wo mag die wohl geblieben sein. Das weiß ich selbst nicht. Also meine Tochter hat die Wohnung aufgelöst, mehr oder weniger.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 314–317) Damit wiederum geht ihnen ein Wissen über die Dinge und deren Werde­ gang verloren, das sie aber vor dem Übergang immer hatten. Sie wussten über die Dinge und ihren Aufenthaltsort Bescheid. Sie wussten, wo sie die Dinge hingestellt hatten, wo sie lagerten. Sie wussten, wem sie wel­ ches Buch ausgeliehen hatten. Sie wussten, von welchen Dingen sie sich getrennt hatten. Darum ist GERDA VON OELDE, wie in Kapitel 2.3.4 ge­ schildert, auch so glücklich, wenn ihr Besucher*innen erzählen, dass sie ihren Buddha noch besitzen und wo sie ihn aufgestellt haben. Dadurch weiß sie weiterhin, dass ihre Buddhas noch existieren und nimmt auf eine Art immer noch am Werdegang der Dinge teil. Allgemein ist das Verhältnis von An- und Abwesenheit in Bezug zur Materialität bestimmend für die Ent- und Verräumlichung, die im Übergangsprozess stattfindet.

In den Interviews zeigt sich des öfteren, dass nicht nur die ausgewählten anwesenden Gegenstände wesentlich für die Aneignung des neuen Wohn­ raums und die Reproduktion räumlicher Privatheit sind, sondern auch die weggeworfenen, weitergegebenen und aufbewahrten abwesenden Dinge. In den Gesprächen mit den InterviewpartnerInnen werden sowohl anwesende als auch erinnerte, abwesende Dinge benannt, strukturiert und kommentiert ( vgl. Löw 2016: 87). Damit ist eine »grundlegende räumliche Formation« (Löw 2016: 87) von An- und Abwesenheit in Bezug auf die sozialen Güter angesprochen, die in der Beschreibung des Umziehens, aber auch in der Vorbereitungs- und Eingewöhnungsphase immer wieder auftaucht. Denn auf die Frage nach der Bedeutung der Dinge für den Übergang werden zunächst einmal die abwesenden Dinge, die nicht im Zimmer präsent sind und über deren Verbleib nur sehr wenig Auskunft gegeben werden kann, benannt. Dabei handelt es sich einerseits um Dinge, die entweder aussortiert, weggeworfen oder entsorgt worden sind, andererseits um solche, die aufgrund der Zimmergröße oder ihres materiellen Wertes bei Angehörigen aufbewahrt werden. » […] es gibt natürlich […] alte Schmuckstücke, die ich gar nicht mehr hier habe, sondern die verschlossen bei meiner Tochter sind.« (Interview 1: GERDA VON OELDE: Z. 18–20) Denn im Seniorenheim lässt sich die Zugänglichkeit zu den Zimmern, wenn diese nicht abschließbar sind, nur schwer kontrollieren. Das Seniorenheimzimmer gilt in diesem Sinne nicht als ein geschützter Ort, weil er durch andere Akteur*innen und Mitarbeitende ständig begehbar ist. Aus diesem Grund lagern manche AkteurInnen ihre wertvollen Gegenstände wie Schmuck, Geld, etc. nicht in ihrem Zimmer. Diese räumliche Formation zwischen an- und abwesend, die Distanz, kann einerseits je nach Wohndauer variieren, wie bei LUISE IMHOLZ, die, bedingt durch ihre kurze Wohndauer, immer noch zur Hälfte in ihrem Fachwerkhaus lebt, das noch nicht vollständig aufgelöst worden ist. Andererseits kann das Verhältnis von ab- und anwesenden Objekten aber auch nach den Vorkommnissen oder den Bedarfen variieren, wie z. B. bei AkteurInnen, die sich manchmal noch, obwohl sie schon seit längerer Zeit im Seniorenheim leben, von ihren Angehörigen Dinge mitbringen lassen, die diese Zuhause aufbewahrt haben. Ebenfalls werden in der Benennung von ab- und anwesenden Dingen die körperlichen Einschränkungen und Selbstdeutungen des Alterns kontextualisiert, wenn LUISE IMHOLZ von ihrem ›umständlichen Umgang‹ mit dem Fernseher berichtet, INGRID LAMMERT auf ihren Rollator Bezug nimmt oder GERDA VON OELDE und WALTER NIERMANN auf mobile Dinge, wie das Auto, den Flitzer, etc., rekurrieren (siehe Kap. 3.2.1).

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3.3.3 Die räumliche Formation von Anwesenheit und Abwesenheit

Darüber hinaus wird durch das Sprechen über Abwesendes das Anwesende mitbenannt. Die vorherige Wohnsituation und deren Gestal­ tung werden deutlich, genauso bestimmte Raumvorstellungen und All­ tagshandlungen. » […] also ein Blick auf den Garten, bodentiefe Fenster und ein schönes helles Zimmer und die Küche, die war offen […] zum Wohnzimmer und in der Mitte hatte ich ein großes Sofa stehen und auf der Rückwand hatte ich so Bücherregale mit Büchern, sodass da so eine kleine optische Trennung war […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 104–108) In der Benennung des Abwesenden wird das Anwesende mitkonstruiert, wie z. B. in der Wiederherstellung der Wohnräume bei LUISE IMHOLZ, aber auch in der Reduktion, wenn PAUL TRAMPE auf den Verlust von Werten verweist oder INGRID LAMMERT auf ihre ›drei Anlaufstellen‹. Mit der Abwesenheit, die durch die Einschränkungen der Platzierung, durch die Re­ duktion an Wohnraum entsteht, wird der Umstrukturierungsprozess offenkundig. Nicht nur die anwesenden Dinge, sondern auch die Rekon­struktion der Abwesenheit von Dingen erzählen etwas über einen Menschen oder seine Lebenssituation.

3.3.4  »Die Möbel, die werden mir das Einleben schon erleichtern«67 – Zur materiellen Aneignung und Herstellung räumlicher Privatheit In ihren Erläuterungen zu Räumen des Privaten unterscheidet Carmen Keckeis zwischen einem ›Raum des Privaten‹, der an den Körper der Indi­ viduen gebunden ist, und einem geographisch lokalisierbaren Ort. Dieser wird durch soziale Güter und Symbole als ›privater‹ Raum angeeignet und markiert ( vgl. Keckeis 2017: 50). Aufgrund ihrer Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse (Synthese­ leistung) interpretieren die AkteurInnen den Raum als ihr neues Zuhause. Daraufhin entwickeln sie in Abhängigkeit von den strukturellen Bedin­ gungen Handlungsweisen, »um sich [zum einen] gegenüber den mate­ riellen und sozialen Anordnungen zu positionieren und [zum anderen] in materiellen, symbolischen und sozialen Arrangements zu agieren« (Ziegler 2011: 169, d.Verf.). Den Behälterraum ›Seniorenheim‹ eignen sich die AkteurInnen durch Dinge aus ihren Wohnräumen an, die nicht nur prag­ matisch und notwendig sind, sondern im Sinne der Wiederherstellung räumlicher Privatheit auch ein Ausdruck von Privat- und Vertrautheit sind. 67 Einzugsgespräch INGE BÖGE : Z. 102.

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» […] vor allen Dingen muss man auch ein bisschen praktisch denken. Man braucht Stauraum. Naja ich meine, da ich den Sekretär sowieso sehr liebte, habe ich den mitgenommen. Weil der auch große Schub­fächer hat […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 36–39) Aus diesem Grund handelt es sich bei den Einrichtungsgegenständen größ­ tenteils um Sessel, Sofas und Tische aus dem ›Wohnzimmer‹, das als Ort der Geselligkeit, des Wohlfühlens und der Erholung gilt ( vgl.  Schmidt-Lauber 2003: 161). Dass die AkteurInnen nicht lange über die Selektion und Plat­ zierung nachdenken müssen, ist vor allen Dingen auf die Sicherheit der eigenen Routinen und der Institutionalisierung der Synthese und des Spa­ cings zurückzuführen ( vgl. Löw 2012: 164). Das Repertoire der gewohn­ heitsmäßigen Handlungen bleibt größtenteils selbst dann bestehen, obwohl die AkteurInnen mit einer neuen Lebenssituation konfrontiert werden und sich in einem institutionellen Kontext bewegen, der aufgrund seiner räumlichen Strukturen nur bedingt die Herstellung von räumlicher Pri­ vatheit ermöglicht und die Grenzen zwischen öffentlich und privat immer wieder verschwimmen lässt. Wenn Handlungsroutinen erschüttert werden und Lebenspraxen bedroht sind, können die Dinge zur Aufrechterhaltung bisheriger Gewohnheiten und sinnvoller Lebensvollzüge beitragen und gerade auch in stationären Einrichtungen die Privatheit fördern. Die per­ sönlichen Dinge, die ausgewählt und platziert werden, tragen in den meis­ ten Fällen zur Identitätskonstituierung der AkteurInnen bei ( vgl.  Breuer 2013: 7). Tillmann Habermas vertritt die These, dass persönliche Objekte psychosoziale Übergänge erleichtern. Er geht davon aus, dass »je mehr unterschiedliche biographische Bezüge ein Objekt auf sich vereint, umso umfassender repräsentiert es seine Biographie und umso bedeutsamer ist es der Person« (Habermas 1996: 279). Persönliche Objekte definieren per­ sönliche Orte. Sie stehen in Verbindung mit anderen Menschen. Gerade die Erinnerungs- und selbstkommunikativen Funktionen persönlicher Objekte werden in Übergangssituationen bedeutsamer. Aus diesem Grund bewältigen ältere Menschen einen Umzug ins Altersheim umso besser, je mehr Dinge sie mitnehmen ( vgl. Habermas 1996: 430). Hierbei bezieht sich Habermas auf eine Untersuchung von Bih (1992), der drei wesentliche Aspekte der Dinge herausgearbeitet hat, nämlich dass sie ein stabiles Selbstgefühl als Handlungssubjekt und Kontinuität vermitteln, die Aneig­ nung der neuen Umgebung ermöglichen und als Medien der Kommuni­ kation mit der alten Umgebung dienen.

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Dabei handelt es sich um Objekte, die von emotionalem und ästhetischem Wert sind. Daher verbinden die AkteurInnen den Gebrauchswert der Dinge mit den emotionalen und ästhetischen Werten. INGRID LAMMERT z. B. platziert ihren Sekretär, den sie sehr liebt und der zugleich Stauraum bietet.

In den Interviews lassen sich fünf Objektgruppen identifizieren – Status-, Kompetenz-, Bildungs-, Erinnerungs- und Zugehörigkeitssymbole – in denen Erfahrungen, Erlebnisse, Selbstkonzepte, ästhetische Präferenzen, Bildungshintergründe, normative Vorstellungen, Habitualisierungen, Her­ stellungspraktiken und Konstitutionsbedingungen zum Aus­druck kommen. Bei den Status- und Kompetenzsymbolen geht es vorrangig um die Ab­ grenzung zum institutionellen Ort des Seniorenheims bzw. des Pflege- und Betreuungssystems.68 Die AkteurInnen demonstrieren durch die sozialen Güter ihre Kompetenzen und versuchen, sich eine Chance auf Anerken­ nung zu erhalten, die z. T. durch körperlich-leibliche Veränder­ungen beein­ trächtigt oder den AkteurInnen durch Zuschreibungen von außen abge­ sprochen wird. Mit den Status- und Kompetenzsymbolen verdeut­lichen sie ihre eigene Position und versuchen diese auszubauen. Als Zeichen für ihr Bildungsweg, eine dauerhafte Auseinandersetzung mit Inhalten und ihren gewisse Expertise wird mit den Bildungssymbolen eine Haltung gegenüber den Anderen (Bewohner*innen und Familienangehörigen) artikuliert. Erin­ nerungsobjekte symbolisieren die Erfahrungen der Personen und sind mit bestimmten Ereignissen, Personen und Orten assoziiert. Einige Erinne­ rungsobjekte, die platziert werden, erinnern an vergangene Erlebnisse und somit an ehemalige Fähigkeiten und Kompetenzen. Letztlich geben sie der Person orts- und zeitübergreifend Orientierung und die Möglichkeit, sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Erinnerungsobjekte von biogra­ phischer Relevanz verweisen auf Wendepunkte oder bestimmte Lebenspha­ sen. Als Zugehörigkeitssymbole habe ich die Objekte bezeichnet, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Praxis und Vorstellungswelt symbolisieren und dadurch letztlich auch biographisch bedeutsam sind.

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Status- und Kompetenzsymbole GERDA VON OELDE platziert ihr Biedermeierzimmer, das aus einem Sofa,

ihren ovalen Tisch, den Ohrensessel, der sie an ihren Vater erinnert, ihren Sekretär, die Vitrine und zwei Malereien besteht. Obwohl sie vorher in ei­ nem ›modernen Wohnzimmer‹ mit drei Ledersofas und einer Bücherwand lebte, verändert GERDA VON OELDE ihr bisheriges Wohnverhalten und passt ihren vorherigen Lebensstil an. Sie greift auf den Stil ihrer Familie zurück, um dem Gesundheitsbett, dem barrierefreien Bad und der Versor­ gungssituation das Biedermeierzimmer als Statussymbol gegenüberzustellen. »Ich habe immer drei Wohnzimmer gehabt genau wie das Zuhause auch war. […] Genau in derselben Folge also ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer sagte man damals noch und ein Biedermeierzimmer, 68 Aus diesem Grund werde ich diese Objektgruppen im folgenden Unterkapitel zusammen erläutern.

Mit dem Biedermeierzimmer schafft sie sich einen Raum, in dem sie nicht nur als ›Bewohnerin‹ adressiert wird, sondern als ›Dame‹. Dabei inszeniert sie sich weniger als eine ›Dame‹, die für das Häusliche und die Bewirtung verantwortlich ist, sondern als eine solche, die auf ihrem Sofa sitzend ihre Gäste in Empfang nimmt, sich vom Personal Kaffee und Pralinen servieren lässt und sich mir als Gastgeberin präsentiert. »(Anm.: spricht zu Mitarbeiterin des Seniorenheims) Frau P., eine Tasse Tee für sie (Anm.: die Interviewerin). Für sie haben wir das. Aber kein Kaffee, sondern Tee.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z 35–36) Durch das Arrangement mit dem Biedermeierzimmer bewahrt sie sich eine gewisse Souveränität über den institutionellen Ort. Sie unterstreicht ihren bisherigen Status und ihre Lebensweise durch das Biedermeierzimmer viel wirkungsvoller und grenzt sich viel stärker vom standardisierten Pflegeund Betreuungssystem ›Seniorenheim‹ ab, als es ihr mit ihrem modernen Wohnzimmer möglich gewesen wäre. Anhand der platzierten Dinge bringt sie ihre Möglichkeiten, sich den Raum anzueignen, ihren (familiären) Habi­ tus, ihre Herkunft und ihre Wertvorstellungen sehr deutlich zum Ausdruck. Das ›Seniorenheimzimmer‹ tritt im Gespräch mit mir hinter das ›Bieder­ meierzimmer‹ zurück. Neben den Statussymbolen werden auch Kompetenzsymbole angeordnet, die für die Kompetenzen und Leistungen der Interviewpartner­Innen stehen, für die sie Anerkennung erhalten und die ihre Identität sichern. Ein wesentliches Kompetenzsymbol stellt der Computer dar. Als Mit­ arbeiter einer Organisation des Bundes ist WALTER NIERMANN immer unterwegs gewesen, hatte Einsätze weltweit, reiste sowohl dienstlich als auch im Privaten viel (z. B. mit seinem Wohnmobil). Mit seinem internetfä­ higen Computer bewahrt er sich die Freiheit, sich weiterhin unabhängig der räumlichen Strukturen und Vorgaben bewegen zu können. Ganz nach sei­ nem »abenteuerlichen Lebenssinn« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 426) bleibt er weiterhin ein freier Mensch. » […] wir wohnen gern hier. Wissen sie, man hat eine gewisse Freiheit. Wir haben ja hier auch einen Hausschlüssel. Wir dürften raus. Bloß, wir können ja nie ohne Weiteres raus. Wo wollen wir denn hin? [...] Es geht nicht so. Aber man ist noch frei. Man ist nicht eingesperrt […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 667–669)

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das Biedermeierzimmer galt immer als Damenzimmer.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 478–500)

Damit ist für ihn primär die Möglichkeit verbunden, sich trotz bzw. entspre­ chend der Heimverordnung frei bewegen, das Seniorenheim verlassen und seinen Lebensstil bewahren zu können. Er weist darauf hin, dass er und seine Frau nicht eingesperrt sind. Diesen »individuellen Handlungsspiel­ raum von Subjekten in all seinen sozialen Beziehungen, ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum, der [zu]allererst individuelle Lebensentwürfe er­ möglichen, erschließen und sicherstellen kann« (Rössler 2001: 169), be­ zeichnet Beate Rössler als dezisionale Privatheit. Jedoch ist die Freiheit, wie im Fall von WALTER NIERMANN, »angewiesen auf einen spezifischen Schutz der privaten Person im sozialen Raum, um gelebt werden zu kön­ nen ohne den Einspruch, den Kommentar, die Beurteilung anderer« (Rössler 2001: 147). Freiheit ist in diesem räumlich-sozialen Kontext eben nicht selbst­verständlich bzw. uneingeschränkt gegeben, deswegen spricht er auch nur von einer »gewissen Freiheit«. Durch den Computer muss WALTER NIERMANN nicht unbedingt körperlich mobil sein, um am ›Weltgeschehen‹ antizipieren bzw. partizipieren zu können. Weit entfernt liegende Räume kann er mit dem Computer problemlos überbrücken und verknüpfen. Der Computer weist über die ›vier Wände‹ des Seniorenheimzimmers bzw. Seniorenzentrums hinaus. Der Computer ermöglicht ihm verschiedene Zugänge zur Welt: Kommunikation, Information und Unterhaltung. Durch den Computer hat er die Möglichkeit, weiterhin mit Freunden in Kontakt zu bleiben, sich informieren und partizipieren zu können. Über den Computer pflegt er Kontakte mit seinem Kollegenfreund, er beschafft sich Informationen, hört Musik und guckt bestimmte Informationssendungen. Zudem abonniert er noch verschiedene Zeitungen, weil er immer »dran bleiben [will] am Ge­ schehen« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 914–915, d.Verf.). » […] und ich mache mit meinen Freunden, mit meinen wenigen Freunden mach ich immer noch mal eine Verbindung eben übers Internet. Und gucke auch also ins Internet zum Beispiel erste, zweite Programm. Dann so die paar Sondersachen, dies so gibt da. History. […] Ich gucke jeden Tag einmal in die Nachrichten rein, was im Computer, was es Neues gibt […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 1140–1148) Der Computer ist aber auch ein Zeichen seiner früheren Erwerbstätig­ keit, seines Engagements und seines Interesses, sich stets weiterzubilden. Das erste Mal kam er mit einem Computer in den letzten Jahren seiner Berufs­tätigkeit in Verbindung. Obwohl er nicht mehr lange zu arbeiten hatte, ließ er sich von einem jüngeren Kollegen die Funktions- und Be­ dienungsweise erklären und bildete sich über seine Berufstätigkeit hinaus im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien weiter. Jede Woche traf er sich dafür mit seinem Kollegen.

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Während des Interviews zeigt er mir seine verschiedenen Programme und Dateiordner und stellt seine technologischen und sozial-kommunikativen Kompetenzen dar. Als weiteres Kompetenzsymbol sind die Handarbeiten von LUISE IMHOLZ zu nennen, die ein Zeichen ihrer Eigentätigkeit und Kreativität sind. Schon in ihrer Kindheit/Jugend hatte sie das Handwerk von ihrer Mutter gelernt. » […] ich konnte sticken. Ich konnte stricken. Ich konnte häkeln. Ich konnte knüpfen. Ich konnte nähen. […] also ich konnte vielseitig […] und habe auch sehr viel Bewunderung erfahren […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ : Z. 517–520) Eigentlich wollte sie Kunststopferin werden. Doch die finanziellen Res­ sourcen ermöglichten ihr nur eine Ausbildung zur Schneiderin. Nach der Familiengründungsphase engagierte sie sich mit ihren Handarbeiten und ihrem Ideenreichtum in ihrer Frauengemeinschaft. LUISE IMHOLZ fertigte Decken, Kissen und Puppen für Hilfsprojekte an, veröffentlichte Bücher mit eigenen Gedichten in plattdeutschem Dialekt. Im Interview führt sie mir ihre zahlreichen Decken, Kissen, Puppen, ihre selbstgeschriebenen Bücher, aus denen sie mir vorliest, und dadurch ihre ›Begabung‹ und ihren ›Schaf­ fensreichtum‹ vor. Immer wieder betont sie die Ästhetik und Schönheit der Gegenstände. Sie hebt die kleinen Details hervor, wie die Blüten und Schmetterlinge an den Lampen. » […] das (Anmerk.: Tischlampen) waren die schönsten und die hab ich mir mitgenommen. Und hier das, weil da so eine Blüte drauf ist, so’n Schmetterling hier. Drum hab ich mir das mitgenommen. Das stand neben meinem Bett auch auf dem Nachttischchen […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1166–1169) Die von ihr und ihrem Mann selbst angefertigten Gegenstände sind für sie von hoher Bedeutung. Denn so, wie sie es auch in ihrem Fachwerkhaus versucht hatte, eben nicht zwischen »Sperrholz« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 308) zu wohnen, sondern ihre Umwelt mit selbst angefertigten Dingen zu verschönern, versucht sie jetzt auch, ihre neue Umwelt im Senio­ renheim zu ästhetisieren. Im Platzieren, Ordnen und Gestalten versucht

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» […] im Beruf bin ich' s erste Mal überhaupt mit dem Computer zusammen­gekommen […] dort hab ich meine ersten sichtbaren Erfahrungen […] ich habe mir dann von einem der jungen Computerleute, mit dem ich befreundet bin und […] von hier aus schon wieder mit ihm Verbindung aufgenommen habe, […] der hat mich dann eingewiesen in das Wesen des Computers […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 1107–1117)

sie, ihr Habitat, d. h. die drei Wohnräume ihres Fachwerkhauses, nachzubilden, um wieder eine sinnhaft-ästhetisch vermittelte Ordnung der Umwelt herzustellen, die durch ihre Erkrankung, die Entscheidung zum Übergang, den Umzug und vor allen Dingen die Trennung von ihrem Ehemann, der in einem anderen Seniorenheim lebt, ins Wanken geraten ist.

Bildungssymbole Nach Pierre Bourdieu lassen sich Bücher wie auch Gemälde, Instrumente, etc. als kulturelles Kapital69 im »objektivierten Zustand« (Bourdieu 2015: 53) beschreiben. In diesem Zusammenhang verweisen die Bücher zugleich auf den »inkorporierten Zustand« (Bourdieu 2015: 53), d. h. sie signalisieren, welche Wissensformen und kulturellen Fähigkeiten durch die Weiter- und Fortbildung mit Büchern erworben wurden bzw. welche weiterhin angestrebt werden. PAUL TRAMPE hat zwar nicht alle seine Bücherregale platzieren können, aber wenigstens eines von ihnen. Trotz seiner schweren Erkrankung und seines Umzugs ist es ihm weiterhin wichtig, viel zu lesen. Er liest gerne und mit Leichtigkeit Texte, die längst nicht alle so verstehen bzw. reflektieren können wie er. Mit seinem Bücherregal, seiner Lesetätigkeit wie auch seinen verbalen Äußerungen demonstriert er seine Expertise und sein Wissen. Wie in seiner Berufstätigkeit als Mitarbeiter der Gewerbeaufsicht prüft und kontrolliert er die Inhalte der Bücher. Seinen Enkel kritisiert er für seine Buchauswahl, weil es dem Buch seiner Meinung nach an historischer Genauigkeit mangelt. Er distanziert sich von den eher populärwissenschaftlichen Lektüren und präferiert die fundierten, qualitativ hochwertigen Veröffentlichungen. » […] ich lese zum Beispiel eins, was ich jetzt vor kurzem geschenkt gekriegt habe. War ich noch Zuhause. Das darf ich gar keinem zeigen. Also, wenn ich das glauben würde, was hier drinsteht, das ist ein Roman. Ich habe gemeckert, wie mein Enkel mir das schenkte. Aber aus Verlegenheit kann man ja mal schnell sowas verschenken […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 525–528) Immer wieder stellt er sein Wissen heraus, nicht nur in Bezug auf die Bücher, sondern auch auf die Heimordnung oder die anderen ›Mitbewohner*innen‹. So wie er früher in der Gewerbeaufsicht kontrolliert hat, so kontrolliert er nun z. B. auch die »Damen« im Seniorenheim.

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Weitere Erläuterungen siehe Kap. 4.

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Er stellt sich über die »Damen« bewertet ihr Verhalten, schreibt ihnen vor, wie sie sich zu verhalten haben und agiert mit moralischen Maßstäben. Er ist sich der Situation bewusst, kann diese reflektieren, kann sich zusammenreißen, die »Damen« nicht. Er distanziert sich von ihnen. Wiederholt spricht er von »wissen« und »denken« in der Adressierung der Damen. Er behält die Kontrolle über die Situation, indem er die Maßstäbe setzt, nach denen er die »Damen« korrigiert. Er bleibt der Kontrolleur, der viel gesehen, viel kontrolliert, viel gelesen hat und noch immer viel liest und weiß. WALTER NIERMANN »war zeitlebens mit Büchern verbunden«70. Seit seiner Kindheit hat er immer viel gelesen. Er erzählt, dass er von seinem Vater sogar ein Leseverbot erteilt bekam, weil er seine anderen Unterrichtsfächer in der Schule vernachlässigte. Da ihn seine Tanten aber immer zu bestimmten Festivitäten reichlich mit Büchern versorgten und er diese Geschenke nicht abweisen konnte, setzte er sich kurzerhand über das Leseverbot hinweg. In seiner Berufstätigkeit las er auch immer viel und hat sich immer weitergebildet z. B., wenn er sich in ein neues Themengebiet wie die Informations­ und Kommunikationstechnologien einarbeiten musste. Wie bei PAUL TRAMPE handelt es sich bei seinen Büchern weniger um Romane als vielmehr um Fachliteratur. In seiner Wohnung hatte er für seine »tausend Bücher« dementsprechend eine eigene Bibliothek, in der sie dop­ pelreihig standen. » […] wir hatten ich hatte ein kleines Zimmer das war ausschließlich Bibliothek mehr oder weniger, da hat sie (Anm.: seine Frau) noch eine Nähmaschine drin stehn gehabt, die sie selten benutzt hat und ansonsten hat ich ja mehrere tausend Bücher gehabt in meiner guten Zeit, ich bin eine ich war eine Leseratte […]. « (Interview 15, WALTER NIERMANN: Z. 833–836) Bedingt durch die Entscheidung zum Übergang ins Seniorenheim und die Wohnungsauflösung musste er sich bis auf ein paar wenige Exemplare von den allermeisten Büchern trennen. Er ist zwar keine »Leseratte« mehr, versucht aber, bestimmte Handlungsmuster und Orientierungsschemata durch seine wenigen Bücher und seinen Computer aufrechtzuerhalten. Diese wenigen Bücher hängen sehr stark mit seinem Selbstkonzept zusam­ men, denn er kann »nicht ganz ohne Bücher sein«.

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Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 896-899.

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» […] ich habe gerade eben auf dem Balkon eine Diskussion gehabt mit den Damen da. Ich sage, denkt dran, dass ihr selbst so werden könnt. Denn sie können selbst nichts dafür. Aber soweit sie noch klar denken, sollten sie wissen, dass man sich zusammenreißt […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 119–126)

»Ich habe mich ganz schwer von Büchern getrennt. Aber jetzt hab ich einfach gesagt, sie müssen weg [...] bloß ich wollte wieder ein paar Bücher haben, dass ich nicht ganz ohne Bücher bin.« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 877–880)

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Erinnerungsobjekte INGRID LAMMERT hat sich durch ihre Zusammenbrüche, die zuneh­ mende Abhängigkeit von assistiven Dingen und den Umzug ins Senio­ renheim ihre Naturverbundenheit nur schwerlich bewahren können. Da sie zunehmend auf ihren Rollator angewiesen ist, mit dem sie sich nicht uneingeschränkt und frei in der Natur bewegen kann, sind Wochenendaus­ flüge, Spaziergänge und Wanderungen nicht mehr realisierbar.

» […] find ich also nix schöneres als draußen in der Natur zu sein, in jeder Lage. […] So was meinte ich, dass man solche Orte wieder auf­ sucht und dann hat man ja die Erinnerung, lässt man die aufleben.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 497–521) Sie hält an ihrer Naturverbundenheit fest, indem sie sich an diese Orte und Ausflüge durch ihre platzierten Objekte erinnert. Die Erinnerungsobjekte dienen ihr als Kompensationsmittel für ihre körperlichen Einschrän­k­ungen bzw. ihre eingeschränkte Mobilität. Denn mit den persönlichen Dingen – wie den Fotos und der Uhr – sind Erinnerungen verknüpft, die ihr vergangene Erlebnisse, wie die Wochenendausflüge, Wochenmarkt­be­ suche, Spaziergänge und Reisen, immer wieder präsent machen. Direkt neben ihrem Bett hängen ein paar Bilder an der Wand, auf denen ihre ­Familie, ihre Kinder und Enkelkinder zu sehen sind. Gegenüber von ihren Sitzmöbeln hängt ein großes Gemälde aus ihrem Wochenendhaus, das ihr ihre Kinder zum 80. Geburtstag geschenkt haben, in dem Jahr, in dem sie das Haus möbliert verkauft hatte. Ebenso bewahrt sie ältere Zeichnungen von ihren Enkelkindern auf. Die Bilder und das Gemälde stellen einen Bezug zu ihrer Vergangenheit her, überliefern wichtige biographische Momente und erzählen von Erlebnissen. Mit den Bildern wie auch mit den anderen Objekten vergegenwärtigt sie sich ihre Familiengeschichte, ihre Beziehungen und Erfahrungen. » […] die Bilder ist einfach etwas, was mich an mein Leben erinnert […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 33–34) In ihrer Dauerhaftigkeit bezeugen die persönlichen Erinnerungsobjekte die Kontinuität zur Vergangenheit, stellen einen Bezug zu anderen Orten (Wochenendhaus oder Reiseziele) sowie zur Gegenwart her, wie z. B. die ›verrückte‹ Uhr, als Symbol für Zeit, Dauer und Vergänglichkeit, die immer in

kaufen musste, nahm sie sie mit ins Altenheim. Seit dem Umzug funktio­ niert die Uhr aber nicht mehr wie gewohnt und erwartungsgemäß. INGRID LAMMERT beschreibt sie als ›verrückt‹, weil sie immer eine Stunde zu spät schlägt. Sie beginnt dann immer mitzuzählen und wartet darauf, dass die Uhr irgendwann ›13‹ schlägt. Im Seniorenheim hat sich also die Inter­aktion zwischen ihr und der Uhr verändert. Die ansonsten reibungs­ los funktionierende und dadurch bedingt eher unscheinbare Uhr regt I­ NGRID LAMMERT zu Reflexionen und Mutmaßungen an. Die Uhr wird für sie eine Art Handlungspartner bzw. ein Gegenüber für eine leibliche Interaktion. Zugleich markiert sie einen biographischen Wendepunkt bzw. eine Schlüsselsituation, denn erst mit dem Umzug ins Seniorenheim hat sich ihre Funktionsweise verändert. Nicht nur INGRID LAMMERT hat sich an die neue Umgebung und die Situation angepasst, sondern auch die Uhr. Mit ihr teilt sie nicht nur die Vergangenheit im Wochenendhaus, sondern auch einen gemeinsamen biographischen Wendepunkt, den Um­ zug ins Seniorenheim. » […] und jetzt wo wir hier sind, […] die Uhr und ich, da hat sich folgendes ergeben. Erstmal ist sie ein bisschen verrückt die Uhr. Die schlägt dreizehn quasi. Nein, sie schlägt immer eine Stunde zu spät. Und wenn die dann so auf zwölf Uhr kommt, dann fang ich an mitzuzählen. Ich warte dann immer drauf, eines Tages schlägt sie dreizehn. Nee, macht sie aber nicht […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 217–223) Im weiteren beschreibt sie, wie sie Tag und Nacht von ihrer Uhr und den Bildern »nicht los kommt«, weil sie nachts ein Orientierungslicht benö­ tigt, das aus dem Badezimmer kommend immer auf die Uhr und die Bilder leuchtet. » […] und jetzt wo ich hier bin, ich lieg ja nachts da im Bett und ich brauche nachts ein Orientierungslicht. Und dann lassen wir immer so ein Spalt die Badezimmertür auf. Und wenn dieses Licht, das bescheint grade die Ecke so ein bisschen und habe ich immer die Uhr und die Bilder da vor mir. Habe ich gedacht, mein Gott, da kommt man Tag und Nacht nicht von los ((lacht)).« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 225–230) Sie hat sich mit ihren Erinnerungsgegenständen ein Refugium geschaffen, in dem sie sich ihrer Vergangenheit bewusst werden und sich dieser aber bedingt durch den kleinen Aktionsradius im Seniorenheimzimmer nicht entziehen kann. Sie verweist damit auf ihre Gebundenheit an den Raum, darauf, nicht mehr so viel spazieren gehen und keine Ausflüge machen zu können. Sie ist zu­nehmend eingeschränkt in ihren räumlichen Verfügungs­ möglichkeiten.

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Körper, Dinge und Räume

INGRID LAMMERT s Wochenendhaus hing. Als sie dieses möbliert ­ver­-

Zugehörigkeitssymbole Für MARTHA GEHL sind ihre Heiligenbilder ein zentraler Bestandteil nicht nur ihres religiösen Lebens, sondern auch des religiösen Lebens ihrer gesamten Familie. Das Marienbild, das in der christlichen Ikonographie Maria allein oder gemeinsam mit dem Jesuskind darstellt, verleiht ihrer Marienverehrung, aber auch ihrer religiösen Zugehörigkeit und Verbunden­ heit einen bildhaften Ausdruck. »Wir haben immer Bilder gehabt. […] ja, ich liebe diese Bildchen und das ist auch Mutter Gottes mit Jesu. « (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 801–806) Sie wurde katholisch getauft und so »wird sie auch sterben«. Obwohl es ihrer Familie zeitweise streng verboten war, öffentlich zu beten bzw. eine Kirche zu betreten, haben sie gemeinsam mit anderen zu Weihnachten oder Ostern auf dem »Friedhof gebetet und gesungen […]. « (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 784). Sie haben an ihren Traditionen und ihrer Religio­ sität festgehalten, sowie auch MARTHA GEHL an ihrem religiösen Leben und ihrer christlichen bzw. katholischen Sozialisation festhält, indem sie ihre Heiligenbilder platziert.71 Mit ihren »Heiligenbildchen«, die sie ›vernied­ lichend‹ als ›geliebt‹ beschreibt, macht sie auf sehr persönliche Weise ihre christliche Sozialisation, katholische Glaubenszugehörigkeit sowie ihre spezifischen Wertvorstellungen deutlich ( vgl. Cress 2014: 241). Wie schon in der Familie, die sich trotz Kirchenverbot weiterhin zum Gebet an religiös-geprägten Orten getroffen hatte, geht es bei ihr um eine Zugehörigkeitsvorstellung und religiöse Praxis, die nicht an den Ort ›Kirche‹ gebunden ist. Denn MARTHA GEHL hat aufgrund ihrer Körper­ lichkeit nicht die Möglichkeit, religiöse Räume aufzusuchen, um zu beten oder am Gottesdienst teilzuhaben. Diesen Umstand kompensiert sie, indem sie ihre Heiligenbildchen aufstellt, sie anbetet und verehrt. Ebenfalls be­ sitzt sie einen Fernseher, durch den sie jeden Sonntag indirekt an einem Gottesdienst teilhaben kann. Mit dem Heiligenbild, ihrem Fernseher und ihren religiösen Praktiken ist sie nicht mehr auf ihre eigene Mobilität oder religiöse Repräsentationsräume angewiesen, sondern kann in ihrem Senio­ renheimzimmer ihr religiöses Leben weiterhin praktizieren. Inwieweit die AkteurInnen das erwünschte Ausmaß an räumlichmaterieller Privat- sowie Vertrautheit im Übergang ins Seniorenheim, u. a. durch die Platzierung sozialer Güter und Körper, tatsächlich bewahren und wieder­herstellen können, hängt nach Carmen Keckeis von gesellschaftlichen

71  Nach  Stephan Weyer-Menkhoff erzeugen die Heiligenbilder durch ihr Aufstellen im Haus­ halt einen Schein der Heiligen. Es geht um das außerkirchliche Heiligtum, also um etwas Heiliges, was nicht nur in der Kirche zu verorten ist, sondern ein nichtöffentliches Heiligtum in den eigenen vier Wänden ( vgl. Weyer-Menkhoff 1998: 4).

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Prozessen und Praktiken, den räumlichen Strukturen sowie »den subjektiven Wahrnehmungs-, Deutungs- und Aneignungsstrategien [ab], die im Handeln und Erleben sozialer Akteur*innen konstituiert und als solche erkannt und identifiziert werden« (Keckeis 2017: 37, d.Verf.). Außerdem handelt es sich beim Seniorenheim um einen Ort abseits des institutionali­sierten Raumes des Privaten und Intimen, der zugleich Wohnraum der ›Be­ wohner*innen‹ als auch Pflege- und Arbeitsort ist. Die Gestaltung der Räume wird im Seniorenheim nicht nur durch die Nutzer*innen vorgenommen, sondern auch durch die Be- und Zuschreibungen der beruflichen Akteur­*­innen und Angehörigen. Für die sogenannten ›Bewohner*innen‹ eines Alten­heims ist das Heim oftmals ihr letztes ›Zuhause‹. Für Mitarbeitende hingegen ist es der Arbeitsort, d. h. eine Einrichtung sozialer und pflege­ rischer Interventionen. Als Wohnort sollte ein Heim Ruhe, Privatsphäre, Sicherheit, Intimität und Selbstgestaltung bieten. Als Arbeitsort wird es eher an »funktional-hierarchischen Gesichtspunkten« (Höpflinger 2011: 46) gemessen. Durch unter­schiedliche Formen der ›Zurückhaltung‹, wie u. a. die Stärkung des Rechts von Pflegebedürftigen, regulierte Zugangsbe­ schränkungen zu Altenheimzimmern und die Heimverordnung, wird zwar versucht, die Privatheit zu gewährleisten, doch Professionen und Diszipli­ nen der Pflege, der Heilverfahren, der Reinigung, etc. einschließlich ihrer Praktiken und Handlungsweisen lassen die Grenze zwischen privat und öffentlich immer wieder verschwimmen. Daher ist vielmehr auf die flexi­ ble Regulation von Zugänglichkeiten seitens der sozialen Akteur*innen zu verweisen, wodurch die räumliche Privatheit fortwährend ausgehandelt werden muss ( vgl. Löw 2012: 225). Während meines zweiten Feldforschungsaufenthaltes im Senioren­ zentrum ereignete sich ein für mich sehr ›bewegender‹ Vorfall. Die ›Bewoh­ nerin‹ LISELOTTE OLSCHEWSKI , die schon seit mehreren Jahren erblin­ det war, kam aufgebracht und sehr fassungslos zu einem Mitarbeiter des Sozial­dienstes und mir. Sie erzählte, dass in der Mittagszeit, als sie beim Essen saß, eine Reinigungskraft beim Säubern ihres Zimmers einfach ihre Möbel umstellte. Darin zeigt sich, dass es sich um eine gemeinsame Konstruktion von Räumen durch die verschiedenen Akteur*innen handelt, die wiede­ rum auf die jeweils anderen zurückwirkt ( vgl. Kraus/Meyer 2015: 143 f.). LISELOTTE OLSCHWESKI, die durch ihre Erblindung stärker auf die fest­ gelegten Platzierungen angewiesen gewesen war, konnte sich, nachdem sie vom Mittagessen kam, nicht mehr in ihrem eigenen Zimmer orientieren. Sie fragte uns, während wir ihre Möbel wieder zurückstellten: »Wer kann sowas nur machen, ohne das mit mir abzusprechen?« Der Sozialdienstmit­ arbeiter wollte diesen Vorfall im Team besprechen, um zu vermeiden, dass sich die Situation wiederholt. Obwohl LISELOTTE OLSCHWESKI schon seit mehreren Jahren im Seniorenheim wohnt, muss sie ihre räumliche Privatheit immer wieder in Aushandlungs- und Konstitutionsprozessen herstellen und ist letztendlich angewiesen auf die Zurückhaltung und den respektvollen Umgang der Mitarbeitenden und Angehörigen.

3.4  Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse Im Mittelpunkt dieses Kapitels standen die drei zentralen Erfahrungs­ dimensionen, die sich in der Analyse des Materials identifizieren ließen. Ich habe diese Dimensionen anhand der unterschiedlichen Phasen des Übergangs erläutert und deren Verweisungszusammenhang bzw. Interde­ pendenz aufgezeigt. Zusammenfassend möchte ich noch einmal auf we­ sentliche Aspekte, die mit den Erfahrungsdimensionen benannt werden, eingehen.

Der Übergang ist an den körperlichen Leib und die Erfahrung von Verletzbarkeit und ›Behinderung‹ gebunden. Daher wird auch stärker die körperlich-leibliche Vulnerabilität als zu Bewältigendes beschrieben und nicht, wie von mir angenommen, die räumlich-materielle Neuordnung. Letztlich ist nicht der wohnraumbezo­ gene Übergang ins Seniorenheim als Prozess der Ent- und Verräumlichung krisenbesetzt und defizitär, sondern die dem Prozess vorausgehenden und in den Prozess hineinwirkenden gesundheitlichen Probleme und der zunehmende und fortwährende körperlich-leibliche Transformationspro­ zess. Der Prozess des Älterwerdens stellt sich dabei nicht als einmaliger Schicksalsschlag bzw. einmaliges Ereignis dar, der/das sich im Übergang vom ›dritten‹ zum ›vierten‹ Lebensalter, zum Altsein bzw. im Übergang ins Seniorenheim konzentrieren lässt, sondern als fortwährender, unausweich­ licher Transformationsprozess, der mit dem Tod endet. Der körperlich-leib­ liche Alterungsprozess steht demnach in engem Zusammenhang mit der Konstitution von Räumen, wie sich am Wohnortwechsel, an der Herstel­ lung räumlicher Privatheit im Seniorenheim und der sich immer wieder vollziehenden Neu-Konstituierung bzw. -Deutung des Ortes zeigt. Denn mit dem andauernden Alterungsprozess wird das Alten- und Pflegeheim eben nicht mehr nur als Lebensort gestaltet und angeeignet, sondern auch als »Platz zum Sterben«72. Der Körper dient im Übergang als Grundlage für Zuschreibungen, Kategorisierungen und darüber hinaus für räumliche Zuweisungspraktiken. Bestimmte Anrufungen an einen gesunden, fitten, optimierbaren Körper im Sinne des erfolgreichen Alterns (›Anti-Aging‹, ›Wellness‹) wer­ den im Übergang durch Anrufungen an einen ›hinfälligen‹, ›sterbenden‹ Körper, dem ein bestimmter Grad an Fitness, Genesungsmöglichkeit und Entscheidungsspielraum abgesprochen wird, ersetzt. Mit der Verschiebung des Leitbildes hin zu einem ›ineffizienten, nicht mehr zu optimierenden Körper‹ ist die gesundheitliche Situation zunehmend rationalen ­Kalkülen und Abwägungen ausgesetzt. Die körperliche bzw. gesundheitliche Situ­ ation oder das Unfallrisiko sind zudem ausschlaggebend dafür, dass die 72 » […] und der andere sagt, na endlich hab ich einen Platz zum Sterben gefunden.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 992–993)

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Das Bedürfnis nach einem ›Zuhause‹ bzw. nach räumlicher Privatheit verändert sich durch den Übergang ins Seniorenheim nicht. Es hat sich gezeigt, dass mit der Entscheidung zum Übergang die Vorstellung von einem ›Zuhause‹ als einem Ausdruck räumlicher Privatheit ein wichtiges Leitprinzip für die folgenden Übergangsprozesse (Auswahl der Einrichtung, Haushaltsauflösung, eigentlicher Umzug und Aneignung) ist. Dieses ist letztlich auf die Idee und Funktion von Räumen des Privaten und die Art und Weise, wie Räume des Privaten konstituiert sind, zurückzufüh­ ren. »Im Prozess der Synthese – des Erkennens, Verknüpfens oder Erspüren von (An)Ordnungen – werden Häuser, Wohnungen und Zimmer, also die eigenen vier Wände […] als Räume des Privaten und Intimen erkannt und als solche in der Raumkonstitution definiert.« (Keckeis 2017: 45) Die Idee von räumlicher Privatheit und die Zuordnung des Attributs ›privat‹ ist demnach routiniert, institutionalisiert und damit materiell und symbolisch verfestigt und wird im Übergangsprozess fortwährend antizipiert. Indem die Dinge im Seniorenheimzimmer platziert und arrangiert werden, eignen sich die AkteurInnen den ›gebauten Raum‹ an. Sie schaffen sich durch die arrangierten Status-, Kompetenz-, Erinnerungs-, Zugehörigkeits- und Bildungssymbole einen Raum des Privaten, in dem der Einzelne als Individuum mit seinen individuellen Lebensweisen, Vorstellungen und Verhaltensweisen erkannt und anerkannt wird. Aus den vorangegangenen Ausführungen in Kapitel 3.3.2 wird deut­ lich, dass die Haushaltsauflösung eine unausweichliche Eigenschaft des Übergangs von privaten zu institutionellen Räumen ist, in der die eigene Dingwelt und die Beziehung zu persönlichen Objekten stärker thematisiert und reflektiert wird, da es sich eben nicht um eine Auflösung handelt, die vergleichbar mit der Reduzierung und Transformation von Dingen entspre­ chend einer vorherigen Lebensphase, wie z. B. Scheidungsfälle oder berufs­ bedingte Umzüge, ist.73 Die Auflösung in Verbindung mit dem Übergang in ein Seniorenheim entsteht aus einer Notwendig- und Dringlichkeit

73  »We also want to distinguish household disbandment – necessitated by an impending move – from the voluntary campaigns that adults sometimes undertake to reduce their possessions.« (Ekerdt et al. 2004: 265)

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Körper, Dinge und Räume

AkteurInnen in Alten- und Pflegeheime über- bzw. verwiesen werden, z. T. ohne aktiv beteiligt zu sein, oder dass ihnen ein Übergang empfohlen wird. Fasst man die Äußerungen zusammen, so wird deutlich, dass dieses Schema des ›hinfälligen, nicht mehr zu optimierenden Körpers‹ nicht nur von außen an die AkteurInnen herangetragen wird, sondern sich bei eini­ gen auch im Selbstverständnis verankert. Hier wäre eine dezidiertere Aus­ einandersetzung mit den Wechselwirkungen zwischen den Altersbildern von Hochaltrigen und deren Selbstkonzepten zur Sättigung der Kategorie nötig, die aber nicht das Hauptinteresse meiner Arbeit gewesen ist.

heraus, die viel umfassender und in den meisten Fällen endgültiger ist. » […] later-life disbandment relocates daily life to a reduced setting where the prospect of reversal is small and the vulnerabilities of age might be more effectively managed.« (Ekerdt et al. 2004: 266) Die Notwendigkeit, sich über den Verbleib von Dingen zu entscheiden, macht verschiedene Facetten, wie z. B. Verlust, Ärger, Wut, etc., sichtbar. Sie entsteht durch die räumlichen Strukturen, d. h. die Regeln und Ressourcen, die rekursiv in der Institution ›Seniorenheim‹ eingelagert sind. Diese ermöglichen und beschränken spezifische Aneignungs- bzw. Wiederherstellungspraktiken räumlicher Privatheit. Zugleich ist der Produktionsprozess von räumlicher Privatheit geknüpft an das Wissen über räumliche Strukturen. »Je nachdem können diese Regeln und Ressourcen für Aushandlungs- und Aneignungs­ prozesse nutzbar gemacht oder räumliche Strategien entwickelt werden, um Privatheit herzustellen.« (Keckeis 2017: 52) Entsprechend der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Aneignungs­ strategien der AkteurInnen und den gegebenen räumlichen Strukturen werden in der Enträumlichung die Dinge geprüft, sortiert, ausgewählt, verschenkt, verkauft, entsorgt und zerstört. Die Dinge durchlaufen, wie es Charlotte Löffler formuliert, einen Transformationsprozess, in dem sie einen Bedeutungswechsel erfahren ( vgl. Löffler 2014: 49). Schließlich werden die Dinge neu gerahmt und kodiert. In den ›platzierten‹ Dingen drücken sich die subjektiven Sichtweisen, Erinnerungen und biographischen Erfahrun­ gen aus. Sie verweisen auf Beziehungen, auf persönliche Sinnhorizonte und Teile der eigenen Geschichte. Die AkteurInnen beschreiben, wie die Dinge soziale Beziehungen ersetzen, wie sie zu einem Gegenüber werden, mit dem man zusammen den Übergang erlebt. Zudem markieren sie den Status einer Person bzw. ihren Platz in der Gesellschaft. In den Interviews und den Gesprächssituationen wird deutlich, wie sie als Mittel der Selbstpräsen­ tation und -inszenierung eingesetzt werden. Mit den Dingen gelingt es den AkteurInnen, sich sowohl vom institutionellen Ort als auch von den anderen ›Bewohner*innen‹ abzugrenzen. Sie stellen sich durch ihr Verhält­ nis zu den Objekten und in den Platzierungs- und Verknüpfungsprozessen nicht nur einen Raum des Privaten her und bewahren sich nicht nur ihre Ordnung und ihren Lebensstil, sondern auch ihre identitäre Einzigartig­ keit, einschließ­lich ihrer Erfahrungen, Vorstellungen, Lebensweisen und Fähigkeiten.

Die Herstellung räumlicher Privat- und Vertrautheit die körperliche und dezisionale Privatheit mit einschließt bzw. die dezisionale, körperliche Privatheit ist verknüpft mit dem Bedürfnis nach räumlicher Privatheit. Immer wieder betonen die AkteurInnen, wie wichtig es ihnen war, wenn ihre körperlich-leibliche Verfassung es zugelassen hatte, die Entschei­ dung treffen zu können, das Altenheim selbst auszuwählen und im Prozess der Wohnungsauflösung dabei gewesen zu sein. Sie betonen die Wichtig­ keit der Handlungs- und Entscheidungsspielräume, ›nicht versetzt‹ bzw.

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Die Konstitution räumlicher Privat- und Vertrautheit im Übergang ins Senio­ renheim hängt, wie sich im vorherigen Kapitel herausgestellt hat, nicht nur von den Raumvorstellungen, den institutionalisierten Raumkonstruk­ tionen und den in einer Handlungssituation vorgefundenen Bedin­gungen

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Körper, Dinge und Räume

›entwurzelt‹ zu werden, sondern diese Entscheidung eigenständig treffen zu können. Was bedeutet, dass ihnen ihre ›aktive Rolle‹ auch zugestanden wird. Denn oftmals, wie im Fall von WALTER NIERMANN und seiner Knieoperation, sind die AkteurInnen gezwungen, sich Kommentaren bzw. auch Fremdführungen auszusetzen bzw. ihnen wird ihre körperliche Au­ tonomie abgesprochen. Was in einigen Fällen auch zur Folge haben kann, dass Entscheidungen für die AkteurInnen getroffen werden. MARTHA GEHL hatte, aufgrund ihres vulnerablen körperlichen Leibes und ihrer so­ zialen Position, nicht die Möglichkeit, sich eigenständig zu entscheiden. Da sie auch schon zuvor in einer betreuten Wohnform lebte und sich in einer körperlichen ›Notlage‹ befand, hatte sie keine Optionen bzw. es wurden ihr seitens des Arztes keine weiteren Alternativen eingeräumt. Ihr behandelnder Arzt traf die Entscheidung für sie und leitete daraufhin die weiteren insti­ tutionellen Schritte ein. INGE BÖGE konnte sich aufgrund ihrer körper­ lich-leiblichen Verfassung nicht mehr für einen Übergang entscheiden und wollte dies auch nicht, sodass ihre Familie den Entschluss für sie fasste. Als ich das Einzugsgespräch von ihr beobachtend begleitete, schüttelte sie im­ mer wieder mit dem Kopf, als sie zuschaute, wie ihre Angehörigen das Zim­ mer einrichteten, den Schrank einräumten und ihre Kleidung aufhängten. Darin zeigt sich, wie sehr auch professionelle Beschlüsse oder Empfehlun­ gen von Ärzt*innen, Pflegepersonal, gesetzlichen Betreuer*innen oder Fa­ milienangehörigen die Entscheidung für einen Übergang ins Seniorenheim beeinflussen und darüber hinaus in einigen Fällen diese Entscheidung sogar entgegen der Bedürfnisse und Wünsche der betroffenen Personen getroffen werden. Bei den AkteurInnen, die diesen Übergangsprozess – von der Auswahl, über die Auflösung bis hin zum eigentlichen Umzug – nicht aktiv mitgestalten können, steigt jedoch, wie in der Situation von INGE BÖGE deutlich wurde, die Unzufriedenheit. Denn die aktive Auseinan­ dersetzung und der Grad der Selbstbestimmung sind entscheidend für die Gestaltungsmöglichkeiten und -freiheiten ( vgl.  Filipp/Aymanns 2010: 16). Letztlich spielt die Anerkennung und Wertschätzung der dezisionalen wie körperlichen Privatheit für die Aushandlungs- und Konstitutionsprozesse räumlicher Privatheit eine bedeutsame Rolle. Denn obwohl es sich beim Altenheim um einen institutionalisierten Raum handelt, der als Lebensund Arbeitsort durch die Anforderungen, Bedürfnisse und Vorstellungen sowohl der Mitarbeitenden als auch der ›Bewohner*innen‹ gestaltet wird, kann die Wiederherstellung räumlicher Privatheit nur gelingen, wenn die ›Bewohner*innen‹ untereinander und die Mitarbeitenden trotz Pflege- und Versorgungsabläufen die ›Privatsphäre‹ und die Vorstellungen der ›Be­ wohner*innen‹ anerkennen und respektieren.

ab, sondern sind die Konstitutionsprozesse von Synthese und Spacing, wie sich auch in den Übergangserfahrungen der AkteurInnen zeigt, ein Aus­ druck des einverleibten, inkorporierten (überwiegend klassen-, geschlechtsund generationsspezifischen) Habitus ( vgl. Löw 2012: 225). Die Auswahl der Senioreneinrichtung nach Kriterien des körperlichen Wohlbefindens, der Atmosphäre und dem Sinn für Schönheit, die Raumvorstellungen und die Platzierung von Status-, Kompetenz-, Bildungs-, Zugehörigkeits- und Erinnerungssymbolen werden durch den Habitus der jeweiligen AkteurInnen bedingt. Obwohl der Übergang ins Seniorenheim eine neue Situation für die AkteurInnen ist, handeln sie fast ›automatisiert‹, geregelt, ohne eine vertiefende Reflexion. Sie wissen, wie sie sich zu verhalten und zu handeln haben. Eine Erklärung dafür liefert der Habitus, »der als »Gewohnheits-Sinn« (Bourdieu 2001: 182) […] stärker auf der Ebene der Praxis als auf der Ebene des Bewusstseins agiert» (Karrer 2016: 25). Der Habitus macht »die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart« (Bourdieu 2014: 105). Ich möchte im folgenden Kapitel auf den Habitusansatz von Pierre Bourdieu, der ausschlaggebend für die Aneignungs- und Wiederherstellungspraktiken der AkteurInnen ist, eingehen, ehe ich mich dann dem klassen­, geschlechts- und dem generationsspezifischen Habitus widme.

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4.  Der Habitus als konstituierendes Element räumlicher Privatheit

Nach Pierre Bourdieus Sozialtheorie nehmen Akteur*innen, aufgrund ihres akkumulierten Kapitalvolumens unterschiedliche Positionen im so­ zialen Raum ein. In seiner Analyse der »feinen Unterschiede« entwickelt er, im Gegensatz zu Klassen-74 oder Schichtungstheorien75, ein dreidimensio­ nales Modell des sozialen Raumes, das folgende drei Grunddimensionen umfasst: Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und zeitliche Entwicklung dieser Größen bzw. soziale Laufbahn ( vgl. Bourdieu 1987: 195 ). Das Kapitalvolu­ men setzt sich aus dem Umfang an ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital zusammen. Die Kapitalstruktur beschreibt das Verhältnis der Kapitalarten zueinander, ob jemand mehr ökonomisches oder kulturelles Kapital besitzt. Mit der sozialen Laufbahn berücksich­ tigt Bourdieu die sozialen Positionen, die man im Laufe seines Lebens besetzt bzw. die Aufstiegs- und Abstiegstendenzen sozialer Klassen ( vgl.  Schwingel 1995: 107). Das ökonomische Kapital wird hauptsächlich durch den materi­ ellen Reichtum ( Geld, Aktien, Eigentum ) definiert. Im Alter hängt das ökonomische Kapital einer Person größtenteils von den sozialstaatlichen Regelungen, wie dem Rentensystem, ab. Die finanziellen Ressourcen wir­ ken sich auf die Gestaltungsmöglichkeiten im Übergang ins Seniorenheim aus: Sie beeinflussen die Auswahl der Senioreneinrichtung (ob es sich um eine Residenz, einen Wohnstift oder ein Alten- und Pflegeheim handelt), die Organisation der Haushaltsauflösung76 oder allgemein die Entschei­ dungsmöglichkeiten bzw. Optionsvielfalt. Zum anderen sind Wohnungs­ zuschnitte und deren Ausstattungen, die einen möglichst langen Verbleib in der eigenen Wohnung auch bei körperlichen Einschränkungen zulassen, grundsätzlich nur in sehr geringem Maße verfügbar. Ältere Menschen mit geringen finanziellen Ressourcen besitzen nicht die Möglichkeit, durch einen Umzug eine bessere Wohnsituation zu realisieren ( vgl.  Kümpers/ Alisch 2018: 607).

74  Damit  ist die Definition sozialer Klassen aufgrund der Arbeitsteilung und der ungleichen Eigentumsverteilung der Produktionsmittel im politisch-ökonomischen Sozialgefüge gemeint ( vgl. König, A. 2011: 340). 75  Die hierarchische Gliederung größerer Bevölkerungsgruppen unter Bezugnahme auf objektive und subjektive Merkmale ( vgl. Brusten 2011: 595). 76  » […] ich habe mich ein bisschen verschuldet durch den Umzug und durch nachher die Ent­ rümpelung von meiner anderen Wohnung also die Auflösung des Haushalts. Habe ich mein Konto so ein bisschen überzogen. Das habe ich 46 Jahre nicht geschafft, aber hier in einem Monat, habe ich es geschafft […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE : Z. 286–289)

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Mit sozialem Kapital sind vor allem die formalen und informalen sozialen Netzwerke gemeint ( Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Verwandtschaftsund Zufallsbeziehungen sowie Freundschaften), die dem gegenseitigen Austausch, gegenseitiger Unterstützung und der Anerkennung dienen. Welchen Umfang das soziale Kapital hat, hängt stark vom Beziehungs­ netzwerk und den anderen Kapitalsorten ab ( vgl. Thiersch 2014: 61 f.). Mit wachsendem Alter, zunehmender Immobilität und eingeschränktem Aktionsradius nehmen die Möglichkeiten der Pflege sozialer Kontakte ab. Hinzu kommt, dass Freund*innen und Bekannte versterben und sich die sozialen Netzwerke altersbedingt verkleinern. Dieses wirkt sich sowohl auf die Entscheidung zum Übergang als auch auf seine Gestaltungsmöglichkei­ ten aus. Bei WALTER NIERMANN, GERDA VON OELDE oder INGRID  LAMMERT wurde der Übergang z. B. hauptsächlich von der Familie begleitet und organisiert. PAUL TRAMPE und MARTHA GEHL hinge­ gen waren gesundheitsbedingt von professionellen Instanzen und z. T. der Nachbarschaft abhängig. PAUL TRAMPE hatte schon seit längerer Zeit kei­ nen guten Kontakt mehr zu seinen Kindern und war verwitwet. MARTHA GEHL s77 Schwester war verstorben, sodass hauptsächlich ihre Nachbarn und ihr gesetzlicher Betreuer sie beim Übergang ins Seniorenheim un­ terstützten. Die sozialen Netzwerke und vor allem das familiäre Betreu­ ungssystem wirken sich auf die Wohnverhältnisse, d. h. die Möglichkeiten, weiterhin Zuhause wohnen zu bleiben, aus. Etwa 70 Prozent der Pflege­ bedürftigen werden in Deutschland von Angehörigen Zuhause betreut. WALTER NIERMANN hatte vor seinem Übergang ins Seniorenheim lange Zeit noch bei seiner Tochter leben können, weil der Schwiegersohn die Betreuungsaufgaben übernehmen konnte. Als dieser schwer erkrankte, blieb nur noch der Übergang ins Seniorenheim. Beim kulturellen Kapital handelt es sich einerseits um kulturelle Güter und Besitztümer (objektiviertes kulturelles Kapital ), wie z. B. Bücher, Instrumente, Bildungstitel, andererseits um kulturelle Fähigkeiten und Wissensformen ( inkorporiertes kulturelles Kapital ). Da vor allen Dingen das inkorporierte kulturelle Kapital einen langen Verinnerlichungs- und An­eignungsprozess voraussetzt, ist es körper- und personengebunden ( vgl. Thiersch 2014: 60). Kulturelles Kapital steht in engem Zusammen­hang mit dem Wissen über gesundheitsförderliches Verhalten, der Fähigkeit, ge­ sundheitsrelevante Informationen zu verstehen und umzusetzen, sowie der persönlichen Einstellung zu körperlicher Aktivität, Ernährung und Gesundheit. Kulturelles Kapital als Wissensform und Handlungsfähigkeit steht aber auch in engem Zusammenhang mit der Konstitution räumlicher Privat- und Vertrautheit, wie bei MARTHA GEHL, die diese Raumkon­ struk­tion nicht hatte und ihre Möglichkeiten nicht erkannte, sondern

77  » Ich war schon alleine. Mir war schon egal. Ja, ich war alleine dort und so […] vor der Krank­ heit war mir das anders, aber nach der Krankheit ganz anders alleine.« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 675-677)

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133

Habitus als konstitutives Element

auf die Vorstellungen ihres gesetzlichen Betreuers ›angewiesen‹ war. Diese Fähigkeiten und Einstellungen haben wesentlich zur Entscheidung zu einem Übergang und dadurch zur Verbesserung der körperlich-leiblichen Situation bzw. der Versorgungssituation beigetragen. Zugleich haben sie sie auch bei der Bewältigung des Übergangs, der Auswahl der Senioreneinrichtung, der Prozessvorbereitung, etc. unterstützt. Das symbolische Kapital entsteht durch gesellschaftliche Anerken­ nungsverhältnisse, d. h. einer Person wird ein bestimmtes Maß an Status, Ansehen, Renommee und Prestige zuteil. Wie im vorigen Kapitel deutlich wurde, verwenden die AkteurInnen bestimmte Einrichtungsgegenstände (Biedermeierzimmer) im Wissen um deren symbolische Außenwirkungen, um sich aus der Masse hervorzuheben und sich dadurch Anerkennung und Wertschätzung zu verschaffen. Denn gerade im hohen Alter sind die Anerkennungsverhältnisse aufgrund der eingeschränkten Selbstbestimmtheit, der Altersbilder und ­konzepte und der daraus resultierenden Zuschrei­ bungen und Kategorisierungen äußerst prekär. Die Verfügung über die genannten Kapitalsorten bedingt die Stel­ lung im Raum und manifestiert sich im angeeigneten physischen Raum (Wohnviertel, Sitzordnungen) oder in subjektiven, mentalen Strukturen (Habitus). Entsprechend der Position im sozialen Raum werden Verhaltensformen, Geschmacksmuster und Vorlieben eingeübt und internalisiert (siehe Abb. 4). Das Verhalten und der Geschmack einer Person und die daraus gewählten Attribute wie Kleidung, Aussehen, ausgeübte Sportarten, die Wohnung und die Einrichtungsgegenstände sind eng mit der Verfügung über Kapitalsorten verbunden. Der Habitus findet, je nach Position im sozialen Raum bzw. den objektiven Lebensbedingungen, seinen Ausdruck in Gesten, Blicken, Bewegungen und in der Art, wie sich jemand kleidet und seinen Körper gestaltet. Demzufolge ist es» der Habitus, der das Habitat macht, in dem Sinne, daß er bestimmte Präferenzen für einen mehr oder weniger adäquaten Gebrauch des Habitats ausbildet.« (Bourdieu 1991: 32) Laut Bourdieu entwickeln Menschen sehr früh im Leben einen sogenannten Habitus; eine Art, sich zu verhalten und die Welt zu bewerten. Er existiert als Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsschema nicht von Geburt an, sondern bildet sich während der familiären und schulischen Sozialisation in Kindheit und Jugend aus. »Von der frühsten Kindheit an vermittelt über die sozialisatorische Praxis, bestimmen die objektiv vorgegebenen gebenen materiellen und kulturellen Existenzbedingungen eines Akteurs, mithin die Lebensbedingungen seiner Familie und die soziale Klasse, die Grenzen seines Handelns, Wahrnehmens und Denkens.« ( Schwingel 1995: 66 ) Der Begriff Habitus umfasst neben Aspekten wie Wahrnehmen, Denken, Handeln und Urteilen auch das Unbewusste, das Psychische, den sozialisierten Körper. Der Körper, der als Raum den Habitus bzw. die Dispositionen aufnimmt, stellt ein wesentliches Element seines Konzepts dar. Im Verlauf der Sozialisation werden »die grundlegendsten Ordnungen

134 objektive Lebensbedingungen

strukturierend

strukturierend

Habitus: dauerhafte Disposition

strukturierend

strukturierend

System der Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungsschemata

Erzeugungsprinzip von Praxisformen

Akteur in konkreten Situationen

Akteur in konkreten Situationen

Praktiken und Sichtweisen

Abbildung 4: Habitus (van Essen 2013: 36)

der Gesellschaft […] in Form von motorischen Schemata und automa­ tischen Körperreaktionen Bestandteil der Person, ohne dass diese der Re­ flexion zugänglich wären.« ( Jäger 2005: 103 ) Die operativen Schemata, die das Handeln bestimmen, äußern sich in der Haltung, Gestik, Mimik, in den Denk-, Bewertungs- und Wahrnehmungsmustern. Somit sorgt »die Verinnerlichung oder Einverleibung solcher Schemata […] für die Heraus­ bildung eines ( klassen-, kultur-, [generations- ] und geschlechts­spezifischen ) Habitus einer Person.« (  Jäger 2005: 102, d.Verf.)

4.1  Der klassenspezifische Habitus In der raumkonstituierenden Handlung bzw. Aneignung der neuen Wohn­ umgebung werden tradierte, normative Vorstellungen sichtbar, die ein Ausdruck des klassenspezifischen Geschmacks und der herkunfts­spezi­ fischen Erfahrungen sind. In »Die feinen Unterschiede« wird vor allen Dingen die Prägnanz klassenspezifischer Kulturformen hervorgehoben, die in der Kindheit aufgenommen und in Form von Körperpraktiken, Stilvorlieben und Geschmack verinnerlicht werden ( vgl. Bosch 2010: 52). Die Zugehörigkeit zu einer Klasse bekommt durch den Habitus ihren kulturellen Ausdruck und wird durch diesen reproduziert. Der klassen­ spezifische Habitus objektiviert sich in den Welten, die sich der Körper schafft: von der Wohnzimmereinrichtung bis hin zu Essens- oder Kleider­ präferenzen. »Die Dinge, der Geschmack an den Dingen, selbst der Körper beugen sich bei Bourdieu vollständig der Klassenzugehörigkeit und den jeweiligen kulturellen Universen, die jede Schicht für sich, und doch in Beziehung zu anderen Schichten, kreiert.« ( Bosch 2010: 57) Welchen Einfluss der klassenspezifische Habitus auf die Konsti­ tution von Räumen des Privaten im Seniorenheim hat, sieht man an den Platzierungspraktiken und Vorstellungen einiger InterviewpartnerInnen. Wenn INGRID LAMMERT ihre ›drei Anlaufstellen‹ erwähnt, GERDA VON OELDE ihre › drei Wohn-‹ bzw. ihr ›Biedermeierzimmer‹, LUISE IMHOLZ ihr ›Fachwerkhaus‹ oder WALTER NIERMANN seine ›eigene Bibliothek‹, wird deutlich, dass die Herstellungspraktiken vom klassenspezifischen Habitus durchzogen sind. Die Position im sozialen Raum ist sowohl für die Entscheidungsmöglichkeiten zum Übergang und die Auswahl einer Senio­ reneinrichtung als auch für die Gestaltung bzw. Anordnung von Dingen, die räumlichen Visionen, Vorstellungen und Wahrnehmungen ausschlaggebend. LUISE IMHOLZ hebt hervor, dass ihr bei der Auswahl der Senio­ reneinrichtung die anderen ›Bewohner*innen‹ und deren Sinn für das Schöne äußerst wichtig waren. Diesen Sinn für das Schöne verbindet sie mit der Klassenzugehörigkeit der ›Bewohner*innen‹, denn, wie sie beschreibt, haben nur wohlhabende Menschen diesen Sinn bzw. können nur sie ihn nachvollziehen. Damit spricht sie Akteur*innen anderer Klassen den Sinn für Schönheit ab und distanziert sich zugleich von den ›Bewohner*innen‹, die diesen Sinn nicht besitzen bzw. von Senioreneinrichtungen mit einer bestimmten ›Bewohnerschaft‹. Diese Form der Distinktion beruht auf

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Habitus als konstitutives Element

An Bourdieus Konzept wurde des öfteren kritisiert, dass es zu wenig Raum für Transformationen zulässt. Jedoch versucht er mit seinem Konzept weniger die Praktiken an sich zu beschreiben, sondern vor allem die Gren­ zen bzw. Spielräume (un)möglicher Praktiken ( vgl. Schwingel 1995: 69). Demnach ist der Einfluss der sozialen Strukturen zwar sehr stark, aber nicht determinierend.

Klassifikationen von ›Bewohner*innen‹ einer bestimmten Milieuzugehö­ rigkeit und den entsprechenden ästhetischen Vorstellungen. Ebenso sind die Wahrnehmung von Dingen, Menschen und deren Konstellationen im Sinne der Atmosphäre sowie das Bedürfnis nach Ge­ mütlichkeit und Wohlbefinden eng mit dem klassenspezifischen Habitus der Wahrnehmenden verbunden. Aufgrund der körperlichen Einverleibung gesellschaftlicher Dimensionen ist der mit dem Phänomen räumlicher Privatheit assoziierte ›Sinn für Atmosphäre ‹, die Empfindung von › Gemüt­ lichkeit‹ »nicht schlicht individuell verschieden, sondern [als] Variationen entlang von gesellschaftlichen ( Status-)Positionen« ( Meuth 2017: 107) zu verstehen. Die von PAUL TRAMPE in der Konstitution von Räumen er­ wähnte Gemütlichkeit ist eine Möglichkeit, den eigenen Lebensstil sowie seine bürgerlichen Werte zu dokumentieren und als sinn- und wertvoll zu erfahren ( vgl. Schmidt-Lauber 2003: 155 ). Gemütlichkeit als bürgerliches Konzept ist aber auch ein Ausdruck materieller und zeitlicher Ressourcen, d. h. die Möglichkeit und Zeit zu haben, nach der Arbeit beisammen zu sein und die Sorgen des Alltags zu kompensieren. Ähnlich verhält es sich auch mit den › drei Wohnzimmern‹ oder dem »Hausmädchen« ( Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 206 ) von GERDA VON OELDE oder dem ›Sekretär aus Italien‹ von INGRID LAMMERT, den sie damals auf einer Kur entdeckt hatte und importieren ließ. Sie sind ein Zeugnis ihres größeren Volumens an Kapitalien, die sich hier nicht auf eine bestimme Kapitalsorte festlegen lassen, da diese sich sowieso in andere konvertieren lassen ( vgl. Bourdieu 1987: 209). Dementsprechend können GERDA VON OELDE und INGRID LAMMERT sich im Vergleich mit MARTHA GEHL auf eine ganz andere Art und Weise das Senioren­ heimzimmer aneignen und es ausstatten. Bevor ich mit meinen Erläuterungen fortfahre, möchte ich darauf hinwei­sen, dass mir bewusst ist, dass sich im Fall von MARTHA GEHL verschie­dene Differenzkategorien (Ethnizität, Klassenzugehörigkeit, Ge­schlecht) über­ schneiden, wie das im Grunde genommen bei anderen Interviewpartner­ Innen auch der Fall ist. In diesem Sinne lassen sich Differenzkategorien wie › Generation ‹, › Geschlecht ‹ oder ›Klasse ‹ nicht strikt voneinander tren­ nen, sondern sind miteinander verwoben. Jedoch fokussiert MARTHA GEHL in ihrer Erzählung stärker ihre klassenspezifische Zugehörigkeit. Sie betont ihre schlechtere Ausgangsposition aufgrund ihrer geringeren ökonomischen und kulturellen Ausstattung ( Zugang zum Bildungswesen ) mehr als ihre Herkunft. Für sie wirkte sich primär nicht ihre ethnische Zu­ gehörigkeit, sondern ihre ›Armut‹ auf bestimmte Handlungsoptionen und Wissensformen aus. MARTHA GEHL erzählt, wie sie als Kind auf einem Hof in Osteuropa

aufgewachsen war. Zusammen mit dem Vieh mussten sie, ihre Eltern und ihre Geschwister sich einen Schlafplatz teilen. Im Vergleich zu INGRID

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immer › drei Wohnzimmer‹ ihr eigen nennen konnte, LUISE IMHOLZ, die ›Hauseigentum‹ besaß oder WALTER NIERMANN, der viel reiste und eine ›Wohnung‹ besaß, hatte MARTHA GEHL »nichts«. Sie beschreibt, wie sie mit ihrer Familie in Armut gelebt hatte, obwohl sie eigentlich in einem reichen Land groß geworden war. Sie hatten kein Geld, um sich etwas zu kaufen. Ihre Schuhe reinigten sie mit Wasser und einer Bürste, neue Schuhe konnten sie sich nicht leisten, weil sie die Erträge aus ihrer Landwirtschaft abgeben mussten. » […] von »reich« weiß ich überhaupt nichts. Keine Ahnung. […] Armut, das haben wir gelebt. […] Wir hatten […] ein reiches Land, da wuchs alles, was man will. Aber wir hatten kein Geld zum Kaufen. Wir müssen ja alles dem Staat abgeben. […] So für die Schuhe, da hat meine Mutter ein Kessel hingestellt, wo man kocht, so umgedreht Wasser draufgegossen, mit der Bürste und die Schuhe sauber gemacht. Soweit war’s bei uns. Eine Schande, dass man das den Leuten erzählt.« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 849–856) 1944 musste sie mit ihrer Familie flüchten und wurde in ein Arbeitslager deportiert. In diesem musste sie 15 Jahre lang unter schwersten Bedingun­ gen leben und arbeiten. Sie litt z. T. unter Hunger und starker Kälte. » […] wir haben- mussten noch mehr zurücklassen […] in der osteuropä­ isches Land. Alles was wir hatten. […] Das ganze Haus und da- und eine Kuh und Schwein und wenig, aber wir hatten bisschen. Und das blieb zurück, aber wo wollten wir es hinnehmen? Konnten doch nicht auf den Wagen laden. Wir gingen zu Fuß.« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 691–695) Nach ihrer Freilassung wurde der Familie eine Wohnung in einer osteuropä­ ischen Stadt, in denen mehrere Familien untergebracht waren, zugeteilt. In ihre Heimat durften sie nicht zurückkehren. Als ihr Bruder aufgrund eines Bürgerkrieges nach Deutschland migrierte, folgte sie ihm mit ihrer Schwes­ ter 1992. Ihnen wurde eine Zweizimmerwohnung zugewiesen, die sie sich mit der finanziellen Unterstützung ihrer Cousine und Sozialhilfe­leistungen erst einmal »billig« einrichteten, da sie »gar nichts hatten«. » […] wir haben bisschen Hilfe bekommen von Nordamerika. Ich habe da Cousine gehabt, […] die hatten uns bisschen Geld geschickt. Und hat man uns bisschen gekauft. Wir hatten ja nichts. Gar nichts. […] Und das haben wir uns alles billig gekauft. Ein Lager mit solchen Möbeln, wo billig ist. Haben wir uns gekauft und ein Schlafzimmer, ein Schrank und zwei Betten […]. « (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 574–579)

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Habitus als konstitutives Element

LAMMERT, die ›drei Anlaufstellen‹ hatte, GERDA VON OELDE, die

Immer wieder musste sie sich auch während ihrer Zeit im Arbeitslager Räume mit mehreren Personen teilen. Schon mit ihrer Familie hatte sie sich auf dem Bauernhof einen Raum mit den Kühen und Schweinen ge­ teilt. Ihre Familie war es gewohnt, auf engem Raum mit wenig Platz zu leben. Die soziale Position in ihrem Herkunftsland wirkte sich auf die Verfügung von Raum aus, d. h. wieviel Platz man zur Verfügung hatte bzw. wieviel Platz einem zugeteilt wurde. Durch ihren Status als ›Migrantin‹ und ›Sozialhilfeempfängerin‹ in Deutschland wurde ihr dann eine Wohnung zugewiesen. Weder in ihrem Herkunftsland noch in Deutschland hatte sie die Möglichkeit, sich eine Unterkunft selbstbestimmt auszuwählen. Als ihr eine Wohnung zur Verfügung gestellt wurde, war sie überrascht, dass sie ›zwei Zimmer für zwei Personen‹ hatten. Im Vergleich zu ihren vorherigen Wohnerfahrungen bedeutete das viel Platz und Bewegungsfreiheit. Immer wieder betont sie die Zimmergrößen der Wohnung und die zwei Stühle, die auf dem Balkon standen. Dieser Platz und die Platzierungsmöglichkeiten waren ihr aufgrund ihrer Herkunftserfahrungen unbekannt.

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» […] sind wir gegangen, haben uns die Wohnung angeschaut. Und das waren so zwei große Zimmer. Dann habe ich gesagt, da die zwei Zimmer für uns? Mein Gott eins reicht. Wir waren zwei. Nein, hat der Mann gesagt, wenn man zwei Menschen, muss man zwei. Wir sind immer ge­ wöhnt eng, eng. Alles eng. […] Aber weil ein Mensch war, hat ein Zimmer bekommen. Aber auch ein großes. Und in Eck war noch so eine Nische, war zum Schlafen für die Leute. Auch schön. Alles. Auch Balkon. Große. Alles. Jeder hat einen großen Balkon. Jeder. Wir hatten Blumen draußen. Zwei Stühle draußen. Ja, alles weg. Ich wollte sogar das nicht. Ich wollte das nicht, aber der Betreuer hat gesagt, wir bringen ihnen das.« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 604–637 ) Entsprechend ihrer sozialen Stellung, die von ihrer Migrationsgeschichte und Herkunft bestimmt wurde, ergaben sich Gestaltungsmöglichkeiten in der Auswahl der Einrichtung sowie der Konstitution räumlicher Privatund Vertrautheit im Seniorenheim. Zudem wirkte sich auch ihr Status als ›Sozialhilfeempfängerin‹ auf die Verfügungsgewalt über Raum bzw. ihren Spielraum, diesen nach ihren Wünschen und Relevanzen auszuwählen und zu gestalten, aus. Letztlich unterlag sie den Zuweisungsmechanismen staatlicher Organisationen, denn ihr gesetzlicher Betreuer sowie ihre Nachbarn arrangierten den eigentlichen Umzug. MARTHA GEHL hatte von ihrem gesetzlichen Betreuer nur den Termin erhalten und ist gemeinsam mit ihm zum Seniorenzentrum gefahren. Dieser hatte sowohl den Termin vereinbart, als auch den Transport und Aufbau ihrer Gegenstände über­ nommen. Die Auswahl der Gegenstände fand in einem Dialog zwischen MARTHA GEHL und ihrem gesetzlichen Betreuer statt, wiederholt fragte er sie oder entschied auch nach eigenen Vorstellungen, wenn ihm noch zu wenige Dinge im Seniorenzimmer standen.

Immer wieder weist sie auf ihre Besitzlosigkeit aufgrund ihrer (Flucht-) Erfahrungen hin. Sie hat nicht die räumlichen Visionen oder auch Aneig­ nungserfahrungen wie die anderen InterviewpartnerInnen. Im Unterschied zu LUISE IMHOLZ oder INGRID LAMMERT sind für MARTHA GEHL nicht die Ästhetik der Gegenstände, die Atmosphäre oder der emotionale Wert entscheidend, sondern die Funktionalität und Notwendigkeit. Die Erfahrungen von Besitzlosigkeit sind dermaßen inkorporiert, dass sie dem­ entsprechend auch den Übergang ins Heim gestalten würde. Des­wegen überlässt sie die Gestaltung hauptsächlich ihrem gesetzlichen Betreuer als einer der gerichtlichen Aufsicht unterliegenden Vertretungs­macht. Er organisiert letztlich den Übergang, weil sie bestimmte Wissenskonzepte und Fähig­keiten z. T. nicht hat. Sie wäre nicht darauf gekommen, noch ihren Blumenstock oder ein Wandbild mitzunehmen, weil sie immer wieder ge­ zwungen wurde, ihre Wohnräume aufzugeben, mit nur wenigen Dingen zu flüchten bzw. nur so viele Dinge mitzunehmen, wie man tragen konnte. »Wenig wenig, na Gegenstände überhaupt nicht sowie ein paar Kleider ein bissl was zu essen und während unser Tour kamen wir in ein Dorf haben wir gegessen […].« (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 236–237) Erst als ihr gesetzlicher Betreuer interveniert und noch weitere Gegen­ stände aus ihrer vorherigen Wohnung arrangiert, erkennt sie, dass sie noch viel freie, ungenutzte Flächen gehabt hätte. » […] für was brauch ich das? Ich habe einen Schrank für meine Wäsche. Na aber jetzt bin ich froh […], ist ja auch ein bisschen anders so. Da wär der Platz frei für mmmh (3) und so schon steht was hier.« (Interview 22; MARTHA GEHL: 644–658) Die Gestaltung des Übergangs, d. h. die Auswahl und Selektion von Gegen­ ständen und die raumkonstituierende Handlung, wird nicht nur durch die Klassenzugehörigkeit, sondern auch durch genderspezifische Einrichtungs­ praktiken bestimmt. Denn letztlich ist der Habitus nach Bourdieu immer schon ein vergeschlechtlichter und vergeschlechtlichender Habitus, d. h. »Ge­ schlecht erhält eine konstitutive Bedeutung für die Entstehung und Repro­ duktion gesellschaftlicher Ordnung, die immer schon als vergeschlechtlichte bzw. vergeschlechtlichende Ordnung auf­gefasst wird« ( Jäger/König, T./ Maihofer 2015: 18).

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Habitus als konstitutives Element

» […] er sagte zu mir am 15 Juni fahren wir hierher […] die haben geholfen alle meine Nachbarsleute und der Mann, der Betreuer, der hat viel gemacht. […] und das hat er gebracht mein Betreuer und das hat er gebracht ((ruckelt an einem Möbelstück ( Schrankwand ) ) […]. « (Interview 22; MARTHA GEHL: Z. 482–504)

4.2  Der geschlechtsspezifische Habitus Pierre Bourdieu argumentiert in seinem Buch »Die männliche Herrschaft«, dass die grundlegende Ein- und Aufteilung aller Praktiken und Gegen­ stände entlang des Gegensatzes ›weiblich‹ und ›männlich‹ ein in den Ha­ bitus eingelagertes Klassifikationsschema sei. Die vergeschlechtlichte Welt ist die herrschende Definition und bestimmt somit per se die weiblichen Erfahrungen ( vgl. Bourdieu 2005: 109). »Die Einteilung in Geschlechter […] ist gleichermaßen im objektivierten Zustand - in den Dingen ( z.  B. im Haus, dessen Teile allesamt »geschlechtlich bestimmt« sind ), in der gan­ zen sozialen Welt und – im inkorporiertem Zustand – in den Körpern, in den Habitus der Akteure präsent, die als systematische Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns fungieren.« (Bourdieu 2005: 19 f.) In ihrem Buch »Schöner Wohnen« zeigt Christine Resch auf, dass das Geschlechterverhältnis die Gestaltung der Wohnung nachdrücklich durchdringt, indem die Frauen in der Gestaltung der Wohnung mit Erinne­r­ungsstücken eher die Familientradition, Männer hingegen ihre jugend­ liche Lebensweise bewahren ( vgl. Resch 2012: 54). Wie sich der geschlechtliche Habitus in der Sozialisation generiert, in den ehelichen Beziehungen reproduziert und die Widerherstellungspraktiken räumlicher Privatheit durchdringt, wird in den Interviews mit LUISE IMHOLZ und GERDA VON OELDE deutlich zum Ausdruck gebracht. Selbst in der Ordnung der Dinge und im Umgang mit ihnen zeigt sich der geschlecht­liche Habitus. Denn mit den selbstangefertigten, dekorativen Gegenständen wie Lampen, Decken, Kissen, Puppen, Fensterbildern und sonst­igen Dingen aus ihrem vorherigen Fachwerkhaus konstituiert LUISE IMHOLZ ein Senio­renheimzimmer entsprechend ihres Habitus einer »gu­ ten Hausfrau«, die»guckt, dass der Haushalt fluppte« (Interview 13; LUISE  IMHOLZ: Z. 335–336). Der Vater von LUISE IMHOLZ verstarb früh, die Mutter arbeitete als Schneiderin, um die Familie durchzubringen. Obwohl sie eigentlich schon seit frühester Kindheit/Jugend Kunststopferin werden wollte, war sie aufgrund der Lebenssituation ›gezwungen‹, zusammen mit ihren Geschwistern den Haushalt zu führen. » […] wir mussten schon früh arbeiten. Das ging nicht anders. Wir mussten schon ganz früh putzen und Haushalt führen und kochen. Wir waren jedenfalls gute Hausfrauen […].« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 125–127) Sie wurde zur »guten Hausfrau« erzogen bzw. aufgrund der Lebensbedin­ gungen und finanziellen Ressourcen zur »guten Hausfrau« gemacht. Dazu gehörte ebenfalls das Nähen und Stricken, das sie von ihrer Mutter von

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›der Pike auf‹ lernte. Damit reihte sie sich in eine weibliche Genealogie der Handarbeitstätigkeiten ein. Denn wie ihre Mutter strickten auch ihre Groß­ mutter und die anderen weiblichen Angehörigen.

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Das Interesse an Handarbeiten wurde in der gesamten Familie nur den Mäd­ chen ›in die Wiege gelegt‹. INGRID LAMMERT erwähnt nur die Frauen, die für die Handarbeitstätigkeiten zuständig waren, und dass diese Fähig­ keiten auch nur von Frau zu Frau weitergegeben wurde. Sie betont, wie ihr das Nähen und Stricken einverleibt wurden, wie sie es schon in ihrer Kindheit gelernt und wie das »drin« gesessen hatte. Die Handarbeitstä­ tigkeiten könnte man nach Andrea Maihofer als »sozialisations­bedingte Geschlechterdifferenzen« (Maihofer 2013: 37) bezeichnen, die sich »nicht nur in gesellschaftliche Strukturen, sondern auch in den Individuen [re­ produzieren] « (Maihofer 2013: 38 f.). An ihren Ausführungen ist erkennbar, dass bestimmte Dispositionen in den Körper eingeschrieben sind, nämlich diejenigen, in die LUISE IMHOLZ sozialisiert wurde. Denn wesentliches Charakteristikum des geschlechtlichen Habitus ist, dass er sich als »eine soziale Praxis in Gestalt von Habitualisierungen in den Körper [einschreibt] « (Meuser 2006: 118, d. Verf.). Die geschlechtliche Identität von LUISE IMHOLZ, die sich in ihrer Sozialisation (u. a. in ihrer Familie) entwickelt hat, reproduziert sich sowohl in ihren Aneignungs- und Wieder­her­stel­l­ungspraktiken räumlicher Privatheit im Seniorenheim als auch in ihrer Ehe. Mit dem Eintritt in den Ehestand übernahm sie, entsprechend des fordistischen Modells der Kleinfamilie, die Zuständigkeit für die Haushaltsund Fürsorgearbeiten, während ihr Mann das Geld verdiente. Wodurch ihre ›vielseitige Begabung‹ ( vgl. Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 339) endgültig ins Private gedrängt wurde. Nebenbei begann sie, sich mit ihren Handar­ beiten und ihrer Kreativität in der Frauengemeinschaft zu engagieren. Sie fertigte Decken, Kissen und Puppen für Hilfsprojekte an. Sie veröffent­ lichte Bücher mit eigenen Gedichten in plattdeutschem Dialekt. Doch immer wieder verweist sie im Interview auf ihre verhinderte Existenz, wenn sie z. B. die Zusammensetzung der Frauengemeinschaft beschreibt: »vier Hausfrauen, die anderen waren alles Lehrer und Büroangestellte, die alle die höhere Schulbildung hatten. Leute, die mehr konnten geistig wie wir überhaupt gelernt hatten« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: 442–445). Sie unterscheidet zwischen Hausfrauen und den Frauen mit höherer Bil­ dung, womit sie zugleich auf ihre fehlende Schulbildung, die fehlenden Ressourcen und ihre unerreichte Berufsausbildung verweist. Es blieb ihr nur, ihr ästhetisches Interesse, ihre Fähigkeiten und ihre Lust am Schönen

Habitus als konstitutives Element

» […] und hat das weitergegeben an meine Mutter und die Geschwister meiner Mutter, die konnten alle nähen, die hatte noch zwei Geschwister, was Mädchen waren. Ja, so sitzt das drin. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 543–545)

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im Privaten und in der Frauengemeinschaft zu verwirklichen. Wofür sie auch anerkannt und wahrgenommen werden wollte: »Luise, wie so eine Künstlerin« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 584). Mit der Konstitution von räumlicher Privat- und Vertrautheit hält sie auch weiterhin ihre Position innerhalb des familiären Gefüges aufrecht. Gewohnterweise obliegt ihr die Gestaltung und die Fürsorgepraxis, dafür zu sorgen, dass »der Haushalt fluppt«. Als ›Mama‹ kümmert sie sich darum, dass der Sessel ihres Ehemannes bzw. von ›Papa‹ bereitsteht. Sie bildet das Tischarrangement nach, stellt passend zur Garnitur einen kleineren Tisch, der den Platzverhältnissen im Seniorenheimzimmer entspricht, auf. Sie befestigt die von ihrem Ehemann angefertigten Fensterbilder aus der ehemaligen Küche an ihrem jetzigen Fenster und platziert davor ihre zwei zuletzt hergestellten Puppen, auf einer Holzbank sitzend. Denn auch wenn das Ehepaar getrennt wohnt, will LUISE IMHOLZ auf den Besuch ihres Gatten vor­bereitet sein, will, dass er sich wohlfühlt und seinen Gewohn­ heiten, z. B. sich wie ›Zuhause‹ in seinen Sessel setzen zu können, gerecht werden. » […] und ja, der musste ja mit ((Klopfen)) wenn der Papa kommt, der muss sich ja in seinen Sessel- Das war unser Tisch bei der Garnitur. Das war aber ein kleinerer Tisch. Wir hatten früher einen größeren und wo wir doch so viel Platz nicht haben, haben wir denn das Beste draus gemacht […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1147–1150) Ihre Aneignungs- und Herstellungspraktiken räumlicher Privatheit im Altenheim sind auf ihren »vergeschlechtlichten Habitus« (Jäger/König, T./ Maihofer 2012: 24) zurückzuführen. Wie im Fachwerkhaus, in dem sie ebenfalls für die Inneneinrichtung verantwortlich gewesen war, »guckt[e] [LUISE IMHOLZ ], dass der Haushalt fluppt[e] « und fühlt sich als ›Mut­ ter‹ verantwortlich für das Wohlergehen ihres Ehemannes bzw. »Papas« (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1117). Aufgrund ihrer geschlechts­spezi­ fischen Aufgabenverteilung sorgt sie wie gewohnt dafür, dass der Sessel ihres Gatten für seinen Besuch parat steht. Denn auch im Fachwerkhaus hatte sie zwischen ›den Möbeln gewohnt‹ ( vgl. Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 307), während er arbeitete. » […] wenn du Möbel kaufen willst, dann will ich Bescheid wissen und die will ich sogar mit aussuchen. […] Du bist den ganzen Tag bei der Arbeit. Ich muss zwischen den Möbeln und den Lampen, die überhaupt nix wert waren, Sperrholz war das, wohnen. Das sehe ich mir immer an […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 305–309) Im Interview zeigt sich, wie sie ein Mitspracherecht in der Gestaltung des Wohnraumes einforderte und dabei großen Wert auf Schönheit und Äs­ thetik legte. Als Ausgleich für die Zuständigkeit für den Haushalt forderte sie ein Mitbestimmungsrecht bei Gestaltungsfragen.

» […] ich habe ja normalerweise immer […] drei Wohnzimmer gehabt, genau wie das Zuhause auch war. […] Genau in derselben Folge also ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, ein Herrenzimmer sagte man damals noch und ein Biedermeierzimmer, das Biedermeierzimmer galt immer als Damenzimmer.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 478–500) Dabei werden die drei Wohnzimmer nicht nach ihren Funktionen oder den Familienmitgliedern ( vgl. Wichard 2012: 142) im Sinne eines Kinder­ zimmers oder Büros getrennt, sondern sie werden nach ihrer geschlecht­ lichen Zuordnung differenziert. Demnach gab es immer ein Herren- und ein Damen­zimmer. Wohingegen es beim Esszimmer keine geschlechts­ spezifische Zuweisung gab, was daran liegen kann, dass es von allen Fami­ lienmitgliedern genutzt wurde und als gemeinsamer Familienraum galt. In dieser geschlechtsspezifischen Zuweisung spiegelt sich eine ›territoriale Separierung‹ wider, die auch PAUL TRAMPE erwähnt, wenn er von seinem ›eigenen Zimmer‹ (vgl. Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 238) spricht. Mit diesen territorialen Markierungen werden geschlechtsspezifische, exklusive Räume geschaffen. Wenn GERDA VON OELDE von ihren ›Wohnzimmern‹ berichtet, hält sie sich zudem nicht nur an die geschlechtliche Zuweisung, sondern auch an die Abfolge, d. h. in der Aufzählung steht das ›Damenzim­ mer‹ nach dem ›Ess- und Herrenzimmer‹ an letzter Stelle. Was bedeuten könnte, dass die Dame dem Herren nachgestellt gewesen war. Sie wird damit einer niedrigeren Position verwiesen, was in der damaligen Zeit (Anfang des 20. Jhds.) nicht unüblich war. Weiterführend ist interessant, dass die geschlechtsspezifische Dif­ ferenzierung in die Praxis des Erbens übertragen wird. Denn das ›Damen­ zimmer‹ wurde nur von den weiblichen Familienmitgliedern weitervererbt, d. h. GERDA VON OELDE hat das Zimmer von ihrer Mutter und diese von ihrer Mutter geerbt. Ebenso hat die Tochter von GERDA VON OELDE das Zimmer zwischenzeitlich genutzt. Es war GERDA VON OELDE, die sich als Tochter ihren weiblichen Vorfahren aber auch der Familiengeschichte gegenüber verpflichtet gefühlt hatte. Damit schreibt sie sich im Grunde auch in die Genealogie des weiblichen Vererbens ein und hält die Verbindung zwischen den verschieden Generationen aufrecht.

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Habitus als konstitutives Element

Wie bei LUISE IMHOLZ zeigt sich der geschlechtsspezifische Habitus auch in den Platzierungspraktiken von GERDA VON OELDE. GERDA VON OELDE platziert in ihrem Seniorenheimzimmer die Möbel des Biedermei­ erzimmers. In ihrer Herkunftsfamilie gab es immer ›drei Wohnzimmer‹: das ›Esszimmer‹, das ›Wohn- bzw. Herrenzimmer‹ sowie das ›Biedermeierbzw. Damenzimmer‹.

» […] das war auch […] eine gewisse vererbte Bindung. Ich weiß, dass meine Mutter, sagen wir mal, hat mitnehmen müssen und mir ging das nachher innerlich genauso […]. « (Interview 1; GERDA VON OELDE: 385–388) Wie sich der geschlechtsspezifische Habitus bei den Interviewpartnerinnen in der Gestaltung und Aneignung des Raumes entsprechend der ehelichen Beziehung, dem fordistischen Kleinfamilienmodell und in der Einfügung in die weibliche Genealogie zeigt, ist die Gestaltung des Übergangs der Inter­ viewpartner nicht nur eine Frage des ›klassischen‹ Geschlechterarrangements, sondern auch ein Ergebnis der eher männlich dominierten Entscheidungsmacht. Die Entscheidung zum Übergang war bei PAUL TRAMPE davon beein­ flusst, dass er sich ohne seine Frau nur noch schwer versorgen konnte. Er erzählt, dass sie früher, als die Kinder noch Zuhause wohnten, für die Ver­ sorgung der Familie und den Haushalt zuständig gewesen war. Nachdem seine Frau verstorben war, stellte er für seine alltäglichen Aufgaben eine Haushaltshilfe ein. » […] ich muss natürlich sagen, ich habe eine Dame gehabt, die bei mir einmal in der Woche gekommen ist und hat ein bisschen mitgeholfen, dass die Wohnung sauber blieb […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 198–200) Für das Essen war er nach dem Tod seiner Ehefrau selbst verantwortlich und ›brutzelte sich etwas zusammen‹, obwohl er das im Interview eher als »komisch« und ungewöhnlich für einen Mann beschreibt. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass seine Ehefrau, was die Arbeitsteilung anbelangte, eher für den Haushalt und das Essen zuständig gewesen war, obwohl sie beide berufstätig waren. »Ich bin nicht allein und ich bin versorgt. Wenn sie mal so viel verheiratet, […] sie kommen nach Hause, […] man hat jemand sich zum unterhalten und alles was dazugehört. Sie brauchen nicht selber als Mann, ist sowieso komisch, na gut das ist ja heute IN , dass Männer auch kochen, aber gut, ich habe auch was zusammengebrutzelt, wie ich allein war […].« (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 452–457) Die Tatsache, dass er selbst für seine Versorgung und Verpflegung zuständig gewesen war sowie seine Erkrankung führten zur Entscheidung für den Übergang. Er betont, dass er allein war und ihn niemand hätte unterstützen können, z. B. was seine Ernährung anbelangte.

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Hier tritt der Versorgungsaspekt noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise hervor als bei den Interviewpartnerinnen, die mit ›Versorgung‹ zunächst einmal den körperlichen Leib und die emo­tional-kognitiven As­ pekte (Sicherheit und Angst) beschreiben. Für PAUL TRAMPE hingegen geht es stärker um die Gewährleistung von Grund­bedürfnissen sowie alltäglichen Aufgaben wie Wäsche waschen. Zwar ist WALTER NIERMANN mit seiner Ehefrau ins Seniorenheim gezogen, aber durch die dementielle Veränderung seiner Gattin sowie ihr vorheriges Geschlechterarrangement und die daraus hervorgehende Ent­ scheidungsmacht lag die Organisation des Übergangs hauptsächlich bei ihm und seinen Angehörigen. Entsprechend des klassischen Rollenmodells traf er auch schon vor dem Übergang die Entscheidungen in ihrer Zweier­ beziehung. Wohingegen seine Ehefrau nur die Rolle hatte, diese Entschei­ dungen zu unterstützen und zu befürworten. » […] meine Frau ist so, was ich für richtig halte, das hält sie halt auch für richtig. Deswegen habe ich sie ja so geliebt, weil sie immer zu allem ja gesagt hat […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: 724–726) Er beschreibt sich als einen Mann, dem es nicht schwer fiel, Entschei­dungen zu treffen, der sich gut hat trennen können und auf dessen Ent­ scheidungen sich seine Frau verlassen konnte. Es gab eine Ausnahme, denn von seinen Büchern konnte er sich nicht so gut trennen, deswegen nahm er auch einige mit ins Altenheim. Denn die Bücher gehörten einfach zu sei­ nem Selbstkonzept als intelligentem Mann, der Interesse zeigt, sich immer weiterzubilden. » […] ich bin ein Mann, der sich auch trennen kann […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 719) Sowohl PAUL TRAMPE als auch WALTER NIERMANN arrangieren Ob­jekte, die einerseits auf ihre ehemaligen Raumkonstruktionen wie das eigene Zimmer oder die Bibliothek verweisen. Anderseits sind diese Objekte auch ein Ausdruck ihrer › abenteuerlichen Lebensweise‹, ihrer Berufstätig­ keit, ihrer Expertise und ihres Bildungshintergrundes. Für WALTER NIER­ MANN ist ein »guter Mann« vor allen Dingen ein intelligenter Mann, der »gelernt und gute Abschlüsse hat« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 564–565).

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Habitus als konstitutives Element

»Niemand war da. Ich musste aufstehen. Ich musste mein Essen, also ich war eben allein. Fertig […]. « (Interview 4; PAUL TRAMPE: Z. 80–81)

Deswegen war er auch immer an Weiterbildung interessiert daran, sich in die neuesten Informationstechnologien einzuarbeiten und viel zu lesen. Die Bücher und der Computer wie auch die Organisation des gesamten Übergangsprozesses entsprechen dem geschlechtsspezifischen Rollenmo­ dell und seinem männlichen Habitus.

4.3  Der generationsspezifische Habitus Die Konstitution von Räumen des Privaten ist jedoch nicht nur geschlechtsund klassenspezifisch, sondern auch durch generationsspezifische Muster und Dispositionen vorstrukturiert. Für GERDA VON OELDE ist das ›Biedermeierzimmer‹ nämlich nicht nur mit ihrer Familiengeschichte verknüpft, sondern es steht außer­ dem für eine Zeit, in der man glücklich gewesen war über alles, was »ge­ rettet« werden konnte. Damit bringt sie nicht nur ihre Familien-, sondern auch ihre Generationszugehörigkeit zum Ausdruck. » […] wissen sie, das ist alles Nachkriegsgeschichte praktisch. Da war man ja froh, wenn man irgendwas gerettet hatte. Dadurch, dass wir aus­gebombt waren […]. « (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 397–400) Die AkteurInnen weisen darauf hin, dass Menschen, die ihr Leben in den 20er Jahren begonnen haben und in die Zeit des Zweiten Weltkrieges hineingewachsen sind bzw. diese Zeit miterlebt haben, anders sozialisiert wurden als Menschen, die in den 80er Jahren oder der ›heutigen‹ Zeit geboren wurden ( vgl. Karrer 2016: 26). INGRID LAMMERT kann sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Kriegsgeneration nur sehr schwer von Dingen trennen bzw. sieht auch nicht die Notwendigkeit, sich Dinge neu zu kaufen. » […] ich gehör ja zu dieser Kriegsgeneration. Ich kann nur mich von alten Sachen nicht trennen. […] Dann denk ich mal, och, da hast du doch noch das und das, das lass mal hängen.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1309–1311) Mit der Zugehörigkeit zur Kriegsgeneration sind bestimmte generations­ spezifische Geschmacks- und Bewertungsmuster verbunden. INGRID LAMMERT und auch GERDA VON OELDE hatten nicht die Möglich­ keit, allzu »wählerisch« zu sein, ihnen fehlten die Wahlmöglichkeiten. Die Frage des ›Was will ich?‹ wurde durch die gesellschaftspolitische Situation obsolet. Nicht ›Was will ich?‹, sondern ›Was kriege ich?‹ oder ›Was kann ich retten?‹ entwickelten sich zu Selbstverständlichkeiten der

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Lebens­führung. Ihre Orientierung wurde durch die Erfahrung von Res­ sourcenknappheit bzw. der damals bestehenden Mangelwirtschaft geprägt.

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GERDA VON OELDE berichtet, wie ihr junges Erwachsenenalter eher

durch Mangel und ›Optionslosigkeit‹ bestimmt wurde. Sie war froh über jeden Gegenstand, der trotz der Ausbombungen ›gerettet‹ werden konnte. » […] wir waren nur froh um jedes Teil, was wir wieder hatten, weil also meine Eltern und ich- damals war ich ja auch unverheiratet- total ausgebombt an sich. […] wenn ich irgendwas gefunden hatte, was wir noch nicht hatten, […] ein Kochpott oder was Ähnliches, da waren wir glücklich drüber, wenn wir das wiederfanden.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 1273–1280) Diese Erfahrungen wirken sich auch auf die eigenen Werte, die die Inter­ viewpartnerInnen vertreten, aus. Entsprechend ihrer Generationszuge­ hörigkeit vertreten sie eher die Sicherheits- und Pflichtwerte ( vgl.  Stein 2015: 106 ff.) als sich Formen ihrer »Selbstkultur« (Karrer 2016: 27), ihrer Selbstdarstellung und ihres Lebensstils zu widmen. Sie schätzen eher das »Althergebrachte « wie bei GERDA VON OELDE als das ›Moderne ‹, › Neue ‹. Obwohl der ›Biedermeier ‹ nicht dem Lebensstil von GERDA VON OELDE entsprach und es keine Andeutungen einer formal festgelegten testamen­ tarischen Übergabe gab, entschied sie sich, mit der Begründung, dass sie sich verpflichtet fühlte, dieses Zimmer aufzubewahren, für das ›Biedermeierzim­ mer‹. Sie erzählt, dass sie sich daran erinnert, wie ihre Oma in der Küche das Essen zubereitete, während die Gäste auf dem Sofa des ›Biedermeierzimmers‹ Platz nahmen. Wenn sie sich an ihren Vater erinnert, sieht sie ihn sitzend im Ohrensessel dieses Zimmers. Sie fühlt sich an die alten Werte gebunden, an das, was »alt in der Familie war«. Aus diesem Grund schätzt GERDA VON OELDE das »Alt­hergebrachte« und wirft das ›Biedermeierzimmer‹ nicht weg. » […] trotzdem fühlte man sich später verpflichtet oder gebunden an das Althergebrachte, was alt in der Familie war.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 464–466) Der Unterschied zwischen den Generationen äußert sich noch einmal sehr eindrücklich in der Aneignung und Herstellung räumlicher Privat­heit im Seniorenheimzimmer von HILDE SCHULTHEIS und ihrem Sohn. Aufgrund

Habitus als konstitutives Element

» […] ich war 13, als der Krieg anfing, und dann wissen sie ja, in welche Zeit ich hineingewachsen bin. […] also da konnten wir ja nicht so wählerisch sein […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1340–1342)

ihrer körperlich-leiblichen Situation konnte sie den eigentlichen Umzug und die Aneignung des ›gebauten Raumes‹, also des Seniorenheimzimmers, durch die Anordnung von Dingen und Einrichtungsgegenständen nicht begleiten. Diese Aufgabe übernahm ihr Sohn. Aufgrund seines generati­ onsspezifischen Habitus entsorgte er die Einrichtungsgegenstände aus der vorherigen Wohnung seiner Mutter und entschied sich, dem im Senioren­ heimzimmer vorhandenen Einbauschrank entspre­chende, neue Möbel zu kaufen. Jedoch unterschieden sich seine ( Geschmacks-)vorstellungen von denen seiner Mutter, die sich nur schwer von Dingen trennen konnte und eher das »Althergebrachte« schätzte und aufbewahrte. » […] die hat mein Sohn dann gekauft, die hat er hier passend gekauft, weil das Bett das Bett ist aus Holz sehn' se und danach hat er das' n bisschen gemacht, damit alles passend ist.« (Interview 24; HILDE SCHULTHEIS: Z. 211–213) Was zur Folge hatte, dass sich im Zimmer von HILDE SCHULTHEIS haupt­ sächlich Gegenstände befanden, die nichts mit ihrer vorherigen Wohnung zu tun hatten und sie sich dadurch fremd fühlte. »Ich weiß es nicht, ob er verkauft hat. […] Ich hab auch nicht mehr gefragt. Nee, das wollt ich auch nicht wissen, denn ich hing ja immer an alles. Und dann wollte ich das auch nicht wissen, was damit gemacht wurde, kaputt gemacht oder verbrannt […]. « (Interview 24; HILDE SCHULTHEIS: Z. 618–620) Sie fühlte sich nicht nur durch den Umzug ins Seniorenheim fremd, son­ dern außerdem, weil die Gegenstände in ihrem Zimmer nichts mit ihrem bisherigen ›Habitat‹ gemein hatten. Die neuen Möbel konnten nicht als Impulsgeber für Erinnerungen an ihr bisheriges Lebens fungieren. Ihre Orientierungsmuster, Wertvorstellungen, Raumkonzepte und Erwartungs­ haltungen passten nicht mehr zu ihrem neuen Raum des Privaten und Vertrauten, da dieser von ihrem Sohn geschaffen wurde. »War mir alles fremd, […] denn ich hatte ja nix mehr. […] darf ich gar nicht dran denken, nichts mehr, was ich erinnert habe. Nee, das war mir alles fremd.« (Interview 24; HILDE SCHULTHEIS: Z. 698–699) Wodurch sie noch einmal stärker ihr ambivalentes Verhältnis zum Über­ gang verdeutlicht. Zum einen konnte sie sich nicht selbstbestimmt für ihn entscheiden, weil ein Arzt ihr dazu geraten hatte. Zum anderen konnte sie den Übergang nicht aktiv mitgestalten, fühlte sich der neuen Situation daher eher ausgeliefert und konnte sich nur dementsprechend schwer anpassen bzw. eingewöhnen. Gerade dann, wenn sowohl die Eltern- als auch die

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Kindgeneration mit unterschiedlichen Wertmaßstäben und Orientierun­ gen bei der Konstitution beteiligt sind, sind die Aushandlungsprozesse wesentlich, um eine räumliche Privatheit herzustellen, die primär den Vor­ stellungen und Erwartungen der umziehenden Person entspricht.

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Im letzten Kapitel wurde gezeigt, wie sich der klassen-, der geschlechts- und der generationsspezifische Habitus auf die Konstitution räumlicher Privat­ heit bzw. die Gestaltung des gesamten Übergangsprozesses auswirken und diesen bedingen. Im Material haben sich die Differenzkategorien ›Klasse ‹, ›Geschlecht‹ und ›Generation‹ als zentral herausgestellt, jedoch sind diese nicht scharf voneinander zu trennen und werden z. T. durch weitere Diffe­ renzkategorien wie z. B. ›Ethnizität‹ beeinflusst. Nach Martina Löw haben vor allen Dingen ›Geschlecht‹ und ›Klasse‹ einen großen Einfluss auf die Gestaltung und Wahrnehmung von Räumen. Sie versteht Klasse und Ge­ schlecht als Strukturprinzipien, die direkt an die Körperlichkeit des Men­ schen gebunden sind ( vgl. Löw 2012: 174 ff.). Gerade der klassenspezifisch sozialisierte Habitus äußert sich im Geschmack, als Neigung und Fähigkeit zur materiellen, aber auch symbo­lischen Aneig­ nung von klassenspezifisch angepassten Gegenständen und Praktiken und strukturiert somit die Konstitution von Räumen vor. Schon die Auswahl der Senioreneinrichtung ist ein Ausdruck des klassenspezifischen Habi­ tus. Denn entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse wählen die AkteurInnen eine Senioreneinrichtung, die ihrer Idee und Vorstellung von einem neuen Raum des Privaten entspricht. Gerade im körperlichen Spü­ ren bzw. in der Wahrnehmung von ›gebauten‹ Räumen, anhand der Atmo­ sphäre, Architektur, Zimmergröße und des Sinnes für Schönheit, zeigt sich der klassenspezifische Habitus. Er zeigt sich aber auch in der Aneignung, Anordnung und Synthese der platzierten Dinge und Körper zu Räumen des Privaten. Wie schon Aida Bosch formuliert, ist jeder Mensch in seinem Alltag Darsteller seines Selbst und seines Erlebens und jeder Mensch ver­ wendet für diese Selbstdarstellung kulturelle Elemente und Symbole auf seine eigene Weise und entwickelt dabei seine eigene Ästhetik ( vgl.  Bosch 2010: 20). Anhand dieser Ästhetik bzw. der materiellen Ausstattung einer Person oder eines Haushalt ist eine Ordnung zu erkennen, die auf den Status einer Person bzw. auf ihren Platz in der Gesellschaft verweist, d. h. die Dinge selbst sind klassenspezifisch kodiert und ein Ausdruck der Le­ bensweise und des Geschmacks. Somit stehen die Dinge, die platziert werden, für die Stellung im sozialen Raum und beeinflussen das Handeln der Menschen. Die inkorporierte Historie der Familie und des sozialen Status zeigt sich im Habitat – einer in Objekten »objektivierten Geschichte« (Bourdieu 2001: 193) Schon allein die Einrichtungsgegenstände wie das

Habitus als konstitutives Element

4.4  Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse

›Biedermeierzimmer‹ oder die ›Schrankwand in Nussbaum altdeutsch‹ verweisen auf eine bestimmte Klasse. Außerdem sind die Leitbilder von Gemütlichkeit, Wohnlichkeit und Geborgenheit als ›bürgerliche‹ Konzepte stilistische Zuordnungen zu einer Klasse. Bestimmte Raumvorstellungen, Ideen und Funktionen zum Raum des Privaten werden durch die Klassen­ zugehörigkeit geprägt und reproduzieren sich in der Wiederherstellung räumlicher Privatheit im Seniorenheim. »Die im Habitus eingelagerten Klassifikationen und Unterscheidungsprinzipien, Bewertungs- und Denk­ schemata schlagen sich nieder in den Praxen der Lebensführung; ver­ mittelt über den Habitus werden die Dinge – Wohnungen, Bücher, Autos, Kleidung, Kunstgegenstände, Besitztitel […] umgewandelt in distinkte und distinktive Zeichen […].« (Krais/Gebauer 2014: 37) Die Verwendung von Dingen kann Gemeinschaft, aber auch Abgrenzung bzw. Differenzierung schaffen. Interessanterweise greifen die AkteurInnen jedoch nicht nur an­ deren ›Bewohner*innen‹ gegenüber zu ihrer klassenspezifischen Abgren­ zung, sondern auch, um ihre klassenspezifische Zugehörigkeit in Bezug zum institutionalisierten Raum des Seniorenheims zu betonen – um ihren Bildungshintergrund, ihre Expertise, ihren ehemaligen Status anzuzeigen, zu zeigen, wer man gewesen ist, welchen Lebensstil man hatte. Es zeigt sich darüber hinaus, dass mit der Position im sozialen Raum auch ein Wis­ sensreichtum verknüpft ist, d. h. ein bestimmtes Wissen über Abläufe (wie werden z. B. Wohnortwechsel organisiert ) und Heimverordnungen. Die Po­ sition im sozialen Raum regelt den Zugang zu Wissen, das sich wiederum auswirkt auf die Gestaltung (sfreiheiten ) des Übergangs. »Geschlecht […] verstanden als eine Dimension des Sozialen und […] der Hervorbringungen sozialer Wirklichkeit durch Ein- und Aufteilung der sozialen Welt, wie sie von AkteurInnen vorgenommen wird« (Engler 2008: 261, d.Verf.) ist ein wesentlicher Aspekt der Raum(re)produktion und der Gestaltung wohnraumbezogener Übergänge. Im Material konnte man sehr gut aufzeigen, wie in der Gestaltung wohnraumbezogener Über­gänge und der (Wieder-)Herstellung von Räumen des Privaten Geschlechterbilder re­ produziert und als Strukturprinzipien wirksam werden. Die Geschlechter­ bilder äußern sich in der Organisation des Übergangs, den Entscheidungs­ befugnissen, den Raumvorstellungen und Wohn-Ideen. Die Prozesse der Synthese und des Spacings sind z. T. auf eine sozialisierte Geschlechtlich­ keit zurückzuführen, die sich in den traditionell den Frauen zugeordneten reproduktiven Formen von Beziehungs- und Hausarbeit, Er­ziehung und Für­ sorge fortsetzt und letztlich in den Aneignungs- und Herstell­ungspraktiken persistent bleibt. Es zeigt sich, wie Geschlecht als Strukturkategorie die Identität, das Verhaltensrepertoire und -muster sowie die Gestaltung all­ täglicher Handlungs­strategien bestimmt ( vgl. Spatscheck 2012).

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Habitus als konstitutives Element

Der generationsspezifische Habitus kommt vor allen Dingen in den Wert­ vorstellungen, d. h. in den Pflicht- und Sicherheitswerten der AkteurInnen, zum Ausdruck. Als AkteurInnen der Kriegsgeneration haben sie eher unter Mangelwirtschaft und Ressourcenknappheit und mit Verlusterfah­ rungen gelebt. Die Kriegszeit (2. Weltkrieg) war ein wesentlicher Erlebensund Erfahrungsraum ( vgl. Biermann 2009: 55) für die AkteurInnen, der letztlich auch die Idee und Funktion von Räumen des Privaten, ihre Lebens­ weise und ihre Beziehung zu den Objekten prägt. Sie hatten durch ihren sozial-politischen Kontext eine ganz andere Verfügbarkeit von Räumen und Dingen. Hieraus haben sich bestimmte Bewertungsmuster ausgebildet, durch die sich die AkteurInnen dieser Generation eher dem Althergebrach­ ten gegenüber verpflichtet fühlen und dieses wertschätzen. Sie können sich eher schwer von Räumen des Privaten sowie von persönlichen Objekten trennen, haben aufgrund ihrer Erfahrungen einen viel ernsthafteren Um­ gang mit materiell-räumlichen Komponenten als jüngere Generationen, die i. d. R. eine höhere Umzugsbereitschaft zeigen und mehr Erfahrungen mit einer selbstbestimmten Wohnmobilität und ›Selektionsprozessen‹ auf­ weisen ( vgl. Sidler 2018: 30).

5. Zur Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation im Übergang

Wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt, ist die Konstitution räumlicher Privatheit bzw. der wohnraumbezogene Übergang, der auf die Wiederherstellung räumlicher Privatheit abzielt, vorwiegend durch den geschlechts-, den klassen- und den generationsspezifischen Habitus vorstrukturiert bzw. die Kategorien Geschlecht, Klasse und Generation reproduzieren sich in den Wiederherstellungspraktiken von Räumen des Privaten. In den Wiederherstellungspraktiken der AkteurInnen zeigt sich die Übertragbarkeit bestehender Strukturmuster des Habitus auf eine biographisch veränderte Lebenssituation, die sich schließlich auch in unbewusst-habituellen Entscheidungen äußert. Damit ist nicht die 100%ige Reproduktion vorheriger Routinen und Handlungsmuster gemeint, da sich der Habitus ohnehin ständig durch biographische Wendepunkte, Erfahrungen und Ortswechsel neu ausrichtet. Ich verwende hier eher den Begriff der Habituspersistenz, um im Sinne von R.-T. Kramer die »dynamische Reproduktion« (Kramer 2013: 27) des Habitus im Übergangserleben begrifflich zu erfassen. Gerade auf der Ebene der Auswahl der Senioreneinrichtung zeigt sich, wie sich der Habitus der AkteurInnen immer wieder Bedingungen und Milieus sucht, an die er so weit wie möglich angepasst ist, die eher seiner Erzeugung entsprechen und für die er gerüstet ist ( vgl. Bourdieu 2014: 114). LUISE IMHOLZ wählt gemäß ihres klassenspezifischen Habitus eine Senioreneinrichtung mit einer bestimmten ›Bewohnerschaft‹ (wohlhabende Menschen mit einem Sinn für Schönheit) und Ausstrahlung aus. Für INGRID LAMMERT ist, entsprechend ihres klassenspezifischen Habitus, die Atmosphäre (Wohlempfinden) der Senioreneinrichtung ausschlag­ gebend. GERDA VON OELDE entscheidet sich aufgrund ihres klassen­ spezifischen Habitus für eine Senioreneinrichtung in ihrem Wohnviertel. Für PAUL TRAMPE sind entsprechend seines klassenspezifischen Habitus und seines Bildungshintergrundes die Kompetenzen des Personals und die Ausstattung der Zimmer entscheidend. MARTHA GEHL werden aufgrund ihrer Lebensbedingung und ihres Habitus (in Bezug auf ihre Ressourcen und ihren ›Wissensreichtum‹ ) die Auswahlentscheidung und z. T. der Aneignungsprozess ›aus der Hand genommen‹. Auf der Ebene der Konstitution räumlicher Privatheit zeigt sich die Kontinuität und Stabilität des Habitus in den Wiederherstellungspraktiken des vorherigen Habitats, d. h. der vorherigen Wohnräume. LUISE IMHOLZ arrangiert und ordnet ihre Einrichtungs­ gegenstände und persönlichen, z. T. selbst angefertigten, dekorativen Ge­ genstände gewohnheitsmäßig und repetitiv gemäß ihres geschlechts-,

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klassen- und generationsspezifischen Habitus an. Sie orientiert sich dabei am materiellen Arrangement ihres ehemaligen Fachwerkhauses und ver­ sucht, in der Anordnung der Dinge ihr ehemaliges Wohnhaus ins Senioren­ heimzimmer zu transferieren.

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» […] ja und nun hab ich von unsern drei Zimmern, die wir als Wohn­raum hatten, praktisch, hab ich mir das mitgenommen, was mir gefiel. Das Bild hatten wir vorne im Wohnzimmer hängen. Das war eine lange weiße Wand, […] wo die Essecke war. Den Stuhl, den hatten wir in der Diele neben diesem Schränkchen. Die Diele war mit Fliesen belegt. Auf dem Schrank, da stand das Radio drauf. Und der (Anm.: verweist auf einen Stuhl) stand daneben, damit man sitzen konnte, beim Telefonieren […]. « (Interview 13; LUISE IMHOLZ: Z. 1107–1112) LUISE IMHOLZ muss nicht lange über die Platzierung, Anordnung oder

Verknüpfung von Menschen und Dingen nachdenken, sondern sie gestaltet ihr Zimmer genauso detailliert, liebevoll, wertschätzend und schön, wie sie ihr Fachwerkhaus gestaltet hatte. Sie stellt Dinge wie den Sessel ihres Ehemannes, die Couch und den Couchtisch genauso wie im Fachwerkhaus auf. Jedes angesprochene Objekt verweist auf eine Platzierung oder ein Arrangement im Fachwerkhaus, wie z. B. der Stuhl neben dem »Schränk­ chen« oder die selbstangefertigte Lampe neben ihrem Bett. Dabei richtet sie sich primär mit Gegenständen aus ihren vorherigen Wohnräumen ein, ›die ihr gefallen haben‹. Während des Interviews hatte ich das Gefühl, nicht nur durch ihr ›jetziges‹ Zimmer zu schreiten, sondern auch durch ihr Fachwerkhaus. Im Interview mit WALTER NIERMANN ist festzustellen, dass auch seine Aneignungs- und Wiederherstellungspraktiken von räumlicher Pri­vat-­, Sicher- und Freiheit durch seinen (geschlechts-, klassen- und ge­ nerationsspezifischen) Habitus beeinflusst werden. Entsprechend seiner › abenteuerlichen Lebensweise ‹ erzählt er von seiner Kriegsgefangenschaft und wie er sich nach der Freilassung mit bestimmten Objekten wie Schuhen und Büchern, mit denen er trotz Leseverbotes in seiner Kindheit oder wäh­ rend seiner Gefangenschaft »zeitlebens« verbunden war, wieder ausstattete. » […] mit Büchern war ich verbunden zeitlebens. Und das war für mich in der Gefangenschaft, war das Schlimmste, dass ich keine Bücher hatte […]. « (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 896–897) Nach seiner Freilassung, als er wieder nach Hause zurückkehrte, kaufte er sich sofort ein Buch, um letztlich wieder seinen Raum der Freiheit herzu­ stellen und zu manifestieren.

Denn so wie er sich seiner Kindheit über das Leserverbot hinwegsetzte, so konnte man ihm auch das Interesse am Lesen, an Büchern, daran, sich weiterzubilden und seine literarische Verbundenheit auch während der Gefangenschaft nicht nehmen. Und obwohl er sich im Übergang zum Seniorenheim auch von seinen Büchern als Bildungssymbol trennen musste, hat er sich ein paar Exemplare bewahren können und sein Zim­ mer wieder mit Büchern und Zeitungen ausgestattet. Seine Erwartungen, Praktiken und Vorstellungen sind »zu verstehen und zu erklären aus Bedingungen, Entscheidungen, Ressourcen und Erfahrungen seiner voraus­ gegangenen [sozialen Laufbahn] « (Mayer 1990: 11). Jedoch kommt zugleich eine Anpassung des Lebensstils und der Ordnungsschemata an die neuen Bedingungen und die strukturellen Bedingungen des institutionalisierten Raumes zum Ausdruck, indem nicht das gesamte Habitat transferiert werden kann, indem ausgewählt werden muss, in­ dem aufgrund der Zimmergröße Dinge modifiziert verwendet werden müssen bzw. sich bisherige Konstruktionen räumlicher Privatheit ver­ ändern, indem LUISE IMHOLZ nicht den bisherigen Couchtisch ihres Wohnzimmers bzw. ihres Wohnarrangements für ihren Mann platziert, indem WALTER NIERMANN nur ein paar Bücher statt seiner gesamten Bibliothek mitnimmt, indem PAUL TRAMPE nur eines statt drei Bücher­ regalen oder GERDA VON OELDE ihr Biedermeierzimmer statt ihres modernen Wohnzimmer anordnet. GERDA VON OELDE platziert zwar gemäß ihres klassen-, geschlechts- und generationsspezifischen Habitus ihr Sofa, ihren ovalen Tisch, den Ohrensessel, ihren Sekretär, die Vitrine und zwei Malereien aus dem Biedermeierzimmer. Doch ist sie aufgrund der räumlichen Strukturen (Raumgröße und Grundriss) gezwungen, von ihrem ›familiären Habitus‹, drei Wohnräume zu haben, abzuweichen. Inwieweit sich diese bei den anderen AkteurInnen auf das Erleben der Gestaltungs- bzw. Aneignungsprozesse auswirken, wird durch die von PAUL TRAMPE beschriebenen Verlusterfahrungen (siehe Kapitel 3.3.2) zum Ausdruck gebracht. Bestimmte räumliche Vorstellungen und Lebens­ stile, z. B. in Bezug auf die Ausstattung, lassen sich durch räumliche Struk­turen nicht mehr realisieren. Obwohl GERDA VON OELDE zuvor in ihrem modernen Wohnzimmer mit drei Ledersofas und einem gros­ sen Bücher­regal wohnte, hatte sie aufgrund der räumlichen Strukturen, ihres genera­tionsspezifischen Habitus (Verpflichtung gegenüber dem Althergebrachten) und der Umzugsorganisation durch ihre Familie nicht

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Persistenz und Modifikation

» […] als ich aus der Gefangenschaft kam, ich hatte ja nicht einmal richtige Schuhe an Füßen, aber dann hab ich mir das erste Mal war 'n paar Schuhe gekauft und als nächstes hab ich mir aber gleich 'n Buch gekauft, gell. Und dann ging das so weiter ungefähr immer.« (Interview 15; WALTER NIERMANN: Z. 925–928)

mehr die Gestaltungsfreiheiten, sich einen Raum selbst einzurichten, und entschied sich für das ›Biedermeierzimmer‹ ihrer Herkunftsfamilie. » […] also wenn ich mich selbst eingerichtet hätte, klingt blöde, werd ich glaub ich nie auf ein Biedermeier zurückgekommen, war eigentlich nicht mein Stil […]. « (Interview 1; GERDA VON OELDE: 461–463) Damit lotet sie bewusst den Spielraum und die Flexibilität ihres Habitus aus. Sie kann sich durch die Entscheidung für den stärker familiär gepräg­ ten Lebensstil des ›Biedermeierzimmers‹ mehr als mit ihrem modernen Wohnzimmer vom institutionellen Ort ›Seniorenheim‹ abgrenzen. Sie schafft sich mit dem ›Biedermeierzimmer‹, wie schon in Kapitel 3.3.2 erwähnt, einen Raum, in dem sie eben nicht nur als ›Bewohnerin‹ oder als ›Pflegebedürftige‹ mit einem »maladen Körper« ( Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 1014) adressiert wird, sondern als ›Dame ‹. Mit dem Bieder­ meierzimmer als einem Ausdruck ihres klassenspezifischen Habitus und ihrer sozialen Positionierung will sie erkannt und anerkannt werden. Sie bewahrt sich sowohl ihr Gewordensein als auch eine gewisse Souveränität über den institutionellen Ort. Im wohnraumbezogenen Übergang lässt sich demnach eine Gleich­ zeitigkeit von Habituspersistenz in der Reproduktion und Bestän­digkeit bestimmter Konstruktionen, Handlungsmuster und Bewertungs­schemata sowie eine Modifikation im Sinne einer mal mehr, mal weniger bewussten Reflexion von Handlungsmustern und Anpassung von Lebensformen an die neuen Bedingungen ( Zimmergröße, Kontrolle der Zugänglichkeit, etc.) erkennen. Damit ist nicht gemeint, dass sich, wie bei der Habitustransfor­ mation, neue Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata ausbilden oder Änderungen der grundlegenden Haltung zu verzeichnen sind. Bei der vorliegenden Forschung handelt es sich eher um einen »leichten Wandel« (Kramer 2013: 28) der Handlungsmuster und Haltungen.

5.1  Die erzwungene Anpassung des Habitus Eine besondere Form der Habitusmodifikation stellt die erzwungene An­ passung der Lebensformen und Haltungen dar. Es handelt sich hierbei um eine plötzliche Veränderung der Lebenssituation, die zumeist nicht selbst­ bestimmt wird und daher eher zu Irritationen führt und sich in starken Fremdheits- und Leidenserfahrungen äußert. Erzwungene Anpassungen wirken sich letztlich negativ auf die Übergangserfahrungen aus und führen zu einer verminderten Partizipation des Übergangs.

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» [...] ich bin dann krank schwer krank geworden, dass ich auch bald nicht mehr wusste, wo ich war und da hat der Arzt gesagt, ich dürfte nie alleine sein und dadurch haben die Kinder denn mich hier hin getan. Heute hätte ich das wieder gekonnt. Der Arzt hat gesagt, das würd nicht können, weil der konnte es ja nicht wissen, dass man sich wieder so erholt. Also da könnt ich den Arzt verachten.« (Interview 24; HILDE SCHULTHEIS: Z. 126–135) Wie auch bei MARTHA GEHL hatte ihr Arzt die Entscheidung getroffen, dass sie sich nicht mehr allein versorgen könnte. Ihr Sohn beantragte daraufhin einen Platz im Seniorenzentrum. Weder mit dieser Entschei­ dung noch mit ihrem neuen Raum des Privaten ist HILDE SCHULTHEIS einverstanden. »Der Weg ins formalisierte Alterswohnen wurde […] krankheitsbedingt strukturell erzwungen und nicht im Blick auf einen neuen Lebensabschnitt gesucht.« ( Hasse 2009: 139) Sie fühlt sich einer­ seits durch den geografischen Ortswechsel, dadurch, in eine Stadt gezogen zu sein, in die sie nie ziehen wollte und von der ihr auch ihr Ehemann abgeraten hatte, unwohl. Ihr wurde andererseits aufgrund der ›Zuwei­ sung‹ des Arztes ein Seniorenheimzimmer organisiert, in das sie ebenfalls nicht ziehen wollte. » […] das ist immer ein Widerwillen gewesen, als wenn man sagen würde tu’s nicht. Du hast ja auch dein Mann versprochen, du bleibst immer hier und da war immer schon ein Widerwillen.« (Interview 24; HILDE VON SCHULTHEIS : Z. 681–684) Aus diesem benannten Grund fühlt sie sich in ihrer neuen Situation fremd, deplatziert und allein, sodass sie sich auch nur schwerlich mit ihr arran­ gieren kann. Es gelingt ihr nur mit Mühe, das Seniorenheim als ›Zuhause ‹ anzuerkennen.

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Persistenz und Modifikation

Wie schon in Kapitel 4.3 dargestellt, wurde der eigentliche Umzug, d. h. die Herstellung und Aneignung des Seniorenheimzimmers als Raum des Privaten, im Fall von HILDE SCHULTHEIS von ihrem Sohn über­ nommen, da sie zum Zeitpunkt des Umzuges krank war. Ihr Sohn hat sich aufgrund seines generationsspezifischen Habitus der ›Praktika­bilität‹ und seiner Zugehörigkeit zur ›Wegwerfkultur‹ dafür entschieden, die Möbel von HILDE SCHULTHEIS zu entsorgen und dafür neue zu kaufen, die dem Design und der Farbe des Einbauschrankes im neuen Zimmer entsprachen. Nach ihrem Einzug fand sich HILDE SCHULTHEIS in einem Wohnumfeld wieder, das nicht ihren Vorstellungen entsprach. Sie hatte nicht die Mög­ lichkeit, ihre Entscheidungen und Prozesse aktiv zu begleiten. Sie konnte weder dem Umzug und den Selektionsprozessen beiwohnen, noch die Entscheidung für den Übergang eigenständig treffen.

»Interviewerin: Sehen sie das eigentlich als […] ihr neues Zuhausean? Befragte Person: Muss ich ja. Das muss ich, sonst komm ich nicht zu Recht.« (Interview 24; HILDE SCHULTHEIS: Z: 692–694) Ihre bisherigen Wertvorstellungen und Orientierungsmuster stimmen nicht mit den neuen Bedingungen überein. Deswegen ist die Gestaltung des Übergangsprozesses bei HILDE SCHULTHEIS als eine Form der erzwungenen Anpassung von Vorstellungen, Handlungsweisen und Ordnungssche­ mata an die neue Lebenssituation, die durch die fehlende Selbstbestimmt­ heit, Entscheidungsfähigkeit und Gestaltungsfreiheit hervorgerufen wird, zu bezeichnen.

5.2  Der Habitus »verschluckt«78 den körperlichen Leib nicht! Eine wesentliche Erfahrung, die ganz stark mit dem Übergang ins Senioren­ heim verwoben ist, ist, wie in Kapitel 3 beschrieben, die Erfahrung der Krise des körperlichen Leibes. Die AkteurInnen erleben ihren körperlichen Leib zunehmend als › eingeschränkt‹, ›immobil‹, ›behindert‹, ›unsicher‹ und ›unkontrollierbar‹. Gerade im Alter der AkteurInnen ( zwischen 82 und 92 Jahren ) wird der Körper, der als wesentliche Bezugsgröße für Identitäts­ prozesse und gesellschaftliche Inklusionserfahrungen gilt, als äußerst ›fra­ gil‹79 und exkludierend erlebt. Aus diesem Grund betrachten sowohl Klaus R. Schroeter (2009) als auch Gasser/ Knöpfel/ Seifert, K. (2015) den Körper als eine spezifische Form von Kapital – als korporales Kapital 80. Das Körperkapi­ tal ist eine physische, psychische und kognitive Ressource (Beweglichkeit, Schnelligkeit, Mobilität, Leistungsfähigkeit und Produk­tivität ), die bei den AkteurInnen unaufhaltbar abnimmt. Zusätzlich schwinden auch die sozialen Kapitalien. Das soziale Netzwerk verändert sich durch den Tod von Ehepartner*innen, Freund*innen und die z. T. geografische und sozi­ ale Distanz zu den nahen Angehörigen (Kindern), sodass die AkteurInnen größtenteils allein leben. Die Veränderungen der korporalen Kompetenzen wirken sich auch auf die Ausstattung mit symbolischem Kapital aus, d. h. die AkteurInnen trennen sich aufgrund ihrer korporalen Kompetenzen und ihres kalendarischen Alters von bestimmten Gegenständen (wie z. B.

78 Vgl. Jäger 2005: 105; weitere Ausführungen siehe S. 142. 79 Vgl.  Gasser/Knöpfel/Seifert, K. (2015). 80  Schroeter weist darauf hin, dass wenn man den Körper als eine Form der Kapitalausstattung betrachtet, er auch als objektivierbares Maß gesehen werden muss, das sich letztlich auch in andere (ökonomische, soziale, kulturelle und symbolische) Kapitalien konvertieren lassen kann ( vgl. Schroeter 2009: 164), obwohl die Konvertierbarkeit korporaler Kapitalien im hohen Alter als sehr begrenzt erscheint. In diesem Forschungskontext fehlen noch weitere Untersuchungen.

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» […] das ist überhaupt so, alt werden muss man erst lernen. Ganz bestimmt genauso, wie ein Kind das Laufen lernen muss. So muss man das erst lernen, was geht jetzt mit dir vor.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1534–1537) Dieser Lernprozess wird ausgelöst durch die Diskrepanz zwischen der Erfahrung der situativen Anforderungen ( »da ging’s mit mir Berg ab«, »ge­ sundheitliche Probleme« ) und den bereits erworbenen subjektiven Dis­ positionen ( u. a. die ›Ich-kann-noch‹-Bestrebungen, Mobilität, räumliche Ver­fügungsmöglichkeiten durch die »drei Anlaufstellen« ). INGRID LAMMERT findet sich in einer Situation wieder, die zunächst einmal nicht reibungslos an ihre körperlich-mentalen Schemata des Wahrnehmens und Beurteilens anschließt, was sich auch in den Fragen, die sie sich selbst stellt, wider­ spiegelt. » […] was kannst du jetzt machen mit deinem Leben? Wie kannst du das am besten in Griff kriegen? […]. « (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1532–1533) Auf die Art und Weise, wie sie früher ihr Leben organsiert hat, mit ihren vorherigen körpergebundenen Handlungs- und Umgangsweisen, bekommt

81 Siehe Kap. 3.1.2.

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Persistenz und Modifikation

mobilen Dingen) und sind zunehmend auf assistive Dinge angewiesen. Die auf der Ebene des sozialen Raumes verminderte Ausstattung mit korpora­ lem, sozialem und symbolischem Kapital wirkt sich auch verstärkt auf die Wohnverhältnisse und die Lebensführung aus. Einige AkteurInnen haben, angepasst an den fortwährenden Wandel der korporalen Kompetenzen und sozialen Netzwerke, ihren Wohnraum schon reduziert. Jedoch spitzt sich die Betreuungssituation und der Zustand des körperliches Leibes dermaßen zu, dass die bisherigen Praktiken, Lebensweisen und Handlungsmuster, die sich an einem selbstständigen Leben in privaten Wohnverhältnissen, an ei­ ner selbstverständlichen Produktivität und Leistungsfähigkeit orientierten, nicht mehr haltbar sind. Für INGRID LAMMERT sind die Erscheinungen des Älterwerdens nicht mehr hintergehbar. Sie hat sich mit ihren »körper­ lichen Zuständen« auseinanderzusetzen. Die ›gesundheitlichen Probleme‹ ( vgl. Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1529) formen zunehmend den körperlichen Leib der AkteurInnen, der wiederum als Speicher von Dispo­ sitionen und Schemata »die Handlungen und Praktiken der Individuen zugleich unbewusst und dennoch systematisch lenkt« ( Jäger 2005: 102 f.). INGRID LAMMERT beschreibt das Älterwerden als einen Lernprozess, sich mit den schwindenden korporalen Kompetenzen auseinanderzusetzen und diese zu akzeptieren.81

sie es nicht mehr »in den Griff«. Ihre Selbstverständlichkeiten haben ­aufgrund der neuen Lebenssituation an Geltung verloren. Sie kann nicht mehr mit ihren eingefleischten Routinen agieren, sondern muss ihren in­ neren Standpunkt wechseln. » […] erst mal den körperlichen Zustand akzeptieren. Das ist schon eine Aufgabe für sich. Also das ist ein Lernprozess, immer wieder was Neues.« (Interview 3; INGRID LAMMERT: Z. 1541-1543) Es ist nicht verwunderlich, dass der Alterungsprozess körperlich erfahren wird, mit einem unmittelbar körperlichen Transformationsprozess und einer unmittelbaren leiblichen Erfahrung einhergeht und das Alter(n) über den Körper repräsentiert wird. Doch die Vertrautheit mit dem eigenen Körper wird nicht erst durch den Übergang ins Seniorenheim bedroht ( vgl. Habermas 1996: 145 ), sondern auch durch die leiblichen Erfahrungen und die subjektive Deutung des eigenen kalendarischen Alters. Der Übergang ins Seniorenheim ist eher einer der vielen Übergänge, der das Kontinuum ›Älterwerden‹ strukturiert und in dem sich das ›Altsein‹ manifestiert. Ähn­ lich wie sich die Bedeutsamkeit der Dinge erst durch den wohnraum­ bezogenen Übergangsprozess in einem reflexiven Akt erschließt, wird das eigene Altern, d. h. »die Gegebenheit des Körpers als symbolische und materiale Realität [und die leibliche Erfahrung des ›ich-kann-nicht-mehr‹ erst in einer Lebensphase erfahrbar], in […] der sich der Körper ›entselbst­ verständlicht‹, als einschneidend erlebte Veränderungen erfährt und refle­ xive Zuwendungen erzwingt« (Keller/Meuser 2017: 6, d.Verf.). Denn solange der Körper funktioniert, man alles tun, selbstständig und eigenständig handeln und sich bewegen kann, spürt man das Altern kaum. Doch sobald die »defini­tiven Beschränkungen der leiblichen Handlungsoptionen« (Eberle 2017: 38) auferlegt werden, konkretisiert sich das Altern im körperlichen Leib und in den Handlungen und Praktiken - in all dem, was man auf­ grund der leiblichen Konstellation definitiv nicht mehr so tun kann wie bisher. Mit dem Zusammenbruch des körperlichen Leibes zeigen sich die Grenzen des körperlich möglichen in den alltäglichen Handlungsmustern. Entgegen der Schilderungen von Schroeter ( vgl. Schroeter 2009: 168) bleiben diese Erlebnisse jedoch im Alltag nicht unreflektiert bzw. einfach habituell eingelagert, sondern ziehen bewusste Verstehens- sowie Lernprozesse nach sich, die die bisherigen Vorstellungen und Handlungs­ weisen hinterfragen und weiterentwickeln. Die Materialität des körperlichen Leibes wirkt sich auf den Habitus und demzufolge auf bestimmte Praktiken aus ( vgl. Jäger 2004: 193). INGRID LAMMERT beschreibt den Prozess des Älterwerdens, der mit einem bestimmten kalendarischen Alter begonnen hat, als Lernprozess, sich kognitiv auf das Älterwerden einzustellen, neue

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Was die Entscheidung für den Übergang ins Seniorenheim so schwierig macht, ist, dass sie, wie in den vorherigen Ausführungen gezeigt, sowohl die Existenzweise im sozialen Raum als auch die Existenzweise im Raum der Lebensstile (Wohnverhältnisse, Ausstattung) betrifft. Deshalb ist die Modi­ fikation von Einstellungen und Handlungsmustern dafür verantwortlich, dass oder ob die AkteurInnen die Entscheidung zu einem Übergang treffen können. Somit ist die Entscheidung für den Übergang ins Seniorenheim eine Konsequenz der Neukonstituierung von Denk- und Wahrnehmungsschemata, bedingt durch die ›brüchige‹ Materialität des körperlichen Leibes. Zugleich zeigt sich auch, dass die Beschreibungen des körperlichen Leibes als ›malade‹, ›lahmarschig‹ und ›behindert‹ letzten Endes soziale Kon­ struktionen sind, denen die ›gängigen‹ Adressierungen an einen fitten, funktionstüchtigen, leistungsfähigen und produktiven körperlichen Leib zu Grunde liegen und die grundlegenden, biologischen Körper­phänomene nicht mehr standhalten können. In Kapitel 3.1.1 wurde deutlich, dass der körperliche Leib, wie im Fall von WALTER NIERMANN, zur Grundlage von Zuschreibungen wird, indem sein alternder Körper als ›nicht mehr fit genug‹ wahrgenommen und ihm daher ein ›altes‹ Kniegelenk eingesetzt wird. Ebenfalls wird der Übergang bei sehr vielen AkteurInnen von ärztli­ chen Empfehlungen oder Meinungen der Angehörigen angestoßen, indem den AkteurInnen, wie im Fall von HILDE SCHULTHEIS, die selbststän­ dige körperliche und pflegerische Versorgung abgesprochen wird, ohne die Einstellungen und Bedürfnisse der Betroffenen einzubeziehen. Die in­ dividuelle Wahrnehmung assistiver Dinge und die ›leichte Abwehrhaltung ‹ gegenüber diesen ist durchdrungen vom gesellschaftlichen Leitbild – der Manifestation der Hochaltrig- und Pflegebedürftigkeit durch die zunehmende Abhängigkeit von technischen Artefakten. 82  Siehe Kap. 3.2.3.

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Persistenz und Modifikation

Körpertechniken erlernen zu müssen und zu akzeptieren, dass man auf assistive Dinge82 angewiesen ist. Für sie geht das Älterwerden mit einem Lernprozess wie dem eines Kindes einher. Aufgrund ihrer körperlichen Zustände, ihrer leiblichen Empfindungen und der »reflexiven Analyse« (Bourdieu/Wacquant 2006: 170) bisheriger Werturteile, Vorstellungen und Routinen verändern sich ihre Wahrnehmungen und Handlungen. Dieser Lernprozess bezieht sowohl das Geistige, d. h. sich mental darauf einzustellen, die neue Situation zu beurteilen und zu bewältigen, als auch das Körperliche mit ein. Denn jedes Lernen im Sinne einer Modifikation der subjektiven Schemata des Wahrnehmens, Erkennens, Denkens und Fühlens geht mit einer »selektiven und dauerhaften Umwandlung des Kör­ pers« (Bourdieu 2001: 175) einher. Im Lernprozess zeigt sich, wie sich der Habitus mit seinen eingefleischten Routinen und Praktiken an die neuen Bedingungen anpasst.

Es zeigt sich, dass sich die symbolisch-diskursive Ebene und die ›materiale Voraussetzung des Weltzugangs‹ im Erkenntnisprozess nicht voneinander trennen lassen ( vgl. Riedel 2017: 10). Die Doppelperspektive auf die soziale Konstruiertheit individueller Wahrnehmung und der kör­ perlich-leiblichen, materiellen Ebene ist grundlegend für die Frage der Handlungsmöglichkeiten bzw. Aneignungsstrategien im Übergang ins Seniorenheim. Schließlich lässt sich formulieren, das die AkteurInnen beim Übergang ins Seniorenheim einen eher weniger linearen als vielmehr verschlungenen Prozess, in dessen Verlauf sich ihr Habitus auf besondere Weise verändert, durchlaufen. Indem die AkteurInnen lernen, in Situationen anders zu ent­ scheiden und zu handeln, sich ›tiefer‹ mit Problemen auseinanderzusetzen, passen sie sich körperlich und mental an. Dadurch werden sie von anderen anders erkannt und auch anerkannt ( vgl. Alkemeyer 2006: 124). Allgemein lässt sich feststellen, dass der Habitus in der Gleichzeitigkeit von Persistenz und (unbewusster/bewusster) Modifikation zur Bewältigung des Über­ gangs beiträgt, indem er einerseits zu biographischer Kontinuität und Sta­ bilität und andererseits zu neuen Formen der Lebensgestaltung anstiftet. Im Anschluss an Bourdieu weist Ludwig Amrhein jedoch darauf hin, dass selbst Anpassungen von Lebensformen und Haltungen nur im Möglich­ keitshorizont der alten Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsschemata hervorgebracht werden können und an diese anschlussfähig sein müssen ( vgl. Amrhein 2008: 60). Diese individuellen Aneignungs- und Widerher­ stellungsstrategien räumlicher Privatheit, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation ergeben, sowie die Aushandlungspro­ zesse sind abhängig von der sozialen Konstruiertheit des (körperlichen) Alterns, den räumlichen Strukturen und Gestaltungsfreiheiten sowie der Selbstbestimmtheit, die den AkteurInnen zugesprochen wird – eben von der Tatsache, dass »alte Bäume nicht versetzt [werden] « (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 691, d. Verf.).

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6. Schlussbetrachtungen und Ausblick

Am Anfang dieser Forschungsarbeit habe ich gefragt, wie die AkteurInnen den wohnraumbezogenen Übergang ins Altenheim unter materiell-räumlicher Perspektive gestalten und welche Anforderungen, Bedürfnisse und strukturellen Rahmenbedingungen zum dabei Ausdruck kommen. Im Sinne der Grounded Theory habe ich meine Daten zirkulärite­ rativ erhoben und ausgewertet. Der empirische Zugang erfolgte einerseits über die Teilnehmende Beobachtung, andererseits über das verstehende Interview. Dabei habe ich die Materialität des Erzählens, d. h. das Seniorenheimzimmer, den Körper und die Objekte als Schlüssel zu Erinnerun­ gen und Erzählimpulsen, miteinbezogen. In diesem abschließenden Kapitel möchte ich wesentliche Ergebnisse meiner Studie zusammentragen und rekapitulieren, welchen Ertrag ein re­ lationaler Ansatz, aufbauend auf dem Raumverständnis von Martina Löw und den Ausführungen von Carmen Keckeis zu räumlicher Privatheit, als Zugang zur Übergangsforschung bieten kann und welche Bedeutung die identifizierte Interdependenz von körperlichem Leib, Dingen und Räumen sowie die Gleichzeitigkeit von Habituspersistenz und -modifikation für die aktuellen gesellschaftlichen Fragen und Entwicklungen hat. Die Interdependenz der körperlich-materiell-räumlichen Erfahrungsdimensionen kann als grundlegende Einsicht in das Phänomen ›wohnraumbezogener Übergang ins Altenheim‹ begriffen werden. Diese Interdependenz hat Lebensweisen, Wertvorstellungen, Erwartungen, Erinnerungen und Erfahrungen offengelegt. Darüber hinaus wurde über die Interdependenz der Übergang als sozialer Prozess sichtbar, in dem sich Manifestationen gesell­ schaftlicher Strukturen, Altersnormen sowie Lebensentwürfe und Selbstkonzepte zeigen. Obwohl der Körper in der Alter(n)sforschung bisher eher selten zum Gegenstand ( vgl. Riedel 2017: 6) gemacht wurde, stellt sich der körperliche Leib als eine wesentliche Erfahrungsmodalität, die die Notwendigkeit des wohnraumbezogenen Übergangs bedingt, heraus. Mit dem Begriff des körperlichen Leibes orientiere ich mich an Ausführungen von Ulle Jäger und verstehe ihn als Verschränkung von Materialität und Erleben. Der ›alternde körperliche Leib ‹ wird von den AkteurInnen aufgrund seiner unaufhaltsamen, fortwährenden ›brüchigen Materialität‹ als wesentlicher Interpretationspunkt empfunden. In den Interviews werden die Veränderungen des körperlichen Leibes durch die zahlreichen Erkrankungen bzw. Zusammenbrüche als Bedingungsfaktor für die Entscheidung für den Umzug ins Seniorenheim angeführt. Dabei korrelieren in manchen Interviews

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die Veränderungs- und Entwicklungsprozesse des körperlichen Leibes mit dem kalendarischen Alter, obwohl die Altersphasen immer weniger nach dem kalendarischen Alter, sondern häufiger den »jeweils noch vorhande­ nen Fähigkeiten in körperlichen, psychischen, sozialen und gesellschaft­ lichen Funktionsbereichen – dem funktionalen Alter« ( Clemens 2001: 490) eingeteilt werden. Ungeachtet dessen spielt das kalendarische Alter für viele AkteurInnen in Bezug auf die mobilen Dinge, den Umgang mit Formularen und die Erwerbstätigkeit eine große Rolle. Die Selbstwahr­ nehmung des eigenen hohen Alters rückt in seiner Institutionalisierung und als persönliche Legitimation bzw. Begründung der Veränderung des körperlichen Leibes z. T. in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass die habi­ tuelle Anwendung der alltäglichen Dinge, d. h. die Verrichtung alltäglicher Aufgaben, mit ihm schwindet. Sie entziehen sich durch ihre Materialität und Bedienungsweisen zunehmend der Handhabbarkeit der AkteurInnen. Weshalb einige AkteurInnen sich von bestimmten Dingen, wie z. B. den mobilen, sukzessive vor oder während des Übergangs trennen. Ebenso sind die AkteurInnen mehr und mehr von assistiven Dingen, die Handlungen mit­bestimmen, einschränken und ermöglichen, abhängig. Jedoch können auch diese nicht jegliche Handlungsabläufe gewährleisten, sodass durch die nach­lassenden korporalen Kompetenzen und die schwindende habituelle Anwendung der Dinge der Übergang ins Seniorenheim von den Interview­ partnerInnen als unausweichlich beschrieben wird. Aus den Interviews geht hervor, dass in den Vorbereitungen und Pla­ nungen des Übergangs (Auswahl der Senioreneinrichtung und Haushalts­ auflösung) bestimmte Bedürfnisse bzw. Orientierungen, die vor dem Um­ zug ins Seniorenheim wichtig gewesen waren, für die AkteurInnen auch weiterhin hohe Bedeutsamkeit besitzen. Das Bedürfnis nach Privatheit im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmtheit verschwindet nicht auf­ grund der Notwendigkeit pflegerischer Versorgung, sondern bleibt bestehen. Daher ist für die Auswahl des Seniorenheims und Zimmers die Aufrecht­ erhaltung der ›Privatsphäre‹ sowie die damit verknüpfte Wieder­herstellung ›räumlicher Privatheit‹ ein wesentliches Kriterium. Mit Privat­sphäre ist der Frei- bzw. Rückzugsraum gemeint, den man nur mit ausgewählten Perso­ nen teilt und dessen Zugänglichkeit kontrollierbar ist. Jedoch bezieht sich die Privatsphäre nicht nur auf die materiell-räumliche Ebene, sondern auch auf den eigenen körperlichen Leib, über den selbstbestimmt entschieden werden kann. Das unveränderte Bedürfnis nach räumlicher Privatheit um­ fasst die Entscheidungs- und Handlungsspielräume und die körperliche Intimität. Mit der Wahrnehmung des Seniorenheim(zimmer)s als ›Zuhause ‹ bzw. der Zuordnung des Attributs › privat‹ und der Entscheidung für ein Seniorenheim beginnt der Auflösungsprozess, d. h. der Prozess der mate­ riell-räumlichen Selektion. Dabei spielt die Erfahrung von Verlust eine entscheidende Rolle, die sich in der Benennung von abwesenden, ver­ schenkten, aussortierten und entsorgten Dingen, die man aus Platz­

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171

Schlussbetrachtungen

gründen nicht hat mitnehmen können und die ›vermisst‹ werden, in der Benennung der Aufgabe des Fachwerk- oder des Wochenendhauses sowie in der Benennung von Werten und symbolischen Außenwirkungen äußert. Damit wird letztlich auch der Verlust des Vertrauten, Gewohn­ ten, des ›Zuhauses‹ beschrieben. Die materiell-räumliche Formation von An- und Abwesenheit gehört zum Übergang und zur Aneignung des Senio­ renheimzimmers dazu. Hinzu kommt, dass die AkteurInnen nicht zu ih­ ren Angehörigen, in eine Wohngemeinschaft oder in eine betreute Wohn­form ziehen, sondern in ein Seniorenheim – einem institutionalisierten Raum. Den Strukturen der institutionalisierten Räume kommt eine um­ fassende Wirkmächtigkeit zu, die auf wesentliche Prozesse des Übergangs einen Einfluss nimmt, sodass sowohl die Haushaltsauflösung als auch die Prozesse der Aneignung und Wiederherstellung der räumlichen Privatheit durch die räumlichen Strukturen bestimmt werden. Denn in der grund­ legenden Ausgestaltung des Wohnraums mit Gesundheitsbett, Tisch, Stühlen, Einbauschrank, Garderobe und barrierefreiem Bad wird die Dominanz der räumlichen Strukturen deutlich, die sich eher auf Funk­ tionalität und Zweckrationalität beziehen. Zudem ist das Seniorenheimzim­ mer nicht nur Lebensort für die AkteurInnen, sondern auch Arbeitsort für die Mitarbeitenden und Besuchsort für Angehörige. Demnach handelt es sich um einen Raum des Privaten, der sowohl durch die Anforderungen der Mitarbeitenden als auch die der AkteurInnen und der Angehörigen gestal­ tet wird. Daher habe ich auf die Doppelperspektive Bezug genommen, die auch von Imke Schmincke (2009) betont wird, dass der Raum eben nicht nur Produkt ist bzw. in der sozialen Praxis hergestellt wird, sondern auch Produzent sozialer Handlungen, d. h. er kann Handlungen ermöglichen oder beschränken ( vgl. Schmincke 2009: 47). Doch wie im Einleitungskapitel erwähnt ging es mir nicht darum, die totalen Strukturmerkmale oder die zentralen Strukturprobleme statio­ närer Wohneinrichtungen (Trescher 2017) zu untersuchen, sondern ein ›sowohl-als-auch‹, d. h. sowohl die strukturellen Bedingungen als auch die Aneignungsstrategien und symbolischen Aushandlungsprozesse zu beleuchten. Unter Rückgriff auf die relationale Raumtheorie von Martina Löw und die Ausführungen zu Räumen des Privaten von Carmen Keckeis konnte gezeigt werden, dass es sich bei der Aneignung des Raumes um die Wiederherstellung eines als privat und vertraut definierten und sym­ bolisierten Raumes handelt. Durch die Anordnung von Status-, Kompetenz-, Bildungs-, Erinnerungs- und Zugehörigkeitssymbolen versuchen die Akteur­Innen einerseits, sich einen Raum des Privaten herzustellen, und andererseits, sich vom institutionellen Ort des Seniorenheims abzugrenzen. Sie setzen dem Ort ihre vorherigen Erfahrungen, Erlebnisse, ihr Wissen und ihre Kompetenzen entgegen. Indem sie bestimmte Objekte platzieren, bewahren sie ihren Status als ›Dame‹ oder ihre Freiheit als ›Abenteurer‹, knüpfen an ihre vorherigen Tätigkeiten und Interessen an, halten an ihrer Identität und Herkunft fest und erlangen eine Chance auf Er- und An­

erkennung. Bei den Status- und Kompetenzsymbolen handelt es sich um Objekte, die vorrangig in Abgrenzung zum institutionellen Ort des Seniorenheims und des Pflege- und Betreuungssystem verwendet wer­ den, um sich eine Möglichkeit der Anerkennung zu erhalten und eigene Kompe­tenzen zu demonstrieren, die z. T. durch körperlich-leibliche Ver­ änderungen beeinträchtigt oder den AkteurInnen durch Zuschreibungen von außen abgesprochen werden. Mit den Bildungssymbolen heben die Interview­partnerInnen ihre (Aus-)Bildungsbestrebungen und –errungen­ schaften hervor. Erinnerungsobjekte symbolisieren die Erfahrungen der Personen und sind mit bestimmten Ereignissen, Personen und Orten asso­ ziiert. Einige Erinnerungsobjekte, die platziert werden, erinnern an vergan­ gene Erlebnisse und damit zusammenhängend an ehemalige Fähigkeiten und Kompetenzen. In diesem Sinne geben sie der Person orts- und zeit­ übergreifend Orientierung und die Möglichkeit, sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Erinnerungsobjekte, die von biographischer Relevanz sind, verweisen auf Wendepunkte oder bestimmte Lebensphasen. Als Zu­ gehörigkeitssymbole habe ich die Objekte bezeichnet, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Praxis und Vorstellungswelt symbolisieren und dadurch letztlich auch biographisch bedeutsam sind. Die platzierten Objekte sind Ausdrucks- und Interpretationsmittel der AkteurInnen und bilden klassen-, geschlechts- und generationsspezifische Handlungsweisen und Haltungen ab. Daher geben nicht nur die räumlichen Strukturen die Handlungen vor, sondern auch der Habitus der Akteur­Innen. Dabei haben sich für die Aneignungs- und Wiederherstellungspraktiken vor allem drei Kategorien als zentral erwiesen: Klasse, Geschlecht und Generationszugehörigkeit. Auch andere Kategorien wie ›Ethnizität‹ und ›Bildung‹ spielten eine Rolle und können daher nicht als strikt voneinan­ der getrennt angesehen werden. Der klassenspezifische Habitus äußert sich primär im Wert der Dinge, in den Kriterien der Auswahl der Senioren­ einrichtung, in der Verfügungsmöglichkeit über Raum und Dinge und im Wissen über Strukturen und Ressourcen, das in die Gestaltung und An­ eignung miteingebracht werden kann. Der geschlechtsspezifische Habitus äußert sich in der Reproduktion klassischer Familienmodelle, Rollenauf­ teilungen und Entscheidungsbefugnissen, die die Raumkonstruktionen und Aneignungspraktiken durchziehen. Die spezi­­fischen Wertvorstellungen, die sich im Umgang und der Wertschätzung der Dinge zeigen, sind durch den generationsspezifischen Habitus geprägt. Die soziale Position und der Ha­ bitus der umziehenden Personen bestimmen die Aneignungs- und indivi­ duellen Bewältigungsformen wesentlich mit, sodass auch im Übergang ins Altenheim soziale Ungleichheiten weiterhin bestehen bleiben bzw. repro­ duziert werden. Darin zeigt sich die Persistenz des Habitus als »dynamische Reproduktion« (Kramer 2013: 27) bestimmter Bewertungs-, Handlungsund Orientie­rungsschemata. Jedoch gehen bestimmte Aneignungs- und Wiederherstellungspraktiken auch aus der Habitusmodifikation als ›leichtem Wandel‹ oder Anpassung von bestimmten Handlungs- bzw. Ordnungs­

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Aufbauend auf den »raum- und raum(re)produktionstheoretischen Pers­ pektiven« (Meuth 2017: 106) von Martina Löw und Carmen Keckeis so­ wie des Habituskonzepts des französischen Soziologen Pierre Bourdieu konnte ein mehrdimensionaler Erklärungsansatz entwickelt werden, der die strukturellen Bedingungen, Ungleichheitslagen und individuellen Orientierungs- und Handlungsmuster des wohnraumbezogenen Übergangs ins Altenheim bestimmen und erläutern kann. Innerhalb der Lebenslaufund Übergangsforschung wird der wohnraumbezogene Übergang ins Alten­heim unter der Perspektive von Räumlichkeit, Materialität und Körper­ lichkeit eher randständig behandelt. Dabei eignet sich der relationale Ansatz zu Konstitutionsprozessen von Räumen des Privaten von Carmen Keckeis, um individuelle Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, Alters­ normierungen, strukturelle Rahmenbedingungen und soziale Risiken von wohnraumbezogenen Übergängen aufzudecken und zu analysieren. Desweiteren konnten Prozesse der Verräumlichung sozialer Ungleichheit aufgezeigt werden. »Soziale Ungleichheit wird also vor allem über die ungleiche Verteilung von für die Konstitution von Raum relevanten Res­ sourcen reproduziert, zum anderen darüber, dass gesellschaftliche hierar­ chische Prinzipien wie Geschlecht, Klasse und Alter in die Konstitution von Räumen eingehen.« ( Schmincke 2009: 52) Dabei stellt die Körperlich­ keit bzw. das Erleben des alternden Körpers eine wesentlich Dimension dar, die in der Gestaltung wohnraumbezogener Übergänge wirksam wird bzw. diese bedingt. Durch die Sichtweisen der AkteurInnen konnten außerdem Bedürfnisse, Anforderungen, Restriktionen und Möglichkeiten der ›Opti­ mierung der Begleitung von Übergängen‹ sichtbar gemacht werden. Demnach können soziale Fragen von Anerkennung, sozialer Parti­zipation und Autonomie nicht losgelöst von der Interdependenz des fortwährenden körperlichen Alterungsprozesses, der zunehmenden assistiven Materialisierung von Umwelt und der räumlichen Verfügungsund Gestaltungsmöglichkeiten betrachtet werden. Vor allen Dingen das voranschreitende körperliche Altern hat sich als raum- bzw. »lebensstilkonstituierende« (Amrhein 2008) Kategorie erwiesen. Der körperliche Leib als Ausgangspunkt räumlicher Orientierung ist eine wesentliche

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Schlussbetrachtungen

mustern an die räumlichen Strukturen und fortwährenden Transforma­ tionsprozesse des körperlichen Leibes hervor. Die Materialität und die Wahrnehmung des eigenen körperlichen Leibes als ›malade‹, ›behindert‹ und ›immobil‹ wirken sich auf den Habitus sowie die Lebensorientierung und Bewältigungsmuster aus. Speziell das körperliche Altern unter der Doppelperspektive zwischen individuellen Wahrnehmungen basaler Kör­ perfunktionen und sozialer Konstruktion ist zentral, um den Übergang, die Motivation und die Aneignungs- und Wiederherstellungspraktiken zu beschreiben. Daher komme ich zu der Schlussfolgerung, dass bestimmte Aneignungs- und Bewältigungsstrategien des wohnraumbezogenen Über­ gangs aus der Gleichzeitigkeit von Persistenz und Modifikation hervorgehen.

Dimension relationalen Handelns, denn ohne den Körper wäre der Raum nicht wahrnehm- bzw. erfahrbar ( vgl. Schroer 2012: 277). Zudem »verschluckt« der Habitus den körperlichen Leib nicht ( Jäger 2005: 105), sondern die Veränderungs- und Entwicklungsprozesse des körperlichen Leibes wirken sich modifizierend auf diesen aus und be­ stimmen die Handlungsoptionen und -weisen. Die Perspektive auf das kör­ perliche Altern als raum- bzw. lebensstil-konstituierende Kategorie und wesentlicher Bedingungsfaktor für den Habitus einer Person ebnet den Weg für weitere Forschungsarbeiten. Mit einer weiteren Arbeit könnte ausführ­ licher und systematischer der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Alterungsprozessen des körperlichen Leibes (Leiblichkeit des Alterns) und der individuellen Gestaltung von Übergängen, d. h. den Handlungschancen, Verfügungsmöglichkeiten sowie bestimmten Aneignungsstrategien, nach­ gegangen werden.

Solange »anonyme gesellschaftliche, kulturelle, institutionelle und juris­ tische Verhältnisse die Gestaltung von Übergängen und Aushandlungspro­ zessen als abstrakt-strukturelle »Fälle« im Großen wie im Kleinen steuern, in Richtungen weisen und für zukünftige (hermetische) Verläufe disponieren» (Hasse 2009: 145), solange in einer »produktivitäts- und autonomieorien­ tierten Gesellschaft« (Bolze/Schwabe 2015: 84) die Fitness des körperlichen Leibes als persönliche Verantwortung und Voraussetzung für Handlungs­ potentiale und Partizipationschancen gilt, solange soziale Anerkennung weiterhin an Produktivität, Optimierung und Verjüngung gemessen und der »Tod weiterhin als ein (bio-technisch) lösbares Problem gesehen wird« ( Schroeter 2009: 374), solange kann auch in Zukunft nicht von Hochaltrig­ keit als einer gleichberechtigten Lebensphase gesprochen werden. Denn gerade die gesundheitlich eingeschränkten älteren Menschen und diejenigen, die zudem nicht über ein entsprechendes Kapitalvolumen verfügen, können das aktivgesellschaftliche Paradigma kaum erfüllen ( vgl. Ziegler 2011: 167). Deswegen benötigt es verstärkt einer Loslösung von erwerbszentrierten Leistungsparametern »als dominantes Prinzip kapitalis­­t­ischer Vergesellschaftung« (Dyk 2009: 619) hin zu einem multiperspekti­ vischen bzw. mehrdimensionalen Blick, der trotz der pflegerischen Versor­ gung und der gesellschaftlichen Herausforderungen der Hochaltrigkeit »eine Öffnung gesellschaftlicher Möglichkeitsräume verspricht« ( Ziegler 2011: 191), die den Akteur*innen Platz für eigene individuelle Praktiken, Lern­ prozesse, Aushandlungs- und Aneignungsstrategien sowie Gestaltungsfreiheiten bieten. Erst die grundlegende Verschiebung von Perspektiven lässt die Integration der Hochaltrigkeit in akzeptierte Alterskonzepte bzw. -bilder erwarten. » […] und das scheint mir die neue Dimension von Lebenskunst: dass wir den Blick nicht verschließen vor dem sich nähernden Ende, der End-Gültigkeit aller Bemühungen und aller Freuden, der Endlichkeit des ganzen Lebens.« (Horn 2011: 329)

174

Epilog

Meine Arbeit habe ich ursprünglich mit dem Sprichwort "Alte Bäume ver­ setzt man nicht..." betitelt, das die Interviewpartnerin GERDA VON OELDE anführt, um auf die in der Einführung erläuterte Ambivalenz von Über­ gängen einzugehen. In dieser Fassung erweckt das Sprichwort erst einmal den Anschein als würde sich die Interviewpartnerin gegen einen Wechsel der Wohnform im höheren Lebensalter aussprechen, um eben nicht den vertrauten Wohnraum aufzugeben und dem Wunsch, bis zum Lebensende im eigenen Haushalt zu verbleiben, nachkommen zu können. Doch GERDA VON OELDE spricht sich nicht per se gegen einen Übergang in ein Al­ tenheim aus, denn sie erweitert das Sprichwort um den relativierenden Zusatz » […], sagt man norma­lerweise«83. Damit hebt sie hervor, dass es für sie bedeutsam gewesen ist, ›nicht entwurzelt‹ zu werden, sondern in ihrer vertrauten Umgebung wohn­haft zu bleiben. Im Gegensatz zu ihren anderen Bekann­ten hatte sie aufgrund ihrer körperlichen Verfasstheit und ihrer sozialen Beziehungsgeflechte die Möglichkeit, unabhängig von professionellen Zuweisungspraktiken oder familiären Entscheidungszwängen die Entscheidung zu treffen, innerhalb ihres vertrauten Wohnviertels um­ zuziehen. Sie suchte sich ein Altenheim in ihrer »alten Gegend«, in dem sie nicht »stock allein in einer fremden Umgebung« wohnt. Mit dem Sprich­ wort betont sie ihre aktive Rolle, sich nicht ›versetzen zu lassen‹, sondern einige Entscheidungen, die mit dem Übergang ein­hergehen, unabhängig treffen zu können. Sie plädiert wie auch andere InterviewpartnerInnen dafür, dass der Übergang auch ein Ausdruck einer selbstbestimmten, geplanten Entscheidung sein kann, »zumal häusliche Pflegesituationen keinesfalls defizitfrei sowie oftmals von gravierenden Überlastungen der Pflegenden und/oder starkem Einsamkeitserleben der Pflegebedürftigen geprägt sind« (Winter 2008: 21). Sie erlebt den Eintritt in das Altenheim zwar durchaus als gravierende Veränderung, nicht aber als radikalen Bruch mit ihrer Lebensweise und ihrem Selbstkonzept. Das eigene Leben und der Anspruch auf eigene Lebens­gestaltung, der Wunsch nach einem anerken­ nenden, aktiven, wertschätzenden, privaten, intimen, sozial vernetzten, Leben enden eben nicht mit dem Übergang ins Altenheim oder der Erfah­ rung erheblicher Gebrechlichkeit. Auch wenn die Endlichkeit der noch zu erwartenden Lebensspanne sehr viel deutlicher und expliziter thema­tisiert wird und die Erfahrung des pflegebedürftigen, hinfälligen körperlichen Leibes omnipräsent ist, ist der Übergang nicht nur eine »letzte Station«84, sondern »einfach ein Stück von [ihrem] Leben«85. 83  Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 692. 84 Der Titel einer Magazinausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 31.05. 2015/Heft Nr. 22. 85 »Das ist einfach ein Stück von meinem Leben.« (Interview 1; GERDA VON OELDE: Z. 1044)

175

↓  =  ↑  =  oh>  =  oh>  =  ( . )  =  (2)  =   =   =  und = äh  =  hh  =  nooooch  =  äh  =  mmh_mmh  = 

geschätzte Pausen in Sekunden auffällig schneller Anschluss Verschleifungen innerhalb von Sprechakten Atemgeräusche Dehnung Verzögerungssignale Verständnissignale

I: [  ]  =  B: [  ]

Überlappungen, Simultansprechen Interviewerin (I), Befragte Person (B)

Stimme geht nach unten Stimme geht nach oben auffällig hohe Stimme mit Angabe der Reichweite auffällig tiefe Stimme mit Angabe der Reichweite Mikropause (geschätzte Pause unter 1 Sek.)

[I ]  =  Verständnissignale als Einschübe fett  =  laut kursiv  =  leise ICH  =  Betonungen, Akzentuierungen also nie-  =  Wort oder Satz wird abgebrochen Such/Untersuchung  =  sich selbst verbessern ((lachen))  =  Charakterisierung von nichtsprachlichen Vorgängen bzw. Sprechweise

>  =  interpretierende Kommentare bzw. nichtsprachliche Vorgänge mit Angabe der Reichweite ( ) Das is ja  =  unsichere Transkription ( )  =  unverständlich (mit ungefähr angedeuteter Länge) 01:26:40 – 01:33:05  =  zeitliche Angaben, wenn Unterbrechungen stattfanden bzw. Auslassungen vorgenommen wurden, die nicht dem inhaltlichen Schwerpunkt entsprechen […]  =  Auslassungen Stadt  =  Anonymisierung von Personen-, Ortsund Straßennamen, Bundesländern, Ländern, Institutionen (z.B. Firmen, Schulen, Instituten) durch Pseudonyme und Oberbegriffe

1 Die Transkription orientiert sich an den Regeln für das Basistranskript nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT) (Selting et al. 1998) und an den Transkriptionsregeln von Küsters 2006, Rosenthal 2005 und Mayring 2002.

177

Ergänzungen

Transkriptionsregeln1

LISELOTTE OLSCHEWSKI

GERDA VON OELDE Ohrensessel

Sekretär Vitrine

Stehlampe Schrank

Toilette/Bad Bett

Einzelappartement (ca. 20 qm) mit Einrichtungs­gegenständen und Zimmer­aufteilung vom 03.05.2011.

Aufnahme ihrer Einrichtungsgegenstände (Nachtschrank und Sessel) und der Zeichnungen, die von einem Familienmitglied angefertigt wurden, vom 05.08.2011.

LUISE IMHOLZ

WALTER NIERMANN

Aufnahme der Einrichtungsgegenstände (Beistelltisch, Sessel, Stühle, Wohnzimmertisch) und ihrer selbstange­fertigten Puppen, sitzend auf einer kleinen Bank auf dem Beistelltisch vom 04.08.2011.

Aufnahme der Einrichtungsgegenstände (Computertisch mit Computer) und Urlaubsfotografie vom 08.08.2011.

179

Seniorenheimzimmer

Ergänzungen

MARTHA GEHL

INGRID LAMMERT Schrank Fernseher

Bett Kommode

Toilette/Bad Garderobe

Aufnahme der Einrichtungsgegenstände (Wandschrank, Sessel, Nachtschrank), Familienfotografien und Heiligenbilder vom 25.08.2011.

Einzelappartement (ca. 18 qm) mit Einrichtungs­gegenständen und Zimmer­aufteilung vom 04.05.2011.

PAUL TRAMPE Lampe

HILDE SCHULTHEIS

Tisch/Stühle

Schrank Nachttisch

Kommode

Bücherregal

Bett

Toilette/Bad

Einzelappartement (ca. 18 qm) mit Einrichtungs­gegenständen und Zimmer­ aufteilung vom 09.05.2011. Aufnahme ihrer Einrichtungsgegenstände (Schrankwand und Sessel) vom 25.08.2011.

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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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