Seelen im Wandel: Eine Studie zum Charakterbegriff bei Platon 9783495823828, 9783495490945


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Inhalt
Vorwort
Vorbemerkungen
1. Der Charakter – ein vielschichtiger Begriff
1.1 Heutige Verwendungsweise
1.2 Die platonische Verwendungsweise
1.2.1 Vorbemerkungen zur Terminologie
1.2.2 Eine erste Verortung des êthos
1.2.3 Auswirkungen der Seelenteilung
1.3 Die platonische Konzeption des Charakters
2. Charakterbildung und -veränderung
2.1 Über die Wirkung der Paideia
Plastizitätsthese:
Politeia
Gefahr für den Adressaten
Kognitiver Einwand
Freiwilliger Kontrollverlust
Angriff auf das thymoeides
Schädigung der epieikeis
Nomoi
Revision
Ambivalenz
Asymmetrische Ambivalenz
Mögliche Einwände
T1: Primat der Erziehung
T2: Primat der natürlichen Anlagen
T3: Gleichwertigkeit von Erziehung und Anlagen (Konvergenzthese)
2.2 Unheilbare Seelen – über die Grenzen der Paideia
Negationsthese:
Adaptionsthese:
Existenzthese der Unheilbaren:
2.3 Der Körper: Bedrohung oder Nutzen?
2.3.1 Phaidon (62c9–69e4, 76a1–e4, 79c2–9)
2.3.2 Timaios (86b1–90d7)
Distinktion
Graduelle Abstufung
Spezifikation
Aporetische Lesart
Konditionale Lesart
Exkurs: Zur Bedeutung von amathia
Determinismus vs. Intellektualismus
Zum Gleichgewicht zwischen Seele und Körper
2.3.3 Nomoi (V 728d3–e5, VI 782d10–783b1, VII 790c5–791c7)
2.3.4 Mögliche Einwände
2.4 Zur Rolle der Strafe
Humanitarismus
Medizinische Sicht
Anti-Exzess
Kommunikationsthese
Nicht-Idealität
Humanitarismus für die Menge
2.4.1 Diesseits
2.4.1.1 Strafrechtstheorie (Leg. IX 859b6–864c8)
2.4.1.2 Strafrechtspraxis
2.4.2 Jenseits
2.5 Weitere Faktoren: Zur Rolle der Umwelt, des Zufalls und der Götter
Der Einfluss der Umweltgegebenheiten
Menschlicher und göttlicher Einfluss
2.6 Einige Parallelen und Unterschiede zu Aristoteles
3. Die Bedeutung des Charakters für die Politik
3.1 Zur Analogie von Polis und Seele
These von der logisch-kausalen Verbindung (T1)
These von der reinen Analogiebeziehung (T2)
These von der unabhängigen logischen Kausalität (T3)
Timokrat
Oligarch
Demokrat
Tyrann
3.2 Charakterverfall
Gruppe 1 (logistikon-Anlage)
Gruppe 2 (thymoeides-Anlage)
Gruppe 3 (epithymêtikon-Anlage)
1.) Umschwung zum Timokraten
2.) Umschwung zum Oligarchen
3.) Umschwung zum Demokraten
4.) Umschwung zum Tyrannen
3.3 Der Charakter des Philosophen
3.3.1 Verschiedene Konzeptionen des Philosophen in der Politeia?
Möglichkeit 1: Drei Konzeptionen des Philosophen
Möglichkeit 2: Zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen
Kritik und Möglichkeit 3: Zwei logistikon-dominierte Charakterarten
Zur Vereinbarkeit von archontes und Dialektikern:
Zur Vereinbarkeit und zu den Unterschieden der natürlich entstandenen Philosophen:
3.3.2 Göttliche Philosophen?
3.3.3 Der Zwang und das Glück der Politeia-Philosophen
3.4 Charakterarten im Politikos
Schlusswort
Literatur
Ausgaben
Forschungsliteratur
Hilfsmittel
Stellenverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Seelen im Wandel: Eine Studie zum Charakterbegriff bei Platon
 9783495823828, 9783495490945

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Abida Malik

Seelen im Wandel Eine Studie zum Charakterbegriff bei Platon

BAND 97 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495823828

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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 97

https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Abida Malik

Seelen im Wandel Eine Studie zum Charakterbegriff bei Platon

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Abida Malik Changing Souls A Study of Plato’s Concept of Character What constitutes our character? How is it formed? Is character change still possible as an adult? What kind of role do natural disposition and education play in this process? These ever-relevant questions were already confronted by Plato. This study aims to draw as complete a picture as possible of the Platonic understanding of character, working out what Plato saw to be the ethical aspects and political consequences of our psychic condition.

The Author: This study presents the doctoral thesis of Abida Malik, which she defended at the University of Bonn in 2018. She has also studied in Florence and conducted research in Mexico City. Her primary research interest is in Ancient Philosophy and currently in Aristotle’s Metaphysics.

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Abida Malik Seelen im Wandel Eine Studie zum Charakterbegriff bei Platon Was macht unseren Charakter aus? Wie wird er geformt und ist eine Änderung im Erwachsenenalter noch möglich? Welche Rolle spielen bei diesem Prozess unsere natürlichen Anlagen und die Erziehung? Mit diesen immer noch hochaktuellen Fragen hat sich bereits Platon auseinandergesetzt. Die Studie zeichnet ein möglichst umfassendes Bild des platonischen Verständnisses vom Charakter und arbeitet neben den ethischen Aspekten auch die politischen Auswirkungen unserer seelischen Verfasstheit heraus.

Die Autorin: Abida Malik hat 2018 mit dieser Studie in Bonn promoviert. Weitere akademische Aufenthalte stellen Florenz und Mexiko-Stadt dar. Ihr primäres Forschungsinteresse gilt der antiken Philosophie und aktuell besonders der aristotelischen Metaphysik.

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49094-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82382-8

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Inhalt

Vorwort

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Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.

1.1 1.2

1.3 2. 2.1 2.2 2.3

2.4

Der Charakter – ein vielschichtiger Begriff Zum Bedeutungsspektrum des platonischen êthos und mögliche Übereinstimmungen mit dem heutigen Wortgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heutige Verwendungsweise . . . . . . . . . . . . . Die platonische Verwendungsweise . . . . . . . . . 1.2.1 Vorbemerkungen zur Terminologie . . . . . . 1.2.2 Eine erste Verortung des êthos . . . . . . . . 1.2.3 Auswirkungen der Seelenteilung . . . . . . . Die platonische Konzeption des Charakters . . . . .

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17 20 23 23 25 39 50

Charakterbildung und -veränderung . . . . . . . . . . . Über die Wirkung der Paideia . . . . . . . . . . . . . . Unheilbare Seelen – über die Grenzen der Paideia . . . . Der Körper: Bedrohung oder Nutzen? . . . . . . . . . . 2.3.1 Phaidon (62c9–69e4, 76a1-e4, 79c2–9) . . . . . . 2.3.2 Timaios (86b1–90d7) . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Nomoi (V 728d3-e5, VI 782d10–783b1, VII 790c5– 791c7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Mögliche Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rolle der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Diesseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1.1 Strafrechtstheorie (Leg. IX 859b6–864c8) . 2.4.1.2 Strafrechtspraxis . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Jenseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seelen im Wandel

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Inhalt

2.5 2.6 3. 3.1 3.2 3.3

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Die Bedeutung des Charakters für die Politik . . . . . . . Zur Analogie von Polis und Seele . . . . . . . . . . . . . Charakterverfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Charakter des Philosophen . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Verschiedene Konzeptionen des Philosophen in der Politeia? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Göttliche Philosophen? . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Der Zwang und das Glück der Politeia-Philosophen Charakterarten im Politikos . . . . . . . . . . . . . . . .

240 243 259 277

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

Literatur . . . . . Ausgaben . . . . . Forschungsliteratur Hilfsmittel . . . . .

. . . .

325 325 327 342

Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

357

3.4

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Weitere Faktoren: Zur Rolle der Umwelt, des Zufalls und der Götter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Parallelen und Unterschiede zu Aristoteles . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Studie stellt die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation dar, die ich im Juni 2018 an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn verteidigt habe. Die Abfassung und Fertigstellung dieser Arbeit wäre ohne die Hilfe unzähliger Menschen nicht möglich gewesen, denen ich an dieser Stelle meinen Dank aussprechen möchte. Ganz besonders danke ich natürlich meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Horn, durch dessen Betreuung und pointierte Kritik im Rahmen zahlreicher Diskussionen die Arbeit erst zu dem wurde, was sie heute ist. In unseren Gesprächen hat er mich auf mir selbst häufig noch nicht bewusste Probleme hingewiesen und mich dazu gebracht, bei aller Kleinteiligkeit der Textinterpretation meine Hauptfragestellung nicht aus dem Auge zu verlieren. Weiterer Dank gebührt außerdem Prof. Dr. Jörn Müller, der sich auch als Zweitgutachter die Zeit genommen hat, meine Texte sehr genau zu lesen, und der meine Arbeit durch seine sehr hilfreiche Kritik und Verbesserungsvorschläge stark vorangebracht hat. Darüber hinaus möchte ich Prof. Dr. André Laks danken, der während meines Forschungsaufenthaltes an der Universidad Panamericana in Mexiko-Stadt das Fortschreiten meiner Dissertation begleitet und mir die Möglichkeit gegeben hat, in einem Seminar einen Teil meiner Überlegungen zu präsentieren. Im Rahmen dieses Aufenthaltes möchte ich zudem Prof. Dr. Marcelo Boeri, Prof. Dr. David Lévystone und Dr. Elizabeth Mares für anregende Diskussionen danken. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich außerdem Dr. Eduardo Charpenel, der mich durch seine aristotelische Charakterstudie zu meinem eigenen Thema angeregt hat und mit dem ich zahlreiche Diskussionen sowohl zu Platon als auch zu Aristoteles und anderen philosophischen Themen geführt habe. Auch seine Literaturhinweise haben mir bei meiner Forschung sehr geholfen. Ich hoffe, dass unsere

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Vorwort

Freundschaft auch weiterhin so gut über den Atlantik hinweg fortgeführt wird! Nicht fehlen dürfen natürlich meine Kolleginnen und Kollegen und Zuhörerinnen und Zuhörer, die ich im Rahmen des Kolloquiums von Prof. Dr. Christoph Horn oder bei anderweitigen Tagungen kennenlernen durfte. Insbesondere Dr. Anna Schriefl danke ich für sehr hilfreiche und genaue Kritik und Literaturhinweise. Besonders erwähnt seien außerdem Dr. Diego de Brasi, Martin Brecher, Young Jin Kim, Dr. Bruno Langmeier, Claas Lüttgens, Thomas Macher, José Miguel Fernández, Rafael Moreno González, Dr. Sebastian Odzuck, Julia Petz, Alexander Samans, Dr. Maria Schwartz, PD Dr. WiebkeMarie Stock, Laura Summa, Dr. Tobias Thum, Dr. Denis Walter, Dr. Simon Weber und Yu Heejin. Zudem möchte ich Stefan Röttig danken, mit dem ich besonders im Rahmen unseres gemeinsam konzipierten Workshops zur Handlungspsychologie in der antiken Philosophie und Literatur mein Projekt diskutiert habe. Natürlich danke ich auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops für ihre Anmerkungen und Kritik. Außerdem danken möchte ich Martina Richtberg, an die ich mich bei organisatorischen Fragen und Problemen stets wenden konnte und mit der noch immer eine Lösung gefunden wurde. Für exzellenten Altgriechisch-Unterricht, der zum tieferen Verständnis der platonischen Texte stark beigetragen hat, danke ich Simon Lozo. Besonderer Dank gilt auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Sommerschule am Inter University Centre in Dubrovnik, wo ich 2015, 2016 und 2017 Teile meines Projekts vorstellen durfte. Für die Möglichkeit, an dieser Sommerschule teilzunehmen, sowie für weitere hilfreiche Kritik danke ich neben Prof. Dr. Christoph Horn auch den weiteren Veranstaltern Prof. Dr. Jure Zovko und Prof. Dr. Lise Zovko. Danken möchte ich zudem Dr. Viktoria Bachmann und Dr. Raul Heimann dafür, dass ich beim Workshop der AG »Philosophische Anthropologie in der Antike« an der FU Berlin im Mai 2017 eine meiner Thesen zur Diskussion stellen durfte, sowie für hilfreiche Anmerkungen. Darüber hinaus danke ich auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops für kritische Nachfragen und Hinweise. Außerdem danken möchte ich Prof. Dr. Nicholas D. Smith, der den West Coast Plato Workshop 2018 in Portland (Oregon) am Lewis & Clark College ausgerichtet hat, für die Möglichkeit, dort eine 10

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Vorwort

meiner Thesen vor internationalem Publikum testen zu dürfen. Für die hilfreichen Anmerkungen möchte ich mich bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken. Ebenso möchte ich mich bei Prof. Dr. C. H. Lüthy dafür bedanken, dass ich meine Hauptthesen an der Radboud University Nijmegen vorstellen durfte, und danke natürlich auch allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieses Seminars. Für die Ermutigung, eine Promotion überhaupt anzugehen, danke ich Prof. Dr. Daniela Pirazzini sowie Dr. Marco Menicacci. Ganz besonderer Dank gebührt meinen Eltern, die mich stets unterstützt und an mich geglaubt haben und sich ohne Beschwerden meine Probevorträge angehört haben. Ohne sie wäre die Promotion nicht möglich gewesen und ihnen widme ich dieses Buch. Außerdem danken möchte ich meinen Geschwistern Asif und Jasmin und meinen Freunden, besonders Lena, Romina, Sara und Sascha. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die ideelle und finanzielle Unterstützung meiner Promotion. Besonders die Doktorandenforen boten stets eine gute Bühne, um aktuelle Problemstellungen des eigenen Projekts anzusprechen und teilweise noch unfertige Kapitel zur Diskussion zu stellen. Allen Zuhörerinnen und Zuhörern auf diesen Foren möchte ich für kritische Hinweise und Anmerkungen danken, besonders Johanna Wagner. Den Herausgebern der Reihe »Praktische Philosophie« danke ich für die Aufnahme meines Buches sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Karl Alber für die gute Zusammenarbeit. Nicht zuletzt danke ich Sabrina für die Bereitstellung optimaler Rahmenbedingungen für große Teile der Lektüre im Café Schnurrke. Mit einer Katze auf dem Schoß liest es sich doch gleich viel besser. Abida Malik, im Januar 2019

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Vorbemerkungen

Was ist es, das den Menschen im Innersten ausmacht? Wie konstituiert sich unsere Persönlichkeit? Und vor allem: Wie werden wir denn erst zu den Menschen, die wir sind? Haben wir bei dem Prozess der Charakterbildung ein Wörtchen mitzureden oder wird unser Ich ausschließlich durch äußere Faktoren festgelegt? Welche Rolle spielen dabei die uns gegebenen natürlichen Anlagen, welche die Erziehung, welche die Umwelt? Ist es möglich, eine Typologie verschiedener Charaktere aufzustellen, und können wir unseren einmal ausgebildeten und mehr oder weniger gefestigten Charakter auch wieder verändern? Wenn ja, wodurch? Ist Umerziehung durch Strafmaßnahmen denkbar? All diese Fragen, die auch heute noch von Bedeutung und bisher bei weitem nicht vollständig geklärt sind, haben sich bereits antike Philosophen gestellt, unter ihnen kein geringerer als Platon. Einzelne dieser Fragestellungen wurden in Bezug auf Platon denn auch in zahlreichen Monographien oder längeren Artikeln versucht zu beantworten. 1 Eine umfassende Studie, die es sich zum Ziel setzt, die wichtigsten Facetten und Implikationen des platonischen Charakterbegriffes zu untersuchen und zu diskutieren, scheint bisher allerdings in der umfangreichen Forschungsliteratur zur platonischen Seelenlehre zu fehlen. 2

Für einen allgemeinen Überblick über die platonische Seelenlehre vgl. Steiner 1992b, Robinson 1995, Lorenz 2008, Müller 2009a. Für die Untersuchung der Charakterologie der Politeia vgl. Williams 1973, Hellwig 1980, Porcheddu 1984, Blössner 1997, 2007, Ferrari 2003, 2009a. Zur Bedeutung der Strafe vgl. die umfangreichen Untersuchungen von Mackenzie 1981 und Saunders 1994. 2 Auf der Metaebene gibt es zwar Studien, die den Charakter thematisieren; jedoch richten sie den Blick auf die Dialogform und damit die Rolle der einzelnen Dialogcharaktere und deren Bedeutung für die platonische Philosophie (vgl. Blondell 2003, Cornelli 2016). Eine inhaltliche Untersuchung der Aussagen im platonischen Korpus bezüglich des Charakters, die nicht nur einzelne Aspekte oder Themen beleuchtet, gibt es meines Wissens aber noch nicht. 1

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Vorbemerkungen

Um eine solche Untersuchung in Angriff zu nehmen, muss man vor der eigentlichen inhaltlichen Interpretation zunächst die Begrifflichkeiten klären: Was ist mit dem Wort »Charakter« genau gemeint? Welche der heutigen Bedeutungen entspricht am ehesten der platonischen Verwendungsweise? Welche griechischen Wörter verwendet Platon, um dieses Konzept zu bezeichnen und welche treffen es am präzisesten? Daher wird im ersten Kapitel zunächst versucht, sich an eine Definition des Charakters anzunähern, indem zuerst diejenige der heutigen Bedeutungen isoliert wird, die sich in den eingangs genannten Fragen ausdrückt, d. h. der Charakter als ausgebildete Persönlichkeit, als unser Ich. Dann folgt eine Analyse des Wortes êthos im platonischen Korpus, da mit diesem Wort am ehesten das Konzept erfasst wird, das mich in der vorliegenden Studie interessiert. Andere Wörter mit einem weiteren Bedeutungsspektrum (wie beispielsweise tropos) oder Textstellen, die kein bestimmtes Substantiv nennen, aber ganz offensichtlich die relevanten Fragen diskutieren, werden damit aber keinesfalls aus der Untersuchung verbannt, ganz im Gegenteil. Durch die êthos-Analyse soll lediglich sichergestellt werden, dass es gerechtfertigt und geboten ist, die entsprechenden Textstellen in die Studie miteinzubeziehen und zu diskutieren – oder sie gegebenenfalls auszuschließen, wenn sich dort eine gänzlich andere Bedeutungsebene des Wortes manifestiert. Im zweiten Kapitel (»Charakterbildung und -veränderung«) werden dann die Hauptfragen diskutiert: Die Untersuchung beginnt mit der Wirkung der Paideia, da uns die Erziehung in der Charakterentwicklung selbstverständlich enorm beeinflusst (2.1). Aber nicht immer hat die Erziehung Erfolg: Bestimmte Individuen sind nicht mehr zu retten. Mit diesen sogenannten unheilbaren Seelen befasst sich der zweite Abschnitt, d. h. es geht um vollständig verdorbene Charaktere, die keiner Besserung mehr fähig sind (2.2). Dem Körper schließlich ist ein längeres Unterkapitel gewidmet, in dem sowohl sein Bedrohungspotential als auch Möglichkeiten, ihn positiv nutzbar zu machen, diskutiert werden (2.3). Weitere Aspekte, die Platon in Bezug auf die Charakterentwicklung und -veränderung betrachtet, sind außerdem die Rolle der Strafe, die auf heilbare wie unheilbare Charaktere angewendet wird, dabei aber eine unterschiedliche Funktion zum Ausdruck bringt, und im Diesseits wie im Jenseits von Bedeutung ist (2.4). Nicht fehlen dürfen zudem die einzelnen, über das Korpus verstreuten Aussagen zum Einfluss der geographischen Gegebenheiten, der Götter und des Zufalls auf den menschlichen Cha14

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Vorbemerkungen

rakter (2.5). Insbesondere die Betonung auf der richtigen Heranbildung der unteren Seelenvermögen erinnert stark an die aristotelische Position, sodass das Kapitel mit einer knappen Gegenüberstellung der Ergebnisse mit den Ansichten Aristoteles’ schließt (2.6). Da Ethik und Politik bei Platon eng verzahnt sind, werden im letzten und dritten Kapitel (»Die Bedeutung des Charakters für die Politik«) die politischen Auswirkungen der verschiedenen Charakterarten näher untersucht und in diesem Zuge wird auch die Charakterologie aus Rep. VIII–IX herangezogen und analysiert. Insbesondere der für die Philosophenherrscher der kallipolis geforderte Charakter kann mithilfe einer genaueren Definition auch für die Lösung weiterführender Probleme (wie der Aufstieg aus der Höhle und die anschließende Rückkehr) nutzbar gemacht werden. Da ich in meiner Studie möglichst umfassend die platonischen Aussagen zum Charakter diskutieren möchte und sich darüber hinaus die Frage stellt, ob sich möglicherweise eine gesamtplatonische Position zum Charakter festhalten lässt, wird das gesamte platonische Korpus (bis auf die Briefe) in die Untersuchung miteinbezogen. 3 Bei einer ersten Analyse fällt auf, dass sich sowohl die Textstellen, die explizit das êthos thematisieren, als auch diejenigen, die die relevanten Fragen diskutieren, in Politeia und Nomoi häufen, sodass sich die Studie auf diese beiden Dialoge konzentriert. Wenn man eine Interpretation über mehrere Dialoge hinweg versucht, stellt sich selbstverständlich die Frage nach der Kontinuität und Verbindung der platonischen Dialoge untereinander. Da ich hoffe, im Laufe der Textanalysen zeigen zu können, dass sich die Dialoge der verschiedenen Werkphasen doch durch eine weitgehende Kohärenz auszeichnen und die festzustellenden Unterschiede entweder Fehlinterpretationen geschuldet sind und damit aufgelöst werden können oder in einem unterschiedlichen Dialogkontext begründet sind, sodass in verschiedenen Dialogen unterschiedliche Aspekte betont werden, vertrete ich eine Interpretation, die ich als schwach unitarische Lesart bezeichnen würde. Schwach deshalb, weil ich nicht davon ausgehe, dass Platon von Beginn an eine bestimmte Haltung zu allen in den Dialogen diskutierten Problemen vertreten hat und diese nach und nach niedergeschrieben hat. Zudem würde ich nicht behaupten, dass die Seelen-

Unechte Dialoge schließe ich ebenfalls aus. Da die Echtheit des 7. Briefes bisher nicht sicher erwiesen ist (vgl. Söder 2009, S. 20 f.), wird auch er nicht miteinbezogen.

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Vorbemerkungen

teilung zur Zeit der Abfassung des Phaidon bereits komplett ausgearbeitet war. 4 Bei der Analyse der einzelnen Textpassagen gehe ich hermeneutisch und kontextsensitiv vor, da gerade bei solch einer umfassenden Studie die Gefahr besteht, dass Textstellen, die den Charakter thematisieren, aus verschiedenen Dialogen genommen und für sich allein interpretiert, also völlig aus dem Kontext gerissen werden. Um das zu vermeiden, wird berücksichtigt werden, wer wo und wann im Dialog seine jeweilige Ansicht hervorbringt und welche Funktion die Passage für die Hauptfragestellungen des Dialogs einnimmt, sodass auch deutlich wird, ob die getätigte Aussage nicht später doch widerrufen wird. Denn gerade bei einem Autor wie Platon lassen sich die einzelnen Dialogteile nicht außerhalb des gesamten Dialogs betrachten. Diese Überlegungen stehen also stets im Hintergrund, ohne aber meine Hauptfragestellungen der charakterlichen Heranbildung und Veränderung zu überschatten 5, auf denen der Schwerpunkt der Untersuchung liegt.

Andreas Graeser behauptet in seiner stark unitarischen Lesart, dass die Seelendreiteilung in allen Werkphasen vorhanden war (vgl. 1969). 5 Es wird beispielsweise vorausgesetzt, dass ein bestimmter Dialog verschiedene Aspekte thematisiert, ohne genauer zu erörtern, welcher davon das eigentliche Thema ausmacht – ausgenommen in den Fällen, wo diese Entscheidung relevant für die Interpretation der untersuchten Charaktertextstellen ist. 4

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1. Der Charakter – ein vielschichtiger Begriff Zum Bedeutungsspektrum des platonischen êthos und mögliche Übereinstimmungen mit dem heutigen Wortgebrauch

Innerhalb der Platon-Forschung wurden bereits zahlreiche Studien im Bereich der platonischen Psychologie und Moralphilosophie durchgeführt, aus denen die große Bedeutung hervorgeht, welche die Seele in den platonischen Dialogen einnimmt. 1 In welchem Verhältnis genau Seelen- und Charakterbegriff zueinander stehen und wie das Wort êthos genau verwendet wird, hat bisher jedoch keine große Beachtung gefunden. 2 Dabei lassen sich aber mindestens 30 Textstellen finden, die deutlich machen, dass dieses Verhältnis und insbesondere das Phänomen des Charakters selbst 3 für die Philosophie Platons eine große Rolle spielen und sich entsprechend durch sein ganzes Werk ziehen. Dies lässt sich daran festmachen, dass für viele kontrovers diskutierte Themenbereiche der Seelenlehre die Beschaffenheit der Seele entscheidend ist, d. h. der ihr innewohnende Charakter. So wird in der vorliegenden Studie ersichtlich werden, dass der Charakter das entscheidende Kriterium für die gesamte Lebensführung des Menschen darstellt und sich die Frage nach einem gelungenen Leben am Charakter entscheidet. Das rührt daher, dass der Charakter das eigentliche Wesen des Menschen darstellt, ein bloßes oberflächliches Betrachten der Seele genügt nicht für ein Erkennen des Menschen. 4 Daraus folgt zwangsläufig, dass es der Charakter ist, der die PersonaVgl. für die Seelenlehre u. a. Robinson 1995 und für eine Überblicksdarstellung Lorenz 2008 und Müller 2009a. Für einen Überblick zur Moralphilosophie vgl. u. a. Annas 2008 und Horn 2009. 2 Die konkrete Verbindung von êthos und psychê scheint bisher nur Francesco Aronadio näher in Augenschein genommen zu haben (vgl. Aronadio 2010, 2015). 3 Speziell auf den Charakter bezogen finden sich zahlreiche weitere Textpassagen (mind. 40). Ich beziehe mich hier auf zusammenhängende Textpassagen, in denen das Wort êthos auch öfter vorkommen kann. Eine Auflistung der einzelnen Textstellen von êthos im gesamten Korpus (einschließlich des VII. Briefes) hat bereits Aronadio unternommen, der hier 123 zählt (vgl. 2015, S. 104). 4 Vgl. beispielsweise Rep. IX 576e6–577a5. 1

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Der Charakter – ein vielschichtiger Begriff

lität eines Menschen konstituiert und den verschiedenen Menschentypen, die in den platonischen Dialogen ausformuliert und im dritten Kapitel dieser Studie analysiert werden, zugrunde liegt. Somit stellt das Betrachten eines Charakters nicht nur die Bedingung für das Erkennen von Menschen, sondern auch für deren Bewertung dar; die Seele wird also anhand ihres Charakters beurteilt, woraus sich weitreichende Konsequenzen im Diesseits (u. a. hinsichtlich der Partnerwahl, der Bestimmung der Herrscher in der kallipolis und des Strafrechts) sowie im Jenseits hinsichtlich des Totengerichts ergeben. In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie die Existenz von guten und schlechten Charakteren erklärt werden kann. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Erziehung, die sowohl als Ausgangspunkt wie auch als Ziel den Charakter hat. Als Ausgangspunkt stellt der Charakter im Sinne einer inneren Einstellung oder Gesinnung die Basis und Begründung dar für die Bestimmung der erzieherischen Maßnahmen und Regeln, während das Ziel einer solchen Erziehung in der Hervorbringung eines bestimmten Charakters aus bereits gegebenen guten oder schlechten charakterlichen Anlagen besteht, sodass dieser Prozess als eine Art Assimilation an die Grundeinstellungen einer Gesellschaft verstanden werden kann. 5 Dabei wird zudem untersucht werden, welche Faktoren innerhalb und außerhalb der Erziehung die Charakterformung und -änderung beeinflussen und inwieweit eine Änderung auch nach der Jugendzeit noch möglich ist. 6 Aronadio sieht die Erziehung als die »pressione socio-culturale che induce l’assunzione di un certo ἦθος.« (2010, S. 515) Das êthos stellt für ihn u. a. »il modo visibile d’essere dell’anima« (ebd., S. 516) dar, das von außen her geformt werden könne (vgl. ebd., S. 515 f.). Der springende Punkt ist m. E. aber der, dass man sich bei der Konzeption der Erziehung an einer bestimmten inneren Einstellung ausrichtet, die der Erziehende gutheißt und die zwar an anderen Personen sichtbar werden kann, aber nicht muss. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass Menschen ihren ungerechten Charakter verbergen können und in der Öffentlichkeit den Schein der Gerechtigkeit erwecken und dass ebenso der umgekehrte Fall möglich ist, sodass inneres Wesen und äußere Erscheinung nicht zwangsläufig korrespondieren (vgl. Rep. II 361a5–d3). Aronadio ist darüber hinaus der Meinung, dass Platon keine Theorie des êthos erarbeite und das Wort auch nicht streng technisch verwende (vgl. 2010, S. 491). Später hingegen scheint er zumindest hinsichtlich der technischen Verwendung seine Meinung zu revidieren, da er nun von einem »uso quasi tecnico« (2015, S. 131) spricht. Eine Theorie des Charakters, die nicht immer an die Verwendung von êthos gekoppelt sein muss, scheint hingegen – wie hier in der Einleitung skizziert – durchaus vorhanden zu sein. 6 So sind für die Entstehung von charakterlichen Anlagen auch die Umweltbedingungen, der Zufall, die Götter und die Menschen selbst von Bedeutung, wie sich in 5

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Dies führt zu einem weiteren bedeutenden Bereich: dem Strafrecht. Anhand einiger Textstellen wird deutlich, dass sowohl im Diesseits als auch im Jenseits für Platon stets die charakterliche Disposition als Kriterium für die Art der Bestrafung und das Strafmaß fungiert. 7 In diesem Zusammenhang spielt die Möglichkeit einer Charakteränderung eine große Rolle. Da die Bedeutung des Charakters in den platonischen Dialogen bisher noch nicht umfassend erforscht wurde 8, macht es sich die vorliegende Studie zur Aufgabe, die bestehenden Diskussionen und Forschungsergebnisse zu den verschiedenen Menschentypen (Kap. 3), zur Erziehung, Aufführungspraxis und zum Strafrechtsdiskurs sowie zu den Unterweltsmythen auf den Charakter hin neu zu untersuchen oder zu überprüfen und in diesem Zuge zugleich dessen entscheidende Funktion in den genannten Bereichen aufzudecken (Kap. 2). Da Platon an den relevanten Textstellen größtenteils das Wort êthos verwendet 9, das zudem häufig 10 in Zusammenhang mit psychê Kap. 2.5 zeigen wird. Für die Ausbildung und Änderung eines Charakters wird neben der Erziehung im Timaios auch eine körperbasierte Erklärung geliefert (vgl. Kap. 2.3.2; Gill 2000, 2012, Jedan 2010). Für eine erste überblicksartige Darstellung der Thesen, die in dieser Studie vertreten werden, vgl. Kap. 1.3. 7 Die Bedeutung der charakterlichen Disposition für das Strafrecht und Platons Eschatologie hat bereits Saunders bezüglich der Nomoi festgestellt (vgl. 1994). Vgl. bezüglich der Bestrafung außerdem Mackenzie 1981. Auch sie sieht die »disposition« (1981, S. 152 (Fn. 59), Kursiv. im Orig.) eines Verbrechers als ausschlaggebenden Faktor an, versteht darunter aber nicht speziell den Charakter, sondern insgesamt »some further attribute of a person which, although it also suggests a tendency to commit crimes, describes some morally wrong state of mind, or character, or soul, which is in turn the cause of wrongdoing.« (ebd., S. 152 (Fn. 59); vgl. ebd., S. 152–156) 8 Meist beschränkt sich die Behandlung und/oder die Hervorhebung der Relevanz des Charakters auf bestimmte Bereiche wie das Strafrecht (vgl. Mackenzie 1981, Saunders 1994), die Erziehung (vgl. Gill 1985, Klein 1989, Woerther 2008) oder die Untersuchung eines bestimmten Menschentyps (vgl. z. B. Patterson 1987, Scott 2000, Bobonich 2002). Schließlich wird der Charakter bei der Analogie von Polis und Seele thematisiert (vgl. z. B. Brown 1983, Kühn 1994). Allgemeine Untersuchungen zur Personalität und zum Individuum finden sich bei Gill 1996 bzw. Hall 1963 und Rankin 1964 (Rankin betont den Charakter im Rahmen der Erziehung, spricht aber insgesamt v. a. von Seele und Körper; Gills Studie beschränkt sich nicht auf Platon und konzentriert sich im Platon-Kapitel auf die Erziehung der Seelenteile in der Politeia). 9 Die Studie beschränkt sich jedoch nicht auf die Interpretation von Textpassagen, in denen das Wort êthos vorkommt, sondern bezieht auch andere Textstellen mit ein, wenn diese inhaltlich vom Charakter handeln, wie dies beispielsweise bei tropos der Fall sein kann. 10 Mindestens 30 Textstellen zeigen einen Zusammenhang von êthos und psychê auf. Seelen im Wandel

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auftaucht, wird in diesem ersten Kapitel zunächst die Semantik des êthos geklärt werden, woraus die enge Verbindung zur Seele deutlich werden wird, die in der Inhärenzthese zum Ausdruck kommt (s. u.). 11 Dies stellt die Voraussetzung für die weitere Untersuchung dar und damit für die Untermauerung der hier dargelegten Behauptungen. Das Kapitel schließt mit einem ersten Überblick über die Hauptthesen, die in dieser Studie vertreten werden (Kap. 1.3).

1.1 Heutige Verwendungsweise Spricht man heute vom Charakter einer Person oder einer Sache, so ist keineswegs direkt klar, was mit diesem Wort gemeint ist, wenn man nicht den Kontext miteinbezieht, in dem die entsprechende Aussage getätigt wird. Eindeutig scheint nur, dass in der heutigen Verwendungsweise von »Charakter« die Grundbedeutung (»χαρακτήρ = ›Gepräge‹« 12) nicht, oder wenn, dann nur in versteckter, metaphorischer Weise aufscheint. Dafür hat das Wort heute ein viel weiteres, aber doch recht unklares Bedeutungsspektrum erlangt. So stellt auch Ch. Seidel fest: Im modernen Sprachgebrauch ist die Bedeutung von hC.i so uneinheitlich und weit geworden, daß der Begriff kaum noch exakt zu fassen und nur aus dem jeweiligen Kontext zu verstehen ist. In den verschiedensten Bereichen bezeichnet er ein relativ konstantes, typisches Wesensmerkmal. 13

Seidel bemerkt zu Beginn seiner geschichtlichen Betrachtung des Begriffs aber zudem, dass sich neben »Gepräge« früh eine zweite Bedeutung etabliert habe, nämlich »die moralische Bedeutung ›HaupteigenWenn die in diesem Kapitel aufgeführten Textstellen allein auf die Semantik des êthos hin untersucht werden, wird dessen philosophische Bedeutung noch nicht klar, da die daran herausgearbeitete Inhärenz für Platon offensichtlich kein kontroverses Thema darstellte. Eine solche Untersuchung, die die enge Verbindung von Charakter und Seele aufzeigt, ist aber unabdingbar, wenn in weiteren Schritten der Charakter als Personalitäts- und Bewertungskriterium dargestellt werden soll. 12 HWPh, s. v. (I.) 13 HWPh, s. v. (I.) Der vorliegende kurze Abschnitt hat keineswegs den Anspruch, die heutige Verwendungsweise des Wortes umfassend und genau zu untersuchen, da dies auch nicht dem Anliegen des Projektes entspräche, das sich auf den Charakterbegriff bei Platon beschränkt. So soll dieser kurze Abriss lediglich dazu dienen, einen ersten Überblick über das heutige Bedeutungsspektrum von »Charakter« zu bekommen, um so in einem zweiten Schritt mögliche Übereinstimmungen und Kontraste zur platonischen Verwendungsweise herausstellen zu können. 11

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schaft‹« 14. 15 Diese Verwendungsweise findet sich nun auch oft im heutigen Gebrauch wieder, beispielsweise, wenn man einen Menschen aufgrund seines Charakters lobt oder tadelt. Wenn Christopher Gill erklärt, was er mit »character« oder »personality« meint, wenn er die platonischen Erziehungsrichtlinien untersucht, spricht er von zwei Konzeptionen: One is the idea that a person is not simply a collection of isolated psychological functions (such as perceptions, thoughts, intentions, feelings), but constitutes some kind of cohesive unity. The other is the idea that this psychological unit has, in each case, some distinctive individuality, making one person significantly different from another. 16

Mit Verweis auf eine nähere Diskussion bei Herbert David Rankin ist Gill der Ansicht, dass Individualität Platon kaum interessiert hätte. 17 Gerade die Ausführungen der verschiedenen Charakterarten in Rep. VIII–IX scheinen ihm dabei Recht zu geben. Die erste der beiden Erläuterungen Gills trifft aber auch genau den Aspekt, der heute im Deutschen mit dem Wort »Charakter« bezeichnet werden kann und der für die vorliegende Studie von Relevanz ist. Grundsätzlich scheinen sich im Alltagsgebrauch mindestens drei verschiedene Bedeutungsebenen zu eröffnen, sodass sich der Charakter je nach Kontext auf Folgendes beziehen kann: (1) Stärke der Persönlichkeit (2) Erworbene, gefestigte moralische Grundausrichtung eines Menschen (3) Typische Eigenschaft Der zweite Punkt könnte somit als Anknüpfung oder Weiterführung der frühen Bedeutung der Haupteigenschaft gesehen werden. Der dritte Punkt scheint sich zwar auch dafür anzubieten, allerdings kann der Charakter auch ganz außerhalb des moralischen Feldes eine typische Eigenschaft einer Sache oder eines Menschen bezeichnen, z. B., wenn man vom Charakter eines Kunstwerks spricht. Man könnte von einem allgemein-deskriptiven und einem konkreten ethischen GeHWPh, s. v. (I.) Vgl. ebd., s. v. (I.). Vgl. außerdem den Artikel von Marcia Homiak, die den moralischen Charakter untersucht, und zwar »in the Greek sense of having or lacking moral virtue.« (Homiak 2016) 16 Gill 1985, S. 1. 17 Vgl. Rankin 1964, Gill 1985 (S. 1 und Fn. 3). Vgl. zur Frage der Individualität aber auch Hall 1963. 14 15

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brauch sprechen, da je nach Kontext der Charakter einer Person oder gar eines Dinges lediglich beschrieben wird, ohne eine ethische Wertung folgen zu lassen 18, oder es verbindet sich direkt ein ethischer Bezug, wenn es beispielsweise um einen tapferen Menschen geht, der für diese Eigenschaft anerkannt und gelobt wird. Ludwig J. Pongratz macht außerdem auf die Unterteilung des Begriffes in der Psychologie aufmerksam, nach der man zwischen Total- und Partialbestimmungen unterscheide, sodass einerseits mit dem Charakter die gesamte Persönlichkeit oder das Selbst eines Menschen bezeichnet werden könne wie auch nur ein bestimmter Teil davon. 19 Dem würden Punkt 2 und 3 der oben aufgeführten Einteilung ungefähr entsprechen, mit der Ausweitung, dass im Alltagsgebrauch des Wortes der Charakter als typische Eigenschaft sich nicht notwendig auf den Menschen beschränken muss. Darüber hinaus weist Pongratz auf zwei Fragen hin, die es auch für diese Studie zu beantworten gilt: Erstens, ob der Charakter eher statisch oder eher dynamisch zu verstehen sei, wobei die ursprüngliche Bedeutung von »Charakter« eher die statische Interpretation untermauere. 20 Zweitens, ob der Charakter angeboren ist oder erworben wird (Diskussion zwischen Anlage- und Milieutheoretikern). Heute würden allerdings die meisten Forscher einer Konvergenztheorie anhängen, die beide Positionen vereint und die Pongratz folgendermaßen zusammenfasst: »Durch angelegte Dispositionen, prägende Außeneinflüsse und eigene Aktivität entsteht der C. in seiner individuellen Gestalt.« 21 Es bleibt zu untersuchen, ob und inwiefern nun bei Platon die zuvor erwähnten allgemein-deskriptiven und konkreten ethischen Verwendungsweisen von »Charakter« aufzufinden sind und ob er den Schwerpunkt, wie zu erwarten wäre, eher auf den ethischen Aspekt legt. 22 Interessant zu sehen ist außerdem, ob sich auch schon bei Platon eine ähnliche psychologische Unterteilung auffinden lässt, die nach Gesamtperson und einzelnen Charakteristika unterscheidet, Vgl. das eben erwähnte Kunstwerk. In Bezug auf den Menschen hat z. B. eine starke Persönlichkeit »Charakter«. 19 Vgl. HWPh, s. v. (II.) 20 So »zielt der C.-Begriff seinem ursprünglichen Wortsinn (»Gepräge«) gemäß vorwiegend auf den statischen Aufbau der Person und schließt die relativ invarianten Resultate der Persönlichkeitsentwicklung zusammen.« (HWPh, s. v. (II.)). 21 HWPh, s. v. (II.); vgl. ebd., s. v. (II.). 22 Vgl. dazu bereits Müller 2015, der in Bezug auf die Beschreibung des Menschen bei Platon von einer deskriptiven und normativen Anthropologie spricht. 18

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und schließlich, wie er die grundlegenden inhaltlichen Fragen nach der Veränderbarkeit des Charakters und ursprünglichem Charaktererwerb, wenn dieser denn nicht schon von Geburt an festgelegt sein sollte, beantwortet. Da die letzten beiden Fragen Hauptthemen der vorliegenden Studie ausmachen und über die bloße Verwendungsweise des Wortes hinausgehen, wird ihre eingehendere Analyse im zweiten Kapitel erfolgen, sodass sich hier im ersten Kapitel zunächst auf den Gebrauch von »Charakter« bei Platon beschränkt wird.

1.2 Die platonische Verwendungsweise 1.2.1 Vorbemerkungen zur Terminologie Wenn man nun den Charakter bei Platon untersuchen will, und zwar im Sinne der innerseelischen Konstitution oder Persönlichkeit, da mit dieser Bedeutung m. E. die Fragen nach Charakterveränderung oder Charaktertypen am besten erfasst werden können 23, dann bietet es sich an, das griechische Wort êthos näher in Augenschein zu nehmen. 24 Allerdings müssen die entsprechenden Textstellen daraufhin geprüft werden, ob dort êthos auch tatsächlich in der Bedeutung »Charakter« vorliegt oder doch anders übersetzt werden muss, um so sicherzustellen, dass die Passagen für die Studie verwendet werden dürfen. Um sich die Bedeutung von êthos im platonischen Korpus klarzumachen, ist es zudem hilfreich, die genaue Verbindung von êthos und psychê zu analysieren. Diese Verbindung ist bei Platon bisher noch weitgehend ununtersucht; nur Francesco Aronadio 25 stellt hierzu einige Thesen auf. Schaut man zunächst im Wörterbuch nach, so ist nicht bei allen Bedeutungen von êthos ein Bezug zur Seele zu erkennen. Die Bedeutungen erstrecken sich dabei neben BezeichnunDenn dabei geht es gerade nicht um typische Eigenschaften oder Eigenheiten einer Person, sondern um die Persönlichkeit. 24 Da der Schwerpunkt der Studie nicht auf der Wortgeschichte von êthos liegt, sondern auf der Konzeption des Charakters als Persönlichkeit oder Ich, wie sie Platon aufgefasst hat, beschränke ich mich hier auf die Untersuchung des Wortes bei Platon. Für eine Darstellung der Vorgänger Platons vgl. Charpenel 2017 (S. 27–57), der in seiner Untersuchung die aristotelischen Vorgänger darstellt und dabei neben Platon auch weit frühere Autoren nennt (wie Pindar oder Empedokles). 25 Vgl. Aronadio 2010, 2015. Der frühere Artikel konzentriert sich auf die Politeia, während der neuere das gesamte Korpus untersucht. 23

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gen für einen vertrauten Ort, Sitten oder Gewohnheiten auch auf die Disposition oder den Charakter 26. Vorauszuschicken sind zudem Aronadios Bemerkungen hinsichtlich der Terminologie, der das êthos als einen moralisch neutralen Begriff sieht, der rein deskriptiv auf die Seele anzuwenden sei. Er listet dabei die Vielfalt des semantischen Feldes des êthos auf, das sich aus einer Untersuchung des gesamten platonischen Korpus ergebe. Er unterscheidet dabei vier verschiedene Bedeutungen: (1) Gewohnheit, Verhalten (mit anderen geteilt vs. individuell) (2) Wesen, Charakter (bestimmte Seelenbeschaffenheit der gesamten Seele oder auch nur eines Teils sowie prärationaler Charakter) (3) allgemeine Seinsart eines Individuums (4) gewohnter Ort. Auf die Politeia bezogen wie auch insgesamt sei die Bedeutung von (2) vorherrschend. 27 Auch die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem êthos, insofern es als »Charakter«, »charakterliche Anlage«, »charakterliches Merkmal« oder als zugrundeliegende »Gesinnung« übersetzt werden kann. Sonstige Ansichten zur Verwendung des êthos in den platonischen Dialogen scheinen sich größtenteils auf vereinzelte Anmerkungen in den Kommentaren und einen Abschnitt bei Eduardo Charpenels Studie zum aristotelischen Charakterbegriff 28 zu beschränken. Aronadio wird hier erwähnt, da die vorliegende Studie vom oben dargelegten Bedeutungsspektrum abweicht, insofern sie nicht – wie Aronadio dies tut – die Doppelfunktion 29 des êthos hervorhebt, da es beim êthos m. E. hauptsächlich um die Innerlichkeit geht. Zudem bezieht sich ihm zufolge das êthos auf die Beschaffenheit der Seele in ihrer »empirischen Bekleidung« 30. Er geht damit von keiner echten Inhärenz aus. 31 Durch eine Analyse einiger relevanter Textstellen aus dem platonischen Korpus soll im Folgenden gezeigt werden, dass

Vgl. LSJ, s. v. und Aronadio 2010 (S. 494), 2015 (S. 105), der ebenfalls auf den Eintrag hinweist. 27 Vgl. Aronadio 2010, S. 493 f., 499 f.; 2015, S. 107 f., 110, 146. 28 Vgl. Charpenel 2017, S. 45–57, 86–92. Da er das êthos bei Aristoteles untersucht, ist seine Studie v. a. für Kapitel 2.6 interessant und wird dort genauer ausgeführt. 29 Vgl. Aronadio 2010, S. 510, 516; 2015, S. 108 f., 112 f., 115, 132, 134 f., 137, 141 f. Er sieht das êthos an der Schnittstelle zwischen Innerem und Äußerem, gesteht aber dennoch zu, dass der platonische Gebrauch mehrheitlich auf die Innerlichkeit abziele (vgl. 2015, S. 105). 30 Aronadio 2010, S. 510 (eigene Übers.). 31 Darunter verstehe ich die Tatsache, dass sich das êthos bis auf wenige Ausnahmen stets auf das Innere der Seele bezieht. 26

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eine solche Inhärenz aber angenommen werden muss; folgende These bildet daher die Grundlage der Untersuchung: Inhärenzthese Der Charakter (êthos) bezeichnet die Beschaffenheit der Seele, d. h. (ab der Seelenteilung) die Hierarchiebeziehung der einzelnen Seelenteile untereinander und bezieht sich daher auf das Innerste des Menschen. 32 Alle Entitäten, denen ein êthos zugestanden wird, besitzen dieses nur insofern, als sie auch einer Seele teilhaftig sind 33 oder – im Falle der Polis – in Analogie zur Seele des Individuums gesetzt werden.

1.2.2 Eine erste Verortung des êthos Bei der Betrachtung mehrerer Textstellen wird deutlich, dass das êthos der Seele zugehörig ist. Im Folgenden wird eine Analyse dieser Textstellen einerseits diese Zugehörigkeit aufzeigen und andererseits Aronadios These zu widerlegen suchen, dass das êthos an der Schnittstelle zwischen Äußerem und Innerem liege 34 und damit beiden Sphären zugehörig sei. Vielmehr werde ich zu zeigen versuchen, dass sich das êthos auf den inneren Bereich der Seele bezieht. Bereits im Lysis, in welchem als frühester Dialog ein Auftreten dieses Wortes zu verzeichnen ist, scheint diese Zusammengehörigkeit auf. Sokrates spricht in Ly. 221e5–222a6 von den Bedingungen von Freundschaft: »Und wenn also irgendjemand einen anderen begehrt, Kinder«, fuhr ich fort, »oder in ihn verliebt ist, würde er ihn doch weder begehren noch verliebt in ihn sein oder ihm freund sein, wenn er nicht eigentlich seinem Geliebten irgendwie angehörig (oikeios) wäre, sei es in bezug auf seine Seele (kata tên psychên) oder in bezug auf einen bestimmten Charakter seiner

Damit stimme ich bezüglich der Innerlichkeit mit Aronadio überein (vgl. 2010, S. 497 f.; 2015, S. 105, 112, 144–146). Auch wenn sich die innerliche Beschaffenheit auf äußerliche Handlungen oder Verhaltensweisen auswirken kann, stellt dies m. E. kein Argument für die äußere Sphäre des êthos dar, da die Betonung stets auf dessen innerem Ursprung liegt, wie sich anhand dieses Kapitels noch zeigen wird. 33 Die Inhärenz des Charakters stellt auch Jonathan Lear bezüglich der Politeia fest, geht allerdings nicht näher auf diesen Punkt ein (vgl. 1992, S. 190, 192). 34 Vgl. Aronadio 2010, S. 510, 516; 2015, S. 108 f., 112 f., 115, 132, 134 f., 137, 141 f. 32

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Seele (kata ti tês psychês êthos), oder sein Verhalten (tropous) oder sein Aussehen (eidos).« (Ly. 221e7–222a3; übers. Bordt)

Nur dann liebe man jemanden, wenn der Geliebte einem selbst angehörig (oikeios) sei. Diese Angehörigkeit bezieht sich allerdings nicht auf den Körper, sondern auf die Seele (kata tên psychên) oder auf bestimmte Attribute der Seele, unter die auch das êthos fällt und welches zusammen mit dem tropos oder eidos einer Seele aufgelistet wird. Somit könnte das êthos eine bedeutende Rolle in der Konstitution von Freundschaften spielen. Betrachtet man aber den Kontext, so können wir die vorliegende Aussage inhaltlich nicht als sicher gegeben annehmen: Michael Bordts Einteilung zufolge handelt es sich bei dieser Textstelle um den fünften Schritt eines Erklärungsmodells für die Freundschaft. Da sich dieser Schritt aber nicht in Übereinstimmung mit dem Gesamtdialog bringen lässt, endet der Frühdialog typischerweise in einer Aporie. 35 Aber auch wenn die hier dargelegte These von Platons Sokrates verworfen wird, so kann dies zwar die Bedeutung des êthos bezüglich der Freundschaft ändern, nicht aber dessen Zugehörigkeit zur Seele. Daher scheint es lohnend, die weiteren erwähnten Attribute der Seele näher zu betrachten. Während tropos und êthos tendenziell synonym gebraucht werden 36, so lassen sich eidos und êthos klarer voneinander abgrenzen, insofern das eidos die äußere Form eines Dinges bezeichnet und das êthos damit als ein Kontrast zu dieser äußeren Form gesetzt wird. Im Lysis wird dies durch die bloße Auflistung der seelischen Attribute noch nicht vollständig klar; in Passagen späterer Dialoge 37 tritt diese Gegenüberstellung doch deutlich zutage. Bordts Interpretation des Nachsatzes stützt zudem die Inhärenzthese, da auch er die Aufzählung als ein Fortschreiten vom Inneren der Seele (êthos) hin zu ihrem

Vgl. Bordt 1998, S. 62–64. Er betont aber, dass die Schlussaporie nur durch einen Zeitmangel zustande komme und somit eine Beantwortung der eigentlichen Frage nicht ausgeschlossen werde (vgl. ebd., S. 69 f.). 36 Dies legt zumindest die Verwendung in späteren Dialogen nahe, wie weiter unten ausgeführt wird (vgl. Leg. IX 862b1–6, X 896c5–d3). Auch Bordt weist darauf hin, dass tropos meist mit »›Charakter‹« übersetzt wird, hier aber »›Verhalten‹« passender sei (vgl. 1998, S. 227 f.). Vgl. Aronadio 2015, der tropos in Verbindung mit êthos als etwas Äußerlicheres betrachtet als das êthos selbst (vgl. S. 144–146). 37 Vgl. u. a. die Interpretation von Rep. IV 435e1–3 weiter unten. 35

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Äußeren (eidos) betrachtet und dies entsprechend in seiner Übersetzung wiedergibt. 38 Zieht man einige Textstellen aus dem Symposion hinzu, stützen diese die These von der Innerlichkeit des êthos auch in Rückbezug auf den Lysis. Zunächst spricht Pausanias in seiner Rede von einem edlen êthos, das er mit der Seele gleichzusetzen scheint, sodass neben der Seele auch dieses êthos in Kontrast zum Körper gesetzt wird: Schlecht aber ist jener gewöhnliche Liebende, der den Körper mehr als die Seele liebt (ho tou sômatos mallon ê tês psychês erôn); denn er ist nicht beständig, da er nichts Beständiges liebt. Denn zusammen mit der verwelkenden Blüte des Körpers, den er liebte, flatterte er auf und davon und macht so viele Worte und Versprechen zunichte. Wer aber den Charakter, der anständig ist (tou êthous chrêstou), liebt, bleibt durch das ganze Leben hindurch treu, da er mit etwas Dauerhaftem verschmolzen ist (hate monimôi syntakeis). (Symp. 183d8–e6; übers. Paulsen/Rehn; Kurs. im Orig.)

Pausanias unterscheidet hier zwei Arten der Liebe: Die Liebe des vulgären Eros bezieht sich auf den Körper und damit auf das Äußere des Menschen, wohingegen die Liebe des himmlischen Eros sich auf die Seele und somit auf das Innere richtet. Im dritten Satz des Zitats wird dem Körper nicht mehr die Seele, sondern ein edles êthos gegenübergestellt, das aber dieselbe Funktion einzunehmen scheint, da neben der Vergänglichkeit des Körpers die Unvergänglichkeit der Seele und ihres edlen êthos betont wird, sodass eine Liebe zu einem edlen êthos als dauerhaft eingestuft wird. Noch deutlicher wird die Zusammengehörigkeit jedoch in der Rede Agathons, in welcher dieser u. a. erklärt, dass sich Eros nur in einen weichen Charakter einnistet: Er [d. i. Eros] wandelt nämlich nicht auf der Erde und nicht auf Schädeln, die ja nicht besonders weich sind, sondern im Weichsten, was existiert, wandelt und wohnt er; denn in den Charakteren und Seelen der Götter und Menschen hat er seine Heimstatt errichtet. Und wiederum nicht, wie es gerade kommt, in allen Seelen, sondern, wenn er einer mit einem harten Charakter begegnet, entfernt er sich, wenn aber einer mit einem weichen, nimmt er dort seine Wohnung. 39 (Symp. 195e2–7; übers. Paulsen/Rehn)

Vgl. Bordt 1998, S. 227 f. und Fn. 562. Dieser Meinung ist auch Aronadio 2015 (vgl. S. 133). 39 οὐ γὰρ ἐπὶ γῆς βαίνει οὐδ’ ἐπὶ κρανίων, ἅ ἐστιν οὐ πάνυ μαλακά, ἀλλ’ ἐν τοῖς μαλακωτάτοις τῶν ὄντων καὶ βαίνει καὶ οἰκεῖ. ἐν γὰρ ἤθεσι καὶ ψυχαῖς θεῶν καὶ ἀνθρώπων τὴν οἴκησιν ἵδρυται, καὶ οὐκ αὖ ἑξῆς ἐν πάσαις ταῖς ψυχαῖς, ἀλλ’ 38

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Hier werden psychê und êthos durch echein verbunden; die Seele »hat« also einen bestimmten Charakter oder ist in Besitz eines bestimmten Charakters 40, der zugleich ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen verschiedenen Seelen darstellt und an welchem sich Eros orientiert. Robert Gregg Bury bemerkt an dieser Stelle den Wechsel von Koordination zur Subordination des êthos, da es zunächst gleichberechtigt neben der Seele aufgezählt, dann aber dieser durch das echein zugeordnet wird. Er attestiert hier Agathon, das Wort »loosely with more attention to sound than sense« 41 zu verwenden. 42 Eine solch unachtsame Verwendung muss aber nicht gegeben sein, da man die Charaktere und Seelen des ersten Satzes des Zitats auch einfach als Hendiadyoin lesen könnte, sodass der Fokus darauf liegt zu betonen, dass Eros das Innere der Menschen als Wohnsitz nimmt. Auch wenn dies auf der syntaktischen Ebene nicht zum Vorschein kommt, so kann das êthos implizit doch der Seele untergeordnet sein, was im weiteren Verlauf durch die Subordination denn auch explizit ausgedrückt wird. Schließlich findet sich im Symposion noch eine für das êthos relevante Aussage in der Rede Diotimas, wo dargelegt wird, dass die für Menschen erreichbare Art der Unsterblichkeit in der Fortpflanzung liegt. Dabei betont sie die Tatsache, dass man sich als Individuum ständig wandle, sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht: Dabei wird dieser doch derselbe genannt, obwohl er niemals dasselbe in sich hat, sondern immer neu wird und manches verliert, ob es sich nun um Haare, Fleisch, Knochen, Blut oder anderes am ganzen Körper (sympan to sôma) handelt. Und nicht nur im Bereich des Körpers, sondern auch, was die Seele angeht (kata tên psychên), der Charakter (hoi tropoi), die Gewohnheiten (ta êthê), Meinungen (doxai), Begierden (epithymiai), Freuden (hêdonai), Kümmernisse (lypai), Ängste (phoboi), jedes Einzelne von diesen (toutôn hekasta) bleibt niemals dasselbe in einem jeden, sondern das eine entsteht (gignetai), das andere vergeht (apollytai). (Symp. 207d6–e5; übers. Paulsen/Rehn)

Analog zu den Bestandteilen des Körpers werden offenbar die temporären Bestandteile der Seele aufgelistet, die sich im Laufe des Lebens ᾗτινι ἂν σκληρὸν ἦθος ἐχούσῃ ἐντύχῃ, ἀπέρχεται, ᾗ δ’ ἂν μαλακόν, οἰκίζεται. (Symp. 195e2–7; eig. Hervorhebungen) 40 Darauf weist auch Aronadio bei dieser Textstelle hin (vgl. 2010, S. 497, Fn. 25; 2015, S. 110, Fn. 9). 41 Bury 1932, Anm. zu 195e. 42 Vgl. ebd., Anm. zu 195e. Er nennt dazu auch Ly. 222a, Symp. 183e, 207e.

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in einem Menschen ändern. Die Aufzählung ist vermutlich sowohl beim Körper als auch bei der Seele keineswegs erschöpfend, wie besonders am Ende der Aufzählung der Bestandteile des Körpers (sympan to sôma) deutlich wird; aber auch die lose Aneinanderreihung von seelischen Attributen kann darauf hinweisen, dass die Liste erweiterbar ist. Auffällig an der Aufzählung bei der Seele sind dabei (1) die Verwendung von êthos im Plural und (2) die Tatsache, dass die êthê neben anderen – abgesehen von den tropoi – tendenziell negativen Eigenschaften aufgelistet werden, die eine Nähe zum unvernünftigen Seelenteil nahelegen. Ob sich dies bestätigt, wird sich insbesondere bei der Untersuchung der Politeia und der dort eingeführten Seelenteilung bemerkbar machen, was in Kap. 1.2.3 näher ausgeführt wird. Die Übersetzung der êthê als »Gewohnheiten« und nicht als »Charakter« erklären Thomas Paulsen und Rudolf Rehn damit, dass die einzelnen Gewohnheiten den Charakter (tropos) konstituieren. 43 Weiter erläutert wird diese Entscheidung allerdings nicht; da auch tropoi im Plural verwendet werden, könnte man dieses Wort m. E. ebenso gut mit »Verhalten« übersetzen, sodass einzelne Verhaltensweisen auf den Charakter oder charakterliche Merkmale (êthê) schließen lassen. Bis hierhin hat sich bei der Untersuchung des Lysis und der Reden Pausanias’ und Agathons im Symposion eine klare Zugehörigkeit des êthos zur Seele und damit einhergehend ein Kontrast zum Körper gezeigt. In der zuletzt angeführten Stelle des Symposions lässt sich aber nicht mehr ein so starker Kontrast zum Körper ausmachen, da die dort der Seele zugesprochenen Eigenschaften in anderen Dialogen größtenteils dem Körper oder – wie eben erwähnt – dem begehrenden Seelenteil zugeordnet werden (vgl. Phd. 64d1–e3; Rep. IV 439d4–8, IX 580e2–581a8). Liest man das zuletzt angeführte Zitat aus dem Symposion in dieser Weise, so hilft dies, eine problematische Textstelle aus dem Phaidon besser zu verstehen, die eine andere Perspektive aufweist, wenn im Diesseitsmythos von Seelen gesprochen wird, die sich wieder an Körper binden: Und sie [d. i. die Seelen der Schlechten] irren solange umher, bis sie aufgrund ihres Dranges zu dem, was ihnen anhängt zum Körperlichen, wieder einen Körper annehmen (endethôsin eis sôma). Annehmen aber werden sie, 43

Vgl. Paulsen/Rehn 2006, S. 177, Anm. 98.

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wie es wahrscheinlich ist, Lebensweisen von der Art (endountai […] eis toiauta êthê), wie sie sie auch in ihrem Leben geübt haben. (Phd. 81d9–e3 44)

In diesem Kontext werden die êthê klar negativ gewertet und offenbar dem Körper zugesprochen. Theodor Eberts Übersetzung gibt zwar das Gebundensein der Seele nicht so deutlich wieder wie Schleiermacher 45; dafür wird im zweiten Satz der Körper – wie im griechischen Text 46 – nicht erneut erwähnt. Die Zuordnung der êthê zum Körper ist daher nicht so deutlich, wie Schleiermacher dies wiedergibt, der eis toiauta êthê offensichtlich als Attribut zum Körper sieht. Eine Zugehörigkeit zum Körper scheint aber durch den vorhergehenden Satz durchaus plausibel. Ein weiteres Problem betrifft die Übersetzung der êthê selbst, die Ebert und Schleiermacher mit »Lebensweisen« bzw. »Sitten« übersetzen. Betrachtet man die sich anschließende Beschreibung (vgl. Phd. 81e6–82a6) von Lebewesen, an die die schlechten Seelen wieder gebunden werden, so erscheint eine solche Übersetzung zwar zunächst einleuchtend, schließt dabei aber nicht eine Übersetzung als »charakterliche Merkmale« aus. Sokrates nennt hier Völlerei (gastrimargia), Hochmut (hybris), Trunksucht (philoposia), Ungerechtigkeit, Herrsch- und Raubsucht (adikias te kai tyrannidas kai harpagas protetimêkotas). Diese Aufzählung von schlechten êthê könnte auch unter dem Oberbegriff von charakterlichen Mängeln subsumiert werden. Insgesamt scheint es aber um Bestrebungen im Allgemeinen zu gehen – die weiter als charakterliche Merkmale bezeichnet werden können –, da im Folgenden die êthê mit der meletê wiederaufgenommen werden und auch Menschen genannt werden, die sich dadurch ausgezeichnet haben, während ihres Lebens »der volksmäßigen und bürgerlichen Tugend (dêmotikên kai politikên aretên) nachgestrebt [zu] haben« (Phd. 82a12–b1, übers. Schleiermacher; vgl. Phd. 82a7–b3).

Die Übersetzung des Phaidon folgt, wenn nicht anders angegeben, Ebert 2004. »Und so lange irren sie, bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen wieder gebunden werden in einen Leib. Und natürlich werden sie in einen von solchen Sitten gebunden, deren sie selbst sich befleißigt hatten im Leben.« (Phd. 81d9–e4; übers. Schleiermacher; eig. Hervorhebungen) 46 »καὶ μέχρι γε τούτου πλανῶνται, ἕως ἂν τῇ τοῦ συνεπακολουθοῦντος, τοῦ σωματοειδοῦς, ἐπιθυμίᾳ πάλιν ἐνδεθῶσιν εἰς σῶμα· ἐνδοῦνται δέ, ὥσπερ εἰκός, εἰς τοιαῦτα ἤθη ὁποῖ’ ἄττ’ ἂν καὶ μεμελετηκυῖαι τύχωσιν ἐν τῷ βίῳ.« (Phd. 81d9– e4; eig. Hervorhebungen) 44 45

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Diese Feststellung gilt unabhängig von der Frage, ob die Darstellung der Seelenwanderung im Diesseitsmythos als parodistisch gewertet werden sollte. 47 Denn es scheint Platons Sokrates nicht darum zu gehen, dass die zuvor erwähnten charakterlichen Mängel als Teilmenge der toiauta êthê fungieren, was er als selbstverständlich anzunehmen scheint, sondern vielmehr darum, dass diese Arten von êthê entsprechende Reinkarnationsformen nach sich ziehen. Insgesamt scheint es sinnvoll, bei den Thesen bezüglich des êthos zunächst zwischen Singular- und Pluralverwendung zu differenzieren. Die Textstellen, die eine Singularverwendung aufweisen, bestätigen die Inhärenzthese; sobald aber von mehreren êthê die Rede ist, ist die Bindung zur Seele nicht zwangsläufig so stark ausgeprägt (kann dies aber durchaus sein 48) oder ist wie im Phaidon zeitweise gar nicht vorhanden. Dies wird sich noch an weiteren Textstellen und insbesondere in Kap. 1.2.3 zeigen. Jedoch finden sich auch im Plural Textstellen, die die Zugehörigkeit der êthê zum inneren Bereich der Seele attestieren: »Wenn nun schöner Seelenadel (en te têi psychêi kala êthê enonta) und die zu ihm passende und mit ihm harmonierende äußere Gestalt (en tôi eidei homologounta ekeinois kai symphônounta) sich zusammenfinden, beide von gleichem Gepräge, dann ist das wohl der schönste Anblick für jeden, der es nur sehen kann.« (Rep. III 402d1–4 49; Kurs. im Orig.) 50

Durch die Präposition en, das Verb eneimi und die erneute Kontrastierung zum eidos, das offensichtlich das äußere Erscheinungsbild repräsentiert, wird auch hier ersichtlich, dass die êthê das Innere (oder einen Teil des Inneren) der Seele darstellen. 51 Um wahrhaft schön zu

In diese Richtung geht Frede, die den Diesseitsmythos als »beinah parodistisch zu nennende Vorwegnahme« (1999, S. 70) des Jenseitsmythos ansieht (vgl. 1999, S. 70– 72). 48 U. a. dann, wenn einfach der Plural von »Charakter« gemeint ist (vgl. beispielsweise Leg. II 659c4). 49 Die Übersetzung der Politeia folgt, wenn nicht anders angegeben, Vretska 2000. 50 Vegettis Übersetzung erscheint mir aufgrund der größeren Textnähe allerdings sinnvoller: »»E dunque, lo spettacolo di un uomo cui tocchino insieme un bel carattere nell’interiorità dell’anima (en te têi psychêi kala êthê enonta) e un aspetto esterno in armonico accordo con esso (en tôi eidei homologounta ekeinois kai symphônounta), perché ne condivide lo stesso modello, non sarebbe il più bello per chi lo potesse osservare?«.« Diese Textstelle steht am Ende der Diskussion über die musische Erziehung, die in Kap. 2.1 ausführlicher diskutiert wird. 51 Auf den Kontrast in Zusammenhang mit dieser Textstelle weist auch Aronadio hin 47

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sein, genügt aber offenbar nicht eine schöne innere Seelenbeschaffenheit; es ist vielmehr eine Harmonie der schönen inneren Struktur mit der äußeren Form nötig. Karl Vretska betont aber, dass es sich hier um den »Idealfall der Platonischen Kalokagathia« handle und selbstverständlich »bloßer Seelenadel wertvoller als das bloße schöne Äußere« 52 sei. Dieser Behauptung ist zweifellos zuzustimmen, da sich dieser Vorzug des Inneren gegenüber dem Äußeren auch in anderen Dialogen zeigt. 53 Vretskas Übersetzung entfernt sich m. E. gerade an der die êthê betreffenden Stelle aber zu weit vom Originaltext, da durch den »Seelenadel« die Innerlichkeit der êthê nicht so deutlich zum Ausdruck kommt. Mario Vegetti übersetzt die Stelle wörtlicher, setzt aber die êthê dabei in den Singular (»un bel carattere«); vielleicht könnte man im Deutschen den Plural bewahren, wenn man statt vom Charakter von charakterlichen Merkmalen spricht. Der Kontrast zum eidos wird zudem bei der Einführung der Seelenteilung deutlich: »›Müssen wir denn nicht zwangsläufig zugeben, daß in jedem von uns dieselben Formen (eidê) und Eigenschaften (êthê) sind (enestin) wie im Staat? […]‹« (Rep. IV 435e1–3). Es erscheint plausibel, hier die eidê als äußere und die êthê als innere Merkmale eines Menschen sowie einer Polis anzusehen. 54 Eine solche Interpretation würde auch gut mit der Textstelle aus dem Lysis übereinstimmen. Im Unterschied zu Vretska übersetzt Vegetti die êthê mit »costumi«; von Gewohnheiten scheint mir hier aber nicht die Rede zu sein, wenn man Sokrates’ gesamten Dialogpart betrachtet. Wissbegierde und Geldgier, die er den Athenern bzw. den Phöniziern und Ägyptern zuschreibt (vgl. Rep. IV 435e7–436a3), können

(vgl. 2010, S. 497), wenngleich sein endgültiges Urteil sich nicht auf die Innerlichkeit des êthos beschränkt. 52 Vretska 2000, Anm. 55 (Buch III). 53 Vgl. beispielsweise die bereits zitierte Pausanias-Textstelle (Symp. 183d8–e6), Leg. VIII 837b8–d1 oder IX 859d3–e1; Vretska weist auf eine andere Stelle im Symposion hin (210b), wo diese Einstellung ebenfalls zum Ausdruck kommt (vgl. 2000, Anm. 55 (Buch III)). 54 Natürlich meint eidos hier »Seelenteil«, sodass es zunächst unklar erscheinen mag, wie sich dies auf die Äußerlichkeit des Menschen beziehen kann (für diese Kritik danke ich Prof. Dr. Jörn Müller). Mein Ziel war es lediglich, den Unterschied zum êthos herauszuarbeiten, der m. E. hier darin besteht, dass das eidos als Seelenteil relativ gesehen äußerlicher bleibt als das êthos, das die genaue Beschaffenheit des jeweiligen Seelenteils bezeichnet.

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m. E. schwerlich als äußere Form oder (innere) Gewohnheit aufgefasst werden. 55 Auch die spätere Beschreibung des Tyrannen untermauert die These von der Zugehörigkeit des êthos zum inneren Bereich des Menschen. Nachdem die Tyrannis beurteilt wurde, folgt nun – der Analogie entsprechend – die Beurteilung des Tyrannen selbst: »Wenn ich nun für die Beurteilung der Menschen dasselbe forderte, hätte ich doch recht mit der Forderung: Über sie soll nur der urteilen, der mit der Schärfe seines Geistes in den Charakter des Menschen (eis andros êthos) eindringen und ihn durchschauen kann und nicht wie ein Kind nur oberflächlich urteilt (exôthen horôn) und nicht an der äußeren Aufmachung der tyrannischen Menschen irre wird; nein, er muß bis zum Kern (hikanôs) hindurchsehen! […]« (Rep. IX 576e6–577a5) 56

Für eine Beurteilung des Menschen 57 ist das Verständnis und das Durchschauen seines Inneren nötig, das durch das êthos repräsentiert und hier erneut kontrastiv zur äußeren Oberfläche gesetzt wird. Die Übersetzung Vretskas stützt hier besonders die Inhärenzthese, als er vom Kern des Menschen spricht, der durchschaut werden muss. Platon verwendet hierfür allerdings nur ein Adverb (hikanôs), sodass lediglich postuliert wird, das Innere des Menschen zur Genüge zu durchschauen. Aber auch ohne die stärkere Betonung vom Kern wird klar, dass der Charakter zum Inneren des Menschen, d. h. zu seiner Seele gehört. Die Zugehörigkeit zur Seele zeigt sich darüber hinaus darin, dass das êthos als to toiouton tês psychês bezeichnet und daher als eine bestimmte Qualität oder Beschaffenheit der Seele gesehen wird. In diesem Punkt folge ich noch Aronadio, der das êthos in manchen Kontexten als »conformazione« 58 und »modo« 59 der Seele oder als

Da die Seelenteilung bedeutende Auswirkungen auf die Konzeption des êthos hat, wird dieser Abschnitt ausführlicher in Kap. 1.2.3 untersucht. Hier wurde er nur herangezogen, um den Kontrast zum eidos hervorzuheben. 56 Vretska ersetzt hier das Fragezeichen des Originals mit einem Ausrufezeichen. Der ganze Dialogteil Sokrates’ besteht hier im Grunde aus zwei langen Fragen (Rep. IX 576e6–577a5; 577a5–b4), denen Glaukon aber überzeugt zustimmt (Rep. IX 577b5), sodass die als Fragen ausgedrückten Forderungen zumindest für diese beiden Dialogpartner in der Politeia gültig zu sein scheinen. 57 Für eine genauere Untersuchung der Beurteilung der Menschen auch im Jenseits vgl. Kap. 2.4.2. 58 Aronadio 2010, S. 497. 59 Ebd., S. 500. 55

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»qualità psicologica« 60 bezeichnet 61; bei der m. E. dafür überzeugendsten Textstelle nennt er aber nur den ersten Teil, obwohl erst die umschreibende Wiederaufnahme eine echte Beschreibung des êthos liefert: »Dieser Teil, der ungebärdige, bietet Stoff für zahlreiche und mannigfaltige Nachahmung. Der andere aber, der ruhige und vernünftige Charakter (to de phronimon te kai hêsychion êthos), der sich immer gleichbleibt, läßt sich weder leicht nachahmen noch ist die Nachahmung leicht verständlich, […]« »Der nachahmende Dichter ist nicht für diese Art der Seele (to toiouton tês psychês) geschaffen, […]« (Rep. X 604e1–605a3)

Der Rückbezug von to toiouton macht klar, dass es sich bei dieser Bezeichnung um eine Umschreibung des zuvor erwähnten êthos handeln muss. Ausführlicher wird auf diese Belegstelle in Kapitel 1.2.3 eingegangen, da die hier hervorscheinende Beziehung zwischen Seelenteilen und êthos einer genaueren Analyse bedarf. Ein ähnliches Beispiel nur in umgekehrter Reihenfolge spiegelt auch in den Nomoi die Auffassung vom êthos als einer Beschaffenheit der Seele wider: Den Blick einzig hierauf richtend hat er [d. i. der König] sich also ausgedacht, bei welcher Beschaffenheit (to poion) etwas welche Art von Wohnsitz erhalten und bewohnen solle und welche Orte. Die Ursachen aber für das Entstehen einer bestimmten Beschaffenheit (tou poiou tinos) überließ er den Willensentscheidungen eines jeden von uns. Denn wohin einer sein Begehren lenkt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist (hopoios tis ôn tên psychên), dahin und zu einer solchen Beschaffenheit (toioutos gignetai) pflegt sich meistens ein jeder von uns zu entwickeln. […] Wenn sie [d. i. Wesen, die einer Seele teilhaftig sind] sich in unwesentlichen Charaktereigenschaften nur wenig verändern (smikrotera men tôn êthôn metaballonta), so wechseln sie ihren Platz auf der Oberfläche der Erde; […] (Leg. X 904b6–c10 62) 63 Ebd., S. 509. Für ihn scheint sich diese seelische Qualität aber immer als empirisch und sichtbar herauszustellen, was m. E. nicht der Fall ist (vgl. ebd., S. 509 f.). Sonst wäre es beispielsweise auch nicht möglich, gerecht zu scheinen, obwohl man es innerlich nicht ist (vgl. Rep. II 361a5–d3, 366b3–367e5). 61 Vgl. Aronadio 2010, S. 497, 500, 509 f. An dieser Lesart hält er auch später fest (vgl. 2015, S. 109 f., 112, 146). 62 Die Übersetzung der Nomoi folgt, wenn nicht anders angegeben, Schöpsdau 1994/ 2003/2011. 63 Inwieweit das êthos für die Evaluation der Seele von Bedeutung ist, wird eingehend in Kap. 2.4 behandelt. Für eine inhaltliche Interpretation der Eschatologie in den Nomoi vgl. bereits Saunders 1973. 60

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Hier spricht der Athener zunächst von einer bestimmten Beschaffenheit der Seele, mit der eine Ortszuweisung der Seele einhergeht. Durch die spätere Wiederaufnahme dieser Seelenbeschaffenheit durch die êthê wird klar, dass die êthê genau diese Beschaffenheit bezeichnen. Darüber hinaus zieht sich auch der bereits häufig erwähnte Kontrast zwischen Innerem und Äußerem bis in die Nomoi. Wenn der Athener die drei Arten von Freundschaft oder Liebe darlegt, fordert er, statt auf den Körper sich auf die Seele des Geliebten zu konzentrieren und diese zu begehren. Er setzt dabei dem Äußerlichen (Körper) die »Seelenverfassung« (übers. Schöpsdau) entgegen, die im griechischen Text mit dem êthos wiedergegeben wird: Denn wer den Körper begehrt und nach dessen Blüte wie nach einer reifen Frucht hungert, der fordert sich selbst auf, sich daran zu sättigen, ohne der Seelenverfassung (tôi tês psychês êthei) des Geliebten irgendeinen Wert beizumessen. Wer jedoch das Verlangen nach dem Körper nur für etwas Nebensächliches hält und ihn mehr betrachtet als begehrt, aber mit der Seele wahrhaft die Seele zu begehren gelernt hat, der sieht in der körperlichen Befriedigung des Körpers einen frevelhaften Übergriff (hybrin), […] (Leg. VIII 837b8–c6)

In diesem Abschnitt wird die dritte Art der Freundschaft besprochen, die eine Mischung aus dem Verlangen nach Seele und Körper darstellt. Der Athener fordert aber, sich nur auf das Verlangen nach der Seele auszurichten (erste Art der Freundschaft 64) und damit die innere Verfassung der Seele des Geliebten zu lieben; die Begierde nach körperlicher Befriedigung wird vom Athener abwertend als hybris bezeichnet. Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird erneut das êthos vom Körper abgegrenzt. In der Debatte über die Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Schönheit gibt der Athener die Meinung wieder, dass gerechte Menschen aufgrund ihres Inneren, d. h. ihres êthos, schön seien, selbst wenn deren Körper hässlich sein mögen: Über die Gerechtigkeit im allgemeinen und über die gerechten Menschen und Dinge und Handlungen sind wir uns doch alle einig, daß dies alles schön ist. Daher würde selbst dann, wenn einer behaupten würde, daß die Vgl. Schöpsdau 2011, S. 196. Er weist auch auf den Bezug zum Lysis hin; der Athener kombiniere hier die »vor allem aus dem Lysis (214a–215e) bekannte Unterscheidung zwischen einer Freundschaft mit dem Gleichen und einer Freundschaft mit dem Entgegengesetzten«.

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gerechten Menschen, auch wenn sie körperlich häßlich sind, eben wegen ihrer gerechten Gesinnung (to dikaiotaton êthos) vollkommen schön seien, fast niemand, der so etwas sagt, etwas Verkehrtes zu sagen scheinen. (Leg. IX 859d3–e1)

Es fällt auf, dass Schöpsdau in seiner Übersetzung den Superlativ nicht wiedergibt und dies auch nicht im Kommentar diskutiert. Dabei wäre eine Übersetzung als Superlativ (oder Elativ) durchaus sinnvoll, wenn man bedenkt, dass so dem vollkommen gerechten Charakter 65 die vollkommene Schönheit zukommt. Relevant für die Untersuchung des êthos ist hier lediglich, dass die körperliche und damit äußerliche Hässlichkeit der inneren Schönheit, die durch ein vollkommen gerechtes êthos repräsentiert wird, gegenübergestellt wird. Nicht ganz klar ist aber die Zuordnung der Aussage selbst: Ob die Aussagen, die in den Dialogen getroffen werden, die Meinung Platons darstellen, ist ohnehin oft problematisch 66 und kann hier nicht ausführlich diskutiert werden; es soll nur darauf hingewiesen werden, dass in diesem Abschnitt das Problem noch dadurch erschwert wird, dass selbst der Athener die These, dass die innere Gerechtigkeit und damit die innere Schönheit höher als die äußere Hässlichkeit bewertet werden muss, nicht sich selbst zuschreibt. Schöpsdau ist der Ansicht, dass sich der Athener hier auf die »allgemeine Überzeugung« berufe; dass die Teilhabe an Gerechtigkeit auch die Schönheit nach sich zieht, sei zudem »gut platonisch« 67. Dass diese allgemeine Überzeugung aber erst überprüft werden und nicht einfach übernommen werden kann, zeigt die Erwiderung des Atheners, dass diese These nur vielleicht mit Recht behauptet werden könne (isôs; Leg. IX 859e3). 68 Unabhängig von der Gültigkeit der These ist aber die Dichotomie zwischen äußerem Körperlichem und innerem êthos unbestritten, da diese einfach als gegeben angenommen wird. Dieselbe Dichotomie trifft man auch innerhalb der strafrechtlichen Diskussion über die Unterscheidung in wahrhaft ungerechte und bloß schädigende Handlungen an: Schöpsdau übersetzt zwar mit »Gesinnung«, m. E. kann das êthos hier aber auch als »Charakter« aufgefasst werden. 66 Vgl. z. B. Becker 2011, der dies anhand der Politeia eindrücklich demonstriert. 67 Schöpsdau 2011, S. 281. Als Beleg nennt er hierfür weitere Stellen der Nomoi (728c3, 937d8 ff.) und des Gorgias (476b1–2). 68 Im weiteren Verlauf des Strafrechtsexkurses wird aber deutlich, dass der Athener Gerechtigkeit nicht von Schönheit getrennt annehmen will. Vgl. zur Interpretation des Strafrechtsexkurses Kap. 2.4.1.1. 65

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Denn in der Regel, meine Freunde, darf man doch nicht, wenn jemand einem anderen etwas von seinem Besitz gibt oder wenn er ihm umgekehrt etwas wegnimmt, so etwas einfach für gerecht oder ungerecht erklären; sondern ob jemand in gerechter Gesinnung und Denkweise (êthei kai dikaiôi tropôi) einem anderen nützt oder schadet, darauf muß der Gesetzgeber schauen, und auf diese beiden Dinge muß er den Blick richten: auf die Ungerechtigkeit (adikian) und auf den Schaden (blabên), […] (Leg. IX 862b1–6)

Das êthos (zusammen mit dem tropos) ist bei der Bestimmung des Strafmaßes ausschlaggebend und nicht die äußere Handlung. Êthos und tropos könnten hier synonym verwendet worden sein; für diese Lesart spricht, dass im Kontext der vorliegenden Textstelle beide Substantive für die inneren Beweggründe des Menschen in Gegensatz zu den äußeren Handlungen stehen und keine weitere Differenzierung oder Abgrenzung der Wörter erfolgt. 69 Die Zugehörigkeit des êthos zur Seele wird im Folgenden dadurch deutlich, dass ungerechte Handlungen 70 eine Erkrankung der Seele zur Ursache haben: Ath. Was nun aber die ungerechten Schädigungen und Bereicherungen betrifft, falls jemand durch eine ungerechte Handlung einen anderen bereichert, so soll man hiervon alles, was heilbar ist, da es sich hierbei um Krankheiten in der Seele (en psychêi nosôn) handelt, heilen; […] (Leg. IX 862c6–8)

An dieser Stelle wird offensichtlich die Meinung vertreten, dass Krankheiten in der Seele zumindest teilweise heilbar sind. Diese innerseelischen Krankheiten implizieren aber auch ein krankes êthos, welches die Gesetze anstreben, mit bestimmten Mitteln zu heilen (vgl. Leg. IX 862d1–e1). 71 Schließlich ist als Belegstelle für die Zugehörigkeit von Seele und êthos in den Nomoi noch die Chronologie von Seele und Körper zu nennen: Ath. Wir erinnern uns aber sicherlich noch daran, daß wir uns im vorigen darüber geeinigt haben, daß, wenn die Seele sich als älter denn der Körper erweist, dann auch das, was zur Seele gehört, älter sein werde als das, was zum Körper gehört. Zur Bedeutung des êthos im Strafrecht vgl. Kap. 2.4.1. Dies setzt eine Analyse des Inneren des Täters voraus, wie das gerade erwähnte Zitat hervorhebt. 71 Zur Heilbarkeit des êthos vgl. Kap. 2 (insbesondere 2.2). 69 70

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Kl. Auf jeden Fall. Ath. Charakterzüge (Tropoi), Gesinnungen (êthê), Wollen (boulêseis), Überlegungen (logismoi), wahre Meinungen (doxai alêtheis), Fürsorge (epimeleiai) und Erinnerungen (mnêmai) wären demnach früher entstanden als Länge, Breite, Tiefe und Kraft der Körper, sofern auch die Seele älter als der Körper ist. (Leg. X 896c5–d3)

Dass die Seele älter als der Körper ist, konstatiert der Athener im Abschnitt, der dem Zitat vorausgeht (vgl. Leg. X 896b10–c3). Daraus folgt nun hier, dass alles, was der Seele zukommt, ebenfalls zeitlich vor dem Körperlichen anzusiedeln ist. 72 Diese Textpassage zeigt zwar, dass die êthê ganz offensichtlich zur Seele gehören, zugleich scheint es aber durch die Aneinanderreihung mit anderen veränderlichen Seelenmerkmalen, dass auch die êthê im Wandel begriffen sein können. 73 Die Abgrenzung von tropos und êthos scheint mir auch hier problematisch zu sein, da ebenso die êthê mit »Charakterzügen« übersetzt werden könnten, die Schöpsdau hier den tropoi zuordnet. Schöpsdau fasst die hier erwähnte Auflistung von seelischen Attributen darüber hinaus als Funktionen der Seele auf, diskutiert diesen Punkt aber nicht weiter. 74 Eine ähnliche Auflistung (doxa, epimeleia, nous, technê, nomos) wird bereits vorher zu Beginn des Arguments eingeführt, worauf der erste Satz des Zitats rückverweist (vgl. Leg. X 892a2–b5). Dort wird die Verbindung der genannten Attribute zur Seele als eine Verwandtschaft (ta psychês syngenê) aufgefasst. Auch wenn die êthê noch nicht aufgeführt werden, so kann durch den späRobert Mayhew weist zu Recht darauf hin, dass dies nicht notwendig folgen muss, und wirft die Frage auf, ob Platon hier einen Fehlschluss der Teilung begehe. Er geht davon aus, dass für Platon dieser Schluss aber zumindest für bestimmte Seelenfunktionen wie den essentiellsten gelten müsse (vgl. Mayhew 2008, S. 130 f.). Für die Verbindung zwischen êthos und psychê ist es aber unerheblich, ob dieser Fehlschuss vorliegt, da dieser lediglich die Verbindung zwischen Körper und Seele tangiert; dass die êthê der Seele zugesprochen werden, geht hingegen klar aus dem Zitat hervor. Man könnte auch die These aufstellen, dass – gerade um einen solchen Fehlschluss zu vermeiden – Platon den Athener nur die der Seele inhärenten Eigenschaften auflisten lässt. Darunter fallen klar die erwähnten wahren Meinungen, wie Richard Kraut im Rahmen des Phaidon erklärt: »They [d. i. die Menschen, die nur die gewöhnliche und bürgerliche Tugend erlangen] have some true opinions about what is valuable, and these are not just lucky guesses, because they inhere in their souls through its earlier contact with the forms.« (Kraut 2010, S. 56). 73 Zur Veränderung des êthos vgl. Kap. 2. 74 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 412. Wie sich noch zeigen wird, ist diese Auffassung bedeutend für Kap. 1.2.3. 72

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teren Rückverweis geschlossen werden, dass sich beide Textstellen auf dasselbe beziehen, nämlich auf Eigenschaften oder Funktionen der Seele, die dieser verwandt bzw. zugehörig sind. Für diese These spricht außerdem, dass es sich bei den angeführten Attributen eher um Beispiele denn um eine vollständige Auflistung handelt, die nur teilweise wiederaufgenommen werden. Es lässt sich also festhalten, dass das êthos – zumindest in der Singularverwendung – die seelische Beschaffenheit, Struktur oder Qualität darstellt, die sich stets auf das Innere der Seele bezieht. Dies kann auch für den Plural gelten; wenn in der Pluralverwendung die êthê als negativ aufgefasst werden, so kann man die Phaidon-Stelle damit erklären, dass negative Seelenfunktionen im Phaidon noch dem Körper zugesprochen werden. Aber dazu mehr im Folgenden.

1.2.3 Auswirkungen der Seelenteilung Auf die interpretatorischen Schwierigkeiten, die die scheinbar willkürliche Zuschreibung von einem êthos oder mehreren êthê nach sich zieht, wurde im vorigen Kapitelteil hingewiesen und sie konnten dort noch nicht hinreichend geklärt werden. Der zunächst verwirrend anmutende Wechsel von Singular- und Pluralverwendung wird aber verständlicher, wenn man die Seelenteilung berücksichtigt. Geht man nämlich weiter von einem der Seele inhärenten êthos aus, so scheint es nur folgerichtig, wenn mit der Seelenteilung eine êthosTeilung einherginge. Darauf weist die bereits oben zitierte Stelle aus Rep. IV 435e1–3 hin: Nachdem die Gerechtigkeit im Großen, d. h. in Bezug auf die Polis, untersucht wurde und die anderen drei Kardinaltugenden den verschiedenen Ständen im Staat zugeordnet wurden, geht es nun darum, die Gerechtigkeit im Individuum auszumachen und dabei festzustellen, ob den drei Ständen im Staat ebensolche eidê und êthê im Individuum entsprechen. In Bezug auf die eidê scheint die Sachlage klar zu sein, da Sokrates zuvor die Frage aufgeworfen hat, ob der Mensch drei davon in seiner Seele besitze, was durch die folgende Seelendreiteilung bestätigt wird. Er spricht hier allerdings ausdrücklich nur von den eidê: »Der einzelne nun, mein Freund, muß – so fordern wir – dieselben drei Formen (ta auta tauta eidê) in seiner Seele haben und wegen derselben Eigenschaften (dia ta auta pathê) auch dieselben Namen erhalten wie der Staat.« Seelen im Wandel

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»Unbedingt!« »Ach, mein Liebster, da sind wir auf eine ganz einfache Untersuchung über die Seele gestoßen: hat sie nun drei Formen (ta tria eidê tauta) in sich oder nicht?« (Rep. IV 435b9–c6)

Die Anzahl möglicher êthê im Individuum ist damit also noch nicht geklärt, auch wenn man durch die Fragestellung in Rep. IV 435e1–3 dazu geneigt wäre, ebenfalls drei anzunehmen. Dies erweist sich aber als falsch, wenn man die spätere Wiederaufnahme der Seelenteilung analysiert, die stärker auf das êthos eingeht. Wilfried Kühn, der Rep. IV 434d2–436b3 genau untersucht, geht auch auf die Unterscheidung von eidê und êthê ein. Er stellt ebenfalls fest, dass der Charakter im Abschnitt vor 435e2 nicht auftaucht. Die eidê verweisen ihm zufolge auf die genê physeôn aus dem vorhergehenden Abschnitt (Rep. IV 435b5). Das êthos hingegen sei ganz einfach das »composante psychique – ou une d’entre elles – d’une naturel« 75. Somit seien es die psychischen Qualitäten, die mit dem êthos bezeichnet werden. 76 Mario Vegetti weist bezüglich des vorhergehenden Abschnitts darauf hin, dass die pathê und hexeis (Rep. IV 435b7) mit den in 435e2 erwähnten êthê vergleichbar wären 77, insofern pathos mit hexis gleichzusetzen sei, welche ein »in senso pre-aristotelico ›abito‹ psicologico, tipo di condotta« 78 bezeichne und wiederum dem êthos angenähert werden könnte. 79 Meiner Meinung nach muss aber gerade der Unterschied zum êthos hervorgehoben werden, da sich das êthos zwar in bestimmten Verhaltens- oder Lebensweisen manifestieren kann, seinen Ausgangspunkt aber doch immer im Inneren der Seele hat. 80 Kühn 1994, S. 52. Vgl. ebd., S. 51 f. 77 Dies suggeriert auch Vretskas Übersetzung des Abschnittes: »›Der Staat erschien uns dann als gerecht, wenn in ihm drei Arten von Naturen (tritta genê physeôn) sind, deren jede ihre Aufgabe erfüllt, zudem aber besonnen, tapfer und weise wegen anderer Eigenschaften und Haltungen (pathê te kai hexeis) dieser drei Naturen.‹« (Rep. IV 435b4–7). 78 Vegetti 1998, Anm. 82. 79 Vgl. ebd., Anm. 82. Ihm zufolge sei die Terminologie darauf aus, »a confermare l’omologia fra ›tipi‹ psicologici, forme di vita individuali, e comportamenti dei gruppi sociali.« (ebd., Anm. 82) 80 Neben den Textstellen aus dem vorigen Kapitel zeigt sich dies auch darin, dass bestimmte Handlungsweisen und damit ein bestimmtes Verhalten nicht an der Hand75 76

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Kühns zuvor erwähnte Interpretation stützt damit den im vorigen Kapitel hervorgehobenen Kontrast zwischen eidos und êthos und insbesondere die Inhärenzthese. Da bei der Beschreibung der Philosophen die physischen Qualitäten zugunsten der psychischen in den Hintergrund träten, stellt Kühn in diesem Kontext außerdem eine Synonymität von Natur (physis) und Charakter (êthos) fest. 81 Er hebt aber auch den politischen Aspekt des êthos hervor: Das Konzept von Form oder Charakter sei in die politische Theorie Platons eingeprägt. 82 Dies kann m. E. durch die Analogie von Polis und Individuum, mehr aber noch durch die sie miteinander verbindende Kausalbeziehung näher beleuchtet werden (vgl. Kap. 3). Die Funktion der Passage von 435e1–436a3 sieht Kühn denn auch in einer Rechtfertigung dieser Analogie und damit in der Übertragung der Kollektivstruktur auf das Individuum sowie in der Festlegung von genau drei seelischen Aktivitäten. 83 In diesem Punkt folge ich noch Kühns Interpretation; allerdings teile ich nicht seine Ansicht, dass die drei Charaktere in der Polis genau drei charakterlichen Merkmalen im Individuum entsprechen müssen. 84 Dies erscheint zwar durch die Frage aus 435e1–3 zunächst zwingend, wird aber einmal dadurch abgeschwächt, dass in der eigentlichen Frage keine Zahlenangabe gemacht wird. 85 Wie Kühn erscheint es auch mir plausibel, lung selbst, sondern an dem der Handlung zugrundeliegenden êthos gemessen werden (vgl. Leg. X 908d7–909c4). Aronadio sieht das êthos der hexis vorgelagert, da mit der hexis automatisch ein Bezug zu den Auswirkungen auf der Handlungsebene gegeben sei. Das êthos aber – in seiner Gebrauchsweise als »Charakter« – sei nur eine Seinsweise (»un modo d’essere«, 2010, S. 498) (vgl. ebd., S. 497 f.). Wenn das êthos aber die Qualität der Gesamtseele bezeichnet, muss man es auch als Handlungsdisposition auffassen in dem Sinne, dass Menschen mit einem schlechten Charakter, sobald sie die Möglichkeit dazu haben, auch schlechte Handlungen ausführen (das Prinzip gilt ebenso für gerechte Charaktere; vgl. die Diskussion zu den Charakterarten in Kap. 3). 81 Vgl. Kühn 1994, S. 52. Er nennt nicht explizit das Wort physis, aber durch den Kontext wird klar, dass dies mit dem »naturel« gemeint sein muss. 82 Vgl. ebd., S. 62 f. 83 Vgl. ebd., S. 62 f. 84 Vgl. ebd., S. 62 (Fn. 22). Er spricht von einem »triple caractère de chacun«, der in Konflikt mit der Tatsache stehe, dass jeder Bürger der Polis nur einen Charakter habe, und erst später dadurch gelöst werde, dass ein Charakter oder Seelenteil im Individuum überwiege. Er scheint hier allerdings trotz der vorherigen Unterscheidung Charakter und Seelenteil synonym zu gebrauchen. 85 Diese findet sich ein paar Zeilen zuvor, allerdings nur in Bezug auf das eidos: »eite echei ta tria eidê tauta en hautêi [d. i. psychêi] eite mê« (Rep. IV 435c5–6). Seelen im Wandel

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zwar die eidê hier mit den drei Seelenteilen gleichzusetzen (vgl. Rep. IV 435c4–6, 439e2–4, 440e8–10); für die êthê hingegen wäre eine solche Gleichsetzung nicht unbedingt sinnvoll. Das zeigt sich nämlich – zweitens – darin, dass zwar das logistikon offenbar mit einem einzigen êthos bezeichnet wird (vgl. Rep. X 604e2 weiter unten), dies aber keinesfalls immer für die anderen Seelenteile gelten kann. Aber zunächst zu einer Textstelle, die die zahlenmäßige Entsprechung von êthê und eidê noch stützen würde: Im Rahmen der Dichterkritik im zehnten Buch der Politeia fordert Sokrates, dass der ruhige und vernünftige Charakter (to de phronimon te kai hêsychion êthos; Rep. X 604e2) nachgeahmt werde im Gegensatz zum ungebärdigen (aganaktêtikon). Platon lässt Sokrates hier nur zwischen vernünftigem und unvernünftigem Seelenteil unterscheiden: »Nun will doch unser bester Teil (to men beltiston) dieser Überlegung (toutôi tôi logismôi) [d. i. das »richtigste Verhalten gegen Schicksalsschläge«, Rep. X 604d3–4] gehorchen?« »Das ist klar!« »Jenen andern Teil, der uns zur Erinnerung an das Leid und zu Klagen verleitet und darin unersättlich ist, werden wir unvernünftig (alogiston), träge (argon) und einen Freund der Feigheit (deilias philon) nennen?« »Das werden wir!« »Dieser Teil, der ungebärdige (to aganaktêtikon), bietet Stoff für zahlreiche und mannigfaltige Nachahmung. Der andere aber, der ruhige und vernünftige Charakter (to de phronimon te kai hêsychion êthos), der sich immer gleichbleibt, läßt sich weder leicht nachahmen noch ist die Nachahmung leicht verständlich, zumal für eine Volksversammlung und eine zusammengewürfelte Masse im Theater. Wird doch hier ein ihnen völlig fremder Zustand nachgeahmt!« (Rep. X 604d5–e6)

Auf den ersten Blick werden hier zwei Seelenteile genannt, die sich durch ihr spezifisches êthos auszeichnen. Der schlechtere Seelenteil wird später wiederaufgenommen und als aganaktêtikon te kai poikilon êthos (Rep. X 605a5) bezeichnet, das leichter nachzuahmen sei als das vernünftige. Die Buntheit oder das Schillern des diesem Seelenteil zukommenden Charakters kann als Anzeichen für dessen Uneinheitlichkeit gelesen werden. Doch obwohl hier offenbar die gesamte Menge an unvernünftigen seelischen Eigenschaften mit einem êthos bezeichnet wird und damit Kühns Interpretation gerecht würde, stellt 42

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Sokrates bereits zuvor klar, dass zumindest der begehrende Seelenteil eben aufgrund dessen Uneinheitlichkeit von einer Vielzahl an êthê geprägt ist. Dass die Seele des Individuums nämlich nicht aus zwei oder drei charakterlichen Merkmalen besteht, die den Seelenteilen zugeordnet werden, zeigt sich schon zu Beginn von Buch IX bei einer Beschreibung des begehrenden Seelenteils: »Die [d. i. die Triebe] sich im Schlafe regen, wenn der andere Seelenteil schläft, der vernünftige (logistikon), ruhige (hêmeron), der Herrscher über den andern Teil (archon ekeinou); der tierhafte (thêriôdes) und wilde (agrion) dagegen, von Speise oder Trunk übervoll, springt auf, schüttelt den Schlaf ab, will fort und seinen Lüsten frönen (apopimplanai ta hautou êthê). […]« (Rep. IX 571c3–7)

Hier zeigt sich deutlich, dass sich das epithymêtikon durch mehrere êthê auszeichnet, die es befriedigen will. Damit kann die Analogie, die in Rep. IV 435e1–3 betont wird, nicht für die êthê gelten. Eine Rettung der Analogie in Bezug auf die êthê könnte aber darin bestehen, dem untersten Stand in der Polis ebenfalls eine Vielzahl an Charakteren zuzusprechen. 86 Es gibt selbstverständlich viele weitere Angriffspunkte in Bezug auf diese Textstelle, die aber nicht direkt mit der êthos-Problematik zu tun haben und daher in diesem Rahmen nicht weiter untersucht werden können. 87 Ein weiteres Argument gegen

Brown sieht die Analogie zwischen dem Aufbau der Polis und dem der dort lebenden Individuen eher als »supposedly intuitively plausible empirical connection« (Brown 1983, S. 47), die keine logische Notwendigkeit für sich beansprucht (vgl. ebd., S. 47). 87 Kühn nennt u. a. das Problem der Übertragung von drei Teilen des Staates auf genau drei Teile in jedem einzelnen Individuum, obwohl sich doch die entsprechenden Volksstämme durch nur eine bestimmte Natur auszeichnen wie bei den erwähnten Skythen, Ägyptern etc. Er schlägt dafür einerseits eine Lösung vor (eine distributive Verteilung von eidê und êthê, sodass sich die eine Natur einer Bevölkerung durch das Vorhandensein dieser einen Natur in den zugehörigen Individuen auffinden lässt), andererseits bleiben andere mit der Textstelle einhergehende Probleme (z. B. dass einzelne ruhige Individuen eines Volksstammes nichts an dessen Gesamtnatur als aggressivem Stamm ändern) bestehen. Wie oben erwähnt, diene die Textstelle allerdings ohnehin nur dazu, die Übertragung aufs Individuum zu rechtfertigen, sodass etwaige Fehler sich nicht auf die Gesamtargumentation auswirken würden (vgl. 1994, S. 52– 59). Mit dem Zweck der Textstelle stimme ich mit Kühn überein; dennoch bleibt die Frage offen, warum Platon Sokrates die Wörter »en hekastôi […] hêmôn« (435e2; eig. Hervorh.) in den Mund legt und ihn damit offenbar die Tatsache hervorheben lässt, dass in jedem einzelnen eine solche Struktur vorhanden sei. Selbstverständlich 86

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die Annahme von lediglich drei êthê im Menschen liefert die Beschreibung des demokratischen Charakters, der in Kapitel 3 näher behandelt wird (vgl. Rep. VIII 557c4–7). Auch Aronadio untersucht die mit den Seelenteilen in Zusammenhang stehenden Textstellen (Rep. IX 571c3–7, X 604d5–e6) und kommt zu dem Schluss, dass das êthos oder die êthê eine spezifische Qualität des jeweiligen Seelenteils bezeichnen. Dies erscheint plausibel; die im Vergleich zu anderen Textstellen ungewöhnliche Feststellung über die Unveränderlichkeit des êthos erklärt er jedoch nur damit, dass darin nun einmal die Besonderheit des vernünftigen Seelenteils bestehe. 88 Hier lohnt sich aber ein Vergleich mit anderen Dialogen. Allein durch die Wortwahl fällt die Ähnlichkeit der êthê aus Rep. IX 571c7 mit den zuvor festgestellten charakterlichen Mängeln aus der Phaidon-Stelle auf. Auch dort zählte zu diesen Untugenden u. a. die Trunksucht, auf die auch hier angespielt wird. Die Tierhaftigkeit zeigt sich im Phaidon gar ganz plastisch durch die Reinkarnation in entsprechende tierische Lebensformen. Im Gegensatz dazu ist es im Phaidon die Seele, die ganz oder nahezu unveränderlich ist, wie sich im Ähnlichkeitsargument zeigt. 89 Zu dieser Feststellung passen zudem zwei der im vorigen Kapitel erwähnten Symposion-Stellen: Pausanias spricht von einem êthos chrêston, das dauerhaft ist (monimon) und damit den Charakter des besten Seelenteils repräsentieren könnte (vgl. Symp. 183e5–6). In der Rede Diotimas hingegen scheint es logischer, größtenteils von »unvernünftigen« charakterlichen Merkmalen auszugehen, die sich daher während des Lebens entsprechend ändern können (vgl. Symp. 207e1–5). Die Auflistung der der Seele zukommenden Attribute wäre auch so im Phaidon noch nicht möglich gewesen, da die erwähnten hêdonai, epithymiai etc. noch dem Körper zugehörig waren (vgl. Phd. 64d1–e3). Eine weitere Belegstelle gegen die Annahme von genau drei êthê im Individuum stellt die bereits oben zitierte Stelle aus Rep. III 402d1–4 dar, wo von schönen êthê in der Seele gesprochen wird. Hier werden die êthê offensichtlich in einem allgemeinen Sinn verwendet, sodass damit vermutlich eine unbestimmte Anzahl an charakterdient dies der Seelendreiteilung, aber dennoch bleibt der Bruch mit den sich anschließenden Beispielen vorhanden. 88 Vgl. Aronadio 2010, S. 507–509; 2015, S. 116 f., 121. 89 Vgl. Phd. 78b4–81a11.

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lichen Merkmalen gemeint sein wird. Natürlich könnte man dagegen anführen, dass die Seelenteilung zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zur Debatte steht und aufgrund der noch unklaren Seelenstruktur einfach allgemein êthê angeführt werden. Wie aber eben herausgestellt wurde (vgl. Rep. IX 571c3–7), gilt diese unbestimmte Pluralität von êthê abgesehen vom vernünftigen Seelenteil auch später noch. Eine allgemeine Verwendung von êthos findet sich auch bei der Reinigung der êthê der Menschen durch den Philosophen (vgl. Rep. VI 501a2–4). Dabei kann die Pluralverwendung an dieser Stelle auf zwei Weisen gedeutet werden: (1) Jedem einzelnen Menschen kommt ein êthos zu oder (2) jeder einzelne Mensch zeichnet sich durch eine unbestimmte Anzahl an êthê aus. Diese beiden Annahmen schließen sich aber m. E. nicht aus. Wenn man den Charakter einer einzelnen Person betrachtet, so besteht dieser Charakter selbstverständlich aus verschiedenen charakterlichen Merkmalen. Auf dieser tiefergehenden Ebene erscheint mir also die Annahme von (2) plausibler. Wenn dennoch häufig vom Charakter im Singular gesprochen wird, kann das m. E. so erklärt werden, dass es allgemein um den Charakter eines Menschen geht, der aber nicht einfach, sondern als Komplex verstanden werden muss, der mehrere, größtenteils veränderliche Charaktereigenschaften miteinschließt (nämlich die typischen Merkmale der einzelnen Seelenteile). Diese Unbestimmtheit in der Anzahl der charakterlichen Merkmale bestätigt sich auch in den Nomoi, da dort das Meer eine unbestimmte Zahl von schlechten êthê (polla, poikila, phaula, Leg. IV 704d6–7) im Menschen erzeugt (vgl. Leg. IV 704d3–705b6), die auch hier als Charaktereigenschaften oder -merkmale wiedergegeben werden könnten. Bezüglich Leg. X 896c5–d3 bietet sich ein Vergleich zur zuvor zitierten Diotima-Stelle an, da die êthê in dieser Passage indirekt ebenfalls als Attribute der Seele genannt werden und neben einigen weiteren aufgezählt werden, die aber in diesem Fall keine so große Nähe zum unvernünftigen Seelenteil aufweisen. Hier würden sich die êthê nämlich von einigen Elementen der Aufzählung absetzen, wenn man sie als Merkmale des unvernünftigen Seelenteils interpretieren wollte, da auch typische Eigenschaften des logistikon erwähnt werden (logismoi, doxai alêtheis, mnêmai). Dies erscheint aber insofern folgerichtig, als der Athener hier allgemein das der Seele Zugehörige angibt Seelen im Wandel

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und damit Eigenschaften aller Seelenteile auflistet. 90 Ob der Athener die êthê vorausschickt, weil sie vielleicht die im Folgenden genannten seelischen Eigenschaften umfassen (und sich dann in den wiederum vorangestellten tropoi ausdrücken), ist nicht eindeutig zu bestimmen. Damit lässt sich festhalten, dass die schlechten Merkmale des begehrenden Seelenteils, die sich in dessen êthê manifestieren und die im Phaidon noch in den Körper ausgelagert waren, nun ebenfalls der Seele zugehörig sind – in Form ihres schlechtesten Teils. Ihre vollständige Gültigkeit kann die Inhärenzthese damit erst ab der Seelenteilung der Politeia erfahren. Natürlich sprechen aber auch einige Textstellen scheinbar gegen die Inhärenzthese, die bisher noch nicht erwähnt wurden und im Folgenden entkräftet werden sollen: Aronadio führt einige Belege für die These an, dass das êthos auch für den externen Bereich der Seele stehe. 91 Darunter fallen Textstellen, in denen die êthê meist mit »Sitten«, »Gewohnheiten« oder »Lebensweisen« übersetzt werden. Eine Teilmenge dieser Belege ist insofern angreifbar, als eine Übersetzung als »charakterliche Merkmale« ebenso, wenn nicht gar sinnvoller erscheint. Einer dieser scheinbaren Belege stellt Rep. VI 500d5 dar; Vegetti übersetzt die êthê an dieser Stelle denn auch mit »costumi«, die der Philosoph ändern soll. Aronadio betont dabei die Fähigkeit des institutionellen politischen Apparats, die Lebensformen der Menschen zu ändern. 92 M. E. geht es hier aber gerade nicht um die Lebensformen oder Gewohnheiten der Menschen, die sich v. a. am Äußeren festmachen lassen, sondern um eine Änderung des Charakters, der den Menschen innewohnt. Daher erscheint mir auch Vretskas Übersetzung plausibler, der die êthê mit »Charakteren« wiedergibt. 93 Da das Ziel der Politeia gerade darin besteht, aufzuzeigen, dass sich wahrhafte Gerechtigkeit auszahlt und nicht der bloße Schein dafür genügt (vgl. Rep. II 366b3– 367e5), so muss auch dem Philosophen der kallipolis zwangsläufig daran gelegen sein, den Menschen von innen heraus gottgefällig zu Schöpsdau sieht die doxai alêtheis als einen Hinweis darauf, dass es hier möglicherweise nur um positive Aktivitäten der Seele geht (vgl. 2011, S. 415). 91 Vgl. Aronadio 2010, S. 495 f., 502, 504–510; 2015, S. 124–128. 92 Vgl. Aronadio 2010, S. 502. 93 »Wenn er nun genötigt wird nachzudenken, wie er all das, was er dort sieht, auf den Charakter der Menschen – im öffentlichen und privaten Leben – übertragen könne, und nicht nur, wie er sich selbst bilde, wird er dann wohl ein schlechter Meister der Besonnenheit, Gerechtigkeit und aller Bürgertüchtigkeit werden?« (Rep. VI 500d4–8) 90

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machen. Dazu kann es aber nicht genügen, lediglich sich äußernde Lebensweisen der Menschen zu ändern. 94 Neben Einwänden solcher Art finden sich aber auch Textpassagen, in denen es durchaus sinnvoll erscheint, die êthê nicht als (vollständig ausgebildete) »Charaktere«, sondern eher mit (1) »charakterlichen Anlagen« oder mit (2) »Sitten« und »Lebensweisen« zu übersetzen. (1) scheint in den Kontexten vorzuherrschen, in denen es um Kinderzeugung geht und die Eltern bereits Verantwortung für die Hervorbringung der Art der Anlagen tragen (vgl. Leg. VI 775d1–e2 95) oder wenn die prinzipielle Grundausrichtung eines Menschen im Vordergrund steht, die bereits ohne Erziehung gegeben ist (vgl. Leg. X 908b5, 908e6). 96 (2) hingegen erscheint häufig im Kontext der Erziehung plausibel, wenn es darum geht, dass Kinder in bestimmten Lebensweisen oder Sitten aufgezogen werden (vgl. Rep. VII 540e5–541a4, Leg. I 625a4–b1, III 695d6–e3, VI 751c9, IX 855a2–4), aber auch bei Menschen, die nach bestimmten Sitten leben wollen (Leg. IV 708c2–d1). Allerdings kann das êthos in solchen und anderen Passagen ebenso mit »Gesinnung« wiedergegeben werden, wie dies auch bisweilen getan wurde. 97 Wenn dies aber möglich ist, so scheint auch dort die Innerlichkeit des êthos auf. So kann Rep. VII 540e5–541a4 so verstanden werden, dass die Kinder nicht nach den (schlechten) Gesinnungen der Eltern aufgezogen werden sollen, sondern nach denen, die die kallipolis vorgibt. Leg. I 625a5 kann so interpretiert werden, Ebenso könnte man Rep. III 409a1–b2 dahingehend verstehen, dass angehende Richter nicht mit wahrhaft schlechten Menschen Umgang haben sollten und daher rein von solchen schlechten Charakteren bleiben müssen. Die Gefahr, dass ein eigentlich guter Mensch von schlechten Charakteren verdorben und diesen ähnlich wird, findet sich auch später noch dargelegt in Leg. II 656b1–7. 95 In der Textpassage kann êthos zwar problemlos mit »Charakter« wiedergegeben werden; aus dem Kontext wird aber klar, dass die Eltern nicht nur für den späteren Charakter verantwortlich sind, den sie beispielsweise durch Erziehung beeinflussen können, sondern bereits für die Anlagen, insofern sie bei falschem Verhalten dafür verantwortlich gemacht werden können, dass sich die charakterlichen Anlagen ihrer Kinder zu keinem guten Charakter entwickeln lassen. 96 Hier geht es um die grundsätzliche charakterliche Ausrichtung der Gottesfrevler, die gerecht oder ungerecht sein kann. Ich folge hier Schöpsdau 2011, der mit »Charakteranlage« übersetzt. 97 Vgl. beispielsweise die Übersetzung Schleiermachers von Crat. 407b8–9 oder die Übersetzung Schöpsdaus von Leg. II 664d4, 669c1, 670e1, IV 705b5, VII 788b3, 790a6, VIII 832b5–6, X 907c7. 94

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dass Kleinias und Megillos nach bestimmten gesetzlich festgelegten Gesinnungen aufgewachsen sind. 98 Analog dazu müssen die zukünftigen Regierungsbeamten von Magnesia »in einer den Gesetzen gemäßen Gesinnung aufgewachsen und gut erzogen sein« 99 (Leg. VI 751c9). Ebenso zeigt das Beispiel aus Leg. III 695d6–e3, dass Xerxes und Kambyses nach denselben Gesinnungen von Dareios bzw. Kyros erzogen wurden. Die Kinder aus Leg. IX 855a2–4 schließlich sollen sich von den bösen väterlichen Gesinnungen abwenden. Insbesondere an dieser Passage wird deutlich, dass es sich nicht lediglich um die Sitten des Vaters handeln kann, da dieser ausdrücklich als unheilbar (aniaton, Leg. IX 854e4) angesehen wird und die Abwendung der Kinder vom Vater als eine Abwendung vom Bösen (ek kakou, Leg. IX 855a4) bezeichnet wird, sodass die innerliche Schlechtigkeit der êthê des Vaters außer Zweifel steht. Als Beleg für die Zuordnung des êthos zum empirischen Bereich der Seele führt Aronadio zudem das Vokabular an, das zur Beschreibung des êthos verwendet wird. Durch Adjektive wie stereon (Plt. 309b4), malakon oder sklêron (Symp. 195e6–7, Leg. II 666b7–c1) falle eine Körperlichkeit auf, die mit dem êthos assoziiert werde, sodass das êthos gleichsam als Materie dargestellt würde. 100 Das materielle Vokabular ist in Zusammenhang mit dem Symposion bereits Bury aufgefallen 101 und kann sicherlich nicht abgestritten werden. Das spricht aber zum einen nicht gegen eine Innerlichkeit des êthos, da auch diese erfahrbar ist; zum anderen wird auch die Seele selbst zuweilen materiell dargestellt, ohne dass damit ihre Unsterblichkeit und Zugehörigkeit zum inneren Bereich des Menschen angetastet würde. 102 Lediglich eine einzige Textstelle 103 scheint mir nicht in das bis hierhin erarbeitete Bild des êthos zu passen: Leg. IX 865d6–e9 ist, In diese Richtung könnte man auch Leg. IV 708c2–d1 verstehen: Die êthesin (Schöpsdau übersetzt sie als »Gebräuche[]«), an denen die Menschen festhalten, könnten ebenso gut deren Einstellungen oder Gesinnungen bezeichnen. 99 Abgesehen von der Hervorhebung folgt die Übersetzung Schöpsdau, ersetzt aber »Lebensweise« durch »Gesinnung«. 100 Vgl. Aronadio 2010, S. 506. Dieser Gebrauch sei aber metaphorisch aufzufassen (vgl. 2015, S. 110 f.). 101 Vgl. Bury 1932, Anm. zu Symp. 195e. 102 Vgl. u. a. die Verortung der Seelenteile im Bereich von Kopf, Herz und Leber in Tim. 69c5–71d4 und Carone 2005. 103 Im Gorgias findet sich scheinbar eine weitere Abweichung, wenn Kallikles den Philosophen Unerfahrenheit in den êthê vorwirft (vgl. Gorg. 484d2–7). Die von ihm erwähnten êthê umfassen nicht nur hêdonai und epithymiai, sondern auch logoi und 98

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soweit ich sehen kann, die einzige Belegstelle, wo Platon den Athener das êthos in seiner frühen Bedeutung 104 verwenden lässt, wenn dieser davon spricht, dass sich Mörder an vertrauten Orten herumtreiben: Man sagt nämlich, daß einer, der gewaltsam getötet worden ist, nachdem er mit der Gesinnung eines freien Mannes (en eleutherôi phronêmati) gelebt hat, dem Täter zürne, solange sein Tod noch frisch sei; und wenn er, selber noch ganz von Schrecken und Angst wegen der erlittenen Gewalttat erfüllt, sehe, wie sich sein Mörder an den Orten (en tois êthesi) herumtreibt (anastrephomenon), die ihm selbst einst vertraut waren (tois tês heautou synêtheias), so empfinde er Angst und suche, selber in Verwirrung geraten, auch den Täter mit aller Macht zu verwirren – wobei er in dessen Gedächtnis einen Verbündeten finde –, und zwar sowohl diesen selbst als auch dessen Unternehmungen. Deshalb muß also der Täter dem Opfer durch sämtliche Zeiten des Jahres hindurch aus dem Wege gehen und alle Orte (pantas tous oikeious topous) in der gesamten Vaterstadt meiden, die diesem vertraut waren. (Leg. IX 865d6–e9)

Diese Sage erwähnt der Athener hinsichtlich der Bestrafung von Tätern, die unfreiwillig einen Freien getötet haben. Das Verb anastrephein kann zwar auch das Benehmen eines Menschen bezeichnen 105 (der sich dann bestimmten Gesinnungen gemäß verhalten könnte); aufgrund des Kontextes erscheint mir aber Schöpsdaus Übersetzung plausibler, insbesondere da die vertrauten Orte eindeutig mit topous wiederaufgenommen werden und als Grundlage für die Ausweisung des Täters ins Exil fungieren, da sich der eben Getötete an diesen vertrauten Orten aufhält und sich durch die Anwesenheit des Täters dort gestört und geängstigt fühlt. Somit erscheint es mir sinnvoll, diese Textstelle als Ausnahme von der sonst üblichen Verwendung von êthos in den platonischen Dialogen anzusehen. Zudem wird genau diese Textstelle im LSJ als Beispiel für die Bedeutung von anastrephein für »dwell in a place«, »go to a place and dwell there« 106 angeführt.

nomoi, die sich auch auf das öffentliche Leben beziehen. Allerdings haben auch die logoi und nomoi ihr Fundament in der inneren Gesinnung der Menschen, wie auch die Übersetzung Erlers deutlich macht (»in der Art, wie Menschen denken«). In den Nomoi wird zudem der nomos als der Seele verwandt angesehen (er gehört zu den ta psychês syngenê, vgl. Leg. X 892a2–b5). 104 Vgl. zur ursprünglichen Bedeutung »Wohnort, Lebensraum, gewohnte[r] Aufenthalt« den Eintrag von Ralf Elm im Wörterbuch der antiken Philosophie (s. v.). 105 Vgl. LSJ, s. v. (B. II.) 106 Ebd., s. v. (B. II.) (Kursiv. im Orig.). Seelen im Wandel

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Somit lässt sich abschließend feststellen, dass sich das êthos je nach Kontext überwiegend auf die innere Beschaffenheit der Seele oder der einzelnen Seelenteile erstreckt und gleichsam für die innersten Merkmale und Eigenschaften des Menschen steht. 107 Diese Feststellung gilt allerdings erst ab der Politeia, da die Seelenteilung den entscheidenden Punkt darstellt, an dem das êthos vollständig als der Seele zugehörig angesehen werden kann. Zuvor waren die den unvernünftigen Seelenteilen zugeordneten êthê dem Körper zugewiesen, von der Seele selbst aber abtrennbar. Somit konnte in diesem Kapitel gezeigt werden, dass das êthos oder die êthê kontextbezogen charakterliche Anlagen, charakterliche Merkmale (eines Seelenteils), den bereits ausgebildeten Charakter und die innere Einstellung und Gesinnung bezeichnen können. Dabei herrscht zumindest ab der Seelenteilung eine untrennbare Verbindung zur Seele. Aus diesen verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten ergeben sich nun verschiedene Ebenen, auf denen das êthos untersucht werden kann und die im folgenden Unterkapitel näher erläutert werden.

1.3 Die platonische Konzeption des Charakters Obwohl wir, wie man im Vergleich zur heutigen Verwendungsweise feststellen kann, beim platonischen Gebrauch von êthos selbstverständlich keine völlige Deckungsgleichheit ausmachen können, so gibt es doch überraschend viele Überschneidungen im Wortgebrauch. Zusammenfassend lassen sich für Platon folgende Ebenen feststellen, wenn er vom êthos eines Menschen spricht:

107 Wenn es in den Nomoi darum geht, den Charakter der Seele zu erkennen, wird dieser auch als »natürliche[] Wesensart und Haltung der Seelen« (tas physeis te kai hexeis tôn psychôn) bezeichnet (vgl. Leg. I 650a2–b8). Eine Pluralität von êthê wird explizit nur dem epithymêtikon zugesprochen. Es ist aber wahrscheinlich, dass sich diese êthê allgemein auf den gesamten unvernünftigen Teil der Seele ausdehnen, da die êthê des unvernünftigen Seelenteils häufig in den Kontexten vorkommen, in denen es nur um die Unterscheidung zwischen einem unvernünftigen und einem vernünftigen Teil der Seele geht (vgl. Rep. IX 571c3–7, X 604e1–605a6). Offenbar war Platon nicht daran gelegen, explizit bestimmte êthê dem thymoeides zuzuweisen; zumindest finden sich dafür keine Textbelege.

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(1) Natürliche Anlagen Auch wenn wir heute vielleicht bereits vom Charakter eines Kindes sprechen, so ist das m. E. nicht das, was Platon mit dem Wort êthos meint, wenn er es darauf bezieht, dass Menschen mit einem bestimmten êthos geboren werden. Dies ist mit Sicherheit auch seiner ziemlich uneinheitlichen Verwendung von Wörtern wie êthos, tropos oder physis geschuldet. Man könnte zwar meinen, dass doch auch Platon ein anderes Wort für natürliche Anlagen gekannt hat, d. i. die physis. Doch wie physis je nach Kontext diese Anlagen oder auch den angestrebten Charakter einer Person bezeichnen kann (vgl. v. a. Rep. VI 485a4–503b10), so gilt dies auch für das êthos, wie auch in der obigen Untersuchung deutlich wurde. 108 Hier umfasst das êthos also einen zusätzlichen Aspekt, der bei uns im heutigen Gebrauch von »Charakter« nicht berücksichtigt und vielmehr durch das Wort »Anlage(n)« ausgedrückt wird. (2) Ausgebildeter Charakter Wie oben gesehen, bezieht sich das êthos häufig auf die Gesamtheit eines Menschen und meint dabei – zumindest ab der Politeia – das Verhältnis der einzelnen Seelenteile zueinander. Es steht somit gleichbedeutend für das Herrschaftsverhältnis in der Seele und die Interaktion ihrer Teile. Da sich diese der Seele innewohnende hexis dann typischerweise in einer bestimmten praxis ausdrückt 109, kommt der Erziehung und jeglichen möglichen anderen Einflussfaktoren bei der Charakterausbildung oder späteren -veränderung eine immense Bedeutung zu. Eine Kennzeichnung des Charakterbegriffs als bloße Haltung würde somit der platonischen Sichtweise nicht gerecht, da sie nur einen Teil beschriebe. Vielmehr ist der Charakter im platonischen Sinne sowohl innere Haltung wie auch Handlungsdisposition. 110 Tropos wurde in der vorhergehenden Analyse nicht eigens miteinbezogen, da aufgrund seines breiten Bedeutungsspektrums eindeutig êthos der konkretere Begriff zu sein scheint. Wenn tropos in für uns relevanten ethischen Kontexten vorkommt, so scheint es synonym zu êthos im Sinne der zweiten Ebene verwendet zu werden (= ausgebildeter Charakter). Diese Stellen werden daher selbstverständlich in der weiteren inhaltlichen Untersuchung des Charakterbegriffs gleichwertig mitberücksichtigt (vgl. u. a. Rep. I 329d3–4, V 449a4, VIII 562a7). 109 Dies wird insbesondere bei der Untersuchung der verschiedenen Charakterarten und der Definition von Gerechtigkeit in der Politeia deutlich (vgl. Kap. 3). 110 Vgl. dazu z. B. die verschiedenen Arten des Unrechttuns, die aus verschiedenen innerseelischen Haltungen entspringen (vgl. Kap. 2.4.1.1 und Leg. IX 863a7–864c2). 108

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(3) Typisches Merkmal/Eigenschaft Zugleich kommt das êthos aber auch speziell für die Charakterisierung nur eines Seelenteils zum Einsatz. Dabei ist aber nicht gemeint, dass mit dem Wort êthos nur ein Teil der Persönlichkeit bezeichnet wird. 111 Vielmehr ist damit die charakteristische Eigenschaft eines bestimmten Seelenteils gemeint, beispielsweise, wenn der vernünftige Teil als der ruhige Teil bezeichnet wird und die irrationalen Regungen als vielfarbig (vgl. Rep. X 604d5–605a6). 112 (4) Gesinnung Diese letzte, sehr allgemeine, aber doch recht häufige Verwendungsweise scheint die innere Ausrichtung oder Intention eines Menschen zu bezeichnen und könnte prinzipiell mit der zweiten Ebene gleichgesetzt werden, würde da nicht doch gelegentlich eine Art Kontrast zum vernünftigen Teil aufscheinen, der ja sonst im Gesamtcharakter mitaufgenommen ist, wenn es um das Verhältnis der verschiedenen Seelenteile zueinander geht. Diese Verwendungsweise scheint keinen größeren Raum bei Platon einzunehmen, allerdings fällt sie doch auf, wenn es in Leg. X um die Verurteilung des Atheisten geht, der von Unwissenheit gekennzeichnet ist (= Beeinträchtigung des logistikon) 113, dabei aber zugleich ein gutes êthos aufweisen kann und bei einem solchen Fall die Strafe entsprechend milder ausfällt (vgl. Leg. X 908e5–909d2). 114 Die vorliegende Studie wird alle vier Ebenen 115 berücksichtigen und sich insbesondere auf die ersten beiden konzentrieren, da auch in 111 Wie bei der Partialbestimmung der Persönlichkeit in der heutigen Psychologie, s. die überblicksartige Darstellung in Kap. 1.1. 112 Für die Ansicht, dass diese Teile fast schon selbst eigene kleine Charaktere darstellen, vgl. Ferrari 1989, S. 122. Da eine solche homunculi-Auffassung aber zu einem infiniten Regress führen würde und eine unnötige Aufspaltung der Persönlichkeit mit sich brächte, scheint mir eine solche Position eher fragwürdig (vgl. für die homunculiAuffassung McCabe 1994 (S. 269 f.), Bobonich 2002 (S. 219–235), Lorenz 2006 (v. a. S. 25); dagegen aber schon Shields 2007a, Price 2009, Horn 2015). 113 Für eine ausführliche Diskussion zur Unwissenheit vgl. Kap. 2.3.2 und 2.4.1. 114 Für eine Diskussion der Strafrechtstheorie vgl. Kap. 2.4.1.1. 115 Die Ebenen sind selbstverständlich nicht streng voneinander zu trennen, sondern hängen voneinander ab: Vielleicht könnte man in aristotelischer Terminologie sagen, dass die fokale Bedeutung im ausgebildeten Charakter besteht. Die Bedeutung als »Anlage« leitet sich daraus ab, insofern die natürlichen Anlagen sich auf einen Charakter hin entwickeln. Die »Gesinnung« hingegen stellt eine breitere, allgemeinere und auch eher vage Verwendungsweise dar, wohingegen das »typische Merkmal« sich

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den platonischen Dialogen darauf der Hauptfokus zu liegen scheint und sich zudem anhand der Unterscheidung von Anlagen und Charakter die bereits zuvor erwähnten Fragen der prinzipiellen Veränderbarkeit eines Menschen und der Art seines Charaktererwerbs, wenn er nicht im Vorhinein durch seine Anlagen vollständig bestimmt sein sollte, behandeln lassen und diese Fragen auch für Platon zu sehr wichtigen, wenn nicht gar den bedeutendsten Aspekten seiner Ethik werden. Dabei wird sich herausstellen, dass Platon eine recht einheitliche Konzeption des Charakters – wenn auch mit Akzentverschiebungen, die dem Kontext oder dem spezifischen Fokus des jeweiligen Dialoges geschuldet sind – vertritt, die sich heute mit einer Art Konvergenzthese gleichsetzen ließe: Durch das gesamte Korpus zieht sich eine gleichwertige Berücksichtigung sowohl der natürlichen Anlagen als auch der Erziehung, wenn es um den Charaktererwerb eines Menschen geht. Dabei lassen sich durch eine Analyse der platonischen Textpassagen folgende Hauptthesen rekonstruieren: (1) Der Charakter ist während des ganzen Lebens zum Schlechten veränderbar. Alle Menschen, auch die besten Charaktere, sind während ihrer gesamten Lebenszeit nie vollständig vor einer Verschlechterung ihres Charakters gefeit und müssen aktiv daran arbeiten, ihren guten Seelenzustand zu erhalten. Die größte Gefahr stellt hier die Dichtung dar, die aber auch zum Guten genutzt werden kann. Fast alle Menschen, die im Besitz noch unausgebildeter Anlagen sind (Kinder) oder einen schlechten Charakter erworben haben, besitzen die Fähigkeit, einen guten Charakter herauszubilden (durch Erziehung) bzw. diesen zum Guten zu verändern (durch Umerziehung, d. h. Strafe). Diese Möglichkeit besteht für fast alle Individuen während des ganzen Lebens. (Plastizitätsthese) (2) Eine Ausnahme stellt die besondere Gruppe der Unheilbaren dar, die sich noch einmal unterteilen lässt. Es gibt (a) Menschen, die mit bereits so schlechten Anlagen zur Welt kommen, dass sie unmöglich, auch trotz der besten Erziehung, gut werden können, und (b) Menschen, die zwar nicht von Anfang an dazu verdammt sind, schlecht zu werden, sondern durch die permanente Ausübung großer Verbrechen ihre Seele so verderben, dass sie unheilbar krank wird, d. h. nicht mehr fähig zur Besserung ist. Der Sinn einer solchen Exis-

auf der anderen Seite der Skala verorten lässt und ein spezielles Persönlichkeitsmerkmal herausgreift oder den entscheidenden Aspekt, der einen Seelenteil individuiert. Seelen im Wandel

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tenz besteht dann nur noch in der Abschreckung durch schreckliche Strafen in der Unterwelt. Es wird im Gegensatz zu rein metaphorischen Interpretationen oder Sichtweisen, die die Darlegungen nicht auf Platons eigene Meinung zurückführen, davon ausgegangen, dass Platon bei seinen Aussagen zu den Unheilbaren annimmt, dass diese Seelen real existieren und dass er die Möglichkeit weiterer Charaktere dieser Art nicht ausschließt. (Existenzthese der Unheilbaren) 116 (3) Abgesehen von diesen Ausnahmen lässt sich der Charakter durch verschiedene Faktoren beeinflussen, neben den geographischen und den körperlichen Begebenheiten aber hauptsächlich durch Anlagen und Erziehung. Bei den letzten beiden Einflussfaktoren ist keine spezielle Vorrangigkeit des einen zugunsten des anderen festzustellen, die gegebenen Anlagen wie auch die Qualität der einem widerfahrenden Erziehung tragen in gleichem Maße zur Ausbildung eines Charakters bei. (Konvergenzthese 117) (4) Der Hauptzweck der Erziehung besteht darin, die Unwissenheit von der Seele fernzuhalten oder – wenn das Individuum bereits schlecht geworden und von Unwissenheit gekennzeichnet ist – diese durch Umerziehung, d. h. Strafe, zu beseitigen, da die Unwissenheit die größte Gefahr für die Seele darstellt und u. a. durch die konventionelle Art der Dichtung erzeugt werden kann. Das Ziel des inneren Einklangs im Unterschied zum Missklang, die die Unwissenheit repräsentiert, wird insbesondere in den Nomoi deutlich. (Harmoniethese) (5) Der Einfluss des Körpers auf den Charakter ist dennoch von nicht zu unterschätzender Bedeutung und zunächst als negativ anzusehen. Das Verhältnis zwischen Seele und Körper verändert sich über die Dialoge hinweg nicht fundamental: Der Körper an sich wird als Störfaktor gesehen, dem in den Spätdialogen schließlich auch eine positive Seite abgewonnen werden kann. Dabei verändert sich aber nicht in bedeutendem Maße die platonische Auffassung des menschlichen Körpers. Vielmehr wird später herausgestellt, wie mit diesem ursprünglichen Hindernis konstruktiv umgegangen werden kann, so-

116 Diese Einteilung der Seelen verhält sich konsistent zu Platons immer wieder heraufbeschworenen Analogie zwischen Seele und Körper: So wie Körper immer der Gefahr ausgesetzt sind, krank zu werden, können Seelen sich verschlechtern. Eine geringe Menge der kranken Körper kann hingegen nicht mehr geheilt werden; ebenso kann eine geringe Menge schlechter Seelen nicht mehr zum Guten verbessert werden. 117 In Anlehnung an die heutige Konvergenztheorie (vgl. Kap. 1.1).

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dass der Körper auch innerhalb der Erziehung zum Positiven eingesetzt werden kann. (Instrumentalitätsthese) (6) Die Qualität unserer Handlungen bemisst sich größtenteils am Charakter. Am Intellektualismus hält Platon bis in die Spätdialoge hinein fest, wenn auch mit Akzent- oder Bedeutungsverschiebungen. So gehen schlechte Handlungen immer mit Unwissenheit einher. Die Unfreiwilligkeit, die sich daraus ergibt, befreit einen aber nicht von der Verantwortung für begangene Unrechtstaten, da man im Jenseits seine nächste Reinkarnation inklusive gegebener natürlicher Anlagen wie auch der Erziehung wählt. (Intellektualismusthese) (7) Wenn schlechte Charaktere ungerechte Handlungen ausführen, so ist es entscheidend, dass sich an der Spitze eines Staates nur die besten Charaktere befinden. Unabhängig von einer Analogie zwischen Seele und Polis prägt der regierende Charakter sehr stark die ihm zugehörige Polis. (These von der unabhängigen logischen Kausalität) (8) Platon scheint von neun unterschiedlichen Charakterarten auszugehen, die sich mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den Dialogen finden. Eine vollständige Auflistung scheint nur im Phaidros gegeben, die wichtigsten schlechten Charaktertypen aber in der Politeia und eine sehr grobe Einteilung im Politikos auffindbar zu sein. Es gibt dabei den Seelenteilen entsprechend drei Grundanlagen, die im ausgebildeten Charakter alleine oder mit einem der anderen beiden Seelenteile dominieren und so den Charakter bestimmen. (These von den neun Typen) Die ersten sechs Thesen werden im nun folgenden zweiten Kapitel überprüft werden, das sich insgesamt mit der Veränderung des Charakters befasst und dabei zunächst auf die entscheidenden Faktoren von Erziehung und Anlagen eingeht (Kap. 2.1), danach die erwähnten Ausnahmen, die Unheilbaren, bespricht (Kap. 2.2), schließlich die Bedeutung des Körpers (Kap. 2.3), die Funktion der Strafe (Kap. 2.4) und die Rolle der Umweltgegebenheiten, der Götter und des Zufalls (Kap. 2.5) diskutiert, um mit einem überblicksartigen Vergleich mit der aristotelischen Position zu schließen (Kap. 2.6). Im dritten Kapitel werden dann die Ergebnisse der Ausbildung eines Charakters betrachtet, nämlich die verschiedenen Charaktertypen und deren politische Auswirkungen, mit besonderem Augenmerk auf der Rolle und Beschreibung des Philosophen in der Politeia. Die genannten Thesen sind jedoch nicht isolierte Annahmen, die Platon unabhängig voneinander in verschiedenen Situationen, in deSeelen im Wandel

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nen er sich zum Charakter geäußert hat, vertreten hätte. Wie schon bei einigen Positionen angeklungen ist, werden die unterschiedlichen Aspekte der Charakterkonzeption vielmehr durch ihren gemeinsamen Bezug zur Unwissenheit geeint: So ist aus den Dialogen klar erkennbar, dass die Qualität des Charakters am Grad seines Wissens oder Unwissens bemessen werden muss. Unwissenheit ist jedoch kein rein intellektueller Begriff und darf demzufolge nicht bloß auf die Vernunft bezogen verstanden werden, sondern bezeichnet einen Zustand, der auf die Gesamthierarchie der Seele Bezug nimmt und deren Ordnung und Übereinstimmung darstellt. So kann auch problemlos die Erziehung als ein Konglomerat von Maßnahmen beschrieben werden, die darauf aus sind, die Entstehung von Unwissenheit in den Seelen der jungen Menschen zu verhindern, und Strafe entsprechend die bereits bestehende mehr oder minder starke Form von Unwissenheit in verbrecherischen Seelen zu beseitigen. Die Umwelt spielt insofern eine Rolle, als sie je nach Klima und geographischer Lage Menschen zu Unwissenheit disponiert oder das Gegenteil befördert. Abgesehen von ein paar bestimmten geographischen Situationen sind diese Gegebenheiten jedoch nicht als den Charakter festlegend zu betrachten, sondern stellen eher ideale und weniger ideale Ausgangsbedingungen für die Charakterentwicklung dar. Der Behandlung des Körpers gebührt eine besondere Rolle, da er Unwissenheit erzeugt und vom Wissen abhält, wenn man sich zu stark auf ihn fokussiert und sich von ihm oder den körperlichen Begierden vollständig beherrschen lässt. In geeignetem Maße verwendet, kann er jedoch positiv eingesetzt werden, um zu Wissen zu gelangen. Die erworbenen Charaktere, die im dritten Kapitel untersucht werden, zeichnen sich denn auch durch verschiedene Grade an Unwissenheit und seelischer (Un)ordnung aus, sodass insbesondere in Rep. VIII–IX deutlich zu Tage tritt, welch verheerende politische Auswirkungen die Unwissenheit hat. Gerade der spezielle platonische Gebrauch von Unwissenheit (amathia/agnoia/anoia) ermöglicht es ihm erst, einen Intellektualismus bis in die Spätdialoge hinein aufrechtzuerhalten: Wenn Unwissenheit nicht rein intellektuell verstanden wird und vielmehr eine innerseelische Unordnung bezeichnet, bei der die Vernunft durchaus korrekte Urteile fällen kann, die aber dann in Missklang zu den anderen Seelenvermögen geraten, erscheint die These, dass niemand wissentlich Unrecht tue und Unrecht somit immer unfreiwillig sei, nicht mehr so abwegig. Indem Platon 56

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die Bedeutung von »Unwissenheit« an seine Seelenteilungstheorie anpasst, kann er so auch Fälle von akrasia erklären, die im Einklang mit der Behauptung stehen, dass niemand wissentlich (d. h. mit harmonischer Seelenordnung) Unrecht tue.

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2. Charakterbildung und -veränderung

Wie bildet sich der Charakter eines Menschen? Und können auch Erwachsene ihre bereits mehr oder minder gefestigten Charaktere noch wesentlich verändern? Bevor im nächsten Kapitel das breite Spektrum an Charakterarten, das die platonischen Dialoge bieten, näher beleuchtet wird, steht nun zunächst die Veränderung und Entwicklung eines Individuums im Vordergrund. Es wird also untersucht werden, wie man verschiedene Charakterarten überhaupt erst erlangt und ob ein Wechsel zwischen ihnen während eines Lebens, aber auch zwischen verschiedenen Reinkarnationen möglich ist. Dabei besteht das Ziel darin, einen Überblick und eine Analyse der zahlreichen und vielfältigen Faktoren zu geben, die die Entwicklung und mögliche spätere Veränderung eines Charakters beeinflussen oder bestimmen. Dazu zählen in hohem Maße die Erziehung und die natürlich gegebenen Anlagen eines Menschen (2.1); darüber hinaus lässt sich die Bedeutung des Körpers aber nicht abstreiten (v. a. im Phaidon und Timaios, vgl. 2.3) und auch umweltliche Gegebenheiten (2.5) werden bisweilen als bestimmte Charaktere hervorbringend in positivem wie negativem Sinne erwähnt. Wenn es aber darum geht, einen schon relativ gefestigten Charakter zum Guten hin zu verändern, so kann auch die Bedeutung der Strafe – im Diesseits in Form der Strafgesetzgebung (vgl. Leg. IX), im Jenseits im Kontext des Totengerichts – nicht außen vor gelassen werden (2.4). Diese Herangehensweise setzt allerdings (noch) formbare Individuen voraus, was der Großteil der Textbelege auch bestätigt. Ziel der ganzen Maßnahmen, die vorgeschlagen werden, ist es, Unwissenheit in den Seelen zu beseitigen oder zu verhindern, dass sich Unwissenheit überhaupt erst in den Seelen festsetzt. Eine gute Charakterformung ist gleichbedeutend mit diesem Prozess: Darauf arbeiten sowohl die Erziehung hin als auch spätere Bestrafungen, die als Umerziehung angesehen werden können; eine Bedrohung bei diesem Szenario stellt der Körper dar, da durch einen zu großen Fokus 58

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Über die Wirkung der Paideia

auf ihn die Seele wieder in Unordnung und Unwissenheit stürzen kann. Zugleich kann er aber auch innerhalb der Erziehung positiv nutzbar gemacht werden. Trotz all dieser erfolgversprechenden Bemühungen scheint Platon in seinen Dialogen auch von einer kleinen Gruppe von Menschen auszugehen, die von Anbeginn ihres Lebens oder später durch keinerlei – ob innere oder äußere – Faktoren mehr beeinflussbar sind, bei denen sich die Unwissenheit also unwiderruflich fest verankert hat. Was es mit diesen »Unheilbaren« genau auf sich hat, wird in Kap. 2.2 untersucht werden, damit deutlich wird, welche Art von Individuen von Besserungsmaßnahmen zwangsläufig ausgeschlossen ist. So wird sich insgesamt herausstellen, dass Platon bis auf die wenigen Fälle der unheilbaren Charaktere prinzipiell von einer Formbarkeit des Menschen ausgeht, die in unterschiedlichem Grade das ganze Leben lang anhält.

2.1 Über die Wirkung der Paideia Bevor im nächsten Teil anhand des Beispiels von unheilbaren Seelen die Grenzen der Paideia aufgezeigt werden sollen, liegt es nun zunächst einmal daran, zu fragen, was die Paideia bei dem Großteil der Seelen doch auszurichten vermag, und ihre genaue Wirkungsweise zu untersuchen. Denn dass die Erziehung einen gewichtigen Faktor bei der Charakterformung darstellt, scheint klar und wird sich auch im Folgenden zeigen. Allerdings müssen auch hier die Erzieher mit Einschränkungen rechnen: Während eine negative Charakterformung stets und bedingungslos möglich ist – denn ein Absturz ins seelische Chaos kann immer geschehen (s. u.) –, ist eine positive Veränderung gerade durch Erziehung zwar umsetzbar; allerdings muss diese genau reglementiert sein und kann auch nur so weit wirken, wie die natürlichen Anlagen des entsprechenden Individuums dies zulassen. Als zusätzliche Schwierigkeit kommt die Tatsache hinzu, dass sich ein Charakter mit fortschreitendem Lebensalter immer stärker verfestigt (vgl. Leg. II 664b4–5, VI 765e3–766a1, VII 792d4–e2) – für dieses Problem warten aber die Nomoi mit einer innovativen Lösung auf. Wenn ich im Folgenden von Paideia spreche, meine ich damit immer die grundlegende Erziehung, die aus mousikê und gymnastikê besteht. Denn auch wenn die weitergehende intellektuelle Erziehung, die den zukünftigen Philosophenkönigen der Politeia oder den Mitgliedern des nächtlichen Rats der Nomoi vorbehalten ist, geSeelen im Wandel

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Charakterbildung und -veränderung

nügend Diskussionsstoff bietet, so liegt das Ziel der vorliegenden Untersuchung doch darin, herauszufinden, wie Menschen überhaupt einen guten Charakter formen können im Sinne einer guten, geordneten Seele, die dann auch nach außen hin gut handelt, und welche Gefahren bei dieser Aufgabe auf sie lauern. Dafür, dass Menschen gut handeln, genügt aber die grundlegende Erziehung, ohne dass später notwendig und idealerweise ein intellektuelles Verstehen der Gründe für die Handlung vorhanden sein muss (vgl. Rep. III 401e1–402a6, Leg. II 653b2–c4). Im Folgenden werde ich – abgesehen von den Ausnahmefällen der unheilbaren Seelen (vgl. Kap. 2.2) – (1) für die These von der lebenslangen, aber qualitativ begrenzten Veränderbarkeit von Charakteren (Plastizitätsthese) argumentieren und dies neben einer Interpretation der Erziehungsmaßnahmen in den Nomoi auch für frühere Dialoge darstellen, indem die Gefahr der Dichtung näher ausgeführt wird, die sich besser verstehen lässt, wenn man (gewöhnliche) Dichter als potentielle Zerstörer der Seele und damit als Erzeuger von Unwissenheit betrachtet. Darüber hinaus werde ich mich (2) für eine Gleichrangigkeit von Erziehung und Anlagen aussprechen, da einerseits die Erziehung auch Menschen mit schlechten Anlagen, soweit diese nicht zu schlecht sind (vgl. Kap. 2.2), zu guten Charakteren ausbilden kann, andererseits dieser Formung durch die Anlagen klare Grenzen gesetzt sind, sodass ein Charakter das Ergebnis eines solchen Wechselspiels darstellt. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Aspekt der Bewegung gelegt, der nicht nur das Bindeglied zwischen Seele und Körper zu sein scheint 118, sondern auch als entscheidendes Element in der grundlegenden Erziehung von mousikê und gymnastikê fungiert, die dadurch erst auf die Seele einwirken können. Zu (1): Hinsichtlich der Formbarkeit des Charakters scheint zunächst nur eines unumstritten zu sein: das hohe Maß an Formbarkeit im frühen Kindesalter (vgl. Rep. II 377a12–b3, Leg. VII 792d4–e7). 119 Spannend wird es aber, wenn man sich fragt, was danach passiert. Können sich Erwachsene noch ändern? Und wenn ja, in welchem Ausmaß? Da Hinweise hier spärlicher gestreut sind und die Antworten teilweise 118 119

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Vgl. Pelosi 2010, Fronterotta 2015. Dies betont z. B. Janaway 1995 (vgl. S. 86 f.).

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Über die Wirkung der Paideia

aus unterschiedlichen Textpassagen rekonstruiert werden müssen, lassen sich weniger Forscherinnen und Forscher finden, die sich explizit mit diesen Fragen auseinandersetzen. 120 Deutlich wird aber in jedem Falle, dass hier die Meinungen auseinandergehen: So finden sich Lesarten, die von einer totalen Stabilität des Charakters ausgehen 121, bis hin zu Interpretationen, die eine unbegrenzte Formbarkeit der Seele annehmen. 122 So ist Christopher Janaway der Auffas120 Vgl. Dihle 1982 (S. 51), Janaway 1995 (S. 80–105), Blössner 1997 (S. 115 f.), Weiss 2012 (S. 117–120), die die Veränderbarkeit von Charakteren zumindest als Teilthema erwähnen oder diskutieren. Vgl. außerdem Calvert 1997, der diese Frage im Kontext des Strafrechtes anschneidet: »Perhaps Plato, like Aristotle, thought that after a certain stage a personality becomes fixed, and that when this stage has been reached, there is no longer any possibility of reform or character change and the person concerned should be regarded as incurable.« (S. 253) Er erkennt aber auch, dass es Menschen gibt, die offenbar bereits »with characters like ›hard shells‹« (S. 253) auf die Welt kommen und sich entsprechend nie zu guten Charakteren entwickeln können. Dieser zweite Aspekt führt für ihn zum Problem, dass der Unheilbare nicht mehr vom Geisteskranken unterschieden werden könne (vgl. 1997, S. 253 f.). 121 Eine solche Auffassung vertritt Norbert Blössner: »Man kann sein Leben nicht beliebig ändern, sondern nur einmal wählen; […]« (1997, S. 115; Kursiv. im Orig.), »Nur die erst- und einmaligen [sic!] Errichtung einer Seelenherrschaft im jungen Menschen darf durch ein außergewöhnliches Ereignis hervorgerufen sein (so in 553a9–c8)« (1997, S. 116 (Fn. 313), Kursiv. im Orig.). Er stützt seine Ansichten mit der Schicksalswahl und der Verfallsdarstellung der Charaktere in der Politeia (vgl. 1997, S. 115 f.). Karl Vretska vertritt eine ähnliche Ansicht, wenn er die Altersgrenze erklärt, die Sokrates für die Gründung der kallipolis festlegt. Alle, die älter als zehn Jahre alt sind, haben damit offenbar einen so stabilen und festen Charakter, dass er nicht mehr verändert werden kann (vgl. Rep. VII 540e5–541a7; Vretska 2000, S. 593 f., Anm. 81). 122 Christopher Janaway erklärt dies mit der mimêsis, die sich ein Leben lang auf die Seele auswirke, da wir immer einen formbaren Seelenteil in uns trügen (vgl. 1995, S. 87, 102, 148 und unten). Auch Myles F. Burnyeat scheint implizit eine solche Lesart zu vertreten, wenn es um die Verschlechterung des Charakters geht, vor der auch Philosophen nicht geschützt sind (vgl. 1997, S. 224, 263, 287, 319). Bezüglich der Gefahr für die Philosophen folge ich Burnyeats Lesart (s. u.). Auch Albrecht Dihle vertritt in Bezug auf den Protagoras und den Euthydemos eine unbegrenzte Formbarkeit des Charakters, explizit auch zum Guten hin: »Man is able to deteriorate and to improve many times during his lifetime.« (1982, S. 51; vgl. ebd., S. 51). Roslyn Weiss geht ebenfalls explizit davon aus, dass erwachsene Charaktere gebessert werden können. Daher schreibt sie die Maßnahme aus Rep. VII 540e5–541a4 den (in ihrer Interpretation schlechten) kallipolis-Philosophen zu, sodass es nicht notwendig sei, die Einwohner ins Exil zu schicken, und die sogenannten natürlichen Philosophen aus Buch VI versuchen würden, alle vorhandenen (auch erwachsenen) Charaktere zu verbessern (vgl. Weiss 2012, S. 117–120, 119 (Fn. 69)). Für ihre Interpretation der verschiedenen Philosophentypen vgl. Kap. 3.3.1.

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sung, dass die Seele ihr ganzes Leben lang radikal formbar sei, weil sie einen »kindlichen« Seelenteil besitze. Dieser Teil, den er sowohl auf das epithymêtikon als auch auf das thymoeides bezieht 123, scheint für ihn gleichbedeutend mit Formbarkeit zu sein. Mit dieser Beschreibung will Janaway den Ausschluss der Dichter erklären, wie dieser in Rep. X dargestellt wird. 124 Allerdings ist es fragwürdig, ohne weitere Qualifizierung eine prinzipielle Formbarkeit anzunehmen nur aufgrund der Existenz der unteren Seelenteile. Gerade wenn es um die charakterliche Veränderung zum Guten geht, gerät man so in Probleme: Das epithymêtikon scheint nirgends ernsthaft erziehbar zu sein oder wird zumindest keiner echten Erziehung unterworfen. 125 Und eine einzelne Textstelle (Rep. VII 540e5–541a4) heranzuziehen oder den Jenseitsmythos so wörtlich auszulegen, dass man zu der Lesart gelangt, nach der Charaktere im jugendlichen und Erwachsenenalter gar nicht mehr veränderbar seien, scheint mir ebenfalls zu vorschnell 126 – gerade, wenn man bedenkt, dass dies von Platons Sokrates nirgends explizit ausgeführt wird und somit nur eine mögliche Interpretation für die genannten Textstellen ist. Plastizitätsthese: M. E. vertritt Platon hier eine differenziertere Sichtweise, sodass die eingangs gestellten Fragen nicht ohne Weiteres mit ja oder nein beantwortet werden können. Die Plastizitätsthese erfordert zunächst eine nähere Qualifizierung: Während in jedem Stadium des Lebens, wenn der Erziehung nicht in ausreichendem Maße dauerhaft Aufmerksamkeit zuteil wird, ein Zusammenbruch der innerseelischen Ordnung eintreten kann, gilt dies nicht für das Gegenteil, d. i. die Er-

Vgl. Janaway 1995, S. 157 f., Anm. 31, 38. Vgl. ebd., S. 87, 102. 125 In der Politeia wird es in den Erziehungsrichtlinien nicht berücksichtigt (vgl. Gill 1985, S. 11 f.), während in den Nomoi zwar Lust und Unlust richtig ausgerichtet werden, dies aber auf dieser unteren Stufe eher einer Art Konditionierung gleichkommt (vgl. Leg. II 659c9–660a8). Für letztere Auffassung vgl. Gastaldi 1984 (S. 427 f.), in Bezug auf den Tanz vgl. auch Pfefferkorn 2016 (S. 166 f.). 126 Allerdings gilt dies auch für die gegenteilige Lesart: Rep. VII 540e5–541a4 wurde bereits in beide Richtungen ausgelegt, wenn man die Lesart Vretskas (Unveränderbarkeit erwachsener Charaktere) mit der Weiss’ (Maßnahme der schlechten kallipolis-Philosophen; Verbesserung aller menschlichen Charaktere von den guten natürlichen Philosophen angestrebt) vergleicht. 123 124

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zeugung oder Wiederherstellung der gut geordneten Seele. Plastizität im Sinne einer Veränderung zum Schlechten schwebt damit immer als Drohung über dem menschlichen Leben, wohingegen eine Veränderung zum Guten an Bedingungen gebunden ist. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (vgl. Kap. 2.2) hat im Kindes- und Jugendalter jedes Individuum die Möglichkeit, eine gute seelische Ordnung zu etablieren, jedoch in unterschiedlichem Ausmaße, da hier die Anlagen bestimmte Grenzen setzen. Zur Schlechtigkeit ist aber bis auf die erwähnten Ausnahmen niemand verdammt. Das größere Hindernis stellt ein bereits fortgeschrittenes Leben dar, in dem das Individuum schon einen so schlechten gefestigten Charakter hat, dass es für sich selbst jegliche Aussicht auf Besserung verwirkt hat (vgl. Kap. 2.2). Daneben lässt sich allgemein feststellen, dass eine Änderung mit fortschreitendem Lebensalter zwar immer schwieriger wird (die Seele »erhärtet«), jedoch nicht gänzlich unmöglich ist (vgl. Leg. I 646a4–5, II 666b2–c2, 671b8–c2). Zu bedenken ist außerdem, dass die charakterverändernde Macht der mimêsis, deren negative Seite v. a. in der Politeia hervorgehoben wird und die in den Nomoi den entscheidenden aktiven Teil der Erziehung ausmacht, zwar ambivalent ist und je nach Gebrauch den Charakter zerstören oder verbessern kann, diese Wirkung aber nicht gleichermaßen stark ist: Während es vergleichsweise einfach ist, einen Charakter durch mimêsis zu verderben, erfordert es ständige Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme an der Erziehung im Sinne von darstellerischer mimêsis, um einen gut geformten Charakter dauerhaft zu erhalten. Diese These verstärkt zudem die immer wieder heraufbeschworene Analogie von Körper und Seele: Wie ein Körper zunächst seinen Anlagen entsprechend formbar ist und auch im Erwachsenenalter immer krank, nicht ohne Weiteres aber auch stets wieder gesund werden kann, so gelten diese Feststellungen auch für die Seele. Sie kann immer in Chaos und Unwissenheit abstürzen, daraus aber nicht immer gerettet werden. Das Resultat einer solchen Auffassung lässt sich besonders gut anhand verschiedener Passagen der Politeia und der Nomoi veranschaulichen. Die Nomoi halten auch eine konkrete Lösungsmethode bereit für die zuletzt genannte Gruppe an Charakteren: Erwachsene können wieder in einen formbareren Zustand gelangen, und zwar durch die Verabreichung von Wein.

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Politeia Wenn man die Formbarkeit der Seele genauer untersuchen möchte, bietet es sich an, in der Politeia zunächst die grundlegende Erziehung von mousikê und gymnastikê näher in Augenschein zu nehmen, bei der die Bildung eines positiven Charakters im Vordergrund steht. Um die These der dauerhaften Gefahr einer Zerstörung der Seele zu untermauern, kommt man allerdings nicht umhin, auch Rep. X hinzuzuziehen, wo diese Drohung im Kontext der Dichtung zutage tritt. Bereits in diesem Werk wird deutlich, was später in den Nomoi in noch größerem Maße betont wird: die Bedeutung der Formung der Seele im frühen Kindesalter. So plädiert Platons Sokrates gleich zu Beginn seiner Darlegungen zu den erzieherischen Maßnahmen dafür, dass die musische Erziehung der gymnastischen zeitlich vorhergehen müsse, und tut seine Ansicht kund, dass »der Anfang bei jedem Werk das wichtigste« sei, »zumal für ein junges und zartes Ding. Denn zu dieser Zeit formt und prägt es sich am meisten zu dem Wesen, das man dem einzelnen aufzudrücken wünscht.« (Rep. II 377a12–b3 127) Wenn man außerdem die folgende Aussage hinzuzieht, dass der Inhalt des Gelernten in solch jungem Alter »unauslöschbar« und »unverändert« bleibe (Rep. II 378d7–e1 128), dann kann man schnell zu der Ansicht gelangen, dass Platon zwar annimmt, dass Seelen grundsätzlich formbar sind, dies jedoch fast ausschließlich im jungen Kindesalter möglich sei und, insoweit dies doch auch später versucht wird, zumindest in Bezug auf die bereits bestehenden Glaubenssätze durch ihre feste Verankerung in der Seele zum Scheitern verurteilt sei. So interpretiert auch Karl Vretska Platon, wenn er Sokrates’ Aussage zum Ausschluss aller Menschen, die älter als zehn Jahre sind (vgl. Rep. VII 540e5–541a4) damit begründet, dass »alle älteren Menschen […] bereits so starke Verbildungen an ihrer Seele erlitten« hätten, »daß sie nicht mehr der ›Umwandlung‹ fähig« 129 seien. 130 Norbert Blössner nimmt außerdem den Jenseitsmythos so wörtlich, dass eine Charakteränderung für ihn im Leben quasi ausgeschlossen ist. Eine Ausnahme stellt für ihn die erste Charakterentwicklung dar. Ins127 Οὐκοῦν οἶσθ’ ὅτι ἀρχὴ παντὸς ἔργου μέγιστον, ἄλλως τε δὴ καὶ νέῳ καὶ ἁπαλῷ ὁτῳοῦν; μάλιστα γὰρ δὴ τότε πλάττεται, καὶ ἐνδύεται τύπος ὃν ἄν τις βούληται ἐνσημήνασθαι ἑκάστῳ. 128 ὁ γὰρ νέος οὐχ οἷός τε κρίνειν ὅτι τε ὑπόνοια καὶ ὃ μή, ἀλλ’ ἃ ἂν τηλικοῦτος ὢν λάβῃ ἐν ταῖς δόξαις δυσέκνιπτά τε καὶ ἀμετάστατα φιλεῖ γίγνεσθαι· 129 Vretska 2000, S. 593, Anm. 81. 130 Vgl. ebd., S. 593 f., Anm. 81.

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gesamt gibt es aber keine »Wandlungs- und Bekehrungserlebnisse, die zur vollkommenen Neuorientierung des Lebens führen« 131. Allerdings wird nirgends explizit ausgesprochen, dass ein ausgebildeter Charakter nicht mehr formbar sei. Wenn man sich Rep. VII 540e5–541a4 genauer anschaut, scheint ein solch radikaler Schnitt in der Charakterformung unbegründet und von Platon nicht angedacht zu sein: Die Maßnahme der Verbannung wird vielmehr damit erklärt, dass auf diese Weise »am schnellsten und leichtesten« (tachista te kai rasta, Rep. VII 541a4–5) die kallipolis entstehen könne. 132 Zudem wäre bei der Annahme einer Unveränderbarkeit erwachsener Menschen Strafmaßnahmen in einem Staat vollkommen sinnlos, wenn sie die (offenbar unmögliche) Seelenbesserung von Verbrechern zum Ziel haben – wie dies bei Platon klar der Fall ist (vgl. Kap. 2.4). Auch die anderen genannten Textstellen, die vielleicht eine Grenze der Plastizierbarkeit nahezulegen scheinen, sind m. E. keineswegs auf eine solche Interpretation festgelegt. Dass Menschen in ihren jüngsten Jahren, in den Nomoi gar bereits im Mutterleib (vgl. Leg. VII 792d4–e7), am formbarsten sind, ist nachvollziehbar und wird hier auch in keiner Weise bestritten. Das lässt aber immer noch die Möglichkeit offen für eine spätere Änderung, wenngleich diese schwieriger durchzuführen sein mag. Dass eine solche Betonung der frühkindlichen Erziehung die Möglichkeit der lebenslangen Plastizität nicht ausschließt, zeigt sich außerdem explizit bei der Diskussion zur gymnastischen Erziehung: Man müsse die Kinder darin einerseits »von klein auf«, aber auch »durch das ganze Leben« erziehen (ek paidôn dia biou, Rep. III 403c11–d1). Das impliziert, dass eine gut erzogene Seele ohne eine dauerhafte Bearbeitung von außen ihre gute innere Ordnung leicht verlieren kann. Darüber hinaus darf die zuvor zitierte Passage aus Rep. II 378d7– e1, die die Annahme enthält, dass im Kindesalter erworbene Lerninhalte nicht mehr aus der Seele zu entfernen sind, auch nicht in absolutem Sinne gelesen werden. Wichtig ist hier m. E. der Kontext der Dichterzensur, sodass bedacht werden muss, dass Platons Sokrates diese Aussage als Warnung ausspricht: Wenn man Kindern beBlössner 1997, S. 116 (Fn. 313). Vgl. ebd., S. 115 f. Stanley Rosen sieht diese Textpassage als einen Nachweis dafür an, dass für die Gründung der kallipolis »the ultimate act of injustice […] required« sei (2005, S. 301; vgl. ebd., S. 301). 131 132

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stimmte Stellen aus Homer nahebringt, werden die Seelen dieser Kinder unwiederbringlich verdorben. Dies wäre also vielmehr ein Beleg für die Macht der Dichtung und die von ihr ausgehende Gefahr. Denn dass Seelen unheilbar schlecht werden können, wird von Platon offensichtlich nicht angezweifelt (vgl. Kap. 2.2). Gerade die Ausführungen zur Dichtung sprechen noch stärker für den negativen Aspekt der Plastizitätsthese, nämlich, dass Menschen immer zum Schlechten verändert werden können 133, und haben sie auch eine noch so gute Erziehung durchlaufen. Positive Glaubenssätze, die im frühen Kindesalter eingeprägt werden, mögen sich zwar auch fest und relativ unveränderbar in der Seele halten, gegen den verheerenden Einfluss der Dichtung können sie dennoch nichts ausrichten. Um diese These zu untermauern, lohnt es sich, einen Blick auf Rep. X zu werfen. Die Passagen zur Dichterkritik in Rep. X haben bereits unzählige Forscherinnen und Forscher zu Interpretationen angeregt 134; den Punkt, auf den ich mich hier fokussieren möchte, ist die Größe der Gefahr, die von der Dichtung ausgeht und die Platons Sokrates als »größte Anklage gegen die Dichtung« (Rep. X 605c6 135) bezeichnet. Denn die zuvor vorgebrachten Vorwürfe, dass Dichter kein Wissen, ja nicht einmal wahre Meinung besäßen (vgl. Rep. X 602a3–10) und in der Lage seien, Kinder und dumme Menschen zu täuschen (vgl. Rep. X 598b6–c4), stellen noch keine hinreichende Grundlage für eine Ausweisung der Dichtung aus dem Idealstaat dar. Zumindest der Wächter- und Philosophenstand scheinen bis hierhin nicht betroffen zu sein. Die Dichtung erweckt zwar den irrationalen Teil der Seele 136, aber bis zu Rep. X 605c6 könnte man noch denken, dass nur hinrei133 So auch André Laks, wenn es um die Analyse des tyrannischen Charakters geht: »Personne n’est à l’abri du monstrueux.« (1987, S. 164; vgl. ebd., S. 164) Speziell auf den Timaios bezogen vgl. Merker 2004: »Mais dans le cours de sa vie, elle [d. i. l’âme] ne sera jamais à l’abri d’un nouveaux bouleversement par des mouvements trop forts qui la perturberont.« (S. 15) 134 Vgl. z. B. Asmis 1992, Murray 1992, Levin 2001, Moss 2007, Notomi 2011, Lear 2011 (für Rep. III), Destrée 2011a, 2011b. 135 Οὐ μέντοι πω τό γε μέγιστον κατηγορήκαμεν αὐτῆς. 136 Für meine Interpretation ist es unerheblich, ob es sich hier um epithymêtikon oder thymoeides handelt. M. E. kann die Dichtung jedoch beide Teile gleichermaßen übermäßig anregen, sodass hier der Grund dafür gesehen werden kann, dass Platon selbst nicht differenziert. Damit ist also kein Widerspruch zur früheren Seelenteilung aus Rep. IV gegeben. Für eine ähnliche Interpretation vgl. Janaway 1995 (S. 157 f., Anm. 31, 38). Für eine starke Betonung des thymoeides vgl. Destrée 2011a und

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chend gut ausgebildete Menschen, seien es Wächter oder Philosophen, so stabile Seelen haben, dass ihnen die Dichtung nichts anhaben könne. Jetzt aber stellt Platons Sokrates die Behauptung auf, dass selbst die epieikeis und beltistoi (Rep. X 605c7, 10) nicht vor der Gefahr der Dichtung gefeit seien. Die mimêsis stellt also, wenn in falscher Weise ausgeübt, eine sehr reale Gefahr selbst für Philosophen dar und kann auch diese in Unwissenheit stürzen. Im Folgenden soll also entgegen einiger anderer Lesarten dafür argumentiert werden, dass der Hauptgrund für die Ausweisung des Großteils der Dichtung in ihrem gefährlichen Potential liegt, selbst philosophische Seelen zu zerstören. 137 Die positiven Richtlinien der Erziehung können nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn zunächst einmal sichergestellt ist, dass negative Einflüsse auf die Seelen der Bürger vermieden oder beseitigt werden, sodass das Verbot der Dichtung die Grundlage für eine positive Erziehung darstellt. Sowohl bei diesem Verbot als auch insgesamt bei den Erziehungsrichtlinien – nicht nur in den Nomoi – tritt die große Bedeutung hervor, die Platon der Habitualisierung beimisst. 138 Wenn man die Diskussionen zur Behandlung der Dichtung in der Politeia betrachtet, werden verschiedene Aspekte kontrovers diskutiert. Im Zentrum stehen dabei vor allem folgende Punkte: (i) das Verhältnis zwischen Rep. II–III und X, (ii) die Verwendung von mimêsis in den genannten Büchern, (iii) unterschiedliche Auffassungen darüber, worin die Gefahr der Dichtung hauptsächlich besteht, sowie (iv) Platons endgültige Position zur Dichtung. Gerade (i), (iii) und (iv) sind aber entscheidend für Platons Ansichten zur Charakterbildung. Betrachtet man (i) und damit untrennbar verbunden auch (ii), so fallen zwei entgegengesetzte Positionen auf: Kontinuität und Bruch. Die Forscherinnen und Forscher, die eine Kontinuität verteidigen, sehen im Umgang mit der Dichtung zwischen Rep. III und Rep. X 2011b; für eine Aufteilung innerhalb des logistikon, die m. E. nicht haltbar ist, vgl. Nehamas 1982 und Burnyeat 1997 (S. 223). 137 D. h. selbst philosophische Seelen sind nicht vollständig stabil, wie man doch annehmen sollte, da sie die Idee des Guten geschaut haben. So parallelisiert beispielsweise Rafael Ferber Episteme mit Stabilität (vgl. 1989, S. 140). 138 Vgl. dazu Kap. 2.6. Für ein graduelles Verschlechtern der Seele vgl. Burnyeat 1997, S. 227, 319, 323. Er ist der Ansicht, dass »[b]y encouraging us to enter into the perspective of strong emotions, epic and drama will gradually erode the ideals we are attached to and still hope to maintain.« (S. 323) Seelen im Wandel

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keinen Widerspruch, sondern vielmehr eine Kohärenz. Damit zusammen hängt auch die Verwendung von mimêsis, die je nach Interpretation in den genannten Büchern völlig verschieden oder doch einheitlich verwendet wird. So argumentiert beispielsweise Gabriel Richardson Lear dafür, mimêsis durchgehend mit »appearance« zu übersetzen; außerdem liege der Fokus immer auf der Zuhörerschaft, da die psychologische Wirkung sich vor allem darauf richte. Sie wendet sich damit gegen die Standardinterpretation, nach der in Rep. III nur mimetische Dichtung ausgeschlossen wird, d. h. die direkte Wiedergabe von Personen (sofern es sich nicht um gute Charaktere handelt), wohingegen in Rep. X mimêsis viel weiter gefasst werde und die gesamte Dichtung umfasse und diese damit aus der kallipolis verbanne. Lear versucht dieses Problem zu lösen, indem sie erklärt, dass in Rep. III nur bestimmte Fälle von mimêsis genannt werden; eine umfassende Erklärung werde aber nicht geliefert – diese folge vielmehr in Rep. X. Auch in Rep. III sei bereits alle Dichtung mimetisch, nur eben nicht auf verbaler Ebene, hinsichtlich Harmonie und Metrum hingegen schon. 139 Muss man aber notwendig eine einheitliche Übersetzung und Verwendung für mimêsis finden? Gegen Letzteres hat sich schon J. Tate ausgesprochen, der zwei Arten von mimêsis unterscheidet: eine gute und eine schlechte. Die gute Nachahmung 140 bezeichnet die Aktivität der Wächter, wenn sie tugendhafte Charaktere darstellen, die schlechte hingegen die Nachahmung, die untugendhafte Dichter betreiben, indem sie alle möglichen Charaktere darstellen. Die Dichtung, die zu Beginn von Rep. X ausgeschlossen wird, sei also nur auf diese Dichter zu beziehen und umfasst keinesfalls Dichtung im Allgemeinen. 141 In eine ähnliche, aber ausdifferenziertere Richtung gehen später auch Elizabeth Belfiore, Giovanni Ferrari und Alexander Nehamas, die weiter unten diskutiert werden. 142 Wenn man Rep. II–III mit den Darlegungen aus Rep. X vergleicht, ist es zunächst sicherlich hilfreich, den Kontext zu betrachten. Gegen Lears Lesart scheint mir nicht nur die Zuhörerschaft betroffen zu sein, sondern bisweilen auch klar die Darsteller selbst, nämlich

Vgl. Lear 2011 (v. a. S. 202–205). Er übersetzt mimêsis als »imitation« (vgl. Tate 1928). 141 Vgl. Tate 1928 (v. a. S. 17–19, 21, 23). Hinsichtlich der schlechten mimêsis stimmen ihm bereits Cross/Woozley zu (vgl. 1964, S. 278–281). 142 Vgl. Belfiore 1984, Nehamas 1988, Ferrari 1989. 139 140

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wenn es um die Frage geht, ob die zukünftigen Wächter auch selbst mimetisch tätig werden dürfen (vgl. Rep. III 394e1 ff.). Sie zweifelt allerdings an, dass mimêsis eine Angleichung an den nachzuahmenden Charakter beinhalte, da beim Darstellen nur die Aspekte ausschlaggebend seien, die von außen, d. h. vom Zuschauer gesehen werden können. Entscheidend sei die vom Dichter geschaffene äußere Erscheinung, nicht sein subjektives Erleben. 143 Doch selbst wenn diese Lesart korrekt sein sollte, scheint sich Platons Sokrates hier klar um die Wächter als Darsteller zu sorgen. Und auch wenn nur äußere Aspekte nachgeahmt würden, so gelangt aktive Nachahmung doch, wenn auch nicht sofort, ins Innere der Seele und verändert diese. Sie wird »zu Wesen und Gewohnheit (eis êthê te kai physin) […] bei Körpern, Sprache und Denken (kata sôma kai phônas kai kata tên dianoian)« (Rep. III 395d2–3). 144 Von Bedeutung ist außerdem, wie weiter unten näher dargelegt wird, dass gerade auch solche Änderungen in scheinbar harmlosen Bereichen wie den Körperbewegungen großen Einfluss auf die Seele haben. Was die weitere Kontexteinbettung betrifft, scheint mir Susan B. Levins Lesart plausibel und nützlich, um die problematischen Textpassagen angemessen einzuordnen: Als Vertreterin einer Kontinuität

143 Vgl. Lear 2011, S. 205–208. Sie spricht sich deutlich gegen eine Angleichung an das Objekt der Nachahmung aus: »Plato does not use ›mimesis‹ to refer to a transformation of the poet’s (or performer’s) subjective experience.« (S. 208) 144 Lear erkennt natürlich die Tatsache an, dass dauerhafte Nachahmung in unsere Gewohnheiten eingeht, erklärt die entsprechende Textstelle aber folgendermaßen: »What I suggest is that this pattern of gratification (and displeasure) in certain outward actions is the habit of mind which repeated mimesis instills. The habit of mind created by imitating Achilles is not (at least not necessarily) the ethical outlook which the poet-performer imagines to be Achilles’. Rather, the habit he acquires is the habit of enjoying acting in a proud, insubordinate, and brutal way. To see the difference, it suffices to notice that the performer may not think that Achilles himself enjoys his violence.« (2011, S. 210) Damit spricht sie sich also gegen die Lesart aus, dass wir uns beim Darstellen an den darzustellenden Charakter anglichen – denn dann würden wir z. B. auch unangenehme Gefühle bei der Darstellung nachzuahmen versuchen (vgl. ebd., S. 210). Allerdings besteht m. E. der Punkt doch genau darin, dass der Schauspieler nicht notwendig »pleasant feelings« (ebd., S. 210) darzustellen versucht, sondern eben auch durchaus Trauer, Schmerz oder Wut, er genau diesen Prozess aber (für sich) genießt. Allein die ausführliche Auseinandersetzung mit erlaubten und unerlaubten Darstellungsformen zeigt außerdem, dass der Fokus, selbst wenn die Darsteller beim Darstellen v. a. aufs Publikum achten, dennoch auf den Nachahmenden selbst liegt, da es in dieser Passage von Rep. III offensichtlich um das Seelenheil der zukünftigen Wächter geht.

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liest sie die Bücher so, dass Rep. X als komplementäre Ergänzung aufgefasst werden kann. Ihr zufolge haben Rep. II und III in Kontrast zu Rep. X nämlich nicht denselben Fokus, widersprechen sich dabei aber auch nicht: Während in den früheren Büchern die Erziehung der Wächter im Vordergrund stehe und somit die Jugend angesprochen werde, gehe es in Rep. X um Erwachsene und die Stärkung der Einheit der Bürger. Auch die Verwendung von mimêsis sei kompatibel, da in beiden Untersuchungen dieselbe Art von Dichtung ausgeschlossen werde. 145 Auch Myles F. Burnyeat arbeitet mit einer Kontextverschiebung: Er sieht die Verbindung von Rep. II–III und X ebenfalls als nicht problematisch an, da Buch X ganz einfach die Diskussion auf einer höheren Ebene fortführe und insgesamt an Philosophen gerichtet sei. Mimêsis verstanden als Nachahmung sieht er dabei in den verschiedenen Verwendungsweisen als vollständig kompatibel an, nämlich als ein allgemeines Konzept, unter das sowohl Malerei als auch Drama, aber auch das in den früheren Büchern ausgeführte Darstellen von Charakteren falle. 146 Christopher Janaway übersetzt mimêsis zwar unterschiedlich (Rep. III: »›making oneself like another in voice or form‹«, Rep. X: »artistic ›appearance-making‹« 147, »image-making« 148), sieht Epen und Tragödien aber auf beide Definitionen zutreffen. Diese Formen befänden sich an der Schnittstelle der engeren Definition aus Buch III mit der weiteren aus Buch X. Er ist also auch als ein Vertreter der Kontinuitätslesart zu betrachten, da auch ihm zufolge in beiden Büchern mimetische Dichtung ausgeschlossen wird, d. h. Dichtung, die, wenn es um Darstellungen im Drama geht, ohne Rücksicht auf Vorbilder auf die Erzeugung von Lust aus ist. 149 Er wendet sich außerdem gegen Tates Lesart guter und schlechter mimêsis, die die Möglichkeit einer positiven Kunstbewertung offenlasse. 150 145 Vgl. Levin 2001, S. 150–167. Für den Aspekt der Erwachsenen, auf den Rep. X abzielt, verweist sie auf Nehamas 1982 (vgl. Levin 2001, S. 162 (Fn. 94)). 146 Vgl. Burnyeat 1997, S. 288, 296–299, 315 f., 319. Die These aus Rep. X fasst er so zusammen: »To imitate is to make a likeness or image of something.« (S. 296) Darunter subsumiere sich u. a. die Definition von mimêsis als »impersonation« aus Rep. III. »Impersonation is mimesis par excellence, but the making of visual likenesses in paint or stone is a parallel species of the same imitative genus.« (S. 299) Er bedient sich hierbei der Einteilung aus Soph. 265a–67b (vgl. S. 298). 147 Janaway 1995, S. 125. 148 Janaway 2006, S. 392. 149 Vgl. Janaway 1995, S. 106–108, 125 f. 150 Janaway 2006, S. 393.

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Neben den Bemühungen, die Ausführungen zur Dichtung und mimêsis im Speziellen als kohärentes Ganzes aufzufassen, die m. E. durchaus gerechtfertigt sind, gibt es auch die andere Lesart, die eine solche Kohärenz schlicht nicht gegeben sieht. So passe die Argumentation aus Rep. X nicht zu derjenigen aus Rep. II–III oder widerspreche ihr sogar. Penelope Murray geht in diese Richtung, wenn sie in Rep. X eine Ausweitung des Wortes mimêsis auf alle Dichtung sieht, wohingegen in Rep. III damit »mimicry« oder »impersonation« gemeint seien, die als »performance« 151 zu verstehen seien. Sie geht dabei explizit nicht von einer Bedeutungserweiterung aus, die den größeren Bezugsrahmen erklären könnte, sondern von einer Änderung: »mimêsis is now [d. i. in Rep. X] the equivalent of holding up a mirror to reflect the external world, a worthless activity which merely reflects the insubstantial world of particulars.« 152 Auch André Laks sieht bedeutende semantische Unterschiede in der Verwendung des Wortes in Rep. III, X und Leg. VII: So bezeichne mimêsis jeweils »performance/enactment«, »reproduction« und »representation« 153. 154 Noburu Notomi wiederum vertritt eine weitere Auffassung von mimêsis in Rep. X (»›artistic representation‹«), die sich von der engeren in Rep. III (»›mimicking‹« 155) abhebt. 156 Zu (iii): Auch was die Hauptgefahr betrifft, die von der Dichtung ausgeht, findet sich eine Bandbreite an unterschiedlichen Meinungen, die man folgendermaßen einteilen könnte: Gefahr für den Adressaten Diese Interpretinnen und Interpreten sehen die Hauptgefahr in der korrumpierenden Wirkung, die die Dichtung auf das Publikum ausübt. Lear, die für eine Kohärenz zwischen Rep. III und X argumentiert, sieht dabei immer das Publikum in Gefahr. 157 Pierre Destrée Murray 1992, S. 41. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 41 f. 153 Laks 2010, S. 222 (Kurs. im Orig.). 154 Vgl. ebd., S. 221 f. 155 Notomi 2011, S. 311. 156 Vgl. Notomi 1999, S. 128 f., 281 (Fn. 17), 283; Notomi 2011, S. 311. 157 Vgl. Lear 2011. Sie geht davon aus, dass »the psychological effect essential to mimesis is an effect in the audience.« (S. 205) 151 152

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analysiert diese Wirkung genauer und meint, dass wir als Zuschauer v. a. dadurch verdorben werden, dass uns im Theater eine tragische Weltsicht vermittelt werde. 158 Murray wiederum spricht davon, dass die Dichtung uns deswegen täusche, »because ordinary people do not realise how trivial it is« 159; zugleich nimmt sie eine Art Übertragung an: Diejenigen, mit denen die Dichter in Kontakt kämen, würden so mit demselben Wahn angesteckt, an dem diese litten. 160 Kognitiver Einwand Levin geht davon aus, dass der allgemeinste Vorwurf gegen die Dichter in ihrem Mangel an Wissen bestehe. 161 Auch Notomi, der die Nähe zwischen Dichter und Sophist analysiert, sieht beide als Nachahmer, die ohne Wissen die Menschen unterrichteten. 162 Jessica Moss, die sich mit Mimesis und Dichtung in Rep. X beschäftigt hat, sieht ebenfalls die Gefahr im Wissensmangel der Dichter. Ihr zufolge funktioniere die Analogie zwischen Maler und Dichter, die beide dreifach von der Wahrheit entfernt sind, so, dass beide Erscheinungen darstellten: der Maler von Gegenständen, wie sie ihm erscheinen; der Dichter von Tugenden, wie sie ihm erscheinen. Da der Dichter nun aber kein wahres Wissen von den Tugenden habe, da er die Ideenwelt nicht kenne, könne er nur trügerische Erscheinungen darstellen und vermitteln, sodass das Publikum im Glauben, die Darstellung wahrer Tugenden auf der Bühne zu sehen, diese falschen Vorstellungen in die Seele aufnimmt und im eigenen Leben umsetzt. So erklärt Moss die starke korrumpierende Kraft der Dichtung. 163 Freiwilliger Kontrollverlust Diese Interpretinnen und Interpreten lenken die Aufmerksamkeit auf die wichtige Tatsache, dass wir uns im Theater Gefühlen hingeben in dem Glauben, uns in einem geschützten Raum aufzuhalten, sodass ansonsten schlecht angesehene Verhaltensweisen wie unmäßiges Bejammern eines Verstorbenen hier durchaus erlaubt seien und dies keinerlei schädliche Auswirkungen auf das echte Leben habe. Genau 158 Vgl. Destrée 2011b, S. 272. Damit schließt er sich nach eigener Aussage auch an Halliwell 2002 an (vgl. Destrée 2011b, S. 272 (Fn. 8)). 159 Murray 1992, S. 43. 160 Vgl. ebd., S. 43, 46. 161 Vgl. Levin 2001, S. 133 f., 147 f. 162 Vgl. Notomi 2011, S. 316: »[…] both are imitators who teach without knowledge.« 163 Vgl. Moss 2007, S. 417, 422, 424, 430, 432 f., 437, 440, 443.

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darin aber würden die Theaterbesucher irren. Elizabeth Asmis vertritt eine solche Lesart, wenn sie als besondere Gefahr der Dichtung den Distanzverlust nennt und das Kunstwerk als »insulated from real-life concerns by a suspension of disbelief« 164 kennzeichnet und dies als schädlich erkennt. 165 Angriff auf das thymoeides Auch Pierre Destrée bemerkt den Aspekt des freiwilligen Kontrollverlustes und identifiziert den Angriffspunkt dabei vornehmlich mit dem thymoeides. Wir seien als Zuschauer aufgrund der beschriebenen Illusion sorglos im Theater, sodass unser thymoeides ausgeschaltet sei und gar nicht erst gegen die negativen Emotionen ankämpfe. Er vertritt eine Kohärenz zwischen Rep. III und X mit einer Fokusverschiebung: Es gehe immer um den Schaden, der für das thymoeides entstehe, entweder indem es nicht auf die richtige Weise erzogen werde (Rep. III) oder indem es im Falle des Publikums nicht richtig genährt werde (Rep. X). 166 In einem anderen Aufsatz fasst er die Gründe für die Verbannung der mimetischen Dichtung so zusammen, dass sie das seelische Gleichgewicht zerstöre und dabei zugleich einen tyrannischen Seelenzustand befördere. Die tragische Weltsicht schädige dabei ebenfalls das thymoeides, da tragische Gefühle wie Mitleid den Mut zerstörten. 167 Schädigung der epieikeis Eine solche Lesart bietet sich an, da Platons Sokrates den größten Einwand gegen die Dichtung genau darin sieht: dass selbst gute Leute von ihr negativ affiziert würden (vgl. Rep. X 605c6 ff.). Elizabeth Belfiore geht genauer auf diese guten Menschen ein, sieht in ihnen allerdings die Mehrheit der Menschen, die so geschädigt würde. Die Philosophen grenzt sie noch einmal von dieser Gruppe ab und zählt sie zu den dort erwähnten Ausnahmen (vgl. Rep. X 605c6–8). Belfiore nimmt in Rep. X drei Charakterarten an: (1) den ruhigen, vernünftigen Charakter, (2) den ungebärdigen (von Kindern und Frauen) und (3) die epieikeis. Letztere stellten die Mehrheit dar, deren Seelenteile sich in beständiger stasis befänden. Denn wenn êthos an diesen Stel164 165 166 167

Asmis 1992, S. 355. Vgl. ebd., S. 348, 355. Vgl. Destrée 2011b (v. a. S. 278). Vgl. Destrée 2011a (v. a. S. 256–258, 264–269).

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len verwendet wird, meint sie, dass damit eine komplette Charakterart bezeichnet werde, d. h. eine bestimmte Kombination aus allen drei Seelenteilen – so stehe beispielsweise der ruhige Charakter nicht etwa für das logistikon, sondern für einen Charaktertypen. Ihr zufolge seien die Menschen, die unter (1) fallen, nicht von der Gefahr der Dichtung betroffen – daher auch deren nur kurze Erwähnung. Die Leute wiederum, die unter (2) fallen, seien eher hypothetisch und nun doch als Darstellungen des unteren Seelenteils aufzufassen. Die größte Anklage gegen die Dichtung betreffe also die epieikeis (= die gewöhnlichen Menschen) und nicht die Philosophen. Indem sie den Nebensatz aus Rep. X 606a7–8 168 hinzuzieht, kommt sie zu ihrer Lesart, dass die epieikeis zwar ziemlich vernünftige Leute seien, aber dennoch nicht hinreichend ausgebildet, was Vernunft und Gewöhnung betreffe. 169 Was (i) und (ii) anbelangt, so scheint mir die Lesart sehr gezwungen, notwendig eine komplett einheitliche Verwendung oder Übersetzung von mimêsis in der Politeia festzustellen. Das muss aber keineswegs zu einer inkohärenten Haltung hinsichtlich ihrer zerstörerischen Kraft führen. Platons Sokrates kann mimêsis in Rep. II und III im spezielleren Sinne verwenden (Passagen mit direkter Rede) und dann Dichtung, insofern sie mimetisch ist (hosê mimêtikê, Rep. X 595a5), in Rep. X problemlos ausschließen. Die Pointe liegt doch darin, dass auch in Rep. X nicht die komplette Dichtung verbannt wird (Hymnen und Loblieder auf die Götter sind zugelassen, vgl. Rep. X 607a3–5), die gegenwärtige Dichtung nun aber einmal mehrheitlich mimetischer Art ist und somit nicht erlaubt werden kann. Und gerade die Darstellungen, in denen man unvermittelt die Gefühle des Protagonisten erfährt – sei es als Zuschauer oder noch verheerender als Darsteller – laufen in direkter Rede ab, sodass die Unmittelbarkeit des seelischen Gefühlslebens des Protagonisten stärker auf die Seele und damit auf die Charakterbildung einwirkt als eine bloße Erzählung. Die Darstellung guter Charaktere steht hier gar nicht mehr zur Debatte, da diese bereits in Rep. III zugelassen worden ist. Jetzt geht es um die reale Situation in vielen Poleis: die Auswirkungen aufs Publikum durch die Darstellung mehrheitlich schlechter Charaktere. Wenn also in Rep. X mimetische Dichtung ausgeschlossen wird, 168 169

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ἅτε οὐχ ἱκανῶς πεπαιδευμένον λόγῳ οὐδὲ ἔθει Vgl. Belfiore 1983, S. 54–57.

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scheint mir Alexander Nehamas’ Auffassung völlig einleuchtend, der hier »imitativeness« von »imitation« 170 unterscheidet. Nur das undifferenzierte Nachahmen aller möglichen Charaktere wird zurückgewiesen, nicht aber das Nachahmen eines ruhigen und vernünftigen Charakters. 171 Denn es wird ja gerade kritisiert, dass dieser von den zeitgenössischen Dichtern nicht dargestellt werde, weil er nicht leicht nachzuahmen und zudem für das Publikum schwierig zu verstehen sei, da damit etwas ihnen ganz Fremdes präsentiert werde (vgl. Rep. X 604e1–605a6). M. E. ist dann auch der Schaden, den die Seele durch Dichtung erleidet, nicht thymoeides-spezifisch; der Schwerpunkt liegt eher im allgemeinen Ungleichgewicht der Seele, das so entsteht. Ein Anhaltspunkt dafür ist die nicht mehr vorgenommene Unterscheidung der unteren beiden Seelenteile. Platons Sokrates scheint es mehr darum zu gehen, dass die irrationalen Teile anfällig sind für die dichterischen Darstellungen, genau diese Teile in Konflikt mit dem logistikon geraten und so die Seele in Unordnung und Unwissenheit stürzen, im schlimmsten Falle, darin stimme ich Destrée zu, sogar die Entstehung einer tyrannischen Seele 172 befördern. Eine solche Seele kann aber nur entstehen, wenn man das epithymêtikon absolut frei gewähren lässt (vgl. Rep. IX und Kap. 3), sodass schon mit dieser Behauptung eine alleinige Einschränkung auf das thymoeides ausgeschlossen werden muss. Die größte Gefahr der Dichtung scheint mir, wie bereits oben erwähnt und wie dies auch Platons Sokrates unterstreicht, die Schädigung der besten Menschen zu sein, die ich gegen Belfiores Lesart

Nehamas 1988, S. 215. Vgl. ebd. (S. 215) und für ähnliche Meinungen auch Belfiore 1984, Ferrari 1989 (S. 125), Janaway 1995, der auf die zuvor genannten Autoren verweist (S. 132, Anm. 3), und Asmis 2015 (S. 488). Halliwell ist ebenfalls der Meinung, dass der »indiscriminate use« (1988, S. 106) der mimêsis attackiert werde und verweist dabei auch auf Belfiores Lesart, die dafür den Ausdruck »versatile imitation« einführt. Insgesamt sieht er in der Verwendung von mimêsis in Buch X aber eine Bedeutungserweiterung (vgl. Halliwell 1988, S. 106; Belfiore 1984). Damit wende ich mich gegen Paul Woodruff, der die Ansicht vertritt, dass auch die Nachahmung guter Menschen ausgeschlossen werde (vgl. 2015, S. 333; vgl. aber schon Halliwell 1988, S. 106, der ebenfalls dieser Meinung zu sein scheint). 172 Oder in einer Vorstufe zunächst die Entstehung einer demokratischen Seele: In der Politeia beklagt Sokrates, dass die Tragödiendichter »die Verfassungen zur Tyrannis und Demokratie herüberziehen« (Rep. VIII 568c2–5). 170 171

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aber durchaus mit den Philosophen identifiziere. 173 Die Mehrheit der Menschen als epieikeis oder gar als beltistoi zu klassifizieren, widerspräche der sonst üblichen platonischen Ansicht, dass es von den Besten (und Schlechtesten) nur sehr wenige gebe und der häufigen Gleichsetzung der Masse mit dem untersten Seelenteil (vgl. z. B. Phd. 89e6–90b3, Rep. IV 431b9–c3, Leg. III 689a5–b2). Ein weiterer Hinweis darauf, dass mit den epieikeis und beltistoi wirklich die Philosophen gemeint sind, findet sich im ersten Buch der Politeia (vgl. Rep. I 347a10–d8), wenn es um die guten Menschen geht, die nicht regieren wollen – m. E. sind schon dort die Philosophen angedacht, die ja auch in der kallipolis zum Regieren gezwungen werden müssen. Diese guten Menschen werden im ersten Buch ebenfalls als epieikeis, epieikestatoi und agathoi bezeichnet. 174 Die weiteren Gefahrenpunkte, die bei der obigen Übersicht der Interpretationen genannt wurden, bleiben selbstverständlich bestehen. Wichtig ist neben der Hauptgefahr für die Philosophen auch die Zweiseitigkeit der Schädigung: Sowohl Zuschauer als auch Darsteller erleiden einen seelischen Schaden, wenn sie schlechte Charaktere betrachten oder gar in einem Theaterstück verkörpern. Lears oben erwähnte Sichtweise, dass der Fokus bereits in Rep. III auf den Zuschauern liege, erscheint mir unplausibel. Denn dass beide Aspekte von Platons Sokrates bedacht werden, erkennt man sowohl in Rep. III, wo es klar darum geht, dass die zukünftigen Wächter keine Ich folge hier Halliwell, der die epieikeis und beltistoi als »those who are committed to trying to follow the dictates of philosophical reason« beschreibt (2011, S. 247). So sei es »perfectly possible to be committed to philosophical ideals and yet to remain deeply susceptible to the power of poetry.« (ebd., S. 247) Die Textstelle, die Belfiore für ihre Lesart anführt (Rep. X 606a7–8), mag zwar hinreichend für die Ansicht sein, dass vollkommen und ideal ausgebildete Philosophen zwar vor der Wirkung der Dichtung gefeit sind (so Halliwells Interpretation, vgl. 2011, S. 246 f.), gibt aber keinen Anlass dazu, die dort genannten Menschen überhaupt nicht mit den Philosophen zu assoziieren. Im Übrigen scheint es mir aber plausibler davon auszugehen, dass vollständig ausgebildete Philosophen zwar nicht wieder in seelisches Chaos zurückstürzen werden, allerdings nicht, weil sie völlig immun gegen das zerstörerische Potential der mimêsis sind: In der kallipolis werden sie gar nicht erst in die Verlegenheit kommen, sich gegen Homer schützen zu müssen und wenn sie sich doch einmal einer Theateraufführung aussetzen müssen, so können sie dort nicht entspannt dem Schauspiel beiwohnen, sondern müssen sich stetig vor Augen halten, welche Gefahr von der Dichtung ausgeht, sie müssen sich selbst bezaubern oder beschwören (vgl. Rep. X 607e4–608b2). Für eine Untersuchung der epôidê in den platonischen Dialogen vgl. Lain-Entralgo 1958, der Platon als Erfinder der mündlichen Psychotherapie sieht. 174 Für eine genaue Analyse dieses Zwangs vgl. Kap. 3.3.3. 173

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schlechten Charaktere darstellen dürfen (vgl. Rep. III 394e1–396e2), als auch in Rep. X, wo Sokrates publikumszentrierter argumentiert (vgl. Rep. X 605c10–606d8). Der Schaden, den die Dichtung anrichten kann, scheint also ziemlich universal zu sein und wirklich alle zu betreffen. Das scheint mir auch die Schwäche von Moss’ Lesart zu sein: Während ihre Erklärung zwar plausibel wirkt, um die Analogie zum Maler zu erklären, reicht sie m. E. bei weitem nicht aus, um die umfassende Gefahr der Dichtung darzustellen, da sie den Aspekt der Habitualisierung nur einseitig betont. Nach ihrer Interpretation gleicht sich das Publikum den Darstellern an, geht aber davon aus, dass dies etwas Gutes sei, weil es somit auch tugendhaft würde. Für die Tragödie mag dies im Falle des Protagonisten noch stimmen, in der Komödie aber kann dies nicht als Erklärung herangezogen werden. Die Zuschauer sind sicherlich nicht der Auffassung, dass sich ihnen dort tugendhafte Charaktere präsentieren. Vielmehr machen sie sich in einem geschützten Raum über die ansonsten verpönten Fehlerhaftigkeiten der Menschen lustig, d. h. sie lachen über Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften, über die sie sich empören sollten oder mit denen sie am besten erst gar nicht in Kontakt kommen sollten (vgl. Rep. X 606c2–10). 175 Diese Unbeherrschtheit, die hier zum Vorschein kommt, ist genau die Gefahr, die von der Komödie ausgeht: Die Zuschauer gewöhnen sich daran, ihrem epithymêtikon freien Lauf zu lassen und verlieren – falls sie sie denn je hatten – die Tugend der sôphrosynê (vgl. Rep. X 606c2–d7). Außerdem müssen, auch wenn dies nicht mehr Moss’ konkreter Untersuchungsgegenstand war, wenn die Korruption von Dichtung erklärt werden will, die unterschiedlichen Perspektiven von Darsteller und Zuschauer berücksichtigt werden, wie oben bereits ausgeführt wurde. Beide werden von der Dichtung affiziert, aber auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Grade: Der Zuschauer internalisiert zwar auch die Charaktereigenschaften der dargestellten Personen, allerdings nicht so unmittelbar wie der Darsteller selbst und daher in nicht so starkem Maße (vgl. Rep. III 394e1–396e3 (v. a. 396a4–6), X 604a10–607a9). Der Darsteller ist einer größeren Gefahr ausgesetzt, wie sich auch noch später in den Nomoi zeigt, wenn die 175 Vgl. Poet. 2, 1448a16–18: Die Komödie will schlechtere, die Tragödie hingegen bessere Menschen nachahmen/darstellen. Zur Darstellung tüchtiger oder besserer Charaktere in der Tragödie vgl. auch Poet. 15, 1454a16–22, b8–15.

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Bürger Magnesias nicht als Schauspieler eingesetzt werden dürfen, sondern dies Fremden und Sklaven überlassen wird (vgl. Leg. VII 816d3–817a1). Dass der Schauspieler diese größere Gefahr eingeht, ist klar, wenn man bedenkt, dass er aktiv einen (meist schlechten) Charakter darstellt und sich an entsprechende Verhaltensweisen gewöhnt, wohingegen das Publikum die passive Rolle innehat und die Charaktere lediglich wahrnimmt – wobei dies schon eine hinreichend große Gefahr für Platon darzustellen scheint. Somit kann festgehalten werden, dass das wahre Hauptmotiv für die Ausweisung der Dichter in der Politeia wie in den Nomoi in der starken Wirkkraft der Habitualisierung – beim Zuschauer wie beim Schauspieler – liegt, die wirklich alle Menschen erreicht, und die Inkompetenz in der Darstellung wahrer Tugenden einen Teil der Erklärung bietet, der für das Publikum in der Tragödie wirksam ist. Zu (iv): Wie Platons endgültige Meinung zur Dichtung aussieht, wird unterschiedlich bewertet. Während u. a. Elizabeth Asmis eine stark negative Sicht als gegeben ansieht 176, argumentiert Stephen Halliwell für eine ambivalente und in Rep. X nicht abgeschlossene Sichtweise. 177 Plausibler scheint es mir, Platons Haltung weder als stark negativ noch als ambivalent zu bezeichnen, wenn damit gemeint ist, dass Dichtung positiv oder negativ aufgefasst werden kann und es auf den Kontext ankommt. Näher am Text scheint mir eine axiologische Differenzierung zu sein: Immer dann, wenn Platons Sprecher von Dichtung sensu stricto sprechen oder von der höchsten Art der mousikê, so wird sie als etwas sehr Positives gesehen, nämlich als die Philosophie selbst (vgl. Phd. 61a3–4, Phdr. 248c5–d4, Leg. VII 817b1–5). 178 Die gewöhnliche Dichtung hingegen meint im Umkehrschluss nicht die wahre Form der mousikê; die Dichter bezeichnen sich zwar als solche, sind aber im strengen Sinne keine. Folgerichtig wird diese 176 Vgl. Asmis 1992. Nietzsche sieht Platon gar als den »grössten Kunstfeind[], den Europa bisher hervorgebracht hat.« (vgl. Zur Genealogie der Moral 3.25 und Halliwell 2002 (S. 72) und Murray 1996 (S. 2), die bereits auf die Stelle hinweisen). Vgl. auch Hermann Abert, der die Ansicht vertritt, Platon halte Kunst für ein reines Spiel (paidia), das »an und für sich wert- und nutzlos« sei, sodass er »seiner Verachtung und Geringschätzung der Kunst freien Lauf […] lasse[].« (1899, S. 12). Für die große (und durchaus nützliche) Bedeutung des Spieles insbesondere in den Nomoi vgl. JouëtPastré 2006. 177 Vgl. Halliwell 2011, S. 253 f., 260. 178 Gegen Janaways Lesart (vgl. 1995, S. 181).

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Dichtung stark abgewertet und aufgrund der von ihr ausgehenden Gefahren für die Seele aus dem Staat verbannt. Somit gibt es verschiedene Grade an Dichtung, die sich an Art und Inhalt des Dargestellten bemessen und die in der höchsten Form, der Philosophie, gipfeln. Die Kritik an der Dichtung ist also keine Kritik an der Disziplin selbst, sondern an ihrer falschen Ausführung und der falschen Meinungen über sie. Damit deutet sich auch schon die Sichtweise der Nomoi an, in der mousikê auch positiv zum Einsatz gebracht wird. Dichtung hat zunächst eine große Macht, die sich bei falscher Ausführung als Gefahr zeigt, bei richtiger Anwendung aber bei der Charakterformung durchaus nutzbar gemacht werden kann. Nomoi Ohne eine sich ständig erneuernde Paideia wären unsere menschlichen Seelen dem Untergang geweiht, wenn man Platons Ansichten in den Nomoi Glauben schenken mag. Geht er gar so weit, zu behaupten, dass eine endgültige, stabile und dauerhafte Formung des Menschen, von der man annehmen könnte, dass dies das Ziel einer idealen Erziehung wäre, überhaupt ganz unmöglich ist? Sind unsere Seelen extrem fragile, komplexe Einheiten, die die nächste aufwallende Begierde in ein haltloses Chaos und zerstörerische Unwissenheit stürzen kann? Können wir nur ein gutes, moralisches Leben führen durch eine ständig anwesende externe »Helferin«, nämlich die Paideia? Sind wir von Natur aus also so veranlagt, unsere Seelen instinktiv zu verderben, auch noch nach etlichen Jahren von guter platonischer Erziehung? Da die Bewohner Magnesias lebenslang an der Erziehung teilnehmen, scheint die Annahme zu sein, dass sie auch im Erwachsenenalter noch formbar sind. Es stellt sich nun aber die Frage, inwieweit eine solche Formung von Dauer sein kann und ob überhaupt so etwas wie ein stabiler guter Charakter möglich ist. Wenn der Athener die Erziehung definiert oder allgemein über die menschliche Natur spricht, scheint er folgende anthropologische Ausgangsbedingungen anzunehmen: (a) Die Fragilität einer geordneten menschlichen Seele: Wie in den Nomoi häufig erläutert wird, scheinen wir Menschen so disponiert zu sein, dass wir stets der Lust nachjagen und dem Schmerz entgehen wollen (vgl. Leg. II 653a5–c4, V 733a9–b3). Da diese Grundtendenz auch durch Erziehung nicht eliminiert werden kann (sondern nur korrekt ausgerichtet, indem man am Richtigen Freude empfindet, vgl. Leg. II 653b2–c4), besteht immer die Gefahr einer Seelen im Wandel

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Charakterverschlechterung (vgl. Leg. II 653c7–9, 656b1–7). 179 Denn auch wenn wir uns darin einüben, an den richtigen Dinge Freude zu empfinden und so unsere Seelen korrekt ausrichten, ist dieses Herstellen von Ordnung immer mit einem Aufwand verbunden, der sich als Erziehung manifestiert (nämlich als Chorpraxis, vgl. Leg. II 653c7–654b8, 672e5–6), und bei einem Nachlassen zur Folge hat, dass die positive Wirkung der Erziehung schwindet und sich die Seele im schlimmsten Fall unwiderruflich verschlechtert (vgl. Leg. II 653c7–9). (b) Eine eingeschränkte und einseitige Plastizität der Seele: Menschliche Seelen sind das ganze Leben hindurch formbar durch mousikê, und zwar insbesondere durch die Funktionsweise der mimêsis, die eine charakterliche Assimilation des Zuschauers oder Zuhörers, aber auch des Darstellers – worauf der Fokus in den Nomoi liegt 180 – mit dem Dargestellten bewirkt (vgl. Leg. II 655d5–656b7, VII 802c7–d6). Dabei gelten aber auch hier die bereits bekannten Einschränkungen: Bedingunglos formbar sind Seelen nur zum Schlechten; eine Veränderung zum Guten ist – mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad aufgrund der Verfestigung des Charakters im Laufe der Zeit (vgl. z. B. Leg. II 664b4–5, VI 765e3–766a1, VII 792d4–e2) 181 – bis auf wenige Ausnahmen fast immer möglich. Die Erziehung zielt formal gesehen zunächst auf einen inneren Einklang der Seelenteile untereinander (vgl. Leg. II 653b1–c4). Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass die Erziehung von Anfang an darauf aus ist, Unwissenheit zu verhindern, bevor diese überhaupt entstehen kann (zur Definition der »größten Unwissenheit« als »Missklang« vgl. Leg. III 689a7–9 und Kap. 2.3). Unterlaufen bei der basalen Erziehung Fehler oder wird diese völlig unterlassen (vgl. Leg. II 656c1–8, VI 766a1–4), so sind die Bürger Magnesias bereits zur Unwissenheit verdammt; eine mögliche spätere Erziehung, die auf den Intellekt ausgerichtet ist, hätte also gar keinen Sinn mehr (vgl. Leg. III 689d4–5). 179 F. Pelosi sieht hierin einen Unterschied zur Politeia, wo »the dyeing stamp of education […] an indelible character« habe (2010, S. 28). Allerdings scheint mir auch in der Politeia keine Charakterart vor einem Verfall vollkommen geschützt zu sein, da auch die besten Individuen von schlechter mimêsis affiziert werden können (vgl. Rep. X 605c6 ff.). 180 Das betonen auch Anastasia-Erasmia Peponi (vgl. 2013) und Lucia Prauscello (vgl. 2014). 181 Hier kann der Wein Abhilfe schaffen, da er die Formungsbedingungen optimiert: vgl. Leg. I 646a4–5, II 666b2–c2, 671b8–c2.

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Gerade darin manifestiert sich die Bedeutung von mousikê und gymnastikê, da es mit einer erfolgreichen Basiserziehung unerheblich ist, ob man dem logismos oder den anderen Antrieben folgt: Beide streben ohnehin dasselbe an und stimmen miteinander überein, wenn die unteren Seelenvermögen richtig erzogen worden sind. So ist sichergestellt, dass auch kognitiv nicht ideal veranlagte Menschen 182 richtig handeln – denn bereits in der Politeia betont Platons Sokrates, dass bereits die Kinder durch mousikê gebildet werden müssen, damit die Menschen richtig handeln, auch solche, deren Vernunft vielleicht nie erwacht (vgl. Rep. III 401e1–402a6). Die Notwendigkeit einer solchen Erziehung zeigt sich zudem an der in den Nomoi immer wieder erwähnten Beschreibung der menschlichen Natur, die den Schmerz vermeiden und der Lust folgen will (vgl. Leg. II 653a5–c4, V 733a9–b3). Auch wenn das eigene Ich in den platonischen Dialogen meist mit der Vernunft identifiziert wird (vgl. z. B. Leg. IX 863d10–e1), so scheint diese Lesart bei der vorliegenden Beschreibung nicht aufzugehen. Aber wir werden hier auch nicht als Gesamtkomplex beschrieben, den wir verkörpern; vielmehr scheint es eine Art Ich zu geben, das weder mit der Vernunft – denn diese würde sich nicht von sich aus von Lust und Schmerz leiten lassen – noch mit den unteren Seelenteilen – denn Lust und Schmerz scheinen selbst schon die Fäden zu sein, die uns leiten, also Teilmengen eines seelischen Vermögens zu verkörpern (vgl. Leg. I 644d7– 645b8) – zu identifizieren ist. 183 Dieses Ich ist offensichtlich im Normalfall recht schwach und triebanfällig oder die Triebe im entsprechenden Menschen sind einfach sehr, sehr stark (»eiserne Fäden«, vgl. Leg. I 645a2–3). Damit dieses Ich sich also am Ende richtig entscheidet, d. h. für den logismos, müssen Lust und Schmerz unablässig trai-

182 Dumme Menschen im herkömmlichen Sinne, d. h. Menschen, die einen schwachen Intellekt haben. Nicht gemeint sind unwissende Menschen im platonischen Sinne, da diese Personen sich durch einen innerlichen Konflikt auszeichnen. Für nähere Ausführungen vgl. Kap. 2.3. 183 Für die bisher wohl stärkste und ausdifferenzierteste Lesart eines solchen MetaAkteurs vgl. Horn 2015. Schon zuvor hat Rachana Kamtekar verschiedene Andeutungen eines solchen Ichs anerkannt, allerdings ohne dieser Tatsache größere Bedeutung beizumessen (vgl. Kamtekar 2010, S. 141). Am plausibelsten scheint es mir, einen solchen Meta-Akteur zwar als Andeutung in den Dialogen anzunehmen, ohne dabei aber eine große Kohärenz oder Theorie von platonischer Seite zu erwarten, da die These eines solchen Ichs und die damit verbundenen Schwierigkeiten offenbar nicht erkannt wurden oder nicht von Interesse waren.

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niert werden, sodass es sich auch ohne die Vernunft für die korrekte Handlung entscheidet. Ein wichtiger Diskussionspunkt in den Nomoi stellt nun die genaue Funktionsweise dieser Paideia dar und in diesem Kontext die Ambivalenz der mimêsis 184: Dass eine Seele zu jedem Zeitpunkt (zumindest außerhalb der kallipolis) und ungeachtet des Charaktertyps ihre innere Geordnetheit verlieren kann, betont Platon in der Politeia (vgl. v. a. Rep. X 605c6 ff.). In den Nomoi wird nun zwar dargelegt, wie mimêsis positiv eingesetzt werden kann, nämlich durch Darstellung guter Charaktere: Ath. Da Chortänze nachahmende Darstellungen von Charakteren sind und mit allen möglichen Handlungen und Situationen und Gesinnungen zu tun haben und da diese von den Tänzern jeweils mimisch dargestellt werden, so müssen notwendig diejenigen, deren Charakter das durch Worte oder durch Gesang oder sonstwie im Tanz Dargestellte, sei es aufgrund ihres Naturells oder aufgrund von Gewöhnung oder von beidem, entspricht, sich auch daran freuen, es loben und als schön bezeichnen; diejenigen dagegen, deren Naturell, Charakter oder Gewohnheit dies widerspricht, die können sich weder daran freuen noch es loben, sondern nur als häßlich bezeichnen. In den Fällen aber, wo jemandes Naturanlage richtig ist, die Gewohnheiten jedoch entgegengesetzt oder die Gewohnheiten richtig, die Naturanlage jedoch entgegengesetzt, da werden die Betreffenden ein Lob äußern, das mit ihren Lustempfindungen im Widerspruch steht. Jede dieser Darstellungen bezeichnen sie nämlich als lustvoll, aber schlecht; und vor andern Leuten, denen sie Einsicht zuschreiben, schämen sie sich, so etwas durch Körperbewegungen darzustellen, und schämen sich auch, so etwas zu singen, als 184 Die Bedeutung von mimêsis in den Werken Platons scheint zu variieren und ist Gegenstand einer weitläufigen Forschungsdiskussion (vgl. allein die vorherige Diskussion über die Bedeutung von mimêsis in Rep. II–III und X und für einen aktuellen Überblick auch Woodruff 2015). Für meine hier dargelegten Thesen soll es genügen, mimêsis als Darstellung im Sinne von aktiver Performanz, wie sie in der Chorpraxis anzutreffen ist, und Nachahmung zu begreifen, wobei sich diese beiden Übersetzungen keineswegs ausschließen, sondern vielmehr ergänzen: Wenn die Chortänzer gute Charaktere darstellen, ahmen sie diese im selben Moment nach. Für eine solche Ansicht vgl. auch Schöpsdau 1994: »[…] wer sich einem Tapferen ähnlich macht und ihn nachahmt, stellt ihn auch dar.« (S. 273) Für die genaue Debatte über die Bedeutungsnuancen und -änderungen von mimêsis in der griechischen Antike vgl. die einflussreiche Monographie Hermann Kollers, der die These vertritt, dass mimêsis vornehmlich »Ausdruck« und »Darstellung« bedeute, »Nachahmung« hingegen nur eine »sekundäre, verflachte Bedeutung« sei (1954, S. 57 f.; Kurs. im Orig.). Mimêsis sei eine »Lehre vom Ausdruck, die ganz am Tanz (an der Orchestik) entwickelt worden« sei (ebd., S. 66). Stark widersprochen hat dem aber bereits Gerald F. Else (vgl. 1958a, 1958b).

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ob sie dergleichen im Ernst für schön erklärten; im Herzen aber freuen sie sich daran. (vgl. Leg. II 655d5–656a5 185)

Die Textpassage stellt eine Antwort darauf dar, warum die Menschen unterschiedliche Meinungen über die Chortänze haben und sich nicht alle an derselben Art von choreia erfreuen (vgl. Leg. II 655b9–d4). Die Menschen freuen sich an den dargestellten Charakteren, wenn sie den eigenen ähneln und können so auch Freude an der tänzerischen Verkörperung von Untugenden haben. Ziel der Erziehung ist es aber, am Richtigen Freude zu empfinden, d. h. an der Darstellung tugendhafter Charaktere (vgl. Leg. II 653b2–c4). Am Ende der zitierten Passage wird auch erneut die Bedeutung des Einklangs der Seelenvermögen deutlich: Wenn die Anlagen schlecht sind und der Mensch nicht richtig erzogen wurde oder die Anlagen in seltenen Fällen einfach nicht zum Guten formbar sind, werden sie später dem Vernunfturteil widersprechen. Die gute Handlung wird damit nur widerwillig und ohne Freude ausgeführt. 186 Da dieser Mensch sich außerdem heimlich an der entgegengesetzten Charakterart freut, die schlechte Handlungen vollzieht, wird er sich nach und nach diesem schlechten Charakter angleichen (vgl. Leg. II 656b1–6). Somit wird auch die Macht der mimêsis deutlich, und zwar im Guten wie im Schlechten: Es müssen gute Charaktere nachgeahmt werden und an dieser Nachahmung Freude empfunden werden, sodass sich die Seelen der Magneten nach und nach diesen tugendhaften Charakterarten auch außerhalb der Chorpraxis 185 ΑΘ. Ἐπειδὴ μιμήματα τρόπων ἐστὶ τὰ περὶ τὰς χορείας, ἐν πράξεσί τε παντοδαπαῖς γιγνόμενα καὶ τύχαις, καὶ ἤθεσι καὶ μιμήσεσι διεξιόντων ἑκάστων, οἷς μὲν ἂν πρὸς τρόπου τὰ ῥηθέντα ἢ μελῳδηθέντα ἢ καὶ ὁπωσοῦν χορευθέντα, ἢ κατὰ φύσιν ἢ κατὰ ἔθος ἢ κατ’ ἀμφότερα, τούτους μὲν καὶ τούτοις χαίρειν τε καὶ ἐπαινεῖν αὐτὰ καὶ προσαγορεύειν καλὰ ἀναγκαῖον, οἷς δ’ ἂν παρὰ φύσιν ἢ τρόπον ἤ τινα συνήθειαν, οὔτε χαίρειν δυνατὸν οὔτε ἐπαινεῖν αἰσχρά τε προσαγορεύειν. οἷς δ’ ἂν τὰ μὲν τῆς φύσεως ὀρθὰ συμβαίνῃ, τὰ δὲ τῆς συνηθείας ἐναντία, ἢ τὰ μὲν τῆς συνηθείας ὀρθά, τὰ δὲ τῆς φύσεως ἐναντία, οὗτοι δὲ ταῖς ἡδοναῖς τοὺς ἐπαίνους ἐναντίους προσαγορεύουσιν· ἡδέα γὰρ τούτων ἕκαστα εἶναί φασι, πονηρὰ δέ, καὶ ἐναντίον ἄλλων οὓς οἴονται φρονεῖν αἰσχύνονται μὲν κινεῖσθαι τῷ σώματι τὰ τοιαῦτα, αἰσχύνονται δὲ ᾄδειν ὡς ἀποφαινόμενοι καλὰ μετὰ σπουδῆς, χαίρουσιν δὲ παρ’ αὑτοῖς. 186 Auch wenn Platon nicht die aristotelische Terminologie verwendet, so scheint hier doch die Art von Person gemeint zu sein, die Aristoteles später als enkratês bezeichnen wird. Ziel der platonischen Erziehung scheint es aber zu sein, eine Art spoudaios hervorzubringen. Zu den verschiedenen Charakterarten bei Aristoteles vgl. Kap. 2.6 und Charpenel 2017 (S. 209–238).

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annähern. Wie bereits in der Politeia gesehen, spiegelt sich auch hier Platons Auffassung von der Permeabilität zwischen realer Welt und Theater wider. Unser Verhalten im Theater, sei es als Zuschauer, der an bestimmten Charakterarten und entsprechenden Handlungen Freude empfindet, oder als Darsteller, der demselben Mechanismus in noch stärkerer Weise unterliegt, geht unweigerlich in unser alltägliches Verhalten über und formt dieses – ob negativ oder positiv hängt somit entscheidend von dem Szenario im Theater ab. Die positiven Ausführungen zur mimêsis in den Nomoi, die so in der Politeia noch nicht vorhanden waren, haben die Interpretinnen und Interpreten auf unterschiedliche Weisen zu lösen versucht: Revision Klaus Schöpsdau zufolge wird mimêsis in den Nomoi positiver aufgefasst als in der Politeia; dies sei darauf zurückzuführen, dass dem Tanz als »ursprünglichste Form der Mimesis« mehr Platz eingeräumt werde und dass die Erziehung »auf das Ethisch-Emotionale« 187 reduziert werde, was einer realistischeren Sichtweise entspreche. 188 So dargestellt, scheint er also von einer Meinungsänderung Platons auszugehen, der nun pragmatischer an die Erziehung herangeht – die nun zudem alle Bürger umfasse 189 – und positivere Seiten der mimêsis entdeckt hat. Ambivalenz Paul Woodruff hingegen ist der Auffassung, dass mimêsis an sich komplett wertneutral sei und dann positiv oder negativ eingesetzt werden könne. Somit stünden die Ausführungen aus Rep. X in keinerlei Widerspruch zu den Nomoi, da im letzten Buch der Politeia nur eine bestimmte Art von mimêsis ausgeschlossen wurde, nämlich Schöpsdau 1994, S. 273. Vgl. ebd., S. 273 f. 189 Vgl. ebd., S. 273 f. Die Ausweitung der Erziehung auf alle Bürger stellt bei genauem Hinsehen aber keinen echten Unterschied zur Politeia dar. Auf der politischen Ebene wurde zwar der unterste Stand bei den dortigen Ausführungen zur Erziehung nicht beachtet, aber auch in den Nomoi werden wohl zumindest die Handwerker und Kaufleute nicht an der Chorpraxis teilnehmen, da diese nun einmal den Bürgern Magnesias vorbehalten ist, »unfreie« Berufe aber nur von Fremden und Sklaven ausgeübt werden dürfen (vgl. Leg. I 644a2–5, V 741e1–6, VIII 835d6–e2, 846d1–847b2, XI 919d2–920a4). Vgl. auch die aristotelischen Ausführungen in Pol. VII 9, wo klar festgelegt wird, dass Bürger weder Händler, Handwerker noch Ackerbauern sein dürfen, da ihnen sonst die Muße für die Politik fehle. 187 188

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diejenige, die Falsches darstelle. Dies schließe aber eine positive Verwendung nicht aus. 190 Asymmetrische Ambivalenz Während ich grundsätzlich mit der Lesart übereinstimme, dass Platon sich in Politeia und Nomoi einfach auf den unterschiedlichen Einsatz der mimêsis beruft und die positivere Seite in den Nomoi zum ersten Mal starkmacht 191, darf m. E. dabei nicht der Fehler begangen werden, diese Verwendung symmetrisch zu verstehen: Man kann nicht in derselben Weise und mit demselben Aufwand gute oder schlechte Charaktere formen, je nachdem, wie mimêsis eingesetzt wird. Denn letztlich scheint mir die Wirkkraft der mimêsis bezüglich der Formung zu einem guten Charakter schwächer zu sein als ihre zerstörerische Kraft, die v. a. in Rep. X zum Ausdruck kommt, aber auch in den Nomoi des Öfteren anklingt (vgl. Leg. II 656c1–8, 669b5–c3). In den Nomoi stellen die Bürger selbst gute Charaktere dar, indem sie ihrer Altersklasse gemäß an einem der drei Chöre Magnesias teilnehmen (vgl. Leg. II 664c4–d4). Die mimêsis drückt sich hier in der körperlichen Bewegung der Choreuten aus 192, die dann durch ebendiese Bewegung auf die seelische Bewegung übertragen wird und so den Charakter der Chortänzer formt. Dabei bedient sich der Athener der Umkehrung einer empirischen Tatsache: Tugend und Untugend, die sich in der Seele manifestieren, drücken sich nach außen hin unterschiedlich in den körperlichen Bewegungen aus (vgl. Leg. II 655a4–b6, VII 815e4–816a6). Die Erziehung wiederum setzt an diesen körperlichen Bewegungen an, wenn es um Tanz und Gesang geht. Da junge Menschen ohnehin nicht ablassen können von der Bewegung (vgl. Leg. II 653d7–654a5), kann diese nun für die Erziehung genutzt werden, um diese korrekten, zunächst nur äußerlichen Bewegungen durch Stimme und Körper auf die Seele zu übertragen (vgl. für das frühkindliche Alter auch Leg. VII 790e8– 791c6). 193 Vgl. Woodruff 2015, S. 331–335. Vgl. dazu auch Pfefferkorn 2016. 192 Julia Pfefferkorn definiert schêma als »die in sich abgeschlossene minimale Darstellungseinheit des Tanzes und damit [als] de[n] eigentliche[n] Träger des mimetischen Aktes« (2016, S. 156; Kurs. im Original). 193 Für die Bewegung als Bindeglied zwischen Körper, Seele und Musik vgl. Pelosi 2010. Auch Francesco Fronterotta hebt die Bedeutung der Bewegung hervor: »[…] the soul and the body can communicate with each other because they share a common 190 191

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Diese positive Formung kann aber ganz offensichtlich nur durch aktive Teilnahme am Chor erfolgen; es genügt nicht, sich einfach ins Theater zu setzen und dort gute Charaktere bei guten Handlungen zu betrachten. Die Auffassung, dass aber die bloße Betrachtung schlechter Charaktere und entsprechender Handlungen bereits einen zerstörerischen Effekt haben kann, ist nicht nur in der Politeia klar ersichtlich, sondern wird auch in den Nomoi beibehalten: So sollten z. B. Klagechöre eigentlich nicht in Magnesia zugelassen werden; sind sie aber bei bestimmten Anlässen unvermeidlich, so dürfen die Magneten zumindest nicht an der Darstellung beteiligt sein (vgl. Leg. VII 800c7–e7). Hier wird denn auch der größere Zugriff deutlich, den die mimêsis auf die menschliche Seele hat, wenn das Individuum als Darsteller tätig ist. Das ist auch der Grund, warum Komödien nur von Fremden und Sklaven dargestellt werden dürfen (vgl. Leg. VII 816d3–817a1). 194 Damit ist im Grunde auch schon genug gegen die Lesart der Nomoi als Meinungsänderung vorgebracht: Es kann nicht so sein, dass mimêsis nun viel positiver besetzt ist, da ihre zerstörerische Kraft nirgends verneint, sondern vielmehr weiterhin bekräftigt und anerkannt wird. Denn sonst würde der Athener wohl kaum so viel Zeit darauf verwenden, zu erklären, dass man Dichter auf keinen Fall einfach darstellen lassen dürfe, was ihnen beliebe, und dass man sich vielmehr Ägypten mit seinen statischen Vorschriften zum Vorbild nehmen müsse (vgl. Leg. II 656c1–657c1). Dass die Assimilation des eigenen Charakters an das Dargestellte nicht automatisch positiv ist, wird ebenfalls deutlich gemacht, wenn der Athener diese Assimilation als größtes Gut, aber auch als größtes Übel bezeichnet, je nachdem, an welche Charakterart man sich durch die mimêsis im Chortanz annähert (vgl. Leg. II 656b1–8).

property, i. e. movement, and a common substantial scheme, i. e. their common geometrical and mathematical structure, […]« (2015, S. 49). 194 Der Grund dafür, dass sie überhaupt zugelassen sind, besteht darin, dass man auch die Untugend kennen muss. Sie selbst in einer Darstellung zu verkörpern, wäre aber fatal. Vgl. in Übereinstimmung dazu Rep. III 395e7–396a6: Οὐδέ γε ἄνδρας κακούς, ὡς ἔοικεν, δειλούς τε καὶ τὰ ἐναντία πράττοντας ὧν νυνδὴ εἴπομεν, κακηγοροῦντάς τε καὶ κωμῳδοῦντας ἀλλήλους καὶ αἰσχρολογοῦντας, μεθύοντας ἢ καὶ νήφοντας, ἢ καὶ ἄλλα ὅσα οἱ τοιοῦτοι καὶ ἐν λόγοις καὶ ἐν ἔργοις ἁμαρτάνουσιν εἰς αὑτούς τε καὶ εἰς ἄλλους, οἶμαι δὲ οὐδὲ μαινομένοις ἐθιστέον ἀφομοιοῦν αὑτοὺς ἐν λόγοις οὐδὲ ἐν ἔργοις· γνωστέον μὲν γὰρ καὶ μαινομένους καὶ πονηροὺς ἄνδρας τε καὶ γυναῖκας, ποιητέον δὲ οὐδὲν τούτων οὐδὲ μιμητέον.

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Daher plädiere ich für eine Relativierung der oben genannten Lesarten, die die positive Wirkmacht der mimêsis und der mousikê für die Nomoi so stark hervorheben und dabei teilweise auch von einer Meinungsänderung Platons ausgehen. 195 Bei diesen Interpretationen wird m. E. den Tatsachen zu wenig Rechnung getragen, dass (i) mimêsis immer noch genauso gefährlich sein kann, wie in der Politeia ausgeführt wurde, 196 und (ii) für eine positive Wirkung die Chorperformanz nie nachlassen darf, wohingegen es für negative Resultate auszureichen scheint, auch nur einmal einem Fehler hinsichtlich der mousikê und mimêsis oder schlicht einer nicht hinreichenden

195 Vgl. z. B. auch Peponi 2013, die die These vertritt, Platon betreibe eine »Deästhetisierung« der choreia. Indem er im Kontext der choreia das Publikum von den Überlegungen ausschließe und sich lediglich auf die Auswirkungen auf den Darsteller selbst konzentriere, reetabliere er die mousikê. So schreibt sie, dass »the extensive discussion of choreia […] emerges as his [i. e. Plato’s] way of fully redeeming mousike, while essentially depriving it of exactly what he considered a major cause of its decline: its function as an object of the audience’s pleasure and, consequently, its utter theatricalisation.« (Peponi 2013, S. 226) Die Beobachtung, dass sich der Athener im Kontext der choreia auf die Darsteller konzentriert, lässt jedoch nicht den Schluss einer so extremen Aufwertung der mousikê zu, wie dies Peponis Lesart suggeriert. Gerade wenn man als Darsteller Fehler macht und sich an der Darstellung schlechter Charaktere erfreut, wird die große Gefahr deutlich, die von solch einer verfehlten mousikê herrührt (vgl. Leg. II 655d5–656b7). In Übereinstimmung mit Peponi sieht Penelope Murray eine Spannung zwischen »mousike as theatre, and mousike as choreia« (2013, S. 310), die die ganzen Nomoi durchziehe. Das ist sicherlich richtig, nur darf man darin nicht den Unterschied zwischen negativer und positiver mousikê sehen, da auch die choreia die Gefahr der verfehlten Ausführung birgt. Daher kann ich der Schlussfolgerung von Marcus Folch auch nur teilweise zustimmen, wenn er sagt, dass »the Laws answers the challenge posed in the Republic and renders transgressive poetry ›not only sweet but beneficial to the city and to human life‹.« (2013, S. 360) 196 Pfefferkorns Interpretation übersieht nicht die Gefahr der mimêsis, betont aber die Möglichkeit der positiven Nutzung. So diene die »Darstellung des guten Charakters, wenn die richtige Auswahl und Überwachung der Tänze garantiert ist, hervorragend als Mittel der Erziehung zur ἀρετή« (2016, S. 159); allerdings besteht, wie man vielleicht annehmen könnte und wie oben erläutert, m. E. keine echte Symmetrie zum gegenteiligen Mechanismus: Für den Erhalt seines guten Charakters muss ein Bürger stets ohne Unterlass gute Charaktere nachahmen und darstellen, wohingegen ein solcher Aufwand nicht vonnöten ist, wenn es um schlechte Charaktere geht. Habe ich einen schlechten Charakter, so laufe ich nie »Gefahr«, dass sich dieser bessert, weil ich einmal eine längere Pause beim Darstellen unmoralischer Charaktere einlege. Pfefferkorn betont zwar auch, dass durch die Fragilität der Tugend der Besonnenheit eine lebenslange Erziehung notwendig sei, geht in diesem Zusammenhang aber nicht auf die sich daraus ergebende schwächere Wirkung der mimêsis ein, die sich mit der typischen Verfasstheit der menschlichen Natur erklären lässt (vgl. 2016, S. 169).

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oder gar fehlenden Erziehung ausgesetzt zu sein (vgl. Leg. II 669b5– c3, III 700d3, VI 766a1–4). Schließlich lässt sich noch darauf hinweisen, dass sich die Unterscheidung zwischen Zuschauern und Darstellern als weiteres Argument dafür anführen lässt, dass als Mittel zur positiven Charakterformung die mimêsis nur mit einem erheblich höheren Aufwand wirksam werden kann: Nur durch dauerhafte aktive Darstellung von guten Charakteren kann die Seele ihren guten Zustand erhalten; für die Bildung eines schlechten Charakters hingegen genügt bereits das Betrachten unmoralischer Individuen oder Handlungen (vgl. z. B. Leg. II 659b5–c5). 197 Man kann also festhalten, dass Menschen durchaus dauerhaft formbar sind, das Ergebnis allerdings nur mit einer nie nachlassenden Erziehung gesichert werden kann und mit der damit verbundenen Mühe, schlechte Einflüsse, die dem Erziehungsziel zuwiderlaufen, fernzuhalten – Voraussetzungen, die außerhalb solch strikt festgelegter platonischer Staatskonzeptionen wie der kallipolis oder Magnesia wohl kaum zu erfüllen sind. Und echte Stabilität eines guten Charakters kann somit auch nie erreicht werden, da stets von außen mithilfe der Erziehung nachgeholfen werden muss. Denn reine Gewöhnung, die bei der Mehrzahl der Menschen auf der Stufe der Konditionierung verbleibt, da sie aufgrund ihrer Anlagen keine weitergehende intellektuelle Erziehung erhalten, ist nicht hinreichend für Stabilität. 198 Dass aber selbst die besten Seelen nicht komplett stabil sind, hat sich bereits in der Politeia gezeigt, da mimêsis auch diese Seelen zerstören kann. Die Tatsache, dass die Seele wieder in Unordnung stürzen kann – was einen Missklang in der Seele erzeugt, der vom Athener als amathia bezeichnet wird (vgl. Leg. III 689a5–9) – zeigt sich denn auch wiederholt in den Nomoi. 199 Die Forderung nach einer lebenslangen 197 Gerade dieser Aspekt wird nicht bedacht, wenn man ohne nähere Differenzierung von einer einfachen Ambivalenz der mimêsis ausgeht, die an sich weder gut noch schlecht sei. Eine solche Lesart vertritt Paul Woodruff, der die mimêsis in den Nomoi für positiv erklärt, weil sie dort auf Wissen basiere (vgl. 2015, S. 331–335). Dass aber auch in den Nomoi bisweilen ihre Gefahr verdeutlicht wird, wurde bereits oben erläutert. 198 Vgl. dazu auch Leg. XII 951a4–b4: Reines ethos genügt nicht, um die Gesetze zu erhalten; man benötigt das Zusammenspiel mit der gnômê. 199 Diese Tatsache kann m. E. damit erklärt werden, dass es dort vornehmlich um die Erziehung durchschnittlicher Bürger geht und die weitergehende Erziehung, die nur die Mitglieder des nächtlichen Rates betrifft, lediglich am Ende angeschnitten wird (vgl. Leg. II 653c7–d5, 665c2–7, VII 817e5–818a7, XII 964d3–969d3). Bei Normalbür-

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Erziehung wird gerade dadurch untermauert, dass die richtige Erziehung, die man einst erfahren hat, schwinden kann: Wir wollen nun nicht über die Bezeichnung miteinander streiten, sondern die eben von uns anerkannte Behauptung soll gültig bleiben: daß diejenigen, die richtig erzogen worden sind, durchweg zu guten Menschen werden; und so darf man die Erziehung auf keinen Fall geringschätzen, da sie von den schönsten Gütern das erste ist, das den besten Menschen zuteil wird. Und wenn sie einmal schwindet, aber wiederhergestellt werden kann, so muß dies jedermann sein Leben lang stets tun, so gut er kann. (Leg. I 644a6–b4) 200

Dass es sich beim Rückgang der Wirkung, die die Erziehung in den Seelen erreicht hat, und bei der möglichen Wiederherstellung der seelischen Ordnung um eine reale Möglichkeit handelt und diese gerade nicht rein hypothetisch zu verstehen ist, wird später klar ersichtlich, wenn die Bedeutung der Feste in Magnesia hervorgehoben wird, die als ständige Erneuerung der einst erfahrenen, nun aber nachlassenden Erziehung fungieren (vgl. Leg. II 653c7–654a8). Während im Timaios der Fokus auf den geordneten seelischen und körperlichen Bewegungen liegt (vgl. Kap. 2.3.2), wird in den Nomoi insbesondere durch das musikalische Vokabular 201 noch stärker die Verbindung zwischen den geordneten Bewegungen, der dadurch entstehenden seelischen Übereinstimmung und Harmonie und der Tugend hervorgehoben. Geordnete Bewegungen bewirken Harmonie nicht nur im übertragenen Sinne, die wiederum gleichbedeutend mit einer tugendhaften Seele ist. Das Gegenteil stellt der Missklang dar, der mit dem Verlust der Tugend und Unwissenheit gleichgesetzt wird – ein Hinweis darauf, dass nur der Unwissende schlecht handelt. In den Nomoi wird diese These zudem nachvollziehbarer, da Platon Unwissenheit so umdefiniert, dass es sich nicht um ein rein intellektuelgern ist die Gefahr eines Abrutschens in die Unwissenheit, die sich in seelischer Unordnung manifestiert, noch größer. 200 ἡμεῖς δὴ μηδὲν ὀνόματι διαφερώμεθ’ αὑτοῖς, ἀλλ’ ὁ νυνδὴ λόγος ἡμῖν ὁμολογηθεὶς μενέτω, ὡς οἵ γε ὀρθῶς πεπαιδευμένοι σχεδὸν ἀγαθοὶ γίγνονται, καὶ δεῖ δὴ τὴν παιδείαν μηδαμοῦ ἀτιμάζειν, ὡς πρῶτον τῶν καλλίστων τοῖς ἀρίστοις ἀνδράσιν παραγιγνόμενον· καὶ εἴ ποτε ἐξέρχεται, δυνατὸν δ’ ἐστὶν ἐπανορθοῦσθαι, τοῦτ’ ἀεὶ δραστέον διὰ βίου παντὶ κατὰ δύναμιν. 201 Vgl. dazu die Beschreibung der Tugend als symphônia (vgl. Leg. II 653b2–c4) und der größten Unwissenheit als diaphônia (vgl. Leg. III 689a5–9, 691a5–6). Aber auch auf der Dialogebene geht es um Übereinstimmungen und Dissonanzen zwischen den Gesprächspartnern (vgl. Leg. II 662b1–2). Vgl. außerdem die inhaltlichen Überlegungen zum richtigen Maß der Einwohnerzahl (vgl. bes. Leg. V 746e2–3). Seelen im Wandel

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les Unwissen oder Irren handelt, sondern die gesamte seelische Situation umfasst: Die Vernunft mag zwar immer noch funktionstüchtig sein und das Richtige anmahnen, nur wird aufgrund der Stärke der unteren Seelenteile nicht auf sie gehört (vgl. Leg. III 689a5–c3). Und da die Hauptmotivatoren von Menschen nun einmal hauptsächlich Lust und Schmerz sind, »eiserne Fäden«, die auch bei guter Erziehung und Bändigung doch immer wieder die Oberhand erlangen können (vgl. Leg. I 645a2–3, II 653a5–c4, V 733a9–b3), gilt es, die Erziehung als lebenslange Praxis nie abbrechen zu lassen und Lust wie Schmerz durchgehend zu bearbeiten und unter Kontrolle zu bekommen, sodass die Seele ihren tugendhaften, gut gestimmten Zustand, der sich in einem Einklang zwischen dem, was die Vernunft anrät, und den Befehlen der irrationalen Regungen ausdrückt, erhält und den unteren Antriebsvermögen nicht die Herrschaft ermöglicht. Da auch Philosophen keine Götter sind 202, haben auch sie an diesen unteren Vermögen Anteil und sind, wenn auch vermutlich in geringerem Maße doch ebenfalls dieser Gefahr ausgesetzt, was sich im Übrigen auch mit der Ansicht der Politeia deckt, nach der philosophische Seelen zwar stabil sind, aber nicht stabil genug, um sich dem Einfluss der mimêsis vollständig zu entziehen. Mögliche Einwände Wenn die These stimmt, dass so gut wie alle Charaktere mit dem entsprechenden Aufwand auch im Erwachsenenalter noch zum Guten hin veränderbar sind, dann stellt sich natürlich die Frage, warum in der kallipolis jugendliche Personen einfach ausgewiesen werden, anstatt zu versuchen, ihren vielleicht schon gefestigteren Charakter zum Guten hin zu ändern (vgl. Rep. VII 540e5–541b1). Meiner Meinung nach könnte man dieses Problem mit der unterschiedlichen Aufgabenstellung von Politeia und Nomoi zu erklären versuchen: Die Politeia stellt die Konstruktion eines Idealstaates dar, d. h. die entsprechenden Bürger werden unter Idealbedingungen erzogen. Die Erziehung ist aber am einfachsten und wirkungsvollsten, wenn sie in sehr jungen Jahren beginnt – hier stimmen beide Dialoge überein (vgl. Rep. II 377a12–b4, Leg. VII 792d4–e2). Die Philosophenherrscher müssen sich hier also nicht die Mühe machen, Ju-

202 Vgl. zur bloßen Gottähnlichkeit des Philosophen in Bezug auf die Politeia Kap. 3.3.2.

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gendliche und Erwachsene umzuerziehen, da sie unter Idealbedingungen die kallipolis bilden können. In den Nomoi hingegen geht es um die reale Gründung einer Kolonie, sodass es unrealistisch und unpraktikabel wäre, alle Bürger, die älter als zehn Jahre sind, auszuweisen und nur mit den Jüngsten zu arbeiten. Es muss vielmehr versucht werden, aus dem gegebenen Material den besten Staat zu formen – den zweitbesten Staat (vgl. Leg. V 739b8–e7) –, d. h. erst jetzt tritt die Frage in den Vordergrund, ob und wenn ja, wie nicht mehr ganz junge Charaktere umzuformen sind. 203 Passend zu den genauen Regelungen, die für die Gründung einer solchen Kolonie notwendig sind, wird nun auch dieser Punkt genauer ausgeführt: Es sind geregelte Symposien notwendig unter der Aufsicht eines Vorstehers. Denn Platon scheint die Auffassung zu vertreten, dass der Charakter eines Individuums im Laufe eines Lebens stetig härter und schlechter formbar wird (vgl. Rep. II 377a12–b4, Leg. II 666b2–c2, VII 792d4–e2), sodass grundsätzlich davon auszugehen wäre, dass ab einem bestimmten Punkt nur noch wenig oder gar nichts mehr geändert werden kann. Diese durchaus nachvollziehbare Sichtweise wird nun aber ergänzt, indem die Wirkung des Alkohols genutzt wird. Alkohol mache die Seelen »weicher« und dadurch wieder formbarer, ja wir würden durch Alkoholkonsum gar in den Zustand der Kindheit zurückversetzt werden (vgl. Leg. II 666a2–c7): die ideale Ausgangsbedingung für eine Charakteränderung. Elizabeth Belfiore hat sich genauer mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und sieht hier einen starken Kontrast zwischen Politeia und Nomoi hinsichtlich der Psychologie. Während in der Politeia das irrationale Element nur negativ gesehen werde und auch nicht kurzzeitig beispielsweise bei einer Theateraufführung genährt werden dürfe, sei in den Nomoi das Gegenteil der Fall. Jetzt wirke das Heraufbeschwören irrationaler Begehren als positives Element der Erziehung. 204 Sie gibt dafür mehrere Beispiele; der Punkt mit der Theateraufführung ist m. E. aber zu entkräften, da darauf geachtet 203 Wobei aber auch in Magnesia eine gewisse Selektion vorgenommen wird: Wenngleich keine Altersgrenze gilt, wird darüber gewacht, dass keine schlechten Menschen zu Bürgern Magnesias werden (vgl. Leg. V 736a3–c4). 204 Vgl. Belfiore 1986. Bezüglich der positiven Sicht des Irrationalen schreibt sie: »In the Laws Plato welcomes, for the first and only time, anti-rational emotion as a beneficial and necessary element in the human soul.« (S. 437). Die unteren Seelenteile sorgen aber dafür, dass wir uns um den Körper kümmern. Und dass dies im Diesseits

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werden muss, dass das Publikum im Theater oder auch die Schauspieler nicht unter der Aufsicht eines Symposiarchen stehen und es sich damit keineswegs um ein kontrolliertes Heraufbeschwören des epithymêtikon handeln kann. Platon hat sich dort sicherlich nicht mit den positiven Aspekten des epithymêtikon beschäftigt; da er dies allerdings nur für eine streng geregelte Erziehung in den Nomoi herausarbeitet, könnte es auch der Fall sein, dass es außerhalb eines solchen konkreten Erziehungssystems einfach keinen Anlass gegeben hat, diese nützliche Seite stärker hervorzukehren. Ob man es nun aber mit Kindern oder betrunkenen Erwachsenen zu tun hat, Zielgruppe der Erziehung sind offensichtlich »weiche« Seelen, die noch gut formbar sind und auf die somit mousikê und gymnastikê ihre volle Wirkung ausüben können. 205 Zu (2): Wenn fast alle Seelen das ganze Leben hindurch formbar sind, welche Rolle spielen dann noch die Anlagen? Stellen sie eine gewisse Grenze für die Formbarkeit dar oder können sie überwunden werden? Ob für die Bildung eines Charakters die natürlichen Anlagen oder die erzieherischen Maßnahmen, die das entsprechende Individuum erfährt, ausschlaggebend sind oder eine mehr oder weniger gleichberechtigte Kombination beider Faktoren, ist bis heute ein in der Forschung umstrittenes Thema. Dabei lassen sich für beide Positionen genügend Forschermeinungen finden: T1: Primat der Erziehung Einer der wichtigsten Vertreter für eine solche Lesart stellt sicherlich immer noch Werner Jaeger dar, der die große Bedeutung und Wirkkraft der Erziehung in den platonischen Dialogen herausstellt. So sieht er z. B. in der Politeia den Staat lediglich als Rahmen und Hintergrund der Erziehung; der eigentliche Gegenstand der Untersuchung sei vielmehr »der Mensch in seiner staatschaffenden Kraft« 206. Der Charakter werde dabei immer – mit Ausnahme der göttlichen Fügung – durch die Paideia der Gesellschaft geformt. Auch

durchaus im richtigen Maße notwendig und wichtig für das Wohlergehen der Seele ist, zeigt spätestens der Timaios (vgl. Tim. 87c1–89d1). 205 Auf Erziehung im Sinne von Bestrafungen wird in Kap. 2.4 näher eingegangen. Vgl. aber auch schon Kap. 2.2. 206 Jaeger 1959 (II), S. 338.

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die Nomoi sieht er als ein Werk an, das komplett der Erziehung gewidmet sei. 207 Interpretiert man die platonischen Dialoge auf diese Weise, kann man von einer recht optimistischen Lesart sprechen, da für die Heranbildung eines guten – wenngleich nicht zwangsläufig philosophischen – Charakters und dem Glück des Einzelnen eine gute Erziehung hinreichend scheint. T2: Primat der natürlichen Anlagen Christopher Bobonich hingegen schreibt den Anlagen die entscheidende Bedeutung zu: In Dialogen wie dem Phaidon und der Politeia können nur philosophisch veranlagte Menschen die Tugenden erlangen und damit auch ein glückliches Leben, da für Bobonich der Besitz wahrer Tugend die Voraussetzung für das Erlangen von Glück ist. Da der Hauptfehler der Nicht-Philosophen epistemisch sei, d. h. da sie im Phaidon und der Politeia keinen Anteil an der phronêsis bzw. der sophia haben, könnten sie auch nie zu wahrer Tugend und zu einem glückseligen Leben gelangen. Daher bleibe allen Nicht-Philosophen die eudaimonia grundsätzlich verwehrt, auch wenn die Erziehung ideal sein mag. In den Nomoi sieht Bobonich allerdings eine radikale Änderung in Platons Auffassung von Nicht-Philosophen: Jetzt sei mindestens eine Teilmenge der gewöhnlichen Leute in der Lage, wahre Tugend und damit Glück zu erlangen. Somit vertrete Platon in den Spätdialogen eine weitaus optimistischere Sicht bezüglich der Fähigkeiten von Nicht-Philosophen – Bobonich zufolge sei aber die unterste Gruppe der kallipolis ohnehin aus Magnesia ausgeschlossen, da sie nicht in der Lage sei, an wahrer Tugend teilzuhaben. 208 Bei einer solchen Interpretation liegt der Primat eindeutig bei den Anlagen, besonders was den Phaidon und die Politeia betrifft. Ob wir glücklich werden können, hängt davon ab, zu welcher Menschengruppe wir gehören, d. h. welche Anlagen uns gegeben sind. T3: Gleichwertigkeit von Erziehung und Anlagen (Konvergenzthese 209) Diese Lesart sieht sowohl die erzieherischen Maßnahmen als auch die Anlagen als entscheidende Faktoren für die Formung eines CharakVgl. Jaeger 1959 (II), S. 312 f., 338, 351; Jaeger 1959 (III), S. 99, 291–293. Vgl. Bobonich 2002, S. 6–10, 12, 16, 22, 29, 31, 37, 39–41, 43, 47, 52–54, 58, 69, 72, 80 f., 90 f., 378, 416 f. 209 In Anlehnung an die heutige Konvergenztheorie (vgl. Kap. 1.1). 207 208

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ters an, ohne einem der beiden Aspekte größeres Gewicht zu geben. Eine solche Auffassung vertritt z. B. Maria Schwartz unter Bezug auf Textstellen aus Politeia und Nomoi. 210 Im Folgenden möchte ich mich im Allgemeinen für T3 aussprechen und gegen T2 einwenden, dass unabhängig von der Werkphase alle Charaktere mit Ausnahme der Unheilbaren zu halbwegs guten, d. h. geordneten Charakteren herangebildet werden können – ein Zustand, der eine innerseelische Harmonie 211 aufweist und der laut den Nomoi sogar sophia genannt werden müsse (ohne dabei jedoch die echte zu meinen – denn die ist auch hier für Durchschnittsbürger nicht zu erreichen, vgl. Leg. III 689c6–e2). Ich werde mich auch hier bei der Untersuchung auf die Interpretation der Politeia und der Nomoi konzentrieren, da dort das jeweilige Erziehungssystem besonders systematisch dargelegt und ausgeprägt zu sein scheint. Auch finden sich zahlreiche Textstellen zur Bildung des êthos speziell in diesen

210 Vgl. Schwartz 2013, S. 381–384. Sie weist aber auch darauf hin, dass trotz des prinzipiellen Wechselspiels einzelne Ausnahmen bestehen können wie Sokrates, der nicht das Erziehungssystem der kallipolis durchlaufen hat, und Unheilbare, bei denen selbst die Erziehung in Magnesia nichts gegen ihre schlechten Anlagen hat ausrichten können (vgl. S. 383 f.). 211 Gegen die Harmoniethese könnte Marco Solinas einwenden, dass die seelische Ordnung in der Politeia stets durch ein Repressionsszenario gekennzeichnet ist, das sich in der Unterdrückung der Triebe durch die Vernunft manifestiert (vgl. 2004). Er bezieht sich in seiner Untersuchung, in der er die platonischen Ansichten zur Seele aus der Politeia mit Thesen Freuds vergleicht, v. a. auf Rep. VIII–IX und hebt hervor, dass als Ergebnis der Repression die Wünsche entweder komplett entfernt, »›wenig[] und schwach[]‹« oder »›stärker[] […] und in größerer Zahl […]‹« (2004, S. 94) in der Seele zurückbleiben können (vgl. 2004, S. 93 f.). Allerdings scheint mir die Unterdrückung ein Kennzeichen bereits mehr oder weniger defekter Seelenzustände zu sein, während in der geordneten Seele des wahren Philosophen eine echte Harmonie zu herrschen scheint, sodass bei ihm zumindest die gesetzwidrigen Wünsche offenbar komplett entfernt wurden. Vgl. für die These, dass eine gerechte Seele auch harmonisch ist, z. B. Rep. IV 442c10–d3, wo die Besonnenheit erläutert wird. Dass aber auch die Mehrzahl der Philosophen noch anfällig ist für das zerstörerische Potential der mimêsis (s. o.), könnte mit einer Aufteilung zu erklären sein, die ich in Kap. 3.3.1 diskutiere: Philosophen, die in der kallipolis erzogen werden, scheinen nicht denselben Grad an Perfektion zu erreichen wie diejenigen, die auf eigene Faust ihre philosophische Natur erhalten haben und ausleben (wenn auch nicht notwendig öffentlich). Somit könnten kallipolis-Philosophen durchaus noch einige gesetzwidrige Wünsche in ihrer Seele aufbewahrt haben, während es der anderen Gruppe von Philosophen gelungen ist, diese Wünsche komplett zu entfernen (vgl. für nähere Ausführungen zu diesen leicht unterschiedlichen Charakterarten Kap. 3.3.1).

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beiden Dialogen (vgl. Rep. II 376e2 – III 412b6, IV 423d8–425a7, VI 490e2–501c2, VII 540e5–541a8, VIII 548e4 – IX 576b10; Leg. I 649a1 – II 674c7, III 679b7–c8, IV 704d3–705b6, VI 773c3–e4, 775a4– 776b4, VII 788a1–824a22). Bobonichs Lesart scheint mir insoweit noch plausibel, als sie davon ausgeht, dass Nicht-Philosophen nur bürgerliche und nicht wahre Tugenden erlangen können, da ihnen das Wissen dafür fehlt. Allerdings ist m. E. nicht nachvollziehbar, warum dies einen Grund darstellen sollte, diesen Menschen jegliches Glück abzusprechen. Platons Sokrates wiederholt in der Politeia mehrmals, dass es nicht um das Glück einer bestimmten Gruppe gehe, sondern um das Glück des gesamten Staates (vgl. Rep. IV 420b4–421c6). Da die Philosophen den kleinsten Teil der kallipolis ausmachen (vgl. Rep. IV 428c11–429a3), könnte man nicht davon sprechen, dass der Staat glücklich sei, wenn Bobonichs Interpretation richtig ist. Ein Problem scheint mir darin zu liegen, dass nach seiner Lesart die Wächter mit den timokratischen Charakteren aus Rep. VIII gleichzusetzen seien. Überhaupt scheint seine Interpretation – Rep. VIII und IX folgend – nur von der Existenz von einer guten Charakterart und vier schlechten Typen auszugehen. 212 So ist es folgerichtig, dass ausschließlich der Philosoph ein gutes und glückliches Leben führen kann. Es wird sich aber im dritten Kapitel noch zeigen, dass weitaus mehr Charakterarten angenommen werden müssen, darunter auch der Charakter der Wächter und der Charakter der Kaufleute, Bauern und Handwerker, die nicht mit einer der degenerierten Charakterformen aus Rep. VIII und IX gleichgesetzt werden dürfen. Mir scheint es vielmehr angebracht, neben dem Philosophen und den schlechten Charakteren auch einige durchschnittliche Charaktere anzunehmen, die zwar nicht die vollkommene Tugend erlangen, aber eine bürgerliche Art davon. 213 Diese bürgerliche Tugend macht sie keineswegs zu schlechten Menschen, wie sich insbesondere an den Jenseitsmythen von Phaidon und Politeia feststellen lässt: Diese Menschen scheinen sowohl gute als auch schlechte Taten begangen zu haben, für die sie im Jenseits zur Rechenschaft gezogen werden. Trotz ihrer Unperfektheit wird nicht ausgeschlossen, dass sie zur Bes-

Vgl. Bobonich 2002, S. 50, 55. Gegen Annas 2010, die im Gegensatz zu Kraut (vgl. 2010) davon ausgeht, dass die Bürger von Magnesia wahre Tugenden erlangen (vgl. besonders S. 74). 212 213

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serung fähig sind; sie gehören zu den noch heilbaren Charakteren (vgl. Phd. 113d1–e1; Rep. X 614b2–621d3 214). Es ist richtig, dass die beiden unteren Gruppen der kallipolis nicht von ihrem vernünftigen Seelenteil regiert werden. Von außen jedoch lassen sie sich durch die Vernunft in Gestalt der Philosophenkönige regieren, und zwar mit ihrer Zustimmung. 215 Es wird in der Politeia im idealen Charakter und Staat kein Kampf dargestellt wie im Phaidros; Besonnenheit besteht vielmehr darin, dass jeder Teil sich im Klaren darüber ist, wer herrschen soll, sodass prinzipiell ein Bild von Eintracht vermittelt wird (vgl. Rep. IV 430e6–10, 431e4– 432b1, 442c10–d3). Es scheint absurd, dann davon auszugehen, dass trotz dieser Eintracht und Harmonie zwischen drei Gruppen des Staates zwei davon unglücklich seien. Zwar werden Wächter und Kaufleute, Bauern und Handwerker aufgrund ihrer kognitiven Beschränkungen nicht das Glück der Philosophen erleben, wenn diese die Ideen erblicken (vgl. Rep. IX 580b8–587e4 216). Das schließt aber nicht aus, dass diese beiden Gruppen ein ihnen entsprechendes Glück erleben, nämlich genau dann, wenn sie die ihnen eigene Aufgabe ausführen. Dies führt laut Rep. IV zu Gerechtigkeit – wenngleich diese bei Nicht-Philosophen bürgerlich sein wird –, die ihnen ein zufriedenes Leben ermöglicht. 217 Befänden sich die beiden unteren Gruppen in ständiger Unzufriedenheit, würde es vielmehr zur stasis kommen und zu keinem geordneten, harmonischen Staat, wie ihn die kallipolis repräsentiert (vgl. Rep. IV 427e6–12, 442c10–d3, 443b1–6). Daher würde ich Platons Sokrates keine so pessimistische Sichtweise in Phaidon und Politeia hinsichtlich der eudaimonia zuschrei214 Natürlich besteht die Gefahr, dass nur bürgerlich Tugendhafte das Leben des Tyrannen wählen und somit unheilbar werden. Dies stellt jedoch keine Notwendigkeit dar, eher scheinen Durchschnittspersonen zwischen guten und schlechten Leben zu alternieren, ohne dabei in eines der beiden Extreme zu geraten (vgl. dafür auch Phd. 89e6–90b3; Annas 1982, S. 135 und Kap. 2.2). 215 Vgl. Kraut 2010, S. 58 f. und Rep. IX 590d5, worauf auch Kraut verweist (für den gesamten Kontext vgl. Rep. IX 590c8–d7). 216 Die beiden unteren Gruppen der kallipolis entsprechen dabei nicht den vollständig von thymoeides oder epithymêtikon dominierten Seelen, da sie immerhin von außen durch das logistikon der Philosophenherrscher geleitet werden (vgl. Rep. IV 431c9– d3, IX 590c8–d7). 217 In der Annahme, dass bürgerliche Tugenden Nicht-Philosophen ein glückliches Leben ermöglichen können, folge ich Kraut 2010 (vgl. S. 69 f.) wie auch in der Argumentation, dass die Bürger von Magnesia größtenteils bürgerliche Tugenden erlangen (vgl. S. 64 f.).

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ben und in Bezug auf die Charakterveränderung auch keinen echten Pessimismus vertreten. Die Anlagen stellen zwar die Grenze der Formbarkeit dar, sind aber nur in den seltensten Fällen so schlecht, dass sich daraus kein guter Charakter entwickeln könnte. 218 Somit stellt sich auch kein Widerspruch zu den Nomoi ein, wo der Athener klar der Auffassung ist, dass sich Menschen, die die richtige Erziehung durchlaufen haben, bis auf wenige Ausnahmen stets zu guten Menschen entwickeln (vgl. Leg. I 644a6–b2 219). Zudem kann man auf der anderen Seite nicht davon ausgehen, dass gute Anlagen hinreichend für einen späteren guten Charakter seien: Bis auf wenige Ausnahmen ist immer eine gute Erziehung notwendig, damit ein guter Charakter entstehen kann. Dazu erklärt Platons Sokrates in Bezug auf den demokratischen Menschen: »Dazu die Sorglosigkeit und Geringschätzung, ja Verachtung, die dieser Staat unserem als wichtig betonten Grundsatz für die Staatengründung entgegenbringt: wer nicht eine überragende Anlage habe, werde niemals ein tüchtiger Mann, wenn er nicht schon von Kindheit auf in Spiel und Ernst mit dem Schönen umgehe. […]« (Rep. VIII 558b1–5 220)

Dadurch wird auch der starke Kontrast zu den Nomoi aufgehoben: Es scheint vielmehr der Fall zu sein, dass Platon in allen Werkphasen die Annahme vertritt, dass es bestimmte, nicht mehr besserungsfähige Charaktere gibt, die allerdings nur selten anzutreffen sind und somit Ausnahmen darstellen (vgl. Kap. 2.2). Alle anderen Individuen aber haben zumindest die Möglichkeit, bürgerliche Tugenden zu erlangen, wenn sie einer idealen Erziehung unterzogen werden. 221 Vgl. zu den wenigen Ausnahmen Kap. 2.2. ἡμεῖς δὴ μηδὲν ὀνόματι διαφερώμεθ’ αὑτοῖς, ἀλλ’ ὁ νυνδὴ λόγος ἡμῖν ὁμολογηθεὶς μενέτω, ὡς οἵ γε ὀρθῶς πεπαιδευμένοι σχεδὸν ἀγαθοὶ γίγνονται, καὶ δεῖ δὴ τὴν παιδείαν μηδαμοῦ ἀτιμάζειν, ὡς πρῶτον τῶν καλλίστων τοῖς ἀρίστοις ἀνδράσιν παραγιγνόμενον· Dass die Menschen bei einer guten Erziehung alle so »ziemlich gut« werden, spricht außerdem dafür, dass nicht alle vollkommene, aber doch bürgerliche Tugenden erlangen werden. 220 Ἡ δὲ συγγνώμη καὶ οὐδ’ ὁπωστιοῦν σμικρολογία αὐτὴς, ἀλλὰ καταφρόνησις ὧν ἡμεῖς ἐλέγομεν σεμνύνοντες, ὅτε τὴν πόλιν ᾠκίζομεν, ὡς εἰ μή τις ὑπερβεβλημένην φύσιν ἔχοι, οὔποτ’ ἂν γένοιτο ἀνὴρ ἀγαθός, εἰ μὴ παῖς ὢν εὐθὺς παίζοι ἐν καλοῖς καὶ ἐπιτηδεύοι τὰ τοιαῦτα πάντα, […] 221 Vgl. Kraut 2010, der ebenfalls von wenigen Extremcharakteren ausgeht und vielen Charakterarten dazwischen; er verweist u. a. ebenfalls auf die Stelle im Phaidon (90a1–2) (vgl. S. 51–54). Für eine Darstellung der verschiedenen Charaktertypen vgl. Kap. 3. 218 219

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2.2 Unheilbare Seelen – über die Grenzen der Paideia Während in der Forschungsliteratur bisher meist (und auch zu Recht) die große Bedeutsamkeit der Paideia thematisiert wurde 222, soll hier nun der Fokus auf den Menschen liegen, bei denen entweder bereits eine Heranbildung zur Tugend oder eine spätere Umerziehung und Bestrafung allein von ihrem seelischen Zustand her ausgeschlossen ist. Die prinzipielle Bedeutung der Paideia in den platonischen Dialogen wird dabei, wie im vorigen Unterkapitel gesehen, nicht verneint; allerdings ist es bei allem Optimismus nach einer genauen Untersuchung der Erziehungsrichtlinien nun angebracht, die Aufmerksamkeit auf die Grenzen der Erziehung zu lenken, sodass deutlicher wird, an welchen Adressatenkreis sich die Paideia überhaupt richtet. Es geht in diesem zweiten Teil also nicht um Menschen, deren Erziehung irgendwann an eine Grenze stoßen wird – wie dies z. B. bei den unteren Gruppen der kallipolis der Fall zu sein scheint 223 –, sondern um solche Individuen, bei denen jeglicher Versuch der Erziehung oder Umerziehung zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. 224 Innerhalb der Forschung und der Philosophiegeschichte lassen sich folgende Positionen festmachen: Negationsthese: Es wird die Annahme zurückgewiesen, dass Platon von der Existenz solcher unheilbaren Seelen ausgeht, da dies dazu führe, dass dieser Typ von Seelen aufgrund ihrer ewigen Bestrafung im Hades nicht mehr auf der Welt anzutreffen sei, was aber Proklos zufolge nicht Vgl. z. B. Jaeger 1959, Gill 1985. Für eine Diskussion von Bobonich 2002, der den unteren beiden Gruppen zudem Tugend und Glück abspricht, vgl. Kap. 2.1. 224 Nur diese Seelen fallen also klar unter den Begriff der Unheilbarkeit, d. h. nur tyrannische Charaktere (für eine genauere Definition s. u.). Auch wenn Platons Sokrates im Kontext von Rep. VIII und IX eine Degeneration darstellt und im Diesseits zumindest von keiner Besserung der degenerierten Charakterformen auszugehen scheint, da er sich auf den Verfall fokussiert (vgl. Kap. 3.1 und 3.2), spricht m. E. doch viel dafür, die anderen schlechten Charaktere nicht als unheilbar zu charakterisieren: Sokrates gebraucht in diesem Kontext nie das Wort aniatos; v. a. in den Jenseitsmythen zeigt sich, dass die Unheilbarkeit sich auf tatsächliche Tyrannen beschränkt und auf solche, die zwar politisch diese Funktion nicht ausgeübt haben, aber deren Seele aufgrund der Vielzahl an ungerechten Handlungen als tyrannisch bezeichnet werden kann. Absolute Sicherheit kann über diesen Punkt aber nicht gewonnen werden. 222 223

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angenommen werden dürfe. Seine Interpretation beruht auf einer nicht wörtlichen Lesart der Unheilbarkeitsstellen: Eine unheilbare Seele sei daher lediglich in dem Sinne zu verstehen, dass sie aus sich selbst heraus zu keinerlei Heilung mehr fähig sei. Durch äußere Hilfe sei dies aber durchaus möglich. Proklos’ Lesart führt ihn dann dazu, auch die ewige Bestrafung zu verneinen. 225 Adaptionsthese: Diese Lesart geht davon aus, dass in den platonischen Dialogen zwar Unheilbare erwähnt werden, die durchaus wörtlich zu interpretieren sind. Allerdings repräsentieren sie in keiner Weise Platons Meinung selbst, sondern stellen die Meinung des Publikums oder der Zuhörer dar, die Platons Sokrates an diesen Stellen übernommen habe. Eine solche Interpretation vertritt Christopher Rowe in Bezug auf den Gorgias. 226 Existenzthese der Unheilbaren: Die Textbelege sind nicht nur wörtlich zu interpretieren, sondern auch Platons Auffassung zuzuordnen. Während die meisten Forscherinnen und Forscher diese These nicht ausformulieren und nur am Rande als Platons Meinung bemerken, ohne dieses Phänomen einer näheren Analyse zu unterziehen 227, werde ich im Folgenden ver225 Vgl. O’Meara 2003, S. 109 f. Neben Proklos kann auch Olympiodor nicht akzeptieren, dass diese Seelen auf ewig bestraft werden, da Strafe einen Nutzen haben sollte, nämlich unsere Leben zu verbessern (vgl. ebd., S. 110). 226 Vgl. Rowe 2012 (v. a. S. 194 (Fn. 30)). 227 Vgl. z. B. Jaeger 1959 (II, S. 220), Annas 1982, Bobonich 2002 (S. 56 f.), Dalfen 2004 (S. 491–493), Ebert 2004 (S. 442), Inwood 2009, Stalley 2009, Schöpsdau 2011 (S. 265, 291, 527). Vgl. aber auch Schwartz 2013, die bzgl. des Gorgias, Phaidon und der Politeia näher auf die Unheilbaren eingeht (vgl. S. 332, 340, 347 f.), die Frage nach der genauen Definition und Bestimmung der Unheilbaren aber bewusst offen lässt (vgl. S. 332 f., Fn. 31). Meines Wissens haben sich nur in Bezug auf den Gorgias einige wenige Forscher genauer mit der Unheilbarkeit befasst: vgl. dazu Brickhouse/Smith 2002, 2007 und Edmonds III. 2012. Auch Sedley 2009 behandelt im Rahmen der Mythos-Interpretation des Gorgias die Unheilbaren genauer und sieht eine Inkompatibilität zwischen Jenseitsmythos und vorhergehendem Dialog (er verweist dabei auf Gorg. 512a2–b2 und Gorg. 480e5–481b1), da zuvor noch angenommen wurde, das Leiden der Unheilbaren ende mit ihrem Tod. Er meint, dass der Leser nun die Wahl habe, den Mythos entweder rein symbolisch zu lesen oder die vorherige Auffassung als überholt anzusehen. Letzteres nimmt er auch für den Jenseitsmythos der Politeia an, sodass die vorherige Auffassung aus Rep. III 409e–410a neu betrachtet werden müsse (vgl. Sed-

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suchen, diese Lücke zu füllen und zu zeigen, dass die Existenz unheilbarer Seelen in keiner Weise ein Randkonzept der platonischen Ethik darstellt – denn es geht schließlich um die übelsten Menschen, die sich auf der Welt antreffen lassen, und in diesem Zuge um den sinnvollsten Umgang mit ihnen. Dafür sollen nun die Dialoge, in denen Unheilbarkeit eine Rolle spielt, näher untersucht und in Zusammenhang gebracht werden. 228 Anhand einiger Textbelege wird deutlich werden, dass sich die Vorstellung von unheilbaren Seelen durch Platons Gesamtwerk zieht und sich dabei keineswegs auf den mythischen Kontext beschränkt, bevor auf den Zweck der Unheilbarkeitspassagen, die verschiedenen möglichen Wege zur Unheilbarkeit der Seele und deren Gründe – und damit verbunden auf die Frage nach der Verantwortlichkeit – eingegangen wird. Allein schon im Gorgias finden sich drei Textstellen, die die Unheilbarkeit thematisieren. Platons Sokrates scheint hier primär den Zweck zu verfolgen, die schädigenden und irgendwann irreversiblen Auswirkungen der Ungerechtigkeit auf die Seele zu verdeutlichen und damit die Menschen abzuschrecken und zu überzeugen, dass es für ein gutes Leben unabdingbar ist, Ungerechtigkeit von der Seele fernzuhalten. Im Gespräch mit Polos geht es Sokrates nicht nur darum, seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass es besser ist, für begangenes Unrecht bestraft zu werden als ungeschoren davonzukommen, sondern auch, dass man mit der Bestrafung nicht zu lange warten darf, da sonst die betreffende Person nicht mehr von ihrer Ungerechtigkeit geheilt werden kann (vgl. Gorg. 480a6–b2 229). Hier wird das bereits oft erkannte Motiv der Ungerechtigkeit als Krankheit betont, und zwar mit all seinen Implikationen: Wie körperliche Krankheiten chronisch und unheilbar werden können, so gilt ley 2009, S. 68, 68 (Fn. 26, 27)). Meiner Meinung nach besteht hier aber keine Inkompatibilität, sodass der Mythos ernstgenommen werden kann, ohne die Aussagen aus den erwähnten Textstellen als überholt anzusehen. Vgl. dazu die Interpretation der genannten Passagen in diesem Unterkapitel. 228 Dass es Platon durchaus ernst war mit der Annahme der Existenz unheilbarer Seelen, zeigt sich bereits an der Menge an Textstellen, die nicht jedes Mal allein als rhetorisches Mittel der Überzeugung abgetan oder dem Publikum zugeschrieben werden können (für letztere Ansicht vgl. Rowe 2012, S. 194 (Fn. 30)). 229 Ἐὰν δέ γε ἀδικήσῃ ἢ αὐτὸς ἢ ἄλλος τις ὧν ἂν κήδηται, αὐτὸν ἑκόντα ἰέναι ἐκεῖσε ὅπου ὡς τάχιστα δώσει δίκην, παρὰ τὸν δικαστὴν ὥσπερ παρὰ τὸν ἰατρόν, σπεύδοντα ὅπως μὴ ἐγχρονισθὲν τὸ νόσημα τῆς ἀδικίας ὕπουλον τὴν ψυχὴν ποιήσει καὶ ἀνίατον·

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dies auch für die Krankheit der Seele, d. h. die Ungerechtigkeit, die sich damit dauerhaft in der Seele einnistet und durch nichts mehr zu entfernen ist. Wie beim Körper ist auch bei der Seele eine möglichst schnelle Behandlung nötig (in Form von Bestrafung), damit eine Heilung noch möglich ist. 230 Beim Gleichnis mit dem Steuermann hingegen wird ein Mensch als Beispiel herangezogen, bei dem die Unheilbarkeit bereits eingetreten zu sein scheint (vgl. Gorg. 512a2–b2 231). Der Steuermann handelt besser, wenn er einen – ob körperlich oder seelisch – unheilbaren Menschen nicht vor dem Ertrinken rettet, weil dies für den betreffenden Menschen selbst von Vorteil ist. Während es zuvor noch darum ging, die Unheilbarkeit abzuwenden, werden hier die Konsequenzen für unheilbare Seelen dargelegt: Da (1) das Leben an sich keinen Wert darstellt, sondern nur das gute Leben, und (2) seelisch unheilbar Kranke notwendig ein schlechtes, weil ungerechtes Leben führen und keine Aussicht auf Besserung haben, (3) bleibt ihnen als einziger Ausweg der Tod. Da die Seele wertvoller als der Körper ist, ist auch ihre Krankheit verheerender, sodass der Tod bei unheilbar seelisch Kranken noch wünschenswerter ist als bei nur unheilbar körperlich Kranken. Dass der Tod für den Betreffenden selbst besser ist, kann m. E. nur so interpretiert werden, dass das Leben für ihn wertlos ist 232, und nicht so, dass eine irgendwie geartete Heilung im Jenseits möglich wäre. Dies zeigt sich auch in besonders anschaulicher Weise am Jenseitsmythos des Gorgias (vgl. Gorg. 525b1–526c1). Wenn die Seelen der Verstorbenen unbekleidet vor die Totenrichter kommen, wird der Sinn von Strafe deutlich und zudem eine klare Einteilung in noch heilbare und unheilbare Seelen vollzogen. Entsprechend differenziert sich auch die Bedeutung der Bestrafungen, die für die Heilbaren 230 Für eine genaue Erklärung, wie eine seelische Heilung durch Bestrafung abläuft, vgl. Brickhouse/Smith 2002 und 2007. 231 λογίζεται οὖν ὅτι οὐκ, εἰ μέν τις μεγάλοις καὶ ἀνιάτοις νοσήμασιν κατὰ τὸ σῶμα συνεχόμενος μὴ ἀπεπνίγη, οὗτος μὲν ἄθλιός ἐστιν ὅτι οὐκ ἀπέθανεν, καὶ οὐδὲν ὑπ’αὐτοῦ ὠφέληται· εἰ δέ τις ἄρα ἐν τῷ τοῦ σώματος τιμιωτέρῳ, τῇ ψυχῇ, πολλὰ νοσήματα ἔχει καὶ ἀνίατα, τούτῳ δὲ βιωτέον ἐστὶν καὶ τοῦτον ὀνήσει, ἄντε ἐκ θαλάττης ἄντε ἐκ δικαστηρίου ἐάντε ἄλλοθεν ὁποθενοῦν σώσῃ, ἀλλ’ οἶδεν ὅτι οὐκ ἄμεινόν ἐστιν ζῆν τῷ μοχθηρῷ ἀνθρώπῳ· κακῶς γὰρ ἀνάγκη ἐστὶν ζῆν. 232 Dass das Leben überhaupt für den Schlechten ein Übel darstellt, wird explizit in den Nomoi erläutert, wenn es um abhängige Güter geht: Das Leben wäre somit nur für den Guten ein Gut, für den Schlechten aber ein Übel (vgl. Leg. II 661b7–d3).

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selbst nützlich sind, da so ihre Besserung erreicht wird; Unheilbare hingegen ziehen selbst keinen Nutzen aus ihrer Bestrafung, sind aber für die anderen Seelen nützlich, indem sie als abschreckendes Beispiel dienen. 233 Zudem wird in dieser Passage ausführlich auf die Identität solcher unheilbaren Seelen eingegangen sowie auf die Ursache für ihre Unheilbarkeit: Es scheint sich meist um Tyrannen oder andere Menschen in Machtpositionen zu handeln, die ihre Seelen durch extreme Verbrechen bis zur Unheilbarkeit verdorben haben. 234 Besondere Betonung erfährt hier die Gefahr, die für die Seele entsteht, wenn man sich in einer machtvollen Position befindet, da man vor allem dort die Möglichkeit hat, große Verbrechen zu begehen. Im Gorgias scheint Platons Sokrates zudem Privatmänner – gerade aufgrund ihres Mangels an Möglichkeiten – davon auszuschließen, ihre Seele bis zur Unheilbarkeit zu zerstören. Dass Platons Sokrates die Unheilbarkeit hier nur hypothetisch meinen könnte, wirkt unplausibel, da es sich offensichtlich um eine starke Kritik an Machthabern im Allgemeinen handelt und es durchaus vorstellbar ist, dass Platon solche Menschen als real unheilbar angesehen hat. Dies zeigt sich spätestens an der Beschreibung des Tyrannen in der Politeia (vgl. Rep. VIII 562a4 – IX 588a11 für die politische sowie individuelle Beschreibung 235), dessen seelische Beschreibung so negativ ist, dass auch eine Heilbarkeit im Jenseits undenkbar wäre – vor allem, da gerade in den Jenseitsmythen der Tyrann als Beispiel für Unheilbare herangezogen wird (vgl. Gorg. 525b1–526c1, Rep. X 615c2–616a4). Auch Protagoras spricht im gleichnamigen Dialog von Unheilbaren; hier scheint es ebenfalls nicht mehr um eine vorbeugende Maßnahme zu gehen, sondern vielmehr der Fall eingetreten zu sein, vor dem in Gorg. 480a6–b2 gewarnt wurde. Protagoras sieht diejenigen Menschen als unheilbar an, die sich trotz Strafe nicht gebessert 233 Radcliffe G. Edmonds III. weist darauf hin, dass Mary M. Mackenzie und Trevor J. Saunders hier noch die Maßnahme der Vergeltung aus dem griechischen Strafrecht erhalten sehen, widerspricht dem aber (vgl. 2012, S. 178 (Fn. 35), 178 f.). Auch mir scheint der Sinn der Strafe zumindest nicht auf Rückzahlung oder Vergeltung beschränkt zu sein (für weitere Ausführungen s. u.; zur Diskussion der Bedeutung von Strafe vgl. Kap. 2.4). 234 Den Aspekt der Macht betonen auch Joachim Dalfen (vgl. 2004, S. 493) und David Sedley (vgl. 2009, S. 70). 235 Zur Problematik des Zusammenspiels zwischen individueller und politischer Ebene vgl. Kap. 3.1.

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haben; als Konsequenz nennt er die Verbannung aus der Polis oder die Todesstrafe (vgl. Prot. 324d7–325b4). Bei ihm geht es offensichtlich um Menschen, die durch Strafe zumindest im Diesseits nicht mehr zu bessern sind. Der Zustand im Jenseits steht hier nicht zur Debatte; zumindest aus Protagoras’ Sichtweise scheint es aber gerechtfertigt, bereits im Diesseits nicht mehr reformierbare Individuen als unheilbar zu bezeichnen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Ob Platons Sokrates dieser Sichtweise bezüglich der Unheilbarkeit zustimmt, lässt sich an dieser Passage nicht feststellen. 236 Der Großteil der Unheilbarkeitspassagen, bei denen Sokrates, der Fremde oder der Athener die Unheilbarkeit thematisieren, sprechen aber eher dafür, dass Unheilbarkeit eine Besserung nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits ausschließt. Die schlechten Charaktere aus Rep. VIII–IX werden bis auf den Tyrannen zwar nicht als unheilbar bezeichnet; Hinweise auf Methoden zur möglichen Seelenverbesserung werden aber auch nicht gegeben. Timokrat, Oligarch und Demokrat weisen offensichtlich eine schlechte seelische Struktur auf; dass die Seele aber noch tiefer ins Chaos stürzen kann, steht außer Frage. Ob sie aber im Diesseits auch zum Guten verändert werden kann, bleibt unklar (zumindest wird an keiner Stelle die Möglichkeit einer Besserung auch nur in Betracht gezogen, was aber auch nur folgerichtig ist – schließlich handelt es sich um eine Verfallsgeschichte). Was das Jenseits angeht, so kann auch nur über die Tyrannen hier die klare Aussage getroffen werden, dass solche Charaktere auf ewig im Tartaros verweilen werden. Dies gilt ebenso für Menschen, die zwar politisch keine Tyrannen darstellen, deren Seelenstruktur aber als tyrannisch bezeichnet werden kann und die in eine entsprechende Machtposition kommen und dadurch ihren tyrannischen Charakter ausleben können (s. u.). Dass Protagoras und nicht Sokrates auf die Unheilbarkeit zu sprechen kommt und dies hier nicht als neuartige Konzeption einführt, könnte dafür sprechen, dass all236 Bernd Manuwald sieht die Rede Protagoras’ denn auch als »höchst ironisch beurteilte[] Epideixis« (2006, S. 106) an, sodass er eine Urheberschaft Platons ausschließt, Ähnlichkeiten zur von Protagoras vertretenen Meinung aber auch in anderen platonischen Dialogen ausmacht (vgl. ebd., S. 106; 106 (Fn. 51)). Vgl. z. B. Rep. III 409e4– 410a6, Plt. 308e9–309a3, Leg. V 735d8–e5, IX 853d5–854c5, 862d4–863a2 und XII 941d4–942a4 (Stellen, auf die teilweise auch Manuwald verweist; vgl. 2006, S. 106, Fn. 51), wo ähnliche Maßnahmen gegen Unheilbare vorgeschlagen werden, sodass vielleicht der spezielle Punkt des Umgangs mit Unheilbaren doch von Platon geteilt wurde.

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gemein die Existenz von unheilbaren Seelen nichts Neues darstellte und man offenbar vertraut war mit Menschen, die sich zumindest durch eine diesseitige Bestrafung nicht ändern lassen. Im Phaidon hingegen spielt die Unheilbarkeit erst im Jenseitsmythos eine Rolle, sodass sich hier Unheilbarkeit klar auf die gesamte seelische Existenz erstreckt. Dies scheint mir auch insgesamt die platonische Position zu sein, wie sich an weiteren Textstellen noch zeigen wird. Um Art und Größe der Bestrafungen festzulegen, ist es auch hier notwendig, die Seelen der Verstorbenen in noch heilbare und unheilbare zu trennen: […] Hier wohnen sie [d. i. die Verstorbenen] und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab, wenn einer sich irgendwie vergangen hat, und werden losgesprochen, wie sie auch ebenso für ihre guten Taten den Lohn erlangen, jeglicher nach Verdienst. Deren Zustand aber für unheilbar erkannt wird (hoi d’an doxôsin aniatôs echein) wegen der Größe ihrer Vergehungen (dia ta megethê tôn hamartêmatôn), weil sie häufigen und bedeutenden Raub an den Heiligtümern begangen oder viele ungerechte und gesetzwidrige Mordtaten vollbracht oder anderes, was dem verwandt ist, diese wirft ihr gebührendes Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen (hothen oupote ekbainousin). […] (Phd. 113d6–e6; übers. Schleiermacher)

Hier liegt erneut der Fokus auf der besonderen Größe der Verbrechen, die zur Unheilbarkeit der entsprechenden Seele führen, und auf ihrer Strafe, die in einem ewigen Aufenthalt im Tartaros besteht. Da nun auch die Reinkarnation 237 eine Rolle spielt, wird klar, dass die »extremen« Charaktere – Philosoph und Tyrann – aus diesem Zyklus ausgeschlossen sind. Auch an zwei Textstellen in der Politeia lässt sich festmachen, dass es solche seelisch degenerierten Menschen gibt, denen aufgrund der Unmöglichkeit einer Besserung auch der Weg zur nächsten Reinkarnation verwehrt bleibt. Dass solche Menschen existieren, zeigt sich bereits im Logos: »Also wirst du zugleich mit einer solchen Rechtspflege auch eine Heilkunst, wie wir sie geschildert haben, in unserm Staat gesetzlich verankern; sie sollen die Bürger, die an Leib und Seele wohlgeraten (euphyeis) sind, be237 Wie Alt 1982 (vgl. S. 287) gehe ich davon aus, dass der Reinkarnationsgedanke aufgrund der Besserung der heilbaren Seelen durch abschreckende Strafen der Unheilbaren bereits im Gorgias vorhanden war. Gegen Rowe 2012, der die Reinkarnation im Gorgias ausschließt. Da so die ewige Bestrafung der Unheilbaren zur Besserung der Heilbaren keinen Sinn mehr ergibt, sieht er darin einen Fehler im Mythos (vgl. S. 193, 193 (Fn. 28)).

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treuen, die andern aber nicht. Wer siech am Körper ist, den sollen sie sterben lassen, wer an der Seele mißraten (kakophyeis) und unheilbar (aniatous) ist, den sollen sie sogar töten!« »So geschieht das Beste für sie selbst, die es betrifft, wie für den Staat!« (Rep. III 409e4–410a6)

Auch wenn im Gorgias deutlich wurde, dass die Unheilbaren aus ihrer Bestrafung keinen persönlichen Nutzen ziehen, so wird doch – im Gorgias wie auch hier in der Politeia – klar, dass das Leben für Unheilbare (ob körperlich oder seelisch) wertlos ist. Hier kommt noch deutlicher zum Vorschein, dass seelische Unheilbarkeit schwerer wiegt als nur körperliche. So werden auch entsprechende Konsequenzen für die Todesart gezogen: Körperlich Unheilbare lässt man sterben, für seelisch Unheilbare hingegen muss der Tod aktiv herbeigeführt werden, d. h. sie erwartet die Todesstrafe. Abschließend wird zwar der Nutzen für beide Seiten betont; allerdings scheint mir wie im Gorgias der Nutzen für den Einzelnen darin zu bestehen, dass dessen bisheriges ungerechtes Leben immerhin nicht mehr fortgeführt wird. Ein für sie persönlich angenehmeres Schicksal erwartet diese Menschen allerdings nicht im Jenseits (vgl. Rep. X 615c2–616a4). Der Jenseitsmythos der Politeia nimmt vieles bereits Festgestellte wieder auf und bietet eine gute Zusammenfassung: (1) Der Grund für die Unheilbarkeit besteht in schweren Verbrechen, (2) die Unheilbarkeit betrifft daher v. a. Tyrannen, aber auch andere Bürger, (3) die Möglichkeit der Wiedergeburt ist für diese Seelen nicht gegeben 238 und (4) die ewigen Strafen im Tartaros dienen als abschreckendes Beispiel für andere Seelen und befreien zudem die Welt von Unheilbaren. Besondere Betonung erfährt hier (4), wenn die Strafen genauer erläutert werden und den anderen Seelen der Grund dafür und das weitere Schicksal dieser Unheilbaren dargelegt wird. Es fällt auf, dass nun Privatmänner nicht mehr – wie noch im Gorgias – kategorisch 238 Gegen Inwood 2009, der der Auffassung ist, im Er-Mythos gebe es »no clear indication that the series of reincarnations ever comes to an end for anyone« (S. 42). Später scheint er dies allerdings zu relativieren, auch wenn nicht explizit vom Ausschluss der Tyrannen gesprochen wird (vgl. S. 49). Dass dem Tyrannen ein weiteres Leben verwehrt bleibt, zeigt sich aber klar daran, dass Ardiaios, der als Tyrann beschrieben wird, der schreckliche Verbrechen begangen hat, nie zu der Wiese kommt, von der aus die Seelen der Verstorbenen später zur Schicksalswahl aufbrechen (vgl. Rep. X 615c5–d3). Zum doch möglichen Ausschluss des Philosophen aus dem Reinkarnationszyklus s. u.

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von der schlimmsten seelischen Verfallsstufe ausgeschlossen sind. Dies liegt vermutlich einfach daran, dass Platons Sokrates nun in Betracht zieht, dass in Einzelfällen auch Privatmänner die Möglichkeit haben können, Verbrechen zu begehen, die aufgrund ihrer Schwere nur unheilbaren Seelen angelastet werden können. 239 Welche Verbrechen konkret zur Unheilbarkeit führen, wird nirgends umfassend aufgelistet; jedoch werden wiederholt Mord und Freveltaten als Beispiele aufgeführt (vgl. Gorg. 525d5–6, Phd. 113d6–e6, Rep. X 615c2– e1, Leg. V 731b4–d5 240, IX 853d5–854c5 241). Da man die Unheilbaren von der seelischen Struktur her m. E. mit der tyrannischen Seele identifizieren kann 242, so lässt sich auch Rep. VIII–IX heranziehen, um eine umfassendere Übersicht über tyrannische und damit unheilbare Verbrechen zu bekommen (vgl. v. a. Rep. VIII 569b6–7, wo der Tyrann als »Vatermörder und schlechter Nährvater« (patraloian […] kai chalepon gêrotrophon) bezeichnet wird, und Rep. IX 574a6– 576b10, wo Verbrechen gegen die Eltern und gegen den Staat thematisiert werden). 239 Vgl. Leg. VI 778d3, wo der Athener von Unrechtstaten spricht, die des Todes würdig seien. In Leg. V 731b4–5 spricht er gar von dysiata und aniata adikêmata. 240 In dieser Passage spricht der Athener von schwer zu heilenden oder gänzlich unheilbaren Vergehen (dysiata ê kai to parapan aniata adikêmata). Dies steht im Kontext der Beschreibung des guten Menschen, der nur gegenüber Heilbaren Mitleid zeigen darf, gegenüber Unheilbaren aber zornig sein soll. Dabei wird zwar nicht aniatos verwendet, durch den Kontrast zu iasimos wird aber deutlich, dass es sich um Unheilbare handeln muss: ἀλλὰ ἐλεεινὸς μὲν πάντως ὅ γε ἄδικος καὶ ὁ τὰ κακὰ ἔχων, ἐλεεῖν δὲ τὸν μὲν ἰάσιμα ἔχοντα ἐγχωρεῖ καὶ ἀνείργοντα τὸν θυμὸν πραΰνειν καὶ μὴ ἀκραχολοῦντα γυναικείως πικραινόμενον διατελεῖν, τῷ δ’ ἀκράτως καὶ ἀπαραμυθήτως πλημμελεῖ καὶ κακῷ ἐφιέναι δεῖ τὴν ὀργήν· 241 Hier werden Tempelräuber als unheilbar klassifiziert. In der Vorrede zum Gesetz gegen Tempelraub wird deutlich, dass diejenigen, die im Begriff sind, ein solches Verbrechen zu verüben, nicht notwendig unheilbar sind und teilweise noch von der Tat abgehalten werden können, wenn sie die Gesellschaft von tugendhaften Männern suchen und schlechte Menschen meiden. Wenn das aber keine Abhilfe verschafft, ist auch hier der Tod die einzige Lösung. 242 Damit wende ich mich gegen die Lesart Giovanni Giorginis, der der Ansicht ist, dass der Tyrann in der Politeia vielleicht noch reformierbar ist (vgl. Giorgini 2005, S. 459–461). Dass Tyrannen und Unheilbare zusammenfallen, zeigt sich aber allein daran, dass Unheilbare – wie die hier aufgeführten Textstellen insbesondere am ewigen Aufenthalt im Tartaros anschaulich machen – als schlimmste seelische Verfallsform aufgefasst werden und dies genau mit der schlechtesten Charakterart aus Rep. VIII–IX übereinstimmt. Vgl. allgemein zur Beschreibung der schlechtesten seelischen Struktur als Unwissenheit Kap. 2.3 sowie zur näheren Untersuchung der schlechten Charakterarten und damit auch des Tyrannen Kap. 3.2.

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Einen gänzlich anderen Aspekt betont nun aber der Politikos: Der Fremde: […] Und die, welche nicht fähig sind, an einem tapferen und besonnenen Charakter, und was sonst zum Bereich der Tugend gehört, teilzuhaben (kai tous men mê dynamenous koinônein êthous andreiou kai sôphronos hosa te alla esti teinonta pros aretên), sondern in Gottlosigkeit und Hybris und Ungerechtigkeit von einer schlechten Natur mit Gewalt hineingestoßen werden (eis atheotêta kai hybrin kai adikian hypo kakês biai physeôs apôthoumenous), die wirft sie hinaus durch Hinrichtung und Verbannung und straft sie mit dem äußersten Verlust der Ehre. (Plt. 308e9– 309a3; übers. Ricken)

In dieser Schlusspassage des Politikos tritt eine neue Perspektive in den Vordergrund, nämlich die Verdorbenheit der Anlagen. Wurde bisher die Unheilbarkeit durch eine schlechte Lebensweise erklärt, so wird nun unterstrichen, dass es offensichtlich Menschen gibt, die nicht einmal die Möglichkeit haben, sich zur Tugend hin zu entwickeln. Diese Feststellung bleibt aber nicht auf den Politikos beschränkt: Der Athener: […] Ob dies nun jemand durch Taten oder durch Worte oder mit Hilfe von Lust oder Schmerz oder durch Zuerkennung oder Aberkennung von Ehrungen oder durch Geldstrafen oder gar Geschenke oder auf welche Weise auch immer er dies überhaupt erreicht, daß man die Ungerechtigkeit haßt und die wahre Natur des Gerechten liebt oder nicht haßt: genau dies ist die Aufgabe der schönsten Gesetze. Wenn aber der Gesetzgeber merkt, daß einer in dieser Hinsicht unheilbar ist (aniatôs eis tauta echonta), welche Strafe und welches Gesetz soll er für diese aufstellen? Da er vermutlich einsieht, daß es einerseits für alle Menschen dieser Art selber nicht besser ist, am Leben zu bleiben, daß sie aber andererseits den übrigen einen doppelten Nutzen erweisen (diplêi ôpheloien), wenn sie aus dem Leben scheiden, indem sie erstens den anderen ein warnendes Beispiel geben, kein Unrecht zu begehen (paradeigma men tou mê adikein tois allois genomenoi), und sodann die Stadt von schlechten Menschen befreien (poiountes de andrôn kakôn erêmon tên polin), so muß also der Gesetzgeber über solche Menschen als Strafe für ihre Vergehen den Tod verhängen, sonst aber auf gar keinen Fall. (Leg. IX 862d4–863a2)

In den Nomoi scheint dieses Motiv fortgeführt zu werden, wenn die Existenz von Menschen angenommen wird, die trotz einer idealen Erziehung schreckliche Verbrechen begehen. Die Todesstrafe wird mit einem im Grunde dreifachen Nutzen gerechtfertigt: (1) individuell: Der Mensch selbst führt sein untugendhaftes Leben nicht mehr fort. (2) sozial: Er dient als abschreckendes Beispiel für die anderen.

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(3) gesellschaftlich: Die Polis ist von ihm und damit von möglichen weiteren Untaten befreit. Hier spezifiziert der Athener die Verwendungsweise von Unheilbarkeit (eis tauta), sodass jemand insofern von Beginn an als unheilbar bezeichnet werden kann, als er niemals tugendhaft werden wird. Echte Unheilbarkeit wird aber erst durch eine hinreichend starke Schädigung der Seele erreicht (s. u.). In den Nomoi wird außerdem die unterschiedliche Erziehung (ideal vs. nicht-ideal) berücksichtigt, wenn es um die Zuschreibung von Unheilbarkeit geht: Der Athener: […] Wenn also jemand einen Fremden oder einen Sklaven vor Gericht als einen Dieb von Gemeineigentum überführt, so soll in der Annahme, daß er wahrscheinlich heilbar ist (hôs iasimôi ek tôn eikotôn onti), für ihn eine Entscheidung darüber getroffen werden, was er erleiden oder welche Geldbuße er zahlen soll. Einen Bürger aber, der so erzogen worden ist, wie er bei uns erzogen sein wird (ton de aston kai tethrammenon hôs estai tethrammenos), den soll man, wenn er überführt wird, daß er seine Vaterstadt bestohlen oder beraubt hat, sei es auf frischer Tat oder nicht, in der Annahme, daß er so gut wie unheilbar ist, mit dem Tod bestrafen (schedon hôs aniaton onta thanatôi zêmioun). […] (Leg. XII 941d4– 942a4)

Hier steht das Problem im Vordergrund, wie Unheilbarkeit erkannt werden kann. Bisher wurden dafür schwere Verbrechen angeführt, nun aber wird deutlich, dass dies offenbar nicht ausreicht, um eindeutig eine unheilbare Seele zu bestimmen. Vielleicht zeigt sich hier eine optimistischere Sichtweise der Nomoi, wenn davon ausgegangen wird, dass ein Fremder, d. h. jemand, der nicht die Erziehung von Magnesia durchlaufen hat, trotz seiner Verbrechen noch heilbar sein kann. Bei einem Magneten hingegen wird wohl bei dem gleichen Verbrechen von einer Unheilbarkeit ausgegangen werden, da er die für ihn ideale Erziehung durchlaufen hat und dies offenbar nichts genützt hat. 243 Allerdings stellt dies keinen Sinneswechsel im Alterswerk dar, da es sich vielleicht einfach um eine Situation handelt, die der aus Gorg. 480a6–b2 entspricht: Der Verbrecher hat zwar seine Seele verdorben, ist aber möglicherweise durch Bestrafung noch heilbar. Eine Regel über Quantität und Qualität der Verbrechen, die sichere Aussagen darüber tätigt, an welchem Punkt des verbrecheri243 In Leg. IX 853d5–854c5 scheint der Athener es auch für sehr unwahrscheinlich zu halten, dass ein Bürger von Magnesia ein unheilbares Verbrechen wie Tempelraub begehen würde; dies sei vielmehr bei Sklaven und Fremden der Fall.

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schen Lebens jemand hinreichend als unheilbar bestimmt werden kann, scheint es nicht zu geben, wie sich insbesondere an den doch eher unsicheren Äußerungen des Atheners ausmachen lässt. In absoluter Weise ist das ohnehin nicht möglich, da von ideal Erzogenen offensichtlich ein tugendhafteres Verhalten erwartet wird, sodass eine solche Person wohl bereits bei weniger häufigen oder weniger schweren Verbrechen zur Todesstrafe verurteilt wird. Zudem muss für eine Charakterverschlechterung auch die Ausgangslage des betreffenden Menschen miteinbezogen werden, d. h. seine natürlich gegebenen Anlagen (vgl. Kap. 2.1). 244 Beachtet man nun die Verwendungsweise von Unheilbarkeit in den genannten Textstellen, so scheinen unheilbare Menschen solche zu sein, die ihre Seele durch besonders viele und besonders verwerfliche Taten so zerstört haben, dass auch im Jenseits an keinerlei Heilung mehr zu denken ist. 245 Allerdings muss dabei bedacht werden, dass dies nicht jedem Menschen möglich ist. Maria Schwartz unterteilt in ihrer Studie die natürlichen Anlagen in solche charakterlicher und intellektueller Art. 246 Wendet man diese Einteilung auf die Untersuchung der Unheilbarkeit an, so scheint es plausibel, dass Platons Sokrates nur denjenigen Menschen die Möglichkeit zur völligen und damit irreversiblen Degeneration zuschreibt, die in ihren intellektuellen Anlagen besonders hervorstechen. So könnte man Rep. VI 491e1–6 247 so lesen, dass die schwache Natur, die nichts Großes im Guten oder Schlechten schafft, mit eher geringen oder mittelmäßigen intellektuellen Anlagen zu identifizieren ist. Eine ähnliche Aussage

244 Dass dies ein wichtiger Faktor ist, zeigt sich auch an der Erziehung des logistikon und thymoeides in der Politeia. Die einen benötigen eine starke musische Ausbildung, wohingegen für andere dies bereits die Gefahr der Verweichlichung birgt (vgl. Rep. III 410c8–411c3). 245 Es gibt zwar Textpassagen, bei denen nicht klar wird, ob sich die Zuschreibung der Unheilbarkeit auch aufs Jenseits bezieht (vgl. v. a. Prot. 324d7–325b4). Da es aber sehr viele affirmative Textstellen für die hier vertretene Interpretation gibt und die anderen Passagen nicht dagegen sprechen, ist es m. E. durchaus gerechtfertigt, Platon eine solche Verwendung von Unheilbarkeit zuzuschreiben. 246 Vgl. Schwartz 2013, S. 375–381. 247 Οὐκοῦν, ἦν δ’ ἐγώ, ὦ Ἀδείμαντε, καὶ τὰς ψυχὰς οὕτω φῶμεν τὰς εὐφυεστάτας κακῆς παιδαγωγίας τυχούσας διαφερόντως κακὰς γίγνεσθαι; ἢ οἴει τὰ μεγάλα ἀδικήματα καὶ τὴν ἄκρατον πονηρίαν ἐκ φαύλης ἀλλ’ οὐκ ἐκ νεανικῆς φύσεως τροφῇ διολομένης γίγνεσθαι, ἀσθενῆ δὲ φύσιν μεγάλων οὔτε ἀγαθῶν οὔτε κακῶν αἰτίαν ποτὲ ἔσεσθαι;

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findet sich auch in Rep. VII 519a1–7 248: Je stärker die Sehkraft der Seele, desto größer das Unheil, das sie bewirken kann – nämlich genau dann, wenn sie in der Höhle und damit im Unwissen bleibt. 249 Allerdings sind die besonders Begabten, auch bei schlechten charakterlichen Voraussetzungen, nicht dazu determiniert, schlecht bis hin zur Unheilbarkeit zu werden. Denn dafür sind zudem eine schlechte oder gescheiterte gute Erziehung notwendig sowie die Möglichkeit, verbrecherische Handlungen auszuüben. Dies zeigt sich v. a. daran, dass ein tyrannischer Charakter noch unglücklicher wird, wenn er auch tatsächlich als Tyrann politisch an der Macht ist (vgl. Rep. IX 578b4–c4, 579c4–d8). Somit ließe sich festhalten, dass unter die Bezeichnung »unheilbare Seelen« bei Platon tyrannische Charaktere fallen, die zugleich aber auch als echte Tyrannen in einer Polis herrschen oder als Privatmann auf andere Weise die Möglichkeit zu verbrecherischen Taten haben und wahrnehmen. Anhand der Textstellen lassen sich außerdem zwei verschiedene Gründe ausmachen, die zu unheilbaren Seelen führen: [a] in bestimmten Fällen die Anlagen, wenn diese so schlecht sind, dass sie sich nicht einmal durch eine ideale Erziehung zu halbwegs guten Charakteren entwickeln lassen, [b] die Erziehung, Gewohnheiten und der Umgang mit anderen Menschen, wenn diese nicht den Idealrichtlinien entsprechen – allerdings beide Male immer unter der Voraussetzung, dass diese Menschen hohe intellektuelle Fähigkeiten mitbringen. Diese inneren und äußeren Gründe führen zu folgenden möglichen Szenarien 250: 248 ἢ οὔπω ἐννενόηκας, τῶν λεγομένων πονηρῶν μέν, σοφῶν δέ, ὡς δριμὺ μὲν βλέπει τὸ ψυχάριον καὶ ὀξέως διορᾷ ταῦτα ἐφ’ ἃ τέτραπται, ὠς οὐ φαύλην ἔχον τὴν ὄψιν, κακίᾳ δ’ ἠναγκασμένον ὑπηρετεῖν, ὤστε ὄσῳ ἂν ὀξύτερον βλέπῃ, τοσούτῳ πλείω κακὰ ἐργαζόμενον; Πάνυ μὲν οὖν, ἔφη. Gegen Weiss 2012 (vgl. S. 66–68) halte ich diese Menschen für potenzielle Tyrannen, deren einziger Überlappungspunkt mit den kallipolis-Philosophen in ihrer intellektuellen Begabung besteht. Eine Parallele könnte vielleicht die aristotelische deinotês bilden (vgl. NE VI 13, 1144a23– 1144b1). Der Tyrann der platonischen Beschreibung wäre in aristotelischer Terminologie geschickt, aber nicht klug. 249 Auch Brigitte Th. Schur verweist auf die Gefahr einer hohen Begabung (vgl. 2013, S. 319). 250 Für einen Überblick über alle möglichen Szenarien, die zu guten, mittelmäßigen, schlechten, aber nicht nur unheilbaren Charakteren führen, s. u. Nur die ersten beiden hier aufgelisteten Szenarien erzeugen direkt eine unheilbare Seele. Vgl. dazu auch Rep. IX 573c7–9, wo ebenfalls physis oder epitêdeuma (oder beide kombiniert) als Gründe für tyrannische Seelen genannt werden.

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(1) [a] charakterliche Anlagen irrelevant, sehr gute intellektuelle Anlagen, [b] schlechte Erziehung → unheilbarer Charakter (2) [a] von den charakterlichen Anlagen pathologisch schlecht, sehr gute intellektuelle Anlagen, [b] Erziehung irrelevant → keine Rettung mehr möglich, unheilbarer Charakter 251 (3) [a] mittelmäßige charakterliche wie intellektuelle Voraussetzungen, [b] gute Erziehung → 1. Leben: guter Charakter, 2. Leben: große Gefahr bei der Schicksalswahl, sodass es durch eine falsche Wahl zu (1) kommen kann! Keiner der aufgeführten Fälle führt mit Sicherheit zur Unheilbarkeit: Auch wenn es sich beim ersten Fall fast schon um Idealbedingungen für die Heranbildung einer unheilbaren Seele zu handeln scheint, so muss diesem Individuum zugleich doch auch die Möglichkeit – vorzugsweise als politischer Tyrann – zu hinreichend ungerechten Handlungen gegeben sein. Auch beim zweiten Fall kann die Seele nur unheilbar werden, wenn sie sich durch entsprechend schwerwiegende Verbrechen zerstört. Der Unterschied besteht nun aber darin, dass es sich nicht um prinzipiell gute Anlagen handelt, die dann verdorben werden, sondern um bereits hinreichend schlechte, sodass diese Art von Mensch durch keinerlei Erziehung mehr zu retten ist. Es muss jedoch bedacht werden, dass man auch hier nur bei hoher Begabung schließlich unheilbar wird. Wenn man zwar – wie die obige Politikos-Stelle zeigt – charakterlich so schlecht veranlagt ist, dass man nicht tugendhaft werden kann, so wird man als intellektuell durchschnittlich Begabter dennoch kein unheilbarer Mensch, sondern einfach schlecht im Sinne der degenerierten Charakterformen aus Rep. VIII–IX (natürlich mit Ausnahme des Tyrannen). Das zweite Szenario entspräche damit dem Werdegang des tyrannischen Charakters aus Rep. IX, wenn dieser 251 Anne Merker scheint nur diesen Weg in Betracht zu ziehen, wenn sie über die Ursachen der unheilbaren Ungerechtigkeit (»l’injustice incurable«, 2004, S. 47 (Fn. 59)) spekuliert, und verweist auf Leg. VI 775b–e, wonach Menschen im Zeitraum der Kinderzeugung keinen Alkohol konsumieren dürfen, da so kein gutes êthos hervorgebracht werde. Merker nimmt weiter an, dass mit unheilbaren Seelen solche Menschen gemeint sind, die lediglich im Diesseits nicht mehr zu retten sind und die daher an die Götter übergeben würden. In Bezug auf die von ihr verteidigte kosmologische Funktion des Körpers würden solche Seelen ihrer menschlichen Behausung entzogen werden, um dann an einen ihrer schlechten Seele entsprechenden Ort zu kommen (vgl. 2004, S. 47 f., 47 (Fn. 59)). Sie spezifiziert diesen Ort nicht weiter; m. E. könnte er aber mit dem Tartaros identifiziert werden, da dies in den Jenseitsmythen stets der für die Unheilbaren reservierte Platz zu sein scheint.

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Mensch zugleich die Möglichkeit bekommt, als politischer Tyrann zu herrschen (vgl. Rep. IX 576b4–10). 252 Platons Sokrates bezeichnet erst diesen Charakter als den schlechtesten (kakiston; Rep. IX 576b4) und geht dabei von einem Individuum aus, das von Natur aus am tyrannischsten sei (tyrannikôtatos physei; Rep. IX 576b7), was nach der hier vorgeschlagenen Interpretation bedeutet, dass man es mit charakterlich pathologisch schlechten Anlagen zu tun hat in Kombination mit einem starken Intellekt. Der dritte Fall nun zeigt das Defizit der nur bürgerlichen Tugend auf: Durchschnittsseelen, die die ideale Erziehung durchlaufen, werden höchstwahrscheinlich ein tugendhaftes Leben führen, allerdings nur im Sinne der bürgerlichen Tugend, d. h. ohne die wahre Einsicht erlangt zu haben (vgl. Rep. IV 430c3–4 und Phd. 69a6–c3). Somit werden sie im Jenseits zwar zunächst belohnt, bei der nächsten Schicksalswahl fehlt ihnen aber das entscheidende Wissen, gerechte Leben von ungerechten zu unterscheiden (vgl. Rep. X 618b6–e3), sodass sie vielleicht früher oder später so falsch wählen, dass sie unweigerlich zum Tyrannen werden, d. h. entsprechende Anlagen wählen (hohe intellektuelle Begabung) in Kombination mit Lebensbedingungen, die schlechte äußere Einflüsse wie Reichtum und vielleicht eine schlechte Erziehung beinhalten, was unweigerlich zu einer tyrannischen Seelenhaltung führt (vgl. Rep. X 618c6–619a7 253). Dies könnte zunächst zu der Annahme verleiten, dass letztlich alle Seelen mit Ausnahme der philosophischen durch eine verfehlte Allerdings stellt dies bereits in der Politeia nicht den alleinigen Werdegang für Tyrannen dar, da schon vorher auf die Gefahr hingewiesen wird, dass die besten, d. h. philosophische Seelen, schlecht werden können, wenn sie einer schlechten Erziehung ausgesetzt sind. Aus dem Kontext wird ersichtlich, dass es sich nicht um einfach nur schlechte, sondern um die schlechtesten, d. h. tyrannische Charaktere handeln muss (vgl. Rep. VI 491e1–7). 253 Platons Sokrates spricht hier explizit davon, dass der Wählende wissen muss, welche Mischung aus natürlichen Anlagen in Kombination mit erworbenen Seelenhaltungen zu welchem Leben führt. Es mag kontraintuitiv erscheinen, dass neben den Anlagen zugleich bereits erworbene Haltungen gewählt werden können. Aus dem Kontext erscheint es plausibel, die Wahl bestimmter Lebensbedingungen anzunehmen, die dann zu entsprechenden seelischen Haltungen führen (vgl. Rep. X 618c6– d5: »ἀναλογιζόμενον πάντα τὰ νυνδὴ ῤηθέντα καὶ συντιθέμενα ἀλλήλοις καὶ διαιρούμενα πρὸς ἀρετὴν βίου πῶς ἔχει, εἰδέναι τί κάλλος πενίᾳ ἢ πλούτῳ κραθὲν καὶ μετὰ ποίας τινὸς ψυχῆς ἕξεως κακὸν ἢ ἀγαθὸν ἐργάζεται, καὶ τί εὐγένειαι καὶ δυσγένειαι καὶ ἰδιωτεῖαι καὶ ἀρχαὶ καὶ ἰσχύες καὶ ἀσθένειαι καὶ εὐμαθίαι καὶ δυσμαθίαι καὶ πάντα τὰ τοιαῦτα τῶν φύσει περὶ ψυχὴν ὄντων καὶ τῶν ἐπικτήτων τί συγκεραννύμενα πρὸς ἄλληλα ἐργάζεται, […]«). 252

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Wahl irgendwann unheilbar werden. Und auch die Menschen mit philosophischen Anlagen sind nur vor der Unheilbarkeit geschützt, wenn sie die ideale Erziehung erhalten oder ein göttliches Geschick sie rettet (vgl. Rep. VI 496a11–497d2). Allerdings stellt bereits Julia Annas fest, dass sich kosmisch gesehen das Gleichgewicht von gerechten und ungerechten Seelen erhält. 254 Denn wenn die Durchschnittsseelen nach ihrer Belohnung nicht völlig falsch wählen und sich für vielleicht schlechte Anlagen entscheiden, die sich aber zu einem noch heilbaren Charakter entwickeln – indem z. B. intellektuell durchschnittliche Anlagen und äußere Lebensbedingungen in Form einer nichtidealen Erziehung gewählt werden –, so werden sie nach ihrem nächsten Tod bestraft. Diese Strafe wiederum bewirkt eine klügere Wahl für das nächste Leben (vgl. Rep. X 619d1–7), sodass durchschnittliche Menschen wohl in einem ewigen Zyklus der Reinkarnation gefangen sind, wohingegen zumindest die unheilbaren Seelen davon ausgeschlossen sind. Dennoch scheint es eine nicht auflösbare Spannung zu geben zwischen der Position, dass durchschnittliche Menschen einerseits immer im Reinkarnationszyklus verweilen und andererseits durch eine entsprechend schlechte und unüberlegte Schicksalswahl doch aus ihm austreten, indem sie später als Unheilbare ewig im Tartaros bleiben. 255 Man könnte das Problem zwar so zu lösen versuchen, dass durchschnittliche Menschen ganz offensichtlich die Möglichkeit haben, durch die Wahl hoher intellektueller Anlagen im nächsten Leben eben nicht mehr dem Durchschnitt anzugehören, d. h. nur solange man dem Durchschnitt angehört, wird man wiedergeboren. 256 Allerdings kann dies keine zufriedenstellende Lösung sein, da so letztlich alle zu extremen Charakteren würden: Die durchschnittlichen Seelen würden irgendwann den Fehler begehen, ein tyrannisches Leben zu wählen; Philosophen und Tyrannen hingegen werden nicht mehr in den Zyklus eintreten, da dies den Tyrannen gänzlich untersagt ist und Vgl. Annas 1982, S. 135. Vgl. O’Meara 2003, der darauf hinweist, dass die Konzeption einer ewigen Bestrafung im Jenseits bei den Neuplatonikern nicht wörtlich genommen wurde. So habe beispielsweise Proklos die Annahme von unheilbaren Seelen zurückgewiesen (vgl. O’Meara 2003, S. 109 f. und Stalley 2009, S. 197 (Fn. 28), der ebenfalls unter Berufung auf O’Meara die Probleme anspricht, die die Neuplatoniker hinsichtlich der Bestrafung der Unheilbaren konstatiert haben). 256 Mit der Einschränkung, dass auch der Philosoph nicht sofort aus dem Zyklus austritt, wie weiter unten ausgeführt wird. 254 255

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den Philosophen, wenn sie sich noch im Kreislauf der Wiedergeburten befinden, gutes und schlechtes Leben durchaus voneinander zu unterscheiden wissen, sodass sie sich sicherlich immer einem weiteren philosophischen Leben verschreiben würden 257, das – folgt man dem Phaidros – nach drei Inkarnationen schließlich zu einem ewigen Eintritt in die Ideenwelt führt (s. u.). Schon im Phaidon wird jedoch darauf hingewiesen, dass es stets eine große Anzahl mittelmäßiger Menschen gibt, wohingegen besonders Schlechte und besonders Gute nur wenige vorhanden sind (vgl. Phd. 89e6–90b3 258). Betrachtet man das Schicksal der philosophischen Seelen, so liegt es nahe anzunehmen, dass auch diese Seelen im positiven Sinne ebenfalls aus dem Zyklus austreten, und für den Phaidon ist dies auch sicherlich richtig. Annas zufolge stellt sich diese Aussicht aber nicht im Mythos der Politeia; 259 richtig ist, dass dies zumindest nicht erwähnt wird. Jedoch wird von einer tausendjährigen Wanderung gesprochen (vgl. Rep. X 615a2–3), die auch der Phaidros später betont (vgl. Phdr. 248e5–249b3). Dort wird nun dargelegt, dass die Philosophen zumindest nach einer dreimaligen solchen Wanderung aus dem Zyklus austreten. 260 Vielleicht wurde dieser Gedanke also in der Politeia einfach nicht näher ausgeführt; dezidiert verneint wird er zumindest nicht. 261

257 Hier stimme ich Schwartz zu (vgl. 2013, S. 348), auch wenn ich im Gegensatz zu ihr (vgl. S. 347 f.) nicht davon ausgehe, dass Philosophen stetig wiedergeboren werden. 258 Auf diese Stelle weist auch Schwartz hin (vgl. 2013, S. 333, Fn. 35). 259 Vgl. Annas 1982, S. 136. Auch Schwartz geht im Kontext des Er-Mythos davon aus, dass Philosophen stets wiedergeboren werden (vgl. 2013, S. 347 f.). Ebenso Inwood 2009 (vgl. S. 42, 46). 260 Gegen Alt 2002, die eine Hoffnung auf ein endgültig höheres Dasein nur im Phaidon gegeben sieht (vgl. S. 273 f.). 261 G. R. F. Ferrari verweist in seiner Studie zum Er-Mythos auf Nettleship 1901, der ebenfalls diese Sichtweise des Phaidros auf die Politeia angewendet hat, »as if Plato were in effect writing a single eschatological ›super-myth‹« (Ferrari 2009b, S. 129 (Fn. 12)). Ferrari widerspricht dem, indem er mit Bezug auf Annas 1982 davon ausgeht, jeder Mythos müsse im Kontext des entsprechenden Dialoges gelesen werden (vgl. Ferrari 2009b, S. 129 (Fn. 12); Annas 1982). Dies stellt m. E. jedoch kein Gegenargument dar: Es scheint recht offensichtlich, dass Platons Mythen inhaltlich auf den zugehörigen Dialog abgestimmt sind; gerade diese Tatsache kann aber dazu führen, dass manche Ansichten, obwohl vorhanden, in bestimmten Mythen einfach nicht auftauchen (wie beispielsweise der Austritt des Philosophen aus dem Reinkarnationszyklus).

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Unheilbare Seelen – über die Grenzen der Paideia

Es lässt sich festhalten, dass zumindest der Mensch im zweiten Szenario hinsichtlich der Schlechtigkeit nicht zu retten ist, auch wenn dies freilich allein von den charakterlichen Anlagen nicht zur Unheilbarkeit führen muss. Kommt aber eine entsprechende intellektuelle Begabung hinzu, so wird dieser Mensch, wenn er die Möglichkeit dazu bekommt 262, durch ungerechte Taten seine Seele bis zur Unheilbarkeit verderben. Bezüglich des ersten Szenarios wird in den Nomoi betont, dass möglicherweise doch noch Rettung besteht, nämlich durch eine entsprechende Strafe, sofern die Seele noch nicht völlig deformiert ist. Dies stellt aber keinen Sinneswechsel im Alterswerk dar, wenn man bedenkt, dass bereits im Gorgias nach einer schnellen Bestrafung verlangt wird, um schlechte Seelen doch noch zu retten (s. o.). Thomas Brickhouse und Nicholas Smith, die das Problem der unheilbaren Seelen im Gorgias untersuchen, sehen unterschiedliche Stufen der Heilbarkeit: Bei noch wenigen Untaten sei eine moralische Erziehung die richtige Maßnahme; werden die ungerechten Handlungen aber habituell, so sei Strafe vonnöten, damit die Seele so konditioniert werde, dass sie in Zukunft die moralische Handlung wählt, da sie weiß, dass ihr sonst Strafe droht. Eine unheilbare Seele zeichnet sich für die beiden Forscher dadurch aus, dass der Besitzer einer solchen immer seinem aktuellen Begehren nachgeht und somit keine längerfristigen Wünsche im Blick hat. Ihren Standpunkt bezeichnen sie dabei als sokratischen Intellektualismus, den sie von der platonischen Position abgrenzen. 263 M. E. scheint ihre Definition unheilbarer Seelen aber eher Ähnlichkeiten zur Politeia aufzuweisen, da ihre Beschreibung eines unheilbaren Menschen recht gut mit der eines Tyrannen in Rep. VIII–IX korrespondiert, der ebenfalls allen 262 Dass die Möglichkeit für die Ausübung schwerer Verbrechen gegeben sein muss, da die Seele sonst nicht unheilbar werden kann, bemerkt bereits Inwood in Bezug auf den Gorgias-Mythos (vgl. 2009, S. 28 f.). Dies gilt selbstverständlich ebenso für bereits pathologisch schlecht veranlagte Seelen, die trotz ihrer aussichtslosen Ausgangsposition die Möglichkeit zu Verbrechen haben müssen (für diesen Hinweis danke ich Dr. Denis Walter). 263 Vgl. Brickhouse/Smith 2007, S. 351–355, insbes. S. 353: »For this reason, let us be clear, our own account continues to be an intellectualist picture – for in our account, it remains true in every case that action always follows belief. This, we contend, is how the Socratic view remains entirely distinct from what we find in the later books of the Republic […]. At the most terrible end of this process of cognitive distortion and its resultant misjudgment of benefit, according to Socrates, is the state of moral and psychic ruin he says is incurable.«

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Begehren, wie sie gerade aufkommen, folgt (vgl. u. a. Rep. IX 577e1– 3). Dass diese Handlungen im Grunde auf falschen Urteilen gründen, die von den Begehren generiert werden, kann auch für die Politeia angenommen werden, da nur durch die Herrschaft eines unteren Seelenteils die Vernunft entsprechend beeinträchtigt werden kann. Somit lässt sich m. E. festhalten, dass die Darstellung von unheilbaren Seelen in Platons Werk im Wesentlichen recht kohärent zu sein scheint. Als Einwand gegen die Voraussetzung hoher intellektueller Anlagen könnte die Aussage von Phdr. 248c5–e3 vorgebracht werden, wo deutlich wird, dass die Seelen, die vor der ersten Einkörperung am wenigsten von den Ideen geschaut haben, ein tyrannisches Leben führen werden. Dies scheint auf den ersten Blick einen Widerspruch zu den besprochenen Stellen der Politeia darzustellen, anhand derer klar wird, dass die intellektuellen Anlagen von Philosoph und Tyrann auch von gleicher Art sein können, spätere Tyrannen also ebenfalls in besonderem Maße begabt sein müssen (vgl. Rep. VI 491e1–7, VII 519a1–7). Allerdings lässt sich dieser Widerspruch m. E. auflösen, wenn man auf der Ebene der seelischen Struktur argumentiert: Die Phaidros-Passage kann hinsichtlich des tyrannischen Lebens nur ein Fall vom ersten oder zweiten Szenario darstellen; da hier – im Gegensatz zum Er-Mythos der Politeia – spätere Lebensbedingungen nicht von Interesse zu sein scheinen und diese für das erste Szenario aber notwendig sind, um die Degeneration zu erklären, ist es m. E. plausibler, vom zweiten Fall auszugehen: Die Seele besitzt pathologisch schlechte charakterliche Anlagen und kann später nur ein schlechtes Leben führen. Da dieses schlechteste Leben hier im Phaidros als tyrannisch definiert ist und der Tyrann oft als Beispiel für unheilbare Seelen herangezogen wird (vgl. Gorg. 525b1–526c1, Rep. X 615c2–616a4), ist es nur folgerichtig, von einer Seele auszugehen, die im Laufe ihres Lebens unheilbar wird. Dafür sind aber – wie in der Politeia gesehen – auch hohe intellektuelle Voraussetzungen vonnöten. Allein die Tatsache, dass die Seele die Ideen in nur sehr geringem Maße gesehen hat, spricht aber nicht automatisch für ein schwaches logistikon, sondern kann verschiedene Gründe haben. Denn um die Ideen zu schauen, genügt es nicht, einen starken vernünftigen Seelenteil zu besitzen, wenn man zugleich einen mindestens ebenso starken begehrlichen Teil besitzt. Dieser den Tyrannen ausmachende begehrliche Seelenteil, der in dieser Charakterart am stärksten ausgeprägt 116

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ist und am ungehindertsten herrschen kann, da die beiden anderen Seelenteile von ihm versklavt wurden (vgl. Rep. IX 571a1–d5, 574d5–575a8), hindert die Seele an der Ideenschau. Dass die später tyrannische Seele also am wenigsten von den Ideen gesehen hat, liegt nicht an ihrer schwachen intellektuellen Verfasstheit (über die hier keine absolute Aussage getroffen wird 264), sondern an ihrem starken epithymêtikon, das durchaus in der Lage ist, auch ein starkes logistikon zu unterwerfen (vgl. die klugen Leute, die durch »Bleigewichte« der Lüste in der Höhle bleiben: Rep. VII 518d9–519b6). Und genau diese Seelenstruktur zeichnet die Unheilbaren aus, die von ihren Begehren geleitet werden und ihre Klugheit für große Verbrechen instrumentalisieren. 265 Die Verantwortlichkeit für eine solche seelische Degeneration liegt nun, wenn man nur das Diesseits betrachtet, sowohl beim Individuum selbst als auch beim familiären und gesellschaftlichen Umfeld, das sich v. a. durch Erziehung und Umgang mit den richtigen oder falschen Menschen auszeichnet (vgl. dafür v. a. Rep. VIII und IX). Insofern aber die Vorgeschichte aus dem Jenseits einbezogen wird, liegt die Hauptverantwortung beim Charakter, da er nicht nur seine Anlagen für das nächste Leben bestimmt, sondern auch die zugehörigen Lebensbedingungen (vgl. Rep. X 618c6–e3). 266 Dass es vor Vgl. Phdr. 248a1–b5. Man benötigt zwar ein starkes logistikon, um den Göttern zu folgen und die Ideen zu schauen; jedoch ist dies nur notwendig, aber nicht hinreichend für die Ideenschau (so wie auch philosophische Anlagen notwendig, aber im Normalfall nicht hinreichend sind, um Philosoph zu werden, vgl. Rep. VI 496a11–497a5). Aus dem Kampf zwischen dem Wagenlenker und seinen Pferden lässt sich nur schließen, dass bei einem Scheitern das schwarze Pferd im Vergleich zum Lenker stärker sein muss – aber auch der stärkste Lenker kann nichts mehr ausrichten, wenn das schwarze Pferd angefüllt ist von übermächtigen Lüsten (vgl. die Versklavung unter Eros in Rep. IX 574d1–576b10). Dies wird auch im Phaidros auf eine schlechte Erziehung zurückgeführt (vgl. Phdr. 247b3–5, allerdings nur vom eigenen logistikon ausgehend). 265 Das vollendete Chaos, das in den Seelen der Unheilbaren herrscht, wird in den Nomoi als Missklang der unterschiedlichen Seelenvermögen und damit als größte Unwissenheit bezeichnet (vgl. Leg. III 689a7–9 und Kap. 2.3.2 und 2.3.3). 266 Den Aspekt der Lebensbedingungen untersucht A. Larivée 2012 genauer. Hier stellt sich die Frage, inwiefern der Mythos in seinem deterministischen Aspekt ernst zu nehmen ist: Wenn die Kombination aus Anlagen und äußeren Bedingungen bereits gewählt wird, bleibt für die Erziehung kein Raum mehr, da sie ebenfalls als äußere Bedingung mitgewählt würde. Durch die ständige Betonung der großen Bedeutung der Erziehung in den platonischen Dialogen (vgl. v. a. Rep. II 376d9 – III 412b7, VII 518b6–541b5; Leg. I 632d9–650b10, II, VII) erscheint mir eine solche Interpretation 264

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allem der Körper ist, der die Seele zum Verfall leitet – auch wenn er in manchen Fällen als positiver Faktor fungieren kann 267 –, scheint recht offensichtlich. Denn genau dann, wenn die Seele ihren unteren Seelenteilen 268 zu viel Aufmerksamkeit schenkt und darüber die Vernunft vernachlässigt, handelt sie schlecht (vgl. Rep. IV 444b1–8 und die Darlegung der schlechten Charakterarten in Rep. VIII und IX). Wie bereits im Gorgias gesehen, wird bei einer Habitualisierung solcher schlechten Handlungen die Seele sogar unheilbar, sodass auch eine Trennung vom vorrangigen Übelsbringer – dem Körper – zu keiner Besserung mehr führt. Dass die Seele für ihre Taten zur Verantwortung gezogen und somit zurechnungsfähig sein muss, findet sich bereits im Gorgias (vgl. 523a1–526d2). Dies impliziert nach unserem heutigen Verständnis aber auch die Existenz eines freien Willens. Hans-Ulrich Baumgarten sieht in seiner Monographie Platon zwar auf dem Weg zum freien Willen, schreibt ihm die Annahme einer freien Willensentscheidung endgültig aber erst in den Nomoi zu (vgl. Leg. X 895c1– 897b6). Er verneint dabei nicht die Verantwortlichkeit der Seele, die sich bereits in früheren Dialogen findet, sieht darin aber eine Spannung im platonischen Werk, da die Handlungen letztlich immer von den Handlungszielen des jeweiligen Seelenteils bestimmt würden. Die Selbstbewegung der Seele, die für einen freien Willen des Individuums notwendig ist, findet sich zwar schon im Phaidros; Baumaber unplausibel. Auch Schwartz bemerkt, dass die Jenseitsmythen dazu motivieren sollen, im Diesseits ein gutes Leben zu führen, da dies sonst zu schlimmen Konsequenzen im Jenseits führen würde (vgl. 2013, S. 350). Dafür ist aber ein bestimmtes Maß an Freiheit nötig, das den Individuen in den platonischen Dialogen auch zugesprochen werden muss. Larivée geht noch weiter in der Zurückweisung einer deterministischen Interpretation und ist der Meinung, dass man sich im gewählten Leben immer für die Tugend entscheiden könne (vgl. 2012, S. 243, Fn. 24). Diese Interpretation scheint für den Großteil der Fälle zu stimmen, allerdings nicht mehr für die Unheilbaren: Wenn die Seele ein bestimmtes Maß an Schlechtigkeit erreicht hat, d. h. wenn sie einen tyrannischen Charakter besitzt und auch bereits große Verbrechen begangen hat (es geht also nicht um den tyrannischen Charakter, der aus Mangel an Möglichkeiten nur kleinere Verbrechen begeht), so kann sie sich m. E. nicht mehr für die Tugend entscheiden; das bestmögliche Szenario wäre lediglich, dass sie keine weiteren Unrechttaten begeht, da ihr z. B. die Macht über eine Polis entrissen würde. 267 Vgl. dazu Müller 2009b. 268 Zumindest das epithymêtikon ist klarerweise mit körperlichen Begehren befasst (vgl. Rep. IV 439d4–8); beim thymoeides zeigt sich möglicherweise, dass nicht notwendig der Körper allein die Seele degenerieren lässt.

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garten zufolge zerstört Platons Sokrates diese Vorstellung aber direkt nach dieser Passage, indem dieser das Gleichnis vom Seelenwagen einführt, das impliziere, dass jeder Seelenteil von seinem jeweiligen Ziel determiniert sei. Ihm zufolge verbleibt Platon in einer Außenperspektive, die erst in den Nomoi aufgelöst wird. 269 Was Baumgarten also fehlt, ist eine Art übergeordnetes Ich, das frei entscheiden kann, welchem Seelenteil Folge geleistet werden soll, sodass die handlungsmotivierende Kraft nicht (nur) durch die äußeren Ziele bestimmt wird. Dass es aber bereits zuvor Anklänge eines solchen Ichs gibt, zeigt sich recht deutlich an einer Stelle der Politeia in Buch IX. Wenn Platons Sokrates die einzelnen Seelenteile als vielköpfiges Untier, Löwen und Menschen darstellt, fügt er am Ende hinzu: »Und nun forme außen herum die Gestalt eines einzigen Wesens, eines Menschen; wer also nicht ins Innere schauen kann, sondern nur die äußere Hülle erblickt, soll glauben, ein einziges Lebewesen zu sehen, einen Menschen.« (Rep. IX 588d10–e1)

Da die Seele hier als eine übergeordnete Hülle beschrieben wird, der drei verschiedene Teile innewohnen und diese Hülle als Mensch dargestellt wird, scheint hier genau die gesuchte übergeordnete Instanz zu liegen, die schließlich entscheidet, welchem Seelenteil Folge geleistet werden soll. Diese Passage führt auch Christoph Horn an, der für einen Meta-Akteur in der Politeia argumentiert. Er nennt dabei noch andere Stellen, die für eine solche Interpretation sprechen. Insbesondere Rep. IV 443c9–d5 scheint mir ein guter Beleg für eine solche Interpretation zu sein, nämlich, dass es eine Art Ich gibt, das die Seelenteile ordnet. 270 269 Vgl. Baumgarten 1998, S. 119 f., 168 f., 172, 186, 203–205, 209, 226, 239, 241 f., 249 f., 252 f., 255. Schlechte Taten lassen sich seiner Interpretation nach nur durch den schlechten Einfluss des Körpers erklären (vgl. S. 171). In der Politeia sieht er gar nur den Körper als Ursache des Handelns an, und zwar in Form der beiden unteren Seelenteile; neben den Nomoi scheint er nur im Philebos davon auszugehen, dass die Seele als eigene Handlungsursache angesehen werden kann (vgl. S. 237, 239, 241). Diese Lesart scheint mir aber nicht haltbar, da die unteren Seelenteile zwar körperassoziiert sind und durch den Körper vermutlich erst entstehen, aber doch klar als der Seele zugehörig bestimmt werden. Zudem scheint das thymoeides nicht vollständig vom Körper bestimmt zu sein (vgl. Gefühle wie Hochmut oder Neid, Rep. VIII 548e4– 550b8, IX 586c7–d3) und kann zweifellos zu Verbrechen führen (vgl. die Beschreibung des Timokraten in Rep. VIII 548e4–549c1). 270 Vgl. Horn 2015. Diese übergeordnete Instanz zeigt sich ihm zufolge auch bei der Beschreibung des Übergangs vom Timokraten zum Oligarchen (vgl. Rep. VIII 553b7–

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Lässt sich aber allgemein davon sprechen, dass eine solche Auffassung bereits ab der Politeia vorhanden ist und erst in den Nomoi komplett ausformuliert wird? Sicherlich kann man bei Platon nicht eine ausformulierte Theorie des freien Willens annehmen 271: Anklänge sind zwar durchaus deutlich und nicht selten vorhanden, das Konzept als solches wird aber nirgends genau dargelegt – abgesehen von der einen Textpassage der Nomoi. Somit scheint es mir plausibler, davon auszugehen, dass zwar die Idee eines Meta-Akteurs häufig im Hintergrund von Platons Überlegungen steht, für ihn aber keiner näheren Diskussion wert ist. Wenn wir unseren Charakter formen, sollen wir erkennen, dass unser eigentliches Ich mit der Vernunft übereinstimmen soll und dass sie der göttliche Teil in uns ist und nur so eine Angleichung an Gott geschehen kann. 272 Auch diese Haltung, die sich durch das ganze Werk zieht, müsste eine Art Ich voraussetzen, das die beschriebene Situation erkennt und die Seele c7; auch Rachana Kamtekar erkennt dort eine übergeordnete Instanz, vgl. 2010, S. 141). Damit könnte der Streit zwischen Terence Irwin und Mark Johnstone aufgelöst werden, die eine rational choice view bzw. eine power struggle view in Bezug auf den seelischen Übergang zwischen den pathologischen Charakterformen vertreten (vgl. Irwin 1977 (S. 227–232), 1995 (S. 284–288) und Johnstone 2011). Mit der These eines meta-agent könnte aber ganz einfach gesagt werden, dass der Übergang weder durch einen Streit der Seelenteile zustande kommt, an dessen Ende einer der drei Teile die Überhand gewinnt, noch durch eine vernünftige Entscheidung des logistikon. Es würde vielmehr ein dahinterstehendes Ich entscheiden, welcher Seelenteil herrschen soll. Dies erscheint mir auch die plausiblere Variante zu sein. Gegen Bobonich, der Belege für ein übergeordnetes Ich als »loose language« bezeichnet und ein solches Ich als für kaum vom logistikon unterscheidbar hält. Allerdings ist sein Einwand zu bedenken, dass dieses Ich »would also undermine the role of the parts of the soul in explaining a person’s choices and threatens to lead to a pointless regress« (2002, S. 531 (Anm. 27), vgl. S. 234, 531 (Anm. 27)). M. E. können aber die Entscheidungen einer Person dennoch mit solch einer übergeordneten Instanz viel besser erklärt werden, zumindest, wenn man unsere heutige Sichtweise eines freien Willens anwenden und den Menschen nicht als Spielball dreier unterschiedlicher Seelenvermögen begreifen will (was Platon in der Politeia sicherlich nicht tut, vgl. z. B. die oben genannte Stelle aus Rep. VIII 553b7–c7). Auch wenn ein Regress droht, wenn man den Meta-Akteur genauer bestimmen will und dieser dann selbst bestimmte Antriebskräfte haben müsste, so stellt sich Bobonich mit seiner Homunculi-Lesart dasselbe Problem in viel klarerer Weise, und zwar auf der Ebene der einzelnen Seelenteile (vgl. 2002, S. 219–235). 271 Vgl. dazu auch Müller, der sich gegen Baumgartens These ausspricht (vgl. 2009c, S. 99 f.; 2013, S. 61–63). 272 Vgl. Müller 2015, für den dieser Aspekt der normativen Anthropologie Platons zuzuordnen wäre. Vgl. auch Pfefferkorn 2016 (S. 170–173), die die homoiôsis theôi als das Ziel der choreia in den Nomoi sieht.

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korrekt ausrichtet, sich also aktiv mit dem logistikon identifiziert. Dass aber klarerweise keine ausgearbeitete Konzeption eines solchen Ichs vorliegt, zeigt sich auch daran, dass sich, wenn man das Szenario weiterdenkt, doch einige Probleme ergeben, wie z. B. die Frage nach der Charakterisierung eines solchen Ichs. Um richtig zu wählen, müsste es über intellektuelle Fähigkeiten verfügen, ansonsten aber weitgehend neutral sein – wenn man von der Existenz eines guten Ichs ausgeht. Die Tatsache, dass sich die Sprecher der platonischen Dialoge jedoch nirgends zu solchen Problemen äußern, scheint mir ein Hinweis dafür zu sein, dass die Idee eines solchen Meta-Akteurs zwar im Hintergrund schlummert, aber nicht weiter durchdacht wurde. Wenngleich also nicht deutlich ein freier Wille ausbuchstabiert wird, ist das Konzept der Veranwortlichkeit mit Sicherheit vorhanden (vgl. dazu auch Kap. 2.4). 273 Als letzter Punkt lässt sich schließlich noch die Frage aufwerfen, warum es von Platon überhaupt für nötig erachtet wurde, unheilbare Seelen in seinen Dialogen zu thematisieren. Dies lässt sich zunächst mit verschiedenen Funktionen, die die Unheilbarkeit einnimmt, erklären. Sie wird dabei auf folgende Weisen eingesetzt: (1) Abschreckend und protreptisch: Die Rede von der Unheilbarkeit wird als Abschreckung eingesetzt, um die noch lebenden Individuen zu überzeugen, gerecht zu leben und/oder von ihrer ungerechten Lebensweise abzulassen und sich durch Strafe zu bessern, da sie so ein angenehmeres Schicksal erwartet (vgl. v. a. Gorg. 525b1–526c1 und Rep. X 615c2–616a4). (2) Erklärend: Die Unheilbarkeit dient sicherlich auch als Erklärung für schwerwiegende Verbrechen von Machthabern oder anderen Menschen und für die Unveränderlichkeit der seelischen Haltung der Täter, die für Platons Dialogsprecher offenbar empirisch gegeben war (vgl. Plt. 308e9–309a3, Leg. IX 862d4–863a2). (3) Gütertheoretisch: Mit den Ausführungen zu den Unheilbaren kann überzeugender dargestellt werden, dass Macht in den meisten Fällen nicht als Gut, sondern aufgrund des häufigen Missbrauchs als Übel anzusehen ist und damit eine große Gefahr für die Menschen repräsentiert (vgl. v. a. Gorg. 525b1–526c1). 274 273 Vgl. Williams 1993, der das Konzept der Verantwortlichkeit ebenfalls bereits im antiken Griechenland ausmacht. Er geht dabei sogar noch weiter zurück und behandelt auch eine Szene aus Homers Odyssee (vgl. S. 50–74). 274 Vgl. dazu auch Rep. I 347a10–d8: Nur schlechte Menschen streiten sich um die

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(4) Rechtfertigend: Schließlich kann die Unheilbarkeit als Rechtfertigung oder Anlass für besonders schwere Bestrafungen herangezogen werden (Verbannung, Todesstrafe 275). Offensichtlich stellt dieser Charaktertyp für Platon ein besonderes Problem dar, mit dem er in seinen Ausführungen zur Staatskonzeption – ob in der kallipolis oder Magnesia – umzugehen hat, da ein Verbleib dieser Charaktere im Staat gerade aufgrund der angenommenen Irreversibilität eines solchen Seelenzustandes für ihn undenkbar ist (vgl. Rep. III 409e4– 410a6, Plt. 308e9–309a3, Leg. V 735d8–e5, IX 853d5–854c5, 862d4– 863a2, XII 941d4–942a4). Beschränkt man sich auf die erste Funktion, so könnte man noch die Unheilbaren nur als darstellerisches Mittel ansehen, um die Menschen zur Gerechtigkeit und soweit möglich zu einer philosophischen Lebensweise zu bewegen. Insbesondere die übrigen Funktionen sprechen meiner Meinung nach aber in starkem Maße dafür, dass Platon unheilbare Seelen als real existierend angenommen hat, da er sich sonst in seinen Staatsentwürfen keinerlei Gedanken über den Umgang mit solchen Menschen hätte machen müssen und sie einfach innerhalb des Staates hätte bestrafen können, da dies dann zu einer Besserung geführt hätte. Auch die Auffassung von Macht als einem Übel oder zumindest einem hochgefährlichen Gut, das ins Gegenteil umschlagen kann und dies meist auch tut, kann sich nur aus der Erfahrung mit solchen Machthabern ergeben, die ihre Macht missbrauchen. Entscheidend für die Thematisierung der Unheilbaren ist m. E. jedoch, dass damit erst die ganzen ethischen Ausführungen, was sowohl die korrekte Erziehung als auch Strafmaßnahmen angeht, einen Sinn ergeben: Dadurch, dass die schlechteste und damit unwissendste Charakterart dargestellt wird, wird erst deutlich, welche verheerenden Auswirkungen diese Unwissenheit nicht nur auf die befallene Seele selbst, sondern auch auf das menschliche Miteinander hat. So Macht; wahre Philosophen (auch wenn sie hier noch nicht als Philosophen bezeichnet werden, sondern als agathoi oder epieikestatoi/epieikeis) hingegen wollen nicht um Ehre (timê) oder Geld (chrêmata) willen regieren und tun es dieser Textstelle zufolge nur, um zu verhindern, dass solche schlechten Menschen an ihrer Stelle herrschen (für eine Diskussion bzgl. des Unwillens der Philosophen vgl. Kap. 3.3.3). Auch in den Nomoi wird die große Gefahr der Macht betont (vgl. Leg. IX 874e7–875c3). 275 Vgl. hierzu auch Leg. IX 873b3–c1, worauf auch Martino Rossi Monti verweist. Er sieht die Bestraften hier als Unheilbare an (vgl. Rossi Monti 2014, S. 77 (Fn. 1)), was aufgrund der Bestrafung und der verübten Verbrechen folgerichtig scheint.

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werden platonische Forderungen wie die des Idealstaates mit der entsprechenden Erziehung in hohem Maße bekräftigt. 276 Wie entsteht aber der seelische Zustand der Unheilbarkeit? Bisher wurden als Erklärungen entsprechende Anlagen und/oder äußere Einflüsse wie eine schlechte Erziehung herangezogen. Diese Auffassungen stützen sich allerdings immer auf das aktuelle oder das direkt vorhergehende Leben. Will man die Unheilbarkeit aber bis auf ihren Ursprung zurückverfolgen, so kann der Phaidros, obwohl unheilbare Seelen dort keine Rolle zu spielen scheinen, Anhaltspunkte geben. Wenn ein seelischer Verfall erst mit der Einkörperung möglich ist, so muss man sich fragen, was der Grund für eine solche Inkarnation ist. Und genau darauf antwortet der Phaidros, wenn er den Verlust des seelischen Gefieders auf einen epistemischen Mangel zurückführt: Die Seelen, die einmal nicht zur Genüge die Ideen geschaut haben, werden je nach Ideen-Erkenntnisstand in verschiedene Körper eingeschlossen (vgl. Phdr. 248c5–e3). Somit könnte man, wenn man die Dialoge im Gesamtkontext betrachten will, auch bezüglich des Timaios die Interpretation vertreten, dass seelische Krankheiten zwar auf körperliche Dispositionen zurückgeführt werden (vgl. Tim. 86b1– 87a7; für nähere Ausführungen s. Kap. 2.3.2), die Einkörperung selbst aber mit einer mangelnden seelischen Erkenntnis begründet wird – was wiederum dazu führen kann, dass sich die Seele in falscher Weise um den Körper kümmert, dessen so entstandene Defekte dann wieder auf die Seele einwirken und diese schlechter machen. 277 Solange für die Seele aber kein tyrannisches Leben bestimmt ist, welches entweder auf eine falsche Schicksalswahl oder – bei der ersten Einkörperung – auf eine extrem mangelhafte Ideenschau zurückzuführen ist (also auf einen Mangel an Einsicht und/oder zu starken 276 Für die politischen Auswirkungen schlechter Charakterarten vgl. Kap. 3.1 und 3.2. Schlechte (nicht notwendig nur unheilbare) Seelen wirken zudem ansteckend und übertragen ihre seelische Schlechtigkeit auf andere, wenn sie mit diesen in Kontakt kommen (vgl. die Drohnen und andere schlechte Menschen, die zum Charakterverfall des jeweiligen Individuums beitragen: Rep. VIII 550a4–b7, 559d7–e2, IX 572d8– 573a3). 277 Der Erklärung, dass seelische Krankheiten auch im Timaios letztlich doch auf die Seele zurückgehen, stimmt auch Luc Brisson zu (vgl. 1998, S. 451). Allerdings vertrete ich nicht die Interpretation, dass der Körper im Timaios vollkommen neutral sei und »où le mal naît d’une disproportion.« (1998, S. 465; vgl. ebd., S. 465) Das mag zwar für das Leben im Diesseits noch stimmen; allerdings ist die Asymmetrie ja erst möglich durch das Vorhandensein eines Körpers, der die Seele zu Beginn des Lebens ins Chaos stürzt.

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unteren Seelenteilen 278), spielt die Paideia für sie eine entscheidende Rolle 279, da sie die Unwissenheit in den Seelen entfernen und Ordnung wiederherstellen kann. Fasst man die Ergebnisse der ersten beiden Unterkapitel zusammen, so ergeben sich folgende mögliche Entstehungsarten für die verschiedenen Charaktere: (1) Bei einer guten Erziehung entsteht fast immer ein guter Charakter. Welche Art von Charakter genau sich herausbildet, hängt dann von den intellektuellen Anlagen ab; nur wenn diese besonders gut sind, entsteht ein Philosoph, ansonsten ein Wächter- oder Kaufleutecharakter. (2) Die unterschiedlichen Grade von schlechten Charakteren sind fast immer auf eine schlechte Erziehung oder schlechte äußere Einflüsse zurückzuführen in Kombination mit weniger bis sehr schlechten Anlagen. Ob aber lediglich ein degenerierter Charakter im Sinne von Timokrat, Oligarch und Demokrat entsteht oder gar ein Tyrann, hängt wiederum von der Begabung des Individuums ab. Nur besonders Begabte werden bei schlechter Erziehung zu Tyrannen und somit unheilbar. (3) Ausnahmen: Auch eine gute Erziehung ist nutzlos, wenn jemand mit so schlechten Voraussetzungen auf die Welt kommt, dass sich seine Anlagen niemals zu einem auch nur halbwegs guten Charakter entwickeln können. Das Ergebnis ist bei geringerer Begabung eine degenerierte Charakterform, bei hoher Begabung ein unheilbarer Charakter, d. h. ein Tyrann. Diese Übersicht unterstreicht auch noch einmal die These, dass eine gute Erziehung bis auf wenige Ausnahmen immer einen positiven Effekt hat und die Anlagen unter diesen Idealbedingungen zu einem guten Charakter entwickelt werden können – wenn auch nicht im selben Maße gut, da hier der Einfluss der natürlichen Anlagen zum Ausdruck kommt und in vielen Fällen gewisse Grenzen setzt (vgl. Rep. III 414c4–415c6). Im Gegensatz zu Bobonichs Meinung fasse ich unter diese Bezeichnung aber durchaus mehr als nur die phi-

278 Der Punkt ist gerade, dass sich diese beiden Aspekte nicht scharf trennen lassen. Zu starke untere Seelenteile führen zwangsläufig zu einer Vernebelung des logistikon und damit zu seelischem Chaos und Unwissenheit. Für eine Analyse dieses Mechanismus und einer genaueren Definition der Unwissenheit vgl. Kap. 2.3.2. 279 In besonderem Maße für die philosophische Natur, für die eine schlechte Erziehung verheerende Konsequenzen nach sich zieht (vgl. Rep. VI 491d1–e7).

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losophischen Charaktere 280, da beispielsweise auch Kaufleute in der kallipolis m. E. nach glücklich werden können, auch wenn sie nicht das vollkommene Glück des Philosophen erreichen werden – dies stellt für ihre Seelendisposition aber auch kein erstrebenswertes Ziel dar.

2.3 Der Körper: Bedrohung oder Nutzen? Dass der Körper bereits nach der platonischen Ansicht einen großen Einfluss auf die Seele ausübt und für die psychische Gesundheit eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich einerseits im Phaidon, andererseits wird in den Spätdialogen Timaios und Nomoi das Thema genauer wiederaufgenommen. Daher stehen diese drei Dialoge mit besonderer Betonung des Timaios auch im Fokus des vorliegenden Unterkapitels, das versucht, die Relevanz und Wirkungsweise körperlicher Dispositionen auf die Ausbildung und Veränderung des Charakters näher zu beleuchten. Dabei soll gezeigt werden, dass die Auffassung des Körpers durch alle Werkphasen hindurch recht einheitlich ist und dieser genau dann negativ aufzufassen ist, wenn man ihm unangemessen viel oder wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt, da dann Unordnung und Unwissenheit in den Seelen erzeugt wird. Zugleich kann eine Verschiebung des Fokus in den Spätwerken ausgemacht werden, dahingehend, dass der Körper als notwendiges Übel immerhin konstruktiv in der Erziehung eingesetzt werden kann und ihm somit eine positive Seite abgewonnen werden und er auch als Erkenntnis- und Erziehungsinstrument verwendet werden kann (Instrumentalitätsthese). Trotz dieser Möglichkeit, den Körper positiv nutzbar zu machen, stellt er eine ständige Bedrohung für die Seele dar, sodass auch bei diesem Einflussfaktor deutlich wird, dass ein Abrutschen in seelisches Chaos zu jedem Zeitpunkt möglich ist, wenn nicht ohne Unterlass mit einer entsprechenden Erziehung Seele und Körper im Gleichgewicht gehalten werden.

280 Für die genaue Argumentation vgl. Kap. 3.2, in dem auch die verschiedenen Charakterarten aufgeführt werden, die sich im platonischen Korpus finden lassen.

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2.3.1 Phaidon (62c9–69e4, 76a1–e4, 79c2–9) Die Interpretinnen und Interpreten, die herausstreichen wollen, dass nach platonischer (oder pythagoreischer) Ansicht der Körper ein schreckliches Übel ist, das uns bei der Vernunfttätigkeit nur behindert, sodass totale Askese und Abkehr von ihm gefordert wird, berufen sich nicht ohne Grund auf den Phaidon. Auch wenn in diesem Dialog nicht die Entwicklung des menschlichen Charakters direkt zum Thema gemacht wird, so ist doch klar ersichtlich, welch großen Einfluss der Körper hier auf die Seele und ihre Beschaffenheit ausübt. Nach der Standardinterpretation wird in diesem Dialog eine Sichtweise dargestellt – ungeachtet dessen, ob diese nun Platons oder Sokrates’ eigene Meinung widerspiegelt oder ob der Sprecher Sokrates lediglich als Folie für pythagoreische Positionen 281 verwendet wird –, die den Körper umfassend abwertet und als schädlich für die Seele betrachtet, da er für das Erlangen von wahrer Erkenntnis und damit für das ungetrübte Ausüben der seelischen Tätigkeit als Hindernis wahrgenommen wird. 282 Im weiteren Verlauf werde ich mich auf diese Position als These von der Leibfeindlichkeit (TL) beziehen. Johannes Hübner hingegen bestreitet diese These, indem er in seiner Lesart die Passagen aus der »zweiten Apologie« (Phd. 62c9– 69e4) relativiert, da zum einen die notwendigen Bedürfnisse des Kör-

281 Für die Meinung, Platon stilisiere Sokrates hier zu einem pythagoreischen Philosophen, vgl. Ebert 2004 (S. 123–154). 282 Vgl. Zimmermann 1869 (S. 12–22), Dirlmeier 1949 (S. 230 f., 242, 244), Hackforth 1955 (S. 48 f.), Gallop 1975 (S. 88, 91 f.), Burger 1984 (S. 37–47), Bostock 1986 (S. 25– 27, 30–33), Frede 1999 (S. 4 f., 18–26) und Ebert 2004. Theodor Ebert geht dabei klar von pythagoreischen Positionen aus, die nicht Sokrates oder Platon selbst zuzuschreiben seien (vgl. S. 126–128, 141, 150–154). Auch Ronna Burger ist der Ansicht, dass sich Sokrates hier nicht mit der dargelegten Position identifiziere (vgl. 1984, S. 40). Dorothea Frede meint, dass Platon »nach dem Tod des Sokrates und unter dem Eindruck der asketischen Lebenseinstellung der Pythagoreer eine Phase extremer Weltabgewandtheit durchlebt hat, die sich hier widerspiegelt.« (1999, S. 19) Walter Mesch, der sich mit der Seele in Phaidon und Timaios beschäftigt, sieht denn auch den Körper im Phaidon als »eine bleibende Bedrohung des letztlich auf Philosophie zielenden Menschen«, wohingegen er im Timaios »zu einer überwindbaren Ausgangslage« werde. Er sieht allerdings keinen »Konzeptionsbruch«, sondern lediglich eine »Verschiebung« (2016b, S. 83). Trotz der positiven Aspekte, die in den Spätwerken zur Sprache kommen, scheint mir der Körper dennoch stets eine Bedrohung zu bleiben. Zum Verhältnis zwischen Phaidon, Timaios und auch Nomoi hinsichtlich der Bedeutung des Körpers vgl. Kap. 2.3.4.

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pers nicht verneint würden 283; wenn ein Körper krank werden könne, sei es zudem nur klug, sich in entsprechender Weise um ihn zu kümmern mithilfe von Gymnastik und Medizin. 284 Zum anderen sei zwar eine Distanzierung vom Körper bezüglich der Erlangung von Definitionswissen gefordert 285; diese Distanzierungsaufforderung impliziere aber nicht, (1) dass man zu Definitionswissen gelange, »ohne jemals Wahrnehmungen gehabt zu haben« 286, und schließe nicht aus, (2) dass man durch sie zur Definitionssuche erst angeregt werde und (3) dass, wenn man dieses Wissen bereits besitzt, es sich – ausgelöst durch die entsprechenden Wahrnehmungen – vergegenwärtige. 287 Insgesamt sieht er die Passage nicht in Widerspruch zu platonischen Positionen innerhalb des Phaidon wie auch in anderen Dialogen. 288 Da sich die stärksten Aussagen zum Einfluss des Körpers auf die Seele in der »zweiten Apologie« finden, werde auch ich mich auf diese Passage konzentrieren. Dabei spreche ich mich ebenfalls gegen TL aus und möchte Hübners Position erweitern, indem ich auch jetzt schon bisweilen unter Einbeziehung von Timaios und Nomoi zeigen werde, dass sich das Motiv des Körpers als drohender Verursacher von Unwissenheit und als potentieller Zerstörer des Charakters, der aber deswegen nicht völlig negiert werden darf, sondern vielmehr durch die angemessene Art von Aufmerksamkeit in Schranken gehalten und sogar positiv eingesetzt werden kann, durch das ganze Werk zieht. Im Phaidon liegt der Fokus selbstverständlich eher auf der Gefahr des körperlichen Einflusses als auf dessen positiver Einbeziehung. Betrachtet man die Aussagen zum Körper im Dialog, so scheinen sie zunächst ganz offensichtlich der radikalen Position von TL Recht zu geben: Der Körper wird als Hindernis gesehen, da die Sinnesempfindungen die Seele auf dem Weg zur Erkenntnis nur stören, der KörVgl. Hübner 2016, S. 103 f. Vgl. ebd., S. 113. 285 Vgl. ebd., S. 109. 286 Ebd., S. 114. 287 Vgl. ebd., S. 113–115. 288 Vgl. ebd., S. 116–119. Barbara Zehnpfennig ist zwar ebenfalls der Meinung, dass es nicht um die Verachtung des Körpers, sondern vielmehr um den vernünftigen Umgang mit ihm gehe. Sie gelangt aber auf andere Weise zu ihrer Lesart: Sie schwächt nicht die Körperverachtung in den entsprechenden Textstellen ab, sondern schreibt sie den »echten« Philosophen zu, die Sokrates nennt und von denen er sich distanziere. Sie sieht hier eine Kritik an den Pythagoreern gegeben, da diese als Feinde des Körpers ebenso wie die Hedonisten, die ins andere Extrem ausschlagen, den Körper als zu wichtig ansähen (vgl. 1991, S. XXI–XXIV, XXXIX). 283 284

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per verwirrt die Seele und versetzt sie gar in einen betrunkenen Zustand (vgl. Phd. 65a9–67e7, 79c2–9). Auf den ersten Blick scheint es ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, hier positive Aussagen über den Körper zu finden. Er wirkt eher wie eine Bedrohung für die Seele, wenn es darum geht, einen guten Charakter auszubilden, sodass als Schlussfolgerung eine völlige Abkehr propagiert wird. Wenn man sich den Dialog aber genauer anschaut, fallen zwei Aspekte auf, die TL unterminieren, da sie zum einen die Lesart einer radikalen Abwertung des Körpers unmöglich machen und zum anderen sogar eine positive Verwendung des Körpers anklingen lassen. Gegen eine radikale Abwertung sprechen die Passagen aus Phd. 64d2–e7 289 und 67a2–6: »[…] Scheint es dir für einen Philosophen passend zu sein, sich um die sogenannten Vergnügen zu kümmern, etwa um die von Essen und Trinken?« »Nicht im mindesten, Sokrates«, sagte Simmias. »Und was die sexuellen Vergnügen angeht?« »Keineswegs.« »Und was ist mit den anderen Dingen, die dem Körper gelten? Denkst du, daß er darauf Wert legt? Etwa auf den Besitz ausgesuchter Kleidung oder Schuhe oder auf anderen Putz für seinen Körper, denkst du, daß er das hoch- oder daß er das geringschätzt, soweit es nicht eine zwingende Notwendigkeit gibt, sich darum zu kümmern?« »Der wahre Philosoph, denke ich, wird das geringschätzen.« »Denkst du nicht ganz allgemein, daß das Tun und Trachten eines solchen Menschen nicht seinem Körper gilt, sondern darauf gerichtet ist, sich, soweit möglich, davon fernzuhalten, und daß es seiner Seele gilt?« »Ich denke schon.« (Phd. 64d2–e7 290) Diese Passage behandelt auch Hübner (vgl. 2016, S. 103 f.). φαίνεταί σοι φιλοσόφου ἀνδρὸς εἶναι ἐσπουδακέναι περὶ τὰς ἡδονὰς καλουμένας τὰς τοιάσδε, οἷον σιτίων καὶ ποτῶν; Ἥκιστά γε, ὦ Σώκρατες, ἔφη ὁ Σιμμίας. Τί δὲ τὰς τῶν ἀφροδισίων; Οὐδαμῶς. Τί δὲ τὰς ἄλλας τὰς περὶ τὸ σῶμα θεραπείας; δοκεῖ σοι ἐντίμους ἡγεῖσθαι ὁ τοιοῦτος; οἷον ἱματίων διαφερόντων κτήσεις καὶ ὑποδημάτων καὶ τοὺς ἄλλους καλλωπισμοὺς τοὺς περὶ τὸ σῶμα πότερον τιμᾶν δοκεῖ σοι ἢ ἀτιμάζειν, καθ’ ὅσον μὴ πολλὴ ἀνάγκη μετέχειν αὐτῶν; Ἀτιμάζειν ἔμοιγε δοκεῖ, ἔφη, ὅ γε ὡς ἀληθῶς φιλόσοφος. Οὐκοῦν ὅλως δοκεῖ σοι, ἔφη, ἡ τοῦ τοιούτου πραγματεία οὐ περὶ τὸ σῶμα εἶναι, ἀλλὰ καθ’ ὅσον 289 290

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»[…] Solange wir aber leben, werden wir offenbar dem Wissen auf diese Weise sehr nahe kommen: Wenn wir so wenig wie eben möglich (hoti malista mêden) mit dem Körper irgendeinen Umgang und Verkehr haben, nur soweit es unbedingt sein muß (hoti mê pasa anankê), und uns nicht von seinem Wesen anstecken lassen, sondern uns von ihm rein halten, bis Gott selbst uns loslöst. […]« (Phd. 67a2–6)

Obwohl es hier zugegebenermaßen um eine Abwertung des Körpers geht, würde man einen Fehler begehen, verstünde man diese in absoluter Weise. Die Betonung liegt darauf, dass man sich nicht im Übermaß um den Körper kümmern soll, dem, was die Notwendigkeit erfordert, aber durchaus nachkommen muss. 291 Man soll also versuchen, sich vom Körperlichen zu befreien, insoweit es die menschliche Natur vermag. Dies impliziert aber keine völlige Askese: Es mag dem Philosophen diesen Textpassagen zufolge zwar keine Freude bereiten, aber dennoch wird er sich um das Nötigste kümmern, um seinen Körper zu erhalten. 292 Der Tod wird zwar positiv als Absonderung der Seele vom Körper verstanden (vgl. Phd. 64c2–9, 67d4–6), Suizid ist jedoch verboten (vgl. Phd. 61e5–62c8). Zieht man dann noch einige Aussagen aus dem zweiten Unsterblichkeitsbeweis hinzu, scheint dies Hübners Position der Vergegenwärtigung des Definitionswissens zu untermauern. Wir setzen uns zur Ideenwelt 293 in Beziehung, indem wir erkennen, dass die Dinge, die uns im täglichen Leben begegnen, nicht vollständig mit den wahren Wesenheiten übereinstimmen: »Denn das war uns doch möglich erschienen, daß, wenn man etwas wahrnimmt, es sieht oder hört oder durch einen anderen Sinn erfaßt, man ausgehend von diesem Gegenstand noch an etwas anderes denken kann, das man vergessen hatte, mit dem dieser Gegenstand, sei er ihm nun ähnlich oder unähnlich, in Verbindung steht. […]« (Phd. 76a1–4 294) δύναται ἀφεστάναι αὐτοῦ, πρὸς δὲ τὴν ψυχὴν τετράφθαι; Ἕμοιγε. (eig. Hervorhebungen) 291 Eine solche Haltung findet sich später auch in der Politeia (vgl. Rep. III 407b4–7, VIII 558d8–559c7). 292 In diesem Sinne interpretiert auch Hübner die erste Stelle (vgl. 2016, S. 103 f.). 293 Die Ideenlehre selbst wird zwar erst später eingeführt (vgl. Phd. 100b1–103a2), wie auch Hübner anmerkt, der mit dieser Begründung die gesuchten Definitionen nicht auf die Ideen bezieht (vgl. 2016, S. 107). Dennoch scheint mir hier eine Art Vorverweis auf die Ideenlehre gegeben zu sein, die Sokrates später ausführt. 294 Δυνατὸν γὰρ δὴ τοῦτό γε ἐφάνη, αἰσθόμενόν τι ἢ ἰδόντα ἢ ἀκούσαντα ἤ τινα ἄλλην αἴσθησιν λαβόντα ἕτερόν τι ἀπὸ τούτου ἐννοῆσαι ὃ ἐπελέληστο, ᾧ τοῦτο ἐπλησίαζεν ἀνόμοιον ὂν ἢ ᾧ ὅμοιον· Seelen im Wandel

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»[…] Wenn das wirklich existiert, was wir wieder und wieder diskutieren, ein Schönes und Gutes und alles Sein dieser Art, und wir alles, was wir den Sinneswahrnehmungen entnehmen (ta ek tôn aisthêseôn panta anapheromen), dazu in Beziehung setzen und dabei wiederfinden, was uns früher gehörte (hyparchousan proteron aneuriskontes hêmeteran ousan), und wir die Dinge hier damit vergleichen (tauta ekeinêi apeikazomen), muß dann genau so, wie jene Gegenstände existieren, auch unsere Seele noch vor unserer Geburt existieren? […]« (Phd. 76d7–e4)

Wir gehen somit von den Sinneswahrnehmungen aus, welche dann eine mehr oder minder starke Wiedererinnerung an die Ideen in uns aktivieren. Wenn wir uns dann daranmachen, die Ideen selbst zu erkennen, ist der Körper selbstverständlich im Weg. Entscheidend ist aber, dass er für menschliche Wesen, die aus Körper und Seele bestehen, als Ausgangssituation sogar zu den Ideen hinleiten kann, um dann später überwunden zu werden. 295 Wird diese unterste Stufe aber nicht überwunden, verharren die Menschen in Unwissenheit. Bereits im Phaidon wird deutlich, dass dieser Prozess nicht rein intellektuell zu verstehen ist: Eine Seele erkennt nicht deshalb nicht, weil sie in irgendeiner Weise defekt ist und sich irrt, sondern wird durch den Störfaktor des Körpers, d. h. durch Begierden, Lüste, Zorn und andere Emotionen an der reinen Vernunfterkenntnis gehindert. Diese Vermögen werden ab der Politeia zwar in die Seele integriert (vgl. Rep. IV 435b1–444a3), bleiben aber immer mit dem Körperlichen assoziiert, da sie durch den Körper überhaupt erst entstehen (vgl. Tim. 42e6–44b1, 69c5–72d3). So führt folgerichtig in späteren Dialogen die Herrschaft der unteren Seelenteile zu einer Beeinträchtigung der Vernunft, die sich als Unwissenheit manifestiert (vgl. Tim. 86b1–c3, 88a7–b5, Leg. III 689a5–b2). Der Ausdruck der betrunkenen Seele, der im Phaidon noch als Metapher erscheinen mag (vgl. Phd. 79c8), kann in den Nomoi schließlich auch ganz wörtlich genommen werden: Durch den Konsum von Alkohol werden genau die seelischen Vermögen aktiv und stark, die im Phaidon noch mit dem Körper verbunden waren, und versetzen so die Seele in ihren schlechtesten Zustand (vgl. Leg. I 645d6–646a6), der mit der größten Unwissenheit gleichgesetzt werden kann, einem

Vgl. zu dieser Art des Erkenntnisfortschritts auch die Stelle aus Symp. 210a4– 212a7, wo man von der Schönheit eines einzelnen Körpers zu der aller Körper und schließlich zur Erkenntnis des Schönen selbst voranschreitet.

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Missklang der irrationalen Seelenvermögen mit der Vernunft, die so nicht zum Zuge kommen kann (vgl. Leg. III 689a5–b2). 296 Es lässt sich also festhalten, dass der Körper im Phaidon durchaus als Störfaktor aufgefasst wird, ohne dass dies zu einer totalen Askese führen würde, da die notwendigen Bedürfnisse des Körpers immer berücksichtigt werden müssen. Für das Ziel einer geordneten Seele stellt er aber stets eine Gefahr dar, da die Kunst gerade darin besteht, notwendigen Begehren zwar nachzukommen, aber sich nicht darüber hinaus um den Körper zu kümmern.

2.3.2 Timaios (86b1–90d7) Wird diese weitgehend negative Haltung zum Körperlichen auch im Spätwerk beibehalten? Im Timaios finden sich sowohl Textstellen, die die Geringschätzung des Körpers bestätigen (vgl. Tim. 42e6–44b1, 69c5–72d3, 86b1–90d7), als auch andere Passagen, die einzelne Aspekte des Körpers gar lobend erwähnen (vgl. Tim. 47a1–c6). In diesem Abschnitt möchte ich mich vor allem auf die Interpretation der Schlusspassage beschränken, da hiervon abhängt, inwieweit der Körper einen negativen Einfluss auf den Charakter ausübt und welche Rolle er bei der Charakterbildung spielt. 297 Auch hier wird ersichtlich werden, dass er nicht einfach ignoriert werden darf, sondern dass man sich um ihn in angemessener Weise kümmern muss, da bei völliger Vernachlässigung wie auch bei übermäßiger Sorge um ihn sowohl das psychophysische als auch das psychische Gleichgewicht ins Wanken geraten. In dieser Schlusspassage wird zudem der chaotische Seelenzustand, der unbedingt vermieden werden muss und in den die Seele immer abstürzen kann, näher ausbuchstabiert: die Unwissenheit. Da im Timaios allgemein physische und insbesondere medizinisch-säftebasierte Erklärungen eine große Rolle spielen, ist es auch nicht verwunderlich, dass Timaios gegen Ende seines Monologs seelische Krankheiten mit Rückbezug auf den Körper erklärt. Die größte Krankheit wird dabei als Unwissenheit (amathia, Tim. 88b5) bezeich-

296 Der Athener betont freilich in diesem Zusammenhang, dass der unter Aufsicht eines Symposiarchen gesteuerte Alkoholkonsum positiv für die Charakterformung eingesetzt werden kann (vgl. Kap. 2.1). 297 Für die Berücksichtigung der anderen Textpassagen, insbesondere derjenigen, die die positiven Aspekte unterstreichen, vgl. Kap. 2.3.4.

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net, die hier also noch direkter ihre Ursache im Körper zu haben scheint, indem der Körper nicht nur durch seine täglichen Bedürfnisse und durch den Zeitverlust, der durch den Aufwand für die Heilung körperlicher Krankheiten entsteht, die Seele von ihrem Erkenntnisstreben abhält, sondern durch seine spezifische physische Konstitution seelische Krankheiten hervorruft, die schließlich in der Unwissenheit gipfeln. Für eine korrekte Interpretation dieses Abschnitts ist es entscheidend, wie der erste Satz verstanden wird, da hiervon die Relevanz des körperlichen Einflusses auf die Seele abhängt, nämlich insbesondere die Frage, ob alle seelischen Krankheiten per se vom Körper abhängen: »Und die Krankheiten des Körpers entstehen auf diese Weise, die Krankheiten der Seele aber, die aufgrund einer Disposition des Körpers verursacht werden, auf folgende.« (Tim. 86b1–2; eig. Übers.) 298

In der direkt vorhergehenden Passage wurden die körperlichen Krankheiten thematisiert, nun geht es aber um die Krankheiten der Seele. Wie im Deutschen weist auch im Griechischen der Satz eine Ambiguität auf, sodass er auf zwei Arten gelesen werden kann 299: (1) Im Folgenden werden die Krankheiten der Seele thematisiert, die alle letztlich ihre Ursache in einer bestimmten körperlichen Disposition haben. 300 (2) Im Folgenden werden bestimmte Krankheiten der Seele thematisiert, nämlich diejenigen, die ihre Ursache in einer bestimmten körperlichen Disposition haben. 301 298 Καὶ τὰ μὲν περὶ τὸ σῶμα νοσήματα ταύτῃ συμβαίνει γιγνόμενα, τὰ δὲ περὶ ψυχὴν διὰ σώματος ἕξιν τῇδε. 299 Vgl. Gill 2000 und Ahonen 2014, die ebenfalls dieses Problem ausführlicher diskutieren. 300 Dafür plädieren Taylor 1928 (S. 610–614), Mackenzie 1981 (S. 176, Fn. 54), Pigeaud 1981 (S. 52 f.), Gill 2000 (S. 60), 2012 (S. 103 f.), Lautner 2011 (S. 23 f.), Ahonen 2014 (S. 44) und Prauscello 2014 (S. 219). Taylor ist allerdings der Ansicht, dass diese Passage in keiner Weise Platons Meinung widerspiegele (vgl. 1928, S. 610–614). Merker 2004 vertritt zwar diese Interpretation, meint aber, dass die anderen im Text genannten Ursachen für eine seelische Degeneration (wie z. B. schlechte politische Verfassungen) bereits selbst als hinreichende Gründe für Unverstand angesehen werden könnten, auch wenn Platon sie nicht so behandele (vgl. S. 16, 16 (Fn. 8)). 301 Vgl. dazu Cornford 1935 (S. 346), Hackforth 1946 (S. 119), Lloyd 1968 (S. 87), Saunders 1994 (S. 170, Fn. 82), Karasmanis 2006 (S. 5), Jedan 2010 (S. 318 f.), Jouanna 2013 (S. 106 f.; S. 106, Fn. 24) und Föllinger 2016 (S. 64, Fn. 20).

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Die erste Lesart geht davon aus, dass eine vollumfassende Erklärung aller existierenden seelischen Krankheiten geliefert wird, die alle durch den Körper erklärt werden können, wohingegen die zweite Lesart impliziert, dass zunächst eine Teilmenge aller seelischen Krankheiten behandelt wird und dass es noch weitere seelische Krankheiten gibt, die auf andere Ursachen als eine schlechte körperliche Disposition zurückgeführt werden können. 302 Obwohl diese Textstelle entscheidend für die Relation zwischen Körper und Seele bei Platon ist, lassen sich nicht allzu viele Interpretationen dazu finden. So stellt auch Francisco L. Lisi 2006 noch fest, dass Studien darüber »prácticamente inexistentes« 303 seien – mit Ausnahme eines Artikels von Christopher Gill und eines Buches von Jackie Pigeaud zu seelischen Krankheiten. 304 Erst in jüngster Zeit scheint die Passage etwas mehr Aufmerksamkeit hervorzurufen, sodass sich jetzt entsprechend vielfältigere Interpretationen finden lassen. 305 Da Timaios im vorhergehenden Abschnitt (vgl. Tim. 81e6–86a8) allgemein körperliche Krankheiten thematisiert und diese offenbar auch umfassend behandelt hat 306, scheint es nur folgerichtig, dass er sich nun allgemein allen seelischen Krankheiten zuwendet 307, zumal er auch nicht erwähnt, dass es irgendwelche anders gearteten seelischen Krankheiten geben könne. Daher erscheint mir zunächst aus diesem Grund eine starke Lesart angemessener zu sein, allerdings ohne dabei eine deterministische Lesart vertreten zu wollen: Es geht hier m. E. um seelische Krankheiten, die durch schlechte körperliche Dispositionen erklärt werden können. Der Grund dafür, dass diese Defekte des Körpers nicht behoben werden, liegt aber wieder in der Seele, die sich nicht darum gekümmert hat, die durch die Einkörpe302 Wie Gill werde ich im Folgenden von einer starken und einer schwachen Lesart sprechen (vgl. Gill 2000, S. 60). 303 Lisi 2006, S. 168. 304 Vgl. ebd., S. 168; Gill 2000 und Pigeaud 1981. 305 Vgl. Lautner 2011, Gill 2012, Jouanna 2013, Ahonen 2014 und Föllinger 2016. Gill konzentriert sich in seinem Artikel von 2012 allerdings mehr auf Galen und Jouanna untersucht die Passage im Rahmen eines Vergleichs zwischen Texten des hippokratischen Korpus, Platons Timaios und Galen. Für die verschiedenen Lesarten der Autorinnen und Autoren s. u. 306 Er spricht von drei Arten von körperlichen Krankheiten und davon, wie diese entstehen (vgl. Tim. 82a1–b7, 82b8–84c7, 84c8–86a8). Für eine genaue Analyse dieser Abschnitte vgl. z. B. Miller 1962. 307 Vgl. Gill 2000, der ebenfalls dieser Meinung ist (vgl. S. 60).

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rung in Unordnung gebrachten Umschwünge des vernünftigen Seelenteils wieder zu berichtigen, und so in seelischem Chaos und Unwissenheit verharrt (vgl. Tim. 90d1–7). Abhilfe ist aber prinzipiell möglich, und zwar durch eine gute Erziehung, die in diesem Fall versäumt wurde (vgl. Tim. 86d7–e3, 87a7–b8). Dies liefert ein weiteres Argument für die starke Lesart: Da Timaios diese weitere, ziemlich umfassende Erklärung liefert und damit sowohl die körperlichen Gegebenheiten als auch eine nicht erfolgte oder schlechte Erziehung als Ursachen für seelische Krankheiten anführt (vgl. Tim. 86d7–e3, 87b4–8), wird das Argument der schwachen Lesart entkräftet, dass es neben dem Körper noch andere Ursachen für psychische Defekte geben könnte – denn genau diese anderen Ursachen werden als Vorstufe für die körperbasierten Ursachen genannt, d. h. der Grund, warum der Körper ungehindert negativ auf die Seele einwirken kann, liegt hauptsächlich in einer schlechten Erziehung, aber auch in anderen Faktoren (s. u.). In anderen platonischen Dialogen lassen sich für einen schlechten oder kranken Charakter ebenfalls keine weiteren als die genannten Ursachen finden: Neben (1) den natürlichen Anlagen (körperliche und seelische), (2) der Erziehung, (3) korrumpierenden äußeren Einflüssen – die ebenfalls im Timaios genannt werden (vgl. Tim. 87a7– b4) – und (4) den Umweltgegebenheiten, die als Vorstufe für eine bestimmte (1a) körperliche oder auch (1b) seelische Disposition betrachtet werden können (vgl. z. B. Rep. IV 435e3–436a3 und Leg. IV 704d3–705b6) scheint es sonst keine weiteren Erklärungen für schlechte Charaktere, die im Timaios als krank angesehen werden, zu geben. Auch die natürlichen Anlagen auf der psychischen Ebene (= 1a) sind laut Timaios mit dem Körper erklärbar: Er nennt das Beispiel eines zu starken epithymêtikon, das er mit einem Übermaß an Samen im Mark erklärt (vgl. Tim. 86c3–d2). 308 Ein weiteres Problem stellt die Klassifikation und Erklärung der seelischen Krankheiten dar, die allgemein unter den Überbegriff der anoia subsumiert werden. Diese teilt sich wiederum in mania und amathia (vgl. Tim. 86b2–4). Wie aber ist diese Einteilung zu verstehen? Dazu finden sich einige konkurrierende Interpretationen:

308 Dem Mark, das aus den Samen fürs Menschengeschlecht besteht, werden die Seelenteile eingepflanzt: Das Rückenmark hat dabei den sterblichen Teil der Seele aufgenommen (vgl. Tim. 73b1–e1).

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Distinktion Reginald Hackforth und Marke Ahonen vertreten ähnliche Lesarten und gehen von zwei distinkten Krankheiten aus: Sie lesen den folgenden Abschnitt im Timaios – 86b7–c3 – als ausschließlich auf die mania bezogen, die allerdings ebenfalls eine Art von Unwissen nach sich zieht, die aber in keiner Weise mit der amathia assoziiert wird. So scheinen die beiden Krankheiten in keinerlei Relation zu stehen, abgesehen davon, dass sie einen allgemeineren Oberbegriff teilen. 309 Mania bezeichnet Ahonen zufolge somit einen innerseelischen Konflikt zwischen vernünftigem und unvernünftigem Seelenteil, wohingegen amathia keinen Konflikt beinhalte, sondern ein Unwissen darstelle, das durch ein »disordered bodily environment« 310 entstehe. 311 Diese Interpretation gerät allerdings in ein Problem, wenn die These vertreten wird, dass Tim. 86b7–c3 ausschließlich die mania behandelt, die offenbar auch kognitive Defekte nach sich zieht 312, da so nicht mehr klar wird, wie sich der Unterschied zwischen dem Unwissen, 309 Vgl. Hackforth 1946, S. 119; Ahonen 2014, S. 46. Ahonen sieht beide Arten als Krankheiten des vernünftigen Seelenteils an und vertritt somit eine schwächere Lesart als Hackforth, der zwar anerkennt, dass mit der mania eine Einschränkung des logistikon einhergeht, daraus aber keine Konsequenzen für seine starke Unterscheidung zu ziehen scheint (vgl. Hackforth 1946, S. 119; Ahonen 2014, S. 46). 310 Ahonen 2014, S. 46. 311 Vgl. ebd., S. 46. Unabhängig von der Timaios-Textstelle vertritt Hackforth ebenfalls eine Distinktion zwischen innerseelischer stasis und reiner Unwissenheit (amathia) und stellt bei der Behandlung des Timaios zumindest keine Revision fest, bemerkt aber, dass die mania im Timaios ebenfalls das logistikon einschränkt (was in Soph. 227d ff. und Leg. IX 863b ff. nicht erwähnt werde, vgl. Hackforth 1946, S. 118 f.). Die Sichtweise, dass amathia aber keinen seelischen Konflikt beinhalte – ob in den Spätdialogen allgemein oder nur hier im Timaios – ist nicht haltbar, da die Unwissenheit in engem Zusammenhang mit einem solchen Konflikt steht, wie im Folgenden noch erläutert wird. Ahonen zufolge verwendet Platon mania insgesamt auf drei verschiedene Weisen: 1.) als medizinisch-körperliche Krankheit 2.) als seelischen Defekt und 3.) als göttliche Inspiration. Auch wenn die hier diskutierte Passage für 2.) spricht, ist sich Ahonen im Timaios nicht sicher, ob mania eher zum Körper oder zur Seele gerechnet werden muss, u. a. auch durch die vorherige Erklärung der Epilepsie, die zu den Krankheiten des Körpers zählt (vgl. Ahonen 2014, S. 35 f., 47; Tim. 85a5–b2). M. E. ist mania aber klar zu den seelischen Krankheiten zu rechnen, da sie zwar den Körper betreffen mag, sich diese körperlichen Defekte aber ab der Seelenteilung in Rep. IV auf die irrationalen Seelenteile beziehen. Genauere Erklärungen, wie z. B. der Überfluss an Samen im Mark, stellen kein Gegenargument dar, da sich seelische Krankheiten laut Tim. 86b1–2 nun einmal körperlich erklären lassen. 312 Vgl. Hackforth 1946, S. 119.

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das durch einen seelischen Konflikt entsteht, und der amathia im vernünftigen Seelenteil manifestiert oder ob überhaupt ein solcher Unterschied im Ergebnis feststellbar ist – dafür liefert aber Peter Lautner durch die graduelle Abstufung eine Erklärung. Graduelle Abstufung Peter Lautner vertritt die Auffassung, dass es sich um verschiedene Grade ein und derselben Krankheit handle, nämlich eines mehr oder minder starken kognitiven Defizites der Seele. Somit seien alle psychischen Krankheiten »primarily cognitive states, not just distorted feelings or emotional dispositions.« 313 Amathia stelle damit die kognitive Grundlage der Krankheit dar, während mania zusätzlich die phänomenale Seite repräsentiere. Ihnen zugrunde läge ein Übermaß an Lust und Schmerz; Lautner zufolge sei es seltsam, dass Platon nicht spezifiziere, welche Lust und welcher Schmerz jeweils mania und amathia zuzuordnen seien. Letzlich gingen aber alle seelischen Krankheiten auf die Unordnung der Umschwünge des vernünftigen Seelenteils durch körperlichen Einfluss zurück. 314 Spezifikation Diese Lesart wird von Jacques Jouanna vertreten, der eine »binary madness« 315 annimmt, die er bereits im hippokratischen Korpus ausmacht und entsprechende Parallelen zieht. Somit handele es sich bei mania und amathia um die zwei spezifischen Arten des Wahnsinns, nämlich depressiver Wahnsinn (amathia) und hyperaktiver Wahnsinn (mania). 316 Da er die schwache Interpretation des Eingangssatzes Lautner 2011, S. 25. Vgl. ebd., S. 22, 24 f., 30, 37. Diese Zuordnung ist allerdings auch nicht nötig, da m. E. ein Übermaß an Lust und Schmerz die Grundlage für mania bildet, die wiederum zu amathia führt (s. im Folgenden die Ausführungen zur konditionalen Lesart). Vgl. auch Ahonen 2014, der in Bezug auf Alk. II 138c davon ausgeht, dass »the difference between the madness of mental illness and the ›madness‹ of foolishness may be merely quantitative.« (S. 67) Hier stellt allerdings die mania die extremere Form dar (vgl. ebd., S. 67). Da dieser Dialog aber unecht ist und Ahonens anderes Beispiel aus Xenophons Memorabilia (vgl. Ahonen 2014, S. 45, Fn. 36, wo er auf Mem. 3, 9, 6–7 verweist) stammt, liefert dies keinen Grund zu der Annahme, dies auch als Platons Meinung zu betrachten. 315 Jouanna 2013, S. 107. 316 Diese zwei Arten von Wahnsinn macht er in der Schrift peri diaitês oxeôn (I, 35, 76–83, 125–130 Jones) aus: Die beiden Arten entstünden durch das Vorherrschen von Feuer oder Wasser im Körper. Die erste Art, die er als »depressive madness« bezeich313 314

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vertritt, geht er davon aus, dass zunächst nur die Krankheiten der Seele thematisiert werden, die ihren Ursprung im Körper haben: mania und amathia. Während amathia immer diesen körperlichen Ursprung habe, gelte dies jedoch nicht für die mania: Diese lasse sich wiederum unterteilen in (1) die mania, die ihre Ursache in einer körperlichen Disposition hat, was sich in übermäßiger Lust und einer defekten Vernunft zeige, und (2) in eine andere Art der mania, die sich in einer Unterdrückung des Körpers durch die Seele durch zu starke seelische Aktivitäten auszeichne. Jouanna sieht damit zwei verschiedene Perspektiven der mania gegeben. 317 Aporetische Lesart Sabine Föllinger vertritt die Position, dass die anfangs angekündigte Einteilung der seelischen Krankheiten im Folgetext nicht beibehalten wird, mania und amathia werden also nicht klar auseinandergehalten oder definiert. 318 Konditionale Lesart Mir erscheint es plausibler, zwar verschiedene Arten von Krankheiten anzunehmen, die aber in enger Relation zueinander stehen 319: So stellt die mania offenbar die Bedingung für die amathia dar: Denn wenn ein Mensch sich im Übermaß freut oder auch das Gegenteil durch Schmerz erleidet, ist er bestrebt, das eine ohne jedes Maß festzuhalten, dem anderen aber zu entfliehen, und kann so in keiner Weise irgendetwas Richtiges sehen oder hören, sondern rast und ist dann keiner vernünftigen Überlegung mehr fähig. (Tim. 86b7–c3 320) 321

net, sei eine »calm insanity«, die durch die Dominanz des Wassers entstehe; »agitated madness« hingegen zeichne sich durch das gegenteilige Ungleichgewicht aus: Feuer dominiert Wasser (Jouanna 2013, S. 101; vgl. ebd., S. 101, 107). 317 Vgl. ebd., S. 106 f. 318 Vgl. Föllinger 2016, S. 66. 319 Auch Gill betont die Verbindung der beiden Krankheiten, geht aber nicht näher darauf ein (vgl. 2000, S. 60). Wie Gill und gegen Hackforth und Lisi bin ich der Ansicht, dass nach der allgemeinen Einteilung der Krankheiten sowohl mania als auch amathia dargelegt werden (vgl. Gill 2000, S. 60; Hackforth 1946, S. 119; Lisi 2006, S. 170). 320 Die Übersetzung des Timaios folgt, wenn nicht anders angegeben, Paulsen/Rehn 2009. 321 περιχαρὴς γὰρ ἄνθρωπος ὢν ἢ καὶ τἀναντία ὑπὸ λύπης πάσχων, σπεύδων τὸ μὲν ἑλεῖν ἀκαίρως, τὸ δὲ φυγεῖν, οὔθ’ ὁρᾶν οὔτε ἀκούειν ὀρθὸν οὐδὲν δύναται, λυττᾷ δὲ καὶ λογισμοῦ μετασχεῖν ἥκιστα τότε δὴ δυνατός. Ich stimme Anne MerSeelen im Wandel

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Man erkennt hier, dass die Unwissenheit in übermäßigen Lust- oder Unlustgefühlen ihren Ursprung hat, die mit einem Wahn gleichzusetzen sind, sodass der betroffene Mensch durch seine rasenden irrationalen Seelenteile 322 eine starke Einschränkung des logistikon erleidet: Unwissenheit entsteht, und zwar im Sinne von amathia. Durch die enge Verbindung der beiden Krankheiten ergibt sich, dass keine ohne die andere bestehen kann, da mania automatisch amathia nach sich zieht, und wenn eine Person an amathia leidet, muss auch die Ursache, d. h. die mania, in ihr anwesend sein. Dies stützt auch ein späterer Abschnitt, in dem es um das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele geht: Wenn andererseits ein großer und der Seele zu sehr überlegener Körper mit einem wenig entwickelten und schwachen Denkvermögen verwachsen ist, dann machen, da es von Natur aus zwei Triebe bei den Menschen gibt – durch den Körper nach Nahrung, durch das Göttliche in uns nach Einsicht –, die Bewegungen des Stärkeren, die die Oberhand haben und das Ihrige vermehren, die Seele stumpf (kôphon), ungelehrig (dysmathes 323) und vergesslich (amnêmon) und bewirken so die größte Krankheit, die Unwissenheit (tên megistên noson amathian enapergazontai). (Tim. 88a7–b5)

Es wird hier deutlich, dass die amathia dadurch entsteht, dass der vernünftige Seelenteil von den Begierden des Körpers überwältigt wird, die im Normalfall mit dem epithymêtikon assoziiert werden (vgl. Tim. 70d7–e3) 324, d. h. es ähnelt stark dem Szenario, das in der vorherigen Textstelle (vgl. Tim. 86b7–c3) dargestellt wurde. Timaios scheint im hier vorliegenden Abschnitt, obwohl es um das Gleichgewicht zwischen Körper und Seele geht, weniger auf eine Gegenüberker zu, die anhand dieses Satzes feststellt, dass wir während unseres Lebens niemals vor einem erneuten Umsturz in der Seele gefeit sind (vgl. 2004, S. 15). Sie interpretiert die ganze Passage allerdings so, dass das durch den Körper verursachte Leid, je nachdem welchen Ort des Körpers es betrifft, auch direkt amathia auslösen könne (oder die den unteren Seelenteilen entsprechenden Krankheiten, wenn deren jeweiliger Sitz im Körper betroffen ist) (vgl. 2004, S. 16). 322 Es wird nicht klar, ob Platon hier nur auf das epithymêtikon verweist oder auch das thymoeides miteinschließt. Mir scheint es wahrscheinlicher, insgesamt von den unvernünftigen Seelenteilen auszugehen, da dies auch besser mit der später erwähnten genauen Spezifizierung der seelischen Krankheiten übereinzustimmen scheint (s. unten und vgl. Tim. 87a5–7). 323 Die Wortwahl stellt eine enge Verbindung zu Tim. 87a7 dar, sodass es folgerichtig scheint, die dortige Darlegung der verschiedenen seelenteilspezifischen Krankheiten unter die Oberbegriffe von mania und amathia zu subsumieren. 324 Vgl. Lisi 2006, S. 172.

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stellung von Körper und Seele aus zu sein als auf die Betonung des Kontrastes zwischen körperlichen Bedürfnissen (d. h. unvernünftigen Seelenteilen) und Denkfähigkeit (d. h. dem vernünftigen Seelenteil). 325 Und auch zuvor scheint die Denkfähigkeit stark eingeschränkt, wenn Lust und Unlust/Schmerz dominieren (vgl. Tim. 86b7–c3 326). Die beiden Krankheitsarten lassen sich zwar nicht trennen in dem Sinne, dass sie unabhängig voneinander bestehen könnten; allerdings benennen sie dabei dennoch unterschiedliche seelische Defekte. Während die mania sich auf die beiden unteren Seelenteile bezieht, die im manischen Zustand das logistikon außer Gefecht setzen, ist genau dieses Resultat eines handlungsunfähigen vernünftigen Seelenteils die amathia. Somit können auch die später erwähnten genaueren Bezeichnungen für die seelischen Krankheiten der einzelnen Seelenteile (vgl. Tim. 86e5–87a7) unter mania (dyskolia, dysthymia, thrasytês, deilia) und amathia (lêthê, dysmathia) gefasst werden. 327 Zunächst werden zwar beide allgemein als die größten Krankheiten bezeichnet (die ihren Ausgangspunkt in einem Übermaß an Lust und Schmerz haben, was wiederum körperlich erklärt werden kann, vgl. Tim. 86b4–7, 86c3–d7, 86e3–87a7), aber später wird dies genauer spezifiziert, wenn klargestellt wird, dass es die amathia ist, die als größte Krankheit der Seele gilt (vgl. Tim. 88b5). Gegen Jouanna scheint es mir allerdings unnötig, die mania selbst noch einmal aufzuteilen, auch weil eine solche Spezifikation in dieser Textpassage nirgends erfolgt und im umstrittenenen Eingangssatz mania gleichwertig neben amathia als seelische Krankheit genannt wird, obwohl 325 Vgl. ebd. (S. 171 f.) und Ahonen 2014 (S. 48), die ebenfalls auf diesen Aspekt hinweisen. 326 Ich stimme hier mit Gills Lesart überein, dass beide Krankheitsarten ausgeführt werden (vgl. 2000, S. 60). 327 Vgl. Lautner 2011 (S. 28), der ebenfalls diese Zuordnung vornimmt. Gegen Ahonen, der meint, Platon schwanke bei seiner Bezeichung der seelischen Krankheit, die entweder die Krankheit des vernünftigen Seelenteils bezeichne (anoia) oder die Krankheiten aller Seelenteile, wie in der hier vorliegenden Textstelle (vgl. 2014, S. 46, 50). Da Platons Timaios aber (1) zunächst von seelischen Krankheiten spricht, die eine körperliche Ursache haben (ob die starke oder schwache Lesart vertreten wird, spielt für das Argument keine Rolle), (2) diese als anoia bezeichnet und dann in einem späteren Abschnitt (3) von seelischen Krankheiten aller Seelenteile spricht und diese körperlich erklärt, (4) müssen die Krankheiten der einzelnen Seelenteile unter die anoia fallen (und zwar nicht als deren erweiterte Bedeutung – worüber Ahonen spekuliert (vgl. S. 46) –, sondern insofern sie ebenfalls einen Defekt der Vernunft miteinschließen) – was aber auch kein Problem darstellt, wenn man bedenkt, dass die maniai der unteren Seelenteile amathia hervorrufen.

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Jouanna zufolge dabei nur die eine Art der mania gemeint ist. Dass die mania nicht explizit noch einmal geteilt wird, erkennt zwar auch Jouanna an, stellt aber die rhetorische Frage, ob dies ein hinreichender Grund sei, diese weitere Aufteilung zu ignorieren. 328 Dass alle seelischen Krankheiten ihren Ursprung zunächst im Körper haben, passt aber auch besser in den Gesamtkontext des Timaios, da der Körper bereits bei der Geburt als Störfaktor gesehen wird (s. u.). Exkurs: Zur Bedeutung von amathia Beschäftigt man sich nun näher mit diesem schlechtesten aller Seelenzustände, der immerhin bei den meisten Menschen durch eine gute Erziehung verhindert oder beseitigt werden kann (vgl. Kap. 2.1 und 2.2), so fällt auf, dass die Darstellung der amathia im Timaios auch mit einer Passage aus den Nomoi kompatibel zu sein scheint, wenn dort die Unwissenheit mit einem Konflikt zwischen unvernünftigem und vernünftigem Seelenteil dargestellt wird. Die größte Unwissenheit wird so erklärt: Wenn jemand, obwohl er die Meinung hat, dass etwas schön oder gut sei, er dieses nicht liebt, sondern hasst, das, was er aber für schlecht und ungerecht hält, liebt und freundlich willkommen heißt. Diese Unstimmigkeit zwischen Unlust und Lust (diaphônian lypês te kai hêdonês) hinsichtlich der vernunftgemäßen Meinung (pros tên kata logon doxan) nenne ich die äußerste Unwissenheit (amathian…tên eschatên), die größte aber (megistên), da sie die Masse der Seele ausmacht. (Leg. III 689a5–9; eig. Übers.)

Jedoch wird nicht deutlich, wie man sich geringere Grade von amathia vorzustellen hat. Offensichtlich scheint amathia nicht prinzipiell eine Unstimmigkeit zwischen Unvernunft und Vernunft darzustellen, sondern nur die größte amathia bezeichnet dieses Missverhältnis – wie auch im Timaios die größte Krankheit erreicht ist, wenn die Vernunft von körperlichen Begierden überwältigt wird; allerdings wird diese dann dort aber direkt als amathia bezeichnet, ohne Abstufungen vorzunehmen. Möglicherweise bezeichnet eine geringere amathia einfach einen weniger starken Konflikt oder einen bestehenden Konflikt der Seelenteile mit noch unklarem Ausgang. Insgesamt scheint auch nicht immer klar zu sein, ob die amathia mit dem Konflikt selbst identifiziert werden kann (wie dies die Nomoi-Textstelle zu suggerieren scheint) oder das Ergebnis eines

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Vgl. Jouanna 2013, S. 107.

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solchen Konfliktes ist – mit glücklichem Ausgang für den unvernünftigen Teil (dies scheint im Timaios der Fall zu sein, vgl. 88b5). Mit Sicherheit widersprochen werden muss allerdings Hackforths Interpretation, nach der eine Überwältigung der Vernunft durch die unvernünftigen Teile nur in der Politeia als Erklärung für amathia angesehen wird und später terminologisch eine Änderung in Platons Ansichten ausgemacht wird: In den Spätdialogen würden amathia und agnoia ausschließlich für ein Scheitern der Vernunft verwendet werden, das nicht auf eine solche Überwältigung zurückzuführen sei, »reason errs per se« 329. Somit würde nun keinerlei moralische Unwissenheit mehr auf ein Übermaß an Begierden zurückzuführen sein. 330 Auch wenn dies für Hackforths Textstellen (Soph. 227d ff., Leg. IX 863b ff.) eine mögliche Interpretation ist, scheint sie mindestens im Lichte anderer Passagen der Spätdialoge nicht haltbar zu sein. So ist die These der Definition und Bedeutungsänderung der amathia klarerweise falsch, da die hier diskutierte Schlusspassage des Timaios und die Textstelle aus Leg. III das Gegenteil bezeugen; im Timaios wird gar psychische Krankheit als in einem Übermaß an solchen körperlichen Begierden wurzelnd dargestellt. Dieses Übermaß wird im Timaios am Beispiel von zu viel frei fließendem Mark erklärt (vgl. Tim. 86c3–d2). Da dem Rückenmark die sterbliche Seele und dem Kopfmark die Vernunftseele zugeteilt wurde und Körper und Seele gegenseitig aufeinander einwirken (vgl. Tim. 73b1–e1), ist es nur folgerichtig, dass Menschen mit Defekten im Mark auch Probleme mit ihren Seelenteilen haben. 331 Hackforth 1946, S. 119. Vgl. ebd., S. 118 f. Hackforth spricht sich aber zugleich dagegen aus, dass Platon seine ethischen Ansichten grundlegend geändert habe: Dieser habe lediglich eingesehen, dass auch das logistikon von sich aus irren könne. Dennoch würde Unrechttun immer Unwissenheit miteinschließen, auch wenn in den Dialogen anderes gesagt werde: »But now that he [d. i. Plato] realizes this defect, he over-compensates for it: instead of saying that all moral ignorance springs from excess of passion or desire, he now in effect says that none does. In other words, his anxiety to recognize the fact that reason errs per se leads him to obscure his real belief, namely that wrong-doing always involves ignorance, whatever that ignorance be due to.« (ebd., S. 119; Kurs. im Orig.) Im Klartext sage Platon also etwas anderes, als er wirklich meine. Somit könnte man Hackforths Lesart vielleicht am treffendsten als terminologisch (aber nicht inhaltlich) revisionär bezeichnen. 331 Vgl. dazu auch Thet. 194e1–195b1, wo diejenigen Menschen als amatheis klassifiziert werden, die Probleme mit dem Herzen haben – der Bereich, in dem der muthafte Seelenteil anzusiedeln ist (vgl. Tim. 70a2–d6). 329 330

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Es kann also festgehalten werden, dass offenbar in allen Werkphasen zumindest terminologisch 332 die amathia eine Art Konflikt oder Ergebnis eines solchen Konfliktes zwischen unvernünftigen und vernünftigem Seelenteil darstellt bzw. vor der Seelenteilung ein Missverhältnis zwischen Seele und Körper (vgl. Prot. 358c1–3, 359d6; Rep. IV 444b1–8; Tim. 86b7–c3, 88a7–b5; Leg. III 689a5–9, 691a3–9). 333 Die Unwissenheit selbst ist dabei bereits als größte Krankheit zu betrachten (vgl. Tim. 88b5), aber auch diese ist steigerungsfähig, sodass die größte oder die am meisten zu tadelnde Unwissenheit offenbar darin besteht, unwissend zu sein und sich dennoch für klug zu halten (vgl. Apol. 29b1–2; Alk. I 118a15–b8; Soph. 229c5– 10) oder die Lust siegen zu lassen (vgl. Prot. 357e2). Auch Hackforths Zurückweisung von Grubes Meinung, dass Unwissenheit ein grundlegenderes Übel sei 334, findet keine Basis im Gesamtkontext der Dialoge 335, da Platon sowohl Timaios als auch den 332 Inhaltlich kann mit derselben Definition aber anderes gemeint sein: So stellt Müller bereits fest, dass das Sich-selbst-unterlegen-sein im Protagoras auf Unwissenheit zurückgeführt wird, sodass die Überwältigung durch die Lust im Grunde gar keine ist; es gehe vielmehr um eine »temporär fehlerhafte Evaluation« (2013, S. 50). Er spricht hier von einem »diachrone[n] Phänomen« (ebd., S. 50), während in den Nomoi synchrone Willensschwäche möglich sei (vgl. ebd., S. 49–51). Außerdem sieht er in den Nomoi »stellenweise eine Neuinterpretation von Unwissenheit (amathia)« (ebd., S. 51). Terminologisch scheint mir die Unwissenheit aber immer mit einem Konflikt verbunden zu sein, der zumindest ab der Politeia auch inhaltlich als solcher aufzufassen ist. Ob die Vernunft dabei in der Weise überwältigt wird, (1) dass sie falsche Urteile bildet, oder aber so, (2) dass ihr Urteilsvermögen intakt bleibt, sie aber nicht danach handelt, spielt für die Definition der Unwissenheit zunächst keine Rolle, da wir meiner Lesart nach im Timaios (1) und in den Nomoi (2) vorliegen haben. Beide Male geht es in diesem Konflikt aber um amathia, sodass der Widerstreit zwischen den unteren Seelenkräften und der Vernunft zumindest als kleinster gemeinsamer Nenner gelten müsste. Wenn der Konflikt selbst aber als Unwissenheit bezeichnet wird, so kann auch bis in die Nomoi eine Art Intellektualismus aufrechterhalten werden (vgl. Kap. 2.4.1.1). 333 Somit wird deutlich, dass amathia im Protagoras als Synonym für akrasia verwendet wird. Dies wird besonders deutlich in Prot. 358c1–3: Laut dieser Passage sei der Zustand, wenn man sich selbst unterlegen sei, nichts anderes als amathia (vgl. auch Prot. 359d6). Vgl. dazu aber auch die vorherige Fußnote. Vgl. Stalley 1996 (S. 367), der im Timaios die Abwesenheit von akrasia konstatiert, da dort bereits das Urteilsvermögen selbst beeinträchtigt sei, sodass man somit nicht wider besseres Wissen handeln könne. 334 Vgl. Hackforth 1946, S. 119. 335 Es ist richtig, dass, wie auch Gooch betont (vgl. 1971, S. 131, Fn. 13), in der Passage des Sophistês (vgl. 227d ff.), die Hackforth untersucht, keine unterschiedliche Gewichtung vorgenommen wird. Bezieht man aber andere Textstellen mit ein, die von

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athenischen Fremden die amathia als besonders schwere Krankheit auszeichnen lässt – im Timaios wird sie gar als die größte Krankheit bezeichnet, in den Nomoi scheitern ganze Staaten aufgrund der äußersten und größten Form der Unwissenheit (vgl. Tim. 88b5; Leg. III 689a5–9, 690d1–691a9). 336 Hackforths Lesart hat allerdings Recht damit, wenn im Sophistês eine Trennung der beiden Konzepte (Unrechttun durch innerseelische stasis vs. Unrechttun durch Unwissenheit) konstatiert wird. Während ein seelischer Konflikt als Krankheit zählt, wird Unwissenheit als Hässlichkeit aufgefasst, die man nicht wie im Falle der Krankheit durch Strafe (kolastikê), sondern durch Belehrung (didaskalikê) 337, nämlich durch den elenchos, heilt. Der Fremde aus Elea sondert dabei die amathia als besonders schwerwiegende Form der agnoia ab, die sich dadurch auszeichnet, dass man unwissend dennoch zu wissen glaubt (vgl. Soph. 227d4–230e5). 338 Da die anderen Passagen aber eine relativ einheitliche Auffassung der amathia vermitteln, lohnt es sich, die Stelle näher zu betrachten und zu prüfen, ob nicht doch eine andere Lesart möglich ist – insbesondere da Platon im Timaios und den Nomoi offenbar wieder mit der Konzeption der Politeia übereinstimmt (vgl. Rep. IV 444b1–8; Tim. 86b7–c3, 88a7–b5; Leg. III 689a5– 9, 691a3–9). Paul William Gooch liefert mit seiner Interpretation der Passage jedoch m. E. eine gute Lösung dieses Problems, indem er darauf hinweist, dass Platon die anfangs eingeführte Analogie zwischen Krankamathia handeln, kann durchaus festgestellt werden, dass diese Krankheit als schwerer erachtet wird (s. u.). 336 Für die politischen Auswirkungen kranker Charaktere vgl. Kap. 3, das sich u. a. mit der Degeneration des Charakters und der Polis in Rep. VIII–IX beschäftigt. 337 Vgl. dazu auch Schöpsdau 2011 (S. 286), der diesen Passus als Beleg für die Trennung von Unwissenheit und Ungerechtigkeit anführt, die er auch in Leg. IX 857b4– 864c9 gegeben sieht. 338 Vgl. Hackforth 1946, S. 118. Er bezieht sich außerdem auf Leg. IX 863b ff. für die Unterscheidung zwischen stasis und reiner Unwissenheit (auch wenn er eine solche Trennung nicht als Platons eigentliche Meinung begreift, vgl. ebd., S. 118 f.). Meiner Meinung nach kann die Textstelle aber so gelesen werden, dass es drei verschiedene Arten von Verbrechen gibt, die folgende direkte Ursachen haben: 1. Begierden, 2. Zorn, 3. Unwissenheit. Es ist ein Unterschied, ob ich aus Zorn jemanden verletze oder aus Unwissenheit. Dennoch schließt diese Textpassage nicht aus, dass Unwissenheit letzlich in einem Übermaß an Begierden wurzelt. Es geht dem athenischen Fremden hier um die direkte Ursache, die die verbrecherische Handlung bewirkt und nicht um die erste Ursache der Reihe, die schließlich im Verbrechen mündet. Für eine genauere Interpretation von Leg. IX und der Rolle der Strafe allgemein vgl. Kap. 2.4. Seelen im Wandel

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heit/Unförmigkeit im Körper und Schlechtigkeit/Unwissenheit in der Seele am Ende der Passage (vgl. Soph. 230c4 ff.) einfach umdreht. Unwissenheit muss jetzt auch »geheilt« werden, obwohl Heilung der Analogie folgend nur der Schlechtigkeit, d. h. der stasis in der Seele, vorbehalten war. Da der elenchos, der die Unwissenheit beseitigt, aber als heilend dargestellt wird, schließt Gooch, dass die amathia nicht nur mit einer Unförmigkeit, sondern auch mit einer Krankheit gleichgesetzt werden muss. Damit sind die beiden Übel der Seele – stasis und amathia – nicht so strikt getrennt wie zuvor angenommen. Die Heilmittel (Strafe und elenchos) könnten sich Gooch zufolge so unterscheiden, dass das erste direkt auf die irrationalen Seelenteile einwirkt, während der elenchos bei der Vernunft ansetzt, die dann die irrationalen Teile auf die richtige Weise ordnet. Somit existiere amathia nie isoliert von der stasis. 339 Obwohl Gooch nur eine kompatible Lesart zwischen Rep. IV und dem Sophistês vorschlagen wollte 340, ergibt sich daraus auch eine kohärente Interpretation mit anderen Dialogstellen, in denen die amathia erläutert wird (vgl. Prot. 358c1–3, 359d6; Rep. IV 444b1–8; Tim. 86b7–c3, 88a7–b5; Leg. III 689a5–9, 691a3–9). Um diese Lesart zu untermauern, könnte man außerdem anführen, dass eine kranke, d. h. ungerechte Seele nie schön sein kann. Denn es ist die Gerechtigkeit, die für Platon stets mit Schönheit verbunden ist (vgl. Leg. IX 859c6–860c3). Somit wäre Ungerechtigkeit, die in dieser Textpassage nur auf der Seite der Krankheit erwähnt wird (vgl. Soph. 228e1–5), nicht von der Hässlichkeit geschieden. Zudem würde eine solche Interpretation auch die Analogie mit dem Körper stärken: Wie Krankheiten auf der körperlichen Ebene letztlich zu Hässlichkeit führen, folgt einem (dauerhaften) inneren Aufruhr der Seele die ametria. Denn wenn die Seelenhierarchie in ein Chaos gerät, kann die Folge nur ein inneres Ungleichgewicht sein, das mit Hässlichkeit gleichgesetzt wird. 341

Vgl. Gooch 1971, S. 129–131. Vgl. ebd., S. 131. 341 Auch die noch nicht vollständig ausgebildeten Wächter der Politeia verfehlen bisweilen das Ziel, wenn sie die Idee des Guten schauen sollen, sodass sie dazu gezwungen werden müssen (vgl. Rep. VII 539d8–540b7). Dies kann m. E. ebenso damit erklärt werden, dass ihr logistikon, weil noch nicht vollständig ausgebildet, sein thymoeides oder epithymêtikon noch nicht hinreichend unter Kontrolle hat. Vgl. für eine genaue Interpretation dieser Stelle Kap. 3.3.3. 339 340

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Determinismus vs. Intellektualismus Nicht nachvollziehbar erscheint mir nur Goochs Nachtrag zum Intellektualismus, den er durch die Stelle im Sophistês zumindest in Gefahr sieht, da dort neben der Unwissenheit andere Gründe für Unrechttun dargelegt werden. 342 Offensichtlich stellt die stasis für ihn diesen anderen Grund dar, d. h. der Einfluss der anderen Seelenteile auf die Vernunft. Wenn aber die konditionale Lesart der oben diskutierten Timaios-Stelle richtig ist, so kann Platon ohne weiteres eine Art von Intellektualismus zugeschrieben werden: Er betont bis in die Nomoi hinein die These, dass niemand freiwillig Unrecht tue (vgl. Leg. IX 860d1–9 343) und wenn das Unrechttun durch einen innerseelischen Konflikt zustandekommt, so geht dies mit Unwissenheit einher, die durch die mania der irrationalen Begehren entsteht (vgl. Tim. 86b7–c3, 88a7–b5 344). So kann die direkte Ursache für die Tötung eines Menschen beispielsweise Zorn 345 sein, d. h. aber nicht, dass der Mensch in seinem Zorn zugleich wissend gehandelt hat. Der Zorn hat vielmehr sein logistikon mindestens stark eingeschränkt, sodass es plausibler erscheint, dass Unrechttun immer Unwissenheit impliziert, aber auf zwei verschiedene Weisen: Während im einen Fall die Unwissenheit unmittelbar die Tat bewirkt, ist sie im anderen Fall epiphänomenal zu einer bestimmten Emotion der unvernünftigen Seelenteile (z. B. beim Töten aus Affekt). 346 So ist Unwissenheit immer notwendig für Unrechttun, wenn auch nicht notwendig der direkte Auslöser des Unrechttuns. Vgl. Gooch 1971, S. 132 f. Auf die Diskussion, ob auch in den Nomoi noch ein moralischer Intellektualismus vertreten wird, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden (Näheres in Kap. 2.4.1). Für eine Diskussion vgl. z. B. Horn 2004 und Schöpsdau 2009. 344 Timaios spricht hier zwar von den Begierden des Körpers, die die Begierde der Seele nach Weisheit überwältigen, aber der Ablauf scheint derselbe zu sein wie in Tim. 86b7–c3 oder diesem zumindest stark zu ähneln. 345 Zu näheren Ausführungen zum Umgang mit Tätern, die aus Zorn handeln, vgl. Leg. IX 866d5–869e5. 346 In Leg. IX 863b1–864c1 werden die Ursachen entsprechend den Seelenteilen aufgeteilt (wobei die Unwissenheit (agnoia) hier noch einmal dreigeteilt wird: in die einfache Unwissenheit und die, die mit der Überzeugung vom eigenen Wissen einhergeht. Letztere kann wiederum mit Kraft und Stärke einhergehen, was die schlimmste Form der agnoia darstellt: amathia.). Damit wird die Unwissenheit aber nicht vollständig von den anderen beiden Ursachen getrennt; diese gehen ebenfalls mit Unwissenheit einher; nur ist die Unwissenheit in diesen Fällen nicht die direkte Ursache des Verbrechens. Wie oben gesehen, bedeutet Unwissenheit nicht notwendig, dass die Vernunft falsche Urteile fällt, sondern bezeichnet einfach einen inneren Konflikt. 342 343

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Auf die Schlusspassage des Timaios bezogen sieht Alfred Edward Taylor aber einen starken Determinismus vorherrschen, was ihn dazu veranlasst, die dargelegten Positionen nicht Platon selbst, sondern der pythagoreischen Tradition, wie sie hier von Timaios vertreten werde, zuzuschreiben. 347 Andere Interpreten wie Mary Margaret Mackenzie sprechen sich für einen Intellektualismus aus, der Mackenzie zufolge aber körperlich erklärt werde. 348 Als Ursache für Übel unterscheidet sie im Laufe der platonischen Dialoge Unwissen, Unordnung der Seelenteile und Krankheit. Diese drei Erklärungen stellen für sie drei verschiedene Arten von Moralpsychologie dar, sodass nicht direkt klar werde, wie mit Kriminellen umgegangen werden müsse. 349 Meiner Ansicht nach sind diese drei Ursachen jedoch nicht voneinander zu trennen: Die Unordnung der Seelenteile impliziert, dass nicht das logistikon herrscht und daher überwältigt wird. Dies führt zu Unwissen, das – zumindest im Sinne der amathia verstanden – als Seelenkrankheit zu bezeichnen ist. Wenn Mackenzie sich mit »Krankheit« auf körperliche Krankheiten bezieht (die dann seelische hervorrufen), so liegt es nahe, die These zu vertreten, dass Platons Dialogsprecher im Laufe seiner Werke einfach in der Ursachenreihe immer weiter zurückgehen 350 und somit genauere Erklärungen für die verbrecherische Disposition von Kriminellen liefern: Zunächst scheinen sie nur aus Unwissen schlecht zu handeln. Dieses Unwissen Vgl. Taylor 1928, S. 610–614. Vgl. Mackenzie 1981, S. 177. Gegen einen Fatalismus sprechen sich außerdem Stalley 1996 und Steel 2001 aus. Auch Lisi betont, dass der eigentliche Grund in einer schlechten Erziehung bestehe, die ihre Basis in den schlechten politischen Verhältnissen habe (vgl. 2006, S. 171). 349 Vgl. Mackenzie 1981, S. 178. 350 Der Regress ist allerdings kein infiniter, da sich der Kreis am Ende schließt, wenn die »letzte« Ursache, d. h. die körperlichen Dispositionen, doch wieder auf eine fehlende Seelsorge zurückgeführt wird. Somit wäre in meiner Lesart doch letztlich die Seele in der Verantwortung oder die Menschen, die sich um Körper und Seele kümmern oder diese beeinflussen. Als notwendige Bedingung für seelische Krankheiten ist dennoch der Körper zu sehen, da die Seele ohne ihn gar nicht erst die sterblichen Seelenteile erlänge. Taylor hingegen ist der Ansicht, dass es hier an Logik mangele, da jedes Elternpaar wiederum seine eigenen Eltern als Verantwortliche heranziehen könnte, sodass es zu einem infiniten Regress kommt bzw. niemandem Verantwortung zugeschrieben wird (vgl. 1928, S. 618). Das ist zwar logisch korrekt, allerdings scheint der Fokus von Timaios eben gerade nicht nur auf der körperlichen Ebene oder auf dem Ende der Ursachenreihe zu liegen, wenn er gleichermaßen körperlichen Dispositionen wie einer falschen Erziehung die Schuld für das Entstehen verbrecherischer Menschen zuschreibt (vgl. Tim. 87a7–b8). 347 348

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wird in der Politeia dann genauer auf der seelischen Ebene analysiert, indem eine Unordnung der einzelnen Teile konstatiert wird, die Unwissenheit in der Seele hervorrufen. Diese Unordnung wiederum kann auf körperlicher Ebene erklärt werden, was im Timaios geschieht. Damit muss kein Determinismus vertreten werden in dem Sinne, dass ein Individuum mit bestimmter körperlicher Disposition dazu verdammt ist, Verbrechen zu begehen und dem daher keinerlei Verantwortung zugesprochen werden kann. Da in jungen Jahren eine Veränderung durch eine gute Erziehung fast immer möglich ist, kann jeder Mensch bis zu einem gewissen Grade tugendhaft werden und ein gutes Leben führen. 351 Wenn die Erziehung jedoch scheitert und andere äußere schlechte Einflüsse auf das Individuum einwirken, können verbrecherische Charaktere das Ergebnis sein. Dabei ist zwar, wie Timaios betont, den Erziehern und auch den gegebenen schlechten körperlichen Anlagen die größere Schuld zuzuschreiben als dem Verbrecher selbst. Völlig frei von Verantwortung und Schuld ist er dabei aber keineswegs, obwohl viele Interpretinnen und Interpreten diese Stelle so lesen. 352 Timaios scheint vielmehr eine Gradabstufung 353 an Verantwortung vorzunehmen (vgl. Tim. 87b4–8), sodass der Fokus mehr auf den äußeren Umständen als auf dem Individuum liegt. Eine solche Ansicht erscheint aber auch nur folgerichtig, wenn man bedenkt, wie sehr die eigene Laufbahn auch in heutiger Zeit von Erziehung und Umgang mit anderen Menschen abhängt.

351 Gegen Bobonich 2002, der diese Sichtweise für den Phaidon und die Politeia verneint (vgl. S. 7 f., 22, 29, 37, 40 f., 57 f., 81). Vgl. dazu auch Kap. 2.1. 352 Für die Abweisung jeglicher Verantwortung und Schuld vom Individuum vgl. Taylor 1928 (S. 613: »Timaios certainly comes very near denying all moral responsibility«; auf S. 618 scheint diese Einschränkung aufgehoben zu sein), Hentschke 1971 (S. 182), Mackenzie 1981 (S. 176, Fn. 56), Gill 2000 (S. 75), 2012 (S. 103 f.; er spricht von einer »verurteilungsfreie[n] Haltung« (S. 104)), Ahonen 2014 (S. 43 f.). Für eine stark abgeschwächte Schuld vgl. Brisson 1998 (S. 452 f.). Vgl. dagegen aber Stalley 1996, der sich dafür ausspricht, dass die Verantwortung sogar noch gestärkt werde und ebenfalls die Seele in der Verantwortung sieht: »We care for the body by caring first for the soul.« (S. 368; vgl. ebd., S. 368) Ahonen scheint eine Zwischenposition zu vertreten, wenn er zwar von völliger Schuldlosigkeit bei gleichzeitiger voller Verantwortung ausgeht. Schlecht würden Seelen durch körperliche Dispositionen und Erzieher, was uns aber nicht von der Verantwortung entbinde, »to make the rational soul within ourselves resemble the soul of the universe as much as possible« (Ahonen 2014, S. 49; vgl. ebd., S. 43–49, 51). 353 Für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. André Laks.

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Man kann natürlich einwenden, dass dies (1) nicht erklärt, warum ein Ungleichgewicht besteht hinsichtlich der körperlichen Dispositionen. So scheinen manche Menschen von Natur aus ein starkes epithymêtikon zu haben, andere hingegen sind günstiger veranlagt. Problematisch ist außerdem (2) die Funktionsweise der Erziehung, die hier fast schon in den körperlichen Aufbau der Individuen eingreifen müsste, um deren Charakter positiv zu verändern. Zu (1): Die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, mit denen Menschen auf die Welt kommen, können nach platonischer Ansicht nur unter Einbeziehung der Reinkarnationslehre erklärt werden. Fast alle Menschen (vgl. Kap. 2.2) haben die Möglichkeit, gute Charaktere auszubilden, ihre Anlagen machen es ihnen aber unterschiedlich schwer oder leicht. Während man heutzutage diese Situation vielleicht auf den Zufall und die Gene zurückführen würde, ist Platon der Meinung, dass wir uns unsere Ausgangsbedingungen selbst wählen, und zwar in der Unterwelt, bevor wir unser nächstes Leben beginnen. Im Er-Mythos erklärt Sokrates, dass wir bei der Lebenswahl wissen müssen, was sowohl unterschiedliche natürliche Anlagen als auch erworbene seelische Haltungen miteinander vermischt bewirken (panta ta toiauta tôn physei peri psychên ontôn kai tôn epiktêtôn ti synkerannymena pros allêla ergazetai, Rep. X 618d3–5), sodass das beste Leben gewählt werden kann (vgl. Rep. X 618c6–e2). Das bedeutet nun, dass wir mit bestimmten selbstgewählten Anlagen und Haltungen geboren werden, die, wenn wir unwissend gewählt haben, in ihrer Vermischung Schlechtes bewirken. Bis auf ganz wenige Ausnahmen aber kann auch bei solch schlechten Ausgangsbedingungen noch ein halbwegs guter (bürgerlich tugendhafter) Charakter erwachsen, wenn der Mensch selbst sich darum bemüht und er das Glück hat, einer guten Erziehung, idealerweise der des Idealstaates, unterzogen zu werden. Dass Platon auch weiterhin an der Reinkarnationslehre festhält und nur für die genaueren Ausführungen hier die Politeia bemüht wurde, wird auch im Timaios klar: Die Passage, die sich an unsere hier besprochene anschließt, beendet den Dialog mit einer Darlegung der verschiedenen Wiedergeburten, die Menschen erlangen können. Dort wird deutlich, dass es darum geht, sein Leben tugendhaft zu leben, da man sonst gar in tierische Lebensformen reinkarniert wird (vgl. Tim. 90e1–92c9). Auch hier zeigt sich die entscheidende Bedeutung von amathia, da von ihr die Art der nächsten Wiedergeburt abhängt. Je nachdem, welcher Grad an amathia in diesem Leben erreicht 148

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wurde, wird die entsprechende Seele in unvernünftigere Lebensformen wiedergeboren. Menschen, die an der äußersten amathia leiden, werden daher ihr nächstes Leben als Wassertiere verbringen (vgl. Tim. 92a7–c3). 354 Zu (2): Wie kann eine Erziehung, und sei sie noch so gut, in den physischen Aufbau der Menschen eingreifen? Das Beispiel im Timaios sind u. a. Menschen, die besonders stark Lust- und Schmerzempfindungen unterworfen sind und sich daher dauerhaft in einem dysfunktionalen Zustand der Vernunft befinden (vgl. Tim. 86c3–d5). Eine genaue Antwort bleibt m. E. der Timaios schuldig. Hinweise auf eine genauere Antwort, die die Nomoi liefern, finden sich aber schon in diesem Dialog: Es muss bedacht werden, dass es die sterbliche Seele ist, die die Probleme verursacht, und dass diese eng mit dem Körper verbunden ist. 355 Daher kann durch eine Bearbeitung des Körpers auch auf die Seele zugegriffen werden. Diese körperliche Erziehung drückt sich in gymnastikê, d. h. in Bewegung aus. Darauf geht Timaios näher ein, wenn er die Therapieformen für seelische Krankheiten anschneidet, die letztlich die Herstellung einer Harmonie zwischen Körper und Seele bezwecken, die wiederum auf einen innerseelischen Einklang zurückzuführen ist (s. u.). Entscheidend ist dabei, dass durch die Bewegung einerseits der Körper gesunden kann, dieser andererseits genau dadurch auch positiv auf die Seele einwirkt, sodass man die Heilung einer unwissenden Seele vielleicht so erklären könnte: Versetzt man den Körper in Bewegung, wird auch der frei fließende Samen im Mark (vgl. Tim. 86c3–4) eingedämmt und in die ihm angemessene Bewegung versetzt. Damit könnte die gymnastikê nach und nach tatsächlich eine Änderung der gegebenen physis des Menschen bewirken. Wenn diese körperlichen Anlagen, die sich im Rückenmark ausdrücken, nun zum Positiven geändert werden, hat dies direkte Auswirkungen auf die sterbliche Seele, die dann durch die geänderten Bewegungen des Körpers ebenfalls in einen anderen (besseren) Zustand versetzt wird. Die irrationalen Seelenteile könnten also bereits durch eine hinreichende körperliche Erziehung gezügelt werden. Um aber auch später keine Unwissenheit erneut auf-

354 Problematisch an diesen Reinkarnationsausführungen ist natürlich, dass zwar erwähnt wird, wie man auf- und absteigen kann: durch Verlust bzw. Zunahme von amathia. Wie es unvernünftigeren Lebensformen aber möglich sein soll, ihre Unwissenheit zu beseitigen, wird nirgends klar. 355 Das Rückenmark beherbergt sie (vgl. Tim. 73b1–e1).

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kommen zu lassen, ist es nötig, dass die Umläufe der Vernunftseele ebenfalls in steter Bewegung gehalten werden: Dies ist nur durch mousikê und – bei entsprechend begabten Menschen – auch durch die Beschäftigung mit höheren Bildungsgegenständen wie beispielsweise der Astronomie möglich, da so die Bewegungen der Vernunft nie träge werden oder gar zum Stillstand kommen. 356 Impliziert dies nun aber eine totale Gleichwertigkeit von Seele und Körper? Sieht Platon gar die Seele nicht mehr als höherwertig an gegenüber dem Körperlichen? Zum Gleichgewicht zwischen Seele und Körper Auf die Anfangspassage, in der seelische Krankheiten letztlich auf körperliche Dispositionen und eine mangelhafte Erziehung sowie äußere korrumpierende Einflüsse 357 zurückgeführt werden, folgt nun ein Abschnitt zur Therapie von Körper und Denken, in dem das seelisch-körperliche Gleichgewicht als entscheidend für die Gesundheit von Körper und Seele angesehen wird (vgl. Tim. 87c1–89d1). Christopher Gills Interpretation legt den Fokus auf diesen Aspekt, da wir vorrangig eine Verbindung aus Körper und Seele seien; wir können also nicht sagen, dass der Mensch im eigentlichen Sinne ausschließlich Seele sei oder Körper. Gill bemerkt zudem, dass diese umfassendere Sicht einen Kontrast zum Phaidon darstellt. 358 Neben Gill vertritt auch Thomas Kjeller Johansen eine positive Interpretation der Rolle des Körpers im Timaios: Johansen ist der Ansicht, dass nun eine positivere Auffassung des Lebens im Diesseits vorherrsche und der Körper entsprechend berücksichtigt werde. 359 Es ist richtig, dass die gymnastikê des Timaios sich tatsächlich auf den Körper bezieht und nicht im Grunde auf einen Seelenteil (das thymoeides in der Politeia) abzielt. 360 Dennoch gibt es im Timaios ein 356 Der Zustand der Ruhe in der Seele wird denn auch im Theaitetos als ameletêsia und amathia bezeichnet, was ein Vergessen des Gelernten bewirke. Somit muss die Seele ständig in Bewegung gehalten werden, und zwar durch mathêsis und meletê (vgl. Thet. 153b5–c6). 357 Lautner sieht diese äußeren Einflüsse nicht als eigene Quelle für seelische Krankheiten, sondern nimmt an, dass bereits ein psychosomatischer Defekt im Individuum vorhanden sein muss, der bewirkt, dass diese schlechten äußeren Einflüsse begrüßt werden (vgl. 2011, S. 29 f.). 358 Vgl. Gill 2000, S. 68, 70, 73, 76 f. 359 Vgl. Johansen 2004, S. 156 f. 360 Vgl. Gill 2000, S. 68; Johansen 2004, S. 156.

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Problem, den Körper von den irrationalen Seelenteilen zu trennen. Wie bereits von Ahonen festgestellt wurde 361, wird »Seele« häufig dazu verwendet, nur den vernünftigen Seelenteil zu bezeichnen, während der Körper für die irrationalen Seelenteile steht (vgl. Tim. 88a7–b5 362, 88c1–6 363). Wenn man dies miteinbezieht, so scheint der Unterschied in der Behandlung des Verhältnisses zwischen Seele und Körper kein so großer mehr zu sein, da Platon nie eine völlige Askese propagiert hat, sondern den notwendigen Bedürfnissen immer genügend Raum zugestanden hat 364 (vgl. v. a. Rep. VIII 558d8–559c7), da nur so ein glückliches Leben in Verbindung mit dem Körper und damit als Individuum mit einer dreiteiligen Seele möglich ist. Man könnte nun entweder sagen, dass der Körper eben durchgehend als notwendiges Übel gesehen wird, mit dem im diesseitigen Leben nun einmal umgegangen werden muss, oder als positiver Faktor, der zu einem größeren Glück im Diesseits verhelfen kann. 365 Allerdings scheint der menschliche Körper nicht so positiv zu sein, wenn man bedenkt, dass die schlechte seelische Konstitution erst durch die Einkörperung verursacht wird, da so die Umschwünge des vernünftigen Seelenteils in Unordnung gebracht werden, und somit der Körper einen bedeutenden Anteil an der Verursachung seelischer Krankheiten hat (vgl. Tim. 44a7–c4). 366 Insgesamt wirkt die DarstelVgl. Ahonen 2014, S. 48. Da hier der Körper nach Nahrung verlangt, scheint er mit dem epithymêtikon zusammenzufallen (vgl. Lisi 2006, S. 172). 363 An dieser Stelle ist es die Seele, die mit dem logistikon übereinzustimmen scheint (vgl. Lisi 2006, S. 171). 364 Es ist richtig, dass Sokrates im Phaidon für eine Ablösung vom Körper plädiert; aber selbst in der wohl stärksten Passage für eine Askese (vgl. Phd. 64d2–65d3) wird dem Körper zugestanden, dass seine nötigsten Bedürfnisse erfüllt werden (vgl. Phd. 64d9–e3: Der Philosoph verachtet es nur, wenn man sich mehr als notwendig um die körperlichen Bedürfnisse kümmert). 365 Letzteres vertritt Johansen (vgl. 2004, S. 156 f.). 366 Vgl. dazu auch Lautner 2011, S. 24, 26 f., 31, 35, 37. Damit ist selbstverständlich nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es neben dem Körper andere korrumpierende Einflüsse geben kann, die u. a. auch aus der Seele selbst entspringen. Insofern man schlechte seelische Impulse (wie z. B. einen übermäßigen Drang nach Ruhm) als Ursachen von Übel behandelt, muss man zumindest im Timaios immer bedenken, dass die entsprechenden Seelenteile durch die Verbindung mit einem Körper erst entstehen – der Phaidros bietet ein anderes Szenario; allerdings könnte Carone mit ihrer Spekulation Recht haben, dass der Seelenwagen eine Art Körper für die drei Seelenteile (Pferde und Wagenlenker) darstellt (vgl. Carone 2005, S. 245 (Fn. 61)). Dennoch bleibt natürlich der Unterschied bestehen, dass die beiden unteren Seelenteile im 361 362

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lung des Timaios nicht wie eine völlige Abkehr vom Phaidon, in dem das wahre Selbst mit der Seele, die dort mit der Vernunft assoziiert wird, gleichgesetzt wird (vgl. Phd. 64d2–65d3). 367 Auch im Timaios wird der vernünftige Seelenteil als das Göttlichste bezeichnet (vgl. z. B. Tim. 90c4), der durch die anderen Seelenteile, die erst durch die Einkörperung entstehen – wie dies vielleicht auch in der Politeia der Fall ist (vgl. Rep. X 611b9–612a7) – in Unordnung gebracht und »krank« wird. Unser eigentliches Selbst scheint damit immer noch mit der Vernunft identifiziert zu werden. Dass die Seele insgesamt im Timaios sehr materiell dargestellt wird, wie Gabriela Roxana Carone und Thomas Kjeller Johansen betonen 368, spricht nicht für eine Aufwertung des menschlichen Körpers, da die Materialität der vernünftigen Seele nichts mit den klassischen körperlichen Bedürfnissen zu tun hat, sondern vielmehr hilfreich ist, um die Interaktion zwischen Körper und Seele und die Schädigung des vernünftigen Seelenteils durch den Körper bzw. die unvernünftigen Seelenteile besser zu erklären. 369 Carone vertritt zudem die Ansicht, dass die Seele in den Spätdialogen offenbar nicht mehr unabhängig von einem Körper existieren kann. 370 Seele an sich – oder Geist (nous) – benötigt ihr zufolge in den Spätdialogen Raum und Körper; der Körper wiederum kann nicht als solcher bezeichnet werden, wenn er nicht mit einer Seele verbunden ist, die ihm Struktur verleiht. Sie lässt bewusst die Frage offen, inwieweit eine solche Interpretation als Meinungsänderung Platons aufgefasst werden muss. 371 Die Lesart von Walter Mesch, der sowohl Timaios und vermutlich auch in der Politeia erst bei der Inkarnation entstehen und der Seelenwagen im Phaidros schon zuvor geteilt ist. 367 Vgl. dazu auch Leg. XII 959a4–d1, wo das wahre Selbst eines jeden von uns mit der unsterblichen Seele identifiziert wird. 368 Vgl. Carone 2005 und Johansen 2004, S. 141 f. 369 Vgl. Johansen 2004, S. 141 f., der ebenfalls diesen Vorteil hervorhebt. 370 Vgl. Carone 2005: »the mind must be seen in late Plato as the principle of organization of a body and ontologically inseparable from it« (S. 227), »in the Timaeus human reason is not separate from a body even in the most pure state it can achieve (S. 242), »the mind (any mind), qua teleological agent, necessitates corporeal conditions and space for its activity« (S. 244, Kurs. im Orig.), »it seems that Plato’s late views on the soul come very close, and may thus represent an important antecedent, to Aristotle’s view of the soul as the principle of organization of a body and ontologically inseparable from it« (S. 248), »Plato’s late dialogues (in particular Timaeus, Philebus and Laws), in a line that follows that of Phaedrus 245c ff., present a view of the soul or mind as necessitating space and body« (S. 266). 371 Vgl. ebd., S. 266.

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einen klassischen Substanzdualismus, einen Eigenschaftsdualismus Ostenfelds 372 als auch Carones stoisch angehauchten Hylemorphismus zurückweist und die Seele als Substanz 373 sieht, die unabhängig von Körpern existieren kann, Körper aber nicht unabhängig von dieser, scheint mir letztlich plausibler, da sich insbesondere die Abhängigkeit des Körpers von der Seele durch die platonischen Dialoge bis in die Nomoi zieht. 374 Nachweise dafür, dass Seelen für ihre Existenz keinen Körper benötigen, liefert denn auch der Timaios: Der Aufbau der Körper wird letztlich auf Elementardreiecke zurückgeführt (vgl. Tim. 53c4–d7), der Aufbau der Seele hingegen nicht. Sie wird lediglich mithilfe dieser Dreiecke im Körper festgehalten. Eine Ablösung vom Körper kommt auch hier einer Befreiung gleich; Timaios spricht von Bändern oder Fesseln (desmoi) der Seele (vgl. Tim. 81d4–e1 und 85e4–86a2, wo er einen Vergleich mit Schiffstauen zieht (neôs peismata)). Carones Lesart geht davon aus, dass Seele insofern immer mit irgendeiner Art Körper verbunden ist, da auch bei dieser Ablösung die Seele zu dem ihr zugehörigen Sternenkörper zurückkehrt. 375 Doch muss m. E. dabei bedacht werden, dass die Seele in dem Zeitraum zwischen der Ablösung vom Körper und der Rückkehr zu ihrem Stern offenbar ohne Körper auskommt. Dass es sich nicht um einen plötzlichen und direkten Übergang handelt, sondern um einen Weg oder eine Reise, belegt die Textstelle (vgl. Tim. 42b3–4 376). Ich stimme daher auch mit der Lesart Meschs überein, insofern er eine grundlegende Revision des Verhältnisses von Seele und Körper verneint: Die Verschiebung, die er zugunsten einer positiveren Bewertung des Körpers konstatiert, scheint mir in diesem Maße aber erst in den Nomoi gegeben zu sein (vgl. Kap. 2.3.3). 377 Der menschliche Körper wird m. E. weiterhin als weitgehend negativ aufgefasst, 372 Vgl. Ostenfeld 1987. Einen Eigenschaftsdualismus schreibt er Platon erst in den späteren Dialogen zu, wohingegen in der mittleren Werkphase ein Substanzdualismus vorgeherrscht habe (vgl. v. a. S. 26 f.). 373 Er weist allerdings darauf hin, dass die Seele streng genommen nicht vollständigen Substanzstatus erlangt, da dieser nur den Ideen vorbehalten sei (vgl. Mesch 2016a, S. 234–237, 247). 374 Vgl. Mesch 2016a. Für die Zurückweisung einer materiellen Seele vgl. v. a. S. 240– 243. Mesch fasst Carones Vorgehensweise zusammen als eine Lesart, »die Platons Spätphilosophie an einen Stoisch interpretierten Hylemorphismus nach Aristotelischem Vorbild annähert.« (S. 247) 375 Vgl. Carone 2005, S. 242. 376 […] πάλιν εἰς τὴν τοῦ συννόμου πορευθεὶς οἴκησιν ἄστρου, […] 377 Vgl. Mesch 2016b, S. 82–84.

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der die Seele erst in ihre missliche Lage versetzt und Krankheiten in ihr hervorruft 378, wenn dies nicht durch eine gute Erziehung verhindert wird bzw. der bei der Geburt entstandene Defekt durch die Erziehung aufgehoben wird (vgl. Tim. 90d1–7 379). 380 Der Umgang mit dem Körper ist zunächst scheinbar ein anderer, wenn die Erziehung auch mehr auf den Körper abzielt und damit keine völlige Loslösung vom Körper propagiert wird, wie dies nach der Standarddeutung im Phaidon geschehe. Allerdings scheint der Unterschied eher darin zu liegen, dass die Wirkung des Körpers auf die Seele (oder der irrationalen Seelenteile auf den vernünftigen) stärker beachtet wird, da eine völlige Abkehr vom Körper negative Konsequenzen für die Seele nach sich zieht (vgl. v. a. Tim. 88a7–89d1). 381 Das Ideal, aber dennoch – soweit dies im Diesseits möglich ist – v. a. der Seele, verstanden als Vernunft, zu folgen und sich nicht den körperlichen Bedürfnissen, d. h. irrationalen Seelenteilen, hinzugeben, bleibt im Timaios vollständig bestehen und wird explizit in Tim. 89d2–90d7 zum Ausdruck gebracht. Dies entspricht dem Postulat der Angleichung an Gott, das sich ebenfalls durch die Dialoge Platons zieht 382: Der Mensch muss versuchen, so weit wie möglich im Diesseits seiner Vernunft zu folgen und sich dadurch so göttlich wie möglich zu machen (vgl. Rep. II 383c3–5, VI 500b8–c7; Thet. 176a8–b2, Tim. 89d2–90d7). 383 378 Vgl. Saunders 1994 (S. 171) und Lautner 2011, die ebenfalls den negativen Einfluss des Körpers im Timaios betonen. Mesch hingegen erwähnt zwar diesen Aspekt, räumt ihm aber keine so große Bedeutung ein (vgl. 2016b, S. 83). 379 Ich lese hier mit Mahoney peri tên genesin als »zum Zeitpunkt der Geburt« (vgl. Mahoney 2005, S. 83–85; die andere Lesart »was das Werden betrifft« wird z. B. von Sedley vertreten, gegen den sich Mahoney explizit wendet; vgl. Mahoney 2005, S. 80–85 und Sedley 1999, S. 323). 380 Vgl. dazu auch Lisi 2006 (S. 173), der ebenfalls die Erziehung als entscheidend ansieht. Die Erziehung, die sowohl als mousikê wie auch als gymnastikê die Bewegung als konstitutives Element in sich trägt, induziert diese korrekte Art von Bewegung auf die Seele und bringt so die Umläufe des rationalen Seelenteils wieder in Ordnung (vgl. Tim. 44a7–c4, 47d2–e2). Zu näheren Ausführungen über die innerseelischen Abläufe und die Funktion der Bewegung als erzieherisches Hauptelement vgl. Kap. 2.1. 381 Dass dies aber bereits dem Sokrates des Phaidon klar ist, wurde oben gesehen (vgl. Kap. 2.3.1). 382 Vgl. dazu auch Sedley 1999. 383 Wie Mahoney bin ich der Ansicht, dass die homoiôsis theôi keine Abkehr von der praktischen Vernunft darstellt (vgl. 2005). Er weist in seinem Artikel die gegenteilige Auffassung Sedleys zurück (vgl. Sedley 1999, v. a. S. 323).

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Bevor Timaios diese Forderung im Schlussabschnitt betont, in dem es ihm nicht mehr um das Gleichgewicht von Seele und Körper geht, sondern um die Seele selbst, die den Körper ausbildet (vgl. Tim. 89d2–7) 384, erklärt er zwar, dass Seele wie Körper gleichermaßen in Bewegung gehalten werden müssen. Dieses vermeintliche Gleichgewicht zwischen Seele und Körper scheint bei genauerem Hinsehen jedoch eher ein Gleichgewicht zwischen vernünftigem Seelenteil und Körper zu sein 385: Folglich muss der Mathematiker, oder wer immer eine andere geistige Tätigkeit ernsthaft betreibt, auch der Bewegung des Körpers Aufmerksamkeit schenken, indem er Sport treibt (gymnastikêi proshomilounta); wer hinwiederum sorgfältig den Körper ausbildet, muss den Bewegungen der Seele Beachtung schenken, indem er sich den schönen Künsten und jeglicher Wissenschaft zuwendet (mousikêi kai pasêi philosophiai proschrômenon), wenn er denn mit Recht schön und gut im wahren Sinne des Wortes heißen will. (Tim. 88c1–6)

In diesem Abschnitt geht es um die Wiederherstellung oder Sicherstellung des körperlich-seelischen Gleichgewichts. Eine zu starke Seele scheint hier von der Art zu sein, dass sie v. a. den Bedürfnissen des logistikon folgt. Wenn Timaios zuvor aber die Auswirkungen einer zu starken Seele beschreibt, wird auch das thymoeides miteingeschlossen (vgl. Tim. 87e6–88a7). Gills Lesart, dass wir v. a. psychophysische Entitäten sind 386, ist zwar aufgrund des großen Einflusses des Körpers, um den sich wiederum die Seele kümmern muss (vgl. Tim. 89d2–7), durchaus plausibel; die Forderung nach einem psychophysischen Gleichgewicht scheint letztlich aber in einer Forderung nach einem psychischen Gleichgewicht zu wurzeln. Ist dieses Gleichgewicht erst gegeben, so kommt es automatisch zu einem Gleichgewicht zwischen Seele und Körper, da eine harmonische Seele sich in 384 Ada Babette Hentschke liest die Stelle so, dass es um die Menschen geht, die allgemein als Erzieher fungieren (»Die aber andere erziehen sollen, müssen selbst am besten erzogen werden (89d1–7).«, 1971, S. 183). Meiner Meinung nach spricht Timaios hier aber von der Seele, die den Körper ausbildet (τὸ δὲ δὴ παιδαγωγῆσον, Tim. 89d4–5) – und daher natürlich selbst gut erzogen sein muss, ohne dass dabei aber auf konkrete Erzieher verwiesen wird. Dafür spricht auch das de, das den Gegensatz zur vorherigen Behandlung des Lebewesens im Allgemeinen und des Körpers verdeutlicht, sodass sich jetzt eine Besprechung der Seele anschließen kann (vgl. Tim. 89d2–7). 385 Vgl. Lisi 2006, S. 171 und Ahonen 2014, S. 48. 386 Vgl. Gill 2000, S. 76 f.

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richtiger Weise um den Körper kümmert (vgl. Tim. 89d2–7 387, 90d1– 7 388). Daher schließt sich auch folgerichtig der Abschnitt an, in dem erklärt wird, wie ein solches seelisches Gleichgewicht hervorgebracht werden kann: durch Hinwendung zum vernünftigen Seelenteil und damit durch eine Lebensweise gemäß dem logistikon (vgl. Tim. 89d2–90d7). 389 Nur so kann schließlich ein guter Charakter erlangt und Unwissenheit verhindert werden. Somit lässt sich m. E. die Schlusspassage des Timaios (86b1– 90d7) in folgende thematische Abschnitte gliedern: 1.) 86b1–87b9: Der Abschnitt beginnt mit einer Erklärung der beiden Arten von seelischen Krankheiten, die insgesamt alle auf körperliche Zustände zurückgeführt werden können. Gleichwertigen Einfluss auf die Charakterbildung haben allerdings sowohl die körperliche Ausgangssituation als auch die Erziehung – ohne dabei jedoch dem Individuum völlig die Verantwortung abzusprechen. 2.) 87c1–89a1: Wie kann ein guter Charakter entstehen und erhalten werden? Entscheidend hierfür ist das Gleichgewicht zwischen Seele und Körper. Es folgt eine Darstellung der verheerenden Konsequenzen für beide Seiten im Falle eines Ungleichgewichts. Das korrekte Vorgehen hingegen besteht darin, Körper wie Seele in Bewegung zu halten. 3.) 89a1–d1: Die näheren Ausführungen zu den drei Arten von körperlicher Bewegung machen deutlich, dass es am besten ist, wenn der Körper sich durch sich selbst bewegt, gefolgt von Bewegungen, die im Äußeren ihre Ursache haben (Schaukeln etc.). Zu vermeiden sind durch Arzneien induzierte Bewegungen und daher nur als letztes Mittel einzusetzen. Diese Passage könnte schließlich auch aufzeigen, wie körperliche Bewegung physische Anlagen verändern kann. Menschen, die sich in einem besonders ungeordneten seelischen Zustand befinden aufgrund der Stärke ihres epithymêtikon, welche rein kör387 Es wird hier deutlich, dass es die Seele ist, die den Körper ausbildet, und dass im Folgenden dargelegt wird, wie die Seele beschaffen sein muss, damit dies möglichst gut gelingt. 388 In dieser Textpassage geht es um die Angleichung an Gott und somit darum, dem vernünftigen Seelenteil zu folgen und die durcheinander gebrachten Umläufe wieder zu ordnen, sodass der Mensch das beste Leben führen kann. Wie zuvor gesehen, impliziert das beste Leben im Diesseits aber einen korrekten Umgang mit dem Körper. 389 Dies schließt jedoch nicht aus, sich für die Herstellung eines seelischen Gleichgewichts auch der Bewegung des Körpers zu bedienen, der positiv auf die Seele einwirken kann (vgl. die Ausführungen zur Chorpraxis in den Nomoi und Kap. 2.1).

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perlich erklärt wird (vgl. Tim. 86c3–d2), sind vielleicht so negativ disponiert, dass ihnen nur noch mit der durch Arznei induzierten Bewegung geholfen werden kann – und dass Medizin auf die physischen Begebenheiten einwirkt, ist nur einleuchtend. 4.) 89d2–90d7: Die Passage zu den seelischen Krankheiten schließt mit näheren Ausführungen zur richtigen Ordnung der Seele, da sie es ist, die den Körper ausbildet und Gedeih und Verderb des Menschen letztlich von ihr abhängen. Ich folge Gill darin, dass er in seinen Textpassagen den Fokus zunächst auf dem Körper (Tim. 82c–86a), dann auf der Seele (Tim. 86b–87b) und schließlich auf dem Gleichgewicht der beiden (Tim. 88a–b) sieht. 390 Allerdings scheint er dieses Gleichgewicht als Ergebnis oder Schluss der Untersuchung zu betrachten, ohne die folgenden Passagen miteinzubeziehen. Vor allem die letzte Passage ist aber entscheidend für die platonische Auffassung, da Platons Timaios seine Ausführungen zu Körper und Seele für das Diesseits damit beendet und sich nur noch ein Abschnitt zur Reinkarnation anschließt. Die Ausführungen zur Reinkarnation hängen wiederum von der Ordnung der Seele ab, d. h. der Lebensweise, die man eingeschlagen hat, sodass Tim. 89d2–90d7 offensichtlich das Kernstück der gesamten Schlusserörterungen darstellt: Einerseits können die zuvor erläuterten Krankheiten auf ein seelisches Ungleichgewicht, nämlich die amathia, zurückgeführt werden, andererseits hängt von diesem Seelenzustand die nächste Inkarnation ab.

2.3.3 Nomoi (V 728d3–e5, VI 782d10–783b1, VII 790c5–791c7) In den Nomoi schließlich wurde von verschiedenen Forschern vermehrt festgestellt, dass sich Platons Haltung zum Körper stark zu einer positiven Sichtweise hin verändert habe. 391 Betrachtet man die Ausführungen zur gymnastikê in Buch VII, so scheint diese Lesart zunächst gerechtfertigt. Der Körper wird aktiv in die Erziehung miteinbezogen und dient gar zur Herstellung von Tugend in der Seele: Vgl. Gill 2000, S. 73. Vgl. v. a. Johansen 2004, aber auch Müller 2015. Die folgenden Ausführungen dienen nur einem kurzen Vergleich mit Phaidon und Timaios und stellen selbstverständlich keine erschöpfende Analyse des Körpers dar. Es soll lediglich geprüft werden, ob eine positive Sichtweise des Körpers in den Nomoi haltbar ist und ob dies einen Widerspruch im Vergleich zu früheren Dialogen darstellt. 390 391

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Angstvolle und rasende Bewegungen der Seele können, indem man den Körper in Bewegung versetzt, zur Ruhe gebracht werden und gute vernünftige Haltungen erzeugen (vgl. Leg. VII 790c5–791c7). Der positivere Akzent, der hier ganz offensichtlich auf der Bewertung des Körpers liegt, schließt m. E. die früheren Sichtweisen jedoch nicht aus, sondern ergänzt diese lediglich: Die Tatsache, dass der Körper nun positiv als Erziehungsinstrument eingesetzt wird, steht nicht im Widerspruch dazu, ihn grundsätzlich als hinzunehmendes Übel anzunehmen. Wie auch der Timaios zeigt (s. Kap. 2.3.2 und 2.3.4.), kann uns der Körper auf dem Weg zur Erkenntnis helfen und nun auch noch deutlicher eine bedeutende Rolle bei der Formung des Charakters spielen. Die Gefahren, die der Körper und die mit ihm verbundenen unteren Seelenvermögen darstellen, sind dabei aber keinesfalls eliminiert. Nur durch eine lebenslange Erziehung, die in einer ständigen Bewegung von Körper und Seele besteht, kann ein guter Charakter erhalten werden (vgl. Leg. I 644b2–4, II 653c7– 654a8). Denn auch in den Nomoi bleibt Platon bei seiner Ansicht, die bereits im Phaidon stark betont wurde, nämlich dass ein zu großer Fokus auf den Körper schlechte Charaktere erzeugt: Das Dritte aber – das wird wohl jedermann einsehen – ist die dem Leib zu erweisende Ehre. Hier muß man wiederum die Ehren prüfen, welche von diesen echt und welche unecht sind; das ist aber Aufgabe des Gesetzgebers. Dieser wird also, scheint mir, erklären, daß sie folgende und von folgender Art sind: Ehre verdiene nicht der schöne Leib oder der kräftige oder der Schnelligkeit besitzende oder der große, aber auch nicht der gesunde – obgleich viele dieser Meinung sein dürften –, und gewiß auch nicht die diesen entgegengesetzten, sondern die Leiber, die sich in der Mitte zwischen all diesen Eigenschaften hielten (ta d’ en tôi mesôi hapasês tautês tês hexeôs ephaptomena), die seien die weitaus besonnensten und ungefährlichsten (sôphronestata hama te asphalestata einai makrôi); denn die einen machen die Seelen aufgeblasen und dreist, die anderen aber niedrig und unfrei. (Leg. V 728d3–e5)

Diesmal wird aber auch explizit die Gefahr eines Mangels in der Sorge um den Körper dargelegt. Wichtig ist eine »mittlere« 392 Methode: Man darf dem Körper weder zu viel noch zu wenig Aufmerksamkeit zukommen lassen, da sich im gegenteiligen Falle dies auch negativ auf die Seele auswirken würde. 393 392 Für die Bedeutung des rechten Maßes, das bereits die aristotelische Position anklingen lässt, vgl. Kap. 2.6. 393 Vgl. hierzu auch Müllers These vom kinetischen Interaktionismus, den er in den

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Gegen eine stark positive Körperbewertung in den Nomoi spricht zudem eine Passage aus Buch VI: Ath. Ich sehe, daß bei den Menschen alles von einem dreifachen Bedürfnis und Begehren abhängt, aus denen ihnen bei richtiger Leitung die Tugend und bei schlechter Leitung das Gegenteil hervorgeht. Das sind gleich nach der Geburt Essen und Trinken, wonach jedes Lebewesen ein angeborenes Verlangen besitzt und daher voller Raserei ist und nicht hinhört, wenn jemand behauptet, man müsse etwas anderes tun, als ständig die auf dies alles gerichteten Lüste und Begierden zu befriedigen und sich so von jeder Unlust zu befreien. Das dritte und stärkste Bedürfnis aber und das hitzigste Verlangen bricht als letztes in uns hervor und läßt die Menschen im Feuer de[s] Wahnsinns durch und durch erglühen, nämlich der Trieb zur Fortpflanzung des Geschlechts, der in höchstem Übermut auflodert. Diese drei krankhaften Regungen also muß man an dem vorbei, was man als das Lustvollste bezeichnet, zum Besten hin lenken und durch die drei wirksamsten Mittel niederzuhalten suchen, nämlich durch die Furcht, durch das Gesetz und durch die wahre Einsicht; darüber hinaus muß man aber auch mit Hilfe der Musen und der über die Wettkämpfe wachenden Götter ihr Wachstum und ihren Zufluß ersticken. […] (Leg. VI 782d10–783b1 394)

Die Klassifikation der drei Hauptbedürfnisse des Körpers als Krankheiten (nosêmata) sagt im Grunde bereits genug über die platonische Haltung zum Körper in den Nomoi aus. Diese Regungen können zwar richtig gelenkt werden und so sich als Tugend manifestieren; das ändert dennoch nichts an ihrer ursprünglichen Wildheit und der Notwendigkeit, sie offensichtlich mit einiger Anstrengung in die Nomoi ausmacht (vgl. 2015, S. 63–71). Dieser These stimme ich grundsätzlich zu, würde aber ergänzen, dass der Körper dadurch nicht neutral wird und lediglich positiv oder negativ eingesetzt werden könnte. Die Tatsache, dass wir einen Körper besitzen, versetzt uns erst in die Lage, schlecht zu werden, und für eine positive Formung der Seele durch den Körper ist ein hoher Aufwand nötig – ein Aufwand, der sich selbstverständlich lohnt und betrieben werden muss. 394 ΑΘ. Ὁρῶ πάντα τοῖς ἀνθρώποις ἐκ τριττῆς χρείας καὶ ἐπιθυμίας ἠρτημένα, δι’ ὧν ἀρετή τε αὐτοῖς ἀγομένοις ὀρθῶς καὶ τοὐναντίον ἀποβαίνει κακῶς ἀχθεῖσιν. ταῦτα δ’ ἐστὶν ἐδωδὴ μὲν καὶ πόσις εὐθὺς γενομένοις, ἣν πέρι ἅπασαν πᾶν ζῷον ἔμφυτον ἔρωτα ἔχον, μεστὸν οἴστρου τέ ἐστιν καὶ ἀνηκουστίας τοῦ λέγοντος ἄλλο τι δεῖν πράττειν πλὴν τὰς ἡδονὰς καὶ ἐπιθυμίας τὰς περὶ ἅπαντα ταῦτα ἀποπληροῦντα, λύπης τῆς ἁπάσης ἀεὶ δεῖν σφᾶς ἀπαλλάττειν· τρίτη δὲ ἡμῖν καὶ μεγίστη χρεία καὶ ἔρως ὀξύτατος ὕστατος μὲν ὁρμᾶται, διαπυρωτάτους δὲ τοὺς ἀνθρώπους μανίαις ἀπεργάζεται πάντως, ὁ περὶ τὴν τοῦ γένους σπορὰν ὕβρει πλείστῃ καόμενος. ἃ δὴ δεῖ τρία νοσήματα, τρέποντα εἰς τὸ βέλτιστον παρὰ τὸ λεγόμενον ἥδιστον, τρισὶ μὲν τοῖς μεγίστοις πειρᾶσθαι κατέχειν, φόβῳ καὶ νόμῳ καὶ τῷ ἀληθεῖ λόγῳ, προσχρωμένους μέντοι Μούσαις τε καὶ ἀγωνίοισι θεοῖς, σβεννύντων τὴν αὔξην τε καὶ ἐπιρροήν. Seelen im Wandel

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richtigen Bahnen zu lenken und »niederzuhalten«, was schon fast an das kämpferische Vokabular des Phaidros erinnert, wenn es um die Zügelung des schwarzen Pferdes geht – bei dem freilich nur das Mittel der Furcht wirkt (vgl. Phdr. 253e5–255a1). Die Verwendung von mania wiederum stellt eine Verbindung zum Timaios her, wo mania als eine Art der seelischen Krankheit dargestellt wurde, die aber ihren Ursprung im Körper hat (vgl. Kap. 2.3.2). Da die körperlichen Regungen geregelt werden müssen – denn sonst droht Zügellosigkeit und allgemein Untugend –, finden sie auch ihren Platz in der Erziehung. Grundsätzlich wäre es aber besser gewesen, wenn die Seele sich nie mit einem Körper hätte verbinden müssen, da erst durch diesen die Möglichkeit eröffnet wird, dass Seelen schlecht werden können bzw. genau dies durch die Verbindung von Seele und Körper bei der Geburt geschieht (vgl. Tim. 44a7–b1). Da wir aber nun einmal Wesen aus Körper und Seele sind, können – und müssen – wir, nachdem in Dialogen wie dem Phaidon oder der Politeia die Gefahren des Körpers und der irrationalen Seelenteile zur Genüge ausgebreitet wurden, jetzt ebensogut den Körper nutzen, um zu einem tugendhaften Charakter zu gelangen. Dass dies um ein Vielfaches schwieriger ist, als einfach den Bedürfnissen des Körpers im Übermaß nachzugehen und seine Seele im Chaos zu belassen, versteht sich von selbst; dem muss daher mit einer nie nachlassenden Chorpraxis entgegengewirkt werden (vgl. Kap. 2.1). Zudem fällt auf, dass der Körper zwar durchaus zur Tugend der Seele beitragen kann, allerdings nur zu »einem Teil der Tugend« (Hen dê kai touto eis psychês morion aretês, Leg. VII 791c4, vgl. Leg. VII 791c4–6). Da es in diesem Kontext um die Beseitigung von Angstzuständen und Raserei geht und diese seelischen Haltungen dem thymos zugeordnet werden (vgl. z. B. Plt. 307b10 395, 310d9, Leg. IX 863b1–4), muss der Athener hier die Tapferkeit meinen. Der Körper kann also positiv dazu eingesetzt werden, die Seelenteile korrekt auszurichten, die wir erst durch die Existenz des Körpers erlangen und die uns möglicherweise Schwierigkeiten bereiten und drohen, uns ins seelische Chaos und in Unwissenheit zu stürzen.

395 Auf diese Textstelle weist auch Oesterle hin, wenn er darauf aufmerksam macht, dass eine Übersteigerung der andreia u. a. in Wahnsinn ausschlagen könne (vgl. 1978, S. 113).

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2.3.4 Mögliche Einwände Ein möglicher Einwand könnte darin bestehen, auf die Textstellen im Timaios und in den Nomoi hinzuweisen, die klar eine positive Rolle des Körpers aufzeigen. Dieser Richtung folgt Jörn Müller, der hervorhebt, dass in den Nomoi der Körper sogar als positives Erziehungsinstrument verstanden wird; im Timaios werde bei der Anfertigung des menschlichen Körpers auf die runde Form des Kopfes verwiesen, die es uns erst ermöglicht, Erkenntnisleistungen zu vollbringen. Obwohl sich Müllers Lesart hinsichtlich der Definition des Menschen der Interpretation Gills annähert, stimmt er doch nicht vollständig zu, den Menschen als psychophysische Entität zu verstehen, sondern führt vielmehr eine neue Einteilung ein: Platons Anthropologie lasse sich physiologisch (d. h. deskriptiv) sowie pragmatisch (d. h. normativ) verstehen. Der Mensch sei also zwar faktisch eine psychophysische Entität, solle es dabei aber nicht belassen, sondern sich stets auf die Vernunft ausrichten und sich so soweit wie möglich Gott annähern. 396 Eine solche Interpretation erscheint zunächst sehr plausibel, wenn man die ständigen Aufforderungen nach einer Herrschaft der Vernunft bedenkt, die sich durchs ganze Korpus ziehen (vgl. z. B. Rep. IV 441e4–7, Leg. III 689b2–3). Allerdings ergeben sich Probleme bei bestimmten Aussagen zur Vernunft oder zum vernünftigen Seelenteil: Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass wir uns auf die Vernunft ausrichten sollen. Das impliziert aber nicht notwendig, dass wir essentiell ein Gesamtwesen aus Körper und Seele sind und uns, indem wir uns innerhalb unserer Seele auf die Vernunft ausrichten, so erst die Vernunft zu unserer eigentlichen Identität machen. Nach einer solchen Argumentation müsste immer der herrschende Seelenteil unsere Identität ausmachen, beim Tyrannen bestünde diese dann im unbegrenzten Begehren. Doch wie kann Platons Sokrates dann davon sprechen, dass eine solche Person versklavt sei und ihren Begierden unterworfen (vgl. Rep. IX 573b6–8, 574e2–575a6, c4–d1)? Auch wird in den Nomoi deutlich, dass es stets die Vernunft ist, mit der wir uns identifizieren und gerade nicht Lust oder Zorn – und das innerhalb eines deskriptiven Kontextes, wenn es darum geht, dass wir gegenüber Lust und Zorn stärker oder schwächer sein können, gegenüber der Unwissenheit aber nicht (vgl. Leg. IX 863d6–e1). Wenn die Ver396

Vgl. Müller 2015, S. 94–96.

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nunft lediglich als ein fremder Teil in uns besteht, wie das bei Lust und Zorn der Fall ist, so könnten wir auch hier davon sprechen, dass die den logismos betreffende Krankheit, die Unwissenheit, als ein Fremdes in uns besteht, zu dem wir uns in ein hierarchisches Verhältnis setzen können. Ich möchte hier also nicht abstreiten, dass der Körper in einem diesseitigen Kontext durchaus eine positive Rolle spielen kann. Wogegen ich mich aber ausspreche, ist eine solche Bewertung in umfassendem Sinne: Betrachtet man die Seele im Gesamtkontext, d. h. in ihrer Verbindung mit einem Körper wie auch außerhalb eines Körpers im Jenseits, so scheint die Option ohne Körper doch immer die bessere zu sein. Der Körper kann uns zwar bei der Erziehung zu den Tugenden helfen und ist sogar vonnöten; allerdings geht es dabei immer um Tugenden wie die Tapferkeit oder die Besonnenheit – Tugenden der irrationalen Seelenteile. Und genau das sind die Seelenteile, die erst durch die Verbindung mit einem Körper entstehen 397; Seelenteile, die uns erst die Probleme bereiten, mit denen wir dann im Leben zu kämpfen haben und für deren Disziplinierung durchaus deren Verursacher, der Körper, hilfreich oder gar notwendig sein kann. Der Körper kann uns also im Leben helfen, mit ihm selbst klarzukommen und Probleme, die sich durch ihn erst ergeben, einzudämmen. Meine Interpretation hat sich bis hierhin jedoch nur auf die unvernünftigen Seelenteile bezogen. Im Timaios gibt es aber, worauf auch Müller hinweist, eine Textstelle, die den Körper als Erkenntnisinstrument und -hilfe beschreibt. Erst das Sehvermögen, durch das wir das All betrachten können, habe uns nämlich die Philosophie verschafft (vgl. Tim. 47a1–b2). 398 Aber auch hier gilt: Durch den Körper wird es erst möglich, dass Probleme beim Erlangen der Erkenntnis aufkommen können, da die kreisförmigen Umläufe der Vernunftseele bei der Geburt durcheinandergebracht wurden. Es ist richtig, dass durch die runde Form des Kopfes uns die Möglichkeit gegeben wird, diese Umläufe wieder in Ordnung zu bringen (durch Erziehung und andere Maßnahmen). Aber immer scheinen diese angeblich po397 Zumindest scheint dies klarerweise im Timaios der Fall zu sein (vgl. Tim. 42e6– 44b1, 69c5–71a3), der nach der klassischen Einteilung zum Spätwerk gehört (vgl. Söder 2009, S. 22–25), um das es hier ja primär geht. Auch die Politeia deutet auf eine solche Interpretation hin (vgl. Rep. X 611b9–612a6). Auf Probleme, die sich mit dem Phaidros ergeben, gehe ich an dieser Stelle nicht ein. 398 Vgl. Müller 2015, S. 69 f.

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Zur Rolle der Strafe

sitiven Eigenschaften des Körpers ein zweiter Schritt zu sein: Zuerst richtet der Körper einen Schaden an, der dann mithilfe desselben Körpers weitgehend – aber im Diesseits nie vollständig – beseitigt oder aufgehoben werden kann. Seine Rolle als ursprünglicher Störfaktor verliert der Körper damit auch im Spätwerk nicht. 399

2.4 Zur Rolle der Strafe Dass die Strafe einen bedeutenden Aspekt der platonischen Philosophie darstellt, wird in allen Werkphasen ersichtlich (vgl. Gorg. 480a1–481b5, 523a1–527e7, Rep. III 408d7–410a6, X 614b2–621d3, Leg. IX–X) 400, in besonderem Maße aber in den Strafrechtsbestimmungen von Buch IX der Nomoi. Inwieweit Strafe aber konkret mit Charakterformung und -änderung zu tun hat und ob in verschiedenen Kontexten gar dieselben oder ähnliche Wirkungen erzielt werden sollen oder verschiedene Konzeptionen über die Sinnhaftigkeit von Strafe vorliegen, lässt sich erst anhand einer detaillierten Textanalyse entsprechender Passagen feststellen. Dazu sollen in diesem Unterkapitel zunächst die Positionen der Forschung dargestellt werden, um in einem zweiten Schritt meine eigene Interpretation deutlich zu machen, die die zwei Hauptgründe für die Einführung und Thematisierung von Strafe in zwei Aspekten sieht: Abschreckung und, wo möglich, Charakterverbesserung. Letztere besteht darin, die Seelenvermögen aus ihrer Unstimmigkeit in einen inneren Einklang zu bringen, was gleichbedeutend mit einer Beseitigung von Unwissenheit ist (Harmoniethese). Somit kommt der Strafe neben der Erziehung eine wichtige Rolle zu, da auch sie in der Lage ist, den Charakter auch dann noch positiv zu verändern, wenn die Erziehung nichts mehr ausrichten kann. Schaut man sich die verschiedenen Meinungen zu Sinn und Zweck der Strafe bei Platon an, so lassen sich weniger große Hauptinterpretationslinien, sondern eher viele verschiedene pointierte Interpretationsvorschläge ausmachen:

399 Für eine negative Haltung zum Körper vgl. auch Phdr. 250c4–6, nach der wir nach Art einer Auster an den Körper gebunden sind. 400 Vgl. außerdem Stalley 1995a, 1995b, 1996 und 1999, der die Ausführungen zu den Strafbestimmungen in Protagoras, Politeia, Timaios und Nomoi untersucht hat.

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Humanitarismus Diese Position wird von Mary Margaret Mackenzie vertreten, die Platons Strafrecht selbst als »humanitarian theory« und »reformative penology« 401 bezeichnet. Der Hauptzweck der Strafe liegt ihrer Meinung nach vor allem in der Besserung der kriminellen Seele, die aufgrund der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns völlig frei von Schuld sei. 402 Als Mittel, um den Zweck der Besserung zu erreichen, nennt sie Therapie, Konditionierung und Erziehung; die Abschreckung hingegen stellt einen weiteren Aspekt dar, den sie in den Bestrafungen der Unheilbaren als gegeben sieht. In den Jenseitsmythen nimmt ihr zufolge die Strafe noch eine weitere Funktion an, nämlich die der Vergeltung oder ausgleichenden Gerechtigkeit, die aber in Konflikt zur Besserungsfunktion der Strafe stehe. 403 Medizinische Sicht Neben Mackenzie hat sich auch Trevor J. Saunders ausführlich mit dem Strafrecht beschäftigt. Er vertritt eine streng medizinische Sichtweise, d. h. Verbrecher sind im wörtlichen Sinne krank und durch Strafen zu heilen. Daraus ergibt sich, dass der Zweck der Strafe in der Besserung oder Heilung von Verbrechern besteht; darüber hinaus nennt Saunders ebenfalls Wiedergutmachung, aber auch Befriedigung des Geschädigten. Neben der Besserung des Verbrechers selbst werde durch die Strafe zudem die Besserung der Gesellschaft als Ziel angestrebt. Vergeltung erkennt Saunders im Jenseitsmythos der Nomoi. Im Gegensatz zu Mackenzies humanitaristischer InterpretaMackenzie 1981, S. 205. Die Jenseitsmythen stellen ihr zufolge allerdings ein anderes Bild dar; Mackenzie spricht von einer persönlichen Verantwortung der Seelen (vgl. 1981, S. 229). 403 Vgl. Mackenzie 1981, S. 204–207, 225–239. Sie nennt auch Wiedergutmachung als Zweck der Strafe (vgl. S. 207), allerdings scheint mir dies nicht unter die Kategorie der Bestrafung zu fallen, da Bestrafung nur bei einer ungeordneten Seele Sinn ergibt, Wiedergutmachung aber unabhängig davon auch bei einer bloßen Schädigung geleistet werden muss (vgl. Leg. IX 862b1–c4). Später schreibt Mackenzie aber auch, dass Wiedergutmachung »merely a rectificatory process preliminary to punishment« (S. 208) sei. Schöpsdau sieht den Zweck der Strafe ebenfalls hauptsächlich in einer »moralische[n] Besserung des Täters« (2004, S. 58), im Falle der Todesstrafe auch in der Generalprävention. Allerdings sieht er zumindest auf theoretischer Ebene den Aspekt der Vergeltung gerade als Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zur athenischen Gesellschaft, wo dieser im Gegensatz zu den platonischen Ausführungen beträchtlichen Raum einnahm. Bei der Analyse der Strafpraxis erkennt Schöpsdau aber auch den Strafzweck der Vergeltung an (vgl. 2004, S. 56–58, 65–69). 401 402

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tion geht er zumindest in der Strafrechtstheorie von einem Utilitarismus aus und sieht die platonische Strafrechtstheorie als kohärentes Ganzes. 404 Anti-Exzess Brian Calvert hingegen, der sich in seiner Studie auf die Todesstrafe konzentriert hat, entscheidet sich nicht für eine der Varianten, sondern sieht den Sinn der Strafe in einer Kombination aus Abschreckung, Besserung und Vergeltung. Als Grund für die Beibehaltung der Todesstrafe sieht er den Humanitarismus, da der Tod für die Unheilbaren Platon zufolge nun einmal die bessere Option sei. Calverts Lesart betont vor allem die Rolle der Vergeltung, die sich keineswegs auf die Jenseitsmythen beschränke und als Sicherheit diene, dass keine zu extremen Strafen angewandt werden. 405 Kommunikationsthese Richard F. Stalley wendet sich explizit gegen Saunders’ medizinische Sicht 406 und plädiert für die Einbeziehung des sozialen und politischen Kontextes: Strafe soll ihm zufolge die Werte der Gesellschaft vermitteln und kommunizieren und bestehe in einer Kombination aus Abschreckung, Erziehung und Heilung. 407 Nicht-Idealität Lewis Trelawny-Cassity hingegen bezieht die Dialogebene stärker mit ein und sieht das Ergebnis des theoretischen Strafrechtsexkurses als nicht-ideal an. Es bezeichne vielmehr einen Kompromiss zwischen der Theorie des Atheners und der praktischen Akzeptanz bei Kleinias

Vgl. Saunders 1994, S. 144 f., 164–187, 349–356. Vgl. Calvert 1997. Es sei notwendig, »to lay down some fixed penalties which are to serve as upper limits in order to prevent the imposition of penalties that could be out of all proportion to the nature of the offenses« (1997, S. 258). Bei einer rein utilitaristischen oder humanitaristischen Anwendung von Strafe hingegen gebe es keine obere Grenze (vgl. ebd., S. 258). 406 So sei der einzige Grund, einen Verbrecher als krank zu bezeichnen, dass er ein Unrecht begangen habe. Die Unordnung der Seele (»a distortion of the soul’s proper functioning«, S. 487) sei dabei nicht wörtlich als Krankheit zu nehmen (vgl. Stalley 1995b, S. 486 f.). 407 Vgl. Stalley 1995b. Strafe sei »an integral part of a complex system of words and deeds by which the legislator seeks to convey to the citizens the values by which they are to live their lives.« (S. 482) 404 405

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und Megillos; der Athener macht also Zugeständnisse und ändert sein Ideal dahingehend ab, dass es in der Bevölkerung Magnesias auch akzeptiert und angenommen wird. In der Theorie plädiert der Athener für die sokratische Sicht von Strafe, in der Praxis aber werde weitgehend timôria angewandt. 408 Humanitarismus für die Menge Wie Mackenzie scheint mir eine Strafrechtstheorie und -gesetzgebung, die sich zum Ziel setzt, verbrecherische Individuen zu bessern, am plausibelsten. Um den platonischen Textpassagen gerecht zu werden, ist es aber nötig, diese Lesart weiter zu differenzieren und nicht lediglich die unheilbaren Seelen als Ausnahmen zu deklarieren, die der Abschreckung dienen. Um wen geht es genau, wenn Platons Dialogsprecher von Seelenbesserung sprechen oder von der Verhängung der Todesstrafe oder Verbannung? M. E. kann immer dann auf eine Besserung der Seele gehofft werden, wenn es sich um durchschnittlich oder unterdurchschnittlich Begabte handelt, die eine Unrechtstat begangen haben. Denn wie ich in Kap. 2.2 versucht habe deutlich zu machen, haben nur intellektuell Begabte die Möglichkeit, ihre Seele in unheilbares Chaos zu stürzen. Wenn diese Argumentation stimmt, ergeben sich dafür nun weitreichende Konsequenzen für das platonische Strafrecht: Strafen, die als Ziel die Seelenbesserung haben, können nur durchschnittliche Menschen – und damit den Großteil der Bevölkerung Magnesias – betreffen. Intellektuell begabte Menschen hingegen müssen entweder gar nicht erst geheilt werden, da sie zu Philosophen geworden sind, oder sind unheilbar, da sie ein tyrannisches Leben führen. Für diese kleine Gruppe an Menschen werden zwar auch Strafvorkehrungen getroffen, allerdings hauptsächlich zum Zweck der Abschreckung. Humanitär im echten Sinne sind diese Strafmaßnahmen höchstens indirekt, da sie andere Menschen davon abhalten, ihre Seele so weit verderben zu lassen. Es ist richtig, dass auf diese Weise die Verbrecher immerhin nicht mehr dazu kommen, weitere Unrechtstaten zu begehen, und somit ihrer Seele nicht noch weiteren Schaden zufügen. Allerdings würde ich diese Tatsache nicht so positiv lesen wie Calvert, da diese Art der Bestrafung, wenn man die medizinische Metapher anwenden will, nicht mehr therapeutisch-kurativ, sondern im weitesten Sinne

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Vgl. Trelawny-Cassity 2010.

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palliativ ist: Die Seele wird nicht noch weiter zerstört. Folterqualen im Jenseits werden solche Seelen aber so oder so erleiden. Zur Untermauerung dieser These müssen zunächst die relevanten Textpassagen aufgeteilt werden: Um den Zweck von Strafe und die Rolle, die der Charakter dabei spielt, zu klären, ist es vonnöten, einerseits zwischen Diesseits (2.4.1) und Jenseits (2.4.2) zu unterscheiden 409 und andererseits innerhalb der Bestimmungen für das Diesseits zwischen Strafrechtstheorie (2.4.1.1), die sich im Exkurs zu Beginn von Nomoi IX findet, und Strafpraxis (2.4.1.2), d. h. der entsprechenden Anwendung in den Gesetzen, zu trennen, da es nicht als gegeben angesehen werden kann, dass die Praxis der Theorie vollständig entspricht. Daher wendet sich der hier vorliegende Abschnitt zunächst den theoretischen Ausführungen des Atheners zu. Dabei wird deutlich werden, dass Unrechtstaten eine ungeordnete Seelenhaltung vorausgeht und dass solche Taten immer mit Unwissenheit 410 einhergehen (Intellektualismusthese), und zwar mit einer solch starken Form von Unwissenheit, dass nur noch Strafe als Mittel zur Charakterverbesserung geeignet ist – oder, wenn es sich um die äußerste Form der Unwissenheit handelt, Strafe nur noch zur Abschreckung dient.

2.4.1 Diesseits 2.4.1.1 Strafrechtstheorie (Leg. IX 859b6–864c8) Die Thesen und auch die Logik dieses Strafrechtsexkurses innerhalb der Nomoi sind nicht ohne Weiteres klar ersichtlich und entsprechend auch in der Forschung umstritten, insbesondere, was das Verhältnis zu früheren Dialogen angeht. Der Athener macht es sich hier zur Aufgabe, zu erklären, wie die sokratische These vom unfreiwilligen Unrechttun mit der juristisch scheinbar notwendigen Differenzierung von freiwilligen und unfreiwilligen Unrechtstaten zu vereinbaren ist (vgl. Leg. IX 860d5–861c6). Die Hauptstreitpunkte unter den Forscherinnen und Forschern bestehen (1) in der Frage, ob die These von der Unfreiwilligkeit des Unrechts überhaupt beibehalten 409 Vgl. Mackenzie 1981, Kap. 13, wo Platons Ansichten zur Strafe separat im Kontext der Jenseitsmythen abgehandelt werden. 410 Auch wenn die Unwissenheit nicht der ausschlaggebende Motivator sein muss (s. u.).

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wird und wenn ja, ob oder wie der Athener das Problem mit der juristischen Strafrechtspraxis löst. 411 Ein weiterer unklarer Punkt besteht in (2) den drei Ursachen von Fehlhandlungen (Lust, Zorn, Unwissenheit): Es ist umstritten, ob die Unwissenheit, die sich von den anderen beiden Ursachen abhebt, als Ungerechtigkeit anerkannt werden kann oder nicht. 412 Um mehr Klarheit in diese Aspekte zu bringen, muss eine problematische Textstelle am Ende dieser Passage näher untersucht werden (vgl. Leg. IX 863e5–864b4) und in Zusammenhang zur bereits erarbeiteten Definiton der amathia gebracht werden (vgl. Kap. 2.3.2). Dabei möchte ich zeigen, dass weiterhin an der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns festgehalten wird und die Ursache für Ungerechtigkeiten die in der Seele wohnende Unwissenheit ist. Unwissenheit ist dabei klar als Ungerechtigkeit zu sehen, da sie eine innerseelische Unordnung impliziert, aus der verbrecherische und damit ungerechte Taten hervorgehen, die bestraft werden müssen, da nur so eine Besserung des Charakters möglich ist. Zu (1): Warum kommt überhaupt die Unfreiwilligkeitsthese 413 ins Spiel? Der Grund wird zu Beginn der Passage ersichtlich, wenn der Athener bemerkt, dass die bereits erarbeiteten Gesetze, wie z. B. das Gesetz zum 411 Für die Beibehaltung des Intellektualismus sprechen sich z. B. Michael O’Brien (1957), Trevor Saunders (1994, v. a. S. 142–150) und Christoph Horn (2004) aus. Für eine Abkehr vom Intellektualismus vgl. Görgemanns 1960 (S. 135–140, 161–165; man begehe Unrecht zwar weiterhin unfreiwillig, allerdings nicht notwendig aus Unwissenheit, sondern auch aus der Unbeherrschtheit der Triebe heraus), Müller 1968 (S. 50–59) und Rotondaro 2000. 412 Zu den Forschern, die die agnoia nicht unter den Ungerechtigkeiten sehen wollen, zählen Grote 1867 (S. 396 f.), Ritter 1896 (S. 282 f.), Hackforth 1946, Müller 1968, Grube 1980 (S. 228 f.), Stalley 1983 (zumindest Taten aus »ignorance of the particular« (S. 159) sind nicht ungerecht, vgl. ebd., S. 159), Benardete 2000 (S. 269 f.) und Schöpsdau 1984, 2011. Schon O’Brien 1957, der u. a. Grotes, Ritters und Grubes Interpretationen diskutiert, spricht sich aber dagegen aus und plädiert dafür, dass auch Unwissenheit als Ungerechtigkeit gesehen werden muss. So auch später Saunders (vgl. 1994, S. 147–149); Horn 2004 diskutiert zwar das Problem nicht, geht aber ebenfalls von dieser These aus. Schütrumpf 2013 zählt Unwissenheit zwar nicht zum Unrecht, meint aber, dass durch die Verwendung von hamartêmata hier vielleicht »die negativen Möglichkeiten des Rationalen nicht völlig erfasst [wurden]; denn nach Lg. XII 957e2 ist Unwissenheit (amathia) ein Wesenszug eines schlechten Mannes, der sogar völlige Ungerechtigkeit besitzen kann, sie kennzeichnet den schlechten Mann, dem die Eigenschaft der Ungerechtigkeit anhaftet.« (2013, S. 202) 413 Ich übernehme hier die Terminologie von Horn 2004.

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Tempelraub, in Widerspruch zur eigenen Theorie geraten könnten. Sowohl die Menge als auch der Athener sind durch eine bestimmte Unstimmigkeit gekennzeichnet: Bei der Masse der Menschen betrifft die Meinungsverschiedenheit die Identität vom Schönen und vom Gerechten, die einerseits zunächst bejaht wird, andererseits aber verneint, wenn es um die Bewertung von Strafen geht. Diese können in der Ansicht der Menge hässlich sein und dennoch zugleich gerecht (vgl. Leg. IX 859d3–860c2). Beim Athener hingegen drohen die aufgestellten Gesetze zu etwas anderem in Widerspruch zu geraten, nämlich zur von ihm postulierten Unfreiwilligkeitsthese (vgl. Leg. IX 860c4–861a2). Daher versucht er ab 861a5, nachdem er nachdrücklich betont hat, dass er an dieser These festhalten werde, sie mit der Strafgesetzgebung kompatibel zu machen, da er entschlossen ist, trotzdem weiter Gesetze zu geben (vgl. Leg. IX 860e6–7). Er erinnert Kleinias und Megillos zunächst an die Verwirrung, die hinsichtlich des Gerechten unter den Menschen herrscht (vgl. Leg. IX 861a8–10). Das Vorhaben des Atheners besteht also für den Rest der Passage einerseits darin, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit voneinander zu trennen und zu definieren. Andererseits soll aber auch innerhalb der Unrechtstaten die Differenzierung in zwei Typen beibehalten werden; das Unterscheidungskriterium kann dabei nicht die Freiwilligkeit sein, sondern »etwas anderes« (vgl. Leg. IX 861b1– c6). Der Athener begründet dies damit, dass er an der These vom unfreiwilligen Unrechttun unbedingt festhalten, zugleich aber aufzeigen wolle, dass es zwei verschiedene Typen von Unrechtstaten gibt: Von diesen beiden scheint mir nun das eine schlechterdings unmöglich, nämlich die Behauptung [d. i. vom unfreiwilligen Unrechttun] aufzugeben, da ich überzeugt bin, daß sie wahr ist – denn das entspräche nicht meiner Art und wäre auch nicht fromm –; inwiefern sie aber zwei verschiedene Dinge sind, wenn sie sich nicht durch das Unfreiwillige (tôi te akousiôi) und Freiwillige (tôi hekousiôi), sondern durch etwas anderes (allôi tini) unterscheiden, das müssen wir, so gut es geht, zu klären versuchen. (Leg. IX 861d2–7)

Allein durch die doppelte Bekräftigung der Unfreiwilligkeitsthese (vgl. Leg. IX 860d5–e3, 861c7–d6) wird klar, dass der Athener mindestens äußerlich auf keinen Fall davon abrücken will. Wie er diese Position dann aber inhaltlich mit dem Strafrecht vereinbaren will, muss im Folgenden untersucht werden. Denn wie kann man Verbrecher für ihre Taten zur Rechenschaft

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ziehen und vor Gericht verurteilen, wenn sie durch die Unfreiwilligkeit ihres Tuns im strengen Sinne doch gar nicht verantwortlich gemacht werden können? Das Problem, dass Verbrecher unfreiwillig handeln und ihnen daher vielleicht jegliche Verantwortung und Schuld für ihre Taten abgesprochen werden müsste, hat sich in Bezug auf den Körper bereits im Timaios gestellt, wo festgestellt wurde, dass eine solche Zurückweisung zumindest in absolutem Sinne nicht haltbar ist (vgl. Kap. 2.3.2). Da der Athener durch seine Strafrechtstheorie aber eine praktikable Strafrechtspraxis ermöglichen möchte, muss auch er die Position vertreten, dass Verbrecher für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können, und versucht, dies im weiteren Argumentationsverlauf durch eine Unterscheidung zwischen Schädigung und Ungerechtigkeit aufzuzeigen, die die alte (falsche) Unterscheidung von freiwilligen und unfreiwilligen Unrechtstaten ablösen soll. Gelingt ihm das aber? Zunächst thematisiert der Athener die Schädigungen, die freiwillig oder unfreiwillig erfolgen können. Sind sie unfreiwillig, werden sie nicht als Ungerechtigkeit eingestuft und das Gerichtsurteil dient nur zur Sicherung der Wiedergutmachung des Schadens, da der Täter dabei keine böse Absicht verfolgte. Sind die Schädigungen aber freiwillig, so handelt es sich hierbei nicht nur um eine Schädigung, sondern zusätzlich auch um eine Ungerechtigkeit, da bei dieser Unrechtstat offensichtlich eine böse Absicht oder Gesinnung im Hintergrund stand (vgl. Leg. IX 862a2–c4). Das Entscheidungskriterium, ob die begangene Tat nun lediglich eine Schädigung darstellt oder doch zugleich eine Ungerechtigkeit, stellt also der Charakter dar: Denn in der Regel, meine Freunde, darf man doch nicht, wenn jemand einem anderen etwas von seinem Besitz gibt oder wenn er ihm umgekehrt etwas wegnimmt, so etwas einfach für gerecht (dikaion) oder ungerecht (adikon) erklären; sondern ob jemand in gerechter Gesinnung und Denkweise (êthei kai dikaiôi tropôi) einem anderen nützt oder schadet, darauf muß der Gesetzgeber schauen, und auf diese beiden Dinge muß er den Blick richten: auf die Ungerechtigkeit und auf den Schaden (pros te adikian kai blabên), […] (Leg. IX 862b1–6)

Um zu bestimmen, ob eine Handlung ungerecht ist, ist somit die äußere Handlung völlig irrelevant, nur auf die innere Haltung kommt es an. 414 Der Athener sagt nicht explizit, dass freiwillige Schädigun414 Wie diese genau bestimmt werden kann, ist nicht immer klar. Vor allem für die Bestimmung des Strafmaßes ist dies jedoch von höchster Bedeutung, da die Feststel-

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gen mit Ungerechtigkeiten gleichzusetzen sind; durch die Argumentation, dass unfreiwillige Schädigungen aber auf keinen Fall Ungerechtigkeiten darstellen und für die Unterscheidung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit der Charakter entscheidend ist, bleiben für die Ungerechtigkeit nur folgende zwei Fälle übrig: (1) die Ungerechtigkeit, die sich auch durch eine äußere Schädigung bemerkbar macht – dies muss die zweite mögliche Art von Schädigungen sein, die freiwillige –, (2) die Ungerechtigkeit, die sich nach außen hin überhaupt nicht als Schädigung, sondern als Wohltat oder Nutzen manifestiert – aber aufgrund der schlechten inneren Verfasstheit als ungerecht eingestuft wird. Damit kommen wir zum Problem der Bedeutung von »freiwillig« und »unfreiwillig«: Ganz offensichtlich gibt es freiwillige Schädigungen, die – wie oben gezeigt – alle zugleich Ungerechtigkeiten darstellen. Ungerechtigkeiten aber sind immer unfreiwillig, sodass man zu dem Schluss kommen muss, dass freiwillige Schädigungen zugleich unfreiwillige Ungerechtigkeiten darstellen. Wie ist dies zu verstehen? Zunächst könnte man auf die Idee kommen, dass eben nur die äußerlich ausgeführte Handlung freiwillig erfolgt, die innere schlechte Seelenordnung aber nicht gewollt sein kann und in diesem

lung des Grades an Ungerechtigkeit über Leben und Tod des Angeklagten entscheidet. Um herauszufinden, ob es sich um noch heilbare oder bereits gänzlich unheilbare Charaktere handelt, scheint der Athener des öfteren die äußeren Handlungen als Anhaltspunkte zu nehmen, sodass bestimmte schreckliche Verbrechen nur von unheilbaren Charakteren begangen werden können. Absolute Sicherheit über die innere Verfasstheit des Verbrechers bringt dies aber nicht (vgl. z. B. Leg. IX 853d5–855a2, XII 941d4–942a4). So genügt auch Brian Calvert die Methode, über die äußere Handlung auf die innere Charakterhaltung zu schließen, in keiner Weise: »[…] the criteria Plato offers for distinguishing the curable from the incurable are far from satisfactory, and don’t justify our putting any great trust in the superior competence of the judges.« (1997, S. 251) Schöpsdau referiert in Bezug auf die Verletzungen, die im Zorn zugefügt werden, die Meinung Winfried Knochs, der die Schwere einer Verletzung als Hinweis für die Ungerechtigkeit einer Seele ansieht (vgl. Schöpsdau 2004, S. 68 f.; Knoch 1960, S. 86). Dem muss aber widersprochen werden, da der Athener im Strafrechtsexkurs explizit klarmacht, dass auch bloße Schädigungen, die ja gerade keine Ungerechtigkeiten darstellen, weder in Zahl noch Größe den freiwilligen Schädigungen (d. h. den Ungerechtigkeiten) in irgendetwas nachstünden (vgl. Leg. IX 861e8–862a1). Seth Benardete meint, Unheilbarkeit könne wahrgenommen werden »in only two or three ways: either the magnitude of the crime by itself, the repeat offenses of the criminal, or a combination of both determines whether he is fit to live or not.« (2000, S. 267) Seelen im Wandel

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Sinne unfreiwillig ist. Eine solche Interpretation vertritt beispielsweise Trevor Saunders. 415 Diese Lesart ist aber durch eine vorherige Aussage des Atheners zurückzuweisen: Genau diese Unterscheidung von äußerer Handlung und innerer Haltung referiert der Athener bereits zu Beginn der problematischen Passage und macht deutlich, dass er nicht die Position vertrete, dass eine Handlung freiwillig ausgeführt werden kann, die innere Seelenhaltung dabei aber unfreiwillig ist 416: Denn auch ich behaupte, daß alle nur unfreiwillig Unrecht tun; und mag auch jemand aus Rechthaberei und Geltungssucht behaupten, daß die Ungerechten zwar unfreiwillig so seien, daß aber viele freiwillig ungerecht handelten, so ist doch meine Behauptung jene und nicht diese. (Leg. IX 860d9–e3) 417

Der Athener verweist hier also auch explizit auf die unfreiwillige äußere Handlung. Eine andere Position vertritt Raimondo Porcheddu, der die Stelle allerdings nicht ausführlich diskutiert, sondern direkt folgendermaßen auslegt: Seiner Meinung nach ist es der Charakter, anhanddessen sich Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit unterscheiden lassen. 418 Wie dies genau gemeint ist, wird jedoch nicht ganz klar. Er fährt damit fort, dass jemand, egal wie unfreiwillig die Schädigung war, dennoch bestraft werden muss, wenn die Schädigung aus einer ungerechten Gesinnung heraus geschehen ist und führt als Belegstelle Leg. IX 862a an. Die umgekehrte Aussage sieht er in Leg. IX 864a gegeben. 419 Das kann nur so zu verstehen sein, dass, wenn jemand mit gerechter Gesinnung einen Schaden verursacht, dies nicht zu verurteilen ist (abgesehen von der Forderung nach Wiedergutmachung). Auch wenn ich ihm in der Interpretation der zweiten Stelle grundsätzlich zustim415 Vgl. Saunders 1968, S. 423 f. Vgl. auch Stalley 1983, der dem widerspricht (vgl. S. 155). Serafina Rotondaro scheint in eine ähnliche Richtung wie Saunders zu gehen, wenn sie feststellt, dass »unfreiwillig« der adikia zugeordnet werde, die, wie sie betont, einen seelischen Zustand und keine Handlung meine (vgl. 2000, S. 49). 416 Dies bemerkt auch Müller (vgl. 1968, S. 56). Auch Stalley erwähnt die Stelle als mögliches Gegenargument (vgl. 1983, S. 155). 417 σύμφημι γὰρ ἄκοντας ἀδικεῖν πάντας – εἰ καί τις φιλονικίας ἢ φιλοτιμίας ἕνεκα ἄκοντας μὲν ἀδίκους εἶναί φησιν, ἀδικεῖν μὴν ἑκόντας πολλούς, ὅ γ’ ἐμὸς λόγος ἐκεῖνος ἀλλ’ οὐχ οὗτος – […] 418 »È il carattere (ἦθος) che può essere giusto o ingiusto ed è in rapporto al carattere che si definiscono il volontario e l’involontario.« (Porcheddu 1980, S. 49) 419 Vgl. ebd., S. 49 f.

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men würde, muss diese Passage später noch genauer diskutiert werden, da sie erhebliche Interpretations- und Übersetzungsprobleme verursacht und somit bereits zahlreiche konkurrierende Lesarten hervorgebracht hat (s. u.). Das Problem von Porcheddus Lesart sehe ich allerdings eher in der ersten Textstelle. Der Athener spricht nämlich gerade nicht davon, dass es keine mildernden Umstände für denjenigen geben dürfe, der unfreiwillig einen Schaden verursache, solange seine Gesinnung ungerecht sei. Er geht vielmehr vom Gegenteil aus: Wenn jemand einen anderen unfreiwillig schädigt, dann ist diese Tat gar nicht erst als Ungerechtigkeit einzustufen, d. h., er behandelt hier gar nicht den Fall der ungerechten Gesinnung: Ich jedenfalls behaupte nicht, lieber Kleinias und Megillos, wenn jemand einen andern schädigt, ohne es zu wollen, sondern unfreiwillig, daß er dann ein Unrecht begehe, allerdings unfreiwillig, und ich werde auch nicht in der Weise Gesetze geben, daß ich dies als unfreiwillige Unrechtstat in meinem Gesetz einstufe, sondern ich werde eine derartige Schädigung sogar überhaupt nicht als Ungerechtigkeit ansehen, gleichgültig ob sie jemanden schwerer oder leichter trifft. Oft aber werden wir, wenn einem ein nicht rechtmäßiger Nutzen verschafft wird, vom Urheber dieses Nutzens sagen müssen, daß er ein Unrecht begehe – jedenfalls wenn sich meine Meinung durchsetzen sollte. (Leg. IX 862a2–b1) 420

Dem Athener geht es hier vielmehr darum, zu verhindern, dass voreilige Schlüsse gezogen werden in dem Sinne, dass ein Schaden sofort als unfreiwillige Unrechtstat eingestuft wird und dass bei einem Nutzen gar nicht erst in Erwägung gezogen wird, dass dieser vielleicht ungerecht sein kann. Diese Korrelation zwischen Schaden und Ungerechtigkeit und Nutzen und Gerechtigkeit besteht aber nicht notwendigerweise. Wenn der Schaden unfreiwillig erfolgt 421, ist eine Unge420 οὐ γάρ φημι ἔγωγε, ὦ Κλεινία καὶ Μέγιλλε, εἴ τίς τινά τι πημαίνει μὴ βουλόμενος ἀλλ’ ἄκων, ἀδικεῖν μέν, ἄκοντα μήν, καὶ ταύτῃ μὲν δὴ νομοθετήσω, τοῦτο ὡς ἀκούσιον ἀδίκημα νομοθετῶν, ἀλλ’ οὐδὲ ἀδικίαν τὸ παράπαν θήσω τὴν τοιαύτην βλάβην, οὔτε ἂν μείζων οὔτε ἂν ἐλάττων τῳ γίγνηται· πολλάκις δὲ ὠφελίαν οὐκ ὀρθὴν γενομένην τὸν τῆς ὠφελίας αἴτιον ἀδικεῖν φήσομεν, ἐὰν ἥ γ’ ἐμὴ νικᾷ. 421 Beispiele hierfür finden sich in den darin anschließenden Ausführungen zur Strafrechtspraxis: Lediglich Wiedergutmachung leisten – außer im Falle vom Tatbestand des Mordes – müssen beispielsweise Menschen, die im Falle von Kapitalverbrechen (Tempelraub, Verrat, Unterwanderung des Staates) zum Zeitpunkt der Tat in irgendeiner Weise körperlich beeinträchtigt waren (vgl. Leg. IX 864d3–e4: Beeinträchtigung durch Wahnsinn, Krankheit, sehr hohes oder kindliches Alter). Auch beim Mord scheint es bei diesen Fällen nicht um eine echte Bestrafung zu gehen, die auf Seelenbesserung aus ist, sondern lediglich um die Reinigung des Täters, der sich durch eine

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rechtigkeit bereits ausgeschlossen, der Verursacher hat aus einer guten Seelenverfassung heraus gehandelt; wenn der Nutzen unrechtmäßig ist, stellt er auch eine Ungerechtigkeit dar, da der Verursacher aus einer schlechten Seelenverfassung heraus gehandelt hat. Hier zeigt sich eine Verbindung zwischen äußerer Handlung und innerer Charakterhaltung, die auch in der Politeia auffällt (vgl. Kap. 3.3.3 und Rep. IV 442d10–443b6, 444c10–d2): Jemand mit gerechter und somit geordneter Seele handelt auch nach außen hin gerecht, wohingegen der ungerechte Mensch ungerechte Handlungen ausführt, auch wenn diese vielleicht nicht so erscheinen. Aber zurück zum Problem von freiwilligen Schädigungen und unfreiwilligen Ungerechtigkeiten. Christoph Horn, der sich ebenfalls solche Tat befleckt hat (für diesen Fall: vgl. Leg. IX 864e3–9; allgemein für andere Tötungen oder Mordfälle: vgl. Leg. IX 865a1–874d1). Im Normalfall würden solche Verbrechen hohe Strafen bis hin zur Todesstrafe nach sich ziehen. Allerdings scheint der Athener in diesen Sonderfällen den Akteuren ihre volle moralische Verantwortung und Schuldfähigkeit abzusprechen. Vgl. zu Fragen der Zurechnungsfähigkeit in der modernen Debatte auch Strawson 2008, der verschiedene Gruppen vorschlägt: (1) Akteure, die unbeabsichtigt einen Schaden verursachen, (2a) Akteure, die einmalig inkohärent zu ihrem eigentlichen Selbstbild oder ihrer eigentlichen moralischen Haltung handeln, (2b) moralisch unentwickelte oder psychologisch abnormale Akteure (Schizophrenie etc.). Während Repräsentanten von (1) immer noch als voll moralisch verantwortlich angesehen werden, ist dies bei (2b) ausgeschlossen (auf (2a) geht Strawson nicht näher ein) (vgl. S. 7–12). In den Nomoi scheinen ebenfalls (1) und (2b) von Bedeutung zu sein, wenn einerseits ziemlich geordnete Seelen einen Fehler begehen, der aber aufgrund ihrer prinzipiellen Ordnung zum Gerechten gezählt wird (vgl. Leg. IX 864a1–8), und andererseits Kinder und Greise offenbar von der moralischen Verantwortung ausgenommen werden (vgl. Leg. IX 864d3–e4). Psychologische Abnormalität wirkt bei Platon jedoch nicht per se strafmildernd. Auch wenn der Athener in Leg. IX 864d4 den Wahnsinn erwähnt, der dort neben Greisen, Kindern und Krankheit offensichtlich auch unter (2b) fällt, so verursachen allgemein gesprochen, wenn man die Überwältigung durch Lust oder Zorn als seelische mania ansieht (vgl. dazu auch Tim. 86b1–c3 und Kap. 2.3.2), seelische Krankheiten ja erst Verbrechen, die dann auch bestraft werden müssen, da nur so eine seelische Besserung eintreten kann. Die schwerste seelische Krankheit, die Unwissenheit, ist dabei in keiner Weise ausgenommen (vgl. Leg. X 886b7–8, 907d6–909d2). Vielleicht könnte man hier auch die verschiedenen Verwendungsweisen von mania nutzen, die Marke Ahonen darstellt: Ihm zufolge sei mania als seelischer Defekt nur eine von drei Verwendungsweisen dieses Wortes (die anderen seien mania als medizinisch-körperliche Krankheit und als göttliche Inspiration). Eine klare Zuordnung scheint für ihn aber nicht immer gegeben zu sein (vgl. Ahonen 2014, S. 35 f., 47). Aufgrund der Straffreiheit der mania, die in Leg. IX 864d4 erwähnt wird, scheint es mir plausibel, die mania dort als körperliche Krankheit zu sehen.

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mit dieser Textpassage auseinandergesetzt hat, kommt zu dem Schluss, dass es eine Unvereinbarkeit zwischen der – in seiner Terminologie – Unfreiwilligkeitsthese und dem Böswilligkeitsprinzip gibt, die der Athener hier nicht auflöst, d. h., einerseits will der Athener zeigen, dass man unfreiwillig Ungerechtigkeiten begeht, andererseits würde sich »der Unrechttuende bei klarer Einsicht in die Falschheit einer Handlungsoption für diese entscheide[n].« 422 Wir haben hier also wieder das Problem der Schuldzuweisung, das bereits oben benannt wurde. Ein Lösungsansatz besteht nun darin, zwei Ebenen oder Verwendungsweisen von »freiwillig« und »unfreiwillig« zu unterscheiden: So trennt beispielsweise Herwig Görgemanns juristische und ethische Freiwilligkeit: Ungerechtigkeit könne demnach zwar juristisch freiwillig geschehen, philosophisch gesehen sei sie aber unfreiwillig. Wegen der neuen Psychologie der Nomoi sei nun zusätzlich auch »triebhaft-zwanghafte[s] Handeln« 423 unfreiwillig. 424 Arthur Adkins nimmt ebenfalls zwei Ebenen an: Einerseits werde hekon von Platon wie in der normalen Sprache verwendet, andererseits gebe es den platonischen Gebrauch, der eine echte Freiwilligkeit bezeichne. 425 Auch Eckart Schütrumpf geht von zwei Dimensionen in der Verwendungsweise aus, die sich mit dem unterschiedlichen Bezug der Termini erklären lassen: So gebe es »einen kurzfristigen, vordergründigen, subjektiven sich auf den Ablauf der Tat beziehenden Bezug einerseits, und einen langfristigen, letztlich gültigen, objektiven andererseits.« 426 So beschreibe die erste Perspektive die unmittelbare Motivation zur Tat, die zweite hingegen die grundsätzliche Disposition der Seele. Nach dieser Erklärung können Tötungen geplant und freiwillig begangen werden, obwohl es sich sokratisch-platonisch gesehen um unfreiwillig begangenes Unrecht handelt. 427 Horn 2004, S. 181. Vgl. ebd., S. 181 f. Görgemanns 1960, S. 165. 424 Vgl. ebd., S. 162–165. Ihm zufolge gebe es hier in den Nomoi erstmals ein sittliches Wissen, das nicht den Übergang zur Praxis schaffe und bloß in der Theorie verweile. Daher ist er der Ansicht, dass man in den Nomoi nicht mehr von einem Intellektualismus sprechen könne (vgl. S. 157–159). 425 Vgl. Adkins 1960, S. 306. Weiss 2003 folgt ihm in dieser Ansicht (vgl. S. 49 f.). 426 Schütrumpf 2013, S. 205. 427 Vgl. ebd., S. 203–206. Allerdings lässt sich dann fragen, warum die Kategorie von »freiwillig« und »unfreiwillig« in der Strafrechtspraxis eine bedeutende Rolle zu spielen scheint, wenn doch die Bestrafung eindeutig auf Schütrumpfs zweite Dimension, 422 423

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Klaus Schöpsdau wiederum zeigt noch einmal eine andere Lösungsstrategie auf: Er versucht zwar, die sokratische These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns zu retten – was, wie oben gezeigt, durch die vielfachen Bekräftigungen des Atheners nur folgerichtig ist –, stellt allerdings zugleich die These auf, dass Unwissenheit einfach nicht als Ungerechtigkeit gesehen werden darf. Ungerecht sind nach seiner Lesart nur die Taten, die aus Lust oder Zorn heraus begangen werden. Diese begehen wir einerseits unfreiwillig, weil sie sich gegen unser wahres Wollen richten, andererseits aber freiwillig, weil Zorn und Lust prinzipiell beherrschbar sind – und gerade dieser zweite Aspekt mache solche Taten strafrechtlich relevant. 428 Bei der Unwissenheit hingegen sei das Gegenteil der Fall, da wir bei ihr nicht in ein Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis gelangen können wie bei Lust oder Zorn, sie also im Gegensatz zu den unteren Seelenkräften nicht beherrschbar sei. Taten aus Unwissenheit müssten also nach Schöpsdaus Deutung sowohl sokratisch wie auch strafrechtlich unfreiwillig geschehen. Mit seiner Lesart meint Schöpsdau u. a. das Problem der vorsätzlichen Tötungen zu lösen: Deren Ursache bestehe in der Überwältigung durch Lust oder Zorn; dennoch werden die Taten strafrechtlich als freiwillig angesehen – im sokratischen Sinne seien sie aber dennoch unfreiwillig. Das impliziert aber, dass wir für Taten aus Unwissenheit keine Verantwortung tragen, sodass diese keinerlei Strafe auf sich ziehen dürften. 429 Da Unwissenheit aber die schwerste Seelenkrankheit ist oder sich zu solch einer steigern kann (vgl. Tim. 88b5, Leg. III 689a7–9), aus der dann die größten Verbrechen hervorgehen (vgl. Leg. IX 863c1–d4), ist es durchaus plausibel, diese Verbrecher auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen – und dies geschieht auch beispielsweise bei den Atheisten in Buch X (vgl. Leg. X 907d6–909d2). 430 d. i. den Charakter, zielt (wie er auch selbst zuvor festgestellt hat, vgl. S. 198 f.). Zur Klärung dieser Frage und zum Verhältnis zwischen Strafrechtstheorie und -praxis im Allgemeinen vgl. Kap. 2.4.1.2. 428 Ob eine solche Argumentation aber gleichermaßen beim Zorn wie bei der Lust funktionieren kann, scheint fraglich: In der Strafrechtspraxis werden Taten aus Zorn als eine Art Mischklasse zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Verbrechen gesehen (vgl. Leg. IX 866e6–867b1). Aus Lust begangener Mord hingegen scheint als vollkommen freiwillige Handlung betrachtet zu werden (vgl. Leg. IX 869e5–8). 429 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 283–288. 430 Seth Benardete, der wie Schöpsdau Unwissenheit nicht als strafrechtlich relevant ansieht, meint mit Verweis auf die Atheisten, dass die der Unwissenheit zugestandene Immunität in der Praxis nicht überlebe (vgl. 2000, S. 270). Auch Schöpsdau stellt im

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Aber um das Problem der Unwissenheit näher zu besprechen, das, wie man sieht, eng mit dem Problem der Unfreiwilligkeit und des Charakterzustandes verwoben ist, muss zunächst die entsprechende Textstelle genauer betrachtet werden, um danach vielleicht eine Lösung für beide Probleme aufzuzeigen. Zu (2): Nachdem der Athener den Charakterzustand als Kriterium für Bestrafung festgelegt hat, erläutert er die Maßnahmen, die nach einer Verurteilung getroffen werden müssen. Wenn nur ein Schaden entstanden sei, sei lediglich Wiedergutmachung zu leisten; wenn dem aber eine ungerechte Gesinnung zugrundelag, muss der Täter dazu noch bestraft werden, sodass er, wenn möglich, von der Krankheit in seiner Seele, der Ungerechtigkeit, geheilt wird. Diese Bestrafung zielt auf die Belehrung des Täters; gleichzeitig scheint hier eine Art Konsequentialismus durchzuscheinen 431, wenn erklärt wird, dass das Ziel der korrekten inneren Einstellung (die Ungerechtigkeit zu hassen und das Gerechte zu lieben oder es wenigstens nicht zu hassen) das Entscheidende ist, die Mittel, die dort hinführen, aber willkürlich sein können, solange sie das erwünschte Ergebnis erzielen. 432 Unheilbaren hingegen bleibt nur die Todesstrafe (vgl. Leg. IX 862b5–863a2). Während diese Ausführungen weniger problematisch zu sein scheinen, ist das Problem der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit und der Schädigung und Ungerechtigkeit noch nicht gelöst, wie auch Kleinias bemerkt:

Allgemeinen Inkohärenzen zwischen Strafrechtstheorie und -praxis fest (vgl. 2011, S. 289–291). Er erwähnt zwar, dass amathia »[m]oralisch bedenklich« (ebd., S. 285) sei, entkräftet aber durch diese These seine Argumentation, da auch bei der amathia lediglich von hamartêmata die Rede ist (wie er auch selbst anmerkt, vgl. ebd., S. 285); zugleich legt er großen Wert auf die terminologische Unterscheidung von adikêmata/ adikiai und hamartêmata (vgl. ebd., S. 284–288). 431 Das erkennt auch Saunders, demzufolge »[t]he main emphasis […] forward-looking and utilitarian« sei (1994, S. 144 f.). 432 In der Interpretation dieses Satzes folge ich Stalley, der sich gegen Saunders wendet, da Stalley davon ausgeht, dass die positiven Anreize wie Geschenke nicht für die Verbrecher gedacht sind, sondern dass es insgesamt darum gehe, wie man in den Menschen eine richtige Charaktereinstellung hervorbringt (vgl. Stalley 1983, S. 142 f.; 1995b, S. 470, Fn. 6). Saunders und Schöpsdau hingegen sehen die Maßnahmen nur auf den Kriminellen bzw. potentiellen Verbrecher bezogen (vgl. Saunders 1994, S. 144 f.; Schöpsdau 2011, S. 299 f.). Seelen im Wandel

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Kl. Was du da sagst, scheint zwar irgendwie ganz angemessen; aber wir würden gern folgendes noch deutlicher dargelegt hören, nämlich den Unterschied zwischen der Ungerechtigkeit und der Schädigung, und denjenigen zwischen freiwillig und unfreiwillig, wie er unter diese gemischt ist. (Leg. IX 863a3–6) 433

Ob die folgenden Ausführungen des Atheners aber wirklich Licht ins Dunkel bringen, muss erst noch geprüft werden. Nachdem nun verschiedene Seelenzustände oder -teile dargelegt wurden – der Zorn (thymos), der als Mittel unvernünftige Gewalt anwendet; die Lust (hêdonê), die Überredung und gewalttätige Täuschung einsetzt; und die Unwissenheit (agnoia) –, wird bei der Darlegung der Unwissenheit schließlich deutlich, warum der Athener diese Einteilung vornimmt: Alle drei können als Ursache von Verfehlungen (hamartêmata) angesehen werden. Ein besonderes Problem hierbei stellt allerdings die Unwissenheit dar. Die folgende Definition des Atheners bereitet noch keine Schwierigkeiten: Die Unwissenheit selbst ist dreigeteilt; zunächst teilt sie sich in die einfache Unwissenheit und in die doppelte, wenn sich also jemand, der in Unwissenheit befangen ist, dennoch einbildet zu wissen. Diese doppelte Unwissenheit wird als amathia bezeichnet (vgl. dazu auch Kap. 2.3.2). Die amathia kann sich nun noch einmal aufteilen, da sie entweder mit Stärke und Macht oder mit Schwäche verbunden ist. Nur aus ersterer gehen die größten Verfehlungen hervor (vgl. Leg. IX 863a7–d4). 434 So weit, so gut. Probleme ergeben sich nun bei der Rekapitulation der drei Ursachen von Verfehlungen. Zunächst werden Lust und Zorn, also die beiden unteren Seelenvermögen, von der Unwissenheit abgegrenzt, indem wir uns zu den irrationalen Teilen in einer Art hierarchischem Verhältnis positionieren können, was für die Unwissenheit jedoch nicht möglich ist. Wir 433 ΚΛ. Ἔοικε μέν πως λέγεσθαι τὰ παρὰ σοῦ καὶ μάλα μετρίως, ἥδιον δ’ ἂν ἔτι σαφέστερον ἀκούσαιμεν ταῦτα ῥηθέντα, τὸ τῆς ἀδικίας τε καὶ βλάβης διάφορον καὶ τὸ τῶν ἑκουσίων καὶ ἀκουσίων ὡς ἐν τούτοις διαπεποίκιλται. 434 Vgl. auch Phil. 49a1–e8, wo die doxosophia, mit der an der hier besprochenen Nomoi-Textstelle die amathia bezeichnet wird, noch einmal aufgeteilt wird: Ist sie mit Schwäche verbunden, gehört sie ins Gebiet des Lächerlichen, mit Macht verbunden aber richtet sie Schaden an und ist feindlich und hässlich (echthra und aischra[!]). Dass hier als allgemeiner Begriff wieder agnoia verwendet wird, stellt m. E. kein Problem dar, da wir auch in der entsprechenden Passage der Nomoi (vgl. Leg. IX 863c1– d4) diesen Oberbegriff vorfinden. Speziell die amathia wäre dann die Einstellung, mit der die doxosophia gemeint ist.

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können stärker oder schwächer sein als die Lust oder der Zorn in uns; sie scheinen also als etwas anderes in uns zu existieren, wohingegen wir mit unserer Vernunft eher ein Identitätsverhältnis eingehen (vgl. Leg. IX 863d10–11). Die Vernunft scheint das zu sein, wodurch wir uns definieren. 435 Danach wird das Gemeinsame der drei Verfehlungsursachen genannt: Alle können uns in die Richtung entgegen unseres eigenen Wollens ziehen (vgl. Leg. IX 863e2–3). Das eigene Wollen scheint hier positiv besetzt zu sein, d. h., es muss das Wollen gemeint sein, welches wir in uns im Zustand der vollständigen Rationalität verspüren. 436 Die nun folgende Textpassage hat jedoch konkurrierende Interpretationen ausgelöst: Der Athener beginnt damit, dass er das Gerechte vom Ungerechten abgrenzen möchte und greift teilweise die oben genannten Aspekte wieder auf. Da die Passage vielen Interpretinnen und Interpreten Kopfzerbrechen bereitet hat und insgesamt nicht unbedingt klar zu durchschauen ist, sei sie hier einmal in voller Länge zitiert: Ath. Nunmehr kann ich dir das Gerechte und das Ungerechte, wie ich es verstehe, voneinander abgrenzen, ohne sie zu vermengen. Die von Zorn und Furcht, von Lust und Schmerz, von Neidgefühlen und Begierden in der Seele ausgeübte Tyrannei nenne ich, gleichgültig ob sie einen Schaden anrichtet oder nicht, in jedem Fall Ungerechtigkeit. Wenn dagegen die Vorstellung vom Besten, wie auch immer eine Stadt oder einzelne Individuen sich dessen Verwirklichung denken mögen, in den Seelen herrscht und jeden Mann ordnend durchdringt, dann muß man, auch wenn er einmal einen Fehler begeht, dennoch sagen, daß alles gerecht ist, was in dieser Überzeugung getan wird und was sich in jedem einzelnen einer solchen Herrschaft unterwirft, und daß es für das ganze Leben der Menschen das Beste ist, während jedoch von den meisten eine so entstandene Schädigung

435 Vgl. Horn (2004, S. 174), der Platon attestiert, Unwissenheit als einen »ich-nahen, einen bewussten Seelenzustand« (ebd., S. 174) zu verstehen. Das spricht eher gegen die Interpretation der Seele als psychophysische Entität in den Spätwerken, die Christopher Gill vertritt und zu der auch Jörn Müller neigt (vgl. Gill 2000 und Müller 2013, 2015). Müller, der Platons Anthropologie unter Rückgriff auf die Terminologie Kants in eine physiologische, d. h. deskriptive, und in eine pragmatische, d. h. normative einteilt, würde diesen Satz dann vermutlich eher als Ausdruck der normativen Anthropologie sehen (vgl. 2013, S. 52; 2015, S. 94–96). Dennoch scheint mir in diesem Abschnitt und auch speziell in diesem Satz eine Faktenbeschreibung vorzuliegen. Für eine ausführliche Diskussion zur Relation von Seele und Körper vgl. Kap. 2.3. 436 Vgl. Horn 2004, der das Szenario als »die Situation moralischen Unrechttuns« (S. 174) erkennt (vgl. S. 173 f.).

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für eine unfreiwillige Ungerechtigkeit gehalten wird. […] (Leg. IX 863e5– 864a8 437)

Ein Problem liegt darin, dass die Unwissenheit hier nicht mehr explizit genannt wird, obwohl man doch davon ausgehen würde, dass sie zu den Ungerechtigkeiten gerechnet wird. Das veranlasst Schöpsdau zu der Interpretation, dass explizit nur die hier genannten Verfehlungen auch als Ungerechtigkeiten gesehen werden dürfen. Eine Tat, die aus Unwissenheit begangen wird, sei keine Ungerechtigkeit. Lediglich die Verbrechen, die aus der hier beschriebenen Tyrannei hervorgingen, seien als ungerecht zu klassifizieren, d. h., wenn die unteren Seelenteile in der Seele herrschen. 438 Hier werden nicht nur Lust und Zorn genannt, sondern auch Schmerz und Furcht, und werden auch noch durch Neidgefühle und Begierden ergänzt. Insgesamt scheint aber klar, dass es sich hier um irrationale Seelenvermögen handeln muss, die, wenn sie herrschen, die Seele krank und verbrecherisch machen. Für Schöpsdau wird nun im Folgenden die Unwissenheit durchaus wieder aufgegriffen: Für ihn ist die Unwissenheit selbst zwar nicht die Vorstellung vom Besten, kann aber dabei dennoch zum Zuge kommen, nämlich dann, wenn dabei die falschen Mittel gewählt werden, um dieses Beste zu erreichen, und somit trotz der geordneten Seele ein Fehler gemacht wird. Ihm zufolge ist die Unwissenheit etwas, was uns im geordneten und somit gerechten Seelenzustand widerfährt. Selbst dann scheinen wir einen Fehler begehen zu können; diese Unwissenheit, die dabei zum Ausdruck kommt, sei aber trotz437 ΑΘ. Νῦν δή σοι τό τε δίκαιον καὶ τὸ ἄδικον, ὅ γε ἐγὼ λέγω, σαφῶς ἂν διορισαίμην οὐδὲν ποικίλλων. τὴν γὰρ τοῦ θυμοῦ καὶ φόβου καὶ ἡδονῆς καὶ λύπης καὶ φθόνων καὶ ἐπιθυμιῶν ἐν ψυχῇ τυραννίδα, ἐάντε τι βλάπτῃ καὶ ἐὰν μή, πάντως ἀδικίαν προσαγορεύω· τὴν δὲ τοῦ ἀρίστου δόξαν, ὅπῃπερ ἂν ἔσεσθαι τούτων ἡγήσωνται πόλις εἴτε ἰδιῶταί τινες, ἐὰν αὕτη κρατοῦσα ἐν ψυχαῖς διακοσμῇ πάντα ἄνδρα, κἂν σφάλληταί τι, δίκαιον μὲν πᾶν εἶναι φατέον τὸ ταύτῃ πραχθὲν καὶ τὸ τῆς τοιαύτης ἀρχῆς γιγνόμενον ὑπήκοον ἑκάστων, καὶ ἐπὶ τὸν ἅπαντα ἀνθρώπων βίον ἄριστον, δοξάζεσθαι δὲ ὑπὸ πολλῶν ἀκούσιον ἀδικίαν εἶναι τὴν τοιαύτην βλάβην. (eig. Hervorhebungen) 438 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 283–288. Ich verwende Schöpsdau exemplarisch für die Interpretationslinie, Unwissenheit hier nicht als Ungerechtigkeit zu sehen. Andere Interpreten, die diese These vertreten, sind z. B. Hackforth 1946, Görgemanns (vgl. 1960, S. 136–140, 163), Müller (vgl. 1968, S. 58 f.), Sharafat (vgl. 1998, S. 103) und Benardete (vgl. 2000, S. 269 f.). Dagegen aber z. B. O’Brien 1957, Saunders 1968, 1994 und Horn 2004.

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dem gerecht, da sie nicht auf einer ungeordneten Seele basiere. 439 Schöpsdau greift dabei auf eine Idee zurück, die bereits von Gerhard Müller ausformuliert wurde 440, nämlich auf die Unterscheidung zwischen technischer und moralischer Unwissenheit. Hier handele es sich lediglich um technische Unwissenheit, d. h. die Unwissenheit, die bei der Definition von amathia in Leg. III 689a7–9 genau nicht Thema war und nur in einem Nebensatz fällt (vgl. Leg. III 689c1–2): die Unwissenheit der Handwerker. Es geht hier also lediglich um die einfache agnoia und nicht um die amathia. Nur letztere sei »[m]oralisch bedenklich« 441. Schöpsdau untermauert seine Entscheidung, die hier genannte Unwissenheit nicht als Ungerechtigkeit zu sehen, damit, dass Platon die Wörter hamartêma und adikêma/adikia sehr differenziert verwende und die Unwissenheit nur bei den hamartêmata genannt werde. 442 Genau diesen Vorwurf macht er Autorinnen und Autoren, die die Unwissenheit – mit oder ohne genaue Diskussion – zu den Ungerechtigkeiten reihen. 443 Durch Schöpsdaus These ergibt sich aber ein Widerspruch: Wenn in der hier diskutierten Passage eine technische Unwissenheit genannt wird und damit nur die einfache agnoia thematisiert wird, bleibt diese Interpretation eine Erklärung schuldig für die Klassifikation der doppelten agnoia, d. h. der amathia. Folgt man Schöpsdaus Lesart, würde der Athener nur einen Teil der Unwissenheit hier wieder aufgreifen. Einfache agnoia wäre somit nicht ungerecht; das schließt aber nicht aus, dass es die doppelte ist – was auch Schöpsdau zunächst zugesteht, wenn er von der moralischen Bedenklichkeit der amathia spricht. Die komplette Unwissenheit, einfache und doppelte, wird aber im vorhergehenden Textabschnitt als dritte Ursache von Verfehlungen angesehen (vgl. Leg. IX 863c1–d4). Daraus folgt, dass ein Teil der Unwissenheit, nämlich die amathia, immer noch als Ursache von Verbrechen angesehen werden kann und zugleich ungeVgl. Schöpsdau 2011, S. 285–288. Vgl. Müller 1968, S. 58 f. Die technische Unwissenheit ist Müller zufolge nicht schuldhaft, sodass er Platon hier einen »Mangel des Begriffssystems« (S. 59) attestiert. Schöpsdau nennt neben Müller u. a. noch Görgemanns 1960 und McGibbon 1964 als seine Vorgänger für diese Interpretation (vgl. Schöpsdau 2011, S. 285). 441 Schöpsdau 2011, S. 285. 442 Anders aber Weiss 2003: »The term ἁμάρτημα, however, is not sharply distinguished from ἀδίκημα in the Laws.« (S. 54). Sie nennt dafür Leg. IX 860e8–9 und Leg. V 727b5–6 (vgl. S. 54 f.). 443 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 285–288. Zu seinen Gegnerinnen und Gegnern zählen u. a. O’Brien 1957, Saunders 1968, Weiss 2003 und Horn 2004. 439 440

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recht sein muss – da Schöpsdau sie für moralisch bedenklich hält, müsste er dieser These zustimmen. 444 Nur Ungerechtigkeiten werden aber voll bestraft, sodass Schöpsdau mit seiner These im Grunde zeigen will, dass Taten aus Lust oder Zorn bestraft werden, weil diese mit ungerechter Gesinnung begangen wurden. Für die Unwissenheit könne das aber nicht gelten, sodass man dafür nicht voll zur Verantwortung gezogen werden könne, weil sie im Gegensatz zu Zorn und Lust nicht beherrschbar sei. 445 Für die Nicht-Beherrschbarkeit zieht er aber Leg. IX 863d10–11 heran 446; gerade diese Textstelle muss jedoch die komplette Unwissenheit umfassen, da sich der Athener hier klarerweise auf die eben eingeführte Dreiteilung beruft und nicht einen bestimmten Teil der agnoia aussondert und nur diesen behandelt. Wenn also diese Textstelle verwendet wird, muss davon ausgegangen werden, dass die komplette Unwissenheit unbeherrschbar ist und damit auch die amathia, die ja zu den Ungerechtigkeiten gerechnet wird und damit Bestrafung auf sich ziehen müsste – und dies auch tut. 447 Dies zeigt sich insbesondere im zehnten Buch, wenn Vorrede und Gesetz zu den Religionsfrevlern behandelt werden. Dazu zählen Atheisten sowie Menschen, die zwar an die Existenz der Götter glauben, aber entweder der Meinung sind, diese würden sich nicht um die Menschen kümmern, oder davon ausgehen, dass die Götter bestechlich seien (vgl. Leg. X 885b4–9). Wenn der Athener die falschen Meinungen der Religionsfrevler widerlegen will, wird deutlich, dass ihm zufolge diese Menschen an der amathia leiden (vgl. Leg. X 885e7– 886b8). Diese Unwissenheit schützt aber keineswegs vor Bestrafung, wie spätestens bei der Darlegung des entsprechenden Gesetzes offensichtlich wird (vgl. Leg. X 907d6–909d2): Je nachdem, ob dem Atheisten (oder den anderen beiden Arten von Religionsfrevlern) wenigstens noch ein gerechter Charakter zukommt oder das Gegenteil der Entgegen seiner eigenen Lesart weist er aber darauf hin, dass die amathia nur zur Ursache von hamartêmata und die doppelte Unwissenheit nicht als ungerecht bezeichnet werde (vgl. Schöpsdau 2011, S. 285, 302). 445 Vgl. ebd., S. 287. 446 Vgl. ebd., S. 287. 447 Für die Ansicht, dass Unwissenheit als Ungerechtigkeit gesehen werden muss, spricht auch Leg. IX 859c6–860c3, wo die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Schönheit aufgezeigt wird. Daraus folgt aber, dass Ungerechtigkeit nicht schön sein kann. Unwissenheit wiederum wird im Sophistês als Hässlichkeit (aischos) aufgefasst, sodass man sie auf keinen Fall zum Gerechten zählen kann (vgl. Soph. 228e1–5). 444

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Fall ist, wird als Strafe ein Gefängnisaufenthalt im Besinnungshaus (das zum Ziel hat, den Frevler von seiner falschen Meinung zu befreien) oder im Gefängnis im Landesinnern festgesetzt (vgl. Leg. X 908e5–909d2). 448 Die amathia wird also klarerweise als Ungerechtigkeit gesehen, die im besten Falle durch Strafe noch zu beseitigen ist. 449 Wenn der Atheist aber bereits einem tierischen Charakter ähnelt, scheint diese Hoffnung verloren zu sein (vgl. Leg. X 909a8–d2). Es bleibt also das Problem, das Schöpsdau lösen wollte: Es kann nicht so sein, dass Taten aus Zorn oder Lust aufgrund ihrer Ungerechtigkeit bestraft werden und die Unwissenheit (agnoia) davon ausgenommen wird, mit der Begründung, dass die Tat dann aus einer gerechten Gesinnung heraus erfolgt sei und man aufgrund der Unbeherrschbarkeit der Unwissenheit nicht voll verantwortlich für das Verbrechen sei. 450 Die Trennung zwischen Zorn und Lust auf der einen Seite und Unwissenheit auf der anderen Seite kann also nicht durch die Zuordnung zu Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit geschehen, da selbst nach Schöpsdaus Interpretation, wenn man sie weiterdenkt, alle hier genannten Arten der Unwissenheit auch zur Ungerechtigkeit gerechnet werden müssen. Dem würde Schöpsdau zwar im Falle der amathia zustimmen; damit seine Interpretation aber funktioniert, müsste er Platon unterstellen, dass dieser bereits ab Leg. IX 863d10–11 nur noch von der einfachen agnoia spricht. Dafür gibt es aber keine Anhaltspunkte, sondern vielmehr das Gegenteil scheint der Fall zu sein, sodass eine solche Lesart m. E. sehr unplausibel scheint. Es muss zudem darauf hingewiesen werden, dass Schöpsdau 448 Wie Schöpsdau und Saunders sehe ich die Klassifikation der Seele als gerecht oder ungerecht als entscheidend für die Art der Strafzumessung an (vgl. Schöpsdau 2011, S. 453–455; Saunders 1994, S. 308). Schöpsdau betont zudem, dass die von den Frevlern »für die Gesellschaft ausgehende Gefahr und nicht die häretische Überzeugung als solche […] das für die Strafzumessung entscheidende Merkmal« (2011, S. 451) sei. Gegen Morrow (vgl. 1960, S. 490 f.), Wyller (vgl. 1957, S. 306–308) und Steiner (vgl. 1992a, S. 183), die die unterschiedlichen Arten des Gottesfrevels miteinbeziehen und daher sechs verschiedene Strafarten annehmen. Saunders hält es zwar für möglich, dass es vier verschiedene Arten von Strafen geben könnte (unterschiedliche Dauer der Gefängnisstrafen je nach Art des heilbaren Häretikers), für die unheilbaren Frevler gelte aber ausnahmslos dieselbe Strafe (lebenslanger Gefängnisaufenthalt) (vgl. 1994, S. 308). 449 Vgl. Schöpsdau 2004, der die Annahme vertritt, dass mit der Einteilung zwischen gerechtem und ungerechtem êthos zumindest formal eine Übereinstimmung mit dem Strafrechtsexkurs gegeben sei, insofern dort einfache und doppelte Unwissenheit zum Tragen komme (vgl. S. 63). 450 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 287.

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hervorhebt, dass auch für die amathia nicht adikêma, sondern lediglich hamartêma verwendet wird – um konsistent zu bleiben, müsste er also auch die amathia als moralisch völlig unbedenklich einstufen – was er aber nicht oder nur in sehr unklarer Weise tut. 451 Denn obwohl er die amathia zunächst als moralisch bedenklich angesehen hat und sie so zur moralischen Unwissenheit (und damit zur Ungerechtigkeit) rechnen müsste, scheint er das am Ende zu relativieren, sodass nicht wirklich klar wird, ob nun auch die amathia für ihn vielleicht doch gerecht ist. Sollte Letzteres der Fall sein, gerät er aber in Probleme mit der Verurteilung des Atheisten in Buch X. Außerdem wird mit dieser Lesart die Textstelle Leg. IX 863e2–3 nicht hinreichend erklärt: Wie kann eine Handlung gerecht sein, obwohl wir, wenn wir doch, indem wir bei der Ausführung dieser Handlung Zorn, Lust oder Unwissenheit folgen, in Dissonanz zu unserem eigenen Wollen geraten – das, wie oben erwähnt, positiv und somit voll rational sein muss? Dies impliziert, dass wir dabei entgegen unserer eigenen Vernunft handeln. Das wiederum kann nur geschehen, wenn unsere Seele nicht richtig geordnet und somit ungerecht ist. Damit muss allen drei Ursachen eine ungerechte Seelenordnung zugrundeliegen. 452 Aber wenn Schöpsdaus Lesart zurückgewiesen wird und auch Unwissenheit als Ungerechtigkeit angesehen wird, wie ist dann die problematische Textpassage zu erklären? Mein Vorschlag wäre folgender: Der Athener grenzt hier, wie angekündigt, das Gerechte und das Ungerechte voneinander ab. Zunächst geht er auf das Ungerechte ein und rekapituliert im Prinzip die Definition, die wir bereits aus der Politeia kennen: Ungerechtigkeit ist eine Tyrannei, die von den irrationalen Seelenteilen ausgeht. Es handelt sich also um eine innerseelische Unordnung. Der Athener muss hier nicht explizit agnoia oder amathia nennen, weil es ihm hier nicht mehr um die drei Ursachen von Verfehlungen geht, sondern eben nur um die Unterteilung von gerecht und ungerecht. 453 Und wenn amathia, wie in Leg. III 689a7–9 definiert 454, einen innerseelischen Konflikt impliziert, muss auch sie Vgl. ebd., S. 285. Dies deckt sich auch mit der in Kap. 2.3.2 vorgeschlagenen Definition der amathia, nach der diese immer einen Konflikt der Seelenteile beinhaltet. 453 Vgl. Saunders 1968, dessen Einteilung ebenfalls in diese Richtung geht, wenn er meint, dass die Passage dazu diene, noch einmal die Unterscheidung zwischen adikia und blabê hervorzuheben (vgl. S. 430–432). 454 Genau dies bestreitet Görgemanns: Die Definition der amathia aus Buch III sei 451 452

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hier zur ersten Gruppe, d. h. zu den Ungerechtigkeiten, gerechnet werden. 455 Dann geht der Athener zur Erläuterung des Gerechten über: Das Gerechte zeichnet sich logischerweise durch das Gegenteil aus, nämlich durch eine geordnete Seele. Die Ordnung muss dabei so aussehen, dass »die Vorstellung vom Besten« (tên de tou aristou doxan, Leg. IX 864a1) herrscht. Der Athener nennt hier explizit nicht die Vernunft. Das kann m. E. so erklärt werden, dass, würde wirklich die Vernunft herrschen und die Gesamtseele ordnen, wir den Idealzustand erreicht hätten und gar von einem Philosophen, wie er in der Politeia dargestellt wird – und zwar nach der Schau der Idee des Guten –, ausgehen müssten. Das ist in den Nomoi aber nicht der Fall; vielmehr geht es um die durchschnittlichen Bürger von Magnesia, die nicht eine solche Vollkommenheit erlangen werden, sondern eben, wenn sie dem Erziehungsprogramm von Magnesia unterzogen werden, immerhin eine doxa vom Besten erreichen können. Genau diese doxa kann nun den viel diskutierten Nebensatz kan sphalletai ti 456 erklären: Es gibt in Magnesia gerechte Menschen, allerdings hauptnicht allgemeingültig; Unwissenheit sei einfach »ein Fehlen sittlicher Einsicht« (1960, S. 157; vgl. ebd., S. 157). Er geht aber nicht darauf ein, wie man sich das nun innerseelisch vorzustellen habe. Sharafat geht allgemein von einer Vermischung und inkohärenten Verwendung der verschiedenen Begriffe für Unwissenheit aus (vgl. 1998, S. 97–99). 455 Folgt man den Aussagen im Timaios, so geht Unwissenheit ohnehin mit einem Herrschen der unteren Seelenteile (mania) einher (vgl. Kap. 2.3.2 und Tim. 86b1–c3). 456 Die Interpretation dieses Nebensatzes hängt davon ab, ob er von den Interpretinnen und Interpreten inhaltlich mit der (technischen) Unwissenheit gleichgesetzt wird oder nicht. Seth Benardete sieht in dem ganzen Abschnitt und auch in der folgenden Rekapitulation eine Immunität der Unwissenheit gegeben, die dann mit der später ausgeführten Strafrechtspraxis kollidiert: »Justice is simply the absolute right of ignorance.« (2000, S. 269); für ihn stellt agnoia damit keine Ungerechtigkeit dar. Er stellt aber auch fest, dass die geordnete Seele, die hier beschrieben ist (die durch die doxa geordnet ist), von der perfekt geordneten Seele abweicht (vgl. 2000, S. 269 f.). Richard Stalley gibt folgende Übersetzung: »The ›opinion of the best‹ means ›the correct conception of the good‹, but ›if it goes wrong somehow‹ means ›if it happens to adopt the wrong means‹.« (1983, S. 159) Er geht von einem guten Charakter aus, der sich in der Beurteilung der einzelnen Fakten irre (vgl. ebd., S. 159), d. h., auch er scheint sich auf eine Art technische Unwissenheit zu berufen (vgl. aber Schöpsdau 2011 (S. 288), der Stalleys Lesart als »vermittelnde Position« (ebd., S. 288) bezeichnet). Adkins liest den ganzen Satz so, dass man bei geordneter, harmonischer Seele dennoch »mistakes about the basic facts of human existence« (1960, S. 307) begehen könne (vgl. ebd., S. 307), führt dabei aber nicht aus, worin genau diese Fehler bestehen. Weiss diskutiert ebenfalls den Nebensatz und spricht sich für die Übersetzung »›even if some Seelen im Wandel

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sächlich bürgerlich gerechte, da sie nicht zur vollkommenen Tugend gelangen können. Diese Menschen weisen also eine ziemlich gute innerseelische Ordnung auf, jedoch keine perfekte. 457 Es ist also immer noch die Möglichkeit gegeben, dass sie sich einmal irren mögen, auch wenn sie dabei nicht komplett, d. h. nicht längerfristig, aus der Ordnung geraten. 458 Vielleicht könnte man das Phänomen des Fehlgehens also als kurzzeitigen Zusammenbruch einer relativ guten, aber eben nicht idealen Seelenordnung auffassen. Man muss diese Menschen somit immer noch als gerecht betrachten, auch wenn sie die Gerechtigkeit nicht in idealer Weise verkörpern. So könnte auch das phateon erklärt werden, auf das auch Saunders hingewiesen hat, allerdings nur mit der unklaren Anmerkung, dass es möglicherweise eine Rolle spielen könnte. 459 Man muss diese Menschen gerecht nennen, auch wenn sie es nach der strengen Definition nicht vollständig sind. So würde man auch die Anwärter auf die Philosophenkönigsherrschaft vor der Schau der Idee des Guten, bei der sie trotz weit fortgeschrittener Erziehung noch fehlgehen können, sicherlich nicht als unwissend bezeichnen, wenngleich sie auch nicht als vollständig wissend angesehen werden können (vgl. Kap. 3.3.3 und Rep. VII 519c5–d2). In diesem Abschnitt ist also vom Gerechten die Rede, zu der auch die einfache Unwissenheit keinesfalls gerechnet werden kann – denn

damage be done‹« aus (2003, S. 52, vgl. S. 52–54). So fasst auch schon Edwin Bourdieu England die Textstelle auf (vgl. 1921, S. 17 f.). 457 Hier schließe ich mich Saunders an: »the δόξα, even if a little defective and not wholly ὀρθή, is still substantially so. Plato is leaning over backwards to accommodate the frailty of mankind, and concedes that in an imperfect world an approximate ὀρθὴ δόξα is the most we can hope for; […]« (1968, S. 432). Vgl. auch Benardete 2000: »[…] but the order of soul opinion maintains, deviates from the true order of soul, however much its stability may give the contrary impression.« (2000, S. 270). Jedoch scheint für Benardete das daraus folgende Irren Unwissenheit zu sein (vgl. ebd., S. 269 f.). Da auch Weiss das Irren bei einer solchen Interpretation mit dem einer unwissenden Seele identifiziert, spricht sie sich gegen eine solche Lesart aus und übersetzt mit »›even if some damage be done‹« (2003, S. 52, vgl. S. 52–54). Allerdings ist die Meinung vom Besten keineswegs mit Unwissenheit gleichzusetzen. Zur Auffassung, dass die Bürger Magnesias bürgerliche Tugenden erlangen können, vgl. Kraut 2010. 458 So können sich z. B. sogar noch die fast vollkommenen Wächter aus der Politeia irren, wenn sie noch nicht die Idee des Guten geschaut haben (vgl. die Ausführungen zur Fallibilität des logistikon in Kap. 3.3.3). 459 Vgl. Saunders 1968, S. 432, Fn. 2.

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alles, was gegen das eigene Wollen zieht, kann nur durch eine falsch geordnete Seele zustande kommen. 460 Ein letztes Problem der Strafrechtstheorie zeigt sich ganz am Ende der Ausführungen in einer Passage, die sich direkt an die eben diskutierte anschließt. Mit dem Vorhaben, die drei genannten Ursachen von Verfehlungen »noch tiefer dem Gedächtnis ein[zu]prägen« (Leg. IX 864b2), rekapituliert der Athener diese noch einmal. Auch wenn er die Begriffe erneut durcheinander würfelt, scheinen die beiden ersten Ursachen wieder kein ernsthaftes Problem darzustellen; es sind die, die auch zuvor genannt wurden: Lust und Zorn. Den Zorn subsumiert er hier zusammen mit der Furcht unter den Schmerz und trennt ihn von der Lust und den Begierden als einer anderen Art von Ursache. 461 Die dritte Art, die nun die Unwissenheit darstellen müsste, wird nun aber nicht – oder zumindest nicht wörtlich – als Unwissenheit wieder aufgegriffen. Schon zuvor war Verwirrung eingekehrt, als in Leg. IX 863e5–864a8 die Unwissenheit nicht mehr vorkam. Dort konnte das aber noch relativ leicht erklärt werden, da es dem Athener nun einmal nicht darum ging, die drei Ursachen von Verfehlungen wiederaufzugreifen. Jetzt aber kann dem Problem nicht entgangen werden, da er explizit auf die drei zuvor genannten Arten von Verfehlungen abhebt. 460 Denn eine geordnete Seele handelt auch gerecht und damit vernunftgemäß (wie auch umgekehrt gerechte Handlungen eine gerechte Seele erzeugen) (vgl. Kap. 3.3.3 und Rep. IV 442d10–443b6, 444c10–d2). Man könnte hier einwenden, dass der kurzzeitige Zusammenbruch der innerseelischen Ordnung, von der meine Lesart ausgeht, gleichbedeutend mit einer ungerechten Seelenordnung sei. Streng genommen ist dies selbstverständlich richtig; mir kommt es vielmehr darauf an, dass solche Menschen dennoch, da ihre Seele im Normalfall eine recht gute Ordnung aufweist, gerade im Vergleich zu schlechten, d. h. wirklich ungerechten Menschen als gerecht bezeichnet werden müssen (phateon). Die Bezeichnung des dauerhaften Zustands (eine Art von bürgerlicher Gerechtigkeit) wiegt somit schwerer als die eines nur kurzen Momentes von innerseelischer Unordnung (Ungerechtigkeit). 461 Hier zeigt sich erneut die Zentralität von hêdonê und lypê, die sich durch die ganzen Nomoi zieht. Da zur lypê Zorn und Furcht gehören, die charakteristisch für das thymoeides sind, spricht die hier vorgenommene Einteilung für eine Beibehaltung der Trichotomie der Seele in den Nomoi. Für eine Verteidigung der Trichotomie in den Nomoi vgl. bereits Saunders 1962. Vgl. auch Müller 2013, der für eine Dichotomie plädiert, die aber eine Trichotomie nicht ausschließe. In seiner Monographie zur Willensschwäche weist er aber auch darauf hin, dass die drei Ursachen schlechten Handelns eher für eine Tripartition sprechen würden (vgl. 2009c, S. 99). Vgl. außerdem Horn 2004 (S. 173), der ebenfalls auf diesen Punkt aufmerksam macht und auf den auch Müller an dieser Stelle verweist.

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Worin genau besteht aber die Schwierigkeit? Als dritte Art von Verfehlung wird, obwohl man die Unwissenheit erwarten würde, nun »das Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet« (Leg. IX 864b6–7 462) genannt, was man normalerweise nicht mit Unwissenheit in Beziehung setzen würde. Dass es aber genau darum gehen muss, macht der folgende Satz deutlich, wenn noch einmal die doppelte Zweiteilung, die insgesamt zu einer Dreiteilung der Unwissenheit führte, wiederaufgenommen wird (vgl. Leg. IX 864b8–c1). Eine mögliche Lösung könnte darin bestehen, dass man, wenn man eben nur die doxa besitzt, auch hier Fehler machen kann, aber in gravierender Weise, sodass man tatsächlich entgegen seinem Wollen handelt und somit eine Unordnung in der Seele herstellt. Die Meinung vom Besten, aus der heraus man zwar irren kann, was aber keine ungerechte Handlung darstellt, kann trotz der scheinbaren Ähnlichkeit (vgl. Leg. IX 864a1: tên tou aristou doxan; Leg. IX 864b6–7: elpidôn de kai doxês tês alêthous peri to ariston ephesis) nicht mit der hier genannten Meinung gleichgesetzt werden, da im vorhergehenden Abschnitt der Athener deutlich macht, dass es sich lediglich um eine Schädigung handelt. Schädigungen aber fordern lediglich Wiedergutmachung und keine Strafe (vgl. Leg. IX 862b5–c4). Die drei Ursachen, die dann wiederaufgenommen werden, fordern aber alle eine Strafe und müssen somit als Ungerechtigkeiten klassifiziert werden. Denn wenn der Athener die verschiedenen Grade von Unwissenheit unterscheidet, werden für alle Gesetze gegeben, selbst für Verfehlungen, die denen von Greisen und Kindern gleichkommen, weil sie nicht mit Stärke einhergehen, sondern sich vielmehr durch Schwachheit auszeichnen – für diese werden die »allermildesten und von größter Nachsicht getragenen« (praiotatous, syngnômês pleistês, Leg. IX 863d3–4) Gesetze aufgestellt. Es scheint sehr unwahrscheinlich, dass hier statt der Strafe nur die Wiedergutmachung gemeint ist 463, da diese sicherlich nicht in die Kategorien von Milde und Härte eingeteilt wird und sich überhaupt nicht an dem inneren Seelenzustand, sondern nur an der äußeren Handlung bemisst. Warum sollten hier aber schwerere Fehler begangen werden, die als echte Unwissenheit und somit als Ungerechtigkeit klassifiziert werden? Da es hier um Unwissenheit gehen muss, ist der Umkehr462 463

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ἐλπίδων δὲ καὶ δόξης τῆς ἀληθοῦς περὶ τὸ ἄριστον ἔφεσις Gegen Schöpsdau (vgl. 2011, S. 301 f.).

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schluss zwar notwendig, bleibt aber dennoch erklärungsbedürftig. Was unterscheidet das hier genannte Streben von der zuvor erwähnten harmlosen doxa, die zum Gerechten gezählt werden muss? Vielleicht lässt sich der Abschnitt besser erklären, wenn man auf die Definition der amathia in Leg. III 689a5–9 sowie auf das Marionettengleichnis in Leg. I 644c1–645b1 zurückgreift. Wie bereits festgestellt, wird die amathia in Leg. III als Unstimmigkeit zwischen Vernunft und den unteren Seelenteilen charakterisiert, sodass Taten, deren primärer Beweggrund aus den Begehren der unteren Seelenteile resultiert, notwendig immer mit Unwissenheit einhergehen (vgl. Kap. 2.3.2). Schaut man sich die Textstelle näher an, so bemerkt man, dass auch hier von einer doxa gesprochen wird, die der Vernunft gemäß sei (vgl. Leg. III 689a8). Die Unstimmigkeit entsteht dadurch, dass diese der Vernunft gemäße Meinung mit den unteren Seelenteilen in Widerspruch gerät: Das, was man für gut und schön hält, hasst man und umgekehrt (vgl. Leg. III 689a5–7). Das Urteil der Vernunft steht also in Widerspruch zu den Gefühlen, die einem die unteren Seelenteile übermitteln. Wenn wir also eine solche Dissonanz auch in der hier gegebenen Umschreibung ausmachen könnten, so könnte man auch in Bezug auf diese Textstelle problemlos von Unwissenheit sprechen. Dafür ist nun eine nähere Betrachtung des Marionettengleichnisses hilfreich: Im Marionettengleichnis werden nicht nur Lust, Schmerz und Vernunft als auf die Seele einwirkende Kräfte beschrieben, sondern auch die damit verbundenen Meinungen der unteren Seelenteile 464. Diese Meinungen richten sich auf die Zukunft und werden als Zuversicht oder Besorgnis bezeichnet; für uns interessant ist hier aber ihr Oberbegriff, die Erwartung (elpis) (vgl. Leg. I 644c6–d3). In der scheinbar problematischen Wiederaufnahme der Unwissenheit in Leg. IX tauchen genau diese Erwartungen auf: Die Unwissenheit ist ein »Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet« (Leg. IX 864b6–7). Dies impliziert, dass einerseits die Erwartungen, d. h. die Meinungen der unteren Seelenteile, zum für sie Besten streben. Auf der anderen Seite strebt auch die wahre Meinung zum für sie Besten. Nur Letzteres ist objektiv gesehen auch das Beste, da es eben nicht irrationale Kräfte, sondern die wahre Meinung ist, die das ariston hier bestimmt. Lust und Schmerz aber halten andere 464 Für eine Diskussion der verschiedenen Seelenauffassungen und eine Verteidigung der Trichotomie in den Nomoi vgl. Saunders 1962.

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Dinge für gut als die wahre Meinung, sodass wir hier die erwartete Unstimmigkeit zwischen unteren Seelenteilen und Vernunft auffinden und somit von Unwissenheit sprechen können. 465 Es scheint plausibel, dass der Athener hier genau dieses Phänomen meint, wenn er von Unwissenheit spricht bzw. von ihrer Umschreibung in Leg. IX 864b6–7. 466 »[D]as Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet« (Leg. IX 864b6–7) steht also insofern für die Unwissenheit, als hier vorausgesetzt werden muss, dass dieses Streben von den unteren Seelenteilen konterkariert wird und somit auch hier das Herrschen der unteren Seelenteile direkt mit Unwissenheit einhergeht. 467 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass alle drei Ursachen von Verfehlungen eine seelische Unordnung darstellen und daher als Ungerechtigkeit eingestuft und entsprechend Strafe nach sich ziehen werden müssen. Nach Kleinias’ Aufforderung, die Unterscheidung zwischen Ungerechtigkeit und Schädigung und die zwischen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit und die Vermischung der beiden Ebenen klarer darzulegen (vgl. Leg. IX 863a3–6), antwortet der Athener zunächst mit einer Auflistung von ungerechten seelischen Haltungen (vgl. Leg. IX 863b6–9, c1–d4): die Überwältigung durch Lust oder Zorn und die Unwissenheit, von der wir zwar nicht überwältigt werden, da sie eine Affizierung desjenigen Seelenteils darstellt, mit dem wir uns identifizieren, die aber eine logische Folge der Machtübernahme durch Zorn oder Lust darstellt. 468 Auch im Timaios wird elpis der sterblichen Seele zugeordnet (vgl. Tim. 69c3–d4). Dies ist sogar sehr wahrscheinlich, da der Athener beide Male von amathia spricht. In Leg. III gibt er die Definition der schwerwiegendsten Form von amathia, wohingegen er in Leg. IX einmal die starke und die schwache Form darlegt und sie insgesamt als doppelte agnoia (d. h. als doxosophia) klassifiziert. 467 Als Einwand könnte vorgebracht werden, dass die drei Ursachen von Verfehlungen insgesamt aufgelistet werden, sodass nicht nur die amathia, sondern auch die einfache Unwissenheit mit der Umschreibung umfasst werden müsste. Davon geht die hier vorgeschlagene Lesart auch aus; allerdings muss bedacht werden, dass die agnoia im Strafrechtsexkurs nicht näher definiert wird und durchaus eine sehr schwache Form der seelischen Unstimmigkeit darstellen könnte, die nicht hinreichend ist, um als amathia klassifiziert zu werden, da sich die betreffende unwissende Person nicht als weise ansieht. Die hier gegebene Umschreibung kann somit sowohl für einfache (agnoia) wie doppelte Unwissenheit (amathia) stehen, da keine genauen Angaben gemacht werden, die dafür sprechen würden, dass nur eine der beiden Formen gemeint ist. 468 Hier lehne ich mich an meine Interpretation des Timaios an (vgl. Kap. 2.3.2). Aber auch wenn man die unitarische Lesart ablehnt, scheint eine solche Schlussfolgerung 465 466

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Danach geht der Athener über zur Unterscheidung zwischen Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit (vgl. Leg. IX 863e5–b4): Ungerecht sind alle eben genannten Handlungen, d. h. Handlungen, die eine seelische Unordnung implizieren; gerecht hingegen sind diejenigen, die eine seelische Ordnung aufweisen. Schädigungen können sich aus beiden Seelenhaltungen ergeben, mit dem Unterschied, dass es sich bei den erstgenannten Handlungen (also diejenigen, die aus einer seelischen Unordnung heraus entstanden sind), zugleich auch um Ungerechtigkeiten handelt, wohingegen sich die zweite Klasse von Handlungen nur auf die Schädigung beschränkt. Die innere Haltung existiert dabei völlig unabhängig von der äußeren Handlung: Schädigung oder Nutzen können sowohl aus einer geordneten wie einer ungeordneten Seele heraus entstehen. Es mag kontraintuitiv erscheinen, dass eine gut geordnete Seele einen Schaden herbeiführen kann, was aber m. E. so gelöst werden kann, dass es sich in den Nomoi eben um nicht vollständig ideal geordnete Menschen handelt, die nicht über epistêmê, sondern nur über doxa verfügen. Schließlich kommt der Athener in einem dritten Schritt wieder auf die Ursache von Ungerechtigkeit zurück, d. h. auf die drei seelischen Fehlhaltungen (vgl. Leg. IX 864b6–c2). Die Unwissenheit erklärt er so, dass es Menschen gebe, die im Grunde zum Richtigen streben (also eine wahre Meinung besitzen), durch ihre innerseelische Unordnung (die irrationalen Erwartungen) es aber nicht erreichen, da ihre unteren Seelenteile der Vernunftmeinung widersprechen (s. o.). Vermutlich ist es ausgeschlossen, dass die Mehrzahl der Magneten einem solchen Szenario anheimfällt, da sie eine entsprechende Erziehung genießen, die sich durch ihr ganzes Leben zieht. Ausnahmen gibt es natürlich dennoch, die am entschiedensten zu verurteilen sind, wenn die größte Unwissenheit eintritt, die amathia, die eine starke Beeinträchtigung des logistikon durch die irrationalen Seelenteile impliziert, sodass auch die durch die Erziehung induzierte wahre Meinung ausgeschaltet wird. Dass der Athener auch mit solchen Menschen rechnet, zeigt sich einerseits an seiner Dreiteilung der Unwissenheit und andererseits an den Strafmaßnahmen für Unheilbare, die immer wieder auftauchen. Diese Menschen müssen so-

schon allein innerhalb der Nomoi zwingend zu sein, zumindest, wenn man dem Athener keine Inkohärenz in der Verwendung von amathia attestieren will. Seelen im Wandel

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mit an einer so starken Form von amathia leiden, dass diese nicht mehr zu heilen ist. 469 Ist der Athener nun aber Kleinias’ Forderung nachgekommen? Nur zum Teil: Ungerechtigkeit und Schädigung sind nun hinreichend voneinander unterschieden worden, im Prinzip geht es um innere seelische Haltung und äußere Handlung. Zur Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit wurde in diesem Abschnitt aber nichts Konkretes mehr gesagt. 470 In der folgenden Gesetzgebung wird jedoch weiterhin mit diesen Begriffen hantiert, wobei unfreiwillige Verletzungen beispielsweise weniger hart bestraft werden als freiwillige (vgl. Leg. IX 874d5–879b5 471). Wir erinnern uns, dass Freiwilligkeit doch nicht 469 Vgl. auch den Beginn von Buch IX, wo die Widerwilligkeit deutlich zum Vorschein kommt, mit der der Athener überhaupt solche Gesetze für die Bewohner Magnesias aufstellt. Notwendig sind diese dennoch, und zwar aufgrund bestimmter Ausnahmen. Denn es wird davon ausgegangen, dass es eben auch solche Menschen gebe, die eine »harte Schale« besitzen, d. h. unerziehbar sind: »Freilich ist es irgendwie beschämend, auch nur Gesetze für all das zu erlassen, wie wir dies jetzt vorhaben, in einer solchen Stadt, von der wir meinen, daß sie eine gute Einrichtung erhalten und in jeder Hinsicht über die richtigen Voraussetzungen zur Ausübung der Tugend verfügen wird. Ja schon die Annahme, daß in einer solchen Stadt jemand aufwächst, der sich an den schlimmsten Formen der in andern Städten üblichen Schlechtigkeit beteiligen werde, so daß man dem als Gesetzgeber zuvorkommen und Drohungen aussprechen muß für den Fall, daß jemand so werden sollte, und daß man zu ihrer Abschreckung und – wenn sie doch so geworden sind – zu ihrer Bestrafung Gesetze gegen sie erlassen muß, als werde es wirklich solche Menschen geben: dies ist, wie gesagt, irgendwie beschämend. Da wir aber nicht in der gleichen Lage sind wie die alten Gesetzgeber, die für Göttersöhne, nämlich für die Heroen, wie die Sage heute erzählt, Gesetze gaben und so als Abkömmlinge von Göttern anderen, die von Wesen derselben Art abstammten, Gesetze gaben, sondern da wir jetzt als Menschen und für eine Menschensaat Gesetze geben, so möge man es uns nicht verargen, wenn wir befürchten, es könnte unter unseren Bürgern jemand gleichsam ›mit einer harten Schale‹ geboren werden, der so unnachgiebig in seinem Wesen ist, daß er sich nicht erweichen läßt: ebenso wenig wie jene Saatkörner auf dem Feuer, so könnten auch solche Menschen durch Gesetze, mögen diese auch noch so kräftig sein, nicht weich gekocht werden.« (Leg. IX 853b4–d4). Die Metapher einer weichen Seele, die einerseits formbar und somit erziehbar ist, andererseits aber auch zu weich werden kann, taucht bei Platon immer wieder auf (vgl. Gorg. 491b4, Rep. III 387c3–5, 398e6–7, 410d1–411b4; Symp. 195e4– 7; Plt. 307b9–c7; Leg. II 666b2–c2). 470 Schöpsdau ist der Meinung, dass die Frage nach Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit in 863a7–e3 beantwortet wurde, d. h. in der Ausführung der drei Ursachen von Fehlhandlungen, da für ihn die Unwissenheit im Gegensatz zu Lust und Zorn immer unfreiwillig sei (vgl. 1984, S. 114, 121). 471 Vgl. insbesondere die Aufteilung der Verletzungen zu Beginn der Passage: »Die Verletzungen sind nun ebenso einzuteilen, wie die Tötungen eingeteilt worden sind, nämlich in solche, die ungewollt, solche, die im Zorn, solche, die aus Furcht und sol-

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mehr das Kriterium sein sollte für die Einteilung der Handlungen, sondern vielmehr die charakterliche Haltung (da diese das Kriterium für die Unterscheidung in adikia und blabê darstellt). Daher erscheint diese Einteilung hier zunächst widersprüchlich. Vielleicht kann die Spannung aber gelöst werden, wenn man beachtet, dass die freiwilligen Verletzungen nicht nur freiwillig (hekousia), sondern auch mit Vorbedacht (ek pronoias) 472 erfolgt sind. Dieser Zusatz spricht dafür, che, die in bewußter Absicht freiwillig begangen werden.« (Leg. IX 874e5–7) In der Strafrechtspraxis spielt somit Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit bei der Einteilung der Taten immer noch die entscheidende Rolle. Der Zorn, der hier ebenfalls genannt wird, kann weder der Freiwilligkeit noch der Unfreiwilligkeit klar zugeordnet werden, sondern ähnelt nur beiden (vgl. Leg. IX 866d5–867b1). Die unfreiwillige Verletzung wird außerdem mit dem Zufall in Verbindung gebracht: »Wer ungewollt einen andern verletzt hat, der soll den Schaden bloß in einfacher Höhe ersetzen – denn dem Zufall vermag kein Gesetzgeber zu gebieten –; […] (Leg. IX 879b1–3). Damit zeigt sich hier, dass Unfreiwilligkeit im Kontext der Strafrechtspraxis offenbar im landläufigen Sinne verwendet wird, d. h., dass damit genau solche Verletzungen (oder auch Tötungen) gekennzeichnet werden, die vom Akteur nicht beabsichtigt waren und durch Zufall entstanden sind und die somit außerhalb der Macht des Akteurs standen. Das hat aber nichts mit einer sokratischen Unfreiwilligkeit zu tun, da der Täter nicht im sokratischen Sinne unwissend gehandelt hat – denn auch eine vollständig geordnete Seele, die damit Wissen hat von moralischen und unmoralischen Handlungen, kann sich der tychê nicht widersetzen. Obwohl im platonischen System eine vollständig geordnete Seele keine Fehler mehr begehen dürfte, so scheinen diese zwar selten, aber dennoch möglich zu sein – die (vielleicht unbefriedigende) Lösung, die von ihm geboten wird, scheint stets der Zufall zu sein (vgl. dazu auch die Fehlberechnung der Hochzeitszahl in Rep. VIII 546a1–547a5). Wäre die Seele hier ungeordnet und somit auch unwissend, so müsste sie – der Strafrechtstheorie entsprechend – dennoch bestraft werden, da Unwissenheit, die dann zu unfreiwilligen Unrechtstaten führt, einen nicht der Verantwortlichkeit entzieht. Da aber nur einfache Wiedergutmachung gefordert wird, kann es sich hier nur um eine geordnete Seele handeln. Der Respekt gegenüber der tychê und dem eigenen daimôn, der es vermag, ein schlechtes Schicksal von einem abzuwenden, und somit doch einen gewissen Einfluss auf dieses ausüben kann, zeigt sich auch beim Umgang mit Tätern, deren Mord gescheitert ist und deren Opfer lediglich Verletzungen davongetragen hat. Zwar sollen die Täter wie Mörder behandelt werden, erleiden dann aber doch eine abgemilderte Strafe (statt zum Tode verurteilt werden sie ins Exil geschickt; vgl. Leg. IX 876e6– 877b2). Für nähere Ausführungen zur Strafrechtspraxis und der Frage, wie oder ob die Charakterhaltung, die doch entscheidend für die Bestrafung sein soll, überhaupt klar festgestellt werden kann, vgl. Kap. 2.4.1.2. 472 Schöpsdau meint, Platon wolle die Unrechtstat »nicht mehr durch die traditionellen Kriterien etwa der πρόνοια oder der ἐπιβουλή (also den konkreten Tatvorsatz) […] definieren, sondern stattdessen die Ungerechtigkeit auf die Gesinnung und den Charakter (ἦθος, τρόπος) […] gründen, […]«. (1984, S. 106 (Fn. 18)). Er gesteht dabei auch ein, dass dies nicht immer mit der Gesetzgebungspraxis übereinstimme (vgl. Seelen im Wandel

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dass doch der Charakter das entscheidende Kriterium darstellt, der dabei mit Freiwilligkeit in enger Beziehung steht, allerdings, wenn es um die konkreten Straftaten geht, nun doch nicht mit einer streng sokratischen Bedeutung. Die freiwillige Schädigung, die zugleich eine unfreiwillige Ungerechtigkeit darstellt, kann möglicherweise besser erklärt werden, wenn man Freiwilligkeit eher als Bewusstheit versteht: Schlechte wie gute Charaktere können bewusst und in diesem Sinne freiwillig handeln. Dennoch handelt der schlechte Charakter zugleich unfreiwillig schlecht, da er bei voller Rationalität einsehen würde, dass die Handlung schlecht ist, und er sich so für eine andere Vorgehensweise entscheiden würde. Damit schließe ich mich den Interpreten an, die ebenfalls zwei Ebenen in der Verwendungsweise von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit ausmachen, eine klassisch sokratisch-platonische und eine andere, deren Bedeutungsebene aber nicht immer ganz deutlich wird und die ich mit Bewusstheit oder Vorsatz gleichsetzen würde. 473 ebd., S. 106 (Fn. 18)). Allerdings scheint mir ein Begriff wie der des Vorsatzes nicht im Gegensatz zum Charakter zu stehen, wenn es um das Kriterium für Strafe geht. Auch wenn Platon sicherlich keine ausgearbeitete Definition des Vorsatzes liefert wie Aristoteles zur prohairesis (vgl. Charpenel 2017, Kap. III, §5), so scheint es doch folgerichtig, anzunehmen, dass die Qualität des Vorsatzes von der Qualität des Charakters abhängt und sich aus diesem erst generieren kann. Die hier angegebene Textstelle, die Freiwilligkeit mit Vorsatz verbindet, spricht auch gegen Schöpsdaus Deutung der Freiwilligkeit als »negativ« (zu schwach gegenüber Lust oder Zorn – da sich Freiwilligkeit für ihn nur auf Handlungen aus Lust oder Zorn beschränken kann), die er von der positiven Deutung abhebt, die er »›mit Vorsatz gewollt‹« gleichsetzt (1984, S. 115; vgl. ebd., S. 114 f.). 473 Damit folge ich in diesem Aspekt Sharafat, der ebenfalls die Bewusstheit als Freiwilligkeit sieht (vgl. 1998, S. 102). Vgl. außerdem Görgemanns, der die andere Ebene als juristische bezeichnet (vgl. 1960, S. 162 f.), und Schöpsdau, der von einer strafrechtlichen Ebene spricht, auf der sich der Vorsatz ansiedelt (vgl. 1984, S. 107 f.) – den Schöpsdau aber im Kontrast zur charakterlichen Haltung sieht (vgl. 1984, S. 106 (Fn. 18)). Adkins hingegen spricht lediglich von »ordinary language« (1960, S. 306). Eine andere Lesart vertritt Rotondaro 2000, die Freiwilligkeit intentionalen und bewusst ausgeführten Handlungen zuspricht, Unfreiwilligkeit entsprechend den zufälligen und nichtintentionalen Handlungen. Letztere sei zudem ein Synonym für »präterintentional«, meint also Handlungen, die über unsere Intention hinausgehen. Unfreiwillig sei zudem das, was wir aus Unwissenheit ausführen wollen. Schließlich bezeichne die Unfreiwilligkeit eine »ἕξις dell’individuo, di cui questi non può essere considerato responsabile, ma piuttosto vittima.« (S. 53) Allerdings scheint sie keine Trennung zwischen platonischer und allgemeiner Verwendung der Termini anzunehmen (vgl. S. 53). Dann stellt sich die Frage, wie die These von der Unfreiwilligkeit des Unrechttuns noch haltbar sein kann: Laut Rotondaro habe diese sokratische These schlicht keine Gültigkeit mehr. Dennoch wolle Platon sie erhalten und passe sie an

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2.4.1.2 Strafrechtspraxis Häufig wurde darauf hingewiesen, dass sich der Athener in der Ausarbeitung von konkreten Gesetzen nicht mehr an seine Strafrechtstheorie hält. 474 Der Frage, ob Praxis und Theorie wirklich in so krassem Widerspruch zueinander stehen, soll im Folgenden nachgegangen werden. Wie im ersten Teil gesehen, soll sich der Theorie zufolge eine Strafmaßnahme nicht an der begangenen Tat, sondern am zugrundeliegenden Charakter bemessen, der dann, wenn er sich in noch heilbarem Zustand befindet, durch eine ihm entsprechende Strafe gebessert werden soll. Es lässt sich also einerseits fragen, ob sich die Strafrechtspraxis tatsächlich konsequent am charakterlichen Zustand des Akteurs orientiert und wenn ja, auf welche Weise der Charakter gebessert werden kann. Andererseits muss man die auf den Strafrechtsexkurs folgenden Bestimmungen dahingehend überprüfen, ob sie der am Ende des Exkurses dargelegten Einteilung entsprechen: Ath. […] Unsere Rede ist jetzt aber nicht auf einen Streit um Worte aus, sondern da deutlich geworden ist, daß es drei Arten von Verfehlungen (tôn hamartanomenôn tria eidê) gibt, so wollen wir diese zunächst noch tiefer dem Gedächtnis einprägen. Aus dem Schmerz (lypês) also, den wir als Zorn (thymon) und Furcht (phobon) bezeichnen, geht nach unserer Ansicht die eine Art (hen eidos) hervor. Kl. Gewiß. Ath. Aus der Lust (hêdonês) wiederum und den Begierden (epithymiôn) eine zweite Art; und das Streben der Erwartungen und der wahren Vorstellung, die sich auf das Beste richtet (elpidôn de kai doxês tês alêthous peri to ariston ephesis) 475, bildet eine dritte, davon verschiedene Art. Da wir diese Art ihrerseits durch zweimaligen Schnitt in drei Arten zerlegt haben, so haben sich fünf Arten (pente eidê) ergeben, wie wir jetzt feststellen; und für diese fünf Arten sind nun unterschiedliche Gesetze aufzustellen, die in zwei Gattungen (en duoin genesin) zerfallen. Kl. Welches sind diese Gattungen?

die Gesetzgebung an; im Ergebnis sieht das dann aber so aus, dass sich die Praxis gegenüber den theoretischen Überlegungen durchsetze (vgl. S. 53–55). 474 So konstatiert beispielsweise Trevor Saunders eine Inkohärenz zwischen Theorie und Praxis, da entgegen der Theorie in der Praxis letztlich doch wieder attische Methoden angewandt würden (vgl. 1973, S. 236). 475 Zur Problematik dieser dritten Art und einem Interpretationsvorschlag vgl. Kap. 2.4.1.1. Klar scheint, dass damit die Unwissenheit wiederaufgenommen wird. Seelen im Wandel

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Ath. Einerseits alles, was durch gewaltsames und offenes Vorgehen (dia biaiôn kai symphanôn praxeôn) begangen wird; auf der anderen Seite das, was im Dunkel und mit Täuschung heimlich (meta skotous kai apatês lathraiôs) geschieht; manchmal wird auch etwas durch diese beiden Mittel zugleich verübt: für diesen Fall werden auch die härtesten Gesetze (nomoi trachytatoi) aufgestellt müssen, wenn sie ihre Aufgabe angemessen erfüllen sollen. (Leg. IX 864a8–c8)

Man dürfte also nun Strafgesetze erwarten, die sich an den fünf verschiedenen charakterlichen Fehlhaltungen orientieren, die sich wiederum zwei Gattungen unterordnen lassen, je nachdem, ob die Täter offen und gewaltsam vorgehen oder im Dunkeln und mit Täuschung heimlich ihre Verbrechen begehen. Betrachtet man die darauf folgenden Ausführungen, so fragt man sich, ob der Athener seine klare theoretische Einteilung im Stillen wieder verworfen oder direkt vergessen hat: Zumindest auf den ersten Blick scheint er sich nicht an sein Vorhaben zu halten. Mit ein wenig Mühe lassen sich aber doch zumindest die verschiedenen seelischen Ursachen für Unrechtstaten auffinden. So stellt auch Klaus Schöpsdau fest, dass »Platons Strafgesetze den theoretischen Vorgaben nicht immer in dem Maße folgen, wie dies nach dem Exkurs zu erwarten wäre« 476; in seiner Interpretation wird aber deutlich, dass bestimmte Elemente der theoretischen Einteilung wiederaufgenommen werden, andere hingegen unerwähnt oder implizit bleiben. 477 Die folgenden Straftaten werden zunächst danach klassifiziert, ob sie Seele oder Körper betreffen: Straftaten gegen die Seele lassen sich weiter einteilen in Tötungen, die entweder gewaltsam und ungewollt, aus Zorn, in Notwehr oder vorsätzlich durchgeführt wurden. Fast analog dazu können Körperverletzungen ungewollt, aus Zorn, Furcht oder mit bewusster Absicht und freiwillig begangen werden (vgl. Leg. IX 865a1–882c4). 478 Was die fünf Arten von Verfehlungen angeht, so wird der Zorn sowohl bei Delikten gegen die Seele als auch gegen den Körper klarerweise wiederaufgenommen. Auch die Lust und die Begierden lassen sich wieder antreffen, und zwar in der vorsätzlichen Tötung: Ath. […] Was aber die vorsätzlichen (hekousia) und in voller Ungerechtigkeit (kat’ adikian pasan) auf diesem Gebiet und mit Vorbedacht (epiboulês) 476 477 478

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Schöpsdau 2011, S. 289. Vgl. Schöpsdau 2004, S. 59–63; 2011, S. 289–291. Vgl. die Einteilung bei Schöpsdau 2004, S. 60; 2011, S. 307–364.

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begangenen Taten betrifft, deren Ursache die Überwältigung durch Lüste (hêdonôn) und Begierden (epithymiôn) und Neidgefühle (phthonôn) ist, so müssen wir diese nach jenen besprechen. (Leg. IX 869e5–8)

Die geplanten, vorsätzlichen Tötungen, die als in jeglicher Hinsicht ungerecht klassifiziert werden, entstehen also durch eine Tyrannis des untersten Seelenvermögens. Wie wir später noch sehen werden, ist diese vollkommene Unordnung und die Versklavung unter die Lust genau das Kennzeichen der schlechtesten Charakterart, nämlich des Tyrannen (vgl. Kap. 3). So müssten diesen Charakter die größten Strafen erwarten. Allerdings muss auch bedacht werden, dass dieser Charakter als unheilbar gilt, sodass die Todesstrafe angewandt werden müsste: Nicht zur Besserung des Charakters, da dies nicht mehr möglich ist, aber zur Abschreckung und zum Nutzen der Polis. 479 Betrachtet man das der Vorrede folgende Gesetz, so bestätigt sich die Vermutung: Mörder erwartet die Todesstrafe (vgl. Leg. IX 871d4–e2). Wo aber bleibt die Unwissenheit, die gar drei Arten von Verfehlungen hervorbringt? Klaus Schöpsdau vermutet, dass man sie – wenn als »Mangel an Verstand« 480 aufgefasst – in den Fällen von 864c–e wiederfinden könnte (unzurechnungsfähige Akteure) oder – wenn das »›Streben der wahren Meinung nach dem Besten‹« 481 zugrundegelegt wird – in Fällen der unfreiwilligen Tötung oder Körperverletzung. Er erkennt aber auch, dass erst bei den Atheisten in Buch X explizit die Unwissenheit (als amathia) genannt wird. 482 Wenn man meiner vorherigen Lesart folgt, die Freiwilligkeit mit Bewusstheit gleichsetzt (vgl. Kap. 2.4.1.1), so können die ungewollten Tötungen oder Körperverletzungen nicht mit der Unwissenheit identifiziert werden, da sie lediglich aus unbewusstem Handeln hervorgehen. Unwissenheit begleitet zwar alle Fehlhandlungen, insofern ein Missklang in der Seele entsteht, wenn die unteren Seelenvermögen herrschen (vgl. Leg. III 689a7–9 und Kap. 2.3.2). Um als direkte Ursache einer verfehlten Handlung aber die Unwissenheit angeben zu können, müsste die Tat nicht direkt aus Zorn oder Lust begangen werden, sondern aus einer falschen Meinung heraus, die dadurch entstanden ist, dass ein dauerhaftes Chaos in der Seele vorherrscht und die Ver479 Für eine Diskussion zu unheilbaren Charakteren und der Beschreibung der tyrannischen Seele als unheilbar vgl. Kap. 2.2. 480 Schöpsdau 2004, S. 63. 481 Ebd., S. 63. 482 Vgl. ebd., S. 63.

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nunft aufgrund der starken unteren Seelenvermögen nicht korrekt arbeiten kann. Ungewollte Handlungen sind hier also solche, die unbewusst oder aus Versehen passieren – wie auch die Beispiele deutlich machen, wenn jemand einen Mitstreiter im Wettkampf unbeabsichtigt verletzt. Es handelt sich also um Tötungen oder Verletzungen, die ohne ein ungerechtes êthos verursacht wurden; der Athener bleibt hier also seinem zuvor aufgestellten Grundsatz treu: Er blickt auf das êthos des Akteurs, das hier offensichtlich kein schlechtes ist. Da keine böse Intention vorhanden war, gibt es auch keinen Charakter, der gebessert werden müsste. Dies drückt sich auch in der Strafe aus: Es gibt keine, wenn die Tötung im Rahmen öffentlicher Spiele oder Wettkämpfe erfolgt ist oder durch einen Arzt, dessen Patient bei der Behandlung stirbt; lediglich Reinigungen sind vorgesehen. Wenn es sich um eine eigenhändige Tötung außerhalb dieser Kontexte handelt, so ist Wiedergutmachung zu leisten und es sind ebenfalls Reinigungen durchzuführen. Zugleich müssen, wenn es sich um die Tötung eines Freien handelt, alle vertrauten Orte des Opfers gemieden werden. Allerdings scheint es sich auch hier nicht um eine echte Strafe zu handeln, da es um den Glauben geht, dass eine getötete Seele den Täter, wenn er sich an deren vertrauten Orten herumtreibt, verwirre, da sie durch ihn selbst verwirrt ist und in Schrecken versetzt wurde (vgl. Leg. IX 865d3–e9). Ähnlich lässt sich m. E. auch Leg. IX 864c10–e9 lesen: Die seelische Verfasstheit, sei sie durch Krankheit, Wahnsinn 483, hohes oder noch sehr unreifes Alter bedingt, ist als unbewusster, nicht zurechnungsfähiger Zustand aufzufassen. All diese Dispositionen sind dadurch gekennzeichnet, dass die entsprechenden Individuen keinen Zugriff auf ihre Vernunft haben, allerdings nicht in dem Sinne, wie das bei moralisch verwerflichen Charakteren der Fall ist: Der Tyrann mag zwar von seinen Lüsten beherrscht sein, kann aber dennoch klug handeln, da sein logistikon ganz einfach instrumentalisiert und für

483 Hier ist nicht der Seelenzustand gemeint, der im Timaios als mania bezeichnet wird (unkontrollierte untere Seelenteile), da eine solche Situation bereits zuvor abgehandelt wurde, als es um die Überwältigung durch Lust oder Zorn ging. Hier scheint es eher um die körperliche Krankheit zu gehen. Vgl. zu verschiedenen Verwendungsweisen von mania auch Ahonen 2014, der zwischen medizinisch-körperlicher Krankheit, seelischem Defekt und göttlicher Inspiration bei Platon unterscheidet, wobei eine Zuordnung nicht immer klar gegeben ist (vgl. S. 35 f., 47).

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schlechte Zwecke eingesetzt wird. Das lässt sich bei Wahnsinnigen, Kindern, alten Leuten oder Kranken aber nicht sagen. Daher scheint es mir angemessener, die Abhandlung der Unwissenheit in der Strafpraxis erst in Leg. X gegeben zu sehen: Atheisten und Gottesfrevler leiden klar an amathia. Ob sie aber an der schwersten Form der amathia leiden, hängt auch von ihrer sonstigen Einstellung ab: Wenn sie aber zusätzlich zu der Überzeugung, alles sei leer von Göttern, noch von Unbeherrschtheit gegenüber Lust und Schmerz (akrateiai te hêdonôn kai lypôn) befallen werden und ein starkes Gedächtnis (mnêmai te ischyrai) und rasche Auffassungsgabe (mathêseis oxeiai) dazu kommt, so ist zwar die Leugnung der Götter ein in beiden vorhandenes gemeinsames Leiden (koinon pathos); aber hinsichtlich der Schädigung der andern Menschen wird wohl die eine Art weniger und die andere mehr Unheil anrichten. Denn der erstere wird zwar in seinem Reden über die Götter und über Opfer und Schwüre sich jede Freiheit herausnehmen und indem er die übrigen Menschen auslacht, wird er vielleicht auch andere zu seinesgleichen machen, falls er keine Strafe erhält; der zweite aber, der wie der andere denkt, aber als Mann mit guten Anlagen (euphyês) gerühmt wird, ist jedoch voll von Heimtücke (dolou) und Verschlagenheit (enedras); aus dieser Gruppe gehen vielfach Seher (manteis) hervor und Leute, die in der gesamten Zauberkunst bewandert sind, manchmal gehen daraus aber auch Tyrannen (tyrannoi) und Volksredner (dêmêgoroi) und Heerführer (stratêgoi) hervor und Leute, die sich auf private Mysterien verlegt haben (teletais de idiais epibebouleukotes), und ebenso die Tricks der sogenannten Sophisten (sophistôn te epikaloumenôn mêchanai). Von diesen wird es also viele Arten geben, aber einen Erlaß von Gesetzen erfordern nur zwei Arten, von denen die heuchlerische Art Verfehlungen begeht (hamartanon 484), die nicht bloß einfachen oder zweifachen Tod verdienen, während die andere der Zurechtweisung (nouthetêseôs) und zugleich der Haft (desmôn) bedarf. (Leg. X 908c1–e3)

Dieser Abschnitt stammt aus der Schlussbesprechung zu den Atheisten und Gottesfrevlern im Allgemeinen. Um die Strafen für Gottesfrevler festzulegen, führt der Athener eine charakterliche Zweiteilung der Verbrecher ein: Sowohl die Atheisten als auch die Frevler, 484 Die Tatsache, dass hier hamartanein für Verfehlungen verwendet wird, die eindeutig Ungerechtigkeiten darstellen und gar mehrerer Tode bedürfen, könnte als Gegenargument gegen Schöpsdaus These im Kontext des Strafrechtsexkurses verwendet werden, der dort die Verwendung von hamartêma betont und daran festmachen will, dass es sich dort lediglich um hamartêmata, nicht aber immer um adikiai/adikêmata handele (vgl. Kap. 2.4.1.1 und Schöpsdau 2011, S. 283–288, v. a. S. 287 f.).

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die davon ausgehen, dass die Götter sich nicht um die Menschen kümmerten oder gar bestechlich seien, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Beide leiden zwar an amathia, da sie an derselben falschen Überzeugung festhalten. Allerdings ist hier zu unterscheiden, ob sie (1) bloß diese falsche Meinung vertreten oder (2) zusätzlich unbeherrscht gegenüber ihren unteren Seelenvermögen sind und zugleich hohe intellektuelle Anlagen besitzen. Diejenigen Seelen, die zugleich an akrateia leiden und einen hohen Intellekt besitzen, sind dann auch diejenigen, die in Isolationshaft im Gefängnis im Landesinneren gehalten werden und nach ihrem Tod unbestattet über die Grenzen geworfen werden (vgl. Leg. X 909b6–c4). Offensichtlich scheint es sich hierbei um Seelen zu handeln, die nicht mehr besserungsfähig sind und aufgrund ihrer Verbrechen gar mehrerer Tode bedürften. 485 Dies fügt sich auch in die These ein, dass gerade die verdorbensten Seelen, die sich als tyrannisch bezeichnen lassen und oft auch als Tyrannen herrschen, nur solche mit hoher intellektueller Begabung sein können (vgl. Kap. 2.2) – auch hier werden u. a. Tyrannen als Beispiele für Unheilbare genannt. Zudem werden solche Seelen auch hier als tierähnlich charakterisiert (thêriôdeis genôntai, Leg. X 909a8). Egil Wyller stellt fest, dass die dritte Art der Gottesfrevler – die er Magiker nennt – vom Athener als die verdorbenste klassifiziert wird (vgl. Leg. X 907b1–4, XII 948c2–d1). 486 Individuen, die der Ansicht sind, die Götter seien bestechlich, würden somit die härtesten Strafen erleiden, wohingegen Atheisten mit größerer Wahrscheinlichkeit noch einen guten Charakter besäßen und nur intellektuelle Defizite aufwiesen und somit auch eher zum Zwecke der Belehrung und Seelenrettung ins sôphronistêrion geschickt würden. 487 Dennoch können alle drei Arten von Gottesfrevlern zur ersten, nicht völlig verdorbenen Gruppe gehören, da der Athener nicht differenziert, wenn er von den Frevlern spricht, die »durch Unvernunft ohne böse Neigung und Charakteranlage 488 so geworden sind« (hyp’ Hier zeigt sich also zumindest im Theoretischen der Aspekt der Vergeltung, wenngleich eine praktische Umsetzung selbstverständlich unmöglich ist. 486 So auch Schöpsdau 2011 (vgl. S. 374). 487 Vgl. Wyller 1957, S. 305–308. 488 Schöpsdaus Übersetzung von êthos als »Charakteranlage« scheint mir hier angemessen zu sein, da wir es sonst an dieser Stelle mit einer Einteilung zu tun hätten, wie wir sie erst bei Aristoteles auffinden, der dianoetische von ethischen Tugenden unterscheidet (vgl. NE I 13, 1103a3–10). Saunders’ Lesart scheint in diese Richtung 485

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anoias aneu kakês orgês te kai êthous gegenêmenous, Leg. X 908e5– 6). Diese werden nicht bis zu ihrem Tode im Gefängnis im Landesinneren gehalten, sondern werden ins Besinnungshaus (sôphronistêrion, Leg. X 909a1) geschickt und dort von den Mitgliedern der nächtlichen Versammlung belehrt. Nur wenn sie danach immer noch nicht gebessert sind und erneut vor Gericht für schuldig befunden werden, werden auch sie als nicht mehr besserungsfähig angesehen und somit zum Tode verurteilt (vgl. Leg. X 908e5–909a8). Es wird hier deutlich, dass die Mitglieder der nächtlichen Versammlung zunächst noch hoffen, diese Menschen zum Guten verändern zu können, da sie zum Zwecke der »Zurechtweisung und zur Rettung ihrer Seele mit ihnen verkehren« (epi nouthetêsei te kai têi tês psychês sôteriai homilountes, Leg. X 909a4–5). An welchem Defekt leiden aber diese weniger zerstörten Seelen? Es kann sich um kein bloßes Fehlgehen der Vernunft handeln, da dafür insgesamt ein mehr oder minder großes seelisches Chaos vonnöten ist, das auch die unteren Vermögen miteinschließt (vgl. Kap. 2.3.2). Klaus Schöpsdau jedoch sieht gemäß seiner vorherigen Interpretation des Strafrechtsexkurses von Buch IX (vgl. Kap. 2.4.1.1) in der hier vorgenommenen Einteilung keine Probleme: Es handelt sich bei der besseren Gruppe von Gottesfrevlern ganz einfach um gerechte Menschen, denn Unwissenheit zählt ja nicht zu den Ungerechtigkeiten. Allerdings hat er auch zuvor zugestanden, dass amathia durchaus die moralisch relevante Form von Unwissenheit darstelle (und damit als ungerecht klassifiziert werden müsste). 489 Nun werden aber die Gottesfrevler pauschal als an amathia leidend angesehen (vgl. Leg. X 886b7–8). Wie können also unwissende Menschen doch noch in irgendeiner Weise als gerecht bezeichnet werden? Prinzipiell wären zwei Szenarien denkbar: (1) Es könnte sich um Fälle solcher Menschen handeln, die in Buch II beschrieben werden: Ihre physis ist zwar von Anfang an richtig ausgerichtet, d. h. sie lieben, was sie lieben sollen, und hassen, was sie hassen sollen (vgl. Leg. zu gehen, wenn er von intellektuell ungerechten Menschen spricht, die ansonsten aber gerecht sein könnten (vgl. 1994, S. 149 f.). Auch wenn die Nomoi an vielen Stellen sehr aristotelisch klingen, insbesondere was die Bedeutung der Habitualisierung angeht, so scheint mir eine solche Einteilung bei Platon – abgesehen von der strittigen Stelle hier – nirgends vorgesehen zu sein. Was man vielleicht sagen könnte, ist, dass die aristotelische Einteilung hier leicht anklingt, aber keinesfalls durch andere Textpassagen gestützt oder ausgebaut wird. 489 Vgl. Schöpsdau 2011, S. 285. Seelen im Wandel

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II 653b6–c4). Wenn dann eine richtige Erziehung hinzugekommen wäre, die diese guten Anlagen stärkt, würde es sich um gute Magneten handeln, die sich keinerlei Verbrechen schuldig machen würden. Offenbar ist aber genau dies nicht erfolgt und die Individuen waren anderweitigen schlechten Einflüssen ausgesetzt, die zwar ihre Anlagen teilweise verdorben haben, aber nicht so weit, dass sie dabei völlig zerstört worden wären. Sie haben also schlechte Gewohnheiten, aber keine schlechte oder eine nur teilweise verdorbene physis (vgl. Leg. II 655e5–6). Diese Gewohnheiten mögen sie seelisch zwar in Unordnung versetzt haben, aber dank ihrer guten Anlagen verbleiben sie in keinem so vollendeten Chaos wie die Menschen mit schlechten Anlagen oder solchen, deren gute Anlagen durch dauerhafte schlechte Einflüsse doch vollständig zerstört worden sind. Denkbar wäre aber auch, (2) dass es sich um recht geordnete Seelen handelt, die insofern als tugendhaft bezeichnet werden, als sie zwar nicht die vollständige, aber doch immerhin eine bürgerliche Art der Tugend besitzen. Eine solche Lesart würde sich auch gut mit dem zuvor behandelten Strafrechtsexkurs vertragen, nach dem bestimmte Charaktere als gerecht bezeichnet werden mussten (phateon, vgl. Leg. IX 864a4), die sich am Ende aber doch nur einer wahren Meinung, aber keiner epistêmê rühmen konnten. Das war auch der Grund für ihr mögliches Fehlgehen (kan sphalletai ti, Leg. IX 864a4). So könnte man auch die unverdorbenere Gruppe der Gottesfrevler zu dieser Art Menschen zählen: Ihre Seelen besitzen eine gewisse Grundordnung, sind aber nicht hinreichend ausgebildet, um sicherzustellen, dass ihre Vernunft nie fehlgeleitet werden könnte. 490 So erliegen sie schließlich doch einer falschen Meinung über die Götter, leiden aber nicht an der größten amathia, d. h. einem vollständigen seelischen Chaos und Widerstreit der verschiedenen Seelenteile. (2) muss aber dennoch ausgeschlossen werden, da diese Lesart implizieren würde, dass Menschen, die an einer schwacheren Version der amathia leiden, für gerecht angesehen werden – dass amathia aber stets ein seelisches Chaos bezeichnet und Ungerechtigkeit impliziert, wurde oben versucht zu zeigen (vgl. Kap. 2.4.1.1). Daher bleibt die erste Lösung, die dadurch unterstützt wird, dass die Gottesfrevler die Ungerechtigkeit hassen (vgl. Leg. X 908b4–c1). Ihre Charakter490 Eine analoge Lesart lässt sich auch auf die Wächter der kallipolis anwenden, die vor dem Abschluss ihrer Ausbildung immer noch die Idee des Guten verfehlen können. Vgl. Kap. 3.3.3.

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anlagen scheinen also sehr gut zu sein, sie fühlen die korrekten Emotionen bei den entsprechenden Handlungen. Die Gewohnheiten, vielleicht auch der Einfluss von außen haben sie aber insofern verdorben, als ihnen die falsche Meinung über die Götter eingeimpft wurde. Diese Art der Gottesfrevler kann darüber hinaus auch nicht allzu begabt sein, denn nur so kann die Therapie dieser Individuen nachvollziehbar erklärt werden: Sie werden vom nächtlichen Rat zurechtgewiesen oder ermahnt (nouthetêsis, Leg. X 909a4), erhalten aber nicht die höhere Form der Erziehung, die der Einteilung im Sophistês zufolge im elenchos besteht (s. u.). Somit wäre nun zumindest die grobe Einteilung der Strafrechtstheorie auch in der Praxis aufgefunden: Lust (als Ursache vorsätzlicher Tötungen), Zorn und Unwissenheit. Auch wenn die Einteilung der Strafrechtstheorie nicht systematisch und auch nicht komplett eingehalten wird, so scheint sich der Athener in weiten Teilen doch an seine Forderung zu halten, den Charakter zu betrachten, wenn es um die Bestimmung des Strafmaßes geht. So werden diejenigen Seelen, die an der schwersten Form von amathia leiden, als unheilbar angesehen und entweder direkt zum Tode verurteilt oder zu einem lebenslangen Gefängnisaufenthalt verdammt (vgl. Leg. X 909a5–c4). Ist die Unwissenheit aber noch nicht in fortgeschrittenem Stadium, so liegt der Zweck der Strafe in der Besserung ihres Charakters (vgl. Leg. X 908e5–909a5). Wenn man aber der im Timaios geäußerten Ansicht Glauben schenken mag, dass die amathia die größte seelische Krankheit darstellt (vgl. Tim. 88b5), so lässt sich fragen, warum auch Mörder zum Tode verurteilt werden – ein Zeichen für die Unheilbarkeit ihrer Seele. Vielleicht lässt sich dies so erklären, dass auch sie an dieser schwersten Form der Unwissenheit leiden, da die Begierden offensichtlich dauerhaft die Oberhand in der Seele übernommen haben – denn es handelt sich um Mord und nicht um einfache (unbeabsichtigte) Tötung. Dennoch wird als Ursache des Verbrechens die Lust genannt, da sie der ursprüngliche Auslöser für den Mord war. Das impliziert jedoch nicht, dass der Täter lediglich an einem rasenden epithymêtikon leidet (d. h. an mania), wenngleich dies sicherlich die Ausgangssituation war, sondern dass dieser Zustand sich verfestigt hat und das logistikon dauerhaft unterjocht wird und sich die Seele somit in unwissendem Zustand befindet. Bei den Atheisten mag zwar der gleiche Mechanismus ablaufen; ihre Verbrechen hingegen basieren auf ihrer falschen Überzeugung, dass es keine Götter gibt. Daher wird dort die amathia als direkte Ursache genannt, bei Mord Seelen im Wandel

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hingegen die Lust, da es hier nicht um falsche Meinungen geht, sondern um den ursprünglichen seelischen Antrieb, der den Täter zum Mord angetrieben hat. 491 Eine Besonderheit stellen nun aber Taten aus Zorn dar, die hier abschließend besprochen werden sollen. Der Athener stellt klar, dass sich Tötungen aus Zorn, die im Affekt oder mit langer Planung begangen werden können, nicht direkt mit freiwilligen oder unfreiwilligen (d. h. beabsichtigten oder unbeabsichtigten) Taten gleichsetzen lassen: Ath. […] Wir müssen also, wie es scheint, zwei Arten von Tötung annehmen, die beide mehr oder weniger im Zorn geschehen und die man am richtigsten als ein Mittelding (metaxy) zwischen einer freiwilligen (hekousiou) und einer unfreiwilligen (akousiou) Tat bezeichnen würde. Jedoch ist jede der beiden Arten nur ein diesen ähnliches Abbild (eikôn): Wer seinen Zorn aufhebt und sich nicht sogleich auf der Stelle (ek tou parachrêma exaiphnês), sondern mit Vorbedacht (meta epiboulês) erst zu einem späteren Zeitpunkt rächt, der ähnelt dem freiwilligen Täter (hekousiôi eoiken). Wer dagegen seine Wut nicht aufspart, sondern sie ohne Vorbedacht (aprobouleutôs) sogleich auf der Stelle in die Tat umsetzt, der gleicht dem unfreiwilligen (homoios men akousiôi); doch ist er kein ganz unfreiwilliger Täter, sondern nur einem unfreiwilligen ähnlich (eikôn akousiou). Darum ist es bei den im Zorn begangenen Tötungen schwer zu bestimmen, ob man sie bei der Gesetzgebung als freiwillige oder einige wie unfreiwillige behandeln soll. Am besten und der Wahrheit am ehesten gemäß wird es allerdings sein, beide nach ihrer Ähnlichkeit einzustufen und sie je nach Vorbedacht oder Fehlen eines Vorbedachts (choris têi epiboulêi kai aprobouliai) voneinander zu scheiden und für die Täter, die mit Vorbedacht und im Zorn töten, die härteren Strafen (tas timôrias chalepôteras), und für die, die es ohne Vorbedacht und auf der Stelle tun, mildere (praioteras) Strafen im Gesetz festzulegen. Denn was einem schwereren Übel ähnlich ist, muß schwerer, was einem leichteren, muß leichter bestraft werden. So müssen denn auch unsere Gesetze verfahren. (Leg. IX 866e6–867c2)

Der Athener teilt die Verbrechen aus Zorn auf in solche, die im Affekt geschehen, und andere, die mit Vorbedacht begangen werden. Für die Art der Strafe ist es aber entscheidend, ob es sich um unfreiwillige oder freiwillige Taten handelt, d. h. unbeabsichtigte oder aber mit vol491 Auch Aristoteles führt in der Nikomachischen Ethik eine solche Einteilung ein; er unterscheidet dabei zwischen Taten, die aufgrund von Unwissenheit (di’agnoian) begangen werden, und solchen, die in Unwissenheit (agnoôn), z. B. in Trunkenheit oder Zorn, verübt werden (vgl. NE III 2, 1110b24–27).

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ler Absicht begangene Verbrechen. Unbeabsichtigte Verbrechen ziehen keine Strafe nach sich (lediglich Reinigungen im Falle von Tötungen), da kein schlechter Charakter mit im Spiel war. Bei in voller Absicht begangenen Verbrechen hingegen sind je nach Verdorbenheit des Charakters mehr oder minder schwere Strafen vorgesehen. Nur bei unheilbaren Charakteren kommt es zur Todesstrafe, die anderen Strafen zielen auf die Besserung der Seele. 492 Tötungen aus Zorn stellen nun eine Schwierigkeit dar, da sie, wie der Athener anmerkt, nicht klar zuzuordnen sind. Tötungen im Affekt würden mehr unbeabsichtigten Tötungen gleichen, diejenigen mit Vorbedacht mehr den beabsichtigten. Aus pragmatischen Gründen scheint der Athener den Verbrechern dann entsprechende Strafen beizumessen. Da die Tötung im Affekt zwar keinen völlig verdorbenen Charakter voraussetzt, aber dennoch immerhin eine kurzfristige Unordnung der Seele, wird der Täter neben den Maßnahmen, die für unbeabsichtigte Tötungen vorgesehen sind (d. h. Wiedergutmachung), zusätzlich eine Strafe erleiden, die in zwei Jahren Verbannung besteht (vgl. Leg. IX 867c4–8), da im Gegensatz zum völlig unfreiwilligen Täter hier bereits ein schlechter Charakter vorliegt, der gebessert werden muss. Derjenige, der aber einen dauerhafteren schlechten Seelenzustand aufweist, was sich darin ausdrückt, dass er mit Vorbedacht tötet, muss auch eine schwerere Strafe erleiden, da der Athener davon ausgeht, dass sein Zorn größer ist. Die schlechtere Seelenverfassung zeigt sich auch darin, dass die Tat im Affekt direkt Reue nach sich zieht, der Täter also aus einer kurzfristigen seelischen Unordnung heraus gehandelt hat, die sich danach wieder beruhigt hat, die geplante Tat hingegen nicht bereut wird, der schlechte Seelenzustand somit dauerhaft ist (vgl. Leg. IX 866d7–e6). Letztere müssen daher drei Jahre in die Verbannung gehen (vgl. Leg. IX 867c8–d3). Die Mittelstellung des Zorns könnte dann so verstanden werden, dass Taten im Affekt insofern eher unfreiwillig sind, als das Ver492 Gegen Benardete 2000, der der Ansicht ist, dass das Strafrecht hauptsächlich dazu da sei, unheilbare Seelen aufzuspüren: »The art of justice consists more in the detection and understanding of the disease than in its treatment, for criminal law largely handles that incurable element in the city which the youthful tyrant, had he been the ally of the legislator, would have excluded from the city at the start.« (2000, S. 259) Dass aber seelische Besserung ebenfalls ein zentraler Aspekt des Strafrechts ist, haben u. a. bereits Mackenzie 1981, Saunders 1994 und Schöpsdau 2004 festgestellt. Für Textbelege vgl. z. B. die Ausführungen zum Zorn, der durch Strafe gezügelt werden soll, in Leg. IX 867c4–d3.

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nunftvermögen kurzfristig unterjocht wird und der Täter kurzfristig fremdbestimmt handelt. Allerdings sind solche Taten nicht vollständig unfreiwillig, da der Täter selbst verantwortlich dafür ist, dass er seine unteren Seelenvermögen in der das ganze Leben andauernden Erziehung Magnesias nicht richtig trainiert hat und somit sein Zorn erst die Möglichkeit hat, rasch aufzuwallen und nicht dabei behindert zu werden. Dieselbe Argumentation kann man für die Taten aus Zorn mit Vorbedacht anführen: Der Täter begeht den Mord (fast) freiwillig, da der Zorn nicht kurzfristig in seiner Seele herrscht, sondern dauerhaft und damit die Vernunft nicht nur unterjocht, sondern diese auch für negative Zwecke einsetzt. Er ist sich somit seiner schlechten Tat bewusster. Die Körperverletzungen werden fast analog zu den Tötungen eingeteilt: Sie können ungewollt, aus Zorn, aus Furcht oder mit bewusster Absicht und freiwillig begangen werden (vgl. Leg. IX 874e5– 7). Hervorzuheben ist aber, dass den veränderten Konsequenzen der Handlungen durchaus Rechnung getragen wird. So wird zwar weiterhin auf den Charakter geschaut, aber bei versuchtem Mord wird, obwohl der gleiche schlechte Charakter zugrundeliegen muss, eine mildere Strafe verhängt als bei erfolgreichem Mord 493: Ath. […] Wenn jemand, der willentlich einen befreundeten Menschen zu töten beabsichtigt – abgesehen von den Personen, bei denen es das Gesetz erlaubt –, diesen zwar verletzt, aber nicht imstande ist, ihn zu töten, so verdient einer, der dies beabsichtigt und ihn verletzt, kein Mitleid, sondern verdient, daß man ihn ohne besondere Rücksicht und nicht anders, als wenn er ihn getötet hätte, die Strafe wegen Mordes zu erleiden zwingt. Aber aus Ehrfurcht vor seinem nicht ganz so schlimmen Geschick und vor dem Dämon, der aus Erbarmen mit ihm und dem Verletzten von diesem eine unheilbare Wunde und von jenem ein fluchwürdiges Geschick und Unglück abgewendet hat – um also diesem Dämon Dank abzustattten und sich ihm nicht entgegenzustellen, soll man dem Urheber der Verletzung den Tod ersparen, doch soll ihn eine lebenslange Übersiedlung in irgendeine benachbarte Stadt treffen, wobei er im Genuß seines gesamten Besitzes bleiben soll. […] (Leg. IX 876e6–877b2)

493 Bestimmte Fälle sind davon ausgenommen und werden mit der Todesstrafe belegt, nämlich wenn ein Kind die Eltern verletzt, um sie zu töten, ein Sklave seinen Herrn oder Geschwister sich untereinander mit Tötungsabsicht verletzen (vgl. Leg. IX 877b6–c1). Zur Berücksichtigung der Standeszugehörigkeit, Alter, Verwandtschaftsgrad und Geschlecht im Strafrecht vgl. z. B. Knoch 1960 (erster Teil: Kap. VI und VII).

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Der Charakter wird somit noch nicht als unheilbar angesehen. Hier spielt nun der Aspekt des Geschicks eine Rolle: Aus Respekt vor der tychê und dem daimôn des Individuums, der offensichtlich den Mord abgewendet hat, wird der Verbrecher nicht zum Tode verurteilt, auch wenn die Tat ansonsten wie ein Mordfall zu behandeln sei. Allerdings darf dies nicht mit dem Zufall verwechselt werden; es ist nicht so, dass die hier genannten Verbrecher einfach Glück hatten, dass ihr Opfer nicht gestorben ist. Zieht man Platons Reinkarnationsmythos der Politeia hinzu (vgl. Rep. X 614b2–621d3), so würde es sich bei diesen Verbrechern um Individuen handeln, die zwar ohne Frage ein schlechtes Schicksal für sich gewählt haben, aber doch kein vollkommen schlechtes. Erfolglose Mörder hätten somit immer noch einen besseren Charakter aufzuweisen als erfolgreiche Mörder, da jene in der Unterwelt die klügere Wahl getroffen haben. 494 Es lässt sich also festhalten, dass, wenngleich der Athener keine klare Systematik liefert, bei der Festlegung von Höhe und Art der Strafe durchaus der Charakter als Maßstab dient. Abgesehen von unheilbaren Charakteren scheint der Zweck der Strafe in seelischer Besserung zu liegen. Wie aber kann Strafe die seelische Verfassung verändern? Richard F. Stalley zufolge liefern die Nomoi keine explizite Erklärung dafür, wie Strafe die Seele heilen soll. Daher hält er dies auch für »the major weakness in Plato’s account of punishment.« 495 Es ist richtig, dass der Athener nirgends den genauen Wirkmechanismus erklärt, wenn Strafe zur Besserung eingesetzt wird; Zorn beispielsweise soll einfach durch den Aufenthalt im Exil gezügelt werden (vgl. Leg. IX 867c4–d3). Allerdings gibt es einige Hinweise: Für Anne Merker besteht der zentrale Aspekt der Bestrafung nicht in der Auferlegung körperlichen Schmerzes, sondern in der Scham (aischynê), mit der wir durch bestimmte Strafen belegt werden. Dadurch werde aidôs in unserer Seele 494 Der Zufall hingegen scheint bei ungewollten Verletzungen eine Rolle zu spielen, da diese vollständig unbeabsichtigt geschehen sind. Daher erleiden solche Menschen auch keine Strafe – mit dem Verweis, dass kein Gesetzgeber die tychê beherrschen könne (vgl. Leg. IX 879b1–5). 495 Stalley 1983, S. 146. Stalley vermutet aber, dass wir zunächst aus Angst vor Bestrafung keine Verbrechen begehen und uns dann an unser gerechtes Verhalten gewöhnen. Diese Erklärung hält er jedoch für problematisch, weil so Besserung und Abschreckung aneinander gekoppelt würden – Besserung wäre nur durch Abschreckung möglich (vgl. ebd., S. 146). Eine solche Abhängigkeit wird sich aber gerade bei der Bestrafung in den Jenseitsmythen zeigen (vgl. Kap. 2.4.2).

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wiedererweckt, die erstmalig durch Weinkonsum erworben und bei Verlust durch Strafe reaktiviert werde. 496 Da die Gesetze in Magnesia häufig öffentliche Zurschaustellungen beinhalten 497, scheint diese Lesart plausibel. Der Wein aber kann nicht zum erstmaligen Erwerb der Scham eingesetzt werden, da dann Kinder, die aufgrund ihres eigenen inneren Feuers vom Weinkonsum ausgeschlossen werden (vgl. Leg. II 666a3–7), niemals darin eingeübt werden könnten. Die erste Erziehung besteht aber gerade darin, die unteren Seelenvermögen richtig auszurichten (vgl. Leg. II 652b3–653c4). Bei höher Begabten, die des Gottesfrevels für schuldig befunden werden, besteht die Strafe hingegen in einem Gefängnisaufenthalt und Gesprächen mit dem nächtlichen Rat (vgl. Leg. X 908e5–909a5). Daher könnte hier eine Art intellektuelle Belehrung zum Zwecke der Seelenbesserung gemeint sein. 498 Das wäre nur folgerichtig, da nur diejenigen Frevler, deren untere Seelenvermögen nicht völlig verdorben sind, diese (mildere) Art von Strafe erhalten. Da deren Anlagen korrekt ausgerichtet sind, würde dann die Hauptaufgabe der Mitglieder des nächtlichen Rates darin bestehen, deren Vernunft von falschen Überzeugungen zu befreien, d. h. die Wirkung, die die falschen Gewohnheiten in der Seele hinterlassen haben, zu beseitigen. Allerdings fällt auf, dass als Methode der Besserung nur nouthetêsis genannt wird. Dem Sophistês zufolge kann aber nur der elenchos eine Seele auf nachhaltige Weise reinigen. Wenn es um die Beseitigung der Unwissenheit geht, nennt der Fremde die Belehrung (didaskalikê), die sich noch einmal in nouthetêtikê und den elenchos unterteilen lasse (vgl. Soph. 229d1–230e5). Die erste Form wird dort allerdings kritisiert, da damit nur wenig erreicht werde (smikron anytein, Soph. 230a9). Es bleibt also die Frage, warum der nächtliche Rat kein prüfendes Gespräch durchführt, sondern die Gottesfrevler Vgl. Merker 2004, S. 33–35. Vgl. dazu die Aufstellung bei Knoch 1960 (S. 133–140), der verschiedene Arten von Ehrentzug in den Nomoi zusammenstellt. 498 Vgl. Schöpsdau 2004 (S. 65), der diese nouthetêsis als »eine Art intellektuellen Nachhilfeunterricht« (ebd., S. 65) interpretiert. Worin genau aber die Gespräche bestehen, bleibt absolut im Unklaren, zumal da sich unter nouthetêsis als Übersetzungsmöglichkeiten nur »Ermahnung, Warnung, Zurechtweisung« finden lassen (vgl. Gemoll s. v.; LSJ s. v., wo »admonition, warning« als Bedeutungen aufgeführt werden). Schöpsdau wählt in seiner Übersetzung letztere Möglichkeit (vgl. 2011, Übers. v. Leg. X 909a4), die noch am ehesten mit intellektueller Belehrung assoziiert werden könnte. 496 497

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lediglich ermahnt oder zurechtweist. Da der Rat aufgrund seiner Ausbildung und Kompetenz (vgl. Leg. XII 961a1–969c3) sicherlich des elenchos fähig wäre, muss die Lösung darin liegen, dass die Gefangenen offenbar doch nicht als hinreichend begabt angesehen werden. Hier hilft die zuvor eingeführte Lesart der Gottesfrevler: Diejenigen, die noch heilbar sind, sind nicht stark intellektuell begabt. Denn sie sind nur im Besitz bürgerlicher Tugend und können analog zur Passage aus Leg. IX 864a4 als gerecht bezeichnet werden, sind es aber nicht in vollem Maße. Daher halten die Mitglieder des nächtlichen Rats sie möglicherweise tatsächlich nicht des elenchos fähig. Anders steht es mit den unheilbaren Gottesfrevlern: Wie in Kap. 2.1 ausgeführt, kann es sich hier nur um intellektuell sehr begabte Menschen handeln, die ihre Seele aber nicht richtig ausgerichtet haben und daher ihren Intellekt missbrauchen. Dafür sprechen auch die Beispiele, die der Athener für diese Art Menschen anführt (u. a. Tyrannen, vgl. Leg. X 908d5), und ihre entsprechend verheerendere Wirkung bei den Bürgern (vgl. Leg. X 908c1–6).

2.4.2 Jenseits Bis hierhin wurden Strafrechtstheorie und -praxis lediglich für das Diesseits diskutiert; dass Bestrafung aber auch im Jenseits eine bedeutende Rolle spielt, wurde bereits bei der Behandlung der unheilbaren Seelen klar (vgl. Kap. 2.2). Daher sollen hier nun in knapper Form die Jenseitsmythen von Gorgias, Phaidon und Politeia auf die Funktion von Strafe hin untersucht werden. Es wird sich dabei zeigen, dass auch im Jenseits Seelenbesserung eine Rolle spielt, allerdings mit besonderer Betonung der Abschreckung, die dafür nutzbar gemacht werden kann. Mary Margaret Mackenzie hingegen argumentiert dafür, dass eine Vergeltungstheorie in Platons Jenseitsmythen vorherrsche. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass als Hauptzweck Seelenbesserung angestrebt werde, und zudem werde der Verbrecher nicht mehr durch die sokratische These des unfreiwilligen Unrechttuns entschuldigt noch bemitleidet, da nun an die volle Verantwortlichkeit des Individuums appelliert werde. Das Szenario in den Jenseitsmythen sei »the end of a process« 499, d. h. es geht primär darum, jedem das ihm Zu499

Mackenzie 1981, S. 230 (Kurs. im Orig.).

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kommende zuzuteilen, den gerechten Seelen Belohnungen und den ungerechten Seelen Bestrafungen. In jedem Falle sei die Art der Bestrafung im Jenseits klar von derjenigen im Diesseits zu unterscheiden, die sie noch als Humanitarismus bezeichnet hat: »Exculpation has been dropped, and the humanitarian approach has lapsed.« 500 Auch Abschreckung wird von Mackenzie abgelehnt, da sich Strafe nun nicht mehr auf die Unheilbaren beschränke, »some deterrent purpose« 501 erkennt sie aber dennoch an. Die Charakteristika von Bestrafung, die sich in den Jenseitsmythen ausmachen ließen 502, deuten ihr zufolge auf eine Vergeltungstheorie hin. Auch wenn Vergeltung mit Seelenbesserung in Konflikt stehe, biete uns Platon hier nicht zwei verschiedene oder inkompatible Arten von Straftheorien an. Den Vergeltungsaspekt erklärt Mackenzie damit, dass Platon diesen unter Druck seiner Vorgänger eingeführt habe. Vergeltung sei eine Antwort »to the problem of manifest unfairness and to the anxiety provoked by a system in which the culpability of the criminal is disallowed.« 503 Am Ende werde eben doch Gerechtigkeit hergestellt. 504 Wenngleich klar vergeltende Elemente in den Jenseitsmythen stärker betont werden, würde ich den Aspekt der Seelenbesserung und Abschreckung jedoch nicht so rigoros zurückweisen: Strafe hat sich auch im Diesseits nicht auf unheilbare Seelen beschränkt (vgl. Kap. 2.4.1); Abschreckung wird sowohl im Diesseits wie im Jenseits mit der Beschreibung der entsprechenden Strafen für die Unheilbaren erreicht oder hat dies zumindest zum Ziel. Und Verantwortung wird den Individuen auch im Diesseits zugesprochen: Unrechttun ist zwar stets unfreiwillig, zieht aber dennoch Bestrafung nach sich. 505 Wir sollen zwar Mitleid mit Verbrechern haben, da sie ja nur unfreiwillig ihre Taten begehen; für Unheilbare gilt diese Vorgabe aber nicht: Ihnen gegenüber muss Zorn gezeigt werden (vgl. Leg. V

Ebd., S. 230. Ebd., S. 230. 502 Sie nennt dazu »this notion of desert; the insistence on personal responsibility; expiation or penalisation in general without regard for the effect on others; the complementing of punishment with reward; and, above all, the anxiety to satisfy the requirements of justice.« (ebd., S. 230) 503 Ebd., S. 239. 504 Vgl. ebd., S. 225–239. 505 Vgl. Kap. 2.4.1. Der Athener unterscheidet in den Nomoi zwischen blabê und adikia; letztere muss bestraft werden (vgl. Leg. IX 861e1–863a2). Zur Problematik der ganzen Textpassage des Strafrechtsexkurses vgl. ebenfalls Kap. 2.4.1. 500 501

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731b3–d5). Zudem lässt sich Seelenbesserung durch Bestrafung bei noch heilbaren Seelen auch in der Unterwelt ausmachen. Beide Elemente finden sich in den Jenseitsmythen von Gorgias, Phaidon und Politeia. Im Gorgias, den auch Mackenzie als schwächstes Beispiel für ihr Argument ansieht 506, legt Platons Sokrates großen Wert auf den Zweck der Bestrafung, der klarerweise auf das Individuum fokussiert ist: Es kommt jedem zu, der bestraft werden soll und von einem anderen auf richtige Weise der Strafe unterzogen wird, entweder besser zu werden und Nutzen zu haben oder den anderen zum Beispiel zu dienen, damit andere ihn leiden sehen, was er leidet, in Furcht geraten und besser werden. (Gorg. 525b1–4) 507

Auch im Hades geht es also darum, Seelen besser zu machen: Nur durch »Schmerz und Leiden (algêdonôn kai odynôn)« können diese von »ihrem Unrecht […] befreit werden.« (Gorg. 525b6–c1) Heilbare Seelen werden also bestraft, um von ihrer ungerechten Seelenhaltung loszukommen, unheilbare Seelen dienen immerhin den anderen noch heilbaren Seelen als Beispiel, womit der abschreckende Aspekt verdeutlicht wird. 508 Wenden wir uns nun der Politeia zu: Dort wird m. E. der abschreckende Aspekt noch offensichtlicher, da die Bestrafungen der Unheilbaren auf grausamste Weise beschrieben werden (vgl. Rep. X 615e4–616a4). Damit wird nicht nur erreicht, dass heilbare Seelen, die in die Unterwelt kommen, davon absehen werden, im nächsten Leben große Unrechtstaten zu begehen, sondern vielleicht auch, dass der antike Leser selbst sich von Ungerechtigkeiten fernhalten wird, wenn er den Beschreibungen Glauben schenken mag. Gerade die Erklärung, mit der die »wilden Männer«, die die Unheilbaren bestrafen, ihre Maßnahmen rechtfertigen (vgl. Rep. X 616a3–4), ist ein Hinweis darauf, dass es nicht nur um Vergeltung, sondern um die Rettung der noch heilbaren Seelen geht. Vergeltung spielt zwar auch eine Rolle,

Vgl. Mackenzie 1981, S. 229 (Fn. 7), 233 (Fn. 16). Sie meint aber, dass die Evidenzen der anderen Jenseitsmythen hinreichend seien, um auch den Gorgias in diese Richtung zu lesen (vgl. ebd., S. 233 (Fn. 16)). 507 προσήκει δὲ παντὶ τῷ ἐν τιμωρίᾳ ὄντι, ὑπ’ ἄλλου ὀρθῶς τιμωρουμένῳ, ἢ βελτίονι γίγνεσθαι καὶ ὀνίνασθαι ἢ παραδείγματι τοῖς ἄλλοις γίγνεσθαι, ἵνα ἄλλοι ὁρῶντες πάσχοντα ἃ ἂν πάσχῃ φοβούμενοι βελτίους γίγνωνται. 508 Sie hängen als »Schaubild und Warnung« (theamata kai nouthetêmata) (Gorg. 525c8) im Hades. 506

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wenn die noch heilbaren Seelen vielfach für ihre begangenen Verbrechen büßen müssen. Entscheidend ist aber, dass es damit nicht zu Ende ist: Sie lernen in dem Sinne aus ihren Übeln, als sie nun wissen, was sie bei Ungerechtigkeiten erwartet. Ein Beweis für dieses Lernen, was vielleicht eher ähnlich wie in den Nomoi einer Konditionierung gleichkommt 509, ist ihre Entscheidung bei der Schicksalswahl. Die meisten dieser Seelen denken nach, bevor sie ihr nächstes Leben wählen, sodass es bei ihnen im Normalfall nicht zu solch unüberlegten Wahlen wie der eines tyrannischen Lebens kommen wird (vgl. Rep. X 619b7–e5). Daher könnte man Mackenzie vielleicht dahingehend ergänzen, dass es sich in der Unterwelt zwar um »the end of a process« 510, aber eben auch um den Beginn eines neuen handelt. Der Jenseitsmythos des Phaidon hingegen gestaltet sich, was die Seelenbesserung betrifft, schwieriger. Das Element der Abschreckung kann aber auch hier angetroffen werden, und zwar sowohl in der Bestrafung der Unheilbaren, die auf ewig im Tartaros bleiben müssen (vgl. Phd. 113e1–6), wie auch der heilbaren Seelen, die aber Verbrechen begangen haben und infolgedessen jährlich aus dem Tartaros gespien werden, um ihre Opfer um Vergebung zu bitten; solange die Opfer ihnen aber nicht verzeihen, bleiben sie auf ewig in diesem Kreislauf gefangen (vgl. Phd. 113e6–114b6 511). Da Sokrates dies Simmias und Kebes kurz vor seinem Tod erzählt, liegt die Funktion des Mythos hier sicherlich auf der Beruhigung seiner Zuhörer, da ihn als Philosophen ein solches Schicksal nicht ereilen wird. Zugleich werden durch die abschreckende Beschreibung der Strafen (wie auch durch die Darstellung der Belohnung für Philosophen) die Mitunterredner 509 Durchschnittliche Seelen tun zwar das Gute, weil sie Lust und Unlust richtig konditioniert haben, wissen aber nicht um die tieferen Gründe für gerechte Handlungen (vgl. Leg. II 659c9–660a8; zur Konditionierung in der Erziehung der Nomoi vgl. Gastaldi 1984 (S. 427 f.), in Bezug auf den Tanz vgl. Pfefferkorn 2016 (S. 166 f.)). Wenn in der Politeia Seelen aus Angst vor späteren Bestrafungen ein gerechtes Leben wählen, handeln sie selbstverständlich auch nicht aus wahrer Tugend heraus. Für die Beschreibung der bürgerlichen Tugend, die Individuen zugesprochen werden kann, die aus egoistischen/niederen Motiven heraus die richtigen Handlungen begehen, vgl. Phd. 68b8–69d4. 510 Mackenzie 1981, S. 230 (Kurs. im Orig.). 511 Diese Textstelle ist auch ein Beleg dafür, dass Platon zumindest dialogübergreifend hamartêmata nicht scharf von adikiai abgrenzt, da die hier erwähnten Verbrecher hamartêmata begangen haben, die ganz eindeutig auch zu den adikiai zu rechnen sind. Für die Diskussion zur Verwendung von hamartêma und adikia vgl. Kap. 2.4.1.1.

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noch stärker zur Philosophie hingezogen. Seelische Besserung scheint hier allerdings wirklich nicht im Vordergrund zu stehen, da es keine Hinweise darauf gibt, ob die bestraften Seelen in ihrer nächsten Reinkarnation weniger verbrecherische Taten begehen werden. Zu erwarten wäre es zwar, jedoch bleibt dies Spekulation. Es bleibt also festzuhalten, dass Vergeltung zwar ein Element der Bestrafungen im Jenseits darstellt, jedoch nicht den alleinigen Zweck der Strafmaßnahmen ausmacht. Auch die Besserung der Seele kann Zweck der Strafe sein, wie im Gorgias und in der Politeia gesehen, und insbesondere Abschreckung, die sich zusätzlich auch im Phaidon zeigt.

2.5 Weitere Faktoren: Zur Rolle der Umwelt, des Zufalls und der Götter Wie bisher gesehen, berücksichtigt Platon bei seinen Diskussionen zur Charakterformung auch für heutige Leser weitgehend offensichtliche und nachvollziehbare Einflussfaktoren wie die Erziehung, die natürlichen Anlagen, körperliche Dispositionen und Strafmaßnahmen. Allerdings gibt es immer wieder auch einzelne Passagen, die Aspekte betonen, die weniger direkt ins Auge springen: die geographischen Gegebenheiten sowie der göttliche und menschliche Einfluss auf die Entstehung eines Charakters, und zwar bevor die Erziehung oder andere Faktoren zum Zuge kommen können. Es geht jetzt also vornehmlich um die Phase, die zeitlich vor der eigentlichen Charakterbildung stattfindet, und damit um die Frage, ob unsere Ausgangsbedingungen (wie natürliche Anlagen oder körperliche Dispositionen) einfach dem Zufall geschuldet sind oder ob auch sie beeinflussbar sind. Hilfreiche Textstellen zur Beantwortung dieser Frage lassen sich hauptsächlich in der Politeia und in den Nomoi finden. Der Einfluss der Umweltgegebenheiten Die Umwelt scheint für die Charakterformung insofern eine Rolle zu spielen, als sie die natürlichen Anlagen der Menschen zu einem gewissen Grade bestimmt. Patricia Fagan, die den Zusammenhang zwischen Landschaft und Charakter in den Nomoi untersucht, geht gar so weit zu behaupten, dass »terrain determines constitution, which determines the character of the citizens«, sodass gelten müsse: »simiSeelen im Wandel

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lar terrains lead to similar characters.« 512 Dies schließt sie aus zwei Textstellen aus Leg. I und IV (624a–626b, 704a–706d). 513 Ich möchte im Folgenden zeigen, dass es bis auf Extremfälle plausibler scheint, einen gewissen Einfluss der Umwelt anzunehmen, der die Ausgangsbedingungen erschwert oder erleichtert, aber nicht den Charakter vollständig determiniert. Dafür spricht allein die Tatsache, dass die umweltlichen Gegebenheiten im platonischen Korpus zwar durchaus erwähnt werden, sich jedoch im Vergleich zu den bisher behandelten Faktoren insgesamt viel weniger Textstellen finden lassen. Gerade die ausführlichen Erläuterungen zur Erziehung wären recht sinnentleert, wenn die Gegend, in der wir leben, ohnehin die Verfassung und damit auch die entstehenden Charaktere der Bürger komplett festlegt. Die natürlichen Anlagen können, wie im Laufe des Kapitels noch ersichtlich werden wird, durch die Umwelt zwar durchaus beeinflusst werden, sodass bestimmte Charaktere in bestimmten Gegenden häufiger anzutreffen sind. Bis auf die wenigen Charaktere, die nicht zum Guten hin erzogen werden können 514, scheint die Erziehung aber immer einen bedeutenden Einfluss auszuüben, sodass trotz schlechter geographischer Ausgangsbedingungen die Individuen doch zu mehr oder weniger guten Charakteren erzogen werden können. Die Tatsache, dass die geographischen Gegebenheiten stets nur am Rande erwähnt werden, könnte vielleicht so erklärt werden, dass man einfach keinen Einfluss darauf hat, welchem Volksstamm man angehört und in welcher Weltgegend man aufwächst oder seine Kinder aufzieht. Textpassagen, die die ethnische und damit auch geographische Zugehörigkeit stark betonen, können m. E. daher so gelesen werden, dass Platon mit diesen Äußerungen den Charakter der Griechen lobpreisen wollte. Es handelt sich also nicht um Ratschläge oder Handlungsanweisungen, die erklären, was getan werden muss, um gute Charaktere heranzubilden, sondern es wird ganz einfach herausgestellt, dass sich die Griechen glücklich schätzen könnten, da sie von ihren Anlagen her mehr der Weisheit zuneigten als andere Volks-

Fagan 2013, S. 108. Vgl. ebd., S. 105–109. 514 Vgl. Kap. 2.2. Die wenigen Textpassagen, die solche Charaktere thematisieren, stellen allerdings keinerlei Hinweis zur Geographie her. Wahrscheinlicher sind doch menschliche Einflussfaktoren wie eine Empfängnis in betrunkenem Zustand (vgl. Leg. VI 775d1–e2 zum Verbot betrunkenen Geschlechtsverkehrs). 512 513

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stämme. Die Betonung der ethnischen Zugehörigkeit zeigt sich zunächst in der Politeia: »[…] Es wäre doch lächerlich, zu glauben, das Mutvolle (to thymoeides) sei nicht von den einzelnen Bürgern her in den Staat gekommen, die eben diese Eigenschaft (tautên tên aitian) besitzen – wie etwa die Bevölkerung von Thrakien oder Skythien oder fast alle Nordländer, oder der Wissenstrieb (to philomathes), den man vor allem in unserer Gegend ansetzen mag, oder der Geldtrieb (to philochrêmaton), den man am meisten den Phönikern und Ägyptern zuspricht.« (Rep. IV 435e3–436a3)

Hier spielt Platons Sokrates klar auf die drei Seelenteile an und die natürliche Disposition der Menschen, dem einen oder anderen Teil mehr zugeneigt zu sein. So seien Phönizier und Ägypter von ihren natürlichen Anlagen her mehr dem epithymêtikon zugeordnet, die Nordländer mehr dem thymoeides, die Griechen aber dem höchsten und besten Seelenteil, der herrschen soll, dem logistikon. 515 Mario Vegetti sieht hier einen klaren Bezug zur hippokratischen Schrift »Die Umwelt«, auf deren Grundlage Platon seine ethnologische Skizze entworfen hätte. Dies macht Vegetti an zwei Ähnlichkeiten zwischen den Texten fest: die Zusprechung von mutigen Eigenschaften an nördliche Völker, Thraker und Skythen, die in der hippokratischen Schrift den Europäern im Gegensatz zu den Asiaten zugeschrieben werden, und der geldliebende Charakter der Phönizier und Ägypter. Bei letzteren beruft sich Vegetti allerdings auf die allgemeine Meinung der Griechen. 516 Diese Ähnlichkeit bezüglich der Zuschreibung verschiedener Charaktere an bestimmte Völker lässt sich zwar ausmachen; allerdings bleibt die Frage, warum sich auch gewisse Unterschiede zwischen der hippokratischen und platonischen Beschreibung finden, beispielsweise in der Beschreibung der Skythen. 517 Hätte Platon sich direkt von der hippokratischen Schrift ab515 Für eine ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Einteilung vgl. Pol. VII 7 (1327b19– 36), wo Aristoteles den Bewohnern kälterer Regionen ebenfalls Mut als Eigenschaft zuspricht. Allerdings operiert er in diesem Abschnitt mit nur zwei Eigenschaften, dem Mut einerseits und der geistigen Leistung und Fachkenntnissen andererseits. Letztere seien eher den asiatischen Völkern zuzuschreiben, während Griechenland als in der Mitte liegend an beiden Vorzügen teilhabe. 516 Vgl. Vegetti 1998, Anm. 85. Vretska weist ebenfalls auf die Schrift »περὶ ἀέρων« hin (vgl. 2000, S. 534, Anm. 38 (Buch IV)). 517 Vgl. περὶ ἀέρων 18–22. Besonders in Kapitel 20 und 21 werden negative Merkmale der Skythen genannt wie die »Schlaffheit und Kälte ihres Leibes« (XXI.3–5), was zu Kinderarmut führe; zudem seien sie »krummbeinig und gedunsen« (XX.13;

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setzen wollen, so wäre diese oder ihr Autor sicherlich direkt im Dialog erwähnt worden. Ob mit oder ohne hippokratischen Einfluss scheinen zumindest ansatzweise die verschiedenen geographischen Zonen den Charakter der dort lebenden Menschen zu bestimmen; jedoch ist anzumerken, dass es Platons Sokrates hier eher um die verschiedenen Volksstämme mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften denn um eine klare Kausalität zwischen Umwelt und Charakter geht. Allein aus dieser Passage zeigt sich also keine direkte Verbindung des Charakters zur Geographie, sondern nur zur ethnischen Zugehörigkeit. Dass die verschiedenen Volksgruppen aber unterschiedlich beschaffen sind aufgrund der geographischen Lage ihrer Länder, wird zumindest im Kritias angedeutet: Andere von den Göttern nun hatten ihre Landlose in jeweils anderen Gegenden erhalten und richteten diese ein; Hephaistos und Athena aber als Träger einer gemeinsamen Natur (koinên physin) – einerseits war diese eine geschwisterliche vom gleichen Vater her, und zum anderen strebten sie aufgrund ihrer Liebe zur Weisheit und zu den Künsten in die gleiche Richtung – hatten unter solchen Voraussetzungen beide zusammen einen einzigen Anteil erhalten, nämlich dieses Land, da es in seiner Anlage ihrer Ausrichtung entsprach und geeignet war zur Hervorbringung von Tapferkeit (aretêi) und Klugheit (phronêsei); sie brachten in ihm tüchtige, dem Lande selbst entsprossene Menschen (andras de agathous empoiêsantes autochthonas) hervor und legten ihnen die Einrichtung der staatlichen Ordnung in den Sinn. (Criti. 109c4–d2; übers. Nesselrath)

Hier scheint das Zusammenspiel geeigneter geographischer Anlagen mit dem Wirken entsprechender Götter Menschen mit bestimmten charakterlichen Merkmalen hervorzubringen. 518 Aufgrund eines Textproblems ist aber nicht klar, ob Tugend und Einsicht dem Land selbst entsprechen oder auf die beiden Gottheiten zurückzuführen sind. 519 Heinz-Günther Nesselrath wählt in seiner Übersetzung den Mittelweg: Er teilt oikeian kai prosphoron auf und sieht die erste übers. Diller). Diese negativen Eigenschaften werden von Platons Sokrates aber nicht erwähnt. 518 Die Bedeutung der tychê und der Götter betont auch Vretska bezüglich der Rettung eines Charakters durch göttliches Schicksal (vgl. Rep. VI 492a1–493a2) (vgl. 2000, S. 561 f., Anm. 29 (Buch VI)). Nesselrath wiederum stellt hinsichtlich dieser Kritias-Stelle einen Bezug zum Timaios (24c5–d2) her, wo die »günstigen klimatischen Verhältnisse« (übers. Paulsen/Rehn) phronimôtatous andras (Tim. 24c7) erzeugen (vgl. Nesselrath 2006, S. 141). Es scheinen also durchaus beide Prinzipien relevant für die Charakterentstehung zu sein. 519 οὕτω μίαν ἄμφω λῆξιν τήνδε τὴν χώραν εἰλήχατον ὡς οἰκείαν καὶ

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Hälfte auf Athena und Hephaistos bezogen, die zweite aber auf Attika (die anderen beiden Übersetzungsmöglichkeiten wären ihm zufolge ein Hendiadyoin, der sich entweder nur auf die beiden Götter oder nur auf Attika bezieht). Er begründet dies damit, dass so die »besondere Beziehung von Hephaistos und Athena zu Attika […] wie auch die besonderen Qualitäten Attikas selbst« 520 betont würden. 521 Diese Begründung erscheint besonders vor dem Hintergrund der anderen Dialoge plausibel, da in diesen je nach Kontext die Bedeutung der Umwelt als auch der Götter zutage tritt. Eine etwas umfangreichere Betrachtung der umweltlichen Gegebenheiten bietet der Athener zu Beginn von Nomoi IV: So wäre ihr Zustand [d. i. von Magnesia] also nicht unheilbar im Blick auf den Erwerb von Tugend. Denn falls die Stadt am Meer liegen, gute Häfen besitzen und nicht alle Produkte selbst hervorbringen, sondern an vielem Mangel haben würde, so bräuchte sie einen mächtigen Retter und geradezu göttliche Gesetzgeber, wenn sie sich nicht vielerlei buntschillernde und schlechte Gesinnungen (êthê kai poikila kai phaula) aneignen sollte; […]. Allerdings liegt sie näher am Meer, als sie sollte, […]. Indem das Meer nämlich die Stadt mit Seehandel und mit Geldgeschäften infolge des Kleinhandels überschwemmt, erzeugt es verschlagene und unzuverlässige Gesinnungen in den Seelen (êthê palimbola kai apista tais psychais entiktousa) und macht so die Stadt mißtrauisch und unfreundlich gegen sich selbst und ebenso gegen die anderen Menschen. Einen Trost hiergegen besitzt sie nun auch darin, daß sie alle Erzeugnisse selbst hervorbringt; da das Land aber gebirgig ist, so ist klar, daß es wohl nicht gleichzeitig viele und alle Erzeugnisse hervorbringen wird; wäre dies nämlich der Fall, so würde das eine umfangreiche Ausfuhr ermöglichen, und die Stadt würde dafür mit Goldund Silbermünzen überschwemmt werden, was für eine Stadt, wie man bei genauer Abwägung sagen muß, das größte Übel (meizon kakon) ist im Hinblick auf den Erwerb edler und gerechter Gesinnungen (eis gennaiôn kai dikaiôn êthôn ktêsin), […] (Leg. IV 704d3–705b6)

Hier fungieren die geographischen Gegebenheiten allerdings als indirekter Faktor: Primär geht es dem Athener darum, See- und Kleinhandel zu verhindern, da Gold und Silber die Seele verderben und den untersten Seelenteil stärken. 522 Floriert der Export, so hat dies πρόσφορον ἀρετῇ καὶ φρονήσει πεφυκυῖαν (Criti. 109c8–d1; eig. Hervorhebungen). 520 Nesselrath 2006, S. 142. 521 Vgl. ebd., S. 141 f. 522 Für die Kritik Platons am Reichtum vgl. Schriefl 2013a. Speziell für die Sichtweise in den Nomoi vgl. Schriefl 2013b. Seelen im Wandel

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verheerende Auswirkungen auf die Seele; Ziel des Atheners ist also eine weitgehende Autarkie Magnesias. 523 Allerdings bestätigen nicht nur die bereits erwähnten Stellen im Kritias (109c4–d2) und Timaios (24c5–d2), sondern auch die Nomoi, dass die klimatischen Verhältnisse selbst einen direkten Einfluss auf die Charakterentstehung haben: Denn auch folgenden Punkt, Megillos und Kleinias, dürfen wir nicht übersehen, der die örtlichen Gegebenheiten betrifft: Manche Gegenden sind mehr als andre dazu geeignet, bessere oder schlechtere Menschen hervorzubringen, und hiermit darf man bei der Gesetzgebung nicht in Widerspruch geraten. Manche Gegenden sind vielleicht wegen verschiedenartiger Winde oder wegen Sonnenhitze ungeeignet oder günstig, andere wegen des Wassers, andere gerade wegen der Nahrung, die aus dem Boden kommt und die nicht bloß dem Körper bessere oder schlechtere Kost bietet, sondern auch nicht minder in der Seele all diese Wirkungen hervorzurufen vermag. Vor allen diesen aber ragen wohl diejenigen Gegenden eines Landes am meisten hervor, in denen eine Art göttlicher Hauch weht und die von Dämonen zum Wohnsitz erlost worden sind, welche die jeweiligen Ansiedler huldvoll aufnehmen oder nicht. (Leg. V 747d2–e5)

Der Athener leitet diesen Punkt mit der Bedeutung der Mathematik ein: Diese könne großen Nutzen bringen, vorausgesetzt, »die niedrige und geldgierige Gesinnung« (aneleutherian kai philochrêmatian, Leg. V 747b7–8) werde aus der Seele entfernt. Geschieht dies aber nicht, so entstehe »Gerissenheit […] statt […] Weisheit« (panourgian anti sophias, Leg. V 747c3). Als direkten Grund für diese schlechte Seelenhaltung nennt er das »unfreie[] Wesen ihrer sonstigen Gepflogenheiten und Erwerbsarten« (hypo tês tôn allôn epitêdeumatôn kai 523 Dieselbe Argumentation lässt sich auch für die andere Textstelle anwenden, die Fagan für ihre Lesart heranzieht: Aufgrund der Gegend, die sie bewohnen, haben die Kreter eine bestimmte Art von gymnastikê entworfen (vgl. Fagan 2013, S. 105 und Leg. I 624a–626b), sodass der Charakter indirekt durch die Umwelt beeinflusst wird – das erkennt auch Fagans Interpretation, die allerdings den Einfluss der Umwelt viel stärker macht (vgl. 2013, S. 108). Die Autarkie sieht sie im übrigen als Gefahr für die Verfassung an: »The two planks of law-creation in Laws 1, then, that laws be received from a god and that laws emerge from humans’ relationships with their landscape, tell us that the new city – built in a land that will ensure her hostility to strangers due to her belief in her own self-sufficiency – will not achieve the primary goals of lawgiving in a city.« (2013, S. 115; vgl. ebd., S. 115). Für eine differenziertere Sicht der Meerlage vgl. Aristoteles’ Ausführungen in Pol. VII 6. Vgl. außerdem Leg. VI 778d3– 779a8 für einen Einfluss der Umwelt im weitesten Sinne: Stadtmauern verweichlichen den Charakter und sind somit alles andere als förderlich für die Tapferkeit. Diese Ansicht kritisiert später Aristoteles in Pol. VII 11, 1330b32–1331a10.

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ktêmatôn aneleutherias, Leg. V 747c5–6), die allerdings ihre Ursache in einem schlechten Gesetzgeber haben können, einer schlechten tychê oder eben einer bestimmten physis, die hier als natürliche Anlage, hervorgebracht durch bestimmte klimatische Gegebenheiten, aufgefasst werden muss, da sich nach dieser Aussage direkt das hier aufgeführte Zitat anschließt (vgl. Leg. V 747c6–d1). Neben einem schlechten Gesetzgeber, der sicherlich keine oder nur schlechte Erziehungsvorschriften festlegt und dem Zufall, der immer eine Rolle spielen kann (vgl. Leg. IV 709b7–c4 524, 710c5–d1, V 747b6–d1, IX 876e6–877b2, XII 957c7–958a3), stellt also auch die Umwelt einen bedeutenden Faktor dar, da bestimmte klimatische Verhältnisse unterschiedliche natürliche Anlagen befördern. Wind, Temperatur und Nahrung beeinflussen also nicht nur den Körper, sondern auch die Seele selbst, und das nicht in geringerem Maße. Wie dies genau ablaufen mag, lässt der Athener aber offen. Eine indirekte Einflussnahme wäre denkbar, sodass der Körper durch verschiedene Speisen in guten oder schlechten Zustand gerät und dieser körperliche Zustand wiederum auf die Seele wirkt. 525 Allerdings weist diese Textstelle keine Indizien für eine solch indirekte Einflussnahme auf, sodass es vielleicht zumindest in Bezug auf die Nahrung denkbar ist, dass die Seele direkt affiziert wird, da gerade der unterste Seelenteil sich an den Bedürfnissen des Körpers ausrichtet (vgl. Rep. IV 439d4–8), oder dass die »Kost« für die Seele ganz einfach metaphorisch zu verstehen ist. Einen wichtigen Punkt in dieser Textpassage stellt aber nicht nur die Umwelt dar, sondern auch die Tatsache, ob eine bestimmte Gegend von Dämonen bewohnt wird, die die Siedler »huldvoll aufnehmen oder nicht« (Leg. V 747e5). Dämonen, die in den Nomoi eher vereinzelt und meist in Zusammenhang mit Göttern und/oder Heroen erwähnt werden (vgl. Leg. IV 713c5–d3, 717b2–4, V 729e6–730a2, 732c1–d3, 738b5–e2, 740a2–b1, VII 799a4–b4, 801e1–4, 804a1–b4, 818b9–c3, VIII 828a7–b3, 848c8– d7, IX 877a2–b2 526, X 906a2–7, 909e3–910a6, XI 914b3–5), scheinen an dieser Stelle eine Art Schutzgeister zu bezeichnen, die einem wohlgesonnen sein müssen, um sich an ihrem Wohnort niederlassen Hier werden zusammen mit Gott der Zufall und der richtige Augenblick (kairos) als Faktoren genannt, die »die menschlichen Angelegenheiten insgesamt lenken«. In einem Nachsatz wird aber als drittes auch fachliches Können (technê) für nützlich erachtet. 525 Zum Einfluss des Körpers auf die Seele vgl. Kap. 2.3. 526 Zur Interpretation dieser Textstelle vgl. Kap. 2.4.1.2. 524

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zu dürfen. Allerdings scheint dies weniger für die Charakterformung selbst bedeutend zu sein, sondern ist wohl eher als Hinweis zu verstehen, dass auch dieser Aspekt geprüft werden muss, wenn man eine Kolonie gründen will, damit man am jeweiligen Ort auch von den dortigen Schutzgeistern akzeptiert und nicht wieder vertrieben wird. Darin klingt bereits die Bedeutung des Göttlichen und der tychê an, die immer wieder in den Dialogen erwähnt werden, vor allem auch dann, wenn es erst um die Hervorbringung eines Charakters geht. Dass der Mensch dadurch nicht seiner Verantwortung enthoben ist, hat zum einen die bisherige Untersuchung herausgestellt, die die Bedeutung der Erziehung betont. Allerdings spielen Menschen bereits eine wichtige Rolle, wenn es um die Entstehung der natürlichen Anlagen eines Menschen geht. Daher werden im Folgenden menschliche den göttlichen und zufälligen Faktoren gegenübergestellt, sodass klar wird, dass selbst bei der Entstehung eines Menschen die zukünftigen Eltern – trotz göttlichen Einflusses oder der Bewohnung einer bestimmten Region – bereits in der Verantwortung stehen. Menschlicher und göttlicher Einfluss Die Menschen, die zur Entstehung der natürlichen Anlagen und damit auch zum späteren Charakter beitragen, lassen sich noch einmal unterteilen in (i) die Philosophen und (ii) die Eltern und Menschen im Allgemeinen. Die Begrenzung des menschlichen Einflusses auf die Charakterentstehung ist zugleich durch den Zufall und die Götter gegeben, ohne die Menschen dabei ihrer Verantwortung zu entziehen. (i) Der Philosoph als Ursache der Charakterformung spielt in der Politeia eine bedeutende Rolle, wenn er den Reißbrettentwurf der kallipolis konzipiert: »Zunächst nehmen sie Staat und Sitten (êthê) der Menschen und reinigen sie wie eine Tafel – was gewiß nicht leicht ist. Aber dadurch unterscheiden sie sich ja, wie du weißt, von den andern Staatsmännern, daß sie sich nicht mit dem Staat noch mit dem einzelnen befassen, noch Gesetze schreiben wollen, ehe sie ihn nicht rein übernehmen oder selbst rein gemacht haben.« […] »Wenn sie dann ans Werk gehen, richten sie ihren Blick immer wieder nach beiden Seiten: auf das wesenhaft Gerechte, Schöne, Besonnene und alles Ähnliche, und dann wieder auf das im Menschen gegebene Material, damit sie durch Mischen und Mengen aus den Anlagen das menschliche Ideal (to andreikelon) schaffen, wobei sie sich auf das Gottähnliche und Gottgleiche im Menschen berufen, […]« […]

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Weitere Faktoren: Zur Rolle der Umwelt, des Zufalls und der Götter

»Und hier wischen sie etwas weg, dort zeichnen sie etwas ein, bis sie den menschlichen Charakter (anthrôpeia êthê), soweit als möglich, gottgefällig (theophilê) gemacht haben.« (Rep. VI 501a2–c2)

Der Philosoph wird somit als Zeichner des menschlichen Charakters gesehen; man muss aber beachten, dass diese Charakterformung nur dem Idealfall, nämlich dem Leben in der kallipolis, entspricht. Erst wenn die Philosophen herrschen, werden sie, noch bevor sie sich an allgemeine Aufgaben des Staates und die Gesetzgebung machen, den Staat »reinigen«. Dies beinhaltet auch eine Reinigung der dort befindlichen Charaktere der Menschen, die sie dann nach ihrem Gutdünken neu zeichnen, indem sie sowohl auf die wahren Wesenheiten als auch auf die Anlagen der Menschen schauen und so das menschliche Ideal schaffen. 527 Dennoch arbeiten die Philosophen mit dem dem »Menschen gegebene[n] Material«, sodass trotz vorheriger Reinigung der Charaktere die Anlagen nicht zu eliminieren sind. Bei der Entstehung der Anlagen wiederum spielt bei den Philosophen aber auch der Zufall eine Rolle, wie sich an der Fehlberechnung der Hochzeitszahl zeigt. Selbst in der kallipolis werden nicht nur gute êthê entstehen, da die Philosophen aufgrund eines nicht weiter erläuterten Fehlers die Paarungszeit falsch berechnen und damit schlechte Menschen erzeugen: Eures Geschlechtes fruchtbare und unfruchtbare Zeiten werden die Führer des Staates, mögt ihr sie auch zu Weisen erzogen haben, nicht durch Verstand (logismôi) noch Gefühl (met’ aisthêseôs) richtig treffen. Der richtige Augenblick eilt an ihnen vorbei, und so zeugen sie Kinder zur Unzeit. […] Dieses also die Zahl [d. i. die Hochzeitszahl], geometrisch gefaßt, die Herrin der guten, der schlechten Geburten! Wenn ihrer nicht achten eure Wächter, zur Unzeit (para kairon) vermählen den Männern die Bräute, dann werden die Kinder nicht edel (ouk euphyeis) und nicht selig (oud’eutycheis). […] (Rep. VIII 546a7–d3)

Vegetti 2003 weist an dieser Stelle darauf hin, dass polis und politeia in erster Linie die Bürgerschaft und nicht lediglich die »legislazione costituzionale« (Anm. 91) bezeichne, sodass eine Reinigung der polis eine Reinigung dieser Bürgerschaft beinhaltet (vgl. ebd., Anm. 91). Ein solches Verfahren müsste damit zwangsläufig auch die Charaktere der Menschen betreffen, sodass m. E. die im Zitat erwähnten êthê beide Male auch mit »Charaktere« wiedergegeben werden können, auch wenn Vretska dies nur in einem Fall tut und Vegetti beide Male mit »costumi« übersetzt. Dies wird auch durch Rep. IV 435e1–3 untermauert, wo die êthê für die inneren Merkmale des Menschen und damit für dessen Charakter stehen.

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Weder Verstand noch Wahrnehmung können den Philosophen helfen, sodass mit dieser Fehlberechnung die Degeneration der Staatsformen eingeleitet wird. Die Ursache des Fehlers der Philosophen bleibt aber im Dunklen. 528 Der Zufall bei der Entstehung verschiedener Charaktere zeigt sich bereits vorher im Metallmythos, auch wenn dieser als eine edle Lüge bezeichnet wird (vgl. Rep. III 414c4–415d5). Platons Sokrates scheint hier zumindest der Meinung zu sein, dass Menschen mit verschiedenen Anlagen geboren werden und nicht alle für die Philosophie geeignet sind. Der Metallmythos dient lediglich dazu, diese Tatsache den Bürgern zu vermitteln und die Solidarität zur Polis und ihren Mitbürgern zu stärken oder herzustellen. 529 Gerade die Tatsache, dass Eltern mit nicht-philosophischen Anlagen dennoch ein solches Kind zeugen können (vgl. Rep. III 415a7–b3), unterstreicht zumindest in der Politeia die Arbitrarität der êthos-Entstehung. Wenn es um die Entstehung eines Menschen geht, ist auch der Timaios hilfreich. Hier wird die Formung der Menschen nun auf die jungen Götter zurückgeführt: Dann nach der Verpflanzung überließ er [d. i. der Demiurg] es den jungen Göttern, sterbliche Körper zu formen und im Übrigen alles, was der menschlichen Seele noch zuteil werden sollte (psychês anthrôpinês deon prosgenesthai), und alles, was mit jenem zusammenhing, zu verfertigen und dann die Herrschaft auszuüben und nach Kräften (kata dynamin) das sterbliche Wesen möglichst schön und gut zu lenken, soweit es nicht für sich selbst Ursache (aition) von Schlechtem werde. (Tim. 42d5–e4)

Da dem Zitat zufolge die jungen Götter für alles zuständig sind, was der Seele zukommt, müssten sie auch für das êthos verantwortlich sein. Ihnen kommt allerdings nicht die alleinige Verantwortung dafür zu, da am Ende darauf hingewiesen wird, dass die Menschen selbst Ursache für ihr Übel werden können. Darüber hinaus wird die Wirkungsmacht der Götter durch das kata dynamin eingeschränkt; nur soweit es ihnen möglich ist, werden sie die Menschen schön und gut Für eine genaue Interpretation der gesamten Textpassage vgl. die Monographie von Norbert Blössner (1999). 529 Ich folge hier Calabi 1998: »Si tratta della costruzione di un sistema diffuso di idee condivise, finalizzate a fondare il senso di appartenenza a una comunità e la condivisione di un programma.« (S. 456) Es gehe darum, mithilfe des Mythos eine kollektive Paideia zu erschaffen, sodass dadurch das êthos, die Überzeugungen und Verhaltensweisen des Staates bestimmt würden (vgl. S. 455–457; zur Paideia und die Auswirkungen auf den Charakter vgl. Kap. 2.1). 528

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lenken. Man kann also festhalten, dass die Götter durchaus als Ursache für das êthos gesehen werden können, allerdings nur in Bezug auf ein positives. Für die Übel sind die Menschen selbst verantwortlich. Diesen Punkt betont auch Taylor, der als Ursachen für eigenverantwortliche körperliche Schädigungen »neglect, ignorance of the laws of physiology, vice, and the like« 530 aufführt. Obwohl er hier auf die Tatsache abhebt, dass Timaios die Schädigungen des Körpers betonen möchte, so wird durch die Auflistung von »vice« doch auch ein moralischer Aspekt genannt, für den wir offensichtlich selbst verantwortlich sind und der wiederum zum Schaden des Körpers gereichen kann. 531 Für das Verderben seines êthos ist der Mensch somit selbst zuständig. (ii) In den Nomoi liegt der Fokus nun auf genau diesem Einfluss der Menschen; insbesondere die Eltern tragen Verantwortung für den späteren Charakter der Kinder und nicht erst dadurch, dass sie diese erziehen. Bereits bei der Entstehung der Anlagen spielt ihr Verhalten eine große Rolle; dies wird ersichtlich, wenn dargelegt wird, dass ein Kind nicht im Alkoholrausch erzeugt werden darf: Zur Aussaat von Kindern ist daher ein Betrunkener zu ungeschickt und untauglich, so daß er aller Wahrscheinlichkeit nach unausgeglichene (anômala) und kein Vertrauen erweckende (apista) Wesen und keinen geraden Charakter (ouden euthyporon êthos) oder Körper erzeugen wird. Deshalb soll man sich lieber das ganze Jahr und Leben hindurch, besonders aber in der Zeit, in der man Kinder zeugen will, in acht nehmen und nichts willentlich tun, was ungesund ist oder mit Übermut (hybreôs) und Ungerechtigkeit (adikias) einhergeht – denn das drückt und prägt (exomorgnymenon ektypousthai) man dann unweigerlich in die Seelen und Leiber der Kinder ein und zeugt in jeder Hinsicht schlechtere Wesen (phaulotera) –; ganz besonders aber muß man sich an jenem Tag und in jener Nacht von allem Derartigen fernhalten. (Leg. VI 775d1–e2)

Aus dieser Textstelle geht hervor, dass die zukünftigen Eltern selbst Sorge dafür tragen müssen, dass sie in die Seelen ihrer Kinder keine Untugenden einprägen und damit einen schlechten Charakter hervorbringen. Somit können die Eltern als eine Ursache für die Qualität der natürlichen Anlagen gesehen werden, auch wenn sich dieser Textstelle zufolge ihre Aufgabe darauf beschränkt, Schlechtes von der

Taylor 1928, S. 266. Vgl. ebd. (S. 266) und hierzu auch die Schicksalswahl aus Rep. X 617e5: »Gott ist schuldlos.« (»theos anaitios.«).

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Seele des Kindes fernzuhalten. Der Einfluss kann aber auch ein positiver sein, wenn man die Forderungen an schwangere Frauen berücksichtigt und die Hervorbringung eines guten êthos durch Gewöhnung (ethos), was idealerweise bei Neugeborenen geschieht (vgl. Leg. VII 792d4–e7 und Kap. 2.1 und 2.6). Dennoch spielt auch hier die Gottheit eine Rolle, insofern sie als Anfang von den Menschen geehrt werden muss (vgl. Leg. VI 775e2–4). 532 Zudem fällt in Bezug auf die charakterlichen Mängel eine Übereinstimmung mit dem Vokabular des Phaidon auf. Wie im Diesseitsmythos werden auch hier hybris und adikia genannt; das Eindrücken dieser Untugenden in die Seele unterstreicht zudem erneut die Innerlichkeit des êthos, da erst durch ein solches Einprägen das êthos affiziert wird. Denn die schlechteren Wesen, die erzeugt werden, zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie keinen geraden Charakter besitzen. Schließlich kommt auch die individuelle Verantwortung des Menschen in den Nomoi zum Vorschein, wenn der Athener erklärt, dass die Beschaffenheit der Seele von den Willensentscheidungen der Menschen abhängt: Ath. […] Die Ursachen aber für das Entstehen einer bestimmten Beschaffenheit (tou poiou tinos) überließ er den Willensentscheidungen (tais boulêsesin) eines jeden von uns. Denn wohin einer sein Begehren lenkt und wie einer hierbei in seiner Seele beschaffen ist (hopoios tis ôn tên psychên), dahin und zu einer solchen Beschaffenheit (toioutos gignetai) pflegt sich meistens ein jeder von uns zu entwickeln. (Leg. X 904b8–c4)

Die Art des Umgangs mit dem eigenen Begehren und die in der Seele befindlichen Anlagen bestimmen den Menschen, der sich daraus entwickelt. Allerdings kommt die Verantwortung des Individuums erst dann zum Tragen, wenn es um die Entwicklung des Charakters und damit um eine spätere seelische Beschaffenheit geht; für die sich in der Seele befindlichen Anlagen wird hier keine weitere Erklärung geliefert. Es wurde jedoch anhand der anderen Textpassagen deutlich, dass vor allem Eltern, Zufall und Götter eine große Rolle dabei spielen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für die Erzeugung der natürlichen Anlagen sowohl Menschen als auch Götter verantwortlich sind, wobei für schlechte Anlagen und spätere Charakter532 Abgesehen von dieser Textstelle lässt sich noch Leg. VII 791c8–d9 nennen, wo auch die Bedeutung der Menschen im Allgemeinen betont wird. Allerdings handelt es sich dort nicht mehr explizit um die Entstehung natürlicher Anlagen, sondern eher um die Veränderung eines bereits erzeugten êthos.

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eigenschaften nur die Menschen zur Rechenschaft gezogen werden können, für die Erzeugung der guten Anlagen und Charaktereigenschaften die Menschen zwar Anteil daran haben können, dies allerdings nicht ohne die Götter zustande kommen kann. Inwieweit der Zufall eine Rolle spielt, kommt auch auf die Mythendeutung an: Nimmt man die Schicksalswahl am Ende der Politeia ernst, so sind die Menschen selbst verantwortlich für ihr gewähltes Leben, im Guten wie im Schlechten (vgl. bes. Rep. X 617d6–e5). Ein gewisser Einfluss der geographischen Faktoren scheint ebenfalls vorhanden zu sein, sich aber größtenteils auf die späteren Dialoge zu beschränken. Man kann also festhalten, dass die Umwelt zwar nicht häufig im Kontext der Charakterbildung erwähnt wird, aber doch einen gewissen Einfluss auf die physis der Menschen ausübt, die wiederum durchaus eine große Rolle spielt (vgl. Kap. 2.1). Dass vor allem Erziehung und Anlagen diskutiert werden, wenn es um die Heranbildung einer Seele geht, kann m. E. so erklärt werden, dass das Zusammenspiel dieser beiden Faktoren als direkte Erklärung herangezogen werden kann, wenn es um die Frage geht, wie ein Mensch zu demjenigen geworden ist, der er heute ist. Die Umwelt wird erst wichtig, wenn man weiter in der Ursachenreihe zurückgeht und wissen möchte, wie die natürlichen Anlagen, die ja oft die Möglichkeiten des erzieherischen Erfolgs begrenzen, denn entstanden sind. Wenn man selbst eine neue Kolonie gründet und die Freiheit hat, die Gegend selbst zu wählen, so sind diese Hinweise von Bedeutung. Allerdings scheint dies bei Platon nirgends der Fall zu sein: In der Politeia wird ein Idealstaat entworfen, zu dessen Umsetzung entweder bereits herrschende Individuen Philosophen werden oder Philosophen an die Macht gelangen sollen (vgl. Rep. V 473c11–e2). Doch von einer Umsiedlung der Polis, damit eine kallipolis entstehen könne, wird nirgends gesprochen. Ebenso in den Nomoi: Kleinias wird zwar an einer Koloniegründung beteiligt sein; die entsprechende Region steht aber bereits fest, sodass dem Athener nur übrig bleibt, diese geographischen Gegebenheiten zu kommentieren (vgl. Leg. V 704a1–707d6). Daher könnten die doch eher allgemeinen Aussagen über den Einfluss der Umwelt so verstanden werden, dass es letztlich nie um eine konkrete Wahl eines Landesteils oder einer Region geht. Die natürlichen Gegebenheiten können somit als Erklärung für individuelle Anlagen fungieren; wenn es um konkrete Charakterbildung geht, hat man es aber bereits mit dem Resultat dieser Umweltbedingungen zu tun, d. h. mit bestimmten natürlichen Anlagen, die bis zu einem gewissen Grade Seelen im Wandel

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(fast) immer zu einem halbwegs guten Charakter geformt werden können (vgl. dazu Kap. 2.1 und 2.2).

2.6 Einige Parallelen und Unterschiede zu Aristoteles Wie platonisch sind die aristotelischen Ausführungen zum Charakter? Wenn man die Standpunkte der platonischen Theorie nun mit dem aristotelischen Charakterbegriff der Nikomachischen Ethik in Beziehung setzt, so fällt zunächst Aristoteles’ klarere Terminologie auf: Auch wenn bei ihm das êthos ebenfalls als natürliche Veranlagung verstanden werden kann wie als ausgebildeter Charakter, so ist im Unterschied zu den platonischen Darlegungen der Charakter hier zumindest begrifflich von der Vernunft unterschieden. 533 Als Charakter wird derjenige Seelenteil verstanden, der unvernünftig ist, aber an der Vernunft Anteil hat (vgl. NE I 13, 1102b13–14 534), sodass es zu einem Einklang oder einem Missklang mit der Vernunft kommen kann (vgl. NE I 13, 1102b14–28). Übertragen in platonische Terminologie beinhaltet die Charakterausbildung also die richtige Formung der unteren Seelenvermögen – der Prozess, der in den Nomoi als grundlegende Erziehung bezeichnet wird (vgl. Leg. II 653a5–c4) –, sodass der Charakter gerade nicht alle Seelenteile umfasst. Das hindert ihn aber dennoch nicht daran, die seelischen Hierarchieverhältnisse angemessen auszudrücken. Gerade in den Nomoi finden sich aber zahlreiche Anklänge der aristotelischen Theorie und häufig auch deutliche Übereinstimmungen. Selbst die Unterscheidung von Charakter und Vernunft könnte hier angedacht sein, wenn man die Bestrafung der Atheisten und anderen Gottesfrevler in Nomoi X einer näheren Betrachtung unterzieht. Nur wenn man einen guten Charakter hat, d. h. in der an533 Eduardo Charpenel, dessen ausführliche Monographie den Charakterbegriff bei Aristoteles untersucht, spricht von drei Ebenen, die er von Mary Whitlock Blundell übernimmt und für seine Untersuchung nutzbar macht, d. h. die handlungstheoretischen Implikationen herausstellt: So könne das êthos als (1) »natürliche[s] êthos«, als (2) »Komplex von Haltungen« und (3) »im Verhältnis zur dianoia« (2017, S. 106) verstanden werden (vgl. Charpenel 2017, S. 105–107; Blundell 1992). 534 Um eine echte Definition des Charakters handelt es sich hierbei nicht. Charpenel weist bereits darauf hin, dass nur eine Textpassage, die möglicherweise korrupt ist, explizit eine Definition des Charakters liefert, nämlich EE II 2, 1220b5–7 (vgl. Charpenel 2017, S. 108).

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gemessenen Weise Lust und Unlust empfindet, hegt der Gesetzgeber noch Hoffnungen auf eine mögliche Charakterbesserung. Intellektuell verdorben hingegen sind alle Arten der Gottesfrevler (vgl. Leg. X 886a6–b8). Auch der Gedanke der Gewöhnung, der in der aristotelischen Ethik eine herausragende Position einnimmt 535, findet sich bereits bei Platon – in Ansätzen in der Politeia, am stärksten aber in den Nomoi. In der Politeia wird hervorgehoben, dass man die Tugend erwirbt, indem man tugendhaft handelt (vgl. Rep. IV 443e4–444a2). Darüber hinaus sollen Kinder, um an die Tapferkeit gewöhnt zu werden, (in sicherer Entfernung) mit auf die Kriegsschauplätze genommen werden (vgl. Rep. V 466e1–467e8). Platon und Aristoteles betonen die Bedeutung der frühkindlichen Erziehung und die Tatsache, dass man im Leben zunächst mit Lust und Unlust in Kontakt kommt, sodass Tugenden erst durch die richtige Bearbeitung und Formung der Lust- und Unlustgefühle entstehen können. Dieser Tugenderwerb wird durch Gewöhnung bewerkstelligt, denn nur durch Gewöhnung formt sich ein Charakter (vgl. Leg. VII 792e1–2). Das mögliche Problem, das sich bei Platon vielleicht noch stellen konnte, nämlich wie man allein durch Gewöhnung zugleich auch Freude an tugendhaften Handlungen sicherstellen kann, löst Aristoteles mit der für ihn offenbar empirischen Tatsache, dass zur Gewohnheit Gewordenes nicht mehr als unangenehm empfunden werde (vgl. NE X 10, 1179b35–1180a1). Die manchmal fast wörtlichen Übernahmen der platonischen Passage zu Beginn von Nomoi II zeigen, was den Ethismos-Gedanken betrifft, klar die Nähe der aristotelischen Konzeption (vgl. NE II 2, 1105a1–7; X 1, 1172a19–23; 10, 1179b23–26). Der dominante Faktor der Gewöhnung fällt auch bei der Lektüre der Politik auf: Aristoteles zufolge werde man zwar durch drei Faktoren, nämlich Natur, Gewöhnung und Vernunft zu einem guten Menschen (vgl. Pol. VII 13, 1332a39–40); allerdings führt er dann aus, dass wir zwar mit bestimmten Anlagen – im Idealfall mit geistiger Fähigkeit und Mut (vgl. Pol. VII 7, 1327b36–38) – geboren werden müssen, diese natürlichen Anlagen aber durch Gewöhnung verändert werden können. Die Vernunft wiederum spielt insofern eine 535 Für genauere Ausführungen zum Prozess der Gewöhnung bei Aristoteles vgl. Summa 2019, die sich insgesamt mit den aristotelischen Ausführungen zur Erziehung und in diesem Kontext u. a. mit der Gewöhnung (Kap. 3) und der Rolle des Kindes (Kap. 4) beschäftigt.

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Rolle, als wir uns von der Richtigkeit einer Handlung überzeugen lassen können. Dass der Faktor der Vernunft aber erst in fortgeschrittenerem Alter von Bedeutung wird, macht eine spätere Passage deutlich, in der Aristoteles die Seele aufteilt in einen vernunftbegabten und einen nichtvernünftigen Teil und dann folgendermaßen fortfährt: Wie aber der Körper früher als die Seele entsteht, so auch das Nichtvernünftige früher als das Vernunftbegabte, wie das ja unmittelbar einleuchtet, denn Kinder besitzen gleich bei ihrer Geburt Gemütsaufwallungen, Wünschen und außerdem Begehren, Überlegung und Vernunft kommen aber naturgemäß erst in fortschreitendem Alter hinzu. (Pol. VII 15, 1334b20–25) 536

Damit lassen sich zwei Übereinstimmungen zu Platon festhalten: (1) Im Kindesalter geschieht Charakterformung durch Gewöhnung, da (2) bei jungen Wesen die Anlage zur Vernunft zwar vorhanden sein mag, sie aber erst später erwacht (vgl. auch Rep. III 401e1– 402a6). 537 Wenn man sich weiter mit der Entwicklung von Kindern befasst, fällt zudem wie bei Platon die Aufmerksamkeit für schwangere Frauen auf, die ihren Körper stets in Bewegung halten sollen. Im Gegensatz zu Platon spricht sich Aristoteles jedoch zusätzlich dafür aus, dass die Schwangeren ihren Geist zugleich entspannen sollen (vgl. Pol. VII 16, 1335b12–19). Sind die Kinder einmal auf der Welt, fängt die Gewöhnung bereits im frühkindlichen Alter an. Wie bei Platon scheint es Auflagen zu geben, welche Art von Geschichten den jungen Wesen präsentiert werden dürfen – ins Detail geht Aristoteles aber nicht (vgl. Pol. VII 17, 1336a30–34). 538 Wie in den Nomoi wird 536 […] ὥσπερ δὲ τὸ σῶμα πρότερον τῇ γενέσει τῆς ψυχῆς, οὕτω καὶ τὸ ἄλογον τοῦ λόγον ἔχοντος. φανερὸν δὲ καὶ τοῦτο· θυμὸς γὰρ καὶ βούλησις, ἔτι δὲ ἐπιθυμία, καὶ γενομένοις εὐθὺς ὑπάρχει τοῖς παιδίοις, ὁ δὲ λογισμὸς καὶ ὁ νοῦς προϊοῦσιν ἐγγίγνεσθαι πέφυκεν. Die Übersetzung der Politik folgt, wenn nicht anders angegeben, Schütrumpf 2012. 537 Zur Reihenfolge der Erziehungsobjekte und -methoden vgl. Pol. VIII 3, 1338b4–8, wo Aristoteles sich für die Sequenz Gewöhnung-Vernunft und Körper-Geist ausspricht. 538 Er spricht sich allerdings gegen das Verbot »heftige[n] Weinen[s]« aus, das wohl gegen Platon gemünzt ist (vgl. Pol. VII 17, 1336a34–39). Schütrumpf bemerkt aber, dass Platon ein solches Verhalten lediglich tadelt, nicht aber verbietet, wenn damit Leg. VII 791e4–792e2 gemeint sein solle (vgl. Schütrumpf 2012, S. 352, Anm. 64 (Buch VII)).

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auch hier die Bedeutung des Spiels hervorgehoben, durch das die Kinder an ihre späteren (ernsthaften) Beschäftigungen herangeführt werden (vgl. Pol. VII 17, 1336a32–34). 539 Ein entscheidender Unterschied lässt sich selbstverständlich bei der Behandlung von Theateraufführungen festmachen: Neben der bekannten Stelle der Poetik, dass beim Betrachten einer Tragödienaufführung durch eleos und phobos eine Katharsis bewirkt werde (vgl. Poet. 1449b24–28), ist auch eine Passage der Politik interessant. Junge Menschen dürfen Komödien anschauen, allerdings erst ab einem bestimmten Alter, nämlich genau dann, »wenn die Erziehung sie völlig gegen den davon kommenden Schaden unempfindlich gemacht haben wird.« 540 (Pol. VII 17, 1336b22–23). Was die Komödie betrifft, scheint also auch Aristoteles Vorbehalte zu haben, ist aber selbstsicher genug zu behaupten, dass mit einer entsprechenden guten Erziehung eine Art Schutzpanzer gegen die schädlichen Einwirkungen der Komödie aufgebaut werden kann. Auch Platon erlaubt in den Nomoi das Betrachten von Komödien, während es in Rep. X noch eher so aussieht, als verliere man damit jegliche Form von sôphrosynê (vgl. Rep. X 606c2–10). Allerdings betont er auch, dass die zukünftigen Wächter schlechte Charaktere kennen müssen, nur die Darstellung bleibt ihnen verwehrt (vgl. Rep. III 395b8–396a6). Darüber hinaus darf man den Aspekt der mousikê, wie er in Rep. III 398c1–402a6 und Pol. VIII behandelt wird, nicht unterschlagen, d. h. die Wirkung der Musik im Sinne von Tonarten, Melodien und Rhythmus auf den Charakter. Während mousikê bei Platon gerade deshalb so besonders ist, weil sie bis ins Innerste der Seele durchdringen kann (vgl. Rep. III 401d5–7), erkennt auch Aristoteles neben anderen Vorzügen 541 an, dass »Musik den Charakter prägen kann, indem sie daran gewöhnt, in der richtigen Weise Freude empfinden zu können.« (Pol. VIII 5, 1339a23–25 542, vgl. Pol. VIII 5, 1340a14–23) Ein Postulat, das so auch in den Nomoi formuliert wurde (vgl. Leg. II 653b2–c4). Aristoteles sieht »eine gewisse Verwandtschaft (zwiFür eine ausführliche Interpretation der Nomoi, die sich genau auf diesen Aspekt fokussiert, vgl. Jouët-Pastré 2006. 540 […] καὶ τῆς ἀπὸ τῶν τοιούτων γιγνομένης βλάβης ἀπαθεῖς ἡ παιδεία ποιήσει πάντως. 541 Musik dient neben der Charakterbildung auch der katharsis und der diagôgê (vgl. Pol. VIII 7, 1341b36–41). 542 […] καὶ τὴν μουσικὴν τὸ ἦθος ποιόν τι ποιεῖν, ἐθίζουσαν δύνασθαι χαίρειν ὀρθῶς, […] 539

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schen der Seele) und den Tonarten und Rhythmen« (Pol. VIII 5, 1340b17–18 543), sodass durch das Hören bestimmter Rhythmen und Melodien auch unser Charakter verändert wird (vgl. Pol. VIII 5 1340a18–23). Frédérique Woerther, der die platonische Behandlung von mousikê in Politeia und Nomoi mit der aristotelischen in der Politik vergleicht, ist der Ansicht, dass das Konzept des êthos bei Aristoteles eine viel größere Rolle spiele. So würde mousikê nicht mehr wie bei Platon die Seele als Ganzes betreffen, sondern nur das êthos, »that part of the desiring soul which, being irrational by nature, nevertheless has a share in reason to the extent that it takes reason into account.« 544 Woerther spricht von einer »reappropriation and resystematisation of the Platonic inheritance by means of the concept of ἦθος« 545, d. h. Aristoteles habe die platonischen Ansichten zwar übernommen, hinsichtlich der musischen Erziehung aber ganz aufs êthos ausgerichtet; implizit macht Woerther dabei deutlich, dass dieses Konzept bei Platon offenbar noch keine so große Rolle gespielt habe. 546 Wie ich aber in Kap. 2.1 versucht habe zu zeigen, betrifft auch bei Platon die mousikê die Ausbildung der unteren Seelenvermögen, die auf richtige Weise an die korrekten Gefühle gewöhnt werden müssen. Somit ist hier m. E. kein bedeutender Unterschied zur aristotelischen Position gegeben, da beide Male durch mousikê die Affekte richtig trainiert werden. Der Meinung, dass dies letztlich für den gesamtseelischen Aufbau nützlich ist, dürften ebenfalls beide Philosophen zustimmen. Es ist natürlich richtig, dass Aristoteles insgesamt systematischer mit den Begrifflichkeiten umgeht. Deswegen ihm aber eine stärkere Konzentration aufs êthos zuzuschreiben, scheint mir nicht gerechtfertigt, zumal auch Platon nicht selten das Wort im Zusammenhang der musischen Erziehung verwendet (vgl. Rep. III 400d7, e3, 401a8, 401b2, 402d2; Leg. II 655d7, 656b2, 659c4, 669c1, 670e1). Platon wie Aristoteles geht es schließlich um einen guten innerseelischen Aufbau, der, wenn es um die Affekte geht, durch mousikê einen großen Schritt vorangebracht werden kann. Das heißt aber nicht, dass sich in den einzelnen Ausführungen keinerlei Unterschiede finden ließen und Aristoteles Platon komplett folgen würde. 543 544 545 546

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καί τις ἔοικε συγγένεια ταῖς ἁρμονίαις καὶ τοῖς ῥυθμοῖς εἶναι· Woerther 2008, S. 99. Ebd., S. 103. Bezüglich der Systematisierung stimme ich dieser Lesart zu. Vgl. ebd., S. 99, 102 f.

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In den Ausführungen zur Erziehung schließt sich Aristoteles zwar zunächst seinem Lehrer noch an, wenn er den Aulos ausschließt, da er eine »starke emotionale Erregung« (mallon orgiastikon, Pol. VIII 6, 1341a22) bewirke – anders als bei Platon wird er dennoch nicht komplett verbannt, da er für Zwecke außerhalb der Erziehung eingesetzt werden kann. 547 Die weiteren Gründe für den Ausschluss aus der Erziehung unterscheiden sich ebenfalls von denen Platons: Die hohen technischen Anforderungen des Aulos (wie auch der Kithara) sind Anlass genug, ihn nicht in der Erziehung einzusetzen, denn es geht Aristoteles ingesamt nicht um die Herausbildung technischer Meisterschaft, die nicht auf Charakterbildung, sondern auf das Erfreuen der Zuschauer zielt (vgl. Pol. VIII 6, 1341a17–21, b8–15). Wie Platon erkennt auch Aristoteles die Gefahr, die von Theaterzuschauern ausgeht: Denn der Theaterbesucher mit seiner Vulgarität pflegt die Musik zu verändern, und damit verdirbt er den Charakter der ausübenden Musiker, die ihm gefallen wollen, und wegen ihrer Bewegungen, die die Musik begleiten, verdirbt er auch ihren Körper. (Pol. VIII 6, 1341b15–18) 548

Diese Stelle lässt sogleich an die platonische Anklage der Theatrokratie denken (vgl. Leg. III 700a7–701b3, s. außerdem Leg. II 659b5– c5), wobei Aristoteles hier noch weitergeht und auch den Körper miteinbezieht. Eine Ausbildung im Aulosspiel würde also zwangsläufig in eine solche Situation münden. Darüber hinaus nennt Aristoteles noch zwei weitere Nachteile des Aulos: Man könne dabei keinen Text singen und überhaupt nütze eine entsprechende Ausbildung im Aulosspiel sicherlich nicht der dianoia (vgl. Pol. VIII 6, 1341a24–25, 1341b6–7). Was Interpreten an der nun folgenden Einteilung der Tonarten bisweilen Kopfzerbrechen bereitet hat, ist die Zuordnung der phrygischen Tonart zu einer ekstatischen Seelenhaltung (die im Gegensatz zur dorischen Tonart steht, die eine ruhige Haltung befördert). Die verschiedenen Tonarten können Aristoteles zufolge verschiedenen Gruppen von Melodien (ethisch, praktisch, enthusiastisch) zugeordnet werden. Ethisch sei die dorische (und für Kinder offenbar auch die

Nämlich wenn eine Reinigung das Ziel ist (vgl. Pol. VIII 6, 1341a21–24). ὁ γὰρ θεατὴς φορτικὸς ὢν μεταβάλλειν εἴωθε τὴν μουσικήν, ὥστε καὶ τοὺς τεχνίτας τοὺς πρὸς αὐτὸν μελετῶντας αὐτούς τε ποιούς τινας ποιεῖ καὶ τὰ σώματα διὰ τὰς κινήσεις), […] 547 548

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lydische 549, da sie »sowohl ordentliches Betragen als auch Erziehung vermitteln könne[]«, Pol. VIII 7, 1342b31–32 550, vgl. Pol. VIII 7, 1341b32–1342b34). Analog zum Aulos jedoch zählt Aristoteles die phrygische Tonart nicht zu den ethischen: Der Sokrates der Politeia hat aber zu Unrecht nur die phrygische zusammen mit der dorischen Tonart (in seinem Staat) belassen, obwohl er doch unter den Instrumenten den Aulos verbannte – (zu Unrecht), weil unter den Tonarten die phrygische die gleiche Wirkung hat wie unter den Instrumenten der Aulos: beide versetzen in Rausch und erregen emotional. (Pol. VIII 7, 1342a32–b3 551)

So stellt auch Warren D. Anderson fest, dass Aristoteles’ Beispiele im Großen und Ganzen der platonischen Darstellung folgten, allerdings mit Ausnahme der phrygischen Tonart. Seine Lösung besteht darin, dass »the prevailing attitude toward the ethos of Phrygian shifted radically during the hundred years which separate the Periclean floruit of Damon from Aristotle’s time.« 552 So kann er erklären, dass Aristoteles die geläufige Auffassung der phrygischen Tonart vertritt, nämlich als einer ekstatischen, während zu Platons Zeit, der sich in seiner Theorie an Damon anlehnt, wenngleich es sich Anderson zufolge um keine bloße Übernahme handle, die phrygische Tonart noch anders konnotiert war, sodass Platon sie als geeignet für die kallipolis bezeichnen konnte (vgl. Rep. III 399a3–c6). 553 Hermann Koller hingegen meint, Platon folge Damon »rückhaltlos« 554 und erklärt so den platonischen Widerspruch zur Tradition, der bereits Hermann Abert 555 aufgefallen ist. Platon habe einfach die positive Konnotation 549 Anders bei Platon, wo sie zusammen mit der ionischen den »weichlichen Tonarten« zugeordnet wird (vgl. Rep. III 398e9–10). 550 […] διὰ τὸ δύνασθαι κόσμον τ’ ἔχειν ἅμα καὶ παιδείαν, […] 551 ὁ δ’ ἐν τῇ Πολιτείᾳ Σωκράτης οὐ καλῶς τὴν φρυγιστὶ μόνην καταλείπει μετὰ τῆς δωριστί, καὶ ταῦτα ἀποδοκιμάσας τῶν ὀργάνων τὸν αὐλόν. ἔχει γὰρ τὴν αὐτὴν δύναμιν ἡ φρυγιστὶ τῶν ἁρμονιῶν ἥνπερ αὐλὸς ἐν τοῖς ὀργάνοις· ἄμφω γὰρ ὀργιαστικὰ καὶ παθητικά· 552 Anderson 1966, S. 129. 553 Vgl. ebd., S. 80 f., 107–109, 128 f. 554 Koller 1954, S. 20. 555 Vgl. Abert 1899, S. 83–86. Ihm zufolge habe Platon das Phrygische einfach in Gegensatz zum Dorischen setzen wollen, sodass »der charakteristische Sonderausdruck der Tonart, das Enthusiastische, verwischt wurde.« (ebd., S. 86) Dagegen aber schon Anderson (vgl. 1966, S. 107–109, 128 f.). Er spricht sich auch insgesamt gegen Aberts Titel aus, der eine »Lehre vom Ethos« annimmt, die Anderson zufolge aber nicht als einheitliche Theorie existiere. Es gebe »no common denominator which can

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der phrygischen Tonart von Damon übernommen und mit seinen ethischen Forderungen verbunden. 556 Ganz anders stellt sich die Lage bei Claudio Tartaglinis Lesart dar: Die Ausführungen zur phrygischen Tonart, d. h. die Zuordnung zur Gruppe der Wächter und die Betonung ihres ethischen Wertes innerhalb der Erziehung, seien komplett Platon zuzuschreiben. Darüber hinaus kann die von Aristoteles konstatierte platonische Inkonsequenz der Verbannung des Aulos bei gleichzeitiger Beibehaltung der phrygischen Tonart aufgelöst werden, wie Tartaglini demonstriert: Der Aulos werde wegen seiner gefährlichen mimetischen Eigenschaften verbannt, nicht wegen der Nähe zur phrygischen Tonart. Zudem könne kontextbezogen der Aulos auch positiv eingesetzt werden; kritisiert werde lediglich »l’eccesso di aulo« 557. Die phrygische Tonart wiederum stellte für Platon keinerlei Gefahr dar, vielmehr neige sie gerade nicht dazu, ins Exzessive auszuschlagen. 558 Tartaglinis Lesart, dass es Platon darauf ankam, die ethische Komponente und dabei insbesondere die Verbindung zur sôphrosynê herauszustreichen, die Aristoteles offensichtlich nicht anerkannt hat, scheint mir denn auch einleuchtend. 559 Eine sichere Erklärung dafür, warum Platon die ekstatische Konnotation der phrygischen Tonart nicht erwähnt hat, kann m. E. mit absoluter Sicherheit nicht gegeben werden. Möglich ist aber durchaus, dass er die Tonart ganz einfach für seine ethische Theorie nutzbar gemacht und in diesem Zuge umdefiniert hat, wie auch Tartaglini annimmt. 560 Wenn man nun zur allgemeinen Bewertung übergeht hinsichtlich der platonischen und der aristotelischen Konzeption und Nutzbe termed the Hellenic theory of ethos.« (1966, S. 177; vgl. ebd., S. 177) Allein aus den bisherigen Ergebnissen dieser Studie, die hier nur zwischen der platonischen und der aristotelischen Konzeption Unterschiede aufzeigt, wird klar, dass Anderson hierin zuzustimmen ist. 556 Vgl. Koller 1954, S. 20–22. 557 Tartaglini 2001, S. 297. 558 »L’aulo è dunque condannato non perché strumento da armonia frigia, ma per le sue proporietà variamente e riccamente imitative.« (ebd., S. 297) […] l’armonia frigia, che per lunga tradizione era associata ai riti dei culti misterici e aveva quindi una spiccata connotazione religiosa, non era sentita da Platone come portatrice di un ethos che potesse mettere a rischio la polis.« (ebd., S. 299). Vgl. Tartaglini 2001, S. 295–300, 309 f. 559 Vgl. ebd., S. 300–310. 560 Vgl. ebd., S. 310. Woerther konstatiert lediglich, dass »Aristotle here seems to be even more severe than his teacher« (2008, S. 102), da jener nur die dorische Tonart zulasse. Woerther diskutiert die Ablehnung der phrygischen Tonart aber nicht näher (vgl. ebd.). Seelen im Wandel

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barkeit der mousikê, so gehen auch hier unter den Interpreten die Meinungen weit auseinander: Während für Hermann Abert Platon noch der »schroffste und einseitigste Vertreter der musikalisch-ethischen Theorie« 561 sei, Aristoteles hingegen »[w]eit folgerichtiger« 562 vorgehe und den »Höhepunkt der musikalisch-ethischen Richtung« 563 ausmache, ist Warren D. Anderson der Meinung, dass Aristoteles sehr empirisch vorgehe und dessen »whole approach to music […] a less thoroughly considered one than Plato’s« 564 sei. 565 Widersprochen werden muss aber Aberts Lesart, insofern er den Vorteil bei Aristoteles darin sieht, dass die Musik »nicht bloß ausschließlich im Dienste des Interesses der Staatsgemeinschaft« stehe, sondern »auch für die Entwicklung des Individuums als solchen Bedeutung« 566 habe. Dass gerade bei Platon die Entwicklung eines Charakters im Vordergrund steht, da die politischen Auswirkungen der einzelnen Charaktere nicht zu unterschätzen sind und im Individuum ihren Ausgangspunkt finden, zeigen die Kap. 2.1 und 3. In der platonischen Behandlung der Musik sieht Abert zudem eine »Inkonsequenz der platonischen Kunstlehre« 567, da Kunst einerseits so stark abgewertet werde, sodass sie nicht einmal Abbilder von Ideen darstelle, andererseits aber auf die Philosophie vorbereiten solle (als mousikê), obwohl sie doch offensichtlich in der Sinnenwelt verharre. 568 Auch Anderson erkennt eine ähnliche Spannung, löst sie aber so, dass er eine Meinungsänderung zwischen Politeia und Nomoi konstatiert: Platons »Hochschätzung des praktischen Nutzens der Musik« 569 sei nicht mit Rep. X zu vereinbaren, wo sie zweifach entfernt von der Realität dargestellt werde. 570 Allerdings muss auch hier gesagt werden, dass bereits in der Politeia die mousikê eine große Rolle spielt und nicht die Art von mousikê, die in der Erziehung eingesetzt wird, verdammt wird, sondern die Malerei und die Musik, wie

561 562 563 564 565 566 567 568 569 570

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Abert 1899, S. 9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Anderson 1966, S. 146. Vgl. ebd., S. 127, 146. Abert 1899, S. 17. Ebd., S. 12 f. Vgl. ebd., S. 12 f. Anderson 1966, S. 109 (eig. Übers.). Vgl. ebd., S. 109.

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sie zu Platons Zeiten praktiziert wurde. Nur solch eine mousikê schädigt den Charakter (vgl. Kap. 2.1). Auch die zerstörerische Wirkung von elleipsis und hyperbolê, die Aristoteles in seiner Mesotes-Lehre ausführlich darstellt (vgl. NE II 5, 1106a14 – 9, 1109b26), findet sich in einer nicht systematischen Form in zahlreichen platonischen Textstellen. Immer dann, wenn es bei Platon um das Gleichgewicht, sei es innerseelisch oder psychophysisch, geht, wird deutlich, dass ein Übermaß in die eine Richtung einen Mangel in der anderen Richtung erzeugt. Besonders klar wird dies im Timaios, wenn dargelegt wird, dass weder Seele noch Körper vernachlässigt werden dürfen und vielmehr beide in selbem Maße in Bewegung gehalten werden müssen (vgl. Tim. 87c1– 89a1). Dass das Übermaß die Seele schädigt, zeigt sich außerdem darin, dass Menschen mit naturgemäß starkem epithymêtikon an einem Übermaß von Samen im Mark leiden (vgl. Tim. 86c3–d2). Die Aufforderung, die richtige Mitte zu finden, damit der eigene Charakter gut wird, findet sich bei Platon in allen Lebensbereichen, da sich Übermaß und Mangel immer negativ auf die Seele auszuwirken scheinen (vgl. Leg. V 728d6–729b2): Was das Vermögen betrifft, muss man darauf achten, dass kein Reichtum, aber auch keine Armut im Staat herrscht (vgl. Leg. III 679b7–c2, V 728e5–729b2, 737a7–b9, 742e4–743c4). 571 Bei der Zahlenordnung sind Harmonie und das rechte Maß entscheidend (vgl. Leg. V 746d3–747b3). Die Kritik der Tragödie und Komödie beruht u. a. darauf, dass das Übermaß vermieden werden soll, zu heftiges Weinen oder Lachen sind zerstörerisch für die sôphrosynê (vgl. Rep. X 606a3–d7, Leg. V 732c1–d3). Man könnte also sagen, dass das große platonische Thema der Erhaltung oder Herstellung einer seelischen oder psychophysischen Harmonie im Grunde ein Gleichgewicht meint, das sich systematisch auf die Tugendlehre übertragen zumindest in formaler Hinsicht auch bei Aristoteles findet, bei Platon aber als Motiv in allen Bereichen, die man auf den ersten Blick vielleicht auch nicht direkt mit der Seele assoziieren würde, immer wieder auftaucht und stark betont wird. Entfernt man sich jedoch von den Aussagen zur Heranbildung eines Charakters und betrachtet man nun die aristotelischen Aussagen bezüglich der Möglichkeit der Veränderung bereits ausgebildeter Charaktere, so lassen sich eindeutigere Aussagen als bei Platon 571 Für eine ausführliche Interpretation der Haltung Platons zum Reichtum und der Verbindung zu Tugend und Glück vgl. Schriefl 2013a.

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finden. Aristoteles unterscheidet drei schlechte Charaktertypen: den Unmäßigen, den Unbeherrschten und den Tierartigen (vgl. NE VII 1, 1145a15–17). Anhand dieser Einteilung spricht auch er von noch heilbaren und gänzlich unheilbaren Charakteren. Anders als für Platon scheint für Aristoteles die Zuordnung aber klarer zu sein. Wie bereits Eduardo Charpenel feststellt, ist die Textpassage aus NE III 7, 1114a14–21 nicht wörtlich oder absolut zu verstehen. 572 Dass der ausgebildete Charakter eines Erwachsenen sich wie ein weggeschleuderter Stein verhalte, d. h. keinerlei Veränderung mehr zulässt, wird später relativiert. So sind die Unmäßigen als unheilbar zu betrachten, da sie mit Vorsatz handeln und eine falsche Vorstellung vom Guten haben. Unbeherrschte hingegen handeln zwar ebenso falsch, wissen 573 aber wenigstens um das Gute, das sie anstreben und in der Handlung realisieren sollten (vgl. NE VII 9, 1150b29–35, 1151a1–26). Charpenel stellt insgesamt fest, dass eine Veränderung im Erwachsenenalter sehr charakter- und auch kontextabhängig sei. 574 Ein interessanter Punkt, den ebenfalls Charpenel herausstellt 575, findet sich in anderer Form auch bei Platon: die Bedeutung des Bedauerns. Aristoteles zufolge empfinde der Unbeherrschte Bedauern, da er nur aus Schwäche oder Unüberlegtheit gegen seinen Vorsatz handelt, nicht aber ein falsches Ziel ansteuert. Daher sei er besser als der Unmäßige, der keinerlei Bedauern empfinde, da er von seinem falschen Ziel überzeugt ist und bei seinem Vorsatz bleibt. Die Unmäßigkeit sei eine »ständig vorhandene Schlechtigkeit«, die Unbeherrschtheit eine nicht dauerhaft bestehende (vgl. NE VII 8, 1150a16–31, 1150b19–22, 9, 1150b29–35, 1151a1–26). Die Frage, ob jemand nach seiner Tat Reue oder Bedauern empfindet, ist auch zentral in Platons Strafpraxis in den Nomoi. Wie bereits ausgeführt 576, spielt dieser Aspekt bei den Tötungen aus Zorn eine Rolle. Wenn sie im Affekt begangen werden, bereuen Vgl. Charpenel 2017, S. 240–248. Inwiefern man wissend unbeherrscht handelt, diskutiert Aristoteles in NE VII 5. Es handle sich lediglich um »wahrnehmendes Wissen«, denn der Unbeherrschte verfüge über Wissen nur in dem Sinne, wie es ein Betrunkener oder Schlafender besitze. Er vergleicht den akratês mit einem Betrunkenen, der die Verse des Empedokles aufsagt (vgl. NE VII 5, 1147b6–19). Die Übersetzung der Nikomachischen Ethik folgt, wenn nicht anders angegeben, Wolf 2015. 574 Vgl. Charpenel 2017, S. 238–255. 575 Vgl. ebd., S. 248 f. 576 Vgl. Kap. 2.4.1. 572 573

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die Täter das Verbrechen danach. Wird die Tat aber von langer Hand geplant, würde sich danach keine Reue einstellen. Diese Beschreibungen nimmt der Athener zum Anlass, die geplanten Tötungen aus Zorn stärker zu bestrafen als die im Affekt begangenen, da hinter letzteren ein nicht ganz so verdorbener Charakter steht (vgl. Leg. IX 866d5–869e5). 577 Wie der Athener in den Nomoi meint auch Aristoteles, dass der Zorn als Affekt weniger tadelnswert sei als die Begierde. Dies wird an mehreren Textstellen klar: So sei der Zorn eine Unbeherrschtheit nur der Ähnlichkeit nach (vgl. NE VII 6, 1148b5–14), entsprechend die Unbeherrschtheit aus Zorn weniger verheerend als die Unbeherrschtheit aus den Begierden (vgl. NE VII 7, 1149a24–25). Diese Einteilung erklärt er so, dass der Zorn immerhin die Vernunft hören könne, aber voreilig losstürme und somit in gewisser Weise der Vernunft folge, die Begierde hingegen nicht, da für sie die Information hinreichend ist, dass etwas angenehm sei (vgl. NE VII 7, 1149a25– b3). Darüber hinaus seien Zorn und Reizbarkeit natürlicher als die Begierden, da diese immer aufs Übermaß und Nichtnotwendige zielten (vgl. NE VII 7, 1149b4–13). Die Begierden seien hinterhältig, der Zorn hingegen liege »offen zutage« und in einem solchen Zustand sei man in keiner hybris befangen (vgl. NE VII 7, 1149b14–23). Es ist jedoch recht deutlich, dass diese Ausführungen selbstverständlich nicht vollständig mit platonischen Annahmen übereinstimmen. Es herrscht insofern Einigkeit, als der Zorn weniger hart bestraft oder getadelt wird als die Begierden. Obwohl auch Platon die Einteilung zwischen hinterhältigem und offenem Vorgehen einführt (vgl. Leg. IX 864c4–6), scheinen Zorn und Begierden nicht ohne weiteres der einen oder der anderen Gruppe zugerechnet werden zu können. Zudem betont der Athener, dass es auch Mischformen gebe, die besonders hart bestraft werden müssten (vgl. Leg. IX 864c4–8). Nur die ungewollten Tötungen werden klar als gewaltsam beschrieben (vgl. Leg. IX 865a1–3, 869e4–5). Man könnte die Vermutung anstellen, dass die Tötungen im Zorn aus Affekt gewaltsam (und offen) begangen werden, da diese Klasse der Tötungen im Zorn zumindest eher ungewollten Taten ähnelt. So würde ein Teil der Taten aus Zorn ebenfalls heimlich begangen werden (nämlich die mit Vorbedacht, die eher freiwilligen Taten ähneln), die Taten aus den Begierden heraus 577 Vgl. dazu auch den Kommentar von Schöpsdau, der in der schwächeren Bestrafung der Tötungen im Zorn einen Nachhall der Politeia sieht, da der thymos dort die Mittelstellung innehat (vgl. 2011, S. 314).

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sogar allesamt – denn hier scheint es keine Unterteilung zwischen Affekt und Planung zu geben; in dieser Kategorie erfolgen die Tötungen alle mit Vorbedacht (vgl. Leg. IX 869e5–8). Bringt man diese Einteilung mit der aristotelischen Charakterologie zusammen, so würden die Täter, die aus ihren Begierden heraus handeln, dem Unmäßigen entsprechen und wären vermutlich nicht mehr heilbar. Dies deckt sich auch mit der platonischen Zuschreibung der Unheilbarkeit an die Tyrannen, die ganz und gar von ihrem untersten Seelenteil dominiert werden (vgl. Kap. 2.2, 3.2 und Rep. IX 571a1–576b9). Diejenigen hingegen, die aus Zorn und im Affekt töten, entsprächen der besseren Gruppe der Unbeherrschten, da ihre Handlungen aus akrasia heraus erfolgen, die von keiner Überlegung begleitet ist (vgl. NE VII 8, 1150b19–22). Ein Unterschied zu Platon lässt sich in der Aussage finden, dass Menschen, die Aristoteles als oxys und melancholikos bezeichnet, eher dieser Gruppe zuneigen (vgl. NE VII 8, 1150b25–26), d. h. es kann sich hierbei nicht um ganz schlechte Menschen handeln. Platon hingegen bezeichnet den Tyrannen, die schlechteste Charakterart, als melancholikos (vgl. Rep. IX 573c9). Aristoteles aber sieht die melancholikoi für leichter heilbar an als diejenigen, die aus Schwäche unbeherrscht sind, d. h. Menschen, die zwar überlegen, aber schließlich doch nicht bei ihrer Überlegung bleiben (vgl. NE VII 8, 1150b19–28; 11, 1152a27–29). Allerdings scheint hier nur die Benennung der schlechten Menschen zu variieren, nicht aber die grundsätzliche Konzeption, dass Individuen, die aufgrund von Begierden handeln, schlechter sind als solche, die aufgrund von Zorn handeln. Insgesamt differiert die aristotelische Charakterologie aber erheblich von der platonischen. Bei Aristoteles scheinen drei Hauptkriterien die Einteilung zu bedingen: (1) Die Vorhandenheit oder Abwesenheit eines seelischen Konfliktes (enkratês/akratês vs. sôphrôn/ akolastos), (2) das Handeln in Übereinstimmung oder gegen den eigenen Vorsatz, wobei dieser schlecht sein kann (enkratês/sôphrôn/akolastos vs. akratês) und (3) das Handlungsziel als ein echtes agathon oder nur ein phainomenon agathon (sôphrôn/enkratês/akratês vs. akolastos). Darüber hinaus erwähnt er Charaktere, die im Grunde außerhalb des menschlichen Bereiches liegen, den göttlichen und den tierischen Charakter (vgl. NE VII 1, 1145a18–33, VII 6, 1148b19–31). 578 578 Für eine Darstellung und Interpretation der aristotelischen Charakterologie vgl. Charpenel 2017 (S. 209–238).

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Axiologisch betrachtet würde der göttliche Charakter an erster Stelle stehen, gefolgt von den Charakteren, die ein echtes Gut anstreben, wobei derjenige ohne seelischen Konflikt wiederum den Vorrang hätte. Bei Platon hingegen geht es ausschließlich um die innerseelische Hierarchie; je nach Dominanz des jeweiligen Seelenteils ergeben sich dadurch natürlich auch andere Handlungsziele. Ein echtes Gut streben aber nur die Charakterarten an, die vom logistikon dominiert werden – in der Politeia der Philosoph, im Phaidros wird jedoch eine ausführlichere Einteilung der Charakterarten gegeben (vgl. Kap. 3.2). Am oberen und unteren Ende der Skala stehen zwar ebenfalls göttliche oder zumindest gottähnliche (die Philosophen) und tierartige Charaktere (die Tyrannen). Besonders beim tierartigen Charakter wird aber deutlich, dass es sich nicht um den platonischen Tyrannen handeln kann, da Aristoteles damit offensichtlich geistesgestörte Menschen meint, zu denen zwar im übertragenen Sinne auch der Tyrann gehört, nicht aber im wörtlichen. Denn ein Mensch, der Erde isst und sich anderweitig höchst seltsam gebärt (vgl. NE VII 6, 1148b24– 29), würde wohl kaum unter die Beschreibung des platonischen Tyrannen fallen. Es lässt sich also festhalten, dass trotz eindeutiger Unterschiede gerade im Bereich der Charakterarten Aristoteles Platon doch stark folgt, wenn es um die Heranbildung der Affekte durch Gewöhnung geht, und dessen Ansichten gewissermaßen systematisiert. Die größten Übereinstimmungen lassen sich denn auch hinsichtlich der Bedeutung der Habitualisierung feststellen, gerade wenn man die Aussagen der Nomoi denen der Nikomachischen Ethik gegenüberstellt. Die platonischen Forderungen, dass Übermaß und Mangel zu vermeiden sind, erhalten in Aristoteles’ Ausführungen selbstverständlich eine klare Systematik, die so bei Platon noch nicht gegeben ist.

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3. Die Bedeutung des Charakters für die Politik

Nachdem im ersten und zweiten Kapitel versucht wurde, sich einer Definition des Charakters anzunähern und dessen Formung und auch spätere Veränderung darzulegen, bleibt nun, die weitergehende Bedeutung des Charakters zu untersuchen. Der Fokus liegt hier auf den sich ergebenden verschiedenen Charakterarten von Menschen 579 und den Beziehungen zwischen diesen Charakteren sowie auf ihrer Relation zur Polis, wobei deutlich wird, dass diese Charakterbeschreibungen für Platon kein Selbstzweck, sondern insbesondere von großer Bedeutung für seine politische Philosophie sind. Während in den Frühdialogen der Charakter meist nicht explizit thematisiert wird und sich eher allgemeine Aussagen über die Seele finden lassen 580, werden in der Politeia die verschiedenen Charakterarten, die ein Mensch besitzen kann, systematisch aufgefächert. Platon scheint dabei kein sonderliches Interesse an der Individualität 581 des einzelnen Menschen aufzubringen, sondern sich vielmehr für bestimmte Charaktertypen und unter diesen für die wesentlichen, d. h. 579 Wenn der Charakter von Göttern, Tieren oder Polis-Verfassungen thematisiert wird, so geschieht dies meist in Bezug auf die menschlichen Charaktere (da sich der Philosoph durch Gottähnlichkeit auszeichnet, der Tyrann mit einem Wolf gleichgesetzt wird etc.). Daher werden diesen Charakterformen keine eigenen Unterkapitel gewidmet, sondern sie werden in die Analyse der entsprechenden menschlichen Charaktere miteinbezogen. 580 Vgl. z. B. Alk. I 130c1–e1, wo die Seele als das Wesentlichste am Menschen bezeichnet wird. 581 Dies bemerkt bereits Maguire 1965, wenn er in Bezug auf Rep. II darauf hinweist, dass es Platon nicht um die einzelnen Individuen einer Gesellschaft, sondern um die verschiedenen Gruppen darin gehe (vgl. S. 147). Wenn man sich die Dialoge aber gesprächsdramaturgisch anschaut, worauf hier nicht der Akzent liegt, und die Vielfalt der Dialogcharaktere betrachtet, so scheint klar, dass Platon sich durchaus für Individualität interessiert hat. Vgl. auch Craig 1994, der in Glaukon und Adeimantos zwei verschiedene Vertreter des Timokraten sieht (vgl. S. 44 f., 112 f.). Auf der inhaltlichen Ebene scheint es Platon aber eher um Grundformen der Menschen zu gehen (vgl. z. B. Rep. VIII 548c9–d4, Phdr. 248c5–e3).

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die verschiedenen möglichen Grundformen des Menschen zu interessieren. Neben der Darlegung des philosophischen Charakters zeigt sich insbesondere an der Ausführung über die Degeneration der Staatsformen (Rep. VIII–IX), dass die Art des Charakters große politische Auswirkungen und Veränderungen nach sich zieht, sodass von einer entscheidenden Prägung der Ethik auf die Politik ausgegangen werden kann. 582 Da die verschiedenen Charaktertypen von Menschen in der Politeia in solch einer ausführlichen Systematik thematisiert werden, liegt das Hauptaugenmerk des vorliegenden Kapitels vor allem auf diesem Dialog (2.1–2.3). 583 Für die Untersuchung des Philosophen und dessen Verhältnis zu gewöhnlichen Charakteren wird jedoch u. a. auch der Politikos herangezogen werden. Bevor direkt auf die einzelnen Menschentypen eingegangen werden kann, ist es vonnöten, im ersten Teil dieses Kapitels die Haltung einiger Interpreten wie Bernard Williams und Giovanni R. Ferrari hinsichtlich der Analogie von Polis und Seele zu diskutieren, sodass klar werden wird, dass der Charakter der Polis und der Charakter der Seele nicht nur durch eine bloße Analogiebeziehung verbunden sind, sondern dass ein instabiler 584 Charakter, sofern er an der Regie582 Dass die politischen Umstände auch Einfluss auf den Charakter ausüben, wird dabei nicht verneint (s. u.); allerdings gilt dies m. E. innerhalb der Politeia v. a. für noch nicht vollständig ausgebildete Charaktere, wie sich anschaulich an den äußeren Einflüssen auf den Sohn des jeweiligen Herrschenden manifestiert (vgl. Rep. VIII 549c8– 550b8; 553a9–c8; 559d7–561a5; IX 572d8–573b5). Erwachsene, also Menschen mit bereits geformtem Charakter, hingegen werden bei der Gründung der kallipolis ins Exil geschickt (vgl. Rep. VII 540e5–541b1). Vretska stellt fest, dass ältere Charaktere in der Politeia »nicht mehr der ›Umwandlung‹ fähig« (2000, Buch VII, Anm. 81) seien; als Altersgrenze setzt er zehn Jahre fest, da Sokrates selbst dies als Altersgrenze für das Exil festlegt (vgl. ebd. (Buch VII, Anm. 81) und zu den Ausführungen zur Charakterformung in Politeia und Nomoi vgl. Kap. 2.1). Dass diese Charaktere für die Gründung der kallipolis offensichtlich ein Hindernis wären, scheint plausibel, da Sokrates den Philosophen den Idealstaat auf einem gereinigten Brett entwerfen lässt (vgl. Rep. VI 501a2–c2). Ob die periagôgê für solche Menschen aber von vornherein ausgeschlossen ist oder einfach nur schwieriger zu bewerkstelligen, wurde in Kap. 2.1 näher untersucht und sich für die letztere Ansicht ausgesprochen. Mit der Lesart, dass der Fokus der Politeia auf dem ethischen Bereich liegt, folge ich u. a. Annas (vgl. 1981 allgemein, bzgl. des Charakterverfalls insbesondere S. 294; 2011). 583 Insbesondere hinsichtlich des Philosophen, der insgesamt im Werk Platons eine große Rolle spielt, müssen aber auch andere Dialoge miteinbezogen werden. 584 Gavrielides 2010 verneint bei der Untersuchung des Verfalls der Staatsformen die Instabilität der Seele. Dass die Instabilität aber einen entscheidenden Faktor für die Degeneration darstellt, wird in Kap. 3.2 deutlich werden.

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rung beteiligt ist, sich unmittelbar negativ auf die bestehende Verfassungsform auswirkt und damit – zumindest in Bezug auf die jeweilige metabasis – von einer logisch-kausalen Verbindung gesprochen werden kann. 585 In einem zweiten Teil wird der Charakterverfall selbst näher untersucht und dessen Gründe aufgezeigt. Aus der logisch-kausalen Verbindung zwischen Charakter und Polis folgt zudem, dass die Qualität des Charakters direkt mit der Quantität an Glück der Polis wie des jeweils zugehörigen Menschen verbunden ist und damit als glückskonstitutiv bzw. glücksdestruktiv fungiert. Daher ist klar, dass die Art des Charakters essentiell für die Grundfrage der Politeia ist, da nur ein gerechter Charakter wahres Glück nach sich zieht. 586 Ob sich Gerechtigkeit auszahlt, muss damit am gerechten Charakter überprüft und aufgezeigt werden. Daher hängt auch die Herrscherfrage in der kallipolis in entscheidender Weise vom Charakter des In585 Damit wird jedoch nicht behauptet, dass diese logisch-kausale Verbindung auf der Analogie basiert; sie besteht allerdings neben dieser als bedeutender Aspekt, und zwar auch für alle degenerierten Staatsformen. Damit wende ich mich gegen Ferrari 2003 und 2009a, der diese Verbindung nur für die kallipolis (als predominant section rule) und die Tyrannis (als externalization) feststellt (vgl. 2003, S. 94 f., 100 f.). Die dargelegte Verbindung stellt eine Seite des Verhältnisses vom Charakter des Individuums und Charakter der Polis dar. Insgesamt lässt sich natürlich von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgehen, die bereits Andersson in der Politeia näher untersucht hat: Er kommt zu dem Schluss, dass sowohl das Individuum die Polis forme wie umgekehrt ein Einfluss von Seiten der Polis auf das Individuum vorliege (vgl. Andersson 1971). Dieses Motiv kann m. E. für einen Vergleich mit den Nomoi fruchtbar gemacht werden. Denn auch wenn dort nicht von einer Analogie von Polis und Seele die Rede ist, so scheint dort ebenfalls klar eine Wechselbeziehung zwischen Individuum und Polis auf. Analysiert man die Beziehung zwischen Charakter und Polis genauer, so zeigt sich, dass die Charakterformung durch die Polis in den Nomoi weitaus größeren Raum einzunehmen scheint, da die Erziehung das ganze Leben hindurch ständig erneuert wird und niemals einen abgeschlossenen Prozess darstellt (zu den Erziehungsrichtlinien in den Nomoi vgl. Leg. II und VII und Kap. 2.1). 586 Damit gelten die Ergebnisse dieser Untersuchung unabhängig von der Frage, ob die Tugenden und insbesondere die Gerechtigkeit bloß instrumentell für das Glück des Menschen sind oder bereits Tugendbesitz mit Glücksbesitz gleichgesetzt werden kann. Diesem Problem kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher nachgegangen werden, da für die Zwecke dieser Studie lediglich relevant ist, dass das jeweilige Individuum mit gerechtem Charakter glücklich ist und dieser Zustand durch bestimmte Faktoren gestört werden kann. Allerdings scheint es mir plausibler, den Tugendbesitz nicht als bloße Vorstufe zum Glück zu sehen, da die Ordnung der Seele selbst als Argument dafür dient, die Gerechtigkeit als intrinsisches Gut zu klassifizieren (vgl. für ein vorläufiges Ergebnis Rep. IV 445a5–b4 sowie für ein endgültiges Urteil Rep. IX 579c4–580c5).

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Zur Analogie von Polis und Seele

dividuums ab. Nur dann kann Gerechtigkeit in der kallipolis entstehen, wenn der Zuteilung in die verschiedenen Stände eine Charakterprüfung vorhergeht, wobei es sich um eine Überprüfung der charakterlichen Anlagen handelt, die entsprechend eine unterschiedliche Erziehung erhalten (vgl. Rep. III 415a1–c6). Die Grundvoraussetzung für Gerechtigkeit in der Polis und im Individuum ist damit eine Charakterprüfung; voll ausgebildet wird die Gerechtigkeit aber nur, wenn eine entsprechende Charakterformung folgt, sodass nur die Kombination von guten Anlagen und entsprechender Erziehung hinreichend für einen späteren gerechten Charakter und einen glücklichen Menschen ist (vgl. Kap. 2.1). Die verschiedenen Konzeptionen des Philosophen – allein innerhalb der Politeia sowie im Vergleich mit anderen Dialogen (u. a. dem Politikos) – verdienen besondere Aufmerksamkeit, sodass dem Philosophen der dritte Teil dieses Kapitels gewidmet ist, in welchem untersucht wird, ob und wenn ja, wie die unterschiedlichen Definitionen miteinander in Einklang zu bringen sind und ob vielleicht doch von einer kohärenten Charakterbeschreibung ausgegangen werden kann. Anhand des Philosophen wird zudem in besonderem Maße deutlich, dass die platonische Ethik nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der Epistemologie eng verbunden ist 587, da nur mit dem entsprechenden Charakter wahre Erkenntnis möglich ist.

3.1 Zur Analogie von Polis und Seele Die Analogie von Polis und Seele hat bereits zahlreiche Forscherinnen und Forscher zu Studien angeregt 588 und ist auch für den Charakterbegriff relevant. Dass sich diese Analogie in eigentlichem Sinne auf den Charakter bezieht – da die Beschaffenheit einer Polis analog zur Beschaffenheit der Seele gesehen wird –, ergibt sich einerseits notwendig aus der Inhärenzthese (Kap. 1); andererseits weist Platon selbst explizit an zwei für die Analogie prominenten Textstellen darauf hin (vgl. Rep. IV 435e1–436a4; VIII 544d6–e5) 589. Vgl. hierzu auch Williamson 2008. Vgl. Andersson 1971, Williams 1973, Brown 1983, Lear 1992, Ferrari 2003, 2009a, Höffe 2011. 589 Ferrari ist der Ansicht, dass diese beiden Textstellen nicht konstitutiv für die Analogie seien, nämlich »that these passages are not in fact intended to ›justify‹ Socrates’ comparison of the soul to the city, […] at least if ›intended to justify‹ is taken to mean 587 588

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Bezüglich der Analogie lassen sich zwei grundlegende, einander widerstreitende Interpretationslinien ausmachen: 1.) die weitergehende Interpretation einer logisch-kausalen Verbindung zwischen Individuum und Polis 590 (T1) sowie 2.) die Annahme, dass es Platon ausschließlich um die Ähnlichkeit zwischen Individuum und Polis gehe (These von der reinen Analogie; T2) 591. Im Folgenden werden die beiden Positionen kurz dargelegt, um im Anschluss eine dritte Art der Interpretation (T3) zu entwickeln, die durch Modifikationen an T1 und T2 diese miteinander vereinbar macht. Dass T2 keineswegs von Platons Sokrates vertreten werden kann, ergibt sich bereits notwendig aus der politischen Bedeutung des Charakters, die sich im Laufe dieses Kapitels noch zeigen wird. Williams, der sich für T1 ausgesprochen, aber dabei bereits selbst auf die sich daraus ergebenden Widersprüche hingewiesen hat, war – wie auch Jonathan Lear – der starken Kritik Ferraris ausgesetzt, der aus der Tatsache dieser offensichtlich vorliegenden Widersprüche den Schluss gezogen hat, dass Polis und Seele ausschließlich analog betrachtet werden dürften (T2). Anhand dieses Widerstreits sollen zunächst Williams’ und Ferraris Thesen als paradigmatisch für die beiden gegensätzlichen Positionen dargelegt werden, um anschließend die Probleme beider Interpretationen aufzeigen zu können und eine dritte These vorzustellen. 592

›intended to explain how the comparison works‹.« (2009a, S. 409) M. E. aber stellen diese Abschnitte zumindest eine Veranschaulichung und Erklärung der Analogie dar und tragen daher durchaus zu deren Verständnis bei, wenn sie auch nicht von ihr abhängen müssen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. 590 Vgl. Ryffel 1949 (S. 90, 97 (Fn. 239)), Andersson 1971, Gigon 1972, Williams 1973, Lear 1992, Calabi 2005 (die das timokratische Individuum als Herrscher des timokratischen Staates sieht, S. 279–281), Campese 2005 (v. a. S. 198, Fn. 10), Giorgini 2005 (v. a. S. 437), Frede 2011 und Höffe 2011. Die These von der logisch-kausalen Verbindung hat verschiedene Ausformungen erfahren, von denen die für die vorliegende Studie relevantesten weiter unten diskutiert werden. 591 Vgl. Brown 1983 und Ferrari 2003, 2009a. Thein 2005 bestreitet dabei das Vorliegen einer funktionierenden Analogie (die »analogie de l’âme et de la cité n’est pas parfaite«, S. 263) und verweist auch auf die Probleme, die Williams herausgearbeitet hat (vgl. Thein 2005, S. 263 (Fn. 1)). Vgl. außerdem Vegetti 2005, der ebenfalls keine »corrispondenza immediata e lineare fra tipi d’uomo e classe dirigente dei regimi ad essi analoghi« (S. 150) sieht, wenngleich er Ferrari 2003 nicht völlig folgt (vgl. Vegetti 2005, S. 150 f., Fn. 28). 592 Für diesen Zweck werden außerdem weitere Varianten von T1 diskutiert werden.

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These von der logisch-kausalen Verbindung (T1) Bernard Williams geht in seiner Untersuchung von einer starken und einer schwachen Variante von T1 aus: (1) Eine Polis sei F, wenn alle Mitglieder der Polis F seien oder (2) eine Polis sei F, wenn die herrschende, einflussreichste oder vorherrschende Klasse F sei. Die abgeschwächte Form wird aufgrund der Probleme, die sich aus der starken Interpretation ergeben, eingeführt. 593 Bei der Übertragung der Analogie vom Individuum auf die Polis konstatiert Williams eine grundsätzliche Unvereinbarkeit: Gegen (1) spräche beispielsweise, dass die kallipolis zwar als vollkommen gerecht bezeichnet werde, dies aber nicht für alle Bürger gelten könne, da dies nur dem Stand der Philosophen zukäme. Aber auch seine abgeschwächte These (2) hält er für ungenügend, nämlich aufgrund des gescheiterten Versuchs, diese Regel auf die Beschreibung der Demokratie anzuwenden. So könne die Polis nicht demokratisch sein, weil die Herrscher einen solchen Charakter aufweisen; das Problem scheint für ihn darin zu bestehen, dass einmal von einem Herrscher mit einem unsteten und somit demokratischen Charakter gesprochen werde, die Bürgerschaft aber insofern als demokratisch anzusehen sei, als die einzelnen Bürger einen je unterschiedlichen Charakter aufweisen würden. 594 These von der reinen Analogiebeziehung (T2) Ferrari erkennt die Widersprüche, die Williams aufgezeigt hat, an, spricht sich aber dafür aus, gar nicht erst den – ohnehin zum Scheitern verurteilten – Versuch zu unternehmen, den Charakter des Individuums auf die Polis zu übertragen, da die jeweiligen Charakterbeschreibungen, d. h. die Beschreibung des Charakters als Individuum auf der einen Seite und die Beschreibung des Charakters in der jeweils korrespondierenden Polis andererseits – auf zwei völlig unterschiedlichen, voneinander abgetrennten Ebenen ablaufen würden. Daher sei von einer rein analogen Beziehung auszugehen. 595 Er gesteht zwar der kallipolis und der Tyrannis darüber hinaus eine kau593 Vgl. Williams 1973, S. 256–259. Er spricht von einer whole-part-rule (1) und einer predominant section rule (2). 594 Vgl. ebd., S. 256–260. Auf die Ausführungen und Problemdarlegung Williams’ hinsichtlich des epithymêtikon kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht weiter eingegangen werden (vgl. ebd., S. 260–264). Für eine Kritik an diesen Ausführungen vgl. Lear (1992, S. 197–201). 595 Vgl. Ferrari 2003, S. 37–53.

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sale Verbindung zwischen Individuum und Polis bzw. den Prozess der Externalisierung zu, führt dies aber nicht auf die Analogie zurück und sieht dies lediglich als zusätzlichen Aspekt. Lears Position der Internalisierung und Externalisierung weist Ferrari daher ebenso zurück, da diese psychologischen Prozesse nichts mit der Analogie selbst zu tun hätten. 596 These von der unabhängigen logischen Kausalität (T3) Im Folgenden werden kurz die Probleme beider Positionen aufgezeigt, um dann zu prüfen, ob diese schließlich mithilfe der Einführung einer neuen These zu lösen sind. Williams’ These von der predominant section rule scheint m. E. gut zu funktionieren, wenn es gelingt, das Problem der Demokratie und des demokratischen Menschen zufriedenstellend zu lösen. Bei der Darstellung der Unterschiede zwischen Demokratie und demokratischem Menschen ist es meiner Meinung nach nicht nachvollziehbar, warum diese Tatsache gegen Williams’ abgeschwächte These sprechen sollte. Der Charakter des Individuums kann als demokratisch beschrieben werden, wenn er »bunt« ist und allen Lüsten gleichermaßen nachgeht (vgl. Rep. VIII 561c6–e7). Die Übertragung auf die Polis sieht dann so aus, dass ein solcher demokratischer Charakter über die Bürger herrscht und daher die Polis als demokratisch bezeichnet werden kann, womit die predominant section rule erfüllt wäre. Die Uneinheitlichkeit des Demokraten als Individuum drückt sich insgesamt zugleich in einer uneinheitlichen Polis aus, sodass prinzipiell vom gerechten bis zum tyrannischen Menschen alle Charaktere in der Demokratie aufzufinden sind: »Sie [d. i. die Demokratie] scheint also die schönste aller Staatsverfassungen zu sein. Wie ein Kleid mit farbenprächtigen Blumen bunt geschmückt ist, so ist auch sie mit allen Charakteren bunt durchsetzt und von prächtigem Anblick. […]« (Rep. VIII 557c4–7) 597

Eine solche Polis ergibt sich sogar ganz logisch, wenn ein demokratisches Individuum an der Macht ist: Da die Freiheit und Gleichheit für 596 Vgl. ebd., S. 50–53, 85–116; Lear 1992. Für Ferrari ist beim tyrannischen Charakter der Prozess der Externalisierung am Werk, beim Philosophen gilt die predominant section rule (vgl. 2003, S. 82, 85–116), allerdings beides unabhängig von der Analogie. 597 Κινδυνεύει, ἦν δ’ εγώ, καλλίστη αὕτη τῶν πολιτειῶν εἶναι· ὥσπερ ἱμάτιον ποικίλον πᾶσιν ἄνθεσι πεποικιλμένον, οὕτω καὶ αὕτη πᾶσιν ἤθεσιν πεποικιλμένη καλλίστη ἂν φαίνοιτο.

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den Demokraten das höchste Gut sind (vgl. Rep. VIII 561c7–e2), wird er auch seinen Untertanen diese kaum verwehren, sodass z. B. der Gerechte frei ist, seinen gerechten Charakter zu verwirklichen und nach der Tugend zu streben, oder der Oligarch seine geldliebende Natur ausleben kann. Da diese These gerade nicht davon ausgeht, dass die Untertanen notwendig demokratische Charaktere sein müssen, sondern nur die Regierenden, spricht m. E. in dieser Hinsicht nichts gegen die predominant section rule. 598 Zudem scheinen Sokrates wie sein Gesprächspartner die Tatsache offensichtlich zu finden, dass sich in der Staatsform der Demokratie auch der individuelle Demokrat auffinden lasse. Dies wird deutlich am Übergang der Beschreibung der Entstehung der Demokratie zur Beschreibung ihres Charakters. Aus dem Charakter der Staatsform kann der Charakter des Individuums erschlossen werden, und zwar aufgrund der Tatsache, dass sich solche demokratischen Individuen in der Demokratie finden lassen: »Wie lebt man nun in der Demokratie? Wie sieht eine solche Verfassung aus? Denn offenbar werden wir unter diesen Leuten den demokratischen Menschen finden.« »Offenbar!« (Rep. VIII 557a9–b3) 599

Diese Aussage wird auch im weiteren Verlauf nicht mehr revidiert, ja sogar durch die zuvor zitierte Textstelle verstärkt (vgl. Rep. VIII 557c4–7); denn wenn sich in der Demokratie alle Arten von Charakteren auffinden lassen, dann muss auch notwendigerweise der demokratische Charakter selbst dort vorkommen. Ferraris These wiederum fußt auf einer anders gearteten Kritik an Williams und einer Kritik an Lear, die m. E. aber in den entscheidenden Punkten nicht haltbar sind. Lear geht im Gegensatz zu Williams zurecht von einer funktionierenden, aber sehr schwachen whole part rule aus 600 und erklärt die Beziehung zwischen Individuum und Polis damit, dass zunächst eine Internalisierung ablaufe (die Polis prägt den Charakter des Individuums), der eine Externali-

598 Zur Widerlegung des möglichen Einwands, dass in einer Demokratie keine demokratischen Menschen herrschen s. u. 599 Τίνα δὴ οὖν, ἦν δ’ ἐγώ, οὗτοι τρόπον οἰκοῦσι; καὶ ποία τις ἡ τοιαύτη αὖ πολιτεία; δῆλον γὰρ ὅτι ὁ τοιοῦτος ἀνὴρ δημοκρατικός τις ἀναφανήσεται. Δῆλον, ἔφη. 600 »If a polis is F, then some of its men are F« (Lear 1992, S. 196).

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Die Bedeutung des Charakters für die Politik

sierung (der Charakter prägt die Struktur der Polis) folge. 601 Ferrari wendet dagegen ein, dass die Individuen einer Polis nicht zu Timokraten, Oligarchen, Demokraten oder Tyrannen würden durch das Vorhandensein einer entsprechenden Polis. Ein timokratischer Charakter würde also nicht zu einem solchen, weil er die timokratische Kultur einer solchen Polis internalisiere. 602 Ferraris Lesart übersieht dabei aber, dass Platon Sokrates stets den jeweiligen Übergang in die nächste Verfallsstufe beschreiben lässt und nicht das zeitweilige Bestehen einer degenerierten Polis-Form. Der jeweilige Charakterumschwung geschieht damit nicht durch eine Internalisierung der herrschenden Wertvorstellungen der aktuellen Polis – und kann auch gar nicht auf diese Weise geschehen. Wenn man aber davon ausgeht, dass die jeweilige Verfallsstufe länger als eine Generation besteht, bis sie durch ihre Instabilität möglicherweise irgendwann zugrunde geht, so muss während dieses Bestehens von einer Internalisierung ausgegangen werden. Verneint man diese Annahme, so führt dies genau zu dem beschriebenen, allerdings sofortigen Verfall. Dass dieser aber eher zu einem willkürlichen Zeitpunkt geschieht, wird deutlich, wenn man die jeweiligen charakterlichen Umschwünge genauer betrachtet: M1: »Sein Werdegang ist ungefähr (hôde pôs) folgender: Manchmal (eniote) gibt es einen jungen Sohn eines tüchtigen Vaters, der in einem nicht gut verwalteten Staat 603 lebt, die Ehren- und Amtsstellen und all diese Geschäftigkeit flieht und zurückgezogen leben will, um keine Unannehmlichkeiten zu haben.« […] »Wenn (hotan) er zunächst die unwilligen Klagen seiner Mutter hört, […].« […] »Und du weißt ja, auch die Diener solcher Leute sprechen manchmal (eniote) heimlich in dieser Art zu den 601 Vgl. Lear 1992, S. 186–193, 196 f. Damit folgt er der These Anderssons, der dabei von motif und anti-motif spricht (vgl. 1971, S. 24). Wie bereits in der Einleitung bemerkt wurde, erscheint mir Anderssons Sichtweise im Allgemeinen plausibel; dabei sehe ich aber keine zwingende Verbindung mit der Analogie. 602 Vgl. Ferrari 2003, S. 52. 603 An dieser Stelle wurde angemerkt, dass die Entstehung des timokratischen Menschen bereits eine Timokratie oder eine andere degenerierte Herrschaftsform voraussetze (vgl. Frede 2011, S. 204). M. E. kann aber problemlos von den Überresten der kallipolis ausgegangen werden, die sich in einem Zustand befindet, der kurz vor dem Verfall steht. Dieser geschieht nämlich genau dann, wenn die Hochzeitszahl falsch berechnet wurde und infolgedessen nicht mehr vollkommene Philosophen an der Regierung sind. Daher hat der Ausdruck Sokrates’ von einem nicht gut verwalteten Staat durchaus seine Berechtigung (vgl. Rep. VIII 549c3); ja er dürfte nicht einmal mehr von der kallipolis als solcher sprechen, da sie bereits im Prozess des Verfalls begriffen ist.

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Söhnen, aus Wohlwollen, wie sie glauben. Und wenn (ean) sie einen Geldschuldner sehen, […], dann fordern sie den Sohn auf, er solle, wenn er Mann geworden, sich an all diesen Leuten rächen und mehr Mann sein als sein Vater. […]« (Rep. VIII 549c2–6, 549c8, 549e3–550a1; übers. Vretska, leicht verändert; eig. Hervorhebungen) M2: »Wenn (hotan) der Sohn zunächst seinem Vater nacheifert und seinen Spuren folgt, ihn dann plötzlich am Staat wie an einer Klippe scheitern sieht, wie er seine Habe und seine eigene Person aufs Spiel setzt, sei es als Stratege oder als hoher Beamter (ê stratêgêsanta ê tin’ allên megalên archên arxanta), wie er dann vors Gericht gezerrt wird, von Denunzianten angezeigt, und zu Tode oder zu Verbannung oder zu Ehrlosigkeit verurteilt wird und sein Vermögen verliert.« […] »Wenn er dies, mein Freund, sieht (idôn) und mit erleidet und sein Geld verliert, da wird ihm angst und bang, und er stößt sofort den Ehrgeiz und den tatenfrohen Mut vom Thron seiner Seele; […]« (Rep. VIII 553a9–b5, 553b7–c2; übers. Vretska, leicht verändert; eig. Hervorhebungen) M3: »Mag dieser [d. i. der Werdegang des Demokraten] nicht wohl so vor sich gehen (ar’ oun ouch’ hôde;)? […].« […] »Wenn (hotan) ein Junge in der eben besprochenen Art aufwächst, ohne tiefere Bildung und sparsam, und er kostet vom Honig der Drohnen und kommt mit funkelnden und gefährlichen Tieren zusammen, […] dann – glaube mir! – beginnt in ihm der Wandel seiner Seele von der Oligarchie zur Demokratie.« […] »Und wenn (ean) nun dem oligarchischen Element in ihm eine Hilfe wird, […] dann wogen in ihm Kampf oder Widerstand, eine Schlacht in ihm gegen ihn selbst.« […] »Und manchmal (pote) wich wohl das demokratische Element dem oligarchischen […] – und so kam er [d. i. der Junge] wieder in Ordnung zurecht!« »So geschieht es bisweilen (eniote)!« »Dann wieder wuchsen andere Triebe heran, verwandt mit den verbannten, und wurden zahlreich und stark aus dem Unverstand des Vaters in der Erziehung!« »Das tritt oft (goun) ein!« […] »Zuletzt (teleutôsai) aber eroberten sie die Hochburg in der Seele des Jungen, […]« (Rep. VIII 558c11, 559d7–e2, 559e8–560a2, 560a4–b3, 560b7–8; übers. Vretska, leicht verändert; eig. Hervorhebungen) M4: »[…] Wenn (hotan) nun diese bösen Zauberer und Tyrannenmacher den Jungen nicht anders bezaubern zu können glauben, dann jagen sie ihm mit aller List eine Leidenschaft ein, […].« […] »Wenn (hotan) nun um diese Leidenschaft die andern Triebe herumsummen, […] sie so nähren und mehren und dieser Drohne einen Stachel der Sehnsucht einsetzen – dann schafft sich dieser Demagoge der Seele aus den Wahnsinnstrieben eine Leibwache und rast umher; […]« […] »Zu einem tyrannischen Menschen, mein Liebster, entwickelt sich ein Mann dann, wenn (hotan) er durch seine Anlage oder durch seine Lebensart oder durch beides Trinker, Lüstling und wahnsinnig wird.« (Rep. IX 572e4–6, 573a4–b1, 573c7–9; eig. Hervorhebungen) Seelen im Wandel

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Die Beschreibungen des Charakterverfalls des jeweiligen Sohnes sind an viele Bedingungen geknüpft, die wohl irgendwann auf diese oder eine andere Weise 604 eintreten können, oder sind so formuliert, dass keine Notwendigkeit besteht, dass der Sohn zwangsläufig degeneriert und eine neue Staatsform etabliert wird. Dies kann zwar irgendwann im Laufe der Zeit geschehen; dass sich der Umschwung vollziehen wird, stellt aufgrund der instabilen Seelenordnung der jeweiligen Individuen damit eine große Gefahr dar, muss allerdings nicht notwendig eintreten. Norbert Blössner, der ebenfalls den Staats- und Charakterwandel untersucht hat, betrachtet die politische und die ethische Seite getrennt und geht beim Verfall in die jeweils schlechtere Staatsform von einem Zeitraum aus, der mehrere Generationen umfasst. Auf Seiten der Seele und damit des Charakters hingegen macht er ein »präzises zeitliches Schema« 605 aus, das in der Generationenabfolge von Vater und Sohn besteht, weist aber darauf hin, dass »ein Darstellungsschema nicht als konkrete Zeitangabe mißverstanden werden« 606 sollte. 607 Dieser Hinweis ist wichtig, da auch das präzise zeitliche Schema selbst – wie oben deutlich wurde – nicht klar festgelegt und an viele Bedingungen geknüpft ist, die auch zu beliebigen späteren Zeitpunkten eintreten können. Dieser charakterliche Umschwung wiederum bedingt den politischen; die neue Staatsform besteht dann so lange, bis erneut ein Charakterverfall im Individuum vonstatten geht, das zur Herrschergeneration gehört, und damit den nächsten Staatsumschwung einleitet. 608 604 Dass sowohl der charakterliche wie der politische Verfall nicht auf eine bestimmte festgelegte Weise ablaufen müssen, hat u. a. auch Blössner betont (vgl. 1997, S. 136 f.). 605 Blössner 1997, S. 113. 606 Ebd., S. 113 (Fn. 301). 607 Vgl. ebd., S. 110, 113, Fn. 301. 608 Diese These mag hier noch spekulativ erscheinen; sie ergibt sich aber aus den Ergebnissen hinsichtlich der politischen Bedeutung aus Kap. 3.1 und 3.2. Lear geht hierbei von einer dialektischen Beziehung aus: »[…] [W]e see that the degeneration occurs through a dialectic of internalization of pathological cultural influences in individuals which provokes a degeneration in character-structure (as compared to the previous generation) which is in turn imposed on the polis, which thus acquires and provokes deeper pathology.« (1992, S. 202) Er nimmt eine wechselseitige Beziehung an, nämlich »that the pathology in each helps to bring about pathology in the other« (ebd., S. 202). Logisch wäre dies sicher möglich; bei Platon liegt der Ausgangspunkt des Verfalls aber klar auf Seiten des Charakters. Das zeigt sich allein daran, dass der philosophische Charakter die Hochzeitszahl falsch berechnet; dieser Fehler ist in keiner Weise auf das spezifische Wesen der kallipolis zurückzuführen (sondern all-

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Zur Analogie von Polis und Seele

Es kann also festgehalten werden, dass für die Dauer des Bestehens einer Charakterart von einer Internalisierung der herrschenden Normen der jeweiligen Polis ausgegangen werden muss. 609 Dass diese nicht dargelegt wird, kann einerseits dadurch erklärt werden, dass – wie oben angedeutet – Platons Sokrates am Verfall 610 und nicht am zeitweiligen Bestehen der degenerierten Staats- und Charakterformen interessiert ist; andererseits wurde dieser Prozess bereits anhand der kallipolis ausführlich erläutert 611, sodass davon ausgegangen werden kann, dass dies für die Zeit des Bestehens auch für die degenerierten Poleis gilt. Der Verfall gründet sich gerade auf einer solchen gescheiterten Internalisierung (vgl. Kap. 3.2). 612 gemein auf die Vergänglichkeit allen Seins). Dass dann die Polis eine Verschlechterung erfährt, ist mit den nicht mehr rein philosophischen Charakteren an der Regierung zu erklären. Für eine ausführlichere Darlegung der Systematik des Verfalls vgl. Kap. 3.2. 609 D. h. es gibt zwei Weisen, eine der dargelegten Charakterarten anzunehmen: Entweder (1) durch Internalisierung: In diesem Fall hat der Sohn das Glück, gerade nicht den beschriebenen möglichen äußeren Einflüssen ausgesetzt zu sein, die ohnehin – wie oben gesehen – recht zufällig sind, sodass er die Normen seines Vaters internalisiert und noch kein Charakter- und Verfassungsverfall abläuft. Die andere Möglichkeit besteht im von Sokrates beschriebenen Charakterverfall (2), sodass der Vater eine bessere Charakterart besitzt als die, die der Sohn schließlich entwickelt. 610 Auf diese Tatsache weist bereits Ryffel hin, und zwar in Abgrenzung zu historischen metabolai. Platon gehe es vielmehr um das »Wesen von Verfall« (1949, S. 98, Kursiv. im Orig.; vgl. ebd., S. 98). 611 Vgl. dazu die Darlegung der Erziehung und den Entwurf der kallipolis, insbesondere Rep. VI 501a2–c9. Ferrari weist darauf hin, dass die Analogie in Buch V–VII keine Rolle spiele (vgl. 2009a, S. 408); dies spricht m. E. aber nicht dagegen, mit Lear die Prozesse von Internalisierung und Externalisierung allgemein auch auf andere Bücher der Politeia anzuwenden, zumal bereits in Buch II und III die Internalisierung in Form der Anforderungen an die Wächter eine Rolle spielt (vgl. Rep. II 376c7 – III 412b7) und in Buch II das Vorhaben eingeführt wird, Staat und Individuum auf eine analoge Beziehung hin zu überprüfen (vgl. Rep. II 368e2–369b1). Damit ist nicht gesagt, dass Internalisierung und Externalisierung in irgendeiner Weise auf der Analogie gründen müssen, was Ferrari offensichtlich vermeiden möchte und worin ich ihm auch zustimme (vgl. Ferrari 2003, S. 50–53). Dies stellt zudem einen Kritikpunkt an Lear dar, der diese Prozesse eng mit der Analogie verbunden sieht: »The isomorphism depends on psychological relations Plato believed to hold between inside and outside.« (1992, S. 196; vgl. ebd., S. 193, 195 f.). 612 Lear geht einerseits von einer »dialectic of internalization of pathological cultural influences in individuals« (1992, S. 202) aus und nimmt zugleich an, dass eine stabile Internalisierung bei degenerierten Charakter- und Polisformen aufgrund der ihr inhärenten Krankheit nicht möglich ist; nur bei der kallipolis finde man solch erfolgreiche Internalisierungen (und auch Externalisierungen) (vgl. ebd., S. 202, 207). Allerdings ist es auch dem Idealstaat bestimmt, nicht ewig zu bestehen. Darauf weist Seelen im Wandel

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Die Bedeutung des Charakters für die Politik

Ein weiterer Kritikpunkt Ferraris bezieht sich auf Williams’ predominant section rule: Diese könne nicht funktionieren, da sich individueller Charakter und Charakter eines Individuums der Herrscherklasse stark voneinander unterscheiden würden. 613 Die Unterschiede, die Ferrari hervorhebt, sind zweifellos vorhanden; diese Tatsache stellt m. E. jedoch kein Gegenargument dar. Wenn man davon ausgeht, dass eine Polis F ist, wenn die Mitglieder des herrschenden Standes F sind, so sind diese selbstverständlich F in unterschiedlicher Hinsicht zum Individuum, das nicht an der Regierung teilhat: Es handelt sich zwar grundsätzlich um den gleichen Charakter; jedoch wird beispielsweise ein timokratischer Charakter sich als Privatperson anders verhalten denn als Regierender. Ferrari erkennt ebenfalls die unterschiedlichen Perspektiven an, schließt daraus aber auf verschiedene Charaktere. 614 Der Charakter unterscheidet sich aber im innerseelischen Aufbau nicht, er drückt sich nur auf unterschiedliche Weise im Äußeren aus und passt sich an die Gegebenheiten an, wie folgendes Schema veranschaulicht, das die vermeintlichen Unterschiede zwischen jeweiligem Individuum und Individuum in der jeweiligen Polis aufzeigt und zu lösen versucht 615: Lear zwar hin, zieht daraus aber keine Konsequenzen hinsichtlich der von ihm postulierten psychologischen Prozesse (vgl. ebd., S. 207, Fn. 113). Im ersten Punkt stimme ich ihm zu, beim zweiten Punkt muss aber bedacht werden, dass diese schlechten äußeren Einflüsse nicht zwangsläufig und in unterschiedlich starker Weise vorliegen können. Wenn man Lear im zweiten Punkt vollständig folgen würde, wäre es für eine degenerierte Charakterart wie beispielsweise den Oligarchen unmöglich, dass die eigenen Kinder selbst zu Oligarchen werden. Eine relative Stabilität (auch wenn natürlich jede Seele stets in noch größeres Chaos stürzen kann) scheint mir aber plausibler, da durch Zufall das entsprechende Kind von keinen oder nur wenigen schlechten äußeren Einflüssen geprägt wird. 613 Vgl. Ferrari 2009a, S. 411 f. Er gesteht dieser Regel eine eingeschränkte Gültigkeit zu, nämlich auf politischer Ebene: Die Herrscher würden zwar die Werte ihrer jeweiligen Polis verkörpern, seien zugleich aber von ganz anderer Art als die Individuen, die auf seelischer Ebene beschrieben würden (vgl. ebd., S. 411 f.). Mit diesem Problem sah sich Williams in Bezug auf Demokratie und demokratischen Menschen konfrontiert, was ihn dazu gebracht hat, die Regel als nicht umfassend gültig anzusehen (vgl. Williams 1973, S. 259 f., 264). 614 Vgl. Ferrari 2009a, S. 412. 615 Calabi 2005 und Bertelli 2005 sehen in Bezug auf die Timokratie bzw. Oligarchie gar eine perfekte Übereinstimmung zwischen dem jeweiligen regierenden Individuum und der Polis (vgl. Calabi 2005, S. 281: »una perfetta corrispondenza tra forma costituzionale e governanti«; Bertelli 2005, S. 374: »La corrispondenza tra sistema e individuo non potrebbe essere più completa«, vgl. ebd., S. 374 und Fn. 217). Ich stimme Bertelli (vgl. S. 374, Fn. 217) darin zu, dass Williams’ Einwand der Unvereinbar-

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Timokrat Die Beschreibung des timokratischen Individuums scheint sich nur in einer Hinsicht von der des Timokraten in der Timokratie zu unterscheiden, und zwar in seiner Einstellung zum Geld und damit in der Ausprägung seines begehrenden Seelenteils, der immer stärker wird. Beim Individuum wird daher ein Verlauf beschrieben: Da sein Charakter eine Zwischenform zwischen Philosoph und Oligarch darstellt, achtet er zu Beginn seines Lebens noch eher die Werte des Philosophen – d. h. er verachtet das Geld –, während er im hohen Alter eine oligarchischere Gesinnung annimmt, was sich in der Freude über das Geld ausdrückt (vgl. Rep. VIII 549a9–b4). 616 Auf staatlicher Ebene wird dargelegt, dass Timokraten – im Gegensatz zu Oligarchen – lediglich im Geheimen Gold und Silber liebten und vor der Öffentlichkeit geheim hielten (vgl. Rep. VIII 548a5–b2). Dieser Unterschied ist aber relativ leicht zu erklären, ohne unterschiedliche Charaktere postulieren zu müssen. Wenn der Timokrat an der Regierung beteiligt ist und diese Machtposition bewahren möchte – was beim Timokraten allein qua Timokrat der Fall sein muss –, kann er natürlich nicht öffentlich seine begehrende Natur ausleben aufgrund der äußeren Umstände, da dies höchstwahrscheinlich sein Ansehen beim Volk schwächen würde. Damit ist klar, dass der Hauptgrund für sein unterschiedliches Verhalten in seiner Seelenhaltung selbst liegt, da er eben gerade nicht wie der Oligarch vollständig vom begehrenden Teil, sondern vom mittleren Seelenteil dominiert wird, der u. a. nach Ehre strebt (vgl. Rep. VIII 550a4–b7), die ihm durch ein öffentliches verschwenderisches Verhalten wohl nicht zukommen würde. Oligarch Beim Oligarchen könnte man zunächst der Vorstellung folgen, dass der beschriebene Oligarch in der oligarchischen Polis im Allgemeinen verschwenderisch sei, auch mit seinem eigenen Besitz (vgl. Rep. VIII 552b6–c1), das oligarchische Individuum hingegen von Sparsamkeit keit der Beschreibungen hinsichtlich Polis und Individuum hier (wie m. E. auch insgesamt) nicht greift; allerdings sind dennoch Unterschiede auszumachen, die meiner Meinung nach mit dem Vorliegen verschiedener Charaktervarianten erklärt werden können. 616 Für eine ausführliche Darstellung der Kritik Platons am Reichtum und die damit einhergehenden Implikationen vgl. Schriefl 2013a. Seelen im Wandel

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geprägt sei und aus Angst vor Vermögensverlust die Befriedigung seiner Triebe auf die notwendigen beschränkt (vgl. Rep. VIII 554a2– 9, 554c11–d4). Allerdings wird auch bei der Beschreibung der Oligarchie deutlich, dass die dort lebenden Oligarchen, die als Reiche an der Regierung teilhaben, nicht vollständig und wahllos ihren Besitz verschwenden, sondern durchaus auch mit ihrem Vermögen geizen, wie dies beim vierten Fehler der Oligarchie betont wird (vgl. Rep. VIII 551e3–4). Daher stellt Sokrates zurecht beide Pole des Oligarchen dar, wenn er die Ähnlichkeit zur Oligarchie hervorhebt: die Überschätzung des Geldes einerseits, den Geiz und die Geschäftigkeit andererseits (vgl. Rep. VIII 554a2–9). 617 Demokrat Diese Charakterart wurde meist als besonders problematisch angesehen, wie u. a. bei Williams deutlich geworden ist. Die oben ausgeführte Erklärung und Kritik wird noch klarer, wenn man auch hier nicht von einer absoluten Identität der entwickelten Charaktere ausgeht, sondern ganz einfach vom selben Grundtypus. Der Demokrat als Individuum kann – analog zur Polis, die mit einem »Kaufhaus der Verfassungen« (pantopôlion politeiôn, Rep. VIII 557d8) verglichen wird – als ein Kaufhaus von Charakteren gesehen werden, da er eine Vielzahl von Charakteren in sich vereint. Damit wird also zunächst der Analogie Rechnung getragen; wie oben aber bereits ausgeführt wurde, wirkt über diese Isomorphie hinaus eine Kausalität, sodass zugleich von einem oder mehreren demokratischen Charakteren an der Regierung ausgegangen werden muss, da nur so die Voraussetzungen – Freiheit und Gleichheit – für eine Polis geschaffen werden können, die man zurecht als Demokratie bezeichnen kann. 618 617 Es ist richtig, dass hier lediglich eine Ähnlichkeit konstatiert wird, was auf den ersten Blick als Gegenargument zur These der logischen Kausalität zwischen Individuum und Staat herangezogen werden könnte. Dies kann aber mit der hier eingeführten Unterscheidung zwischen Grundcharakterart und bestimmter ausgeformter Charaktervariante erklärt werden: Der Oligarch in der Oligarchie ist zwar nicht identisch mit dem Oligarchen als Individuum; beide gründen aber auf derselben Grundcharakterart, die als Oligarch bezeichnet wird, sodass es durchaus legitim ist, bei beiden Fällen von einem oligarchischen Menschen zu sprechen. Der Oligarch in der Oligarchie stellt dabei eine andere Charaktervariante des Oligarchen dar als der Oligarch im Allgemeinen, d. h. in einer beliebigen anderen Staatsform. 618 Mit Verweis auf Rep. VIII 564d6–e3 könnte man gegen diese Lesart argumentieren, dass Drohnen und nicht wahre Demokraten in der Demokratie herrschen. Dies

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Der unstete Charakter des Demokraten drückt sich im Individuum dadurch aus, dass allen Trieben in gleichem Maße nachgegangen wird; der Charakter des Demokraten an der Regierung wiederum wendet dieses Prinzip der Gleichheit und Freiheit nicht nur auf sich selbst, sondern auf die Polis an, sodass auch die Bürger die Möglichkeit haben, ein solches Leben zu führen (vgl. Rep. VIII 557b4–11). Tyrann Beim Tyrannen als Oberhaupt einer Tyrannis zeigt sich ein besonders großer Unterschied in seinem Verhalten im Vergleich zum tyrannischen Menschen, der keine Machtposition innehat. Dennoch gehen beide von denselben charakterlichen Grundvoraussetzungen aus und können diese – im Falle des tyrannischen Menschen außerhalb einer Machtposition – nur eingeschränkt verwirklichen. So haben Verbrecher ebenso einen tyrannischen Grundcharakter wie der Tyrann als Alleinherrscher und stellen eine der vielen Varianten dar, die ein tyrannischer Charakter verkörpern kann (vgl. Rep. IX 575a9–b9). 619 Aufgrund dieser Unterschiede innerhalb eines Charakters, die sich nicht wesentlich im Grundcharaktertyp selbst unterscheiden, sondern erst in der Ausdifferenzierung, die sich aus den äußeren Gegebenheiten ergibt, erscheint es mir sinnvoller, in diesem Zusammenhang nicht von grundsätzlich verschiedenen Charakteren zu sprechen, sondern vielmehr von verschiedenen Varianten eines bestimmten Charaktertyps. Platon war durchaus bewusst, dass es beispielsweise eine Vielzahl von durch das thymoeides beherrschten Personen gibt; in der von Sokrates beschriebenen Verfallsdarstellung geht es ihm aber ausdrücklich um Charaktertypen und damit um charakterliche Grundformen und nicht um spezielle Individuen. So lässt er Sokrates auch explizit ausführen, dass es selbstverständlich eine

wird jedoch erst im Kontext des Umschwungs von der Demokratie zur Tyrannis erwähnt, wohingegen bei der Beschreibung der Demokratie selbst das Losverfahren eine entscheidende Rolle spielt sowie die Freiheit der Bürger von großer Bedeutung ist (vgl. Rep. VIII 557a2–b11), sodass sich die Regierungsbeteiligung nicht auf die Drohnen beschränken dürfte. Die Aussage aus Rep. VIII 564d6–e3 kann daher vermutlich so erklärt werden, dass hier die Demokratie in einem fortgeschrittenen Stadium und kurz vor dem nächsten Verfall stehend beschrieben wird. 619 Weitere Varianten werden von Sokrates an dieser Stelle genannt: So können tyrannische Charaktere als Leibwächter von Tyrannen ihr Dasein fristen oder auch als Berufssoldaten. Seelen im Wandel

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Vielzahl an Charakteren gebe, die Zeit aber nicht ausreiche, diese alle zu erläutern: »Dies ist also Entstehung und Wesen dieser Staatsform [d. i. die Timokratie], wenn man nur ihre Grundgestalt gedanklich erfaßt und ohne Einzelheiten umreißt, weil man schon aus dieser Skizze hinreichend den Gerechten und Ungerechten erkennen kann und weil es ein unabsehbar langes Unterfangen wäre, alle Verfassungen und alle Charaktere 620 ohne jede Auslassung zu besprechen.« (Rep. VIII 548c9–d4; übers. Vretska, leicht verändert) 621

Das beschriebene timokratische Individuum stellt damit nur die Grundform eines solchen Charakters dar und kann damit durchaus in logischer Beziehung zur Timokratie stehen. So handelt es sich um die Grundform desselben Individuums, das einmal im privaten und einmal im öffentlichen Raum handelt. Wenn also die Herrscher Timokraten sind, so setzen sie die Wertschätzung und Anerkennung timokratischer Normen durch, die dazu führen, dass es wahrscheinlicher ist, dass auch die Bürger zu timokratischen Individuen werden – in der einen oder anderen Variante. 622 Wie aus der obigen Kritik hervorgeht, werden weder Williams’ noch Ferraris Interpretationen der platonischen Position gerecht, sodass es mir sinnvoller erscheint, Platons Sokrates weder ein Scheitern der Analogie noch eine bloße Einschränkung auf diese zuzuschreiben. 620 Offensichtlich gibt es hier zwei Lesarten: 1.) Es können allgemein nicht alle Verfassungen und Charaktere besprochen werden, da es zu viele sind. 2.) Es können nicht alle fünf Verfassungen und Charaktere genau besprochen werden, weil es zu aufwändig wäre, Einzelverfassungen und -charaktere genau darzulegen. Ich folge der ersten Lesart, die auch Frede vertritt (vgl. 2011, S. 195 f.), da im Text kein Hinweis zu finden ist, dass mit »alle« nur die vier Verfallsformen und der philosophische Charakter gemeint sind. 621 Οὐκοῦν, ἦν δ’ ἐγώ, αὕτη μὲν ἡ πολιτεία οὕτω γεγονυῖα καὶ τοιαύτη ἄν τις εἴη, ὡς λόγῳ σχῆμα πολιτείας ὑπογράψαντα μὴ ἀκριβῶς ἀπεργάσασθαι διὰ τὸ ἐξαρκεῖν μὲν ἰδεῖν καὶ ἐκ τῆς ὑπογραφῆς τόν τε δικαιότατον καὶ τὸν ἀδικώτατον, ἀμήχανον δὲ μήκει ἔργον εἶναι πάσας μὲν πολιτείας, πάντα δὲ ἤθη μηδὲν παραλιπόντα διελθεῖν. 622 Diese Wahrscheinlichkeit spricht nicht gegen die Annahme einer logisch-kausalen Beziehung, da sich diese lediglich auf die Herrscherklasse bezieht und damit der predominant section rule Genüge tut. Leon Harold Craig macht in seiner Studie zum Timokraten zwei Varianten dieser Charakterart aus: den ehr- und den siegliebenden, den er auch in Gestalt von Adeimantos bzw. Glaukon wiedererkennt (vgl. Craig 1994, S. 44 f., 112 f.). Allerdings ist m. E. diese Zuschreibung insbesondere für Glaukon problematisch, da Sokrates ausdrücklich die Unterschiede zwischen dem Charakter Glaukons und dem timokratischen Charakter hervorhebt (vgl. Rep. VIII 548d8–549a8).

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Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass neben der Analogie – deren dennoch vorhandenen Unterschiede zwischen seelischer und politischer Ebene so erklärt werden können, dass jeweils eine andere Perspektive eingenommen wird – ebenso eine logisch-kausale Beziehung besteht, da eine Polis selbstverständlich vom Charaktertyp ihrer Regierenden bestimmt wird. 623 In diesem Kontext scheint es mir angebracht, in Anlehnung an Lears Ansatz, die Prozesse der Internalisierung und Externalisierung anzunehmen und zudem eine funktionierende predominant section rule, die aber – im Gegensatz zu Lear – nicht als Basis für die Analogie dienen. Ferrari schließt eine logisch-kausale Verbindung zwar auch nicht aus, beschränkt diese aber auf die kallipolis und die Tyrannis und sieht diese Beziehung zudem als vollkommen unabhängig von der Analogie. 624 Wie oben deutlich wurde, gilt diese Kausalität zwischen Charakter und Polis aber bei allen dargelegten Polis- und Charakterformen, gründet sich dabei zwar nicht auf der Analogie und besteht daher unabhängig von ihr 625, kann aber im Nachhinein als weitere Stützung des Vergleichs herangezogen werden. 626 Die Ähn623 Die jeweiligen Charaktere der Bürger in den entsprechenden Poleis werden nicht klar dargelegt; allgemein scheint Platon jedoch davon auszugehen, dass es unabhängig von der Verfassungsform eine Mehrheit an appetitiv veranlagten Menschen gibt und nur sehr wenige Philosophen (vgl. Rep. IV 431b9–c8). Ob die appetitiven Menschen ihre Begehren aber eher kontrollieren oder mehr oder weniger offen ausleben, hängt m. E. von der Verfassung ab, da z. B. in der Demokratie es viel eher der Fall sein wird, dass ein Individuum einen demokratischen Charakter entwickelt, wenn es bereits appetitive Anlagen besitzt, weil das entsprechende Verhalten solcher Charaktere nicht als schlecht angesehen wird. 624 Vgl. Ferrari 2003, S. 53, 82, 85, 94 f., 97, 100 f. 625 Vgl. hierzu auch Solinas 2005, der ebenfalls in einer Fußnote in diese Richtung argumentiert. Er geht von einer »relazione di corrispondenza biunivoca circolare« aus, »che garantisce ad ognuno un’autonomia semi-ontologica dal punto di vista descrittivo, statico, ma che preserva nel contempo la relazione causale circolare dal punto di vista dinamico-temporale, dialettico.« (S. 473 f., Fn. 3) Allerdings kann m. E. die Kausalität als vollständig unabhängig von der Analogie gesehen werden. Hinsichtlich der Kausalität stimme ich im Allgemeinen mit den Vertretern von T1 überein (s. o.); nur scheinen dabei entweder die Demokratie und der Demokrat als Ausnahme aufgefasst zu werden, wo der Isomorphismus nicht funktioniere (vgl. Williams 1973; anders aber Santas 2010, der aus der Anwendung des Isomorphismus schließt, dass zumindest »reciprocal relations between a democratic city and a democratic person« (S. 177) bestehen würden (vgl. ebd., S. 174–177)), die Beziehung zur Analogie nicht klar thematisiert zu sein oder als enge Verbindung angesehen zu werden. 626 Sokrates betont ja gerade bei der Einführung der Analogie, dass diese nur für eine Vereinfachung der Untersuchung herangezogen werde und ihre Gültigkeit am Ende

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lichkeit zwischen Individuum und Polis kann daher unabhängig von einer Kausalität zwischen den beiden Bereichen zustande kommen, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass diese Kausalität besteht und ein bestimmtes Individuum, wenn es in einer Polis herrscht, diese entsprechend prägt und von ihr geprägt wird. Man kann beispielsweise von einem timokratischen Charakter einer Polis nur auf zweiter Stufe sprechen, da ihr dieser durch das Vorhandensein des überprüft werden müsse, um sicherzugehen, dass eine Übertragung auf den seelischen Bereich gerechtfertigt ist (vgl. Rep. II 368d1–369b1, IV 434d2–435a3). Genau dies geschieht aber sowohl bei der Seelendreiteilung als auch beim Staats- und Charakterverfall, wenn festgestellt wird, dass sich Individuum und Staat in den entscheidenden Punkten (in der Anzahl der Teile und bestimmter charakterlicher Merkmale) ähneln (vgl. insbesondere die Aussagen in Rep. VIII 549b9–c1, 555a8–b2, 562a1–3, IX 576c6–9) und kann durch die Kausalität zwischen dem Charakter des Regierenden und der regierten Polis noch untermauert werden, ohne dass eine solche Kausalität notwendig für die Analogie wäre. Somit nehme ich nicht zwei dauerhaft völlig unabhängige Argumentationen an – von der Analogie einerseits und einer logischkausalen Verbindung andererseits –, wie dies Ferrari tut (vgl. 2003, S. 53, 85–116), sondern gehe davon aus, dass nach Überprüfung der Analogie die Kausalität als zusätzliches Argument fungieren kann. Dass letztere aber nicht die Analogie bedingt, stellt bereits Ferrari fest (vgl. Ferrari 2003, S. 42–53; zustimmend auch Blössner 2007 (vgl. S. 373 f. und Fn. 43)). Blössner sieht Rep. VIII 544d7–e3 als eine Art PseudoRechtfertigung von Sokrates und als darstellerisches Mittel, um die fünf Charakterarten einführen zu können und damit »die Anwendbarkeit des Analogieverfahrens zu sichern.« (1997, S. 210; vgl. ebd., S. 208–210; noch deutlicher in Blössner 2007, S. 373 f.) Hinsichtlich der Reziprozität zwischen Polis und Charakter, die u. a. Andersson 1971 und Reeve (vgl. 1988, S. 259) konstatieren, muss bemerkt werden, dass dieses Verhältnis zwar besteht, dem Charakter aber dabei die Priorität zukommt, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Auch Höffe stellt fest, dass sich das Verhältnis zwischen Seele und Polis nicht nur durch eine Analogie, sondern auch durch eine Interdependenz auszeichnet, und spricht sich gegen die These Williams’ aus, nach der die Analogie zum Scheitern verurteilt sei. Höffe konzentriert sich aber nicht auf die hier analysierten Textstellen, sondern auf die drei Poleis, die von Platons Sokrates in Buch II (367a–374d) in einem Gedankenentwurf errichtet werden (vgl. 2011, v. a. S. 57–68). Bei der Polis der Philosophen geht er ebenfalls von einer predominant section rule und – Williams folgend – einer sogenannten Bedeutungsanalogie aus, die so erklärt wird, dass das Individuum gerecht ist unter der Bedingung eines gerechten leitenden Seelenteils, die Polis hingegen gerecht unter der Bedingung von gerechten Herrschern (vgl. ebd., S. 68). Dies stützt die in diesem Unterkapitel erarbeitete logische Verbindung zwischen Individuum und Staat, soweit vom Idealstaat die Rede ist; allerdings lässt sich diese Annahme auch auf die degenerierten Polis- und Charakterformen anwenden, nämlich dass die vier ungerechten Poleis nur aufgrund ihrer mehr oder minder ungerechten Individuen – unter der Voraussetzung, dass diese zum herrschenden Stand gehören – als ungerecht bezeichnet werden können und somit nicht nur eine Parallelität zwischen Staats- und Charakterbeschreibung besteht.

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Charakterverfall

Timokraten verliehen wird und die Analogie überhaupt nur darum herangezogen wird, um die Seelenstruktur des Individuums besser beleuchten zu können. 627 Die Zuschreibung eines Charakters an eine Polis ist damit zwar einerseits metaphorischer Art 628 und auf die Analyse des Individuums konzentriert; andererseits besitzt die Analogie auch eine starke erklärende Kraft: Eine Polis erlangt ihre bestimmte Verfasstheit durch ein ähnlich geartetes Individuum, das über diese Polis herrscht und sie entsprechend gestalten kann.

3.2 Charakterverfall Wenn Platons Sokrates in der Politeia die verschiedenen Charaktere von Menschen diskutiert, geht er von fünf Grundcharakterarten aus (vgl. Rep. VIII 544e4–5), die er in Form einer Verfallsdarstellung beschreibt. Die Annahme von genau fünf Grundformen hat in der Forschung zu Kontroversen geführt, da zuvor noch – bei der Einführung der Seelenteilung – von nur drei Grundformen des Menschen gesprochen wurde (vgl. Rep. IV 435b9–436a4). Nimmt man hingegen die in Buch VIII und IX vorgenommene Aufteilung des begehrenden Seelenteils an, so scheinen fünf Charaktere nicht zu genügen, da bereits die kallipolis von drei verschiedenen Charakterarten geprägt ist: Neben dem philosophischen Charakter (vgl. insbesondere Rep. VI 485a10–494b4, 502e1–504a1) werden ausführlich die Anforderungen an den Charakter der Wächter (vgl. Rep. II 374e6 – III 412b3) beschrieben und auch der dritte Stand bleibt nicht unerwähnt (vgl. Rep. IV 431b4–d6). C. D. C. Reeve beispielsweise geht daher auch von mindestens sechs Charakterarten aus. 629 Im Folgenden möchte ich zeigen, dass (1) die Charakteraufteilung, die Platon Sokrates in Rep. VIII und IX vornehmen lässt, ent627 Dies sei »im Großen« einfacher (vgl. Rep. II 368e2–369b1). Mit der Ansicht, dass das eigentliche Thema der Politeia ethischer Art ist, folge ich Annas 1981 (S. 171 f., wonach die politischen Ausführungen nicht zu stark gemacht werden sollten), 2011. 628 Ferrari spricht von »proportional metaphors« (2003, S. 87), die nur in eine Richtung angewendet würden, nämlich von der Polis auf die Seele (vgl. ebd., S. 86 f.). Im Großteil der Fälle ist dies sicherlich wahr, die Zuschreibung eines Charakters an die Polis-Verfassung stellt aber zumindest ein Gegenbeispiel dar, das auch des Öfteren auffindbar ist (vgl. Rep. IV 435e1–3, VIII 545b3–4, 549a8, 551b8, 562a7 und Blössner 1997, S. 176 (Fn. 482), der auf die ersten beiden Textstellen verweist). 629 Vgl. Reeve 1988, S. 196.

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gegen einiger Annahmen durchaus kohärent mit dem Gesamtdialog ist und es gute Gründe dafür gibt, warum Platons Sokrates hier nicht auf alle grundsätzlich von ihm vertretenen Charakterarten zu sprechen kommt, sowie dass (2) der Fokus der Beschreibung auf dem jeweiligen Charakterumschwung und -verfall liegt, dessen Ursache in einer falschen oder nicht erfolgten Weitergabe von Charaktereigenschaften zu finden ist, was wiederum auf einer instabilen Seelenhaltung gründet, die empfänglicher für schädigende äußere Einflüsse ist. 630 Schließlich wird deutlich werden, dass (3) das Wohlergehen des gesamten Staates wie seiner Bürger sich am Charakter des Herrschers oder der herrschenden Klasse entscheidet; daher ist in der kallipolis die Machtfrage von der Charakterprüfung nicht zu trennen und somit auch der politische Bereich mit dem ethischen notwendig verbunden, wobei insbesondere der Einfluss des Individuums auf die Polis eine bedeutende Rolle spielt. 631 Zu (1): Dass Platons Sokrates in Rep. VIII von fünf unterschiedlichen Menschentypen ausgeht, mag zunächst inkohärent erscheinen, wenn man Sokrates’ Aussage im Kontext der Seelenteilungslehre aus Rep. IV betrachtet, auf die er sich auch rückbezieht: »Müssen wir denn nicht zwangsläufig zugeben, daß in jedem von uns dieselben Formen und Eigenschaften sind wie im Staat? Denn nirgends anderswoher wären sie in ihn gekommen! Es wäre doch lächerlich, zu glauben, das Mutvolle sei nicht von den einzelnen Bürgern her in den Staat gekommen, die eben diese Eigenschaft besitzen – wie etwa die Bevölkerung von Thrakien oder Skythien oder fast alle Nordländer, oder der Wissenstrieb, den man vor allem in unserer Gegend ansetzen mag, oder der Geldtrieb, den man am meisten den Phönikern und Ägyptern zuspricht.« (Rep. IV 435e1–436a3)

Anhand dieser Einteilung könnte man davon ausgehen, dass die Existenz von drei grundlegenden Menschentypen postuliert wird, die jeweils von einem ihrer drei Seelenteile dominiert werden. 632 630 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kontroverse zwischen Irwin 1977, 1995 und Johnstone 2011, die hinsichtlich des Verhaltens der Seelenteile eine rational choice view bzw. power struggle view vertreten. 631 Zu diesem letzten Punkt vgl. Williamson 2008, der sich mit der Herrscherfrage bei Platon auseinandergesetzt hat. 632 Dies wird auch nach der Besprechung der Charakterarten nochmals betont (vgl. Rep. IX 581c3–5).

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Charakterverfall

Leon Harold Craig, der sich in seiner Studie der Politeia auf die Rolle des Timokraten konzentriert, ist der Ansicht, dass die Seele mindestens drei Teile habe, und nimmt die Aufteilung des Timokraten als Beleg dafür, dass es vier Seelenteile gebe. 633 Er erkennt, dass es mindestens zwei verschiedene Arten von Timokraten gibt, den siegund den ehrliebenden (vgl. Rep. VIII 548c6–7). Doch nur weil das thymoeides offensichtlich verschiedene Aspekte aufweisen kann – wie im Übrigen zumindest auch der unterste Seelenteil; dies wird besonders in Rep. VIII deutlich, wo eine Ausdifferenzierung des epithymêtikon erfolgt –, darf dies nicht zum Anlass genommen werden, die Zahl der grundlegenden 634 Seelenteile zu vergrößern, da Platon in diesem Punkt recht deutlich ist und er ansonsten auch mehr als drei Gruppen im Staat annehmen müsste (vgl. die Untersuchung ab Rep. IV 434d6). Daher könnte man bei den verschiedenen Versionen des Timokraten erneut von Charaktervarianten sprechen, die dadurch geeint sind, dass sie alle vom gleichen Seelenteil dominiert werden. C. D. C. Reeve wiederum geht von mindestens sechs verschiedenen Seelenarten aus. Seine Einteilung basiert dabei auf den unterschiedlichen Arten von Begehren und Bedürfnissen, die sich den Seelenteilen zuordnen lassen. So nimmt er größtenteils Sokrates’ Beschreibung aus Rep. VIII und IX an, indem er Menschen, die von ihren (1) unangemessenen (»illegalen«, vgl. Rep. IX 571b5: paranomoi), nicht-notwendigen, (2) gesetzeskonformen, nicht-notwendigen 635 und (3) notwendigen Begehren dominiert werden, als eigene Charaktertypen annimmt sowie neben den (4) vernünftigen Bedürfnissen des Philosophen von (5) notwendigen und (6) nicht-notwendigen muthaften Bedürfnissen ausgeht. Beim letzten Punkt ergibt sich das Problem einer fehlenden Bezeichnung für den Menschen mit den notwendigen muthaften Bedürfnissen; für die nicht-notwendigen übernimmt er Sokrates’ Bezeichnung des Timokraten. 636 Wie sich Vgl. Craig 1994, S. 80 f., 104. Die Existenz weiterer Teile ist nicht völlig ausgeschlossen, scheint aber nicht so bedeutend zu sein, dass dem eine genauere Darlegung folgen würde (vgl. Rep. IV 443d7). 635 Hier muss allerdings angemerkt werden, dass das demokratische Individuum sich nicht auf nicht-notwendige Begierden beschränkt, sondern allen – und damit auch den notwendigen – in gleichem Maße nachgeht (vgl. Rep. VIII 561b7–c5). 636 Vgl. Reeve 1988, S. 196. Er ordnet den »officers«, die für ihn zwei Wächterarten vereinen ((1) diejenigen, die die weitergehende Erziehung durchlaufen, aber an der Dialektik scheitern, sowie (2) diejenigen, die bei der ersten Rückkehr in die Höhle 633 634

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im Folgenden noch zeigen wird, ist die Erschaffung eines weiteren Menschentyps anhand des Kriteriums der Notwendigkeit oder Nicht-Notwendigkeit der Bedürfnisse aber keineswegs nötig und erzeugt nur zusätzliche Probleme. Wie bereits in Kap. 3.1 erwähnt wurde, scheint auch Ferrari von einer Vielzahl an Charakteren auszugehen, die Sokrates’ Fünfteilung sprengt, da er die sich manifestierenden Unterschiede der einzelnen Charaktere im privaten und öffentlichen Raum als Anlass nimmt, um von weitaus mehr Charakterarten auszugehen. 637 Nun wurde aber im ersten Kapitel deutlich, dass Platons Sokrates zwar von genau drei Seelenteilen ausgeht, diese aber in der Zahl nicht mit den verschiedenen Charakterarten übereinstimmen müssen. Dies lässt sich damit erklären, dass – wie ebenfalls bereits festgestellt wurde – der Charakter je nach Kontext sowohl die Beschaffenheit der Seele im Ganzen als auch die eines einzelnen Seelenteils bezeichnet. Da jeder Seelenteil auf verschiedene Arten beschaffen sein kann und seine eigenen charakterlichen Eigenheiten besitzt, ergibt sich daraus eine Vielzahl von Charaktervarianten, die Sokrates zufolge nicht im Einzelnen besprochen werden können (s. o.), die sich aber auf drei Grundanlagen zurückführen lassen (vgl. dazu auch den Metallmythos in Rep. III 414c4–415c7). Sokrates scheint dann in Rep. VIII und IX zwar davon auszugehen, dass fünf grundlegende Menschentypen existieren, die jeweils von einem der drei Seelenteile dominiert werden, wobei er beim begehrenden Seelenteil drei verschiedene und für seine Zwecke besonders bedeutende Merkmale ausmacht (die Befriedigung von notwendigen, nicht-notwendigen und unangemessenen, gegen die Gesetze verstoßenden Trieben). 638 Allerdings ist diese Einteilung höchstwahrscheinlich dem spezifischen Kontext und Zweck des Dialoges geschuldet, sodass Platons Sokrates hier ein verstärktes Interesse daran hat, dem gerechten Charakter des Philosophen besonders ungerechte Charakterarten gegenüberzustellen. 639 Bevor die umfassendere Charakterdarstellung ausscheitern (vgl. Rep. VII 539e2–540a6), d. h. nicht die Idee des Guten erblicken werden), die notwendigen muthaften Bedürfnisse zu (vgl. ebd., S. 196 f.). 637 Vgl. Ferrari 2009a, S. 412 f. Dies wurde bereits oben zurückgewiesen. 638 Selbstverständlich gibt es auch verschiedene Ausformungen der beiden anderen Menschentypen; allerdings scheinen diese für Platons Sokrates nicht in so grundlegender Weise voneinander verschieden, dass sie als eigene Charakterart klassifiziert werden. Für eine genauere Erklärung der Ausdifferenzierung des epithymêtikon s. u. 639 Gegen Franz von Kutschera, der die folgende Differenzierung »[a]ls Ansatz zu

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geführt wird, die sich im Phaidros finden lässt, werden im Folgenden zunächst die Charaktere der Politeia dargelegt 640: 1.) der vom logistikon dominierte Mensch Hierbei handelt es sich um einen Menschen, der die Anlagen zum Philosophen besitzt und diese in unterschiedlicher Weise ausgebildet hat; nur in der kallipolis erfährt er die für ihn ideale Erziehung und lebt dort offen als Philosoph und Herrscher. Finden sich solche Menschen in nicht-idealen Staatsformen, so bleibt ihnen meist nur die Möglichkeit des Exils oder des Philosophierens im Privaten (vgl. Rep. VI 496a11–497a5). 641 2.) der vom thymoeides dominierte Mensch Unter diesen Menschentyp fasst Sokrates verschiedene Charaktervarianten zusammen, die deutlichere Konturen annehmen als die verschiedenen Versionen des vom vernünftigen Seelenteil dominierten Menschen. In Buch VIII fällt darunter klarerweise der Timokrat, der – wie Craig treffend bemerkt 642 – selbst noch einmal unterteilt ist, nämlich in den ehr- und den siegliebenden Menschen (vgl. Rep. VIII 548c6–7). Diese beiden Varianten scheinen die Timokratie zu charakterisieren. Ein ähnlicher Charakter findet sich in der kallipolis in Form des Wächterstandes. Die Ausführungen über die Wächter lassen keinen Zweifel zu, dass dieser Stand grundsätzlich ebenfalls vom thymoeides beherrscht wird (vgl. Rep. IV 429a8–430c4, 440e2– 441a4, 442b11–c4) – mit dem Unterschied, dass sich diese Menschen unter Philosophenherrschaft befinden, damit dem vernünftigen Teil der Polis gehorchen und das Ihrige tun, sodass sie das ihren Anlagen gemäß beste Leben führen und zur bürgerlichen Tugend gelangen. 643 einer Unterscheidung und Theorie psychologischer Charaktertypen […] [für] zu undifferenziert und zu wenig fundiert – teilweise gut zu lesen, philosophisch aber wenig ergiebig« (2002, S. 86 f.) hält, scheint mir diese Charakteraufteilung durchaus relevant, wenn auch nicht vollständig zu sein. 640 Die folgende Aufteilung in fünf Charakterarten, die hinsichtlich der Dominanz ihrer Seelenteile unterschieden werden, ist in Bezug auf Buch VIII und IX offensichtlich (vgl. dazu auch die Erläuterung der Literaturhinweise in Campese 2005, S. 189 (Fn. 1) und insbesondere für die Aufteilung des epithymêtikon Solinas 2005, S. 472 f.); allerdings soll hier gezeigt werden, dass diese Einteilung für die gesamte Politeia plausibel ist und dennoch nur einen Teilbereich der von Platons Sokrates postulierten Grundcharakterarten ausmacht. 641 Für nähere Ausführungen zum Philosophen vgl. Kap. 3.3. 642 Vgl. Craig 1994, S. 77 f. 643 M. E. können auch Nicht-Philosophen in der kallipolis die Tugenden erlangen, wenn auch nicht in vollkommener Weise wie die Philosophen. Vgl. hierzu Rep. IV Seelen im Wandel

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3.) der von notwendigen 644 Trieben dominierte Mensch Dieser Menschentyp wird zunächst als Oligarch charakterisiert, der seine anderen Triebe mit Gewalt zurückhält (vgl. Rep. VIII 554a5–8, 554b7–c3, 554c11–d4). Aber auch vom Oligarchen finden sich verschiedene Varianten; für die Klärung der fünf Grundcharaktere ist hier von Bedeutung, dass er in der kallipolis selbst zwar nicht aufzufinden ist, dabei den hauptsächlich vom epithymêtikon beherrschten Kaufleuten aber sehr ähnlich ist. Denn die Individuen des dritten Standes in der kallipolis werden zwar von den Trieben beherrscht, gehen aber nur den für sie zum Leben notwendigen nach, sodass auch dieser Stand zumindest die bürgerliche Tugend der Besonnenheit erlangt (vgl. Rep. IV 431b4–432a9). Dieser logistikonEinfluss fehlt aber beim Oligarchen, wie im Charakterschema des Phaidros noch deutlich werden wird. 4.) der von notwendigen und nicht-notwendigen (gesetzeskonformen) Trieben dominierte Mensch Dieser Beschreibung entspricht der Demokrat, dessen Freiheit sich schädlich auf sein seelisches Gleichgewicht auswirkt, sodass er gleichermaßen allen Trieben nachgeht mit Ausnahme der illegalen (vgl. Rep. VIII 561a1–e8, IX 572c6–d4). Auf weitere Varianten dieses 430c2–6. Die Tatsache, dass allgemein alle Nicht-Philosophen zumindest die bürgerlichen Tugenden erreichen können, wird bereits im Phaidon ausgeführt (vgl. Phd. 68b8–69d7). Bobonich schließt aus dem grundlegenden Unterschied, der zwischen der wahren und der bloß bürgerlichen Tugend vorliege, dass Nicht-Philosophen durch die bürgerlichen Tugenden nicht zu einem guten Leben gelangen könnten (vgl. 2002, S. 42–58). Da es Nicht-Philosophen aber an wahrer Einsicht mangelt, müssten sie doch zumindest mit dem Erreichen der bürgerlichen Tugenden ein – von ihrer eigenen Perspektive aus gesehen – gutes und zufriedenes Leben führen können, das gar nicht nach höheren Tugenden verlangt. Auch Santas ist der Meinung, dass jeder Stand ein ihm entsprechendes Glück habe (vgl. 2010, S. 162). Für eine nähere Untersuchung zum Philosophen und seinen Unterschieden zu anderen Charakteren vgl. Kap. 3.3. Für eine nähere Auseinandersetzung mit Bobonichs Lesart vgl. Kap. 2.1. 644 Bei der Ausdifferenzierung der Triebe gehe ich von einer unterschiedlich starken Befriedigung der Bedürfnisse des epithymêtikon aus. Auch wenn sicherlich die anderen beiden Seelenteile Bedürfnisse haben, so scheint es doch klar zu sein, dass sich die Menschentypen 3–5 von den Trieben des untersten Seelenteils beherrschen lassen, da z. B. der Oligarch in seinem Fokus auf das Geld dargestellt wird, was klar für den begehrenden Seelenteil spricht. Der Demokrat mag sich zwar auch zeitweise der Philosophie widmen, allerdings nicht aus wahrem Interesse. Denn da bei ihm zu den notwendigen Trieben des Oligarchen, die wie eben festgestellt dem epithymêtikon zuzuordnen sind, nicht-notwendige Triebe hinzukommen, können diese nicht dem logistikon zugeordnet werden. Schon Reeve stellt fest, dass es keine nicht-notwendigen rationalen Bedürfnisse gebe (vgl. 1988, S. 196, 256).

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Charaktertyps geht Sokrates nicht näher ein, vielleicht weil der Demokrat ohnehin eine Vielzahl von Charakteren in sich vereint (vgl. Rep. VIII 561e3–8). 5.) der von »illegalen« (paranomoi) Trieben dominierte Mensch Darunter fällt der tyrannische Mensch, der sowohl in seiner Funktion als Tyrann im privaten und innerseelischen als auch im öffentlichen Bereich beschrieben wird (vgl. die Darlegung der Verbrechen des Tyrannen, die mit einer innerseelischen Analyse einhergeht, und seinen Werdegang zum politischen Alleinherrscher in Rep. IX 572d8–575b10), der aber auch in anderen Staatsformen existiert und sein Dasein beispielsweise als Dieb verbringt, da er ausnahmslos allen Trieben nachgeht und Eros die Herrschaft in seiner Seele eingenommen hat (vgl. Rep. IX 574e2–575b9). Wie aus der Auflistung hervorgeht, sind insbesondere der demokratische und der tyrannische Mensch mit der Philosophenherrschaft völlig inkompatibel. Für die von ihren Trieben beherrschten Menschen bleibt in der kallipolis nur der dritte Stand, der sich auf die Befriedigung seiner notwendigen Triebe beschränken muss, sodass per Definition kein Platz für den demokratischen und den tyrannischen Menschen bleibt. Der timokratische und der oligarchische Charakter scheinen auf den ersten Blick zwar integrierbar, wenn man annimmt, dass die Gegebenheiten der kallipolis – insbesondere die Abschaffung des Privateigentums für die Wächter (vgl. Rep. III 416d3–417b9), welches sonst zur Degeneration des Timokraten zum Oligarchen führen würde (vgl. Rep. VIII 553a6–555b2), und die Auflösung der Familie (zweite Woge, vgl. Rep. V 457c10–462e3), die in der Verfallsdarstellung in Form des Vaters an der richtigen Erziehung scheitert – sich positiv auf diese Grundcharaktere auswirken und positive Charaktervarianten (Wächter und Kaufleute) hervorbringen können, die eine Integration in die ideale Polis ermöglichen. Allerdings wird im Folgenden noch deutlich werden, dass Wächter und Kaufleute von ihren Anlagen her mit Timokrat bzw. Oligarch zusammenfallen, aber anders und besser entwickelte Charaktere darstellen. 645 Im Kontext der Politeia bleibt dennoch zu erklären, warum Platons Sokrates verschiedene Varianten der Menschentypen, die vom 645 Gegen Bobonich 2002, der die Timokraten mit der Wächterklasse identifiziert. Diese Gleichsetzung trägt entscheidend dazu bei, dass er den unteren Gruppen der kallipolis wahre Tugend und Glück verwehrt (vgl. S. 50, 55). Für eine Auseinandersetzung mit dieser Position vgl. Kap. 2.1.

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logistikon oder vom thymoeides beherrscht werden, hier nicht als eigene Charaktere erwähnt, die drei dargelegten Varianten des epithymêtikon aber durchaus. Die Tatsache, dass Platons Sokrates die drei letztgenannten epithymêtikon-Varianten als eigene Charakterarten klassifiziert, ist keineswegs willkürlich und kann m. E. so erklärt werden, dass diesen drei Menschentypen eine fundamental verschiedene Polis-Verfassung korrespondiert: Die Regierenden der Oligarchie, Demokratie und Tyrannis unterscheiden sich nicht in der Dominanz des Seelenteils, sondern gehen unterschiedlichen Aspekten des untersten Seelenteils nach. Die grundlegende Charakterart, die ein Individuum besitzt, bestimmt daher – sofern das Individuum an der Regierung teilhat oder der Mehrheit der Bevölkerung angehört – maßgeblich die staatliche Ordnung, in der es lebt. Somit lassen sich zwei Hauptkriterien ausmachen, anhand derer Platon seinen Sokrates die Menschen in der Politeia in fünf Haupttypen unterteilen lässt: (1) das bereits besprochene und offensichtliche Kriterium der Dominanz eines Seelenteils sowie (2) eine unterschiedliche korrespondierende Staatsform. Reeves Einteilung des thymoeides in notwendige und nicht-notwendige muthafte Bedürfnisse 646 erübrigt sich damit, da sich im Staatsschema durch diese Aufteilung keine zusätzliche Staatsform ergibt: Der Timokrat wird m. E. bewusst nur allgemein durch seine muthaften Bedürfnisse charakterisiert, ohne diese in notwendige und nicht-notwendige aufzuspalten. Wenn sich ein Mensch mit thymoeides-Anlagen in der kallipolis befindet, so wird dieser sich zu einer Charakterart entwickeln, die nur ihre notwendigen muthaften Bedürfnisse befriedigt; an der Regierung in einer Timokratie hingegen entwickeln sich solche Anlagen zu timokratischen Charakteren, die zusätzlich auch ihren nicht-notwendigen Bedürfnissen nachgehen, sodass – wie oben bereits erläutert – Wächterstand und Timokrat sich auf dieselben Anlagen zurückführen lassen. Die nicht-notwendigen muthaften Bedürfnisse charakterisieren dabei aber nicht speziell den Timokraten, wie Reeve meint 647, da dieser Charakter in Sokrates’ Beschreibung nicht auf eine bestimmte Art von muthaften Bedürfnissen festgelegt wird. Das Kriterium der Notwendigkeit von Bedürfnissen scheint vielmehr nur im 646 Vgl. Reeve 1988, S. 196. Wie bereits oben angemerkt, stimme ich ihm hinsichtlich der Bedürfnisse des logistikon zu, nämlich dass diese ausschließlich notwendige rationale Bedürfnisse darstellen (vgl. ebd., S. 256). 647 Vgl. ebd., S. 196.

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Kontext von Rep. VIII und IX von größerer Bedeutung zu sein, und auch dort nur in Bezug auf den untersten Seelenteil. Eine vollständige Vorstellung der verschiedenen Charakterarten, die Platon im Sinn hatte, bietet hingegen der Phaidros, wenn die verschiedenen Inkarnationen der Seele dargelegt werden: Ist sie aber unfähig zu folgen und kommt daher nicht zum Schauen und wird sie aus irgendeinem Mißgeschick angefüllt mit Vergessen und Untüchtigkeit und wird daher zu schwer, verliert ihr Gefieder und fällt zur Erde, dann gilt das Gesetz, daß diese Seele bei ihrer ersten Geburt nicht eingeht in ein tierisches Wesen, sondern die, die sehr viel gesehen hat, geht ein in den Keim eines Mannes, der einmal ein Freund des Wissens (eis androu […] philosophou) oder des Schönen (philokalou) wird oder vielleicht ein Diener der Musen oder des Eros (mousikou tinos kai erôtikou); die zweite aber in den Keim eines gesetzestreuen Königs (eis basileôs ennomou) oder eines Kriegers oder Herrschers (polemikou kai archikou); die dritte in den eines Staatsmannes (eis politikou) oder vielleicht eines Wirtschaftlers (oikonomikou) oder Geschäftsmanns (chrêmatistikou); die vierte in den eines keine Mühe scheuenden Lehrers der Gymnastik oder vielleicht eines zukünftigen Arztes (eis philoponou hêi gymnastikou ê peri sômatos iasin tinos esomenou); die fünfte wird das Leben eines Sehers haben oder vielleicht eines Mysterienpriesters (mantikon bion ê tina telestikon); für die sechste wird das Leben eines Dichters passen oder wer sonst sich mit Nachahmung beschäftigt (poiêtikos ê tôn peri mimêsin tis allos harmosei); für die siebte das eines Handwerkers oder eines Bauern (dêmiourgikos ê geôrgikos); für die achte das Leben eines Sophisten oder eines Demagogen (sophistikos ê dêmokopikos) und für die neunte das eines Tyrannen (tyrannikos). (Phdr. 248c5–e3; übers. Heitsch)

Diese Textstelle ist zwar Teil eines Mythos, allerdings nicht wie sonst üblich im Sinne einer wahrscheinlichen Erzählung, in welcher nicht unbedingt klar wird, was davon Sokrates wirklich ernst meint. Diese Passage zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, dass Sokrates im Vorhinein stark betont, nun »das Wahre zu sagen, zumal da […] [er] von der Wahrheit zu reden habe« 648 (Phdr. 247c4–6; übers. Schleiermacher). Die sich anschließende Erzählung steht hier also unter keinerlei Vorbehalt und muss durchaus ernst genommen werden, sodass es gerechtfertigt scheint, neun grundlegende Charakterarten anzunehmen, die sich – wie im folgenden Schema deutlich wird – mit der Politeia in Einklang bringen lassen. 649 Die Charaktere zeichnen τολμητέον γὰρ οὖν τό γε ἀληθὲς εἰπεῖν, ἄλλως τε καὶ περὶ ἀληθείας λέγοντα Gegen Blössner, der eine grundsätzliche Unvereinbarkeit sieht, die er mit der Verschiedenheit der Kontexte erklärt (vgl. 1997, S. 183 f.). Ich stimme ihm darin zu, dass 648 649

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sich dabei nicht durch notwendige oder nicht-notwendige Bedürfnisse aus, sondern ausschließlich durch die Dominanz und das Zusammenspiel der drei Seelenteile: Gruppe 1 (logistikon-Anlage) 1.) der vom logistikon dominierte Mensch Dieser Charakter entspricht dem echten Philosophen, wie er u. a. im Symposion (als Liebhaber des Schönen) und teilweise in der Politeia (als Liebhaber der Ideen) dargestellt wird. Das zeigt sich einerseits am hier verwendeten Vokabular (philokalos, philosophos), aber auch an der Hervorhebung der Musen. Die Nähe des Philosophen zum Musischen kommt bereits im Phaidon zum Vorschein, wenn Sokrates sein Tun und damit die Philosophie als megistê mousikê bezeichnet (vgl. Phd. 61a3–4), und auch im Spätwerk, wenn die Verfassung von Magnesia als wahrste Tragödie bezeichnet wird und der Athener sich selbst und seine Mitunterredner Dichter 650 nennt (vgl. Leg. VII 817b1–5). 2.) der von logistikon und thymoeides dominierte Mensch Auch diese Charakterart zeichnet sich hauptsächlich durch den vernünftigen Teil aus, aber auch das thymoeides übt einen Einfluss aus, sodass zu dieser Gruppe die kallipolis-Philosophen gerechnet werden können (vgl. Kap. 3.3).

die Kontexte verschieden sind; allerdings begründet dies allein noch keine Unvereinbarkeit. So könnte man vielleicht sagen, dass im Phaidros die Vorgeschichte der Charakterarten erklärt wird, da diese durch den unterschiedlich hohen Grad an epistemologischem Mangel bei der Ideenschau entstehen (auf diesen Aspekt weist auch Schwartz hin, vgl. 2013, S. 343 f.), wohingegen in der Politeia die schlechte politische Situation im Diesseits (bedingt durch seelische Defekte im Diesseits) thematisiert wird, indem die schlechteren Charaktere der epithymêtikon- und thymoeides-Menschen dem besten Charakter des Philosophen gegenübergestellt werden. Für die andere Charakteraufteilung des Phaidros sehe ich allerdings keine Vereinbarkeit, wenn die Gründe für die unterschiedliche Wahl des Liebhabers dargelegt werden und auf die Zugehörigkeit zu verschiedenen Götterzügen im nicht inkarnierten Zustand der Seele zurückgeführt werden (vgl. Phdr. 246e4–247a2, 252c3–253c6). Diese Stelle scheint mir aber weniger autoritativ für die Charakteraufteilung zu sein, da im Gegensatz zu den zitierten Phaidros- und Politeia-Stellen die elf Götter und die ihnen folgenden Charaktere nicht genau dargelegt, geschweige denn auch nur vollständig aufgezählt werden (Platons Sokrates beschränkt sich auf Zeus, Hera, Apollon und Ares). 650 Insofern der Athener aber das Gespräch anführt und die Darlegungen zur Gesetzgebung von ihm ausgehen, ist selbstverständlich nur er als wahrer Dichter anzusehen.

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3.) der von logistikon und epithymêtikon dominierte Mensch Dieser ebenfalls hauptsächlich vernunftgeleitete Mensch besitzt zugleich einen kleineren epithymêtikon-Anteil. Vom Vokabular her könnte damit der Staatsmann gemeint sein, wie er im Politikos beschrieben wird; allerdings stimmt er nicht vollständig mit ihm überein (vgl. Kap. 3.4). Gruppe 2 (thymoeides-Anlage) 4.) der von thymoeides und logistikon dominierte Mensch Dieser Charakterart entsprechen recht eindeutig die (nicht vollkommenen) Wächter aus der kallipolis, die hauptsächlich muthaft sind, aber einsehen, dass die Philosophen herrschen sollten, und ihnen daher als Helfer dienen (vgl. Rep. III 414b1–7). 5.) der vom thymoeides dominierte Mensch Diesem Charakter scheint sonst keine größere Aufmerksamkeit gewidmet zu sein; Sokrates nennt hier den Wahrsager als Beispiel. Wenn man die Verwendung von Mantik im Phaidros betrachtet, wird deutlich, dass Sokrates von einer dem Wahrsager innewohnenden Manie ausgeht (vgl. Phdr. 244b6–d5). Da das thymoeides eine seelische Antriebskraft oder stürmische Erregung kennzeichnet, scheint es plausibel, diesen Charakter als rein vom thymoeides dominiert anzusehen. 6.) der von thymoeides und epithymêtikon dominierte Mensch Die gewöhnlichen Dichter zeichnen sich durch einen solchen Charakter aus. Das erscheint folgerichtig, da diese Menschen einerseits auf ihren Ruhm bedacht sind, andererseits aber ebenso durch ihre Werke die Besonnenheit in den Menschen zerstören (vgl. Rep. X 605a2– 606d7). Vom seelischen Aufbau her stellt dieser Charakter zugleich den Timokraten aus Rep. VIII dar, der hauptsächlich sieg- und ehrliebend ist, allerdings auch das Geld hochschätzt und zugleich von seiner Vernunft verlassen wurde (vgl. Rep. VIII 548d8–549b8). Gruppe 3 (epithymêtikon-Anlage) 7.) der von epithymêtikon und logistikon dominierte Mensch Sokrates nennt hier Handwerker und Bauern, die dem dritten Stand in der kallipolis entsprechen: Sie sind zwar hauptsächlich durch ihr Begehren dominiert, erkennen aber die Herrschaft der Vernunft an. 8.) der von epithymêtikon und thymoeides dominierte Mensch Dazu zählen die Sophisten und Demagogen. Auch dies lässt sich plausibel erklären, wenn man bedenkt, dass Sophisten Geld verlangen und Seelen im Wandel

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zugleich bei der Bevölkerung sehr angesehen sind. Auch der Oligarch lässt sich so analysieren, dass er zwar seinem Begehren nachgeht und daher das epithymêtikon den dominanten Seelenteil ausmacht. Der thymoeides-Anteil, der noch in ihm besteht, gewährleistet allerdings, dass nur die notwendigen Begehren befriedigt werden, da andernfalls das Ansehen bei den Bürgern beschädigt würde (vgl. Rep. VIII 554c11–d4). 9.) der vom epithymêtikon dominierte Mensch Dieser Charakter entspricht dem Tyrannen, der – wie in Rep. IX ausführlich beschrieben – von Eros unterworfen ist und allen, auch illegalen Begehren nachgeht (vgl. Rep. IX 573d2–576b9). 651 Vergleicht man diese Aufteilung mit der Fünfteilung aus Rep. VIII und IX, so lässt sich feststellen, dass vier der fünf Charakterarten Teil des Phaidros-Schemas ausmachen. Der Demokrat fehlt in der Liste, was m. E. allerdings keinen Widerspruch zur Politeia darstellt: Gerade aufgrund der Tatsache, dass der Demokrat eine Vielzahl von Charakteren in sich vereint, kann er nicht auf eine der neun Charakterarten festgelegt werden, sondern verweilt nur kurze Zeit bei einer bestimmten Charakterart, um sich danach den Vorlieben einer anderen Charakterart zu widmen (vgl. Rep. VIII 561c6–e8). Zu (2): Da es Platons Sokrates darum geht, den unglücklichsten Menschen und den Weg dorthin zu beschreiben, um so die reine Ungerechtigkeit mit der reinen Gerechtigkeit zu vergleichen (vgl. Rep. VIII 544e7– 545b2) 652, liegt der Fokus dieser Verfallsdarstellung von Staatsformen und Menschen auf den Fehlern und charakterlichen Mängeln, durch welche die Entfernung zur kallipolis deutlich hervorgehoben wird, 651 Als Einwand gegen diese Lesart könnte vorgebracht werden, dass doch noch zuvor der Tyrann als Mensch mit sehr hoher intellektueller Begabung definiert wurde (vgl. Kap. 2.2). Allerdings sagt diese Einteilung hier nichts über seinen Intellekt aus, da es – wie aus den eingeführten Überschriften zu entnehmen – jeweils um den dominanten Seelenteil und damit um die relative Stärke der einzelnen Seelenteile geht, nicht aber um ihre absolute Stärke. Ein Tyrann ist damit klar von seinem epithymêtikon dominiert und besitzt auch entsprechende Anlagen. Das logistikon, das dabei unterjocht wird, kann dabei dennoch sehr ausgeprägt sein (und ist es auch, wie die Argumentation in Kap. 2.2 zu zeigen versucht). 652 Die Tatsache, dass Platons Sokrates zeigen will, dass der wahrhaft Gerechte glücklicher ist als der wahrhaft Ungerechte und es damit lohnender ist, wahrhaft gerecht zu sein, veranlasst Reeve dazu, Platon einen Charakterutilitarismus zuzuschreiben (vgl. 1988, S. 269).

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sowie auf dem jeweiligen Umschwung zur nächstschlechteren Verfassungs- und Charakterart. 653 An den entsprechenden Textstellen, die die jeweilige metabasis einleiten, zeigt sich klar, dass – abgesehen vom ersten Umschwung – der Grund für die Verschlechterung des Individuums einerseits eine schlechte oder nicht erfolgte Erziehung darstellt, andererseits aber auch die Anlagen des entsprechenden Kindes selbst mitschuldig sind, da durch die stetige Verschlechterung eine immer größere Anfälligkeit hinsichtlich äußerer Einflüsse festzustellen ist: 1.) Umschwung zum Timokraten Der erste Umschwung ist ein Beispiel für die Gefahr, die Sokrates bereits zuvor angesprochen hat (vgl. Rep. VI 495a4–b7, 497b1–7): Ein Mensch mit von Natur aus guten Anlagen degeneriert aufgrund schlechter Einflüsse von außen. Dies kann zwar grundsätzlich auch mit den besten Anlagen geschehen (vgl. Rep. VI 495a4–b7); allerdings muss beachtet werden, dass das hier beschriebene Kind des Philosophen wohl bereits selbst keine vollständig guten Anlagen mehr besitzt 654 aufgrund der vorherigen Fehlberechnung der Hochzeitszahl. Geht man von solch einem zur falschen Zeit erzeugten Kind aus, so ist diesem bereits vorherbestimmt, als Erwachsener an der Regierung weder die Erziehung in gebührendem Maße hochzuschätzen noch die Kinder ihren Anlagen entsprechend in die verschiedenen Stände einzuteilen, sodass es zu einer Vermischung verschiedener charakterlicher Anlagen kommt (vgl. Rep. VIII 546c6–547a5). Der Sohn hat damit bereits von seinen Anlagen her eine größere Anfälligkeit für schlechte äußere Einwirkungen als sein Vater. 655 653 Vgl. hierzu auch Ryffel, der ebenfalls der Ansicht ist, dass sich das Interesse Platons auf das »Wesen von Verfall« konzentriere (1949, S. 98, Kursiv. im Orig.; vgl. ebd., S. 98). 654 Das erkennt auch Porcheddu 1984. Er sieht in der Verfassungsabfolge allerdings eine Art hegelianischen Verfall (vgl. S. 10, 15). Dies nimmt auch Vegetti 2005 später wieder auf, der im Prozess des Verfalls keine »sincronia fra la vicenda dell’anima e quella della città« sieht (S. 147, vgl. ebd., S. 147). 655 Blössner bemerkt, dass bei diesem ersten Wandel dem Vater keine Unfähigkeit in der Erziehung attestiert werden kann. Daher schaffe Sokrates ihm zufolge nur hier »ein starkes Gegengewicht zum Vater in Form von Einflüssen der Mutter, der Dienerschaft und der Polisgesellschaft« (1997, S. 114 (Fn. 308); vgl. ebd., S. 114 (Fn. 308)). Äußere Einflüsse spielen aber bei allen Übergängen eine Rolle, sei es in Form von Denunzianten, die den Vater anzeigen (beim Übergang zum Oligarchen, vgl. Rep. VIII 553a9–b6), oder als Drohnen und Verführer, die den Sohn zu einer schlechteren

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2.) Umschwung zum Oligarchen Diese Umwandlung gründet sich offenbar allein auf dem Scheitern des Vaters im öffentlichen Leben, was u. a. mit dem Verlust des Vermögens einhergeht (vgl. Rep. VIII 553a9–b6) und welches der Sohn mitansieht und dessen Seele entsprechend reagiert, indem sie ein oligarchisches Wesen annimmt. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass nicht zwangsläufig dieser Sohn degenerieren muss, sondern dies auch in einer späteren Generation geschehen kann, da das Scheitern des Vaters nicht garantiert ist. 3.) Umschwung zum Demokraten Hier wird der Prozess der Umwandlung auf besondere Weise ersichtlich, wenn der Vater zunächst seinen Sohn in seiner eigenen Gesinnung aufzieht (vgl. Rep. VIII 558c11–d7), davon aber offensichtlich nichts versteht (vgl. Rep. VIII 560a9–b3), sodass drohnenartige Triebe im Sohne heranreifen können. Dies führt dazu, dass der Sohn nicht nur nicht den Charakter seines Vaters annimmt, der selbst als oligarchisches Individuum bereits zwiegespalten ist (vgl. Rep. VIII 554d9–e2), sondern eine Vielzahl unterschiedlichster Charaktere in sich vereint, sodass man den Charakterverfall bis hierhin als eine immer weitergehende Charakteraufspaltung auffassen kann. 656 4.) Umschwung zum Tyrannen Die Umwandlung zum Tyrannen stellt eine grundlegendere Charakteränderung als die bisherigen dar, da sich hier der Übergang vom menschlichen zum tierischen Charakter vollzieht, »aus einem Menschen [wird] also ein Wolf.« (Rep. VIII 566a3–4). 657 Gesinnung hinziehen (beim Übergang zum Demokraten und zum Tyrannen, vgl. Rep. VIII 559d7–e8, IX 572d8–573a3). Richtig ist aber, dass diese Menschen leichteres Spiel bei Söhnen von Nicht-Philosophen haben. Man kann davon ausgehen, dass die Empfänglichkeit des Sohnes für solche Einflüsse proportional mit der Verschlechterung des Charakters zunimmt aufgrund einer immer größer werdenden Instabilität der Seele (s. u.). 656 Vgl. Scott 2000, der sich mit dem demokratischen Charakter beschäftigt und den Übergang vom Oligarchen zum Demokraten als eine größere Unordnung hinsichtlich der Begierden ansieht: Während der Oligarch innerlich nur in zwei Hälften gespalten ist, verkörpere der Demokrat ein »jumble of desires« (Scott 2000, S. 28; vgl. ebd., S. 27 f.). Dies ist sicherlich richtig; die Konsequenz daraus besteht dann darin, dass das demokratische Individuum durch das Befriedigen aller Begierden eine riesige Anzahl an Charakteren in sich vereint. 657 Auch der erste Umschwung ist von bedeutenderer Art als 2.) und 3.), da dort die

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Diese mangelhafte Erziehung manifestiert sich darin, dass Charaktereigenschaften des Vaters nicht wie vorgesehen auf das Kind übertragen und von diesem angenommen und internalisiert werden, sondern dass andere, schlechtere Charaktereigenschaften angenommen werden. Dass im Normalfall die Erziehung in einer Internalisierung der êthê der Eltern oder der Gesetze besteht, bezeugen mehrere Textstellen in Politeia und Nomoi (vgl. Rep. VII 540e5–541a4, Leg. I 625a5, III 695d6–e3, VI 751c5–d2, IX 855a2–4). So wird beim Charakterverfall folgerichtig auch auf diese Konzeption zurückgegriffen 658, die in diesem Fall nicht korrekt abläuft (vgl. Rep. VIII 558c11–d7, 560a9–b3, IX 572d4–573b5). Dies ergibt sich einerseits aus dem Scheitern des Vaters in der Erziehung, was sich mit dessen eigenem degenerierten Charakter und Erziehungsmaßnahmen des ihm entsprechenden Staates erklären lässt, andererseits aber aus den äußeren Einflüssen, die das Kind verderben und zur schlechteren Gesinnung hinziehen. Die Möglichkeit einer solchen Charakterverschlechterung gründet sich – abgesehen vom Wandel des Philosophen zum Timokraten, für den allgemein die Vergänglichkeit alles Werdenden herangezogen wird (vgl. Rep. VIII 546a1–b7) – letztlich auf einer instabilen Seelenhaltung, die mit jedem Wandel brüchiger und uneinheitlicher wird. 659 Interpretinnen und Interpreten wie Norbert Blössner und Era Gavrielides hingegen vertreten die These, dass auch die degenerierten Menschentypen von Stabilität bzw. Stabilität und Einheit geprägt seien. 660 Blössner erklärt dies damit, dass sich ein Mensch nicht mehr ändere, da nur einmal der Charakter gewählt werden könne 661; Gavrielides führt die Tatsache an, dass die schlechten Menschentypen dennoch in der Lage seien, ihr Leben zu organisieren. 662 Blössners Erklärung, dass sich ein Mensch der Politeia zufolge nicht mehr umorientiere, wenn der Charakter erst einmal gefestigt ist, mag zwar im Großteil der Fälle zutreffen, allerdings ist damit nicht gesagt, dass eine Charakteränderung nicht mehr möglich sei Gottähnlichkeit des philosophischen Charakters verlorengeht. Der Tyrann aber ist nicht nur tierähnlich, sondern fällt mit diesem zusammen (vgl. Rep. VIII 566a3–4). 658 Beim Übergang zum Demokraten und zum Tyrannen. 659 Vgl. oben die Ausführungen zur stetigen Aufspaltung des Charakters. 660 Vgl. Blössner 1997, S. 115 f.; Gavrielides 2010. 661 Vgl. Blössner 1997, S. 115 f. 662 Vgl. Gavrielides 2010, S. 206–209. Vgl. aber Kap. 2.1, wo ich für die Lesart argumentiere, dass im Grunde keine Charakterart vollständig stabil ist. Seelen im Wandel

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(vgl. Kap. 2.1). Zugleich gilt seine Aussage offenbar nur für ein Menschenleben. 663 Daher muss dies in keiner Weise allgemein für eine dauerhafte stabile Seelenhaltung sprechen: Denn wäre dies der Fall, wäre prinzipiell gar nicht die Möglichkeit einer Verschlechterung des Charakters gegeben. 664 Die in den Verfallsdarstellungen beschriebenen Söhne wachsen nämlich zunächst in der beabsichtigten Art und Weise auf, sodass sie die Gesinnung des Vaters zumindest teilweise annehmen, die im Anschluss aber durch äußere, dem entsprechenden Charakter entgegengesetzte Einflüsse zerstört wird (vgl. Rep. VIII 549c2–550b8; 553a9–d9; 558c11–d7, 559d7–561a5; IX 572d5–573b5), d. h. die Söhne entwickeln sich erst zu einem solchen Charakter. Ein degenerierter Charakter kann aber aufgrund seiner Instabilität irgendwann daran scheitern, seine Söhne in der Weise zu erziehen, dass sie einen solchen Charakter annehmen. Eine schlechte Seelenhaltung des Vaters birgt eine weitaus größere Gefahr, dass die jeweiligen Söhne seelisch degenerieren, da das vorgelebte Vorbild mit jeder Degeneration immer brüchiger wird und sich die Söhne entsprechend leichter von schlechten Menschen zu einer schlechteren Lebensweise verleiten lassen. 665 Zudem führt Sokrates bereits im Kontext der typoi peri tês theologias aus, dass Stabilität ein Zeichen des Bestzustandes eines Wesens ist und daher ausschließlich den Göttern zu-

Vgl. Blössner 1997, S. 115 f., v. a. Fn. 313. Hier stimme ich Frede zu, die bei den Verfallsformen von Staaten und Menschen von instabilen und schließlich im Verfall mündenden Systemen ausgeht (vgl. 2011, S. 206). 665 Blössner geht von einer lebenslangen Stabilität der Seelen aus (vgl. 1997, S. 121). Dass Seelen aber stets der Gefahr einer Charakterverschlechterung ausgesetzt sind, wurde in Kap. 2.1 versucht zu zeigen. Um den platonischen Dialogen gerecht zu werden, muss man zudem, wenn man von Stabilität spricht, mehr als ein Menschenleben berücksichtigen, da in den verschiedenen Mythen hinreichend klar wird, dass die unsterbliche Seele verschiedene Inkarnationen durchläuft (vgl. u. a. Phd. 80e2–82c8, Rep. X 614b2–621d3). So betrachtet kann, selbst wenn man Blössners Argumentation folgt, den schlechten Seelen keineswegs Stabilität zugesprochen werden. Um den Verfall in späteren Generationen überhaupt zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die Eltern instabile Seelen aufweisen. Der Verfall des philosophischen Charakters könnte so erklärt werden, dass ihm durch seine Gottähnlichkeit zwar einerseits eine ziemlich stabile Seelenhaltung zugesprochen wird, er andererseits aber nicht mit den Göttern identisch ist und er dadurch doch im Vergleich zu diesen einen gewissen – wenn auch äußerst geringen – Mangel an Stabilität aufweist, der aber ausreicht, um den Verfall einzuleiten und damit Menschen mit immer größeren Stabilitätsproblemen zu erzeugen. Für genauere Ausführungen zum Philosophen vgl. Kap. 3.3. 663 664

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Charakterverfall

komme 666; Veränderungen seien demgegenüber Anzeichen von Krankheit und Schwäche (vgl. Rep. II 380e3–381a2). Darüber hinaus können insbesondere Oligarchen und Demokraten schwerlich stabil und einheitlich sein, wenn man ihre jeweiligen Charakterbeschreibungen betrachtet: Der Oligarch besteht bereits aus zwei Charakteren 667, der Demokrat gar aus einer Vielzahl (vgl. Rep. VIII 554d9–e2; 561e3–8). Gerade diese Uneinheitlichkeit und Instabilität der Charaktere bewirken wiederum im politischen und gesellschaftlichen Bereich, dass – insbesondere in der Demokratie – verschiedene Charaktere sowie die damit verbundenen verschiedenen Lebensweisen manifestiert werden können und die Erziehung nicht reglementiert wird. Zu (3): Da eine Polis nur durch entsprechende Herrscher auf die richtige Weise geordnet werden kann, was zu Gerechtigkeit und Glück des Einzelnen führt, ist eine Charakterprüfung essentiell für die Auswahl der Herrscher wie auch der übrigen Stände. Dies zeigt sich bereits im zweiten Buch der Politeia, wenn die zahlreichen Anforderungen an den Wächterstand dargelegt und die für diesen Stand erforderlichen Charakterstärken genau beschrieben werden (vgl. Rep. II 375a2– 376c6 für das Wesen der Wächter, Rep. II 376e2 – III 412b7 hinsichtlich ihrer Erziehung). Auch Thad Williamson, der hierin Reeve folgt, erkennt die Verbindung zwischen Ethik und Politik 668, die über die Epistemologie miteinander verknüpft sind: So bestimmt unsere Charakterart unsere Möglichkeiten der Erkenntnis (vgl. 2.3) 669; unser Wissen wiederum beeinflusst unsere Handlungen und insbesondere im Falle der Regie666 Ein weiterer Hinweis darauf, dass auch der philosophische Charakter keine dauerhafte, gesicherte Stabilität aufweist. Für die bloße Gottähnlichkeit des Philosophen vgl. Kap. 3.3.2. 667 Gavrielides geht auf diese Tatsache ein und nimmt beim Oligarchen eine andere Art der Einheit an, die sie als nicht vom logistikon hervorgebracht definiert (vgl. 2010, S. 215). Eine solche »Einheit« würde m. E. aber von Platons Sokrates nicht mehr als würdig angesehen werden, als eine solche bezeichnet zu werden. 668 Bei Platon kann ohnehin nicht streng zwischen verschiedenen Disziplinen getrennt werden; es finden sich zwar Argumentationen, die zunächst auf einen Bereich beschränkt zu sein scheinen, dann aber sogleich in Verhältnis zum anderen gesetzt werden – wie hier anhand des Beispiels einer parallelen Beschreibung von Individuum und Polis bereits deutlich wurde. 669 Und damit auch die Erlangung der entsprechenden Tugenden: So sind – wie bereits

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Die Bedeutung des Charakters für die Politik

renden ihre politischen Entscheidungen. Williamson konzentriert sich in seiner Untersuchung auf die Demokratie, behandelt die Beschreibung in der Politeia aber als eine Darlegung einer real existierenden Staatsform und zieht entsprechend Vergleiche mit heutigen Demokratien. 670 Auch wenn in der Vergangenheit die Verfallsformen der Staaten von den Forscherinnen und Forschern teilweise als historische Beschreibungen angesehen wurden, scheint es mir doch überzeugender anzunehmen, dass diese Beschreibungen der verschiedenen Poleis auf die Charakterdarlegungen ausgerichtet sind 671, so wie bereits die Dreiteilung der Polis m. E. nur zum Zwecke des Isomorphismus zum seelischen Bereich durchgeführt wurde. Die Politik wird zwar von Platon als die Kunst beschrieben, einen guten Charakter hervorzubringen 672; dafür ist es aber notwendig, dass ein solcher Charakter an der Regierung teilhat, da nur durch diesen eine entsprechende gute Politik durchgesetzt werden kann. Daher lässt sich konstatieren, dass sich Polis und Individuum zwar wechselseitig bedingen, ein guter Charakter aber Voraussetzung für eine gute Polis-Verfassung ist und damit das Individuum zumindest in der Politeia chronologischen und logischen Vorrang gegenüber der Polis hat. 673 Um dies näher darlegen zu können, muss jedoch zunächst die Bedeutung des philosophischen Charakters untersucht werden (Kap. 3.3).

erwähnt – nur Philosophen in der Lage, vollkommene und nicht nur bürgerliche oder gewöhnliche Tugenden zu erlangen (vgl. Phd. 68b8–69d7). 670 Vgl. Williamson 2008, S. 402 f., 406 f. und Fn. 18. 671 In der Ablehnung dieser Annahme folge ich u. a. Frede 2011. Blössner geht so weit zu behaupten, dass die der Bevölkerung gängigen Namen der verschiedenen Verfassungen zweckentfremdet wurden und gänzlich neue Bedeutungen angenommen hätten (vgl. 1997, S. 185–207). 672 Brisson weist dabei auf Plt. 308d und Leg. 650b hin (vgl. 2012, S. 281 f.). 673 Das Wesen der Polis ist dabei selbstverständlich dennoch von großer Bedeutung, da nur durch sie genügend weitere gute Charaktere hervorgebracht werden können und dies nicht – wie in den von Sokrates beschriebenen Poleis – dem Zufall überlassen wird (vgl. Rep. VI 496a11–497a5). Letztlich hängt das Geschick der Polis damit aber doch vom Charakter ab. Zu den wohl prominentesten Vertretern einer ethischen Interpretation (ohne die politischen Aspekte völlig zu negieren) gehört Annas 1981. Vgl. außerdem Ryffel (1949, S. 90), der die Ursache des Verfalls im ethischen Bereich sieht. Für Argumente, die versuchen, primär eine politische Interpretation der Politeia zu rechtfertigen, vgl. u. a. Leroux 2005. Für eine ausführliche Analyse der Bedeutung des philosophischen Charakters für die kallipolis vgl. Kap. 3.3.

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Der Charakter des Philosophen

3.3 Der Charakter des Philosophen Der philosophische Charakter spielt in den platonischen Dialogen klarerweise eine besondere Rolle, wie sich u. a. daran festmachen lässt, dass sich dieser Charakter in bedeutendem Ausmaße von den anderen menschlichen Charakteren unterscheidet und dessen Herrschaft – insbesondere in der Politeia – als Voraussetzung für ein gelingendes Staatswesen sowie für die optimale charakterliche Ausbildung der dort lebenden Individuen angesehen wird. 674 Im Folgenden liegt der Fokus nicht auf der Darstellung von Sokrates als philosophischem Individuum, sondern vielmehr auf der Definition des Philosophen, wie sie – hauptsächlich von Platons Sokrates – in den platonischen Dialogen zum Ausdruck kommt und ob, und wenn ja, wie sich verschiedene Konzeptionen zwischen einzelnen Dialogen, aber auch innerhalb eines Dialogs vereinbaren lassen. Da in diesem dritten Kapitel die politische Bedeutung des Charakters im Vordergrund steht, konzentriert sich die Untersuchung auf die Politeia, deren Ergebnisse im Anschluss mit der Figur des Philosophen aus dem Politikos in Beziehung gesetzt werden.

3.3.1 Verschiedene Konzeptionen des Philosophen in der Politeia? Bei der Untersuchung des Philosophen in der Politeia wird meist gar nicht die Frage aufgeworfen, ob es sich dabei möglicherweise um verschiedene Konzeptionen handeln könnte. Oft wird ein philosophisches Individuum angenommen, das in den verschiedenen Büchern der Politeia beschrieben wird – entweder ohne mögliche Inkohärenzen in den Beschreibungen zu beachten oder aber diese zu benennen, ohne eine zufriedenstellende Lösung bereitzustellen. 675 Mario Vegetti hingegen zeigt Unstimmigkeiten der verschiedenen Beschreibungen auf, die sich seiner Meinung nach nicht vereinbaren lassen, und Vgl. u. a. Rep. V 473c11–e5. Vgl. u. a. Dixsaut 1985, Patterson 1987, Benardete 1989, Rosen 2005. Interpretationen, die sich mit dem Curriculum aus Rep. VII und möglichen Gründen für den Zwang zur Rückkehr in die Höhle auseinandergesetzt haben, ziehen meist keine Vergleiche mit der Charakterisierung des Philosophen in den anderen Büchern (vgl. z. B. Brickhouse 1981, Mahoney 1992, Smith 2010, Woods 2010, Caluori 2011, Buckels 2013) oder gehen selbstverständlich davon aus, dass die bisherigen Beschreibungen des Philosophen auch hier angewendet werden können (vgl. Vernezze 1992). 674 675

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nimmt daher drei verschiedene Arten von Philosophen an, die in der Politeia definiert werden. 676 In einem neueren Buch von Roslyn Weiss, das sich mit der Konzeption des Philosophen in diesem Dialog befasst, geht die Autorin von zwei verschiedenen Arten von Philosophen aus, denen ein grundlegender Unterschied im Charakteraufbau zugrunde liege. 677 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass man weder die offensichtlich vorliegenden Unterschiede in den Charakterbeschreibungen kommentarlos übergehen kann, noch dass diese Unterschiede notwendig zur Annahme grundlegend verschiedener philosophischer Individuen führen, sondern lediglich zu zwei unterschiedlichen Perspektiven des Philosophen, die sich in zwei sehr ähnlichen Charakteren manifestieren, die aber beide auf dem logistikon gründen. Dafür werden zunächst Vegettis und Weiss’ Positionen kurz näher erläutert werden, um dann deutlich zu machen, dass die bisweilen widersprüchlich anmutenden Beschreibungen von Platons Sokrates den Leser nicht dazu verleiten lassen sollten, vollkommen unterschiedliche Charaktere anzunehmen, sondern dass diese Beschreibungen sich vielmehr mit leicht unterschiedlichen logistikon-Charakteren hinreichend erklären lassen, sodass auch die innere Kohärenz des Dialoges hinsichtlich der goldenen Anlagen der Philosophen gewahrt bleibt. 678 Vgl. Vegetti 2000. Vgl. Weiss 2012. 678 Cathal Woods geht davon aus, dass Philosophen ihre Anlagen unterschiedlich stark ausbilden, wobei er die außerhalb der kallipolis entstandenen Philosophen als weniger gut entwickelte Charaktere ansieht, da sie die Idee des Guten nicht geschaut hätten. Dies macht er daran fest, dass sich Sokrates zu dieser Gruppe zählt und dieser zugleich konstatiert, dass er kein Wissen vom Guten habe (vgl. 2010, S. 17 und Rep. VI 506b2–e5). Auch wenn diese Philosophen nicht die ideale Erziehung durchlaufen haben, so müssen sie doch die Ideen erkannt haben, da es genau diese Art von Philosophen ist, die später als Gründer der kallipolis fungieren kann (weil nur diese Menschen unter nichtidealen Umständen ihre philosophische Natur bewahren, vgl. Rep. VI 496a11–e2) und in diesem Prozess auf die ewigen Wesenheiten schaut (vgl. Rep. VI 501b1–7). Für die Rolle des Philosophen als Demiurgen vgl. Couloubaritsis 1982. Somit müssten Sokrates’ Aussagen entweder als Aussparungsstellen gelesen werden oder als Beleg dafür, dass er doch nicht zu dieser Gruppe von Philosophen gehört. Weiss grenzt Sokrates von diesen Philosophen ab, allerdings vertritt sie die Auffassung, dass Sokrates als einziger wahrer Philosoph angesehen werden könne, da er sich zusätzlich zu den vier in der Politeia diskutierten Kardinaltugenden durch eine noch höhere Tugend – die Frömmigkeit – auszeichne (vgl. Weiss 2012, Kapitel 4). Dass sich Sokrates selbst von den außerhalb der kallipolis entstandenen Philosophen 676 677

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Möglichkeit 1: Drei Konzeptionen des Philosophen Vegetti lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass sich die Philosophen, die aus dem Wächterstand hervorgehen, in ihrer Definition von den Philosophenkönigen unterscheiden, die durch Zufall in einer Polis entstehen. 679 Ebenso sieht er auch unüberbrückbare Unterschiede zum Philosophen als Dialektiker, wie er in Buch VII dargestellt wird (vgl. Rep. VII 534b3–540c9). Er unterscheidet daher zwischen vollkommenen Wächtern (archontes), Philosophenkönigen und Dialektikern. Als konstitutiv für diese Unterscheidung sieht er einerseits die unterschiedlichen Aufgaben von archontes und Philosophenkönigen: Die einen verwalten eine bestehende Polis – die kallipolis –, wohingegen die anderen erst den neuen Staat konstituieren. Daraus ergibt sich, dass für die archontes philosophische Anlagen genügen, da sie ohnehin die Ausbildung des Idealstaates durchlaufen, die Philosophenkönige aber müssten sich eigenständig um ihre Ausbildung kümmern. Darüber hinaus nimmt Vegetti an, dass für die Könige eine viel komplexere Bildung nötig sei als lediglich eine musische und gymnastische Erziehung. Dies begründet er damit, dass für die Philosophenkönige eine bloß bürgerliche Tugend nicht ausreiche. Es wird hier deutlich, dass Vegetti für die archontes bloß bürgerliche Tugenden vorsieht, was sich folgerichtig aus seiner Dreiteilung des Philosophen ergibt. 680 Im Vergleich zwischen archontes und Dialektikern wiederum spricht Vegetti von einer substanziellen Veränderung von êthos und intellektueller Disposition, da an die archontes aus Buch II bis IV viel geringere Anforderungen gestellt würden. 681 Neben den Unterschieden, die er für die Erklärung dieser Differenzierung darlegen muss, stellt Vegetti aber auch ein Schema von Übereinstimmungen auf: So würden archontes und Dialektiker beide abgrenzt (da er durch sein daimonion gerettet wurde und nicht lediglich durch äußere Umstände, die einen von der Politik fernhalten, vgl. Rep. VI 496a11–c2), erscheint plausibel; als Differenzierungsmerkmal aber die Frömmigkeit als die höchste Tugend festzulegen, scheint mir zu spekulativ. 679 Indem Philosophen an die Regierung kommen oder eine philosophische Natur einmal in der Herrschergeneration geboren wird (vgl. Rep. V 473c11–e5). 680 In Buch IV spricht Sokrates beispielsweise nur von der bürgerlichen Tapferkeit, die die Wächter erhalten (vgl. Rep. IV 430c2–7). Da Vegetti den Dialektiker aber als eigenes, abgetrenntes Konzept des Philosophen ansieht, können die Wächter aus Buch IV nicht über die bürgerlichen Tugenden hinausgelangen. Dass sich die Dialektiker m. E. aber letzten Endes aus den Wächtern rekrutieren und damit identisch mit den vollkommenen Wächtern aus Buch II–IV sind, wird später ausgeführt. 681 Vgl. Vegetti 2000, S. 336 (Fn. 1), 349, 351–355, 358. Seelen im Wandel

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in der kallipolis erzogen werden (wenn auch die Dialektiker eine vollständigere Erziehung erhalten), Philosophenkönige und Dialektiker wiederum hätten grundlegend dasselbe Wissen und denselben Charakter; allerdings sei der Charakter der Dialektiker noch besser ausgewählt als der der Philosophenkönige. 682 Das bereits viel diskutierte (vorhandene oder nicht vorhandene) Bedürfnis der Philosophen zu regieren wird von Vegetti relativ zur jeweiligen Konzeption des Philosophen untersucht: Die archontes seien zum Regieren ausgebildet worden und hätten daher auch das entsprechende Bedürfnis 683, bei den Philosophenkönigen werde die Frage offen gelassen, wohingegen die Dialektiker sich dagegen sträubten. 684 Möglichkeit 2: Zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen Diese Interpretation wird von Roslyn Weiss vertreten, die zwar zunächst vier Arten des Philosophen betrachtet, diese dann aber offenbar auf zwei grundlegende Konzeptionen, philosophers by nature und philosophers by design reduziert. 685 Ihr Hauptargument für diese Teilung scheint darin zu bestehen, dass sich philosophers by nature in ihren charakterlichen Anlagen grundlegend von den in der kallipolis erzeugten Philosophen – den philosophers by design – unterschieden. Dies macht sie an folgenden Punkten aus: (1) Nur die philosophers by nature hätten philosophische Anlagen, denn die in der kallipolis entstandenen Philosophen seien im Grunde appetitiv veranlagt. 682 In diesem letzten Punkt unterscheidet er sich klar von Weiss, die nur den (durch Zufall entstandenen) Philosophenkönigen und den Philosophen, die ihre Natur durch den Rückzug ins Private bewahrt haben, eine philosophische Anlage zuspricht (vgl. 2012, S. 67). Offensichtlich stellt der Charakter für Vegetti nur eines der Kriterien dar, um verschiedene Arten des Philosophen zu differenzieren, u. a. da Philosophenkönige und Dialektiker charakterlich fast übereinstimmten (vgl. Vegetti 2000, S. 355 f.). 683 Er nimmt an, dass das thymoeides bei Philosophenkönig und Dialektiker eine sekundäre Rolle spiele und die intellektuellen Anlagen eine größere Bedeutung einnähmen; das Bedürfnis zu regieren sei für die archontes hingegen eine »opzione […] fisiologica« (Vegetti 2000, S. 356, vgl. ebd., S. 356). 684 Vgl. ebd., S. 355–357. 685 Die vier Arten sind folgende: (1) der äußerst seltene Fall des Menschen mit philosophischen Anlagen, der der Philosophie treu bleibt, (2) der Mensch mit philosophischen Anlagen, der korrumpiert wird, (3) der imitation philosopher, der keine philosophischen Anlagen besitzt, und (4) die in der kallipolis erzeugten und erzogenen Philosophen. (1) und (4) nennt Weiss »philosophers by nature« bzw. »philosophers by design«. (2) bis (4) stellen ihrer Meinung nach lediglich defektive Annäherungen an den echten Philosophen dar (vgl. Weiss 2012, S. 11 f.).

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(2) Nur die philosophers by nature würden vom philosophischen Eros getrieben und wollten von sich aus zu den Ideen gelangen. (3) Die philosophers by design seien nicht gerecht und stellten nicht das philosophische Ideal dar; dies werde nur durch die philosophers by nature verkörpert. 686 Zu (1): Dies schließt Weiss daraus, dass die Philosophen aus Buch VII noch vor der Schau der Idee des Guten zurück in die Höhle müssen und dort geprüft werden. Daher seien sie noch immer anfällig für sinnliche Lüste. Zudem hätten natürlich entstandene Philosophen durch ihre philosophischen Anlagen und ihre Weisheitsliebe automatisch die Tugenden inne, sodass eine Habitualisierung in diesem Falle unnötig sei. Die Erziehung der vollkommenen Wächter schließe aber eine solche Habitualisierung mit ein, sodass die zu erziehenden Kinder keine philosophischen Anlagen besitzen könnten. 687 Zu (2): Die Liebe zu den Ideen und zur Weisheit würde nur bei den natürlich entstandenen Philosophen thematisiert; zudem müssten die Philosophen, die in der Dialektik erzogen werden, dazu gezwungen werden, sowohl sich an den Aufstieg aus der Höhle zu machen als auch schließlich die Idee des Guten zu schauen. Nichts davon erfolge freiwillig, obwohl dies der wahren philosophischen Natur eigen sei. 688 Zu (3): Weiss macht die mangelnde Gerechtigkeit der in der kallipolis entstandenen Philosophen darin aus, dass diese zum Regieren gezwungen werden müssten und nicht von sich aus mit den Menschen zu tun haben oder gar ihnen helfen wollten. 689 Diese Annahme 686 Wie oben erwähnt, stellt Sokrates ihr zufolge einen Sonderfall dar und sei noch höher zu werten als die philosophers by nature (vgl. ebd., Kapitel 4). 687 Vgl. ebd., S. 8, 19 f., 36 (Fn. 69), 65, 67 f., 73 f. Weiss geht noch weiter und meint, dass die Philosophen aus Rep. VII aufgrund ihrer appetitiven Natur nicht besonnen seien und die Besonnenheit nur nachahmten, sodass sie den oligarchischen Charakter verkörpern würden (vgl. S. 72, Fn. 51). 688 Vgl. ebd., S. 15, 53, 65, 68 (Fn. 43), 76 f., 103. 689 Wie bereits Weiss feststellt, gibt es also zwei Arten von Zwang in der Politeia: (1) der Zwang zur Kontemplation der Ideen – an der sie die mangelnde Weisheitsliebe der philosophers by design ausmacht – und (2) der Zwang zu regieren – was sie dazu veranlasst, diesen Philosophen die Tugend der Gerechtigkeit abzusprechen. Wie aber im Folgenden deutlich werden wird, sind diese Schlussfolgerungen ungerechtfertigt, sodass die beiden Arten von Zwang anders erklärt werden müssen. Während (2) vielfach diskutiert wurde, ist die erste Art des Zwangs eher unbeachtet geblieben. Für eine andere Lösung für (1) vgl. Wagner 2005, Shields 2007b und Barney 2008. Für einen sehr guten Überblick über die verschiedenen bisherigen Lösungsansätze für (2) vgl. Buckels 2013.

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gründet in beträchtlichem Maße auf ihrer Auffassung der Gerechtigkeit in der Politeia. Ihr zufolge bestehe Gerechtigkeit – entgegen der Standardinterpretation – nicht darin, dass jeder Seelenteil das Seine tue und habe, und betreffe nicht die Innerlichkeit des Individuums. Die von Sokrates gegebene Definition in Rep. IV sei vielmehr eine Umbenennung der Besonnenheit; die Definition der Gerechtigkeit müsse der Leser selbst suchen. Weiss schlägt im Anschluss vor, die Gerechtigkeit als interpersonal und sozial zu betrachten, sodass Gerechtigkeit darin bestehe, seinen Mitmenschen helfen zu wollen. So wird ihrer Meinung nach das Problem der sehr ähnlich definierten Besonnenheit und Gerechtigkeit gelöst. 690 Kritik und Möglichkeit 3: Zwei logistikon-dominierte Charakterarten Analysiert man die Behandlung des Philosophen in der Politeia, so ist klar, dass von Philosophen, die zufällig und natürlicherweise in bereits bestehenden Poleis entstehen, die Rede ist wie von Philosophen, die Produkte des Idealstaates sind. Daraus aber auf zwei (oder mehr) distinkte und v. a. voneinander unabhängige Anlagen und entsprechende Charaktere zu schließen, ist m. E. ebenso falsch, wie vorhandene Unterschiede zu negieren oder zu übergehen. Vegetti hebt zu Recht die verschiedenen Beschreibungen des Philosophen hervor; allerdings können meiner Meinung nach die Dialektiker nicht abgetrennt von den archontes betrachtet werden, sodass die dialektische 690 Vgl. Weiss 2012, S. 72, 94, 103, 114, 117 f., 164, 173–186, 204 f. Außerdem hält Weiss die philosophers by design für grausamer als die philosophers by nature, da nur Erstere die Erwachsenen aus der Polis verbannen würden (vgl. Rep. VII 540e5–541a7; vgl. zu dieser Textstelle auch Rosen, der die Verbannung als »the ultimate act of injustice« sieht (2005, S. 301)); der Reißbrettentwurf der philosophers by nature hingegen sei metaphorisch zu interpretieren (vgl. Rep. VI 501a2–7), sodass kein Einwohner ins Exil geschickt werde und alle vorhandenen (auch erwachsenen) Charaktere gebessert würden (vgl. Weiss 2012, S. 117–119, 119 (Fn. 69)). Ihre Lesart übersieht dabei aber, dass die Ausweisung gerade von den von ihr gelobten philosophers by nature durchgeführt wird, wie sich anhand des Rückgriffs auf den Philosophenkönigssatz in Rep. VII 540d1–e3 festmachen lässt. Rosen erkennt im Gegensatz dazu zwar den Bezug zum Philosophenkönig, interpretiert die Stelle aber radikaler, indem er vermutet, dass die Menschen, die älter als zehn Jahre sind, nicht einfach verbannt, sondern gar getötet werden (vgl. Rosen 2005, S. 244, 246, 301). Woraus er dies schließt, wird aber nicht deutlich, sodass m. E. diese Interpretation nur spekulativ sein kann, da die Textstelle nichts in dieser Richtung suggeriert. Darüber hinaus nimmt er diese Stelle ebenfalls zum Anlass, von Ungerechtigkeit beim Philosophen zu sprechen und dadurch auch von der Unmöglichkeit der Verwirklichung der kallipolis (vgl. 2005, S. 244).

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Erziehung vielmehr eine Fortführung der Erziehung der Wächter darstellt, die nur den vollkommenen Wächtern – d. h. den Philosophen – vorbehalten ist. 691 Um die Bedeutung des Philosophen verstehen zu können, muss zunächst klar sein, von welchem Menschen Sokrates dabei spricht: Geht man von mehreren, nicht miteinander zu vereinbarenden Konzeptionen aus, steht man vor der Schwierigkeit, eine davon als gültig anzuerkennen, anhand deren Sokrates schließlich in Rep. IX das größere Glück aufzuzeigen versucht. Es erscheint mir aber plausibler, die verschiedenen Zuschreibungen (Kompetenz im Krieg und im Regierungsamt, natürliche Liebe zur Weisheit, vgl. Rep. VI 485a10–d5, VII 525b8–9, VIII 543a4–6) als verschiedene Merkmale und Leistungen einer philosophischen Natur 692 anzusehen, d. h. eines Menschen, der mit philosophischen Anlagen ausgestattet ist. Innerhalb der kallipolis wird ein solcher Mensch optimal gefördert; außerhalb muss er sich selbst darum kümmern – und wird es nur selten schaffen –, seine Anlagen in die richtige Richtung zu entwickeln. Im entwickelten Charakter allerdings lassen sich leichte Unterschiede feststellen, sodass der natürlich entstandene Philosoph vollkommen von seinem vernünftigen Seelenteil bestimmt wird, während der kallipolis-Philosoph zwar ebenfalls goldene Anlagen besitzt, sein Charakter aber neben dem logistikon auch thymoeides-gefärbt ist, was insbesondere seine kriegerisch-stürmische Art erklärt (vgl. u. a. Rep. VI 503c2–8, VII 525b8–9 und VIII 543a1–7). Natürlich ergeben sich aus der Annahme einer solchen ziemlich einheitlichen Konzeption Probleme, die weiter unten diskutiert werden (vgl. Kap. 3.3.3); im Folgenden soll jedoch zunächst anschaulich gemacht werden, dass wir es in der Politeia, wenn von Philosophen die Rede ist, mit zwei sehr ähnlichen Charakterarten des logistikon-Typs zu tun haben, der auf dieselben Grundanlagen, Bedürfnisse und Merkmale zurückzuführen ist. Dafür muss die Vereinbarkeit verschiedener Beschreibungen aufgezeigt werden.

691 In diesem Sinne stimme ich mit Jenkins’ »developmental picture« des Philosophen überein (vgl. 2010, S. 80). 692 Wenn in diesem Kapitel von »Natur« gesprochen wird, beziehe ich mich dabei auf die charakterlichen Anlagen eines Menschen, die ihm von Geburt gegeben sind. In dieser Verwendungsweise kommt physis allein in Rep. VI 34–mal vor (vgl. 485a– 503b).

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Zur Vereinbarkeit von archontes und Dialektikern: Dass die Ausführungen zur Erziehung in Rep. II–III nicht die vollständige Erziehung der vollkommenen Wächter darstellt, sondern nur für die Erziehung der später als Helfer betitelten Wächter (vgl. Rep. III 414b1–7) ausreicht, die die zweite Gruppe in der kallipolis ausmachen, bestätigt sich v. a. dadurch, dass Platons Sokrates selbst feststellt, dass in der anfänglichen Darlegung etwas ausgelassen wurde, das nun hinzugefügt wird: »Man muß ihn also prüfen in den früher erwähnten Mühen, Schrecknissen und Lüsten. Nunmehr fügen wir, was wir vorher ausließen, hinzu: Man muß ihn auch in vielen Lehrgegenständen üben und dann prüfen, ob seine Natur auch die höchsten Wissenschaften zu ertragen vermag oder ob sie versagt wie ein verzagender Ringkämpfer.« (Rep. VI 503e1–504a1) 693

Vegetti zieht selbst die Möglichkeit in Betracht, dass die Dialektiker einfach eine Fortführung der archontes seien und es sich damit um dieselben Naturen handelt, verwirft dies aber entschieden, da sich aus einer solchen Interpretation grundlegende Widersprüche ergäben: Bei den archontes stünde die Frage im Vordergrund, wer die Polis regieren solle und wie eine entsprechende Erziehung auszusehen habe; bei den Dialektikern hingegen liege der Fokus auf der intellektuellen Erziehung, da es darum gehe, wer ein wahrer Philosoph sei und wie dieser erzogen werden müsse, sodass êthos und intellektuelle Anlagen im Vergleich zu den archontes eine grundlegende Veränderung durchmachten. Daher müsse man »von Anfang an« die Frage der Erziehung wiederaufnehmen. 694 Vegetti verweist dabei selbst auf Rep. VI 502e2 695; genau diese Textstelle kann aber auch für das Gegenteil als Beleg herangezogen werden. Ex archês könnte als einfacher Rückverweis auf die Erziehung der archontes gelesen werden, sodass der Anfang nicht die grundlegende Frage nach der angemessenen Erziehung umfasst, sondern vielmehr für die begonnene Erziehung der Wächter steht (mou693 Βασανιστέον δὴ ἔν τε οἷς τότε ἐλέγομεν πόνοις τε καὶ φόβοις καὶ ἡδοναῖς, καὶ ἔτι δὴ ὃ τότε παρεῖμεν νῦν λέγομεν, ὅτι καὶ ἐν μαθήμασι πολλοῖς γυμνάζειν δεῖ, σκοποῦντας εἰ καὶ τὰ μέγιστα μαθήματα δυνατὴ ἔσται ἐνεγκεῖν εἴτε καὶ ἀποδειλιάσει, ὥσπερ οἱ ἐν τοῖς ἄλλοις ἀποδειλιῶντες. 694 Vgl. Vegetti 2000, S. 357 f. 695 Vgl. ebd., S. 358 und Rep. VI 502e1–2: »Die Frauen- und Kinderfrage ist wohl erledigt, aber das Herrscherproblem müssen wir nun von Anfang her aufrollen.« (καὶ τὰ μὲν δὴ τῶν γυναικῶν τε καὶ παίδων πεπέρανται, τὸ δὲ τῶν ἀρχόντων ὥσπερ ἐξ ἀρχῆς μετελθεῖν δεῖ.).

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sikê und gymnastikê als archê, mit der man beginnen muss), mit der nun fortgesetzt werden muss, will man vollkommene Wächter für die Regierung der Polis aufziehen. Aber auch wenn man diese Lesart negiert und davon ausgeht, dass das Problem der Erziehung der Herrscher komplett neu aufgerollt werden muss, zeigen die direkt darauf folgenden Textpassagen, dass die anfangs festgelegte Erziehung aus mousikê und gymnastikê weiterhin gilt; da nun in Rep. VI 503b4–5 endgültig und klar feststeht, dass es die besten Wächter sind, die als Philosophen die kallipolis regieren und umsetzen sollen, ist es nur folgerichtig, dass die bisherigen Ausführungen zwar noch gelten, aber stark ausgebaut werden müssen. Als ein weiteres Problem sieht Vegetti das Verletzen der oikeioprageia, das für die Dialektiker gelte, nicht aber für die archontes, die zum Regieren erzogen wurden. 696 Das Verletzen der oikeioprageia, d. h. das Prinzip, dass jeder das Seine tue, stellt zweifelsohne ein Problem dar, betrifft allerdings nicht nur die Dialektiker. 697 Schon die archontes besitzen philosophische Anlagen und werden zwar zum Regieren erzogen, ebenso aber auch die Dialektiker. Dass Dialektiker und archontes dieselben Menschen bezeichnen, wird außerdem deutlich, wenn Sokrates von der Aufgabe des Regierens spricht: Die Dialektiker leiten den Staat (archontas hekastous tês poleôs heneka) und hinterlassen weitere Wächter (antikatalipontas tês poleôs phylakas), die sie später ablösen werden (vgl. Rep. VII 540a4–b7). Daran zeigt sich einerseits, dass auch die Dialektiker zum Regieren erzogen werden 698; andererseits scheint mir diese Stelle ein guter Beleg für die Identität von archontes und Dialektikern zu sein, da auch die Dialektiker ihresgleichen heranziehen, die als phylakes bezeichnet werden – so wie bereits die archontes als vollkommene oder beste phylakes charakterisiert werden (vgl. Rep. III 412c9–11). Es scheint m. E. plausibler, davon auszugehen, dass Sokrates die Erziehung der vollkommenen Wächter in ihren Grundlagen in Buch Vgl. Vegetti 2000, S. 359 f. Für eine weitergehende Diskussion vgl. Kap. 3.3.3. 698 Natürlich ist die kallipolis dafür konzipiert, dass die Menschen – insbesondere die Philosophen – ihre ihnen eigenen Anlagen verwirklichen und damit gerecht und glücklich werden können; um dies zu erreichen, ist es jedoch nötig, dass die Philosophen dem Staat dienen. Dies gilt für die archontes wie für die Dialektiker; aus einer möglichen Fokusverschiebung (die archontes dienen der Polis >> die Polis dient den Dialektikern) kann m. E. keine grundlegende Trennung der beiden Beschreibungen abgeleitet werden. 696 697

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II–IV darlegt und dies als Anfang ihrer Erziehung betrachtet. Innerhalb des von Polemarchos, Glaukon und Adeimantos erzwungenen Exkurses über die Reformen der kallipolis (vgl. Rep. V–VII) geht Sokrates schließlich genauer auf die Erziehung der Philosophen ein, die sich eben nicht in den Grundlagen von musischer und gymnastischer Erziehung erschöpft, sondern der eine intellektuelle Ausbildung, die in der Dialektik gipfelt, folgen muss. 699 Daher gehe ich von zwei Betrachtungsweisen aus, die in denselben philosophischen Anlagen gründen und derselben Charakterart (logistikon-thymoeides) zugeordnet werden können. Zur Vereinbarkeit und zu den Unterschieden der natürlich entstandenen Philosophen: In diesem Abschnitt soll nur gezeigt werden, dass sich natürlich entstandene Philosophen und kallipolis-Philosophen auf dieselben Anlagen zurückführen lassen; leichte Unterschiede im Charakter hingegen sind nicht von der Hand zu weisen und können zur Erklärung einiger widersprüchlicher Passagen herangezogen werden (vgl. Kap. 3.3.3). Ein Hinweis darauf, dass die Philosophen, die das Privileg haben, die Erziehung der kallipolis zu durchlaufen, auf ihre philosophischen Anlagen zurückgreifen können, findet sich bereits in Rep. II: »›Wissensliebend (-philosophisch) (philosophos) und mutvoll, schnell und kräftig wird also in seinem Wesen der tüchtige und vollkommene (kalos kagathos) Wächter des Staates der Zukunft sein?‹ ›Ganz gewiß!‹« (Rep. II 376c4–6). Zugleich wird hier aber auch deutlich, dass der kallipolis-Philosoph bereits in seinen Anlagen einen thymoeidesAnteil aufweist, der bei den natürlichen Philosophen so nicht gegeben ist oder zumindest nicht erwähnt wird. 700 Ein möglicher Einwand stellt Weiss’ Sichtweise dar, die davon ausgeht, dass Platons Sokrates das Wort philosophos in Buch II nicht im eigentlichen Sinne gebrauche und der Abschnitt über die Wächter, die philosophisch sein müssten, nicht ernst genommen werden 699 Ohne die trikymia hätte Sokrates verschleiern können, dass die vollkommenen Wächter, die für die Regierung bestimmt sind, im Grunde Philosophen sind. Daher bestand zuvor keine Notwendigkeit, eine weitergehende Erziehung darzulegen, ja sie hätte gar gerechtfertigt werden müssen; diese Rechtfertigung liefert aber erst die dritte Woge; dass Philosophen eine weitergehende Erziehung erhalten müssen, scheint für die Gesprächspartner dann außer Frage zu sein (vgl. Rep. VI 502c9–d3). 700 Vgl. die Ausführungen zum natürlichen Philosophen in Rep. V und VI.

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könne. 701 Hier eine Ironie in Sokrates’ Aussage hineinzulesen, ist allerdings nicht gerechtfertigt; es ist zwar richtig, dass sich ein Philosoph nicht dadurch auszeichnet, dem Fremden und Unbekannten übel gesinnt zu sein, aber darum geht es Sokrates an dieser Stelle 702 auch nicht. Der entscheidende Punkt besteht vielmehr darin, dass der Wächter die Unterscheidungskraft besitzt, zwischen Kennen und Nichtkennen zu trennen, und das Nichtkennen insofern als Feind zu betrachten, als er qua Philosoph 703 immer nach Erkenntnis strebt und nur diese liebt. Daher ist es Sokrates m. E. durchaus wichtig, den vollkommenen Wächtern ganz ohne Ironie eine philosophische Anlage zuzusprechen. Ganz abgesehen davon scheint es unplausibel, dass Menschen mit echten philosophischen Anlagen als Gründer der kallipolis grundlos Menschen mit nicht-philosophischen Anlagen für die vollständige Erziehung auswählen sollten, die sie später an der Regierung ablösen sollen. 704 Sokrates behauptet vielmehr – und zu Recht –, dass die Gründer ihnen ähnliche Menschen für die Regierung hinterlassen möchten (vgl. Rep. VII 540b5–7). Darüber hinaus würden solche unechten Philosophen sicherlich nicht in der Lage sein, die kallipolis aufrechtzuerhalten. Sokrates geht zwar von einer Degeneration der kallipolis aus, allerdings erfolgt diese nicht sofort und besteht zudem 701 Vgl. Weiss 2012, S. 45–48. Auch Vegetti geht in Buch II von einer sehr schwachen Lesart aus (vgl. 2000, S. 352). Es geht dabei um den Vergleich der Wächter mit Hunden, die beide »philosophisch-wissensliebend« sein müssen (vgl. Rep. II 375d10– 376c7). Ada Babette Hentschke spricht im zweiten Buch der Politeia von einer »konkret-komische[n] Bedeutung« (1971, S. 116). 702 Vgl. dazu die vorhergehende Stelle: »›Ein feiner Zug seines Wesens zeigt sich da, im wahrsten Sinn philosophisch-wissensliebend (hôs alethôs philosophon).‹ ›Wieso?‹ ›Weil er Freund und Feind nur dadurch unterscheidet, ob er ihn kennt oder nicht; wie sollte er da nicht lerneifrig sein, da er Vertrautes und Fremdes scheidet nach Kennen und Nichtkennen?‹« (Rep. II 376a11–b6) 703 Man könnte hier einwenden, dass die phylakes und noch nicht die philosophoi beschrieben werden. Es wird jedoch einerseits direkt im Anschluss an diese Textstelle deutlich, dass es Sokrates um die vollkommenen Wächter geht, die später auch Philosophen genannt werden (vgl. Rep. II 376c4–5). Kurz vor der Darlegung der edlen Lüge erfolgt zudem explizit eine Umbenennung: Die phylakes sollen die Herrscher sein und die bisher als phylakes Bezeichneten werden nun »Helfer und Vollstrecker« genannt (vgl. Rep. III 414b1–7). Andererseits ist spätestens ab Rep. VI 503b3–5 ohnehin klar, dass die in Buch II beschriebenen Eigenschaften der phylakes auch für die Philosophen gelten müssen, da diese eine Teilmenge der phylakes ausmachen. 704 Dies ist eine Implikation von Weiss’ These, dass die Philosophen der kallipolis keine philosophische Natur besitzen (s. o.).

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in einer Fehlberechnung der Hochzeitszahl, die nicht durch einen charakterlichen Defekt der Herrscher erklärt wird, sondern mit der allgemeinen Vergänglichkeit des Seins (vgl. Rep. VIII 546a2–3). Die Herrscher werden zudem als weise bezeichnet (vgl. Rep. VIII 546a8: kaiper ontes sophoi); diese Tugend aber ist – wie aus Rep. IV 428c11– 429a4 hervorgeht – nur den Philosophen vorbehalten. Eine weitere Verbindung zwischen kallipolis-Philosophen und natürlich entstandenen kann außerdem eine Textstelle innerhalb der Beschreibung des Philosophen als Dialektiker liefern. Sokrates greift auf Adeimantos’ früheren Einwand der Unbrauchbarkeit der heutigen Philosophen zurück und betont, dass nur edle Menschen für eine solche weitergehende Erziehung ausgewählt werden dürften, nämlich solche, wie sie in Rep. VI 489e3–490e1 und 496a11–e2 näher beschrieben wurden (vgl. Rep. VII 535c5–8). 705 Dass die Philosophen, die ihre Erziehung in der kallipolis erhalten, philosophische Anlagen besitzen, kann auch ex negativo aus Rep. VI 492a1–5 geschlossen werden, wenn die widrigen Umstände ausgeführt werden, denen der Mensch mit philosophischen Anlagen in gewöhnlichen Poleis – und damit allen außer der kallipolis – ausgesetzt ist und aufgrund derer er oft degeneriert: »Wenn somit die Natur des Philosophen, wie wir sie festlegten, die ihr gebührende Erziehung erhält, wird sie notwendig zu aller Tüchtigkeit emporwachsen und gedeihen; ist sie aber nicht im richtigen Boden gesät, gepflanzt und aufgezogen, so artet sie ins Gegenteil aus, wenn ihr nicht einer der Götter zu Hilfe eilt. […]« (Rep. VI 492a1–5) 706

Somit muss das Ziel der kallipolis die Verwirklichung und Entwicklung dieser philosophischen Naturen sein, die in der Realität nicht gegeben ist.

Dies sind aber gerade Weiss’ philosophers by nature, die sie von den hier beschriebenen Philosophen abgrenzen möchte. Sie ist zwar der Meinung, dass Sokrates hier nicht echte philosophische Naturen meint, da es sich lediglich um edle (gennaioi) Naturen handele, nicht aber um schöne (kaloi) (vgl. ebd., S. 24 (Fn. 38), 81). Durch den eindeutigen Rückgriff auf die Ausführungen in Rep. VI 489e3–496e2 scheint es mir aber äußerst unplausibel, dass hier in Bezug auf die edlen Menschen plötzlich nicht mehr von den wahrhaft philosophischen Naturen gesprochen wird. 706 Ἣν τοίνυν ἔθεμεν τοῦ φιλοσόφου φύσιν, ἂν μὲν οἶμαι μαθήσεως προσηκούσης τύχῃ, εἰς πᾶσαν ἀρετὴν ἀνάγκη αὐξανομένην ἀφικνεῖσθαι, ἐὰν δὲ μὴ ἐν προσηκούσῃ σπαρεῖσά τε καὶ φυτευθεῖσα τρέφηται, εἰς πάντα τἀναντία αὖ, ἐὰν μή τις αὐτῇ βοηθήσας θεῶν τύχῃ. 705

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Der wenngleich geringe, aber dennoch vorhandene Unterschied zwischen natürlichen Philosophen und kallipolis-Philosophen untermauert Sokrates’ Zusammenfassung zu Beginn von Buch VIII: »Gut denn! Darüber sind wir uns einig geworden, mein Glaukon: Im vollkommen verwalteten Staat herrscht Gemeinschaft der Frauen, Kinder und aller Erziehung, ebenso aller Tätigkeit in Krieg und Frieden, ihre Könige (basileas) aber sind jene Männer, die sich in der Philosophie und im Krieg am meisten auszeichnen.« (Rep. VIII 543a1–6)

Hier bezieht sich Sokrates klar auf die Ausführungen von Buch V– VII, um nun seine eigentliche Untersuchung wiederaufzunehmen, die er durch die Unterbrechung von Adeimantos und Polemarchos zeitweise zurückgestellt hatte (vgl. Rep. V 449a7–450a8). Hier wie auch in Rep. VII wird zusätzlich zur philosophischen Eignung (die beiden Charakterarten eigen ist) auch das Kriegerische der Philosophenherrscher hervorgehoben. Dies spricht m. E. dafür, dass die Philosophen der kallipolis klarerweise zu einem gewissen Teil auch vom thymoeides beeinflusst sind und somit charakterlich leicht unterschieden sind von den Philosophen, die unter gewöhnlichen Umständen ihre philosophischen Anlagen zu einem philosophischen Charakter entwickelt haben. Ein möglicher Einwand gegen eine weitgehende Einheitlichkeit der philosophischen Natur ist die von Weiss vorgebrachte Feststellung, dass die Liebe des Philosophen zu den Ideen nur bei den natürlich entstandenen Philosophen thematisiert werde und die in der kallipolis entstandenen Philosophen zur Ideenschau gezwungen werden müssten (s. o.). Nur weil die Ideenliebe später nicht mehr thematisiert wird, rechtfertigt dies jedoch nicht, den kallipolis-Philosophen eine vollkommen gegensätzliche (appetitive) Natur zu attestieren. Es scheint vielmehr plausibler, diesen Philosophen keinen so starken Drang zu den Ideen zuzuschreiben, da sie nun einmal nicht ausschließlich von ihrem logistikon dominiert werden (wenngleich doch zu einem großen Teil), sondern auch ihrem thymoeides einen gewissen Einfluss einräumen. Beweiskräftig für die hier vertretene Lesart eines vergleichsweise einheitlichen Charakters ist besonders eine Stelle am Anfang von Buch VI, in der die Weisheitsliebe näher erläutert wird. Sokrates spricht hier zwar über die Auswahl der Herrscher (die Weiss’ philosophers by nature entsprechen), nennt diese aber phylakes:

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»[…] Wenn jene Menschen Philosophen sind, die das ewig Gleiche und Unveränderliche erfassen können, während die anderen, die sich nur an die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Dinge verlieren, eben nicht Philosophen sind – wenn das so ist, welche sollen dann die Führer des Staates (poleôs hêgemonas) sein?« »Wie könnten wir da die richtige Antwort finden?« »Wer von ihnen fähig erscheint, die Gesetze und Sitten des Staates zu behüten (phylaxai nomous), den soll man als Hüter (phylakas) bestimmen.« »Richtig!« »Das ist doch klar, ob man einen Blinden oder einen scharf Sehenden als Wächter (phylaka) wählt, um etwas zu behüten (têrein)?« […] »Werden wir nun diese [d. i. die Blinden] lieber zu Wächtern (phylakas) bestellen – oder jene andern, die das wahre Sein jedes Dinges erkannt haben, ohne jedoch an Erfahrung jenen irgendwie nachzustehen oder an allseitiger Fähigkeit sonst unterlegen zu sein?« […] »Über die philosophischen Naturen (tôn philosophôn physeôn) muß sich uns nun dies ergeben haben und feststehen: Mit ewiger Liebe (aei erôsin) hängen sie an der Wissenschaft, die sie aufklärt über jenes Sein, das ewig ist und sich nicht wandelt in Werden und Vergehen.« (Rep. VI 484b3– 485b3) 707

Dies ist m. E. ein klarer Hinweis darauf, dass die vollkommenen Wächter, die in Buch IV ansatzweise und in Buch VII genauer beschrieben werden, von ihren Anlagen her mit den Philosophen zusammenfallen, die in bestehenden Poleis leben und möglicherweise Philosophenkönige werden. Zudem klingt auch erneut die Metapher der Wächter als Hüter einer Herde an (vgl. Rep. VI 484c4: têrein), sodass Hüter der Menschenherde vollkommene Wächter genannt werden können, ob sie nun zufällig Philosophenkönige werden und unter schlechten Bedingungen ihre philosophische Natur bewahrt haben oder tatsächlich bereits in der kallipolis aufgezogen wurden. 707 Für die weitere und ausführlichere Beschreibung des Eros des Philosophen vgl. die Textstellen im Anschluss (Rep. VI 485b5–e1). Bisweilen wird dieser innere Drang auch als hormê/horman bezeichnet (vgl. Rep. VI 487c4–d5 (im Rahmen der Unbrauchbarkeit der Philosophen), X 611e1–612a3 (der Drang der Seele zur Weisheit), Phdr. 279a5–b1 (Sokrates vermutet hier, dass etwas Philosophisches in Isokrates anwesend sei, ein göttlicher Trieb)).

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Es ist richtig, dass die Liebe der Philosophen später nicht mehr thematisiert wird; daraus kann aber nicht auf unterschiedliche Anlagen geschlossen werden, sondern nur auf einen leicht unterschiedlichen Charakter, der sich im thymoeides-Einfluss der kallipolis-Philosophen manifestiert. 708 Folgt man außerdem der hier vertretenen Lesart, dass die Dialektiker identisch mit den vollkommenen Wächtern aus Buch III–IV sind, deren Erziehung bis dahin noch nicht vollständig dargelegt wurde, so muss zwangsläufig auch den Dialektikern eine – wenn auch verglichen mit den natürlichen Philosophen geringere – Wissensliebe attestiert werden und nicht bloße, wenngleich herausragende, kognitive Fähigkeiten, da nun deutlich geworden ist, dass sowohl die Philosophenkönige als Gründer der kallipolis wie auch die für die Regierung der kallipolis erzogenen Philosophen gleichermaßen als (vollkommene) Wächter bezeichnet werden. 709 Dies zeigt sich an der bereits diskutierten Textstelle aus Buch II, die Weiss ironisch liest, aber noch deutlicher an Rep. III 412c9–11, wo von den besten Wächtern als Herrschern gesprochen wird. Der zuvor kurz erwähnte Zwang, sich mit menschlichen Angelegenheiten zu befassen und an der Regierung beteiligt zu sein, lässt sich zudem nicht auf die Dialektiker einschränken. Auch die Philosophen, die zufällig an die Regierung kommen und nicht die Erziehung der kallipolis erfahren haben, können als Gründer gezwungen werden, die menschlichen Charaktere zu formen 710: »Wenn er nun genötigt wird (anankê) nachzudenken, wie er all das, was er dort sieht, auf den Charakter der Menschen (eis anthrôpôn êthê) – im öffentlichen und privaten Leben – übertragen könne, und nicht nur, wie er sich selbst bilde, wird er dann wohl ein schlechter Meister der Besonnenheit, Gerechtigkeit und aller Bürgertüchtigkeit werden?« (Rep. VI 500d4–8)

708 Allein aufgrund dieser Textstelle und des dort verwendeten Vokabulars könnte man auch von einem vollkommen einheitlichen philosophischen Charakter ausgehen. Gegen solch eine vollkommene Einheitlichkeit sprechen allerdings die Beschreibungen in Rep. VII (vgl. Kap. 3.3.3). 709 Weiss ist der Ansicht, dass die Dialektiker »sharp-sighted« seien, aber in keiner Weise philosophisch. Sie wären zwar klug, aber dennoch schlechte Menschen (vgl. 2012, S. 67 f. und Rep. VII 519a2, die sie dafür zitiert). 710 Es ist richtig, dass der Zwang bei den kallipolis-Philosophen offenbar eine größere und bedeutendere Rolle spielt (vgl. Kap. 3.3.3); es erscheint daher plausibel, dies mit der nicht vollkommenen Herrschaft des logistikon im Charakter der kallipolis-Philosophen zu erklären (vgl. Kap. 3.3.3).

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Nach Weiss’ Logik müssten nun beide Philosophenarten ungerecht sein, da sie sich nicht um die Angelegenheiten der Menschen kümmern wollen. 711 Allerdings ist ihre Interpretation der Gerechtigkeit in meinen Augen nicht haltbar, da sie nicht durch den Text gestützt wird und Sokrates Gerechtigkeit klar als eine auf das Individuum bezogene Tugend charakterisiert (vgl. Rep. IV 443c9–d1 712). Wenn man dies als Definition der Besonnenheit nimmt, müsste man Sokrates vorwerfen, an dieser Stelle explizit zu lügen, da nicht einfach die Definition vage oder offen gelassen wird, sondern klar als solche der Gerechtigkeit zugesprochen wird. Zudem lassen sich trotz der Nähe der Definitionen der beiden Tugenden auch Unterschiede zwischen ihnen ausmachen: So ist Gerechtigkeit auf die konkrete korrekte Ausübung der jeweiligen Aufgabe der Seelenteile konzentriert, wohingegen Besonnenheit zwar dadurch entsteht, aber den Fokus auf der so entstandenen Harmonie und Einstimmigkeit hat (vgl. Rep. IV 431e7–432a9, 442c10–d3). Darüber hinaus würde, wenn man dem Dialektiker die Gerechtigkeit abspräche, das ganze Projekt der Politeia ad absurdum geführt, da schließlich das gerechteste und ungerechteste Leben miteinander verglichen werden (vgl. Rep. IX 576b11–588a11) und dort der Philosoph als Vertreter des gerechten Lebens fungiert und es keinen Anlass gibt, den dort beschriebenen Philosophen vom Dialektiker aus Buch VII scharf zu trennen.

711 Genau das ist aber bei ihr ausgeschlossen, da es sich hier um die ihrer Meinung nach echten Philosophen handelt. Der Zwang sei nur nötig aufgrund deren »fear of corruption or death« (Weiss 2012, S. 30; vgl. ebd., S. 29 f.). Das Desinteresse des Philosophen an menschlichen Angelegenheiten – oder zumindest sein Mangel an Zeit für Derartiges – zeigt sich aber auch an einer vorhergehenden Textstelle: »›Denn wer, mein Adeimantos, sein Auge auf das Seiende wahrhaft richtet, der hat keine Zeit, herauszuschauen auf das Tun und Treiben der Menschen und im Kampf mit ihnen sich mit Neid und Haß zu erfüllen. […]‹« (Οὐδὲ γάρ που, ὦ Ἀδείμαντε, σχολὴ τῷ γε ὡς ἀληθῶς πρὸς τοῖς οὖσι τὴν διάνοιαν ἔχοντι κάτω βλέπειν εἰς ἀνθρώπων πραγματείας, καὶ μαχόμενον αὐτοῖς φθόνου τε καὶ δυσμενείας ἐμπίμπλασθαι, […]; Rep. VI 500b8–c2). Diese Textstelle führt auch Weiss an, interpretiert sie aber so, dass die Philosophen aufgrund ihres Dranges zu den Ideen keine Zeit für menschliche Angelegenheiten hätten, ohne dies in Bezug zu den Philosophen der kallipolis zu setzen (vgl. ebd., S. 29). 712 »›In Wahrheit, solcher Art ist zwar die Gerechtigkeit, aber sie bezieht sich nicht auf die äußeren Auswirkungen des Menschen, sondern auf seine innere Haltung, auf sein Selbst und sein Wesen; […]‹« (Τὸ δέ γε ἀληθές, τοιοῦτόν τι ἦν, ὡς ἔοικεν, ἡ δικαιοσύνη ἀλλ’ οὐ περὶ τὴν ἔξω πρᾶξιν τῶν αὑτοῦ, ἀλλὰ περὶ τὴν ἐντός, ὡς ἀληθῶς περὶ ἑαυτὸν καὶ τὰ ἑαυτοῦ, […]).

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Daher erscheint es plausibel, von bestimmten philosophischen Anlagen zu sprechen 713, die es als einzige rechtfertigen und einen Menschen dazu befähigen, Herrscher einer Polis zu sein, sofern diese gerecht sein soll. Das Gold, das diese Menschen in sich tragen, zeichnet sich dabei durch einen (mehr oder weniger starken) Drang und eine Liebe 714 zu den Ideen aus sowie neben anderen Merkmalen durch einen gerechten Charakter. Platons Sokrates betrachtet diese Naturen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten: (1) als Philosophen, die trotz widriger Umstände ihre Natur bewahren und zu Herrschern und damit zu Gründern der kallipolis werden – diese Philosophen stellen die höchste und beste Charakterart dar, da sie ausschließlich von ihrem logistikon dominiert werden, (2) als Philosophen, die in der kallipolis erzeugt und erzogen werden – diese Charaktere sind im Vergleich zu (1) leicht defizitär, insofern neben dem logistikon auch das thymoeides seinen Einfluss ausübt; goldene Anlagen besitzen dennoch beide und sind damit mit angeborenen vernünftigen Anlagen ausgestattet. Der Philosoph zeichnet sich in beiden Fällen durch den vollständigen Besitz der vier Kardinaltugenden aus, und zwar der philosophischen. Ich stimme Jenkins’ Sichtweise zu, dass die Tugenden zunächst habitualisiert werden müssen und erst nach der Schau der Ideen zu philosophischen werden. 715 Der Besitz der phronêsis gewährleistet zwar automatisch den Besitz von philosophischen Tugenden (vgl. Phd. 69a6–b5); die Weisheit, die die Philosophen besitzen, wird aber erst durch die Schau der Ideen und insbesondere der Idee des Guten vervollständigt. 716 713 Diese Anlagen und Merkmale eines philosophischen Charakters werden des Öfteren wiederholt (vgl. Rep. V 475b8–c8, 479e7–480a13, VI 485a10–487a6, 489e3– 490d7, 494a12–b3, 503c2–504a1, VII 535a9–536b6). Die Unterschiede, die sich hier zwischen den Definitionen feststellen lassen, scheinen aber m. E. nicht auf unterschiedliche Charaktere schließen zu lassen, da nicht völlig andere Eigenschaften genannt werden, sondern teilweise einfach nicht alle Tugenden aufgezählt werden oder eine weitere hinzugefügt wird. Wie Rosen gehe ich eher von unpräzisen Aussagen aus (vgl. Rosen 2005, S. 232). 714 Vgl. für den Drang (hormê/horman) des Philosophen Rep. VII 532a7 und X 611e1–612a3 sowie für den philosophischen Eros v. a. Rep. VI 485a10–d5 und 501d1–3. 715 Vgl. Jenkins 2010, S. 153 f. 716 Gegen Weiss 2012, S. 36 (Fn. 69), 64 f. Sie nimmt die Aussage aus Rep. VII 518d9– 519a6 zum Anlass, die Trennung der Denkfähigkeit (phronêsai) von den anderen Tugenden als Unterscheidungsmerkmal zu den außerhalb der kallipolis entstandenen Philosophen zu sehen, da diese durch ihre Weisheitsliebe auch automatisch an den anderen Tugenden teilhätten, während die hier erwähnten Philosophen in beide Rich-

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Nachdem nun festgestellt wurde, dass in den Büchern der Politeia stets von derselben philosophischen Natur die Rede ist, der zwei sehr ähnliche Charakterarten entsprechen, bleiben in diesem Abschnitt zwei wichtige Fragen zu beantworten, nämlich (1) wie genau diese natürlichen Anlagen und die beiden Charakterarten genau aussehen, wodurch sie sich insbesondere im Unterschied zu anderen Charakteren unterscheiden und welche Implikationen dies für die Polis hat, sowie (2) wie die beiden Arten von Zwang (zur Kontemplation und zur Regierungsbeteiligung) nun zu erklären sind und ob der Philosoph dennoch ein glückliches Leben führt.

3.3.2 Göttliche Philosophen? Dass sich philosophische Charaktere bei beiden Arten durch den Besitz der Kardinaltugenden wie durch das Streben nach Erkenntnis auszeichnen, ergibt sich bereits aus der obigen Zurückweisung der Trennung in vollkommen unterschiedliche Charaktere und der damit einhergehenden Annahme einer philosophischen Natur. 717 Inwieweit diese Auffassung in Konflikt mit der Beschreibung des Philosophen in Buch VII steht und wie dieser gelöst werden kann, wird in Kap. 3.3.3 behandelt, da die Thematik von Gerechtigkeit und Weisheitsstreben des Philosophen eng mit dem Glück der Philosophen und dem dort beschriebenen Zwang zu regieren zusammenhängt. Das wohl bedeutendste Merkmal aber, das die Philosophen 718 von den übrigen menschlichen Charakteren unterscheidet, ist ihr Bezug tungen gezogen werden könnten (vgl. 2012, S. 65). Allerdings stellt diese Passage m. E. einen klaren Rückverweis zur Beschreibung des Philosophen aus Rep. VI dar, da auch dort auf die Gefahr hingewiesen wird, dass philosophische Naturen korrumpierbar sind (vgl. Rep. VI 491e1–3). Weiss hat selbst zugestimmt, dass die besten Naturen dort die echten Philosophen bezeichneten (vgl. 2012, S. 67). Sie sieht ebenfalls die Nähe der Beschreibungen und kommentiert dies folgendermaßen: »But whereas Book 6’s corrupted philosophic natures start out good and are made bad, Book 7’s philosophers start out bad and have to be made good.« (ebd., S. 67) Zur Veränderung und Entwicklung des Charakters vgl. Kap. 2. 717 Darüber hinaus bestätigen diese Annahme zahlreiche Textstellen: vgl. dazu die Beschreibungen des Philosophen in Rep. V 475b8–c8, 479e7–480a13, VI 485a10– 487a6, 489e3–490d7, 494a12–b3, 503c2–504a1, VII 535a9–536b6. 718 Wenn hier von Philosophen gesprochen wird, sind beide Varianten (d. i. Typ 1 und 2 gemäß des Phaidros-Schemas) gemeint, da die Gottähnlichkeit bei beiden Varianten deutlich wird.

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zum Göttlichen und damit zu den Ideen. Im Folgenden soll untersucht werden, ob der Philosoph selbst bereits als göttlicher Charakter bezeichnet werden kann oder ob ihm lediglich eine Gottähnlichkeit zugeschrieben werden kann. In beiden Fällen hebt sich der Philosoph stark von gewöhnlichen Menschen ab, sodass seine Charakterbeschreibung die Voraussetzung und Rechtfertigung für den gesamten Aufbau der kallipolis darstellt, da nur ein so gearteter Charakter andere Charaktere optimieren und das Glück aller sichern kann. Zunächst mag es verwundern, dass diese Frage überhaupt gestellt werden muss, da es klar scheint, dass der Philosoph als Teilnehmer an den menschlichen Angelegenheiten und Besitzer einer dreigeteilten Seele – da er meist in einer Polis und nicht völlig autark lebt und die aus dem Körper entspringenden Bedürfnisse befriedigen muss – keinen göttlichen Charakter besitzen kann. Dafür sprechen auch einige Textstellen: So sollen die Wächter göttlich werden, soweit dies einem Menschen möglich ist (vgl. Rep. II 383c3–5); selbst die edelsten Naturen können durch schlechte äußere Einflüsse wie eine falsche Erziehung verdorben werden (vgl. Rep. VI 491e1–3), wohingegen Götter demgegenüber völlig immun sind (vgl. Rep. VI 492e2– 493a2), und bei der Degeneration der kallipolis wird zudem deutlich, dass die Hochzeitszahl, die schließlich verfehlt wird, für die sterblich Gezeugten und damit auch für die Kinder der kallipolis (mit philosophischen, kriegerischen oder handwerklichen Anlagen) gilt, für die göttlich Gezeugten aber die »vollendete Zahl« (vgl. Rep. VIII 546b4: arithmos teleios). Darüber hinaus ist die philosophische Aktivität durch eine Nachahmung der Ideen bestimmt (vgl. Rep. VI 500b8–c7). Bestimmte Merkmale des Philosophen wiederum lassen doch einen göttlichen Charakter vermuten: So wird ihm die Fähigkeit der »Schau über alle Zeit und alles Sein« (vgl. Rep. VI 486a8–9) zugesprochen. Zudem sei er »frei von Trug« (vgl. Rep. VI 485c3–4: »Tên apseudeian kai to hekontas einai mêdamêi prosdechesthai to pseudos alla misein, tên d’ alêtheian stergein.«), was an die typoi peri tês theologias erinnert (vgl. insbesondere Rep. II 382e6: »Pantei ara apseudes to daimonion te kai to theion.«) und dadurch noch verstärkt wird, dass ihm eine göttergleiche Verehrung zustehe (vgl. Rep. VII 540b7–c2). Die wohl klarste Textstelle, die für die Göttlichkeit des philosophischen Charakters spricht, findet sich in Sokrates’ Aussage im Rahmen der Definition des Philosophen, dass in der Idealverfassung das wahre Wesen des Philosophen zum Vorschein komme und es sich dann zeige, dass er in Wahrheit göttlich sei; hier wird besonSeelen im Wandel

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ders stark der Unterschied zu den menschlichen Naturen hervorgehoben (vgl. Rep. VI 497b1–c3). Obwohl sich die beiden Ansichten zunächst zu widersprechen scheinen, ist es m. E. doch plausibel, dass Platon Sokrates sowohl die Gottähnlichkeit als auch die Göttlichkeit des Philosophen betonen lässt. Die Gottähnlichkeit und die Einschränkung und Teilhabe am menschlichen Bereich, die damit für den Philosophen einhergeht, ist notwendig, um einerseits offensichtliche empirische Tatsachen erklären zu können wie die Fehlentwicklung von im Grunde sehr begabten Naturen. Noch entscheidender ist diese Auffassung aber für die Degeneration der kallipolis selbst, deren Erklärung ohnehin recht unklar erscheint, die aber gänzlich unmöglich würde, wären vollkommen göttliche Charaktere an der Regierung. Diese Verfallsdarstellung wiederum ist nötig, um zu zeigen, wie Verfassungen und Charaktere überhaupt degenerieren können, und um schließlich zum vollendet ungerechten Charakter zu gelangen, der für das Hauptprojekt der Politeia mit dem vollendet gerechten Charakter verglichen wird (vgl. Rep. IX 576b11–588a11). Zugleich muss aber auch die Göttlichkeit des Philosophen hervorgehoben werden, da ihn dies noch stärker von den gewöhnlichen Menschen abgrenzt und damit die Forderung des Philosophenkönigssatzes seine ganze Wirkkraft entfalten kann. Göttern zu gehorchen, werden die Bürger viel eher gewillt sein, u. a. weil deren Klugheit und Einsicht nicht angezweifelt wird und die von diesen göttlichen Menschen aufgestellten Gesetze mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit eingehalten werden. Die Rechtfertigung für die Konstituierung einer kallipolis ist somit in viel stärkerem Maße gegeben. Um den scheinbaren Widerspruch aufzulösen, der sich aus der zuvor erwähnten Stelle aus Rep. VI 497b1–c3 im Vergleich mit den Gottähnlichkeitspassagen ergibt, scheint es sinnvoll, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass Sokrates dort nicht den Philosophen im Allgemeinen als göttlich bezeichnet, sondern dessen wahres Wesen. Daraus könnte man schließen, dass das wahre Wesen des Philosophen in seiner vernünftigen Natur besteht, die klarerweise göttlich ist. Durch die Verbindung während des Lebens mit epithymêtikon und thymoeides ist aber zugleich sichergestellt, dass der Philosoph im Diesseits eben nicht vollständig sein wahres Wesen zum Ausdruck bringen kann. 719 719 Diese Textstelle könnte als weiterer Beleg für die Interpretation herangezogen werden, die beim Unsterblichkeitsbeweis der Seele von einem unsterblichen logisti-

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Dennoch hat der Philosoph im Unterschied zu den gewöhnlichen Menschen die Möglichkeit, »den höchstmöglichen Grad von Gottverähnlichung« 720 zu erreichen, wie bereits Ada Babette Hentschke festgestellt hat. Und genau dieser Mensch werde ihr zufolge von Platon als »göttlich« bezeichnet, d. h. derjenige, »der die Verähnlichung so weit als möglich vollzogen hat oder sich darum bemüht.« 721 So kann festgehalten werden, dass der Philosoph eine Art Bindeglied und Mittler zwischen der unveränderlichen Welt der Ideen und der Welt des Werdens einnimmt, der seine Kenntnis von den wahren Wesenheiten stets auf die Verhältnisse im Diesseits anzuwenden und abzubilden versucht, wie sich insbesondere an der Gründung des Idealstaates ausmachen lässt (vgl. Rep. VI 501b1–7). 722 Warum der Philosoph aber dazu gezwungen werden muss – sowohl zur Schau der kon ausgeht (vgl. für unterschiedliche Interpretationen von Rep. X 612a3–5 u. a. Graeser 1969 und Szlezák 1976). Dennoch ist es fraglich, ob sich der Philosoph direkt nach dem Tod nur noch durch das logistikon auszeichnet, u. a. aufgrund der Beurteilung vor dem Totengericht und Aussagen, die der Seele zuschreiben, deren Erziehung mit ins Jenseits zu nehmen (vgl. dafür u. a. schon Phd. 107c8–d5 und Rep. X 614b2– 621d3). Für eine Betrachtung des Charakters im Jenseits mit Bezug auf die Bestrafung vgl. Kap. 2.4.2 (zum Teil auch schon in Kap. 2.2). 720 Hentschke 1971, S. 36. 721 Ebd., S. 223 (Fn. 118). Grundsätzlich gelte die Forderung der homoiôsis theô zwar i für alle Menschen, aber »die Sonderstellung des Philosophen geht darauf zurück, daß er allein in der Wirklichkeit seiner Zeit sie zu erfüllen sucht« (ebd., S. 25) und sie eben auch in höherem Maße verwirklichen kann (vgl. ebd., S. 25, 36). Auch Hentschke betont, dass der Staat letztlich vom Individuum und dessen Gottverähnlichung abhänge (vgl. ebd., S. 134). Diese Gottverähnlichung sieht sie zugleich als »›Selbstentäußerung‹« (ebd., S. 141) an, da jegliche Individualität dabei aufgegeben werde. Individuell scheint der Mensch für sie nur durch seine körperlichen Gegebenheiten zu sein, durch die homoiôsis theôi werde »die Einzelheit des Menschen als Körperwesen« (ebd., S. 141) aufgehoben (vgl. ebd., S. 141). Sie betont auch später, dass die individuelle Seele »Ausdruck der jeweiligen menschlichen Physis« sei und »der Körper als das ›principium individuationis‹« fungiere (ebd., S. 145). 722 In diesem Sinne entspricht die Beschreibung des Philosophen in der Politeia der Definition der Seele im Phaidon, und zwar im Kontext des Ähnlichkeitsargumentes: Auch die Seele nimmt eine Mittelstellung ein, obwohl sie im Grunde zu den Ideen strebt, aber eben nicht vollständig mit diesen zusammenfällt (vgl. Phd. 78b4–81a11). Auch die Seele fühlt sich behindert durch das Verweilen in der Welt des Werdens und möchte rein mit der Vernunft zu Erkenntnis gelangen (vgl. Phd. 64d2–67b6). Angewendet auf die Analogie von Polis und Seele und der Seelendreiteilung lässt sich konstatieren, dass das wahre Wesen des Philosophen dem vernünftigen und obersten Seelenteil entspricht, der zwar herrschen muss und sich notwendigerweise mit den menschlichen Angelegenheiten befassen muss, aber darauf aus ist, mit seinem vernünftigen Seelenteil zur Kontemplation der Ideen zu gelangen. Seelen im Wandel

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Ideen als auch zur Anwendung dieser auf die zu gründende Polis –, muss noch herausgefunden werden. Im nächsten Abschnitt wird daher der Frage nach dem Glück des Philosophen nachgegangen, das – folgt man Rep. IX – zweifellos anerkannt werden muss, zugleich aber durch den Zwang zum Abstieg in die Höhle möglicherweise in Gefahr gerät.

3.3.3 Der Zwang und das Glück der Politeia-Philosophen Bevor näher auf die beiden Aspekte der Zwangsproblematik eingegangen wird, die nach Meinung einiger Forscherinnen und Forscher dem Glück des Philosophen zuwider läuft 723, muss zuvor ein damit eng verbundenes Problem angesprochen werden, nämlich das einer möglichen Verletzung der oikeioprageia. Wie oben bereits erwähnt, kritisiert Vegetti zwar, dass das Problem von vielen Forschern aufgeworfen, aber im Anschluss nicht gelöst wurde. 724 Diese Kritik ist durchaus berechtigt, das Problem kann aber – wie ebenfalls gezeigt – nicht durch eine Trennung der Konzeptionen des Philosophen bewältigt und auch nicht nur einer dieser Konzeptionen zugesprochen werden. Für Weiss erledigt sich das Problem ohnehin, da sie die Gerechtigkeitsdefinition aus Rep. IV nicht anerkennt. Sie argumentiert auf folgende Weise: (1) Die Forderung an die philosophers by design (d. i. zu regieren) sei nicht gerecht i. S. d. (fälschlichen) Gerechtigkeitsdefinition der Politeia, da sie keine Schuld zu begleichen hätten – sie hätten nicht um eine Erziehung gebeten, noch hätten sie diese mit Freude durchlaufen. 725 (2) Nach Weiss’ Interpretation der Definition der Gerechtigkeit muss die Forderung an die Philosophen, sich an der Regierung zu beteiligen, aber durchaus gerecht sein, da sie sich so um andere kümmern würden (worin eben gerade die eigentliche Gerechtigkeit bestehe). 726 723 Vgl. die Übersicht in Buckels (2013, S. 64–67), der u. a. auch Annas 1981 nennt, die den Abstieg als ein Verfolgen eines impersonalen Guten sieht (vgl. S. 267–271, 334), und Rosen 2005, der die Rückkehr als etwas Schlechtes für den Philosophen ansieht, das dessen Glück zerstört (vgl. S. 277 f.). 724 Vgl. Vegetti 2000, S. 359–361. 725 Vgl. Weiss 2012, S. 100–102. 726 Vgl. ebd., S. 121 und Kapitel 5.

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(3) Die Philosophen müssen zum Abstieg gezwungen werden (external compulsion) und wollen sich nicht um ihre Mitmenschen kümmern. 727 (4) Die philosophers by design sind nicht gerecht und keine echten Philosophen, da sie Gerechtigkeit vermutlich nur als extrinsisches Gut betrachten und nur die zweite Stufe der Gerechtigkeit erreichen würden. 728 (4) steht in Widerspruch zu (1), da nicht klar ist, warum ungerechte Menschen zu ungerechten Handlungen gezwungen werden müssten. Weiss entgeht diesem Widerspruch, indem sie (1) ganz einfach nicht als echte Gerechtigkeitsdefinition akzeptiert. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Gerechtigkeitsdefinition aus Rep. IV ihre Gültigkeit hat und sich dadurch dennoch kein Problem der oikeioprageia ergibt bzw. dass sich die Lösung dieses Problems in der korrekt verstandenen Definition der Gerechtigkeit finden lässt. 729 Eine Verteidigung der Definition der Gerechtigkeit aus Rep. IV wurde bereits oben ansatzweise ausgeführt, indem der Unterschied zur Besonnenheit dargelegt wurde. Für das Problem der oikeioprageia ist aber eine ausführlichere Erklärung nötig. Es erscheint sinnvoll, die Definition von Gerechtigkeit und Besonnenheit auf verschiedenen Stufen anzusiedeln; ich gehe dabei von meiner Meinung nach klar von Sokrates konstatierten Prämissen aus: (1) Gerechtigkeit besteht darin, dass jeder Seelenteil das Seine tut und hat (vgl. Rep. IV 433e12–434a1, 441d8–10, 443c9–e2). (2) Das Seine bedeutet für jeden Seelenteil etwas anderes: (2a) Das logistikon übt die Tugend der Weisheit aus und herrscht über die beiden anderen Teile, (2b) das thymoeides übt die Tugend der Tapferkeit aus und fungiert als Helfer des logistikon, (2c) das epithymêtikon befriedigt seine notwendigen Begehren, indem es die Vgl. ebd., S. 94, 107–112. Vgl. ebd., S. 114, 145–149 (Darlegung der fünf Stufen der Gerechtigkeit: 1. Verzicht auf Ungerechtigkeit aus den falschen Gründen, 2. Verzicht auf Ungerechtigkeit aufgrund der eigenen Besonnenheit, 3. Ausüben der Gerechtigkeit aus Sorge um andere, 4. Bedürfnis, Gerechtigkeit in anderen hervorzubringen oder zu fördern, 5. Frömmigkeit), 153. 729 Die hier angeführte Argumentation von Weiss ist bei der Lösung der Zwangsproblematik relevant, die auf diese Weise nicht gelöst werden kann. Ich argumentiere dabei für die Ansicht, dass die Forderung, in die Höhle zurückzukehren, durchaus gerecht ist, stimme zugleich aber (3) zu. Wie der scheinbare Konflikt gelöst werden kann, wird weiter unten ausgeführt. 727 728

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Herrschaft des logistikon anerkennt (vgl. Rep. IV 435b4–7, 441d8–e2, 442a4–d1). (3) Eine erste vorläufige Definition der Besonnenheit ist bereits mit (2c) erreicht (vgl. Rep. IV 430e6–10, 431a3–b2, 431d4–8), bezeichnet aber noch nicht die vollständige Besonnenheit, sondern eine Art logische Vorstufe davon. (4) Die vollständige Besonnenheit ergibt sich erst aus dem Vorliegen der Gerechtigkeit und geht automatisch mit ihr einher (vgl. Rep. IV 443c9–e2), sodass (1) und (2) Bedingungen für (4) sind. Wenn man sich nun (2) näher ansieht, entsteht zunächst der Eindruck, dass das Seine zu tun offenbar nicht voraussetzt, numerisch eine einzige Funktion zu erfüllen: Denn alle drei Seelenteile – und aufgrund der Analogie auch alle drei Gruppen der Polis – hätten so das Problem der oikeioprageia, da jeder Teil offensichtlich zwei Aufgaben ausführt. So könnte man davon ausgehen – u. a. da Platons Sokrates diese Doppelfunktion nicht als Problem benannt hat –, dass »das Seine« zwar als eine Aufgabe angesehen wird, die aber zwei Aspekte beinhaltet, sodass man von einer intrinsischen und einer relationalen Funktion sprechen kann. Die intrinsische Aufgabe des logistikon und der Philosophen in der kallipolis bestünde dann im Ausüben der Weisheit, ihre relationale Aufgabe aber im Herrschen über die beiden anderen Teile. Dies erscheint folgerichtig, da das Verhalten der Menschen – abgesehen von Rep. X – im Diesseits betrachtet wird und man sich neben dem Ausüben der intrinsischen Funktion, d. h. derjenigen, die unabhängig von der Existenz der anderen Teile besteht, auch in die Polisgesellschaft einfügen muss und der jeweilige Seelenteil sich mit den beiden anderen koordinieren muss. Betrachtet man aber die Verwendungsweise von ta hautou prattein in Rep. IV genauer, so wird deutlich, dass die hier als intrinsisch bezeichnete Funktion gar nicht als ein solches Ausführen der eigenen Aufgabe angesehen wird: »Der Staat erschien uns dann als gerecht, wenn in ihm drei Arten von Naturen sind, deren jede ihre Aufgabe erfüllt, zudem aber besonnen, tapfer und weise wegen anderer Eigenschaften und Haltungen dieser drei Naturen.« (Rep. IV 435b4–7) 730

730 Ἀλλὰ μέντοι πόλις γε ἔδοξεν εἶναι δικαία ὅτε ἐν αὐτῇ τριττὰ γένη φύσεων ἐνόντα τὸ αὑτῶν ἕκαστον ἔπραττεν, σώφρων δὲ αὖ καὶ ἀνδρεία καὶ σοφὴ διὰ τῶν αὐτῶν τούτων γενῶν ἄλλ’ ἄττα πάθη τε καὶ ἕξεις.

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»Das Seine zu tun« scheint vielmehr die relationale Aufgabe zu den anderen Polis- oder Seelenteilen zu bezeichnen, wohingegen der Besitz der Tugenden als Eigenschaft oder Haltung des jeweiligen Teils aufgefasst wird und nicht als Aufgabe, die ausgeführt werden muss. 731 Dass man natürlich dennoch gemäß den Tugenden handeln soll, steht außer Frage, da nur so das seelische Gleichgewicht erzeugt und bewahrt werden kann (vgl. Rep. IV 443e4–444a2, 444c10–d2, 444e4–6). 732 Eine solche Interpretation der eigenen Aufgabe der jeweiligen Seelenteile fügt sich auch nahtlos in die Definition der Gerechtigkeit ein, da diese in der spezifischen Hexis und Praxis des jeweiligen Seelenteils besteht, wobei die Bestimmung der Hexis die jeweilige Praxis konstituiert und damit normativ für diese ist, wie sich v. a. an Rep. IV 441e4–7 festmachen lässt: Aufgrund der Weisheit kommt dem logistikon das Herrschen zu, aufgrund der Tapferkeit dem thymoeides die Helferfunktion und da das epithymêtikon in

731 Auch Woods 2010 sieht das Philosophieren nicht als Aufgabe, sondern nur das Regieren. Es wird allerdings keinerlei Begründung für diese These angeführt, sondern lediglich zwischen philosophischer Tätigkeit (Regieren) und philosophischem Gut (Kontemplation) unterschieden (vgl. S. 5). Vgl. außerdem Rep. IV 443b1–3, wo deutlich wird, dass Herrschen bzw. Gehorchen als die Aufgabenerfüllung der jeweiligen Seelenteile angesehen wird. Weiss erwähnt die oikeioprageia und konstruiert das Problem zwischen den beiden Tätigkeiten von philosophischen Studien und militärischer Ausbildung, die der Philosophenkönig vereinen müsse (vgl. 2012, S. 51–55). M. E. muss der Philosophenkönig zwar auch im Krieg ausgebildet sein, seine eigentliche Aufgabe besteht aber im Herrschen, die nicht vollkommenen Wächter hingegen kümmern sich um die militärischen Aufgaben. So kann auch Rep. VII 525b8–9 so gelesen werden, dass der Philosoph eine kriegerische Ausbildung erhält und – solange er noch nicht für das Philosophenkönigtum qualifiziert ist – militärische Aufgaben ausführt (vgl. Rep. VII 539e2–5). Dabei wird aber keinerlei Art der oikeioprageia verletzt. So wie die Wächter in ihren militärischen Tätigkeiten ihre Tapferkeit zum Ausdruck bringen und damit den Philosophenkönigen helfen, geschieht dies bei den Philosophen mit der Weisheit während der Kontemplation, die dadurch ihre Herrscherfunktion gut ausüben. Ich stimme in diesem Punkt Woods zu, der die Kontemplation als notwendig für ein gutes Regieren der Philosophen ansieht (vgl. 2010, S. 12). 732 Vgl. außerdem Buckels 2013, der auf dieses kausale Verhältnis hinweist und die von einigen Forschern (vgl. u. a. Sachs 1963) als Problem konstatierte Lücke zwischen gerechtem Sein und gerechtem Handeln überzeugend löst (vgl. S. 71–75). Mahoney hingegen betont stark die umgekehrte Kausalität (vgl. 1992, S. 275). Allerdings widersprechen sich diese Ansichten m. E. nicht, da sowohl gerechte Handlungen gerechte Seelen erzeugen als auch umgekehrt der Besitz einer gerechten Seele es gewährleistet, dass man gerecht handelt (vgl. Rep. IV 442d10–443b6, 444c10–d2).

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einer richtig geordneten Seele besonnen ist, besteht seine Aufgabe in der Unterordnung unter die anderen beiden Seelenteile. 733 Daher sehe ich in der Forderung zu regieren keine Zerstörung des seelischen Gleichgewichts und damit keine Erzeugung von Ungerechtigkeit in den Seelen der Philosophen. 734 Nachdem nun dies geklärt wurde, steht nichts mehr im Wege, diese Forderung als gerecht anzusehen und die Zwangsproblematik aufzurollen. Dabei wird einerseits diskutiert, (i) warum die Philosophen zur Ideenschau gezwungen werden müssen und wie andererseits auch der Zwang (ii) zur Rückkehr in die Höhle zu erklären sein könnte, und dafür argumentiert, dass beide Arten des Zwanges ihren Grund im charakterlichen Aufbau der philosophischen Seele haben. Zu (i): Diese erste Art des Zwanges wurde bisher vergleichsweise wenig diskutiert. 735 Die Problematik ergibt sich daraus, dass ein Beim epithymêtikon wird dies nicht explizit konstatiert; es scheint mir aber aus dem Kontext und insbesondere aus Rep. IV 442a4–b3 und 443b1–3 hervorzugehen. 734 Viele Forscher haben zwar ohnehin dafür argumentiert, dass durch das Nachkommen dieser Aufforderung Gerechtigkeit in der Seele erzeugt oder erhalten würde (vgl. u. a. Smith 2010, Buckels 2013). Caluori 2011 geht von einer »practical necessity« (S. 21) aus, die aus den gerechten Seelen der Philosophen entspringt, sodass sie innerlich motiviert seien, in die Höhle zurückzukehren (vgl. v. a. S. 21). Allerdings wird bei diesen Interpretationen das Problem des möglichen Verletzens der oikeioprageia übergangen, nicht erkannt oder einfach nicht zu lösen versucht. Für die Auffassung, dass Philosophen in der kallipolis Theorie und Praxis in sich vereinigen, vgl. z. B. Ferber 1989 (S. 130–134), Schwartz 2013 (v. a. S. 255–257). 735 Vgl. Wagner 2005, Shields 2007b, Barney 2008 und Weiss 2012. Wagner, Shields und Weiss suchen den Grund für die mögliche Behinderung am Aufstieg in unterschiedlichen Seelenvermögen (s. u.). Barney konzentriert sich auf die Erklärung des Zwanges innerhalb der Metapher des Höhlengleichnisses und sieht dabei drei verschiedene Möglichkeiten des Aufstiegs: (1) durch das Curriculum, das den Zwang später revidiert, (2) durch einen Philosophen wie Sokrates, der einen von den Fesseln befreit und (3) durch den philosophischen Eros (vgl. 2008, S. 360–364, 368–371). Hier soll allerdings nicht der Zwang im Kontext des Höhlengleichnisses näher diskutiert werden, da es m. E. plausibel scheint, dort von einer bereits bestehenden Gesellschaft auszugehen, d. h. von erwachsenen Menschen, die größtenteils schlechte Charaktere entwickelt haben und nun auch schlecht umzuformen sind – daher müssen die Gefangenen zum Aufstieg gezwungen werden (vgl. Rep. VII 514a5–6, 515a9–b1; dies würde Barneys zweiter Möglichkeit entsprechen). (1) scheint mir im Übrigen nicht haltbar, da am Ende von Buch VII erneut auf den Zwang zur Schau der Idee des Guten hingewiesen wird (vgl. Rep. VII 540a4–8). Für eine nähere Betrachtung der Darstellung der Erziehung auch unter dem Aspekt der möglichen Veränderung erwachsener Menschen vgl. Kap. 2.1; das Gleichnis scheint m. E. für die Schwierigkeit einer periagôgê bei Erwachsenen zu sprechen, sodass auch die Forderung nach der Verbannung von allen Bürgern, die älter als zehn Jahre alt sind, nachvollziehbarer wird (vgl. Rep. 733

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Mensch mit philosophischen Anlagen, der das Erziehungscurriculum der kallipolis fast vollständig durchlaufen hat und dies nun durch die Schau der Idee des Guten zur Vollendung bringen soll, zu diesem Akt gezwungen werden muss, obwohl man meinen sollte, dass einerseits aufgrund seiner Naturanlagen, die auch seinen natürlichen Drang zu den Ideen beinhalten, und aufgrund der bisherigen optimalen Erziehung keinerlei Zwang mehr nötig sein sollte. Ellen Wagner analysiert dieses Problem ausführlich und sucht die Lösung in der seelischen Struktur des Philosophen: Da der Philosoph noch nicht das Gute geschaut hat, ist seine Seele noch nicht vollkommen geordnet. Wagner sieht das thymoeides als mögliche Gefahr, da dieser Seelenteil den Philosophen auch an diesem Punkt noch von der Vollendung des Curriculums abhalten könne, und zwar aufgrund möglicher falscher Vorstellungen des Guten. Das thymoeides treibt die Seele des Philosophen daher dazu an, diese falsche Vorstellung zu verfolgen; die Kenntnis vom wahren Guten ist schließlich noch nicht erreicht. 736 Christopher Shields stimmt Wagner in diesem Punkt zu; sein Fokus liegt allerdings auf der Art des Zwanges, der in der Politeia zum Ausdruck kommt. Für die entscheidenden Textstellen, aus denen hervorgeht, dass die Philosophen dazu genötigt werden müssen, das Gute zu schauen, macht er zwar einen äußeren Zwang aus, der aber nur hypothetischer Natur sei. Um diesen letzten Punkt zu untermauern, verweist er insbesondere auf die meist unpersonalen Formulierungen, die im Griechischen verwendet würden. 737 Da Weiss aber hier von mangelhaften Philosophen ausgeht, denen sie nicht einmal eine philosophische Natur zugesteht, sondern sie als appetitive Menschen kennzeichnet, weist sie diese Sichtweise zurück und macht das epithymêtikon dafür verantwortlich, diese für sie vermeintlichen Philosophen schließlich doch noch von der Schau der Idee des Guten abzuhalten. 738 Weiss bemerkt, dass die Philosophen bei ihrem 15 Jahre dauernden erneuten Aufenthalt in der Höhle wieder anfällig sind für Lüste und Begehren. 739 Klar ist aber, dass der Philosoph – wie auch jeder VII 536d1–4 und 540e5–541b1, wo Platons Sokrates selbst auf Schwierigkeit und Leichtigkeit hinweist). 736 Vgl. Wagner 2005, S. 99–101. 737 Vgl. Shields 2007b, S. 33–37. 738 Vgl. Weiss 2012, S. 74 f. 739 Vgl. ebd., S. 73–75. Seelen im Wandel

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andere Bürger der kallipolis – eine dreiteilige Seele besitzt, sodass – wenn diese noch nicht vollkommen geordnet ist –, er von beiden unteren Seelenteilen vom Weg zur Idee des Guten abgelenkt werden könnte und sich die beiden Sichtweisen nicht widersprechen. Dennoch ist dieser Lösungsansatz nicht ganz zufriedenstellend, da die Seele – wenn auch noch nicht vollkommen geordnet – bereits so gut trainiert sein müsste, dass man erwarten könnte, dass sie den rationalen Bedürfnissen des logistikon folgen würde. Gegen Shields’ Lösung erscheint es mir unplausibel, von einem nur hypothetischen Zwang auszugehen, den die Idee des Guten auferlegt. In der Externalität des Zwanges stimme ich mit ihm überein; allerdings kann man die Idee des Guten m. E. nur indirekt als Ausgangspunkt für den Zwang nehmen, da es die Gründer der kallipolis sind, die de facto entsprechende Gesetze erlassen und die Philosophenkönigsanwärter zur Schau des Guten zwingen. 740 Es erscheint zwar plausibel, dass der Zwang letzten Endes auf das Gute zurückgeht, »whose necessitation is the agentless modality of metaphysical obligation« 741; allerdings sehe ich keine Notwendigkeit, warum die Philosophenanwärter diesen Imperativ internalisieren sollten, solange sie noch nicht die Idee des Guten geschaut haben und nur indirekt über diesen Zwang von Seiten der Gesetzgeber informiert werden. Zudem führt diese Lesart zwangsläufig dazu, die entsprechenden Textstellen sehr abschwächend zu lesen 742, was mir der dortigen Verwendungsweise verschiedener Formen von anankê 743 nicht gerecht zu werden scheint. Es erscheint plausibler, bei dieser ersten Art des Zwanges vielmehr von einem externen echten Zwang auszugehen, der von Menschen bzw. von den Gründern erlassenen Gesetzen auferlegt wird und dem die Philosophenanwärter sonst nicht nachkommen würden. 744 740 Shields sieht in Rep. VII 519c5–d2 zwar einen externen Zwang, relativiert dies aber später: »If there is an external compulsion at all, it is hypothetical« (2007b, S. 37) und sieht diesen Zwang als eine logische Notwendigkeit und Voraussetzung an, wenn man das Gute schauen will (vgl. 2007b, S. 35–37). 741 Ebd., S. 39. 742 Shields spricht von einer »friendly formulation of a nomic necessitation« (2007b, S. 36). Dies klingt aber eher wie ein gut gemeinter Ratschlag, was an den entsprechenden Textstellen aber unwahrscheinlich scheint (vgl. v. a. Rep. VII 519c8–d2, wo keine impersonale Verwendung vorliegt). 743 Vgl. für den Zwang zum Aufstieg Rep. VII 519c9 und 540a7. 744 Für die Erklärung des Abstiegs hingegen erscheint mir Shields’ Lösung eines hypothetischen Imperativs, der vergleichbar mit einem logischen Zwang die Philoso-

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Den Grund für diesen Zwang sehe ich einerseits wie Wagner allgemein im noch nicht vollendeten Curriculum der Philosophenanwärter; allerdings scheint es mir ungerechtfertigt, den Fokus so stark auf das thymoeides – oder wie Weiss – auf das epithymêtikon zu legen, da deren Verhalten letztlich vom Verhalten des logistikon abhängt. Gerade aufgrund der Fallibilität des logistikon – da es die Idee des Guten noch nicht geschaut hat – kann es geschehen, dass das thymoeides auf falsche Weise verwendet wird und auch das epithymêtikon möglicherweise nicht-notwendigen Begehren nachgeht. 745 Mit diesem Argument kann auch ein weiterer möglicher Einwand beseitigt werden, nämlich dass der Philosoph sich durch einen Drang und eine Liebe zu den Ideen auszeichne, sodass er zur Schau des Guten nicht gezwungen werden müsse. Wenn der Eros des Philosophen danach strebt, die Idee des Guten zu erblicken, dem Philosophen selbst aber noch gar nicht ganz klar ist, was genau diese Idee ausmacht, die er anstrebt, kann er fehlgeleitet werden und einem Drang zum nur vermeintlich Guten nachgehen. Zugleich hilft auch die vorherige Einteilung in zwei Charakterarten des Philosophen, die sich zwar nicht stark unterscheiden, aber doch darin, dass das logistikon im kallipolis-Philosophen offenbar nicht ganz so stark ist wie in den natürlich entstandenen Philosophen. Damit wäre ein Fehler des logistikon ganz einfach wahrscheinlicher und die Notwendigkeit eines Zwanges nur folgerichtig. Zu (ii): Die Gründe für die Rückkehr und einen möglichen damit einhergehenden Verlust an Glück wurden bereits vielfach untersucht, sodass hier unmöglich auf alle verschiedenen Versionen eingegangen werden kann. 746 Buckels’ Einteilung erscheint mir sinnvoll, der einerseits zwischen Interpretationen unterscheidet, die den erwähnten Zwang an den entsprechenden Textstellen stark abschwächend lesen, phen zur Rückkehr nötigt, durchaus plausibel, auch wenn dies m. E. durch einen äußeren Zwang eingeleitet wird (s. u. und vgl. 2007b, S. 37–39). 745 Der Philosoph ist dabei so appetitiv veranlagt wie alle anderen Menschen auch – mit dem Unterschied, dass sein logistikon stärker ist und stärker ausgebildet werden kann und die Begehren damit besser unter Kontrolle gehalten werden können. Wagner ist der Meinung, dass sowohl das logistikon als auch das thymoeides falsche Urteile über das Gute fällen können, sodass zwei mögliche Fehlerquellen bestehen (vgl. 2005, S. 99 f.). Mir scheint es aber plausibler, nur das logistikon verantwortlich zu machen, da auf einer so fortgeschrittenen Stufe der Erziehung die Philosophen so weit habitualisiert sein müssten, dass sie dem logistikon folgen. 746 Für einen sehr guten Überblick vgl. Buckels 2013. Seelen im Wandel

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und denen, die den Zwang anerkennen und versuchen, eine Lösung dafür zu finden. 747 Wie u. a. Weiss und Buckels bin ich der Ansicht, dass die Textstellen, in denen der Zwang erwähnt wird, keineswegs alle abgeschwächt werden können und dieser Zwang somit voll anerkannt werden muss. Es erscheint mir allerdings sinnvoll, zwischen zwei Arten der Rückkehr zu unterscheiden: (1) die zeitweilige Rückkehr in die Höhle, die 15 Jahre andauert und nach der endgültig feststeht, wer von den Wächtern es wert ist, schließlich die Idee des Guten zu schauen, und (2) die Rückkehr in die Höhle nach der Schau der Idee des Guten. Bei der ersten Rückkehr erscheint es plausibel, aufgrund der noch nicht vervollständigten Erziehung von einem externen Zwang auszugehen, der so erklärt werden kann, dass die Wächter eben noch nicht vollständig einsehen, dass die Rückkehr in die Höhle gerecht ist und durch eine solche Handlung die Gerechtigkeit in ihren Seelen bewahrt wird. 748 Nicholas D. Smith untersucht ebenfalls das Problem der Rückkehrer und teilt das »Problem des glücklichen Philosophen« in zwei Teilprobleme auf: (a) das Problem der psychischen Disharmonie und (b) das epistemische Schuldproblem. Smith spricht sich dafür aus, dass (a) so gelöst werden kann, dass eine dauerhafte Kontemplation 747 Er unterteilt die beiden Gruppen nochmals in Interpretationen, die den Philosophen einen persönlichen Nutzen zusprechen, der durch das Regieren zustande kommt, und solche, die dies nicht tun (vgl. Buckels 2013, S. 64–67). Er selbst ordnet sich der Position zu, die den Zwang voll anerkennt und zugleich zeigen will, dass Gerechtigkeit gut für den Handelnden sei und somit auch das Regieren, da die Aufforderung zu regieren eine gerechte Forderung sei (vgl. ebd., S. 67). Eine abschwächende Interpretation des Zwanges vertreten z. B. Kraut 1973, Rosen (2005, vgl. S. 229 f.), Dorter (2006, vgl. S. 218 f.), Shields 2007b und Caluori 2011. Silverman 2007 geht zwar von einem starken Zwang aus, vertritt dabei aber eine ironische Lesart: Die Philosophen müssten zum Regieren gezwungen werden, da sie sich darüber im Klaren seien, dass das Unwissen nicht zu beseitigen sei und sie das Gute nicht maximieren könnten, weil sie nicht in der Lage seien, jeden zum Philosophen zu machen (vgl. S. 43 f., 50 (Fn. 19), 65). Lavecchia (2016, vgl. S. 20 f. und Fn. 2) hingegen sieht in der Forderung überhaupt keinen Zwang für die Philosophen. Dieser sei nur von außen gesehen ein Zwang; die Philosophen würden aus einem Impuls und aus Mitleid zu den Menschen in die Höhle zurückkehren. 748 Vgl. Buckels, der ausführlich erläutert, dass gerechte Handlungen gerechte Seelen erzeugen und ungerechte diese zerstören (vgl. 2013, S. 71–75 und Rep. IV 444c10– d2). Auch mir scheint es daher keine Lücke zu geben in der Verbindung zwischen gerechtem Handeln und gerechtem Sein.

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und damit eine Verweigerung des Abstiegs in eine Tyrannis des logistikon (über das thymoeides) münden würde und damit die Gerechtigkeit der Seele zerstört würde. Das Problem (b) löst er so, dass ihm nur die Philosophen unterlägen, die noch nicht die Idee des Guten geschaut hätten. Nur sie könnten noch nicht erkennen, dass es gut sei zu regieren, allerdings nicht, weil sie die Idee des Guten noch nicht geschaut haben, sondern weil sie sich erst an die Dunkelheit der Höhle gewöhnen müssten und daher in der Welt des Werdens eben noch nicht gut sehen könnten. Damit sei der Philosoph trotz des Abschlusses der Dialektik »educationally deficient« 749; dieser Mangel werde erst mit der Gewöhnung an die Dunkelheit der Höhle beseitigt. 750 Anhand dieser Erklärung könnte man annehmen, dass Smith von einem notwendigen externen Zwang ausgeht; allerdings argumentiert er mit der Innerlichkeit des Philosophen. Ähnlich wie Wagner sieht er das thymoeides als relevant an und in seinem Fall als die treibende Kraft, die den Philosophen zum Abstieg zwingt; er geht davon aus, dass sich das thymoeides sonst schämen würde, wenn der Philosoph sich gegen die gerechte Forderung der Rückkehr stellen würde. 751 Smiths Aufteilung des Problems erscheint sinnvoll, die Lösungen allerdings nicht ganz zufriedenstellend: Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass bei der zweiten Rückkehr zwar zunächst von einem externen Zwang ausgegangen werden muss, dem aber direkt ein interner Zwang folgt, der darauf aus ist, die psychische Balance, d. h. die gerechte Seele zu erhalten. Das seelische Ungleichgewicht drückt sich m. E. aber nicht in einer Tyrannis des logistikon aus, da sich eine Tyrannis durch pleonexia kennzeichnet. Der rationale Teil der Seele hat m. E. auch Bedürfnisse, allerdings sind diese durch die Kenntnis der Idee des Guten nicht in der Lage, ins Schlechte und damit in die Unersättlichkeit auszuschlagen. 752 Ein bedeutendes Merkmal des logistikon besteht gerade darin, das Wohl der gesamten Seele im Auge zu haben und nicht nur auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse ausgerichtet zu sein (vgl. Rep. IV 442c5–9). Das Ungleichgewicht muss daher anders erklärt werden: Gerech-

Smith 2010, S. 98. Vgl. ebd., S. 87 f., 92–94, 97 f. 751 Vgl. ebd., S. 93 f. 752 Der Philosoph, der sich v. a. durch sein logistikon auszeichnet, fällt nur wahre Urteile (vgl. Rep. IX 582e8–583a5). 749 750

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tigkeit besteht gemäß Rep. IV darin, dass jeder Seelenteil das Seine tut und hat. Diese Bedingung ist allerdings während einer dauerhaften Kontemplation nicht mehr erfüllt, da die beiden unteren Seelenteile ohne Aufgabe und damit funktionslos sind und das logistikon zwar die Idee des Guten schaut, aber nicht mehr seiner natürlichen Aufgabe, der des Herrschens (vgl. Rep. IV 441d12–e7), nachkommt. Eine dauerhafte Kontemplation wäre damit eher für die Seele im Jenseits angemessen; solange sich der Philosoph aber im Diesseits befindet, muss er dort gerecht handeln, um die Gerechtigkeit seiner Seele zu erhalten und dies kann nur unter Berücksichtigung der Funktionen und Haltungen aller drei Seelenteile erfolgen. Damit wäre nun sichergestellt, dass der Philosoph gerade aufgrund der Rückkehr in die Höhle glücklich ist; das bessere Leben, das in der dauerhaften Kontemplation besteht, ist keine reale Möglichkeit 753 für das Diesseits, sondern erst im Jenseits zu erreichen. Als möglicher Einwand gegen diese Lesart könnte Sokrates’ Aussage aus Rep. VII 540b4–5 genannt werden, aus der hervorgeht, dass die Philosophen regieren, »nicht weil es schön, sondern weil es notwendig ist«, was zu der Annahme führen könnte, dass es sich beim Regieren um ein extrinsisches Gut handle. 754 Selbst wenn man diese Textstelle so liest 755, widerspricht dies nicht Sokrates’ Anliegen, Gerechtigkeit als ein Gut der Mischklasse zu klassifizieren (vgl. Rep. II 357b4–358a9), da man zwischen gerechtem Handeln und Gerechtigkeit in der Seele unterscheiden muss: Sokrates’ Anliegen ist es, die Überlegenheit der Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit zu 753 Mit der Unmöglichkeit eines besseren Lebens stimme ich mit Woods 2010 und Caluori 2011 überein, auch wenn ich entgegen Caluoris Lesart den Zwang nicht als ausschließlich intern betrachte. 754 Dafür plädiert Reeve 1988, der das Regieren als ein Mittel sieht, um die kallipolis zu erhalten, da nur in ihr die Philosophen maximale Glückseligkeit erlangen können (vgl. S. 199–203). Vgl. auch Smith 2010, S. 85. Für eine Gegenmeinung vgl. u. a. Kraut 1999, der das Regieren nicht als Mittel zur Glücksmaximierung betrachtet, sondern selbst als glücksstiftend sieht, weil die Regierungstätigkeit die Beziehungen zwischen den Menschen auf harmonische Weise ordne, sodass dadurch eine Nachahmung der Ideen gegeben sei, insbesondere der Gerechtigkeit (vgl. S. 241–249). 755 Mir erscheint Heinamans Interpretation der Gütereinteilung plausibler, der davon ausgeht, dass gerechtes Handeln selbst als intrinsisches Gut anzusehen sei, und zwar aufgrund bestimmter kausaler Konsequenzen (eine geordnete und damit gerechte Seele), die es seiner Lesart nach als ein intrinsisches Gut auszeichnen – im Gegensatz zu den Konsequenzen, die sich beispielsweise aus dem gesellschaftlichen Ansehen der Gerechtigkeit ergeben (vgl. Heinaman 2002, S. 311, 324, 328 f.).

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zeigen und die Gerechtigkeit dabei als intrinsisches Gut zu loben (vgl. Rep. II 357a4–b3, 358c7–d3). Das Regieren der Philosophen bezeichnet allerdings eine Handlung, die im Selbstinteresse der Philosophen liegt, weil sie Gerechtigkeit in der Seele erzeugt (vgl. Rep. IV 444c10– d2, VII 520a5–9). Die Gerechtigkeit in der Seele wird also weiterhin als intrinsisches Gut dargestellt, zu deren Erhaltung gerechtes Handeln nötig ist. 756 Somit kann man Platons Sokrates auch nicht vorwerfen, nur die Gerechtigkeit in der Seele des Individuums zu loben ohne Rücksicht auf deren gerechtes Handeln. 757 Diese Lösung verstärkt allerdings die Frage, warum die Philosophen, wenn sie dies erkennen, dennoch zum Regieren gezwungen werden müssen. Durch die vorherige Aufteilung in zwei Arten der Rückkehr des Philosophen wird dies aber klarer. Der äußere Zwang ist m. E. in besonderem Maße vor der Schau der Idee des Guten nötig. Dies ist relativ problemlos zu erklären, da immer wieder auf die Korrumpierbarkeit von guten Naturen hingewiesen wird (vgl. Rep. VI 491e1–3, VII 538d6–539a6). Diese Anfälligkeit wird auch mit der Dialektik nicht vollständig beseitigt, da auch nach dem fünfzehnjährigen Aufenthalt in der Höhle weitere Philosophenanwärter ausgeschieden werden (vgl. Rep. VII 539e5–540a2). Damit ist der Zwang, der in der Forderung aus Rep. VII 539e2–5 758 zum Ausdruck kommt, eindeutig gerechtfertigt, da solche noch nicht endgültig gefestigten Charaktere die Gerechtigkeit der Forderung in diesem Stadium noch nicht von selbst erkennen. Es ist richtig, dass auch danach noch von Zwang gesprochen wird, wenn die Philosophen endgültig in die Höhle zurückkehren müssen, um gemäß dem Rotationsprinzip an der Regierung beteiligt zu sein (vgl. Rep. VII 540a8–b7 759 und die allgemeine Darlegung des So auch Smith 2010, S. 85. Für den Vorwurf, dass keine Gründe für die Verbindung zwischen gerechtem Sein und gerechtem Handeln gegeben werden, vgl. u. a. Sachs 1963. Annas 1981 sieht in Rep. IV eine methodische Verschiebung: »He [d. i. Plato] is trying to replace the inadequate act-centred concept of justice […] by a more adequate theory, and he thinks that such a theory must be agent-centred.« (S. 160) 758 »›[…] Nachher [d. i. nach fünf Jahren in dialektischer Erziehung] müssen sie wieder in jene Höhle zurückkehren und dort die Leitung im Krieg und andere Ämter übernehmen (anankasteoi archein), die für Jüngere passen, damit sie an Erfahrung nicht hinter den andern zurückbleiben. […]‹« Erst danach erfolgt ein erneuter Aufstieg und die Schau der Idee des Guten (vgl. Rep. VII 540a4–b1). 759 »›[…] wenn sie dann das Gute an sich erblickt haben, müssen sie (anankasteon), mit ihm als Leitbild (paradeigmati) vor Augen, Staat und Bürger und sich selbst das 756 757

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Abstiegs in Rep. VII 519d1–520c6). Allerdings wird an diesen Textstellen auch der kognitive Fortschritt der Philosophen deutlich, da sie selbst erkennen, dass ihre Rückkehr notwendig ist (vgl. Rep. VII 540b4–5: ouch hôs kalon ti all’ hôs anankaion prattontas; Rep. VII 520e2–3: pantos mên mallon hôs ep’ anankaion autôn hekastos eisi to archein 760). Sobald sie dies erkennen, wandelt sich die von außen auferlegte Forderung in einen inneren Zwang; Sokrates selbst geht davon aus, dass keiner der Philosophen sich weigern würde, wieder in die Höhle hinabzusteigen, da sie die Gerechtigkeit der Forderung erkennen (vgl. Rep. VII 520a6–c1, 520d6–e4). 761 Damit bleibt aber die Frage, warum man die Philosophen durch eine Forderung erst darauf hinweisen muss, ihre Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dies könnte man vielleicht so erklären, dass die Philosophen in ihrer Kontemplation der Ideen die Welt des Werdens sowie ihre beiden unteren Seelenteile aus dem Blickwinkel verloren haben und ein Leben führen wollen, das dem im Jenseits gleicht. 762 Eine solche Interpretation stimmt auch mit der Aussage restliche Leben in Ordnung halten, jeder der Reihe nach; zwar werden sie den größeren Teil der Philosophie widmen, wenn aber die Reihe an jeden kommt, müht er sich in der Politik ab und leitet den Staat um des Staates willen, nicht weil es schön, sondern weil es notwendig (anankaion) ist; und immer erziehen sie andere zu gleicher Tüchtigkeit, hinterlassen sie als Wächter des Staates und wandern dann zu den Inseln der Seligen, um dort zu wohnen. […]‹« 760 Diese Aussage stammt von Glaukon, Sokrates stimmt ihm aber direkt im Anschluss zu. Weiss bezieht die Zustimmung Sokrates’ nur auf den zweiten Teil der Aussage, der hier auch zitiert wurde (vgl. Weiss 2012, S. 113, Fn. 58). Den ersten Teil (»›[…] Denn gerechte Befehle geben wir an Gerechte. […]‹«, Rep. VII 520e1) nur Glaukon zuzuschreiben, ist jedoch irreführend, da auch Sokrates selbst von einer gerechten Forderung spricht (vgl. Rep. VII 520a6–9: »›[…] Wir tun damit unseren Philosophen kein Unrecht, sondern sind in vollem Recht, wenn wir sie zwingen, sich um die andern zu kümmern und sie zu betreuen. […]‹«). 761 Dass die Philosophen dennoch glücklich sind, zeigt sich auch hier an Sokrates’ Aussage, dass die Erziehung nicht nur dem Wohl der kallipolis diene, sondern zugleich auch den Philosophen selbst (vgl. Rep. VII 520b5–c1). Darauf weist auch Reeve hin (vgl. 1988, S. 202). Für eine Gegenmeinung vgl. Kraut 1973, dem zufolge die Philosophen ihr proper interest zugunsten der Bürger der Polis aufgeben würden, die Teil ihres extended interest ausmachten (vgl. S. 338). Die Ordnung der Seele, die durch gerechte Handlungen entsteht oder erhalten wird, liegt m. E. aber im Eigeninteresse des jeweiligen Individuums und damit auch der Philosophenherrscher. Damit scheint mir die Regierungstätigkeit der Philosophen in Krauts Terminologie sowohl in ihrem proper als auch in ihrem extended interest zu liegen. 762 Vgl. Phd. 64e8–67e4; die dem thymoeides und epithymêtikon zugeschriebenen Funktionen kommen hier noch dem Körper zu.

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überein, dass das Leben in der Kontemplation ein schöneres Leben für die Philosophen darstellt; für die dauerhafte Kontemplation gilt dies allerdings erst dann, wenn sie durch das Regieren die Gerechtigkeit in ihrer Seele erhalten haben. 763 Als möglicher Einwand könnte vorgebracht werden, dass durch eine solche Lesart der Zwang zu einem bloßen Hinweis an die Philosophen degradiert werde und damit seine starke Zwangskomponente gänzlich verliere. Dieser Hinweis muss aber als starker Zwang konzipiert sein, da sich die Philosophen andernfalls nicht von der Schau der Ideen abbringen lassen werden. Ein stärkerer Grund für einen echten Zwang stellt allerdings die Tatsache dar, dass es sich hierbei eben gerade nicht um ausschließlich vernunftgeleitete Menschen handelt, sodass das geringe Defizit der kallipolis-Philosophen den Ausschlag dafür gibt, dass sie nicht sofort von selbst die Notwendigkeit des Abstiegs erkennen und damit ein äußerer Zwang dem inneren vorhergehen und diesen auslösen muss.

763 Auch Kraut ist der Meinung, dass das Leben in der Kontemplation zwar im Allgemeinen die bessere Wahl wäre, aber Umstände auftauchen können, die es zur schlechteren Wahl machen, nämlich der Erhalt der Gerechtigkeit. Er interpretiert dies allerdings nicht auf den Erhalt einer gerechten Seele bezogen, sondern v. a. so, dass der Philosoph durch das Regieren die harmonischen Relationen der Ideen untereinander in der Welt des Werdens abbildet und dadurch glücklich wird (vgl. Kraut 1999). Sedley 1999 plädiert dafür, das Ideal der Angleichung an Gott in den platonischen Dialogen nach der plotinischen Lesart zu verstehen, sodass die moralischen Tugenden zurückgelassen würden und sich nur auf die Entwicklung des reinen Intellekts konzentriert werde (vgl. S. 322–324). Die Textstelle aus dem Theaitetos (174b), die er in einer Fußnote erwähnt (vgl. S. 324 (Fn. 22)), stützt dabei ebenfalls die hier vertretene Ansicht, dass das logistikon in der Kontemplation sich kaum noch der Welt des Werdens bewusst ist (und damit bei den dortigen Menschen der Lächerlichkeit preisgegeben ist). Für die Politeia scheint mir Sedleys Position allerdings nicht ganz gerechtfertigt, da sich der Philosoph zwar auf die Ausbildung und Stärkung seines logistikon konzentrieren und schließlich auch die Idee des Guten schauen soll; dennoch darf er in seiner so erreichten Gottähnlichkeit nicht seine beiden anderen Seelenteile und die Polis, in der er lebt, vergessen. Da er nun einmal noch Teil der veränderlichen Welt ist, muss er seine Seele den dortigen Regeln entsprechend ordnen, um Gerechtigkeit und Glück zu erlangen. Vgl. außerdem Kraut 1973, der die Meinung vertritt, die Philosophen wären bei der Schau der Idee des Guten von dieser so geblendet, dass sie ihrem extended interest, d. i. das Regieren, keine Aufmerksamkeit mehr schenken würden (vgl. S. 342 f.).

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3.4 Charakterarten im Politikos Ausführungen zu Anzahl und Art verschiedener Charaktere finden sich neben den bereits untersuchten Passagen in Politeia und Phaidros auch in der Schlusspassage des Politikos, die daher in diesem letzten Unterkapitel im Fokus der Untersuchung stehen wird. Dieser Dialog endet mit der Darlegung der Aufgabe des wahren Staatsmannes, die darin besteht, zwei an sich gegensätzliche Anlagen im Menschen zu vereinen: Das nun, so wollen wir sagen, sei die Vollendung des Gewebes der politischen Tätigkeit (politikês praxeôs), dass durch geradlinige Verflechtung der Charakter der tapferen und besonnenen Menschen (to tôn andreiôn kai sôphronôn anthrôpôn êthos) verflochten wird – wenn die königliche Kunst (hê basilikê technê) durch Eintracht und Freundschaft deren Leben zu einer Gemeinschaft zusammengeführt und so das herrlichste und beste aller Gewebe vollendet hat und alle anderen in den Staaten, Sklaven und Freie, mit diesem Geflecht umkleidet und zusammenhält, und herrscht und leitet, ohne, soweit es einem Staat zukommt glücklich zu werden, von dem auf irgendeine Weise etwas zu unterlassen. (Plt. 311b7–c7) 764

Die Verflechtung von besonnenem und tapferem Charakter, die die Aufgabe der Staatskunst darstellt, wird durch ein göttliches und ein menschliches Band erreicht; das göttliche steht dabei für die »wirklich wahre, zur Überzeugung gewordene[n] Meinung über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil« ([t]ên tôn kalôn kai dikaiôn peri kai agathôn kai tôn toutois enantiôn ontôs ousan alêthê doxan meta bebaiôseôs, Plt. 309c5–7), die die Anlagen der Menschen zur Tugend entwickelt und damit ein Übermaß einer der beiden Anlagen verhindert (vgl. Plt. 309d10–e9). Das menschliche Band hingegen verflicht die Charaktere durch Heirat auf die richtige Weise, indem besonnene Menschen tapfere heiraten und umgekehrt, da auch dort sonst ein Ausschlagen ins Extrem die Folge wäre (vgl. Plt. 310a7– d9). 765 Diese Schlusspassage des Politikos und insbesondere der Widerstreit zwischen Besonnenheit und Tapferkeit hat einige Forscher dazu veranlasst, eine Diskontinuität zur Politeia zu konstatieren. 766 Hier Die Übersetzung folgt, wenn nicht anders angegeben, Ricken 2008. Für die Ähnlichkeit zur aristotelischen Mesotes hinsichtlich der Verdammung des Übermaßes und des Mangels bei Platon vgl. Kap. 2.6. 766 Vgl. Skemp 1987 (S. 223 (Anm. 1 zu Plt. 306b–c), S. 229 (Anm. 1 zu Plt. 309b)), Bobonich 1995. 764 765

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Charakterarten im Politikos

soll gezeigt werden, dass diese Sichtweise ungerechtfertigt ist sowie dass bei genauerer Betrachtung kein Widerspruch zu den Charakterarten der Politeia und dem umfassenderen Charakterschema des Phaidros besteht 767; der Fokus auf genau zwei Grundanlagen lässt sich vielmehr innerhalb des Kontextes der zu diskutierenden Textpassage des Politikos erklären, deren Zweck darin liegt, die beiden Grundanlagen der gewöhnlichen Menschen zu thematisieren. 768 Christopher Bobonich ist der Ansicht, dass es sich hier hauptsächlich um die Beschreibung verschiedener Charakterzustände von Nicht-Philosophen handle, und zwar vor und nach der Erziehung. 769 Tapferkeit und Besonnenheit seien dabei für sich genommen als Übel anzusehen, sodass die Tapferen im Politikos vielleicht den Ehrliebenden oder gar den Tyrannen der Politeia umfassen würden. 770 Auch J. B. Skemp sieht keine Vereinbarkeit, wenn er dafür argumentiert, dass die Darlegungen im Politikos das psychologische Schema der Politeia zerstören würden. Würde man den Widerstreit der beiden Tugenden auf die Politeia übertragen, so führte dies nämlich zum Er-

767 Eine tendenziell unitarische Position vertreten auch Oesterle 1978, Miller 1980 (in Bezug auf die Harmonie von Besonnenheit und Tapferkeit, vgl. S. 112, 115) und Ricken 2008 (vgl. S. 239–248). 768 Auch Miller 1980 (vgl. S. 111) und Bobonich 1995 betonen, dass der Fokus auf den Charakteren der gewöhnlichen Leute liege. 769 Vgl. Bobonich 1995, S. 316: »What is of primary importance is the nature of the character states that non-philosophers have before and after they are educated […].« 770 Vgl. ebd., S. 316, 320, 326. Bobonich hat insgesamt Probleme, das Charakterschema der Politeia auf den Politikos anzuwenden, insbesondere bezüglich des Besonnenen (vgl. S. 326 f.). Meiner Meinung nach scheint hier einfach eine weniger differenzierte Aufteilung vorzuherrschen, sodass allgemein von thymoeides- und epithymêtikon-Charakteren gesprochen wird, die prinzipiell verschiedene Ausformungen haben können, auf die hier aber nicht näher eingegangen wird (in Politeia und Phaidros aber schon, vgl. Kap. 3.2). Da beide Charakterarten aber fähig sind (abgesehen von den Unheilbaren, s. u. und Kap. 2.2), an der wahren Meinung teilzuhaben und damit das logistikon zumindest einen gewissen Einfluss ausüben können muss, scheinen nur noch die beiden unteren Charaktergruppen der kallipolis in Frage zu kommen, d. h. Wächter und Kaufleute/Bauern/Handwerker. Eine vollständige Übereinstimmung lässt sich freilich nicht konstatieren, wenn man bedenkt, dass ein schlecht oder nicht erzogener Mensch mit besonnenen Anlagen (oder auch bedingt durch die falsche Partnerwahl, die ein Übermaß der jeweiligen Anlage erzeugen kann) dem Politikos zufolge eher durch naive Gutmütigkeit und Trägheit gekennzeichnet wäre (vgl. Plt. 309e5–9, 310d11–e4), sodass wohl kein Oligarch oder Tyrann aus ihm würde. Das Fehlen des Strebens nach Reichtum bemerkt auch Bobonich (vgl. 1995, S. 326 f.).

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gebnis, dass die beiden unteren Gruppen des Staates in ewigem Streit begriffen wären. 771 Es ist richtig, dass es hier um die Charakterzustände von NichtPhilosophen geht und um die Art und Weise, wie diese durch den Staatsmann geformt werden sollen; bezieht man die Ausführungen zur Gegensätzlichkeit von Tapferkeit und Besonnenheit direkt auf die bereits ausgebildeten Charakterzustände nach der Erziehung, so schiene auch Skemps Position folgerichtig. Allerdings muss man zunächst beachten, dass der Zustand vor der Erziehung nicht als Charakterzustand klassifiziert werden kann, sondern lediglich als bestimmte Anlage eines Menschen. Es erscheint vielmehr plausibler, dass sich der Widerstreit zumindest zu einem Teil auf die sich widerstreitenden Anlagen bezieht, sodass, wenn von Tapferkeit oder Besonnenheit gesprochen wird, hier zunächst nicht die erworbene Charakterhaltung gemeint ist, sondern die Grundanlage, die dem jeweiligen Menschen gegeben ist. 772 Durch die richtige Meinung, die ihm durch die korrekte Erziehung zukommt, wird er schließlich wirklich besonnen oder tapfer – wenngleich diese Tugenden bürgerliche bleiben: Der Fremde: Was nun? Wird eine tapfere Seele (andreia psychê), wenn sie diese Wahrheit [d. i. die zur Überzeugung gewordene wahre Meinung] empfängt, nicht gezähmt, und wird sie so nicht vor allem mit dem Gerechten Gemeinschaft haben wollen (tôn dikaiôn malista houtô koinônein an ethelêseien); bekommt sie aber keinen Anteil daran, neigt sie dann nicht eher zu einer tierischen Natur (pros thêriôdê tina physin)? Sokrates der Jüngere: Wie auch nicht? Der Fremde: Was aber ist mit der friedlichen Natur (to tês kosmias physeôs)? Wird sie nicht, wenn sie an diesen Meinungen Anteil bekommt, wirklich besonnen und weise (sôphron kai phronimon), wenigstens soweit

Vgl. Skemp 1987, S. 223 (Anm. 1 zu Plt. 306b–c). Damit folge ich größtenteils Ricken 2008; allerdings sieht er den Widerstreit nur in den Anlagen und im Nachhinein aufgehoben. Darüber hinaus zieht er einen Vergleich zur aristotelischen Unterscheidung zwischen natürlichen und eigentlichen Tugenden, d. h. Anlagen bzw. erworbenen Charakterhaltungen, sodass mit »der eigentlichen Tugend […] der Widerstreit zwischen den natürlichen Tugenden aufgehoben« sei (S. 220; vgl. ebd., S. 218–220). Bei einer korrekten Erziehung ist diese Darlegung sicherlich richtig; nur werden auch schon vorher im Allgemeinen Besonnenheit und Tapferkeit behandelt, die sich dort nicht unbedingt auf die Anlagen beschränken müssen (s. u.). 771 772

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es das Leben im Staat erfordert 773 (hôs ge en politeiai); erhält sie dagegen keine Gemeinschaft mit dem, wovon wir sprechen, kommt sie dann nicht mit vollem Recht in einen schimpflichen Ruf der Gutmütigkeit (euêtheias)? Sokrates der Jüngere: Durchaus. (Plt. 309d10–e9)

So käme es auch in der kallipolis gewiss zu keinem Streit zwischen den beiden unteren Gruppen, da dort davon ausgegangen wird, dass die Menschen ihre Anlagen zu bürgerlichen Tugenden entwickelt haben. Eine solche Interpretation erscheint zumindest innerhalb der Beschreibung des göttlichen Bandes plausibel. Dennoch werden Besonnenheit und Tapferkeit auch allgemein – und damit unabhängig von der Erziehung – dargelegt. Doch dieser Widerstreit widerspricht in keiner Weise den Ausführungen der Politeia, da auch dort davon die Rede ist, dass sich bestimmte Anlagen im Normalfall nicht zugleich in einem Menschen finden werden. Dabei sind genau die beiden Anlagen zu Besonnenheit und Tapferkeit gemeint, die sich trotz ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit schließlich doch in der Person des Wächters finden lassen. Dies zeigt sich einerseits in der Darlegung des Wächtercharakters in Rep. II 375c6–376c6 774; die Verbindung zwischen Besonnenheit und Ruhe, Frieden oder Stetigkeit einerseits 773 Melissa S. Lane scheint unsicher, ob es sich hier um bürgerliche Weisheit oder um »›[…] wisdom dealing with civic affairs‹« handelt (1998, S. 179 (Fn. 77); vgl. ebd., S. 179 (Fn. 77)). Da die Bürger des Staates aber in epistemologischer Hinsicht hinter dem Wissen des Staatsmannes zurückstehen (vgl. Plt. 309c5–d9), scheint es m. E. plausibler, allgemein bei den Tugenden in der Schlusspassage des Politikos von der ersten Möglichkeit auszugehen (so auch Mishima (vgl. 1995, S. 311 und Fn. 20, wo er Miller 1980 (S. 111) zitiert), der die genannten Tugenden zur dêmotikê aretê zählt, und Bobonich (vgl. 1995, S. 323), der den Bürgern die Weisheit der Philosophen abspricht, aber deren Tugend eine »quality that has some serious claim to resemble wisdom« sein müsse (ebd., S. 323)). Vgl. außerdem Lane selbst, die »knowledge of the good in time« als »sole basis for genuine political authority« erkennt (1998, S. 201; vgl. ebd., S. 201). 774 Durch die Bedeutung der philosophischen Anlagen und der Feststellung, dass es sich bei dieser Darlegung um den Charakter des »tüchtige[n] und vollkommene[n] Wächter[s]« (Rep. II 376c5) handelt, kann bereits hier davon ausgegangen werden, dass die besten Wächter thematisiert werden. Man könnte einwenden, dass die Freundlichkeit der Wächter auf ein gezähmtes oder korrekt trainiertes thymoeides zurückzuführen sei, sodass die Besonnenheit hier keine Rolle spiele. Das thymoeides steht hier sicherlich im Zentrum; allerdings kann die Besänftigung des thymoeides m. E. nur durch die Besonnenheit erreicht werden. Auch im Politikos wird eine Radikalisierung des thymoeides durch die Vermischung mit dem besonnenen Charakter verhindert.

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und Tapferkeit und stürmischem Verhalten andererseits, wie sie im Politikos in besonderem Maße ausgeführt wird (vgl. Plt. 306a1– 307c7), zeigt sich auch an einer Stelle der Politeia, wenn vom Charakter der vollkommenen Wächter gesprochen wird: »Bedenke nun, wie wenige [d. i. beste Wächter] du wahrscheinlich nur haben wirst! Denn die Naturanlage, die wir als notwendige Voraussetzung für sie beschrieben haben, will nur selten in all ihren Teilen zu einer Einheit zusammenwachsen, zumeist wächst sie getrennt heran.« »Wie meinst du das?« »Wer gern lernt (eumatheis), ein starkes Gedächtnis (mnêmones), rasche Auffassungsgabe (angchinoi) und einen scharfen Geist (oxeis) hat, dazu jugendlichstürmisch und großzügig in den Gedanken ist und alle ähnlichen Eigenschaften hat, ist, wie du weißt, nicht leicht geneigt, in der Ruhe und Sicherheit einer Ordnung zu leben, sondern solche Leute lassen sich von ihrer Lebhaftigkeit (hypo oxytêtos) fortreißen, und alle Stetigkeit (to bebaion hapan) ist ihnen verlorengegangen.« »Sehr richtig!« »Andrerseits verhalten sich die Charaktere der Stetigkeit und inneren Unerschütterlichkeit (ta bebaia au tauta êthê kai ouk eumetabola), auf deren Verläßlichkeit man lieber baut, die auch im Krieg gegen Gefahren unerschütterlich sind, gerade ebenso gegenüber den Wissenschaften: schwer beweglich (dyskinêtôs) und von langsamer Auffassungsgabe (dysmathôs), wie wenn sie betäubt wären, sind sie voll des Schlafes und Gähnens, wenn sie zu einer derartigen Plage genötigt werden.« (Rep. VI 503b7–d5)

Auch hier wird deutlich, dass sich die beiden Anlagen zwar grundsätzlich eher widerstreiten, es aber doch möglich ist, einige wenige Menschen zu finden, die diese beiden Anlagen in sich vereinen. Im Gegensatz zum Politikos wird hier bereits der Charakter des Philosophen beschrieben; die Charaktergruppen im Politikos hingegen sind entweder tapfer oder besonnen – und damit Wächtern oder Kaufleuten 775 der kallipolis zuzuordnen –, stehen aber durch den Einfluss der wahren Meinung und durch korrekte Heirat als entwickelte Charaktere nicht in Konflikt miteinander. 776 775 Ein Unterschied scheint vielmehr darin zu bestehen, dass hier die Menschen mit epithymêtikon-Anlagen zur Besonnenheit erzogen werden, wohingegen die Politeia eher vermuten lässt, dass der unterste Stand keinerlei Erziehung erhält (vgl. die Ausführungen zur Erziehung, die sich nur auf die Wächter bzw. vollkommenen Wächter bezieht, in Rep. II 376e2 – III 412b7; VII 521c1–540c9 und Gill 1985, S. 15). 776 Gegen Bobonich gehe ich bei den Bürgern auch im Erwachsenenalter von zwei

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Charakterarten im Politikos

Es existieren allerdings auch Menschen, die es nicht vermögen, zu Besonnenheit oder Tapferkeit erzogen zu werden: Der Fremde: In genau derselben Weise [d. i. wie die Webereikunst], so scheint mir, wird die königliche Kunst allen vom Gesetz bestellten Lehrern und Erziehern – sie selbst hat die Fähigkeit der Aufsicht führenden Kunst – nicht erlauben, zu üben, was man nicht zu einem ihrer Mischung angemessenen Charakter bilden und vollenden wird; allein dieses befiehlt sie zu erziehen. Und die, welche nicht fähig sind, an einem tapferen und besonnenen Charakter, und was sonst zum Bereich der Tugend gehört, teilzuhaben (mê dynamenous koinônein êthous andreiou kai sôphronos hosa te alla esti teinonta pros aretên), sondern in Gottlosigkeit (atheoteta) und Hybris (hybrin) und Ungerechtigkeit (adikian) von einer schlechten Natur mit Gewalt (hypo kakês biai physeôs) hineingestoßen werden, die wirft sie hinaus durch Hinrichtung und Verbannung und straft sie mit dem äußersten Verlust der Ehre. (Plt. 308e4–309a3)

Für die Lösung dieses Problems scheint mir Friedo Rickens Position plausibel, da die hier klar erwähnte Unfähigkeit dieser Menschen m. E. nicht abgeschwächt werden kann. So geht auch Ricken davon aus, dass es sich um Menschen handelt, die nicht zur Tugend gelangen können, was sich nur mit der Schicksalswahl der Politeia erklären lassen kann, d. h. es handelt sich hier offensichtlich um Menschen, die ein schlechtes Leben gewählt haben müssen, sodass diese Menschen bereits mit Anlagen zur Welt kommen, die nicht mehr zum Guten zu retten sind. 777 verschiedenen Gruppen aus. Bobonich hingegen ist der Ansicht, dass sich die Bürger zunächst durch einen der beiden Charakterzustände auszeichneten und der andere durch die Erziehung und die Aneignung der wahren Meinung erworben werde (1995, S. 316 (Fn. 8): »Individuals start off with one or the other character state and acquire the opposed virtue due to education and the implanting of true opinion.«; vgl. ebd., S. 316 f. und Fn. 8). Ein Mensch mit tapferen Anlagen wird sich aber als Erwachsener – bei einer richtigen Erziehung – hauptsächlich durch seine Tapferkeit auszeichnen und nicht plötzlich durch eine Besonnenheit, die in seinen Anlagen so nicht gegeben ist. Was die Erziehung gewährleistet, scheint vielmehr ein Ausschlagen der jeweiligen Anlage ins negative Extrem zu verhindern. Auch Lane vertritt die Position, dass sowohl göttliches als auch menschliches Band nicht darauf aus sind, die Unterschiede der beiden Charaktergruppen zu eliminieren, da auch ansonsten die Anwendung des Weberparadigmas nicht gerechtfertigt wäre (vgl. 1998, S. 182). 777 Vgl. Ricken 2008, S. 220. Für Ausführungen zu unheilbaren Seelen und entsprechenden Implikationen für die Erziehung vgl. Kap. 2.2. Das schlechte Leben, das die Menschen gewählt haben, kann dabei nicht das eines Tyrannen sein, zumindest wenn man die Interpretation aufrechterhalten will, dass es sich hier im Politikos eher um durchschnittliche Menschen handelt. Seelen im Wandel

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Es finden sich zudem Hinweise im Politikos, die es rechtfertigen, das Charakterschema des Phaidros dialogübergreifend anzuwenden. Offensichtlich werden im Politikos hauptsächlich gewöhnliche Menschen thematisiert, d. h. solche mit epithymêtikon- und thymoeidesAnlagen. Welcher Charakter sich aus diesen Anlagen entwickelt, hängt nun von der Erziehung ab; beispielsweise wird vielfach ein zu starkes thymoeides kritisiert, das sich durch Raserei (vgl. Plt. 307b10 778 und 310d9) kennzeichne. Ein solch vollständig vom thymoeides dominierter Charakter wird bereits im Phaidros durch den Wahrsager versinnbildlicht, der sich – wie oben bereits ausgeführt – durch eine starke seelische Erregung kennzeichnet. So wie dort mantikê auf manikê zurückgeführt wurde (vgl. Phdr. 244b6–d5), wird hier ein exzessives thymoeides mit demselben Vokabular als manisch bezeichnet. Auch wenn ich Mitchell H. Jr. Miller und Christopher Bobonich darin zustimme, dass im Politikos hauptsächlich die Charaktere der gewöhnlichen Menschen näher erläutert werden 779, so lassen sich dennoch auch einige Feststellungen zum Charakter des Staatsmannes selbst machen. Während sich bei einer richtigen Erziehung die gewöhnlichen Charaktere in die Gruppe der Wächter (thymoeides mit leichtem logistikon-Einschlag) und Kaufleute (epithymêtikon mit leichtem logistikon-Einschlag) einordnen lassen 780, so gestaltet sich die Zuordnung des Staatsmannes etwas komplizierter, sodass entsprechend unterschiedliche Positionen vertreten wurden: (1) die Verneinung jeglicher Parallele oder Übereinstimmung mit der Politeia 781 (2) die Identifizierung des Staatsmannes mit dem Philosophen im Allgemeinen, wobei nicht deutlich wird, welche Philosophenart gemeint ist 782, und (3) die Identifizierung des wahren Staatsmannes mit dem Philosophenkönig. 783 778 Auf diese Textstelle weist auch Oesterle hin, wenn er darauf aufmerksam macht, dass eine Übersteigerung der andreia u. a. in Wahnsinn ausschlagen könne (vgl. 1978, S. 113). 779 Vgl. Miller 1980, S. 111 und Bobonich 1995, S. 316. 780 Gegen Skemp 1987, S. 223 (Anm. 1 zu Plt. 306b–c), der die Vermischung der beiden Typen als Ergebnis sieht, da nach der Erklärung im Politikos die beiden Gruppen für sich genommen miteinander einen »eternal conflict« (ebd., S. 223 (Anm. 1 zu Plt. 306b–c)) austragen würden. 781 Vgl. Gill 1979, S. 152, 154; Skemp 1987, S. 223 (Anm. 1 zu Plt. 306b–c). Gill spricht von einer »redefinition of the scientific ruler« (S. 152). 782 Vgl. Oesterle 1978, S. 72. 783 Vgl. Clark 1995, S. 239; Rowe 2000, S. 237.

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Charakterarten im Politikos

Wie aber bereits ausgeführt wurde, scheint es durchaus gerechtfertigt, Vergleiche mit der Politeia anzustellen; zugleich kann aber nicht allgemein der Staatsmann mit dem Philosophen gleichgesetzt werden, ohne zu differenzieren, um welche Philosophenart es sich dabei handelt (vgl. Kap. 3.3). Dass es sich um einen logistikon-Charakter handeln muss, scheint klar; die Terminologie im Phaidros legt nahe, die dritte Art der von der Vernunft dominierten Charaktere anzunehmen (logistikon mit leichtem epithymêtikon-Einschlag), da diese dort u. a. als politikos bezeichnet wird (vgl. Phdr. 248d5). In der Politeia werden allerdings nur die ersten beiden Arten erwähnt und als Philosophen klassifiziert (die besprochenen natürlichen Philosophen und die kallipolis-Philosophen). David A. White geht davon aus, dass es sich bei den Beschreibungen des Staatsmannes nicht um den wahren Staatsmann handle, da dieser aufgrund seiner Gottähnlichkeit und Unerreichbarkeit beiseitegestellt werde. So werde nur der bestmögliche Herrscher beschrieben, da der wahre Herrscher nicht erreichbar sei und keine reale Möglichkeit darstellt. 784 Diese Position erscheint folgerichtig; allerdings geht White offenbar nicht weiter darauf ein, ob der beschriebene Herrscher einem anderen Charakter zugeordnet werden könnte. Neben der Tatsache, dass der Staatsmann zunächst als Hüter einer Herde bezeichnet wird 785, spricht auch die Vermischung von stürmischem und stetigem Charakter in einer einzelnen Person 786 dafür, Vgl. White 2007, S. 118 f. Vgl. Plt. 267a8–c3. Weiss (vgl. 1995, S. 218 f.) und Clark (vgl. 1995, S. 240) sind der Ansicht, dass dieses Paradigma bis zum Ende des Dialogs bestehen bleibt, auch wenn der Fremde es zeitweilig zu verwerfen scheint. 786 Vgl. die obige Diskussion von Rep. VI 503b7–d5. Oesterle weist zudem darauf hin, dass auch Rep. III 410d6–e3 eine Parallele darstellt (vgl. 1978, S. 117 f.), wenn davon gesprochen wird, dass die Wächter sowohl tapfer als auch besonnen sein müssen und eine zu starke Erziehung der tapferen und philosophischen Anlage in Härte bzw. Verweichlichung umschlägt. Als Unterschied ist hier aber auch festzuhalten, dass an der genannten Stelle die Verweichlichung durch ein übertrainiertes logistikon zustande kommt, wohingegen in der Schlusspassage des Politikos diese offenbar durch ein zu stark erzogenes epithymêtikon entsteht (da die entsprechende Tugend als Besonnenheit bezeichnet wird und diese nicht logistikon-spezifisch ist – ganz im Gegensatz zur sophia oder phronêsis, die als bürgerliche Tugend durch das Erwerben der wahren Meinung hinzutritt, vgl. Plt. 309e5–9). Gill hingegen sieht keine Parallele zu den besten Wächtern der Politeia; allerdings scheint er davon auszugehen, dass weder »divine shepherds« noch der »unphilosophical human flock« mit den besten Wächtern zu vergleichen wären (1979, S. 154; vgl. ebd., S. 154). Auch wenn dies für das Kronos-Zeitalter stimmen mag, können m. E. die Besonnenen und Tapferen im Zeus784 785

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Die Bedeutung des Charakters für die Politik

dass beim Staatsmann und beim leitenden Regierungsbeamten – wenn es nur einen einzigen gibt (vgl. Plt. 311a4–5) – mindestens eine große Ähnlichkeit zum kallipolis-Philosophen der Politeia besteht. Selbstverständlich lassen sich auch Unterschiede feststellen 787 und das Vokabular deutet darauf hin, dass sich beim Staatsmann keine sichere Zuordnung zu einer Charakterart konstatieren lässt; vielmehr scheint er die zweite und dritte Charakterart des logistikon-Typen zu vereinen, einmal aufgrund der festgestellten Ähnlichkeiten zum besten Wächter (logistikon + thymoeides) und zum anderen dadurch, dass die Erkenntnis des Herrschers gleichermaßen als epistêmê basilikê, politikê und oikonomikê bezeichnet wird, sodass in Bezug auf den Phaidros kein wesentlicher Unterschied zwischen logistikon– thymoeides-Charakter und logistikon–epithymêtikon-Charakter gemacht wird (vgl. Plt. 259c1–4 und die entsprechende Stelle innerhalb der Charakterauflistung in Phdr. 248c5–e3, wo die zweite Charakterart als gesetzesmäßiger König und die dritte u. a. als politikos und oikonomikos bezeichnet wird). Insgesamt lässt sich aber festhalten, dass auch im Politikos der Herrscher für die optimale Charakterentwicklung der Bürger zuständig ist und daher nur jemand mit dem entsprechenden Wissen als Staatsmann geeignet ist, sodass in den wesentlichen Punkten keine Abkehr von der Psychologie der Politeia konstatiert werden kann.

Zeitalter, die nicht beide Anlagen zugleich in sich vereinen, aber durchaus als unphilosophische Herde gesehen werden. Für den göttlichen Hüter im Kronos-Zeitalter wiederum kommen weder die besten Wächter noch die natürlichen Philosophen, wie sie in der Politeia beschrieben werden, in Frage, da diese lediglich eine Gottähnlichkeit aufweisen (s. Kap. 3.3.2), die göttlichen Hüter aber mit Gott gleichgesetzt werden (vgl. Plt. 275a2). Darauf weist bereits Clark hin (vgl. 1995, S. 239); allerdings spricht er nicht von natürlichen Philosophen, sondern negiert die Gleichsetzung mit dem Philosophenkönig (diesen sieht er vielmehr im wahren Staatsmann des Zeus-Zeitalters gegeben), der – wenn es sich nicht gerade um einen der Gründer handelt – einen kallipolis-Philosophen darstellt (s. Kap. 3.3.1). 787 Wie z. B. dass die Erziehung an andere delegiert wird (vgl. Plt. 308e4–9).

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Die vorliegende Studie hat anhand der Analyse einschlägiger Textpassagen versucht, Platons Theorie des Charakters ausfindig zu machen und näher zu beleuchten. Trotz einer nicht einheitlichen Terminologie lässt sich doch eine gewisse Kohärenz der platonischen Aussagen zum Charakter feststellen, auch wenn die entsprechenden Darlegungen teilweise unterschiedlichen Werkphasen entstammen. Zu den wichtigsten Erkenntnissen zählt dabei, dass Platon von einer einseitigen dauerhaften Plastizität des Charakters ausgeht: So schwebt über allen Menschen, auch den Philosophen, während ihres Lebens die Gefahr, dass ihre Seele (zurück) ins Chaos – welches Platon als Unwissenheit definiert – stürzt, wenn nicht durchgehend an der Herstellung und Erhaltung der inneren Ordnung gearbeitet wird. Ein besonders hoher Grad an Formbarkeit lässt sich im Kindesalter festmachen, aber auch später noch lassen sich die meisten Menschen zum Guten formen bzw. verändern, im Notfall auch durch Strafmaßnahmen, wenn bereits ein verbrecherischer Charakter vorliegt. Nur eine kleine Gruppe, die sogenannten Unheilbaren, sind von jeglicher Veränderung ausgeschlossen. Sie haben durch besonders schwere Verbrechen (wie z. B. gottesfrevlerische Taten) ihre Seele so weit zerstört, dass sie irreversibel geschädigt ist. Daneben gibt es aber auch solche Menschen, die mit so schlechten Anlagen zur Welt gekommen sind, dass auch sie unweigerlich zu schlechten Charakteren werden, wenngleich nicht notwendig unheilbar – denn für die Unheilbarkeit ist zugleich ein hohes Maß an intellektuellen Anlagen nötig. So repräsentieren unheilbare tyrannische Charaktere das Gegenextrem zum philosophischen Charakter. Die Faktoren, die die Charakterentwicklung maßgeblich beeinflussen, stellen dabei in gleichwertigem Maße die Erziehung und die Anlagen dar. Die Erziehung hat einen enormen Einfluss, insofern sie die physis des Menschen fast immer zum Guten verändern kann. Grenzen gesetzt werden ihr dabei aber dennoch durch genau diese Seelen im Wandel

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natürlich gegebenen Anlagen, die nicht unendlich veränderbar sind und es daher vielen Menschen verwehren, z. B. einen philosophischen Charakter zu erlangen. Eine weitere Einschränkung erfährt die Erziehung durch die Ausnahmecharakterformen der unheilbaren Seelen und derjenigen mit Anlagen, aus denen zumindest keine guten Charaktere erwachsen können. Der Körper ist bei der Charakterentwicklung eher als Hindernis zu sehen, was aber nicht bedeutet, dass man ihn völlig außer acht lassen dürfe und eine asketische Lebensweise annehmen solle. Die Aussagen zum Körper sind durch die ganzen Werkphasen hindurch recht einheitlich, insofern der Körper als Störfaktor gesehen wird, der erst einmal ein Chaos in der Seele erzeugt. Dennoch werden in den Spätdialogen auch positive Möglichkeiten beleuchtet, wie der Körper in der Erziehung eingesetzt werden kann und bei der Hervorbringung von Tugenden behilflich sein kann. Entscheidend ist dabei die körperliche Bewegung, die bei korrekter Ausführung positiv auf die Seele wirken und sie so formen kann. Weitere, aber im Vergleich zu Erziehung und Anlagen eher weniger bedeutende Aspekte, die einen gewissen Einfluss auf die Charakterbildung ausüben, sind die umweltlichen Gegebenheiten, die entweder bereits die natürlichen Anlagen zu einem gewissen Grad festlegen oder indirekt auf die Charakterbildung wirken, der Einfluss des Zufalls und der Götter. Auch die Verantwortung der Menschen für die Erziehung ihrer Kinder beginnt weit vor dem frühkindlichen Alter, und zwar direkt beim Augenblick der Empfängnis. Hat man bereits einen schlechten Charakter erworben, so können Strafmaßnahmen die meisten Menschen noch bessern, sodass auch der Hauptzweck der Strafe genau in dieser Besserung der Charaktere liegt. Bei unheilbaren Seelen, die die Todesstrafe erleiden müssen, ist Besserung jedoch ausgeschlossen, sodass hier nur noch Abschreckung als Funktion der Strafe genannt werden kann. Ein weiteres wichtiges Anliegen der Studie bestand darüber hinaus darin, auch die politische Bedeutung des Charakters hervorzuheben, sodass klar wird, dass die ethische Erziehung nicht nur für die einzelnen Individuen von Interesse, sondern für das Wohl von ganzen Staaten von Bedeutung ist, da zwischen Individuum und Polis eine Kausalbeziehung besteht. In diesem Rahmen spielt außerdem die Charakterologie eine Rolle, die Platon in der Politeia entwirft, wenn er den Verfall der Staatsverfassungen und der inneren seelischen Ordnungen darlegt. Eine ausführlichere Darlegung der verschiede322

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nen Charakterarten findet sich aber im Phaidros, wo sich neun verschiedene Charakterarten ausmachen lassen, die sich durch das Zusammenspiel der Seelenteile und der unterschiedlichen Grundanlagen der Menschen unterscheiden. Insgesamt hoffe ich, dass das Projekt einen hilfreichen Beitrag dazu geleistet hat, die platonischen Aussagen zum Charakter gebündelt zusammenzufassen und zu diskutieren, und herausgestellt hat, dass man berechtigterweise von einer recht einheitlichen platonischen Theorie des Charakters sprechen kann, die auch nützlich für einen Vergleich mit anderen Philosophen sein kann. Dieser letzte Aspekt konnte hier nur angedeutet werden, indem beispielhaft auch ein knapper Vergleich zur aristotelischen Position versucht wurde. Auch wenn es sich hier um eine philosophiehistorische Arbeit handelt, die wohl einen der größten Denker der Antike thematisiert, sind die Probleme und Fragestellungen hinsichtlich der Charakterbildung und des Umgangs mit schlechten Charakteren gerade auch in der Politik in unserer heutigen Zeit mehr als aktuell. Die platonische Feststellung, dass die Demokratie die Gefahr bereithält, dass die Menschen bei nicht hinreichender Bildung schließlich einen Tyrannen an die Macht wählen, sollte uns auch heute noch zu denken geben und uns veranlassen, die politische Bildung in einem Staat nie zu vernachlässigen.

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Stellenverzeichnis

Alk. I 118a15–b8 142 I 130c1–e1 240 II 138c 136 Apol. 29b1–2 Crat. 407b8–9

142

47

Criti. 109c4–d2 216, 218 109c8–d1 217 Gorg. 476b1–2 36 480a1–481b5 163 480a6–b2 100, 102, 108 480e5–481b1 99 484d2–7 48 491b4 192 512a2–b2 99, 101 523a1–526d2 118 523a1–527e7 163 525b1–4 211 525b1–526c1 101–102, 116, 121 525b6–c1 211 525c8 211 525d5–6 106 Leg. I 624a–626b 214, 218 I 625a4–b1 47 I 625a5 47, 273 I 632d9–650b10 117

I 644a2–5 84 I 644a6–b2 97 I 644a6–b4 89 I 644b2–4 158 I 644c1–645b1 189 I 644c6–d3 189 I 644d7–645b8 81 I 645a2–3 81, 90 I 645d6–646a6 130 I 646a4–5 63, 80 I 649a1 – II 674c7 95 I 650a2–b8 50 I 650b 276 II 652b3–653c4 208 II 653a5–c4 79, 81, 90, 226 II 653b1–c4 80 II 653b2–c4 60, 79, 83, 89, 229 II 653b6–c4 202 II 653c7–9 80 II 653c7–654a8 89, 158 II 653c7–654b8 80 II 653c7–d5 88 II 653d7–654a5 85 II 655a4–b6 85 II 655b9–d4 83 II 655d5–656a5 83 II 655d5–656b7 80, 87 II 655d7 230 II 655e5–6 202 II 656b1–6 83 II 656b1–7 47, 80 II 656b1–8 86 II 656b2 230 II 656c1–8 80, 85 II 656c1–657c1 86 II 659b5–c5 88, 231

Seelen im Wandel

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Stellenverzeichnis II 659c4 31, 230 II 659c9–660a8 62, 212 II 661b7–d3 101 II 662b1–2 89 II 664b4–5 59, 80 II 664c4–d4 85 II 664d4 47 II 665c2–7 88 II 666a2–c7 91 II 666a3–7 208 II 666b2–c2 63, 80, 91, 192 II 666b7–c1 48 II 669b5–c3 85, 88 II 669c1 47, 230 II 670e1 47, 230 II 671b8–c2 63, 80 II 672e5–6 80 III 679b7–c2 235 III 679b7–c8 95 III 689a5–7 189 III 689a5–9 88–89, 140, 142–144, 189 III 689a5–b2 76, 130–131 III 689a5–c3 90 III 689a7–9 80, 117, 176, 181, 184, 197 III 689a8 189 III 689b2–3 161 III 689c1–2 181 III 689c6–e2 94 III 689d4–5 80 III 690d1–691a9 143 III 691a3–9 142–144 III 691a5–6 89 III 695d6–e3 47–48, 273 III 700a7–701b3 231 III 700d3 88 IV 704a–706d 214 IV 704d3–705b6 45, 95, 134, 217 IV 704d6–7 45 IV 705b5 47 IV 708c2–d1 47–48 IV 709b7–c4 219 IV 710c5–d1 219 IV 713c5–d3 219 IV 717b2–4 219 V 704a1–707d6 225 V 727b5–6 181 V 728c3 36

344

V 728d3–e5 157–158 V 728d6–729b2 235 V 728e5–729b2 235 V 729e6–730a2 219 V 731b3–d5 211 V 731b4–5 106 V 731b4–d5 106 V 732c1–d3 219, 235 V 733a9–b3 79, 81, 90 V 735d8–e5 103, 122 V 736a3–c4 91 V 737a7–b9 235 V 738b5–e2 219 V 739b8–e7 91 V 740a2–b1 219 V 741e1–6 84 V 742e4–743c4 235 V 746d3–747b3 235 V 746e2–3 89 V 747b6–d1 219 V 747b7–8 218 V 747c3 218 V 747c5–6 219 V 747c6–d1 219 V 747d2–e5 218 V 747e5 219 VI 751c5–d2 273 VI 751c9 47–48 VI 765e3–766a1 59, 80 VI 766a1–4 80, 88 VI 773c3–e4 95 VI 775a4–776b4 95 VI 775b–e 111 VI 775d1–e2 47, 214, 223 VI 775e2–4 224 VI 778d3 106 VI 778d3–779a8 218 VI 782d10–783b1 157, 159 VII 788a1–824a22 95 VII 788b3 47 VII 790a6 47 VII 790c5–791c7 157–158 VII 790e8–791c6 85 VII 791c4 160 VII 791c4–6 160 VII 791c8–d9 224 VII 791e4–792e2 228

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https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Stellenverzeichnis VII 792d4–e2 59, 80, 90–91 VII 792d4–e7 60, 65, 224 VII 792e1–2 227 VII 799a4–b4 219 VII 800c7–e7 86 VII 801e1–4 219 VII 802c7–d6 80 VII 804a1–b4 219 VII 815e4–816a6 85 VII 816d3–817a1 78, 86 VII 817b1–5 78, 268 VII 817e5–818a7 88 VII 818b9–c3 219 VIII 828a7–b3 219 VIII 832b5–6 47 VIII 835d6–e2 84 VIII 837b8–c6 35 VIII 837b8–d1 32 VIII 846d1–847b2 84 VIII 848c8–d7 219 IX 853b4–d4 192 IX 853d5–854c5 103, 106, 108, 122 IX 853d5–855a2 171 IX 854e4 48 IX 855a2–4 47–48, 273 IX 855a4 48 IX 857b4–864c9 143 IX 859b6–864c8 167 IX 859c6–860c3 144, 182 IX 859d3–860c2 169 IX 859d3–e1 32, 36 IX 859e3 36 IX 860c4–861a2 169 IX 860d1–9 145 IX 860d5–861c6 167 IX 860d5–e3 169 IX 860d9–e3 172 IX 860e6–7 169 IX 860e8–9 181 IX 861a5 169 IX 861a8–10 169 IX 861b1–c6 169 IX 861c7–d6 169 IX 861d2–7 169 IX 861e1–863a2 210 IX 861e8–862a1 171 IX 862a 172

IX 862a2–b1 173 IX 862a2–c4 170 IX 862b1–6 26, 37, 170 IX 862b1–c4 164 IX 862b5–863a2 177 IX 862b5–c4 188 IX 862c6–8 37 IX 862d1–e1 37 IX 862d4–863a2 103, 107, 121–122 IX 863a3–6 178, 190 IX 863a7–864c2 51 IX 863a7–d4 178 IX 863a7–e3 192 IX 863b ff. 135, 141, 143 IX 863b1–4 160 IX 863b1–864c1 145 IX 863b6–9 190 IX 863c1–d4 176, 178, 181, 190 IX 863d3–4 188 IX 863d6–e1 161 IX 863d10–11 179, 182–183 IX 863d10–e1 81 IX 863e2–3 179, 184 IX 863e5–864a8 180, 187 IX 863e5–864b4 168 IX 863e5–b4 191 IX 864a 172 IX 864a1 185, 188 IX 864a1–8 174 IX 864a4 202, 209 IX 864a8–c8 196 IX 864b2 187 IX 864b6–7 188–190 IX 864b6–c2 191 IX 864b8–c1 188 IX 864c–e 197 IX 864c4–6 237 IX 864c4–8 237 IX 864c10–e9 198 IX 864d3–e4 173–174 IX 864d4 174 IX 864e3–9 174 IX 865a1–3 237 IX 865a1–874d1 174 IX 865a1–882c4 196 IX 865d3–e9 198 IX 865d6–e9 48–49

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A https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

345

Stellenverzeichnis IX 866d5–867b1 193 IX 866d5–869e5 145, 237 IX 866d7–e6 205 IX 866e6–867b1 176 IX 866e6–867c2 204 IX 867c4–8 205 IX 867c4–d3 205, 207 IX 867c8–d3 205 IX 869e4–5 237 IX 869e5–8 176, 197, 238 IX 871d4–e2 197 IX 873b3–c1 122 IX 874d5–879b5 192 IX 874e5–7 193, 206 IX 874e7–875c3 122 IX 876e6–877b2 193, 206, 219 IX 877a2–b2 219 IX 877b6–c1 206 IX 879b1–3 193 IX 879b1–5 207 X 885b4–9 182 X 885e7–886b8 182 X 886a6–b8 227 X 886b7–8 174, 201 X 892a2–b5 38, 49 X 895c1–897b6 118 X 896b10–c3 38 X 896c5–d3 26, 38, 45 X 904b6–c10 34 X 904b8–c4 224 X 906a2–7 219 X 907b1–4 200 X 907c7 47 X 907d6–909d2 174, 176, 182 X 908b4–c1 202 X 908b5 47 X 908c1–6 209 X 908c1–e3 199 X 908d5 209 X 908d7–909c4 41 X 908e5–6 201 X 908e5–909a5 203, 208 X 908e5–909a8 201 X 908e5–909d2 52, 183 X 908e6 47 X 909a1 201 X 909a4 203, 208

346

X 909a4–5 201 X 909a5–c4 203 X 909a8 200 X 909a8–d2 183 X 909b6–c4 200 X 909e3–910a6 219 XI 914b3–5 219 XI 919d2–920a4 84 XI 937d8 ff. 36 XII 941d4–942a4 103, 108, 122, 171 XII 948c2–d1 200 XII 951a4–b4 88 XII 957c7–958a3 219 XII 957e2 168 XII 959a4–d1 152 XII 961a1–969c3 209 XII 964d3–969d3 88 Ly. 214a–215e 35 221e5–222a6 25 221e7–222a3 26 222a 28 Phd. 61a3–4 78, 268 61e5–62c8 129 62c9–69e4 126 64c2–9 129 64d1–e3 29, 44 64d2–65d3 151–152 64d2–67b6 297 64d2–e7 128 64d9–e3 151 64e8–67e4 310 65a9–67e7 128 67a2–6 128–129 67d4–6 129 68b8–69d4 212 68b8–69d7 264, 276 69a6–b5 293 69a6–c3 112 76a1–4 129 76a1–e4 126 76d7–e4 130 78b4–81a11 44, 297 79c2–9 126, 128

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Stellenverzeichnis 79c8 130 80e2–82c8 274 81d9–e3 30 81d9–e4 30 81e6–82a6 30 82a7–b3 30 82a12–b1 30 89e6–90b3 76, 96, 114 90a1–2 97 100b1–103a2 129 107c8–d5 297 113d1–e1 96 113d6–e6 104, 106 113e1–6 212 113e6–114b6 212

309b 312 309b4 48 309c5–7 312 309c5–d9 315 309d10–e9 312, 315 309e5–9 313, 319 310a7–d9 312 310d9 160, 318 310d11–e4 313 311a4–5 320 311b7–c7 312

Phdr. 244b6–d5 269, 318 245c ff. 152 246e4–247a2 268 247b3–5 117 247c4–6 267 248a1–b5 117 248c5–d4 78 248c5–e3 116, 123, 240, 267, 320 248d5 319 248e5–249b3 114 250c4–6 163 252c3–253c6 268 253e5–255a1 160 279a5–b1 290 Phil. 49a1–e8 178 Plt. 259c1–4 320 267a8–c3 319 275a2 320 306a1–307c7 316 306b–c 312, 314, 318 307b9–c7 192 307b10 160, 318 308d 276 308e4–9 320 308e4–309a3 317 308e9–309a3 103, 107, 121–122

Prot. 324d7–325b4 103, 109 357e2 142 358c1–3 142, 144 359d6 142, 144 Rep. I 329d3–4 51 I 347a10–d8 76, 121 II 357a4–b3 309 II 357b4–358a9 308 II 358c7–d3 309 II 361a5–d3 18, 34 II 366b3–367e5 34, 46 II 367a–374d 258 II 368d1–369b1 258 II 368e2–369b1 251, 259 II 374e6 – III 412b3 259 II 375a2–376c6 275 II 375c6–376c6 315 II 375d10–376c7 287 II 376a11–b6 287 II 376c4–5 287 II 376c4–6 286 II 376c5 315 II 376c7 – III 412b7 251 II 376d9 – III 412b7 117 II 376e2 – III 412b6 95 II 376e2 – III 412b7 275, 316 II 377a12–b3 60, 64 II 377a12–b4 90–91 II 378d7–e1 64–65 II 380e3–381a2 275 II 382e6 295 II 383c3–5 154, 295

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Stellenverzeichnis III 387c3–5 192 III 394e1 ff. 69 III 394e1–396e2 77 III 394e1–396e3 77 III 395b8–396a6 229 III 395d2–3 69 III 395e7–396a6 86 III 396a4–6 77 III 398c1–402a6 229 III 398e6–7 192 III 398e9–10 232 III 399a3–c6 232 III 400d7 230 III 400e3 230 III 401a8 230 III 401b2 230 III 401d5–7 229 III 401e1–402a6 60, 81, 228 III 402d1–4 31, 44 III 402d2 230 III 403c11–d1 65 III 407b4–7 129 III 408d7–410a6 163 III 409a1–b2 47 III 409e4–410a6 103, 105, 122 III 409e–410a 99 III 410c8–411c3 109 III 410d1–411b4 192 III 410d6–e3 319 III 412c9–11 285, 291 III 414b1–7 269, 284, 287 III 414c4–415c6 124 III 414c4–415c7 262 III 414c4–415d5 222 III 415a1–c6 243 III 415a7–b3 222 III 416d3–417b9 265 IV 420b4–421c6 95 IV 423d8–425a7 95 IV 427e6–12 96 IV 428c11–429a3 95 IV 428c11–429a4 288 IV 429a8–430c4 263 IV 430c2–6 264 IV 430c2–7 279 IV 430c3–4 112 IV 430e6–10 96, 300

348

IV 431a3–b2 300 IV 431b4–432a9 264 IV 431b4–d6 259 IV 431b9–c3 76 IV 431b9–c8 257 IV 431c9–d3 96 IV 431d4–8 300 IV 431e4–432b1 96 IV 431e7–432a9 292 IV 433e12–434a1 299 IV 434d2–435a3 258 IV 434d2–436b3 40 IV 434d6 261 IV 435b1–444a3 130 IV 435b4–7 40, 300 IV 435b5 40 IV 435b7 40 IV 435b9–436a4 259 IV 435b9–c6 40 IV 435c4–6 42 IV 435c5–6 41 IV 435e1–3 26, 32, 39–41, 43, 221, 259 IV 435e1–436a3 41, 260 IV 435e1–436a4 243 IV 435e2 40, 43 IV 435e3–436a3 134, 215 IV 435e7–436a3 32 IV 439d4–8 29, 118, 219 IV 439e2–4 42 IV 440e2–441a4 263 IV 440e8–10 42 IV 441d8–10 299 IV 441d8–e2 300 IV 441d12–e7 308 IV 441e4–7 161, 301 IV 442a4–b3 302 IV 442a4–d1 300 IV 442b11–c4 263 IV 442c5–9 307 IV 442c10–d3 94, 96, 292 IV 442d10–443b6 174, 187, 301 IV 443b1–3 301–302 IV 443b1–6 96 IV 443c9–d1 292 IV 443c9–d5 119 IV 443c9–e2 299–300 IV 443d7 261

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Stellenverzeichnis IV 443e4–444a2 227, 301 IV 444b1–8 118, 142–144 IV 444c10–d2 174, 187, 301, 306, 309 IV 444e4–6 301 IV 445a5–b4 242 V 449a4 51 V 449a7–450a8 289 V 457c10–462e3 265 V 466e1–467e8 227 V 473c11–e2 225 V 473c11–e5 277, 279 V 475b8–c8 293–294 V 479e7–480a13 293–294 VI 484b3–485b3 290 VI 484c4 290 VI 485a4–503b10 51 VI 485a10–487a6 293–294 VI 485a10–494b4 259 VI 485a10–d5 283, 293 VI 485a–503b 283 VI 485b5–e1 290 VI 485c3–4 295 VI 486a8–9 295 VI 487c4–d5 290 VI 489e3–490d7 293–294 VI 489e3–490e1 288 VI 489e3–496e2 288 VI 490e2–501c2 95 VI 491d1–e7 124 VI 491e1–3 294–295, 309 VI 491e1–6 109 VI 491e1–7 112, 116 VI 492a1–5 288 VI 492a1–493a2 216 VI 492e2–493a2 295 VI 494a12–b3 293–294 VI 495a4–b7 271 VI 496a11–497a5 117, 263, 276 VI 496a11–497d2 113 VI 496a11–c2 279 VI 496a11–e2 278, 288 VI 497b1–7 271 VI 497b1–c3 296 VI 500b8–c2 292 VI 500b8–c7 154, 295 VI 500d4–8 46, 291 VI 500d5 46

VI 501a2–4 45 VI 501a2–7 282 VI 501a2–c2 221, 241 VI 501a2–c9 251 VI 501b1–7 278, 297 VI 501d1–3 293 VI 502c9–d3 286 VI 502e1–2 284 VI 502e1–504a1 259 VI 502e2 284 VI 503b3–5 287 VI 503b4–5 285 VI 503b7–d5 316, 319 VI 503c2–8 283 VI 503c2–504a1 293–294 VI 503e1–504a1 284 VI 506b2–e5 278 VII 514a5–6 302 VII 515a9–b1 302 VII 518b6–541b5 117 VII 518d9–519a6 293 VII 518d9–519b6 117 VII 519a1–7 110, 116 VII 519a2 291 VII 519c5–d2 186, 304 VII 519c8–d2 304 VII 519c9 304 VII 519d1–520c6 310 VII 520a5–9 309 VII 520a6–9 310 VII 520a6–c1 310 VII 520b5–c1 310 VII 520d6–e4 310 VII 520e1 310 VII 520e2–3 310 VII 521c1–540c9 316 VII 525b8–9 283, 301 VII 532a7 293 VII 534b3–540c9 279 VII 535a9–536b6 293–294 VII 535c5–8 288 VII 536d1–4 303 VII 538d6–539a6 309 VII 539d8–540b7 144 VII 539e2–5 301, 309 VII 539e2–540a6 262 VII 539e5–540a2 309

Seelen im Wandel

A https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

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Stellenverzeichnis VII 540a4–8 302 VII 540a4–b1 309 VII 540a4–b7 285 VII 540a7 304 VII 540a8–b7 309 VII 540b4–5 308, 310 VII 540b5–7 287 VII 540b7–c2 295 VII 540d1–e3 282 VII 540e5–541a4 47, 61–62, 64–65, 273

VII 540e5–541a7 61, 282 VII 540e5–541a8 95 VII 540e5–541b1 90, 241, 303 VII 541a4–5 65 VIII 543a1–6 289 VIII 543a1–7 283 VIII 543a4–6 283 VIII 544d6–e5 243 VIII 544d7–e3 258 VIII 544e4–5 259 VIII 544e7–545b2 270 VIII 545b3–4 259 VIII 546a1–547a5 193 VIII 546a1–b7 273 VIII 546a2–3 288 VIII 546a7–d3 221 VIII 546a8 288 VIII 546b4 295 VIII 546c6–547a5 271 VIII 548a5–b2 253 VIII 548c6–7 261, 263 VIII 548c9–d4 240, 256 VIII 548d8–549a8 256 VIII 548d8–549b8 269 VIII 548e4 – IX 576b10 95 VIII 548e4–549c1 119 VIII 548e4–550b8 119 VIII 549a8 259 VIII 549a9–b4 253 VIII 549b9–c1 258 VIII 549c2–6 249 VIII 549c2–550b8 274 VIII 549c3 248 VIII 549c8 249 VIII 549c8–550b8 241 VIII 549e3–550a1 249

350

VIII 550a4–b7 123, 253 VIII 551b8 259 VIII 551e3–4 254 VIII 552b6–c1 253 VIII 553a6–555b2 265 VIII 553a9–b5 249 VIII 553a9–b6 271–272 VIII 553a9–c8 61, 241 VIII 553a9–d9 274 VIII 553b7–c2 249 VIII 553b7–c7 120 VIII 554a2–9 254 VIII 554a5–8 264 VIII 554b7–c3 264 VIII 554c11–d4 254, 264, 270 VIII 554d9–e2 272, 275 VIII 555a8–b2 258 VIII 557a2–b11 255 VIII 557a9–b3 247 VIII 557b4–11 255 VIII 557c4–7 44, 246–247 VIII 557d8 254 VIII 558b1–5 97 VIII 558c11 249 VIII 558c11–d7 272–274 VIII 558d8–559c7 129, 151 VIII 559d7–561a5 241, 274 VIII 559d7–e2 123, 249 VIII 559d7–e8 272 VIII 559e8–560a2 249 VIII 560a4–b3 249 VIII 560a9–b3 272–273 VIII 560b7–8 249 VIII 561a1–e8 264 VIII 561b7–c5 261 VIII 561c6–e7 246 VIII 561c6–e8 270 VIII 561c7–e2 247 VIII 561e3–8 265, 275 VIII 562a1–3 258 VIII 562a4 – IX 588a11 102 VIII 562a7 51, 259 VIII 564d6–e3 254–255 VIII 566a3–4 272–273 VIII 568c2–5 75 VIII 569b6–7 106 IX 571a1–576b9 238

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Abida Malik

https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Stellenverzeichnis IX 571a1–d5 117 IX 571b5 261 IX 571c3–7 43–45, 50 IX 571c7 44 IX 572c6–d4 264 IX 572d4–573b5 273 IX 572d5–573b5 274 IX 572d8–573a3 123, 272 IX 572d8–573b5 241 IX 572d8–575b10 265 IX 572e4–6 249 IX 573a4–b1 249 IX 573b6–8 161 IX 573c7–9 110, 249 IX 573c9 238 IX 573d2–576b9 270 IX 574a6–576b10 106 IX 574d1–576b10 117 IX 574d5–575a8 117 IX 574e2–575a6 161 IX 574e2–575b9 265 IX 575a9–b9 255 IX 575c4–d1 161 IX 576b4 112 IX 576b4–10 112 IX 576b7 112 IX 576b11–588a11 292, 296 IX 576c6–9 258 IX 576e6–577a5 17, 33 IX 577a5–b4 33 IX 577b5 33 IX 577e1–3 116 IX 578b4–c4 110 IX 579c4–580c5 242 IX 579c4–d8 110 IX 580b8–587e4 96 IX 580e2–581a8 29 IX 581c3–5 260 IX 582e8–583a5 307 IX 586c7–d3 119 IX 588d10–e1 119 IX 590c8–d7 96 IX 590d5 96 X 595a5 74 X 598b6–c4 66 X 602a3–10 66 X 604a10–607a9 77

X 604d3–4 42 X 604d5–605a6 52 X 604d5–e6 42, 44 X 604e1–605a3 34 X 604e1–605a6 50, 75 X 604e2 42 X 605a2–606d7 269 X 605a5 42 X 605c6 66 X 605c6 ff. 73, 80, 82 X 605c6–8 73 X 605c7 67 X 605c10 67 X 605c10–606d8 77 X 606a3–d7 235 X 606a7–8 74, 76 X 606c2–10 77, 229 X 606c2–d7 77 X 607a3–5 74 X 607e4–608b2 76 X 611b9–612a6 162 X 611b9–612a7 152 X 611e1–612a3 290, 293 X 612a3–5 297 X 614b2–621d3 96, 163, 207, 274, 297 X 615a2–3 114 X 615c2–616a4 102, 105, 116, 121 X 615c2–e1 106 X 615c5–d3 105 X 615e4–616a4 211 X 616a3–4 211 X 617d6–e5 225 X 617e5 223 X 618b6–e3 112 X 618c6–619a7 112 X 618c6–d5 112 X 618c6–e2 148 X 618c6–e3 117 X 618d3–5 148 X 619b7–e5 212 X 619d1–7 113 Soph. 227d ff. 135, 141–142 227d4–230e5 143 228e1–5 144, 182 229c5–10 142

Seelen im Wandel

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Stellenverzeichnis 229d1–230e5 208 230a9 208 230c4 ff. 144 265a–67b 70 Symp. 183d8–e6 27, 32 183e 28 183e5–6 44 195e 28, 48 195e2–7 27–28 195e4–7 192 195e6–7 48 207d6–e5 28 207e 28 207e1–5 44 210a4–212a7 130 210b 32 Thet. 153b5–c6 150 174b 311 176a8–b2 154 194e1–195b1 141 Tim. 24c5–d2 216, 218 24c7 216 42b3–4 153 42d5–e4 222 42e6–44b1 130–131, 162 44a7–b1 160 44a7–c4 151, 154 47a1–b2 162 47a1–c6 131 47d2–e2 154 53c4–d7 153 69c3–d4 190 69c5–71a3 162 69c5–71d4 48 69c5–72d3 130–131 70a2–d6 141 70d7–e3 138 73b1–e1 134, 141, 149 81d4–e1 153

352

81e6–86a8 133 82a1–b7 133 82b8–84c7 133 82c–86a 157 84c8–86a8 133 85a5–b2 135 85e4–86a2 153 86b1–2 132, 135 86b1–87a7 123 86b1–87b9 156 86b1–90d7 131, 156 86b1–c3 130, 174, 185 86b2–4 134 86b4–7 139 86b7–c3 135, 137–139, 142–145 86b–87b 157 86c3–4 149 86c3–d2 134, 141, 157, 235 86c3–d5 149 86c3–d7 139 86d7–e3 134 86e3–87a7 139 86e5–87a7 139 87a5–7 138 87a7 138 87a7–b4 134 87a7–b8 134, 146 87b4–8 134, 147 87c1–89a1 156, 235 87c1–89d1 92, 150 87e6–88a7 155 88a7–89d1 154 88a7–b5 130, 138, 142–145, 151 88a–b 157 88b5 131, 139, 141–143, 176, 203 88c1–6 151, 155 89a1–d1 156 89d1–7 155 89d2–7 155–156 89d2–90d7 154, 156–157 89d4–5 155 90c4 152 90d1–7 134, 154, 156 90e1–92c9 148 92a7–c3 149

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Personenverzeichnis

Abert, H. 78, 232, 234 Adeimantos 240, 256, 286, 288–289, 292 Adkins, A. W. H. 175, 185, 194 Agathon 27–29 Ahonen, M. 132–133, 135–136, 139, 147, 151, 155, 174, 198 Alt, K. 104, 114 Anderson, W. D. 232–234 Andersson, T. J. 242–244, 248, 258 Annas, J. 17, 95–96, 99, 113–114, 241, 259, 276, 298, 309 Apollon 268 Ardiaios 105 Ares 268 Aristoteles 15, 24, 61, 83, 152, 194, 200, 204, 215, 218, 226–239 Aronadio, F. 17–18, 23–28, 31, 33– 34, 41, 44, 46, 48 Asmis, E. 66, 73, 75, 78 Athena 216–217 Athener, der 35–36, 38, 45–46, 49, 79, 85–88, 97, 103, 106, 108–109, 131, 143, 160, 165–179, 181–182, 184–185, 187–188, 190–192, 195– 196, 198–200, 203–205, 207, 209– 210, 217–219, 224–225, 237, 268 Barney, R. 281, 302 Baumgarten, H.-U. 118–119 Becker, A. 36 Belfiore, E. 68, 73–76, 91 Benardete, S. 168, 171, 176, 180, 185–186, 205, 277 Bertelli, L. 252 Blondell, R. 13

Blössner, N. 13, 61, 64–65, 222, 250, 258–259, 267, 271, 273–274, 276 Blundell, M. W. 226 Bobonich, Ch. 19, 52, 93, 95, 98–99, 120, 124, 147, 264–265, 312–313, 315–318 Bordt, M. 26–27 Bostock, D. 126 Brickhouse, Th. C. 115, 277 Brickhouse, Th. C./Smith, N. D. 99, 101, 115 Brisson, L. 123, 147, 276 Brown, G. 19, 43, 243–244 Buckels, Ch. 277, 281, 298, 301–302, 305–306 Burger, R. 126 Burnyeat, M. F. 61, 67, 70 Bury, R. G. 28, 48 Calabi, F. 222, 244, 252 Caluori, D. 277, 302, 306, 308 Calvert, B. 61, 165–166, 171 Campese, S. 244, 263 Carone, G. R. 48, 151–153 Charpenel, E. 23–24, 83, 194, 226, 236, 238 Clark, S. R. L. 318–320 Cornelli, G. 13 Cornford, F. M. 132 Couloubaritsis, L. 278 Craig, L. H. 240, 256, 261, 263 Cross, R. C./Woozley, A. D. 68 Dalfen, J. 99, 102 Damon 232–233 Dareios 48

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353

Personenverzeichnis Destrée, P. 66, 71–73, 75 Dihle, A. 61 Diller, H. 216 Diotima 28, 44 Dirlmeier, F. 126 Dixsaut, M. 277 Dorter, K. 306 Ebert, Th. 30, 99, 126 Edmonds III., R. G. 99, 102 Elm, R. 49 Else, G. F. 82 Empedokles 23, 236 England, E. B. 186 Erler, M. 49 Fagan, P. 213–214, 218 Ferber, R. 67, 302 Ferrari, G. R. F. 13, 52, 68, 75, 114, 241–248, 251–252, 256–259, 262 Folch, M. 87 Föllinger, S. 132–133, 137 Frede, D. 31, 126, 244, 248, 256, 274, 276 Fremde, der 103, 143, 319 Freud, S. 94 Fronterotta, F. 60, 85 Galen 133 Gallop, D. 126 Gastaldi, S. 62, 212 Gavrielides, E. 241, 273, 275 Gigon, O. 244 Gill, Ch. 19, 21, 62, 98, 132–133, 137, 139, 147, 150, 155, 157, 161, 179, 316, 318–319 Giorgini, G. 106, 244 Glaukon 33, 240, 256, 286, 289, 310 Gooch, P. W. 142–145 Görgemanns, H. 168, 175, 180–181, 184, 194 Graeser, A. 16, 297 Grote, G. 168 Grube, G. M. A. 142, 168 Hackforth, R. 126, 132, 135, 137, 141–143, 168, 180

354

Hall, R. W. 19, 21 Halliwell, S. 72, 75–76, 78 Heinaman, R. 308 Heitsch, E. 267 Hellwig, D. 13 Hentschke, A. B. 147, 155, 287, 297 Hephaistos 216–217 Hera 268 Höffe, O. 243–244, 258 Homer 66, 76, 121 Homiak, M. 21 Horn, Ch. 17, 52, 81, 119, 145, 168, 174–175, 179–181, 187 Hübner, J. 126–129 Inwood, M. 99, 105, 114–115 Irwin, T. 120, 260 Isokrates 290 Jaeger, W. 92–93, 98–99 Janaway, Ch. 60–62, 66, 70, 75, 78 Jedan, Ch. 19, 132 Jenkins, M. K. 283, 293 Johansen, Th. K. 150–152, 157 Johnstone, M. A. 120, 260 Jones, W. H. S. 136 Jouanna, J. 132–133, 136–137, 139– 140 Jouët-Pastré, E. 78, 229 Kallikles 48 Kambyses 48 Kamtekar, R. 81, 120 Karasmanis, V. 132 Kebes 212 Klein, S. 19 Kleinias 48, 165, 169, 173, 177, 190, 192, 218, 225 Knoch, W. 171, 206, 208 Koller, H. 82, 232–233 Kraut, R. 38, 95–97, 186, 306, 308, 310–311 Kühn, W. 19, 40–43 Kutschera, F. v. 262 Kyros 48

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https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Personenverzeichnis Lain-Entralgo, P. 76 Laks, A. 66, 71 Lane, M. S. 315, 317 Larivée, A. 117–118 Lautner, P. 132–133, 136, 139, 150– 151, 154 Lavecchia, S. 306 Lear, G. R. 66, 68–69, 71, 76 Lear, J. 25, 243–248, 250–252, 257 Leroux, G. 276 Levin, S. B. 66, 69–70, 72 Lisi, F. L. 133, 137–138, 146, 151, 154–155 Lloyd, G. E. R. 132 Lorenz, H. 13, 17, 52 Mackenzie, M. M. 13, 19, 102, 132, 146–147, 164, 166–167, 205, 209– 212 Maguire, J. P. 240 Mahoney, T. A. 154, 277, 301 Manuwald, B. 103 Mayhew, R. 38 McCabe, M. M. 52 McGibbon, D. D. 181 Megillos 48, 166, 169, 173, 218 Merker, A. 66, 111, 132, 138, 207– 208 Mesch, W. 126, 152–154 Miller, H. W. 133 Miller, M. H. Jr. 313, 315, 318 Mishima, T. 315 Morrow, G. R. 183 Moss, J. 66, 72, 77 Müller, G. 168, 172, 180–181 Müller, J. 13, 17, 22, 118, 120, 142, 157–158, 161–162, 179, 187 Murray, P. 66, 71–72, 78, 87 Nehamas, A. 67–68, 70, 75 Nesselrath, H.-G. 216–217 Nettleship, R. L. 114 Nietzsche, F. 78 Notomi, N. 66, 71–72 Oesterle, H.-J. 160, 313, 318–319 Olympiodor 99

Ostenfeld, E. 153 O’Brien, M. 168, 180–181 O’Meara, D. J. 99, 113 Patterson, R. 19, 277 Paulsen, Th. 29 Paulsen, Th./Rehn, R. 27–29, 137, 216 Pausanias 27, 29, 44 Pelosi, F. 60, 80, 85 Peponi, A.-E. 80, 87 Pfefferkorn, J. 62, 85, 87, 120, 212 Pigeaud, J. 132–133 Pindar 23 Polemarchos 286, 289 Polos 100 Pongratz, L. J. 22 Porcheddu, R. 13, 172–173, 271 Prauscello, L. 80, 132 Price, A. W. 52 Proklos 98–99, 113 Protagoras 102–103 Rankin, H. D. 19, 21 Reeve, C. D. C. 258–259, 261, 264, 266, 270, 275, 308, 310 Rehn, R. 29 Ricken, F. 107, 312–314, 317 Ritter, C. 168 Robinson, T. M. 13, 17 Rosen, S. 65, 277, 282, 293, 298, 306 Rossi Monti, M. 122 Rotondaro, S. 168, 172, 194 Rowe, Ch. 99–100, 104, 318 Ryffel, H. 244, 251, 271, 276 Sachs, D. 301, 309 Santas, G. 257, 264 Saunders, T. J. 13, 19, 34, 102, 132, 154, 164–165, 168, 172, 177, 180– 181, 183–184, 186–187, 189, 195, 200, 205 Schleiermacher, F. 30, 47, 104, 267 Schöpsdau, K. 34–36, 38, 46–49, 82, 84, 99, 143, 145, 164, 168, 171, 176– 177, 180–185, 188, 192–194, 196– 197, 199–201, 205, 208, 237

Seelen im Wandel

A https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

355

Personenverzeichnis Schriefl, A. 217, 235, 253 Schur, B. Th. 110 Schütrumpf, E. 168, 175, 228 Schwartz, M. 94, 99, 109, 114, 118, 268, 302 Scott, D. 19, 272 Sedley, D. 99–100, 102, 154, 311 Seidel, Ch. 20 Sharafat, S. 180, 185, 194 Shields, Ch. 52, 281, 302–304, 306 Silverman, A. 306 Simmias 128, 212 Skemp, J. B. 312–314, 318 Smith, N. D. 115, 277, 302, 306–309 Söder, J. 15, 162 Sokrates 25–26, 30–33, 39, 42–43, 61–62, 64–67, 69, 73–77, 81, 94– 100, 102–103, 106, 109, 112, 115, 119, 126–129, 148, 151, 154, 161, 211–212, 215–216, 222, 232, 241, 243–244, 247–248, 251, 254–263, 265–271, 274–279, 281–290, 292– 293, 295–296, 299–300, 302–303, 308–310 Solinas, M. 94, 257, 263 Stalley, R. F. 99, 113, 142, 146–147, 163, 165, 168, 172, 177, 185, 207 Steel, C. 146 Steiner, P. M. 13, 183 Strawson, P. F. 174 Summa, L. 227 Szlezák, Th. A. 297

Vegetti, M. 31–32, 40, 46, 215, 221, 244, 271, 277–280, 282, 284–285, 287, 298 Vernezze, P. 277 Vretska, K. 31–33, 40, 46, 61–62, 64, 215–216, 221, 241, 249, 256 Wagner, E. 281, 302–303, 305, 307 Weiss, R. 61–62, 110, 175, 181, 185– 186, 278, 280–282, 286–289, 291– 294, 298–299, 301–303, 305–306, 310, 319 White, D. A. 319 Williams, B. 13, 121, 241, 243–247, 252, 254, 256–258 Williamson, Th. 243, 260, 275–276 Woerther, F. 19, 230, 233 Wolf, U. 236 Woodruff, P. 75, 82, 84–85, 88 Woods, C. 277–278, 301, 308 Wyller, E. A. 183, 200 Xenophon 136 Xerxes 48 Zehnpfennig, B. 127 Zeus 268 Zimmermann, P. 126

Tartaglini, C. 233 Tate, J. 68, 70

356

Taylor, A. E. 132, 146–147, 223 Thein, K. 244 Timaios 131, 133–134, 138–139, 142, 145–147, 149, 153, 155, 157, 223 Trelawny-Cassity, L. 165–166

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Abida Malik

https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

Sachverzeichnis

Alkohol 91, 111, 130–131, 223 Anlage 13, 18, 22, 24, 47, 50–55, 58– 60, 63, 82–83, 88, 92–94, 97, 107, 109–113, 115–117, 123–124, 134, 147–149, 156, 199–200, 202–203, 208, 213–216, 219–225, 227–228, 243, 249, 257, 263, 265–266, 268– 271, 278–291, 293–295, 303, 312– 322 Bewegung 60, 85, 89, 138, 149–150, 154–158, 228, 231, 235, 322 choreia, Chor(praxis) 80, 82–84, 86– 87, 120, 156, 160 Dichtung 79

53–54, 60, 64, 66–68, 70–

Erziehung 13–14, 18–19, 31, 47, 51, 53–56, 58–60, 62–67, 70, 79–81, 83–85, 87–94, 97–98, 107–113, 115, 117, 122–125, 134, 140, 146–150, 154, 156–158, 160, 162–165, 186, 191, 202–203, 206, 208, 212–214, 220, 225–227, 229–234, 242–243, 249, 251, 261, 263, 265, 271, 273, 275, 278–281, 283–289, 291, 295, 297–298, 302–303, 305–306, 309– 310, 313–322 freier Wille

118, 120–121

Gewöhnung 74, 82, 88, 224, 227– 228, 239, 307

Habitualisierung 67, 77–78, 118, 201, 239, 281 homunculi 52, 120 Idee des Guten 67, 144, 185–186, 202, 262, 278, 281, 293, 302–309, 311 Inkarnation, Reinkarnation 31, 44, 55, 58, 104–105, 113–114, 123, 148–149, 152, 157, 207, 213, 267, 274 Intellektualismus 55–56, 115, 142, 145–146, 168, 175 Lust 43, 62, 70, 79, 81, 90, 107, 117, 130, 136–140, 142, 149, 159, 161– 162, 168, 174, 176, 178–180, 182– 184, 187, 189–190, 192, 194–199, 203–204, 212, 227, 246, 281, 284, 303 mimêsis 61, 63, 67–72, 74–76, 80, 82–88, 90, 94, 267 nächtlicher Rat, nächtliche Versammlung 59, 88, 201, 203, 208–209 oikeioprageia 285, 298–302 Strafe, Bestrafung 13–14, 19, 49, 52–56, 58, 92, 98–105, 107–108, 113, 115, 121–122, 143–144, 163– 167, 169, 173–177, 182–183, 188, 190, 192–195, 197–200, 203–213, 226, 237, 297, 322

Seelen im Wandel

A https://doi.org/10.5771/9783495823828 .

357

Sachverzeichnis Umwelt 13, 18, 55–56, 58, 134, 213– 219, 225 Unfreiwilligkeit 55, 164, 167–168, 170, 172, 176–177, 190, 192–194 Unheilbare 14, 53–55, 59–61, 94, 98–106, 108–111, 113, 115–118, 121–124, 164–166, 171, 177, 183, 191, 197, 200, 205, 207, 209–212, 236, 313, 317, 321–322

358

Unwissenheit 52, 54–60, 63, 67, 75, 79–80, 89, 106, 117, 122, 124–125, 127, 130–132, 134–135, 138, 140– 145, 147, 149, 156, 160–163, 167– 168, 174, 176–195, 197, 199, 201, 203–204, 208, 321 Wein 63, 80, 208

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Abida Malik

https://doi.org/10.5771/9783495823828 .