Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem: Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund 9783839455494

Wie erleben Studierende mit Fluchthintergrund den Einstieg in das deutsche Hochschulsystem und wie kann ihre Integration

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German Pages 248 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung
3. Forschungsmethodisches Design
4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory
5. Das Bildungserleben geflüchteter Studierender – Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem: Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund
 9783839455494

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Caroline Struchholz Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Bildungsforschung  | Band 3

Caroline Struchholz, geb. 1990, ist als leitende Mitarbeiterin in der Carina Stiftung in Herford tätig. Bis August 2020 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn in der Arbeitsgruppe für Historisch-Systematische und Vergleichende Erziehungswissenschaft.

Caroline Struchholz

Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund

Dissertation am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn, 2020 Gutachterinnen: Prof. Dr. Christine Freitag Prof. Dr. Antje Langer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5549-0 PDF-ISBN 978-3-8394-5549-4 https://doi.org/10.14361/9783839455494 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.

Einleitung........................................................................... 7

Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung ................. 11 Migration und Bildung................................................................ 11 2.1.1 Studierende mit Migrationshintergrund – zur aktuellen Forschungslage ........ 12 2.1.2 Zur besonderen Situation geflüchteter Studierender ........................... 15 2.1.3 Cultural Studies oder die Macht des ›Gate Keeping‹........................... 24 2.2 Bildung und Biographie ............................................................. 28 2.2.1 Die Perspektive bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung ........ 28 2.2.2 Bildung im Lebenslauf – zur Bedeutung institutioneller Ablaufmuster ......... 35 2.2.3 Zur Bewältigung von Übergängen und Transitionen im Lebenslauf............. 40 2.3 Biographie und Migration ........................................................... 45 2.3.1 Zur Auseinandersetzung mit Biographien in der Migrationsforschung.......... 46 2.3.2 Selbst- und Fremdheitszuschreibungen im Kontext von Migration ............. 48 2.3.3 Die transnationale Perspektive auf die Verortung von Biographien ............ 53 2.3.4 Biographie im Kontext von Fluchtmigration................................... 55 2.4 Migration, Bildung und Biographie – Zusammenschau ................................ 56

2. 2.1

Forschungsmethodisches Design ................................................... 61 Erkenntnisinteresse und methodologische Kriterien dieser Arbeit ..................... 61 3.1.1 Entwicklung der Forschungsfrage ............................................. 61 3.1.2 Zur Forschungsperspektive der Grounded Theory ............................. 63 3.1.3 Umgang mit theoretischem Vorwissen – sensibilisierende Konzepte........... 67 3.1.4 Zur Forschungsperspektive der Biographieforschung nach Fritz Schütze ...... 67 3.1.5 Zur Vereinbarkeit von Biographieforschung und Grounded Theory ............ 69 3.1.6 Methodologische Herausforderungen ........................................ 75 3.2 Methodisches Design und Erhebung ................................................. 82 3.2.1 Teilnarrative Interviews zur Bildungs- und Fluchtbiographie .................. 82 3.2.2 Theoretical Sampling und Feldzugang ........................................ 85 3.2.3 Transkription ................................................................ 89 3.3 Vorgehen bei der Datenauswertung .................................................. 91 3. 3.1

3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

Segmentierung der Daten ..................................................... 91 Offenes Kodieren ............................................................ 92 Axiales Kodieren............................................................. 95 Selektives Kodieren.......................................................... 98

Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory ............. 101 Eine begriffliche Annäherung an das ›Bildungserleben‹ ............................. 102 4.1.1 Theoretische Annäherung................................................... 102 4.1.2 Phänomen ›Bildung erleben‹ ................................................ 104 4.1.3 Zwischenfazit ............................................................... 118 4.2 Studium als Bildungserleben: das Zusammenwirken von Bildung, Biographie und Migration ................................................... 119 4.2.1 Der Zusammenhang von Biographie und Bildung .............................. 121 4.2.2 Der Zusammenhang von Bildung und Migration .............................. 129 4.2.3 Der Zusammenhang von Migration und Biographie ........................... 169

4. 4.1

5. 5.1

Das Bildungserleben geflüchteter Studierender – Fazit und Ausblick.............. 203 Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse hinsichtlich des Bildungserlebens geflüchteter Studierender .................................... 203 5.2 Implikationen für weitere wissenschaftliche Forschung............................. 206 5.3 Implikationen für die Praxis.........................................................212 6.

Literaturverzeichnis ............................................................... 217

1. Einleitung

Kaum ein Thema wurde in den vergangenen Jahren gesellschaftlich und politisch so kontrovers diskutiert wie die Frage nach der Integration Geflüchteter. Fakt ist, dass viele Menschen Zuflucht in Deutschland gesucht und gefunden haben und ein enormes Potenzial für den Bildungs- und Arbeitsmarkt mitbringen. Dies betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern beispielsweise auch junge Erwachsene, die einen Hochschulabschluss anstreben. Nach Angaben der UNHCR haben aktuell jedoch nur 3 % der Geflüchteten weltweit einen Zugang zur Hochschulbildung im Gegensatz zu 37 % der Restbevölkerung (vgl. UNHCR 2019). Filippo Grandi, der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, spricht in diesem Zusammenhang von einer Flüchtlingsbildungskrise und appelliert in seinem aktuellen Bericht dafür, Bildung als fundamentalen Bestandteil der Reaktion auf Flüchtlingsnotlagen anzuerkennen: »We are failing refugees by not giving them the opportunity to build the skills and knowledge they need to invest in their futures.« (Grandi 2019, zit.n. UNHCR 2019) Eine Flucht ist dabei mit der Ankunft im Aufnahmeland noch längst nicht abgeschlossen, sondern stellt ein komplexes Konglomerat herausfordernder Faktoren dar, die im Kontext der Bildungsteilhabe eine Rolle spielen. Viele Hochqualifizierte können auf dem Arbeitsmarkt der Aufnahmeländer beispielsweise nur schwer von ihrer bisherigen Bildungsbiographie profitieren (vgl. Fortin et al. 2016). Dadurch werden einerseits Potenziale, die für unsere Gesellschaft höchst relevant sind, außer Acht gelassen und andererseits wird den Geflüchteten ein offensichtliches Gefühl der Minderstellung vermittelt. Um dies zu vermeiden gilt es, Flucht als ganzheitlichen Prozess zu verstehen und nicht nur als eine Wanderungsbewegung von einem Ort zu einem anderen. Gerade Hochschulen wird in diesem Zusammenhang das »Potenzial eines Transmissionsriemens« zugeschrieben (vgl. Berg et al. 2018: 58). Die Hochschule kann also zu einem Medium werden, dass die vorhandenen Potenziale an die Gesellschaft weitergibt, sie für diese nutzbar macht und antreibt. Hochschulen können so zu »Produktionsstätten sozialer Integration« (ebd.) werden und die Geflüchteten aus dem häufig durch organisierte Desintegration geprägten Alltag lösen (vgl. Täubig 2009). Dennoch stellt sich in

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diesem Zusammenhang die Frage, warum dann offensichtlich nur eine verhältnismäßig geringe Zahl Geflüchteter den Zugang zu Hochschulbildung erreichen kann. Wenngleich der Großteil der Befragten einer Studie des Vereins »uni-assist« zum Hochschulzugang für Geflüchtete angibt im Studium zufrieden zu sein (vgl. Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen 2019), scheinen der Hochschulzugang selbst und damit verbundene Prozesse deutliche Hürden zu offenbaren. Berg et al. (2018) arbeiten in diesem Kontext ein Forschungsdesiderat für den Hochschulzugang Geflüchteter und damit verbundener Implikationen für die Teilhabe an Hochschulbildung heraus. Demnach fehlt es bis heute an Wissen darüber, wie eine Teilhabe von Geflüchteten an Hochschulbildung erfolgreich organisiert werden kann und wie Geflüchtete das deutsche Hochschulsystem wahrnehmen (vgl. ebd.: 60). Mit Blick auf den internationalen Forschungsstand lassen sich vor allem Studien aus den USA, Australien und dem Vereinigten Königreich ausmachen, wohingegen in Kontinentaleuropa und anderen Teilen der Welt das Studium für Geflüchtete »ein weißer Fleck auf der englisch- und deutschsprachigen Forschungslandkarte« (ebd.) bleibt. In vielen qualitativen Studien wird zudem das methodische Vorgehen nur oberflächlich dargestellt, theoretische Reflexionen und Generealisierungen greifen teilweise recht kurz und verwendete Konzepte oder Begriffe werden häufig nicht konkretisiert (vgl. ebd.: 82f.). Wissenschaftliche Forschung lässt damit bisher wohl weitgehend die Möglichkeit aus, durch intensivere Forschungsbemühungen auch konkrete Anregungen für die Hochschulpraxis bieten zu können, um die Bildungsteilhabe Geflüchteter an Hochschulen zu verbessern und zu erleichtern. Letztendlich wird mit solchen Arbeiten auch ein Zeichen gegen das Fortschreiten einer Flüchtlingsbildungskrise gesetzt. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch das vorliegende Desiderat aufzulösen, aber einen Beitrag zu leisten, um die Situation geflüchteter Studierender und Studienbewerber/-innen spezifischer und ganzheitlicher in den Blick zu nehmen. Leitende und zentrale Fragestellungen sind dabei, wie Menschen mit Fluchthintergrund den Einstieg in das deutsche Bildungssystem am Beispiel des Hochschulzugangs erleben und verarbeiten, wodurch ihr Erleben beeinflusst wird und welcher Bedarf sich daraus konkret für die Geflüchteten ergibt. Mit dieser ›großen‹ und sehr offenen Fragestellung liegt es nah, der Arbeit die Grounded Theory Methodologie zugrunde zu legen und die Forschungsarbeit als stetigen Forschungs- und Erkenntnisprozess anzulegen. Aufbau und Darstellungen folgen einer entsprechenden Logik. In Kapitel 2 werden Theoriebefunde dargestellt und als sensibilisierende Konzepte für das Forschungsvorhaben verstanden. Die hier zu Beginn aufgeworfene Problemskizzierung und damit verbundene Fragestellungen lassen komplexe Verflechtungen zahlreicher theoretischer Ansätze und Konzeptionen erwarten. Zentral ist im Kontext dieser Arbeit das Verhältnis beziehungsweise Zusammenspiel der Konzepte ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹, dem es sich theoretisch an-

1. Einleitung

zunähern gilt. Dafür werden zunächst die Besonderheiten der Kombinationen jeweils zweier Konzepte fokussiert. In Kapitel 2.1 geht es um das Verhältnis von ›Migration‹ und ›Bildung‹, wo neben der Gruppe Studierender mit Migrationshintergrund gerade die besondere Situation geflüchteter Studierender und einhergehende Macht- und Gate Keeping-Strukturen betrachtet werden. In einem weiteren Schritt, der Beschreibung des Verhältnisses von ›Bildung‹ und ›Biographie‹ (Kapitel 2.2), geht es dann um die Perspektive bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung, der Bedeutung institutioneller Ablaufmuster im Lebenslauf, ebenso wie der Frage nach der Bewältigung von Übergängen. Das Verhältnis von ›Biographie‹ und ›Migration‹ (Kapitel 2.3) beschäftigt sich dann eingehend mit Fragen nach individuellen und kollektiven Verortungen und Zuschreibungen. Aus den genannten Kombinationen erwächst in Kapitel 2.4 eine theoretische Sensibilisierung für das Zusammenspiel aller drei genannter Konzepte und eröffnet damit einen Horizont für die folgende weitere Darlegung des Forschungsprozesses, der in Kapitel 3 vertieft thematisiert wird. Da ›Biographie‹ in dieser Arbeit nicht nur als theoretisches Konzept fungieren, sondern auch als empirische Forschungsperspektive im Sinne der Biographieforschung zur Erkenntnisgewinnung beitragen soll, gilt es in diesem Kapitel zunächst die Forschungsperspektiven der Grounded Theory mit denen der Biographieforschung zusammenzuführen. Darüber hinaus wird das methodische Vorgehen zur Erhebung und Auswertung der Daten dargestellt. In Kapitel 4 steht die Darlegung der Forschungsergebnisse im Vordergrund. Entsprechend der Logik der Grounded Theory folgt das Kapitel dem Zugang einer sukzessiven Entwicklung der Erkenntnisse. Die Ergebnisse des Kodierprozesses werden unter reflexivem Rückbezug zu den sensibilisierenden Konzepten entworfen und führen schlussendlich zu einer Grounded Theory (Kapitel 5.1). Sich daraus ergebende Konsequenzen für die weitere wissenschaftliche Forschung (Kapitel 5.2) sowie die hochschulpolitische Praxis (Kapitel 5.3) werden abschließend diskutiert.

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2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Dieses Kapitel dient der Darlegung der für diese Forschungsarbeit leitenden sensibilisierenden Konzepte. Dazu erfolgt eine theoretische Annäherung an die zentralen Begriffe ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹, zunächst durch die Betrachtung der Kombination von jeweils zwei Begriffen, die für sich genommen schon je eigene Forschungsfelder darstellen. In Kapitel 2.1 geht es daher um das Verhältnis von Migration und Bildung, wobei Studierende mit Migrationshintergrund (Kap. 2.1.1), die besondere Situation geflüchteter Studierender (Kap. 2.1.2) sowie Machtund Gate-Keeping-Strukturen (Kap. 2.1.3) im Vordergrund stehen. Im Diskurs um Bildung und Biographie (Kap. 2.2) steht dann die Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung im Fokus (Kap. 2.2.1), ebenso wie die Bedeutung institutioneller Ablaufmuster im Lebenslauf (Kap. 2.2.2) und die Frage nach der Bewältigung von Übergängen (Kap. 2.2.3). Im Kontext von Biographie und Migration (Kap. 2.3) geht es dann um Identitätszuschreibungen (Kap. 2.3.2), transnationale Perspektiven (Kap. 2.3.3) und auch hier noch einmal um die besonderen Implikationen von Biographien Geflüchteter (Kap. 2.3.4). Im Zuge der jeweiligen Diskurse wird auch deutlich, welches Verständnis von ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹ für diese Arbeit relevant ist. Am Ende des Kapitels (2.4) geht es dann um eine Zusammenschau der Diskurse und um die Herausarbeitung eines gemeinsamen theoretischen Kerns der drei Forschungsfelder.

2.1

Migration und Bildung

Die Kombination der beiden in der Überschrift genannten Themengebiete knüpft vor allem an aktuelle gesellschaftliche Diskurse rund um ›Migration‹ und ›Flucht‹ an, die seit den deutlich gestiegenen Zahlen der Zuwanderung ab ca. 2015 im Kontext von Integration geführt werden. So heißt es vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF):

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»Die Bildungsbeteiligung von Migrantinnen und Migranten und ihre Bildungserfolge bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit und Förderung. Denn Bildung ist für ihre Integration in unsere Gesellschaft von herausragender Bedeutung.« (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015). Gerade Hochschulen haben bereits jahrelange Erfahrungen mit internationalen Studierenden, verzeichnen steigende Zahlen von Studierenden mit Migrationshintergrund und können dementsprechend potenziell auch eine notwendige Infrastruktur für die Integration von Studierenden mit Fluchthintergrund vorweisen. Der Fokus dieses Kapitels soll daher vor allem auf der Gruppe letztgenannter Studierender liegen, deren besondere Situation im hochschulischen Kontext beleuchtet werden soll.

2.1.1

Studierende mit Migrationshintergrund – zur aktuellen Forschungslage

Studierende mit Migrationshintergrund haben in den bildungs- und hochschulpolitischen Debatten der letzten Jahre mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Im Jahr 2017 weisen ca. 26 % der Studierenden in Deutschland einen Migrationshintergrund auf, die Tendenz ist steigend (vgl. Morris-Lange 2017). Bereits seit den 1980er Jahren werden Studierende mit Migrationshintergrund an deutschen Universitäten erfasst. Gemeint sind damit »all jene, die entweder selbst im Kindes- oder Jugendalter nach Deutschland zugewandert sind oder in Deutschland geboren sind und mindestens einen aus dem Ausland zugewanderten Elternteil haben. Diese Studierenden haben das deutsche Schulsystem durchlaufen und eine deutsche Hochschulzugangsberechtigung erlangt« (Morris-Lange 2017: 7). Ab den 1990er Jahren hielt dann eine weitere statusrechtliche Unterscheidung zwischen Bildungsinländer/-innen und Bildungsausländer/-innen Einzug (vgl. Schwendowius/Thoma 2016). Als Bildungsinländer/-innen werden in der amtlichen Statistik diejenigen Studierenden mit Migrationshintergrund bezeichnet, die keinen deutschen Pass besitzen, aber ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erlangt haben; wohingegen Bildungsausländer/-innen mit internationalen Studierenden gleichzusetzen sind, die eigens zum Studium nach Deutschland gekommen sind und ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben (vgl. Morris-Lange 2017: 7). Insgesamt führt diese Unterscheidung, so beispielsweise Hamburger/Stauf (2009) und Utlu (2011), zu neuen Grenzziehungen und Besonderheiten. Migrant/-innen sollen einerseits aufgrund des Fachkräftemangels verstärkt für ein Studium akquiriert werden, andererseits werden sie immer wieder als potenziell benachteiligt und unterstützungsbedürftig dargestellt, nämlich durch die Zuschreibung besonderer Hürden beim

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Hochschulzugang und im Verlauf des Studiums, die überwunden werden müssten (vgl. Schwendowius/Thoma 2016). Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) richtet in diesem Kontext beispielsweise den »Qualitätspakt Lehre« explizit auch an Bildungsausländer/-innen und Studierende mit Migrationshintergrund, indem bereits von 2011 bis 2016 verschiedene Projekte an 186 deutschen Hochschulen und darüber hinaus bis 2020 an 156 Hochschulen zur Verbesserung der Studienbedingungen und Lehrqualität an deutschen Hochschulen gefördert werden (vgl. Falk/Tretter/Vrjoljak 2018). Im Hochschulbereich sind aktuell zwei wissenschaftliche Diskurse im Zusammenhang mit Studierenden mit Migrationshintergrund im Fokus. Zum einen herrscht eine hohe Nachfrage bei internationalen Studierenden bezüglich eines Studiums in Deutschland im Kontext der Internationalisierung der Hochschulen, und zum anderen wird die Beteiligung von Studierenden mit Migrationshintergrund im Hochschulsystem primär unter den Aspekten der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit diskutiert. Vor allem in der bereits erwähnten Diskussion rund um den Fachkräftemangel werden Studierende mit Migrationshintergrund in einer wirtschaftlichen Perspektive mehr und mehr zu einer wertvollen Ressource (vgl. Wehking 2017). Mit Blick auf die bestehende Forschungslage scheinen Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit dabei für Studierende mit Migrationshintergrund grundsätzlich in Frage gestellt zu sein. Ein hoher Anteil von Studierenden mit Migrationshintergrund stammt aus bildungsbenachteiligten Schichten (Ruokonen-Engler 2013: 146; Müller 2012), Studierende mit Migrationshintergrund verfügen demnach häufiger über Diskriminierungserfahrungen (vgl. Klein/Rebitzer 2012) und sind generell in Bezug auf Hochschulzugang und wissenschaftliche Karriere insgesamt besonders benachteiligt (Klein/Heitzmann 2012). Vor allem der familiäre beziehungsweise sozioökonomische Hintergrund wird dabei immer wieder als hemmender Faktor diskutiert. Die Kombination der Variablen »Migrationshintergrund« und »niedrige soziale Herkunft« führt nach Rokitte (2012) zu einer schlechteren Integration in das akademische und studentische Leben, besonders wenn die Studierenden einer zeitaufwendigen Nebentätigkeit nachgehen. Morris-Lange (2017) führt die Debatte eher aus der Perspektive der Studierenden selbst und bezeichnet sie dementsprechend als Bildungsaufsteiger/-innen, schließt sich jedoch der Diskussion um die Hürden des Studienalltags an und bemängelt zudem anhand von Forschungsbefunden, dass Studierende mit Migrationshintergrund oft nicht die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, um ihr Studium erfolgreich abzuschließen. Schwendowius und Thoma (2016) weisen jedoch kritisch darauf hin, dass die familiäre Herkunft zwar keineswegs irrelevant ist, in der Betrachtung des Einzelfalls jedoch eine große Heterogenität und Differenziertheit im familialen Bildungsmilieu deutlich wird und Kriterien wie der sozioökonomische Status der Eltern nicht formalisiert und verallgemeinert werden dürfen, um Studierende mit Migrationshintergrund

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nicht darauf zu reduzieren. Die Familien seien häufig trotz eines mangelnden akademischen Hintergrunds ein wichtiger Rückhalt für die Studierenden in ihrem Alltag (vgl. Schwendowius/Thoma 2016: 225f.). Eine Differenz zwischen Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund werde durch eine entsprechende Eingrenzung der befragten Gruppe bereits forschungslogisch vorausgesetzt (vgl. ebd.: 224), sodass eine kritische Perspektive auf Forschungsergebnisse in diesem Kontext durchaus lohnenswert zu sein scheine. Neben der sozialen Herkunft spielen auch Studienabbruchquoten eine wichtige Rolle in der Diskussion um Studierende mit Migrationshintergrund. Nach Morris-Lange (2017) erzielen sowohl internationale Studierende als auch Studierende mit Migrationshintergrund schlechtere Prüfungsergebnisse und brechen ihr Studium häufiger ab als Studierende ohne Migrationshintergrund. Die Abbruchquoten liegen bei letzterer Personengruppe unter 28 %, wohingegen für Bildungsinländer/-innen und Bildungsausländer/-innen eine Abbruchquote von 41 % und für Studierende mit Migrationshintergrund mit deutschem Pass eine Quote von 28 – 41 % geschätzt wird. Mögliche Gründe für das vorzeitige Beenden des Studiums werden in sprachlichen, fachlichen, finanziellen und sozialen Schwierigkeiten gesehen (vgl. ebd.: 4). Eine Untersuchung an der Universität Duisburg-Essen beispielsweise kann diese Annahmen nicht bestätigen und zeigt, dass Studierende mit Migrationshintergrund nicht häufiger an einen Studienabbruch denken und darüber hinaus kaum mehr studienbezogene Schwierigkeiten haben, als Studierende ohne Migrationshintergrund (vgl. Müller 2012). Ein ähnlicher Zwiespalt zeigt sich auch bei der Frage nach der Studienfinanzierung. Eine allgemeine Untersuchung zur Interkulturalität im Studium hat herausgefunden, dass Studierende mit Migrationshintergrund häufiger BAföG in Anspruch nehmen und einen Nebenjob ausüben, wohingegen Studierende ohne Migrationshintergrund eher von ihren Eltern finanziert werden. Eine zeitaufwendige Nebentätigkeit führt dann ebenfalls häufig zu einer schlechteren Integration in das studentische und akademische Leben (vgl. Rokitte 2012). Untersuchungen an einzelnen Universitäten, wie beispielsweise in Vechta, zeigen hingegen keine nennenswerten Unterschiede mit Blick auf die Studienfinanzierung (vgl. Völschow/Bajaa 2012). Beide Themenbereiche zeigen also, dass die Befunde in diesem Feld sehr heterogen sind und, je nach Standort und Perspektive, unterschiedlich ausfallen können. Im Sinne der Benachteiligungsdebatte werden, einer kompensatorischen Logik folgend, entsprechende Unterstützungsangebote für Studierende mit Migrationshintergrund angeboten. Unterstützungsangebote sind von besonderer Relevanz, da gerade der Zugang zu sozialen Netzwerken ein großes Hindernis darstellt, obwohl diese für ein erfolgreiches Studium und die Partizipation von Studierenden an der Hochschule unabdingbar sind (vgl. Rokitte 2012). Förder- und Unterstützungsangebote, wie

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Mentoring- und Lotsenprojekte oder vor allem auch Sprachförderangebote, sollen die Teilhabemöglichkeiten der Studierenden an universitärer Bildung verbessern. Derartige Unterstützungsangebote bergen in ihrer Form der Adressierung zwar auch die Gefahr einer potenziellen Stigmatisierung der Studierenden, dennoch steht bisher empirische Forschung aus, die sich mit den Effekten dieser Adressierungspraktiken auseinandersetzt (vgl. Schwendowius/Thoma 2016). Vielmehr wird das überwiegend als positiv bewertete Potenzial derartiger Angebote hervorgehoben. In diesem Sinne betonen beispielsweise König/Rokitte (2012) die Vorzüge derartiger Unterstützungsformate nicht nur für die Studierenden mit Migrationshintergrund, denn Vielfalt fördere neben Kreativität und Forschungs- und Lehrqualität auch einen produktiven internationalen Austausch: »Tatsächlich könnte Vielfalt die Kreativität und Qualität von Forschung und Lehre befördern und den internationalen Austausch voranbringen. Dies setzt neben der Anwesenheit unterschiedlicher Kulturen jedoch auch einen produktiven Austausch zwischen ihnen voraus.« (König/Rokitte 2012: 44) Derartige Förderprogramme können neben dem Ausgleich von Defiziten (vgl. Happ et al. 2017: 75) somit auch dazu beitragen, Studierende mit und ohne Migrationshintergrund stärker und näher zusammenzubringen (vgl. Wehking 2017). Zusammenfassend stellt Karakaşoğlu (2016) heraus, dass »der Anspruch der internationalen und interkulturellen Öffnung und die Wirklichkeit der Berücksichtigung dafür notwendiger migrationsbedingter Vielfalt wertschätzender Rahmenbedingungen an den Universitäten bislang noch dramatisch auseinander klaffen« (ebd.: 387). Rokitte konstatierte bereits 2012 einen großen Bedarf an qualitativen Studien, der bis heute kaum gedeckt zu sein scheint (Rokitte 2012: 18).

2.1.2

Zur besonderen Situation geflüchteter Studierender

Unter den Studierenden mit Migrationshintergrund stellen die geflüchteten Studierenden eine besondere Gruppe dar: »For people who have lost all their other assets, education represents a primary survival strategy. Education is the key to adaptation in the new environment of exile. Education is the basis upon which to build a livelihood. For some, education will be the decisive factor for resettlement in a third, normally richer country. Finally, education will ease reintegration on return home.« (Flukinger-Stockton 1996: 3) Geflüchtete haben häufig hohe Bildungsziele, die auch ein Studium beinhalten (vgl. Worbs/Bund 2016). Die größte Hürde liegt dabei in den formalen Zugangsvoraus-

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setzungen, die 2016 laut DAAD ca. 30.000 bis 50.000 Schutzsuchende erfüllten (vgl. Morris-Lange 2017). In einer weiteren Studie gaben 19 % der Geflüchteten in einer Selbstauskunft an, eine Fachhochschule oder Universität besucht zu haben (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2016: 6). Im Kontext internationaler Forschung werden die Bedürfnisse geflüchteter Studierender sowie die Hindernisse und Gelingensbedingungen nur vereinzelt in den Blick genommen (vgl. u.a. Morrice 2009; Gateley 2015; Bajwa et al. 2017). Die bereits oben genannten Schwierigkeiten im Kontext von Hochschulzugang und Studienverlauf bei Studierenden mit Migrationshintergrund sind hier noch einmal besonders gewichtet. Im Folgenden soll daher zunächst auf die rechtlichen Grundlagen des Hochschulzugangs eingegangen werden, gefolgt von spezifischen Herausforderungen auf dem Bildungsweg und dem gerade nach der Ankunft in Deutschland großen Thema des Spracherwerbs.

2.1.2.1

Hochschulzugang – rechtliche Grundlagen

Im Sinne der Steigerung der Internationalisierung als Qualitätskriterium von Hochschulen (vgl. Wissenschaftsrat 2016: 105) ist vor allem ab 2015 die Aufmerksamkeit für Studieninteressierte mit Fluchthintergrund gestiegen. Vor 2015 wurden individuelle Anfragen von Studieninteressierten im Asylverfahren als Sonderfälle betrachtet, und auch in Forschungsvorhaben und Praxishandreichungen wurde Studieninteressierten mit Fluchthintergrund keine besondere Stellung zugewiesen (vgl. Schammann/Younso 2017). Nach 2015 sind zahlreiche Initiativen erkennbar, welche die besondere Lage von Studierenden und Studieninteressierten mit Fluchthintergrund in den Blick nehmen und auch über rechtliche Rahmenbedingungen informieren, wie beispielsweise eine 2016 entwickelte Handreichung für Hochschulverwaltungen und Beratungseinrichtungen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016). Eine 2015 erschienene Bestandsaufnahme zu den aktuellen Regelungen in den Bundesländern zum Hochschulzugang für Flüchtlinge zeigte noch sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Bestimmungen der Studienvoraussetzungen beispielsweise hinsichtlich des Umgangs mit Anerkennungsverfahren, fehlenden Unterlagen oder den nötigen sprachlichen Voraussetzungen für die Immatrikulation auf (vgl. Borgwardt et al. 2015), die jedoch in den letzten Jahren weitestgehend angeglichen wurden. Auch wenn betroffene Stellen der Hochschulen häufig von einer »empfundenen Rechtsunsicherheit« (Schammann/Younso 2016: 37) berichten, können Geflüchtete in Deutschland unabhängig vom Stand ihres Asylverfahrens und ihres Aufenthaltsstatus ein Studium aufnehmen, sofern die entsprechenden hochschulrechtlichen Voraussetzungen erfüllt werden. »Flüchtlinge, die ein Studium aufnehmen, werden hochschulrechtlich der Gruppe der Bildungsausländer zugeordnet. Es gelten für Flüchtlinge im Studium grund-

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

sätzlich dieselben Regelungen wie für ausländische Studienbewerberinnen und Studienbewerber sowie Studierende.« (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 7) Auf hochschulrechtlicher Seite gibt es dementsprechend drei Bedingungen, die für die Immatrikulation notwendig sind: eine Hochschulzugangsberechtigung, Sprachkenntnisse auf dem Niveau C1 und das Vorliegen einer studentischen Krankenversicherung. Für die Hochschulzugangsberechtigung ist der Nachweis der Äquivalenz der im Ausland erworbenen Hochschulreife zum deutschen Abitur erforderlich. Können, bedingt durch die Flucht, keine Zeugnisse vorgelegt werden, so sieht ein Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2015 ein dreistufiges Nachweisverfahren zur Ermittlung der Hochschulreife vor (Kultusministerkonferenz 2015). Besonders der Erwerb der Sprachkenntnisse bis zum Niveau C1 stellt für viele Studieninteressierte mit Fluchthintergrund eine große Herausforderung dar. Geflüchtete mit einer guten Bleibeperspektive erlernen im Rahmen der vom Bund vorgeschriebenen Integrationskurse die deutsche Sprache bis zum Niveau B1, für die Folgestufen B2 und C1 werden dann häufig Sprachkurse an Universitäten angeboten, die jedoch in der Regel selbst finanziert werden müssen, sofern keine finanzielle Unterstützung, beispielsweise durch Förderprogramme des DAAD (DAAD 2020), angeboten wird. Für Geflüchtete ohne eine gute Bleibeperspektive gestaltet sich der Weg weitaus schwieriger, da hier nicht einmal ein Platz in einem Integrationskurs vorgesehen ist. Die geforderte Krankenversicherungspflicht kann ebenfalls zu einer Hürde werden, sofern Geflüchtete noch nicht anerkannt sind. Asylsuchende im Verfahren und geduldete Personen sind bis zum 15. Monat ihres Aufenthalts in Deutschland nicht gesetzlich krankenversichert, darüber hinaus kann eine studentische Krankenversicherung nur bis zum 30. Lebensjahr und bis zum 14. Semester in Anspruch genommen werden. »In der Praxis kann sich diese Altersgrenze als ein faktisches Hindernis für eine Studienaufnahme bei Geflüchteten entwickeln. Durch Fluchterfahrung und sprachliche Vorbereitungszeit verschiebt sich häufig der Studienbeginn oder die Wiederaufnahme eines Studiums im Lebenslauf nach hinten.« (Schammann/Younso 2017: 12) Der Verein »uni-assist e.V.« (Uni-assist 2020) ist dabei die Schaltstelle, die alle internationalen Studierenden, insbesondere auch geflüchtete Studierende durchlaufen müssen. »Uni-assist« überprüft im Auftrag von ca. 180 deutschen Hochschulen die Zeugnisse und Zugangsberechtigungen internationaler Studienbewerber/-innen, erst danach erfolgt die eigentliche Studienplatzvergabe durch die gewünschte Hochschule. Für geflüchtete Studienbewerber/-innen war das Prüfver-

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fahren bisher kostenfrei, was sich jedoch ab 2020 ändert. Die Projektfinanzierung durch DAAD-Mittel läuft aus, und ab dem Sommersemester 2020 müssen geflüchtete Studierende 75 € für jeden ersten Studienwunsch in einem Semester und 30 € für jeden weiteren Studienwunsch aufbringen. Diese Beträge stellen mitunter eine finanzielle Herausforderung bereits bei der Bewerbung auf einen Studienplatz dar, denn die finanzielle Entlastung wurde von den geflüchteten Studienbewerber/-innen bisher als sehr wichtig und motivierend für eine Studienbewerbung empfunden (vgl. Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen e.V. 2019: 9f.). Obwohl es eine Vielzahl an internationalen Studien zum Hochschulzugang für Geflüchtete gibt, die weitgehend ähnliche Hindernisse identifizieren (vgl. u.a. Dryden-Peterson 2016; Earnest et al. 2010; Vukasovic 2017) stehen sowohl ein systematischer Überblick als auch das Aufzeigen von Best Practices für die Überwindung entsprechender Hindernisse weiterhin aus (vgl. Lambert et al. 2018). Beigang et al. (2018) fassen die Forschungslage dementsprechend folgendermaßen zusammen: »Für die Situation von Geflüchteten werden vielfach Bildungsausländer/-innen als Referenzgruppe betrachtet. […] Allerdings ist die Situation von Geflüchteten bezüglich des Aufenthaltsstatus, der Lebenssituation und der sozioökonomischen Lage meist anders als die der internationalen Studierenden. Im Unterschied zu Geflüchteten kommen diese nach Deutschland, um hier ihr Studium zu absolvieren, und haben die Möglichkeit, sich darauf bereits in ihren Herkunftsländern vorzubereiten. Inwieweit dies Auswirkungen auf ihren Studienverlauf hat, lässt sich aus den Statistiken der Hochschulen bisher nicht ableiten, da dort Geflüchtete nicht gesondert aufgeführt werden.« (Beigang et al. 2018: 4f.) Die Daten- und Forschungslage erscheint somit nach wie vor unsystematisch und lässt wenige Aussagen über die Situation von Studieninteressierten beziehungsweise tatsächlich Studierenden mit Fluchthintergrund zu. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche Initiativen an deutschen Hochschulen, um Studieninteressierten beziehungsweise Studierenden mit Fluchthintergrund eine bestmögliche Unterstützung bei der Studienentscheidung und Studienaufnahme anzubieten. Engagierte Hochschulen haben Gasthörendenprogramme eingerichtet, in denen geflüchtete Studieninteressierte erste Studienerfahrungen sammeln und sich orientieren können, jedoch ohne Prüfungsleistungen zu absolvieren beziehungsweise ECTS-Punkte zu sammeln (vgl. Universität Göttingen o.J.; Universität Osnabrück 2020). Schammann/Younso (2016) empfehlen das Öffnen von Gasthörendenprogrammen immer in Kombination mit einer begleitenden Bildungsberatung, um bei der Entwicklung von Perspektiven zu unterstützen und möglicherweise falschen Erwartungen entgegenwirken zu können.

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Ebenfalls vielfach initiierte Mentor/-innen- beziehungsweise Buddyprogramme sollen die Geflüchteten im Alltag an der Hochschule begleiten. Auch den Netzwerken der Geflüchteten kommt dabei eine wichtige Bedeutung zu. Eine auf gegenseitiger Unterstützung basierende und von Autoritäten losgelöste Entscheidungsfindung dient als hilfreiche Stütze bei der Studienentscheidung und Studienaufnahme (vgl. Shakya 2010). Die konkreten Lebensumstände der Geflüchteten, wie beispielsweise Herausforderungen bezüglich Mobilität, Unterbringung oder Finanzierung von Studium und Lebensunterhalt, werden im Hochschulkontext wenig bearbeitet, scheinen jedoch für die Geflüchteten ausschlaggebend für eine dauerhafte und erfolgreiche Teilnahme an den Programmen der Hochschulen zu sein (vgl. Schammann/Younso 2016). Daher wird diesen Herausforderungen im folgenden Kapitel ein besonderer Raum gegeben, um die Relevanz der besonderen Situation von geflüchteten Studieninteressierten beziehungsweise Studierenden weiter herausarbeiten zu können.

2.1.2.2

Herausforderungen auf dem Bildungsweg

Im Hochschulbildungsreport 2020 lautet eine der zentralen Forderungen, das Bildungspotenzial Geflüchteter zu nutzen: »Das Gesamtpotenzial von Flüchtlingen, die in dem Jahr 2020 an deutschen Hochschulen studieren könnten, liegt […] bei 80.000 bis 110.000 Flüchtlingen. Allerdings können fehlende Sprachkenntnisse, gesundheitliche Probleme und finanzielle Hürden die Aufnahme eines Studiums verhindern, sodass nicht das gesamte Bildungspotenzial genutzt werden kann. Werden diese Hinderungsfaktoren nicht ausreichend adressiert, werden in dem Jahr 2020 nur zwischen 32.000 und 40.000 Flüchtlinge an einer deutschen Hochschule eingeschrieben sein. Da die Motivation vieler Flüchtlinge in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland besonders hoch ist, sollte die Prozessdauer von der Einreise bis zur Aufnahme eines Studiums durch Ausbau und Förderung von studienvorbereitenden Sprachund fachlichen Kursen an Hochschulen verkürzt werden.« (Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2017) In dieser Forderung wird deutlich, dass Geflüchtete vielen Herausforderungen auf dem Weg zu einem Studienplatz und darüber hinaus auch noch während des Studiums ausgesetzt sind. Eine Herausforderung ist zunächst der Aufenthaltsstatus, einerseits die Unsicherheit über den Status und andererseits die damit verbundene Bürokratie in der Beschaffung und Verfügbarkeit von Aufenthaltsdokumenten (vgl. Dryden-Peterson 2010: 13). Die Festlegung von spezifischen Aufenthaltstiteln fördert das Potenzial zur Aufnahme eines Studiums (vgl. Avery/Said 2017; Pietkiewicz 2017). Dem entgegen steht jedoch, dass es häufig an Wissen über die mit dem jeweiligen Status verbundenen Bildungsrechte mangelt und dies somit den Zugang zu Bildung weiter beschränken kann (Stevenson/Willot 2007: 678f.). Zusätzlich ist

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

das Erfordernis eines Passes und einer Meldeadresse eine weitere nicht triviale Herausforderung (Doyle/O’Toole 2013: 6). Grundsätzliche asylpolitische Regelungen wie eine sehr restriktive Asylpolitik oder auch die Auflage für Beratungsstellen, Geflüchtete möglichst schnell auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln, erschweren zusätzlich den Zugang zum Hochschulstudium, da die Prioritäten ganz andere sind. Die genannten Bedingungen haben in bisherigen Analysen zur Situation geflüchteter Studierender nur selten, und wenn dann lediglich als Einzelperspektiven Beachtung gefunden (vgl. Lambert et al. 2018: 9). Als weitere Herausforderung wird grundsätzlich die Zugänglichkeit und Verständlichkeit von allgemeinen und fachbezogenen Informationen rund um ein Hochschulstudium sowie eine entsprechende Beratung von Studierenden genannt. Gerade bei Geflüchteten besteht viel Unsicherheit und Unwissenheit bezüglich des Bildungs- beziehungsweise Hochschulsystems, und zudem stellt die deutsche Sprache häufig eine Barriere bei der Informationsbeschaffung dar. Daher belegen Studien seit Jahren die Notwendigkeit transparenter Informationsund Beratungssysteme für geflüchtete Studierende (vgl. u.a. Janet 1999, Hohberger 2017). Dieses Anliegen verfolgen Universitäten seit 2016 verstärkt und auch Gemeinschaftseinrichtungen wie der DAAD haben entsprechende Förderprogramme ausgeschrieben und damit einen wichtigen Grundstein zur Integration von geflüchteten Studierenden an deutschen Hochschulen gelegt. Im Rahmen einer online-Befragung, die uni-assist in Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt hat und an der insgesamt ca. 7000 geflüchtete Studienbewerber/-innen teilgenommen haben, zeigt sich deutlich, dass gerade die Unterstützung bei der Erstellung der Studienbewerbung einen maßgeblichen Einfluss auf die Studienzulassung hat. Studienerfahrungen im Herkunftsland und ein akademisches Elternhaus spielen keine große Rolle (vgl. Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen e.V. 2019: 19). Ein weiterer wichtiger Aspekt, der auch Auswirkungen auf den Bildungs- beziehungsweise Studienweg hat, sind mögliche Traumatisierungen. Die meisten der Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, sind aufgrund verheerender Konflikte in ihren Herkunftsregionen und nicht minder schlimmer Erlebnisse während der Flucht traumatisiert (vgl. Baer/Rick-Baer 2016: 1). Traumatisierungen haben nachweislich Auswirkungen auf den Studienerfolg (vgl. Janet 1999; Stermac et al. 2013), werden jedoch im Hochschulkontext nur wenig bedacht und bearbeitet. Zudem ist das Thema ›Heimweh‹ ein nicht zu unterschätzendes Phänomen im Kontext von Flucht und wird nach der Entwicklung von einem Krankheitsphänomen hin zu einem pädagogischen Begriff (vgl. Frigessi 1992; Karakaşoğlu/Lüddecke 2004) in der interkulturellen Forschung bisher auch im Rahmen der Traumathematik erwähnt. Die Diskussion bezieht sich bisher hauptsächlich auf ein Phänomen hier niedergelassener Migrant/-innen, sollte aber auch für die aktuelle flüchtlings-

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

fokussierte Forschung bedacht werden. An deutschen Hochschulen zeichnet sich bisher nur eine marginale Aufarbeitung der Heimweh-Thematik ab, beispielsweise in Zusammenhang mit Desintegration und Anonymität an Universitäten (vgl. Pietsch 2017) oder vereinzelten Projekten zum Umgang mit Heimweh im universitären Bereich (vgl. Stettner 2016). Einsamkeit und mangelnde soziale Kontakte können diese Form der Traumatisierung verstärken und einen erfolgreichen und positiven Einstieg in das Studiensystem hemmen. Lange Wartezeiten im Asylverfahren und beim Einstieg in das deutsche Bildungssystem sind für die Bewältigung von Traumata ebenfalls wenig förderlich. Im Jahr 2016 betrug die Wartezeit für einen gesetzlich vorgeschriebenen Integrationskurs sechs Monate (Bieber et al. 2017: 28). Darüber hinaus gibt es lange Wartezeiten bei der Beschulung und dem Spracherwerb. Übergangszeiten werden zum Teil durch außerschulische Deutschkurse aufgefangen (Schwaiger/Neumann 2014: 68; Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013: 79). Vielfach gelingt der Einstieg in den Arbeitsmarkt gar nicht oder nur nach langen Wartezeiten oder nicht im Bereich der in der Heimat ausgeübten Tätigkeit (vgl. Mensi-Klarbach/Vedder 2017). Besonders hochqualifizierte Geflüchtete erleben häufig einen massiven Bruch in der beruflichen Laufbahn (Johansson 2016: 19f.), sodass dem Zugang zum Hochschulsystem und den damit verbundenen Herausforderungen noch einmal eine ganz besondere Bedeutung beigemessen wird. Sind die Zugangsvoraussetzungen zum Hochschulstudium erfüllt, treten weitere zu bewältigende Herausforderungen auf. Die Sicherung des Lebensunterhalts spielt eine wesentliche Rolle bei der Bewältigung des Studiums. Neben der generellen ökonomischen Situation der Geflüchteten (El-Ghali et al. 2017: 10; Kanno/Varghese 2010) stellen vor allem Studiengebühren und die geringe Verfügbarkeit von Stipendien eine zu überwindende Hürde dar (u.a. Anselme/Hands 2010; Avery/Said 2017, Hohberger 2017). BAföG Leistungen können bei dem Vorliegen einer Duldung oder eines humanitären Aufenthaltstitels beispielsweise erst nach 15 Monaten in Anspruch genommen werden (vgl. Prümm/Trauerschmidt 2016: 141). Laut uni-assist schätzen 86,4 % der geflüchteten Studienbewerber/-innen ihre finanzielle Lage im Studium als prekär ein (vgl. Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen e.V. 2019: 25). Weiterhin ist die Wohnsituation der Geflüchteten eine besondere Herausforderung auf ihrem Bildungsweg. Die gesetzlich vorgeschriebenen Unterbringungsund Verteilungspolitiken wirken hier restriktiv auf den Zugang zum Bildungs- beziehungsweise Hochschulsystem. »Die Verteilung der Flüchtlinge auf die Erstaufnahmelager und die anschließende Verteilung auf die Bundesländer nach dem Königssteiner Schlüssel erfolgt nicht zwangsläufig an einen Hochschulstandort beziehungsweise an einen Ort, wo man

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

das gewünschte Fach studieren kann. Das Aufenthaltsrecht ›schlägt‹ das Bildungsrecht.« (Prümm/Trauerschmidt 2016: 140f.) Erschwernisse in Bezug auf die Aufnahme eines Studiums u.a. aufgrund der Residenzpflicht sind zwar 2015 durch die Beschränkung der Residenzpflicht auf drei Monate geschwächt worden, dennoch nicht unerheblich und ein weiteres Beispiel für Wartezeiten (Juretzka 2014: 104; Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013: 79, 239). Für Geflüchtete gibt es entweder die Form der Unterbringung in einer Gemeinschafts- oder in einer Einzelunterkunft, wobei es im Rahmen einer Studie des Bundesamts für Bau-, Stadt- und Raumforschung Hinweise darauf gibt, dass die Unterbringung in einer Einzelunterkunft nicht grundsätzlich besser beziehungsweise komfortabler ist als die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft (Bundesamts für Bau-, Stadt- und Raumforschung 2017: 6). Wie lernförderlich die Wohnumgebung damit für die Bewältigung eines Studiums ist, bleibt fragwürdig. Die spezifischen Bedarfe von Geflüchteten gelten als weitgehend unbekannt (Lenette 2016). Die angeführten Herausforderungen werden durch sprachliche Barrieren zusätzlich verstärkt und sind gerade aufgrund hoher Anforderungen im Hochschulbereich nicht zu unterschätzen. Daher wird dieser Aspekt im folgenden Kapitel besonders betrachtet.

2.1.2.3

Spracherwerb

Der Spracherwerb ist für den Zugang zum deutschen Bildungssystem essenziell: »The use of language assessments as a requirement for citizenship has become commonplace, and the importance of these tools as devices for gate keeping or door opening is substantial.« (Durkis 2016: 46) Betroffen sind vor allem diejenigen, die im Kindes- oder Jugendalter nach Deutschland zugewandert und damit nicht in einem deutschsprachigen Umfeld aufgewachsen sind (vgl. Morris-Lange 2017: 16). Jegliche Formen von Bildungswegen sind durch den Spracherwerb beeinflusst. Unzureichende Sprachkompetenzen haben beispielsweise Einfluss auf Übergangsprobleme Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrations- und Fluchthintergrund in eine berufliche Ausbildung (vgl. Bickes/Steuber 2017: 69). Besonders beachtlich ist dies für den Hochschulzugang, da hohe sprachliche Anforderungen in Form von Zertifikaten für den Zugang nachgewiesen werden müssen. Betrachtet man zunächst die Gruppe der Studierenden mit Migrationshintergrund, so lassen sich unabhängig von der Aufenthaltsdauer häufiger Schwierigkeiten mit der Wissenschaftssprache Deutsch konstatieren, wohingegen internationale Studierende sowohl im Studium als auch im Alltag Schwierigkeiten im Deut-

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

schen beklagen (vgl. Morris-Lange 2017: 26). In der bereits erwähnten Studie von uni-assist (2019) geben 61,5 % von ca. 7000 befragten geflüchteten Studieninteressierten an, dass vor allem Probleme mit der Fachsprache ihr Studium gefährden können. Entsprechende Verbesserungsvorschläge und Handlungsempfehlungen beziehen sich auf eine stärkere Strukturierung der Studieneingangsphase und auf die Öffnung von Brückenkursen und Methodentrainings für alle Studierenden der entsprechenden Zielgruppe. Zudem soll mehr Wert auf die soziale Vernetzung der Studierenden gelegt werden und auf Frühwarnsysteme, wie beispielsweise schlechte Prüfungsergebnisse, um dann entsprechend fördern zu können (vgl. Morris-Lange 2017: 28-30). Die Situation geflüchteter Studierender gestaltet sich ähnlich, ist jedoch dahingehend besonders, als dass eine plötzliche Flucht keinen Raum lässt, im Vorfeld Informationen über die Möglichkeiten des Spracherwerbs zusammenzutragen. Somit sind geflüchtete Studierende abhängig von der Informationspolitik und den Angeboten der entsprechenden Stellen und Hochschulen. Die geforderten Sprachkenntnisse in den Niveaustufen B2 und C1 können entweder an den Sprachzentren der Hochschulen, an privaten Sprachinstituten oder an Studienkollegs erworben werden. Häufig unterstützen auch Studierendeninitiativen beim Spracherwerb durch ehrenamtlich begleitenden Unterricht und durch Sprach-Tandems (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016). Ein Nachweis über die erforderlichen Sprachkenntnisse ist erforderlich und kann durch die vier Prüfungsformate ›Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang (DSH)‹, ›Test – Deutsch als Fremdsprache (TestDaF)‹, ›Prüfungsteil Deutsch der Feststellungsprüfung an Studienkollegs‹ und ›Deutsches Sprachdiplom der KMK-Stufe zwei (DSD II, wird im Ausland abgelegt)‹ erbracht werden (vgl. BAMF 2016). Neben verschiedenen Prüfungsmöglichkeiten ist nach Schammann/Younso (2016) auch die grundsätzliche Gestaltung und Umsetzung der Sprachkurse vielfältig: »Zudem stellt sich die Gestaltung der Sprachkurse als sehr divers heraus. Beispielsweise [förderten] manche Hochschulen lediglich Teilnehmende ihrer Sonderprogramme, und diese ab Sprachniveau B1, andere Hochschulen ermittelten den Bedarf der Teilnehmenden und wiesen sie individuell den Deutschkursen zu. Manche Hochschulen ermöglichten neu geschaffene Deutschkurse, andere vergaben Restplätze in den Kursen für internationale Studierende oder arbeiteten mit rein ehrenamtlichen Sprachlehrern zusammen.« (Ebd.: 52f.) Es zeigt sich also, dass der Zugang zu den entsprechenden Sprachkursen nicht klar geregelt ist und auch keine einheitliche Zertifizierung vorliegt, was die Situation für geflüchtete Studierende grundsätzlich erschwert und für sie schwer nachvollziehbar ist. Der Spracherwerb ist nicht nur für den Zugang zum Hochschulstudium bedeutsam, sondern für den kompletten Alltag und die damit verbundenen Her-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

ausforderungen. Auch eine kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe ist ohne eine gemeinsame Sprache kaum denkbar. Ziese und Gritschke (2016) heben in diesem Zusammenhang beispielsweise die Relevanz von Sprache für die kulturelle Teilhabe hervor: »Zu konstatieren ist, dass die Funktion von Sprache im Prozess der kulturellen Bildung grundlegend ist. Sprache und Sprachenlernen stellen ein unabdingbares Instrument der kulturellen Partizipation neuer Bürger/-innen dar. Kulturelle Teilhabe wird oftmals über Sprache vermittelt und durch sie ermöglicht.« (Ebd.: 281) Die Bedeutung des Spracherwerbs für geflüchtete Studierende findet in der bisherigen Forschung nur marginal Berücksichtigung. Zwei in Deutschland im Jahr 2017 gestartete Forschungsprojekte zum Studienerfolg von Bildungsausländer/-innen, die den Spracherwerb (›SpraStu‹ – Universitäten Leipzig und Würzburg) und Studienabbruch (›SeSaBa‹ – IHF, DAAD, Fern Universität Hagen) einbeziehen, lassen auch teilweise relevante Ergebnisse für die Gruppe geflüchteter Studierender erwarten (vgl. Lambert et al. 2018: 12).

2.1.3

Cultural Studies oder die Macht des ›Gate Keeping‹

Die bisherige Darstellung der besonderen Situation von Studierenden mit Fluchthintergrund zeigt, dass gerade Geflüchtete beim Einstieg in das deutsche Bildungssystem an vielen Stellen auf Unterstützung angewiesen sind, da sie aufgrund des Übergangs beziehungsweise Systemwechsels nur wenig auf bereits bekannte Handlungsstrukturen zurückgreifen können. Die Übergänge von dem bekannten System des Herkunftslandes in das neue System des Aufnahmelandes können aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Neben den individuellen Bewältigungsmustern oder sozialstrukturellen Verteilungsmustern sind besonders die Übergangspolitiken im Kontext von Migration und Flucht interessant, denn nur wenige Statuspassagen können von einem Individuum allein bewältigt werden, und es entstehen starke Abhängigkeitsstrukturen (vgl. Behrens/Rabe-Kleberg 2016: 102). »Gatekeeper besetzen hierbei eine Schlüsselposition, weil sie an der Schnittstelle zwischen institutionellen Regulierungen und biographischen Verläufen stehen. Das Handeln von Gatekeepern ist folgenreich für individuelle Lebensverläufe, zugleich werden Strukturmuster von Übergängen generiert« (Hollstein 2007: 56). Den Bildungsinstitutionen und zuständigen Mitarbeiter/-innen beziehungsweise Verantwortlichen wird dabei eine besondere Rolle in der Öffnung des Bildungssystems beziehungsweise im Zugang zum Bildungssystem eingeräumt. Institutionelle Gatekeeper sind dabei

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

»Schlüsselpersonen mit Entscheidungsautorität in der Vermittlung von Individuum und Organisation mit Bezug auf Institution […] ›Zugangswärter‹ also, die an den Grenzen gesellschaftlicher Teilräume die Anforderungen zum Durchschreiten dieser Räume durchsetzungsstark und definitionsmächtig repräsentieren.« (Struck 2001: 37) Entscheidungen der Gatekeeper sind insofern bedeutsam, als dass sie mitunter weitreichende Konsequenzen auf Übergänge, beispielsweise auf der Flucht oder im Bildungssystem haben können und somit auch wesentlichen Einfluss auf die Zuweisung von Statuspositionen haben. Diese offensichtliche Engführung auf das Subjekt des Gatekeepers führt im Kontext von Übergangspolitiken zu einer engen Verknüpfung »des Handelns von Gatekeepern mit Ungleichheitsstrukturen« (Hollstein 2007: 57). Eine in Schweden durchgeführte Untersuchung belegt das von Geflüchteten durchaus negativ empfundene Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Gatekeepern im System der Erwachsenenbildung: »Many ›clients‹ e.g. refugees, perceive themselves as being controlled, and thus discriminated against by the gatekeepers of the host country.« (Douglas 1995: 12) Übergangspolitiken, Schlüsselpositionen und Abhängigkeitsverhältnisse werden so zu einer Beschreibung impliziter Machtverhältnisse und -strukturen, die dann auch über ganze Biographieverläufe Geflüchteter bestimmen können. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrängt, zielt grundlegend auf die Ursachen dieser Machtverhältnisse ab, »nachzuspüren, wie Macht in die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen, eindringt, sie beschneidet und sich ihrer bemächtigt« (Grossberg 1999: 62). Genau dieser Fragestellung ist ein eigenes Theoriekonzept, dass der Cultural Studies, gewidmet: »›Kultur‹1 ist eine Perspektive, die von den Cultural Studies eingebracht wird, um die polyphonen, stets umstrittenen und umkämpften, komplexen Prozesse der Konstruktion von sozialen Differenzen und Identitäten zu beschreiben und zu untersuchen. […] Wenn Kultur als Medium der Verschränkung von Macht und Subjektivität gedacht wird und das zentrale Interesse der Cultural Studies in der Analyse dieser Verschränkung wiederzufinden ist, dann stellt sich im Bereich der Cultural Studies die Frage, wie soziale Praktiken der Macht mittels kultureller Sinnproduktion zur Konstitution der Subjekte beitragen.« (Mecheril/Witsch 2006: 9)

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»In den Cultural Studies wird ›Kultur‹ als relativ autonome Sphäre gedacht, die zwar von ökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnissen vermittelt und beeinflusst ist, der jedoch ein eigenes Potenzial der Bestätigung von Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen, aber auch das Potenzial ihrer Verschiebung und Verflüssigung zugesprochen wird.« (Mecheril/Witsch 2006: 8)

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Das Konzept der Cultural Studies sollte somit auch in der Diskussion um Inklusions- und Exklusionsstrategien im Kontext von Bildungsverläufen Geflüchteter gedacht und berücksichtigt werden, insbesondere in der Betrachtung von Gatekeeping-Strukturen. Nghi Ha und Schmitz (2006) haben in ihrem Aufsatz zum nationalpädagogischen Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse unter anderem die Gatekeeping- und Machtstrukturen im Kontext von Integrationskursen analysiert. Zunächst einmal stellen sie heraus, dass Expertinnen und Experten rund um Migration und Integration für ein ausgewogenes Verhältnis von Öffnung und Schließung plädieren, »damit die politischen Gemeinschaften sich auch weiterhin durch kollektive Identitäten legitimieren können« (Nghi Ha/Schmitz 2006: 231). Das heißt, dass bereits in der grundlegenden Systemstruktur Gatekeeping-Optionen und Mechanismen zur Schließung und Ablehnung angelegt und offensichtlich gewollt sind. Am Beispiel der für Geflüchtete rechtlich vorgeschriebenen Teilnahme an Integrationskursen spitzen die beiden Autoren diese These zu: »Anstelle von Angeboten auf freiwilliger Basis wird mit dieser staatlichen Anordnung erstmals im Aufenthaltsrecht […] der Grundsatz des Integrationszwangs als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kulturelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung migrantischer Subjekte institutionalisiert.« (Ebd.: 234) Folgt man dieser Argumentation, so geht die staatliche Regulierung noch viel weiter, indem die Nicht-Teilnahme beziehungsweise mangelhafte/ungenügende Leistungen sanktioniert werden und somit auf die »Regulierung migrantischer Inklusions- wie Exklusionsprozesse« (ebd.: 237) abgezielt wird. Die individuelle Bildungsbiographie spielt hier zunächst keine Rolle, es scheint rein um eine kollektive Nutzbarmachung vorhandenen menschlichen Kapitals zu gehen. Nghi Ha und Schmitz kommen dann zu dem erschütternden Schluss, dass »mittels [der] letztlich staatlich durchsetzbaren Definitionsmacht […] auf allen relevanten Ebenen ein Unterordnungsverhältnis zwischen deutscher Leitkultur und den als bedrohlich oder defizitär konstruierten migrantischen Kulturpraktiken etablier[t] [werden kann]. […] Integration wird so zu einer gesellschaftlichen Unterwerfungs- und kulturellen Unterordnungstechnik« (ebd.: 245). Neben der staatlichen Regulierung kommt auch den Medien eine gewichtige Rolle in der Verbreitung und Förderung von Ungleichheits- und Othering-Prozessen in der Gesellschaft zu. Bilder von leidenden Menschen, die sich auf Booten der europäischen Küste nähern, werden mit negativ konnotierten Begriffen verbunden und evozieren immer wieder Eindrücke und Gefühle von Bedrohung. Friese (2017) untersucht diesen Prozess am Beispiel des Begriffs der ›Flüchtlingskrise‹:

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

»So meint Flüchtlingskrise vor allem: ein bedrohliches Geschehen außerhalb der Normalität, einer Normalität, in der Mobilität als Ungleichgewicht, als Unterbrechung gesellschaftlichen Beharrens erscheint. Mobilität wird zur Ausnahme, ja mehr, zum feindlichen Einfall von Parasiten, die den gesunden, integren Volkskörper schwächen und die zu verjagen, abzuschieben, wegzuschaffen oder an der Grenze des Volkskörpers zu töten, populistische Stimmen lautstark fordern.« (Friese 2017: 35) Durch derartige und zahlreich erschienene Medienberichte wird das Szenario einer Bedrohung eigentlich erst aufgebaut und fördert und stärkt sicherlich das Bedürfnis nach der Demonstration von Macht, wie sie sich beispielsweise in Gatekeeping-Prozessen zeigt. Bezogen auf den Zugang von Geflüchteten zum deutschen Hochschulsystem, dem Kern dieses Kapitels, lässt sich herausstellen, dass bei genauer Betrachtung auch hier an verschiedenen Stellen Gatekeeper auftauchen, die bereits auf den Zugang zur Hochschule erheblichen Einfluss haben können. Sei es bei der Erreichung der nötigen Voraussetzungen für den Hochschulzugang, wie Sprachzertifikaten oder Versicherungs- und Wohnsitznachweisen, oder auch bei den dann auftretenden Alltagsproblemen, wie beispielsweise der Finanzierung von Studium und Lebensunterhalt: Geflüchtete sind in besonderer Weise den zuständigen Stellen ausgeliefert, da es ihnen häufig an Wissen um mögliche Alternativen mangelt und sie sich in vollem Vertrauen auf eine bestmögliche Unterstützung und Hilfe an die jeweiligen Verantwortlichen wenden. Wie verheerend möglicherweise die Auswirkungen auf die individuellen Bildungsbiographien der Geflüchteten sein können, zeigt die Diskussion um Gatekeeping und Cultural Studies. Es bedarf also einer starken Bewusstmachung und Offenlegung derartiger Machtstrukturen im Kontext institutioneller Bildung und einer entsprechenden Sensibilisierung aller Verantwortlichen. Naidoo et al. 2018 kommen in ihrer Studie zum Übergang geflüchteter Studierender im Bereich höherer Bildung in Australien abschließend zu folgendem Bild einer Hochschule, die als förderlich für den Einstieg in das Hochschulsystem herausgearbeitet wurde: »Successful transition and participation in new educational contexts for refugee background students‹ needs to be reconceptualised by universities as a holistic process that builds an enabling learning culture. Such a culture rejects a deficit approach to learning and is inextricably linked to the development of positive interpersonal relationships with peers, teachers, support staff and the wider community combined with the ability to navigate the higher education system.« (Nadioo et al. 2018: 157)

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

2.2

Bildung und Biographie

Die Begriffe ›Bildung‹ und ›Biographie‹ haben in einer gemeinsamen Betrachtung in der wissenschaftlichen Forschung bereits eine lange Tradition. Einhergehend mit Weiterentwicklungen des Bildungsbegriffs wurde allgemein schon früh das Konzept der Bildung in Verbindung mit einer individuellen Biographie gedacht. Die Bildungstheorie selbst befasst sich ausdrücklich jedoch erst relativ spät, zu Beginn der 90er Jahre, mit autobiographischen Texten und biographischen Prozessen im Hinblick auf lebensgeschichtliche Erfahrungen und biographische Wandlungsprozesse. Mit dem Zusammenwirken von Bildungstheorie und Biographieforschung befasst sich der Ansatz der bildungstheoretischen Biographieforschung, der als »paradigmatische Vermittlungsinstanz« (Fuchs 2011: 19) gilt und die Einführung in dieses Kapitel darstellt. Die institutionelle Komponente von Bildung wird dann im Folgenden im Kontext von institutionellen Ablaufmustern im Lebenslauf diskutiert, was schließlich zum zentralen Thema der Übergänge führt, die sowohl in institutionalisierten Bildungssystemen als auch als biographisch zu bewältigende Ereignisse eine Rolle spielen. Denn »Übergänge sind ein zentrales Moment des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise der gesellschaftlichen Koordinierung und Regulierung durch Institutionalisierung und Ritualisierung und der subjektiven Praxis der individuellen Leben selbst« (vgl. van Gennep 1986).

2.2.1

Die Perspektive bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung

In der Disziplin der Erziehungswissenschaft findet sich wenig über die Bedeutung der Biographie oder den Zusammenhang von Erziehung oder Bildung und Biographie. Im Forschungsansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung steht genau dieses Verhältnis von Bildung und Biographie im Zentrum: »Die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung stellt den Versuch dar, zwei erziehungswissenschaftliche Forschungsrichtungen aufeinander zu beziehen, die traditionell strikt voneinander getrennt waren, nämlich die philosophisch orientierte Bildungstheorie, die sich innerhalb der Erziehungswissenschaft als Ort der Reflexion über Ziele, Begründungen und Kritik pädagogischen Handelns verstehen lässt, und die empirische Bildungsforschung, genauer: die qualitative beziehungsweise rekonstruktive Erforschung der Verlaufsformen und Bedingungen tatsächlicher Bildungsprozesse.« (Koller 2016: 173) Beiden Richtungen ist dabei gemeinsam, dass sie entscheidende Leerstellen aufweisen und darüber hinaus systematisch aufeinander angewiesen sind (vgl. ebd.). Während der hier bereits zitierte Hans-Christoph Koller einer der bekanntesten

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Vertreter der bildungsbiographisch orientierten Biographieforschung ist, gehen die Ursprünge dieses Ansatzes zurück auf das Ende der 1980er Jahre mit Studien von Rainer Kokemohr und Winfried Marotzki. Marotzkis Ansatz als der zentralere und häufig zitierte stellt den Versuch dar, den »traditionelle[n] Hiatus zwischen theoretisch-philosophischen Überlegungen zum Bildungsbegriff einerseits und empirisch meist quantitativ orientierter Bildungsforschung andererseits […] im Design einer mit qualitativen Methoden arbeitenden bildungstheoretischen Biographieforschung [zu überwinden].« (Marotzki 1991: 128) Dem Ansatz liegt die Überzeugung zugrunde, dass »bildungstheoretische Überlegungen so weit getrieben werden müssen, dass sie empirisch anschlussfähig werden« (Marotzki 1990: 18). Bildungsprozesse sind in diesem Fall Lernprozesse, »die sich auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien des elementaren Selbst- und Weltverhältnisses beziehen« (ebd.: 41). Bildungsprozesse können demnach als grundlegende Transformation der Art und Weise begriffen werden, in der Menschen sich zur Welt und zu sich selber verhalten (vgl. ebd.). Marotzki orientiert sich dabei methodologisch und methodisch an der Kasseler Schule um Fritz Schütze und greift beispielsweise dessen Prozessstrukturen des Lebenslaufs2 als Heuristik auf, um daran die Strukturen von Bildungsprozessen zu thematisieren (vgl. Fuchs 2011: 99). »Indem Marotzki Bildungsprozesse als Modalisierungen im Sinne von Wandlungsprozessen fasst und den Fokus auf die Veränderung der Selbst- und Weltwahrnehmung legt, beansprucht er, Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Stegreiferzählungen als sprachliche Dokumente von Biographisierungen empirisch untersuchen zu können.« (Ebd.: 100) Kritik an Marotzkis Ansatz erfolgt beispielsweise bei Wigger (2004) und bezieht sich auf den Dualismus von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Dem Bildungsbegriff gelinge es laut Wigger nicht, »das bildungstheoretische Potenzial für die empirischen Analysen fruchtbar zu machen«, da die Auslegung der Auseinandersetzung des Subjekts mit sich und der Welt nur einseitig erfolge, indem den Veränderungen der Selbstverhältnisse deutlich mehr Raum gegeben werde als den Veränderungen des jeweiligen Verhältnisses zur Welt (vgl. ebd.: 486f.). Auf der bisher erläuterten Grundlage basierend, lassen sich nach Koller (2016) zwei allgemeine Prämissen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung herausstellen:

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Siehe auch Kap. 3.1.4

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem





Bildungsprozesse sind keine objektiven Gegebenheiten, die sich unabhängig von den Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten vollziehen und deshalb mit objektivierenden Verfahren gemessen werden können. Sie werden interaktiv hervorgebracht und werden in erster Linie mit Mitteln qualitativer Forschung erforscht. Bildungsprozesse stellen keine einmaligen und sich instantan ereignenden Vorgänge dar, sondern sind als langfristige Geschehen aufzufassen, die sich im Kontext lebensgeschichtlicher Entwicklungen vollziehen, wodurch im Rahmen der Methodologie qualitativer Forschung biographische Verfahren besonders geeignet sind (vgl. Koller 2016: 173f.).

Basierend auf der Forschungsarbeit Marotzkis hat Koller dann einige Jahre später selbst den Ansatz der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung weiterentwickelt. In seiner Habilitationsschrift »Bildung und Widerstreit« (1999) erfolgt der Versuch, »in Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischen Tradition und akuten gesellschaftlichen Problemlagen einen Bildungsbegriff zu entwickeln, der sowohl zeitgemäß als auch empirisch zugänglich ist« (Koller 1999: 14). Koller greift dabei auf den sprachphilosophischen Ansatz Lyotards und dessen Begriff des Widerstreits zurück. Bildung wird von Koller verstanden als ein Prozess, der Subjektivität als Effekt sprachlicher Vorgänge freilegt: »Das Zentrum dieses Bildungsbegriffs stellt also nicht der Gedanke einer (wie auch immer gearteten) Formung von Subjekten dar, die sich letztlich außerhalb von Sprache vollziehen würde und durch sprachliche Akte nur repräsentiert werden könnte. ›Bildung‹ meint hier vielmehr einen Prozess, der sich immer schon in Sprache und d.h. in der Verkettung von Sätzen ereignet. Die Subjekte, die traditionellerweise im Mittelpunkt des Bildungsgedankens stehen, sind aus diesem Prozess keineswegs ausgeschlossen; sie werden dabei aber nicht als ursprüngliche Gegebenheiten verstanden, sondern eher als Effekte sprachlicher Vorgänge. […] Subjektivität wird in dieser Perspektive […] auf dem Weg der Verkettung von Sätzen allererst hervorgebracht und sprachlich immer wieder neu konstituiert.« (Koller 2018: 150f.) Dieser Bildungsbegriff unterscheidet sich von der Theorie Marotzkis, da hier Bewusstseinsvorgänge des Subjekts im Fokus stehen. Methodisch greift Koller ebenso wie Marotzki auf die Arbeiten von Schütze im Rahmen der Biographieforschung zurück, setzt sich jedoch deutlich kritischer damit auseinander. Weitere zu berücksichtigende Arbeiten von Heide von Felden (2003) und ArndMichael Nohl (2006) knüpfen an die beiden dargestellten Konzepte an. Heide von Felden (2003) geht von der These aus, dass biographische Bildungsprozesse durch geschlechtsspezifische Lebenserfahrungen geprägt sind und untersucht in ihrer Habilitationsschrift, wie Studentinnen vor dem Hintergrund ihrer biographischen

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Erlebnisse und Erfahrungen ein Studium im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung wahrnehmen und verarbeiten (vgl. von Felden 2003). Eine Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung und die damit verbundene Verortung in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung sieht von Felden darin, wie Geschlechtskonstruktionen und Bildungsprozesse als Veränderung von Selbst- und Weltreferenz in individuellen Frauenbiographien wirken (vgl. ebd.: 249f.). Methodisch orientiert sich die Studie dabei ebenfalls an der Schützeschen Theorie zur Biographieforschung wie auch an den Arbeiten Marotzkis. Von Feldens Anspruch der Vermittlung zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung wird jedoch auch hier kritisch betrachtet, da sie z.B. von zwei verschiedenen Bildungsvorstellungen beziehungsweise Definitionen der jeweiligen Richtungen ausgeht und diese Trennung im Verlauf der Arbeit nicht aufgehoben wird (vgl. ebd.: 120f.). Die Arbeit »Bildung und Spontaneität« von Arnd-Michael Nohl (2006) wird ebenfalls als ein Schlüsselwerk in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung diskutiert. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Arbeiten verdeutlicht Nohl die Verbindung von Bildungstheorie und Bildungsforschung in einer pragmatisch-rekonstruktiven Perspektive. Bildungsprozesse werden in Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus philosophischer Provenienz und erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung betrachtet (vgl. Nohl 2001; Nohl 2003; Fuchs 2011). Der Pragmatismus dient dabei als Leitlinie in der Beschreibung beziehungsweise Darstellung, wie aus spontanem Handeln tiefgreifende Wandlungen der Lebensgeschichte und damit Bildungsprozesse entstehen können. Es erfolgt dadurch einerseits, mit der Diskussion um die Subjektwerdung, eine Anknüpfung an die Bildungstheorie und andererseits eine Betrachtung von Bildung als empirisch bearbeitbare Kategorie. Auch in der neueren Forschung lassen sich Anknüpfungen und Weiterentwicklungen einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung finden, die Koller überblicksartig zusammengefasst hat (vgl. Koller 2016: 174f.): Rainer Kokemohr (2007) sieht einen Mehrwert des Ansatzes im Umgang mit Herausforderungen für Bildungsprozesse, wie beispielweise der Konfrontation mit neuartigen Problemlagen. Diese können sich insbesondere auf Fremdheits- und Differenzerfahrungen, wie im Kontext von Migration und interkultureller Kooperation, beziehen. Eine Unterscheidung von zwei Arten von Bildungsprozessen nimmt von Rosenberg (2011) vor. Bildung vollzieht sich dabei einerseits in Wandlungsprozessen, bei denen nur die Flexibilisierung eines Habitus ohne Veränderung der zugrundeliegenden Logik im Vordergrund steht. Andererseits kommen Transformationsprozesse zum Tragen, die sich durch eine Transformation der Relation zwischen mehreren unterschiedlichen Praktiken auszeichnen. Fuchs (2011) setzt sich kritisch in Form einer Reformulierung mit der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung auseinander. Besonders gelungen ist in dieser Studie

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»die intensive Auseinandersetzung mit dem wissenschaftshistorischen Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung sowie der Ansatz, Jugendbiographien mit der Toposanalyse auszuwerten und bildungstheoretisch zu deuten.« (Thiersch 2015: 307) Einen Bezug zum sowohl politisch als auch gesellschaftlich aktuellen und hoch relevanten Thema der Migration stellt neben Kokemohr dann explizit auch Rose (2012) her. Bildungsprozesse sind demnach auch darin zu deuten, auf welche Art und Weise junge Männer mit Migrationshintergrund auf Differenz- und Zugehörigkeitserfahrungen reagieren. Dies vollzieht sich etwa in Form der trotzig-selbstbewussten Umwertung diskriminierender Anrufungen (z.B. als »Ausländer«) oder in Form der Hervorbringung neuer, die Eindeutigkeitsforderung der herrschenden Zugehörigkeitsordnung überwindender Metaphern – wie z.B. der Selbstbeschreibung »Teil des Kuchens« der Aufnahmegesellschaft zu sein (vgl. Rose 2012: 395-399). Neben den zahlreichen Weiterentwicklungen des Ansatzes der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung lassen sich auch Anfragen und kritische Einwände gegen die Verknüpfung von unterschiedlichen Zugängen zu »Bildung« beziehungsweise gegen die je spezifischen Formen nennen. Der erste Einwand richtet sich daher gegen den Versuch einer Verknüpfung von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung. Als grundlegend verschiedene Wissensformen beziehungsweise Diskursarten läuft eine Verknüpfung Gefahr, die Unterschiede zu verkennen. Aus der Sicht der Bildungstheorie wird demnach der Status des Bildungsbegriffs zu wenig berücksichtigt. Bildung ist etwas, was gerade nicht herstellbar ist, sondern allenfalls ermöglicht werden kann. In der empirischen Bildungsforschung wird Bildung jedoch genau dieses Möglichkeitsstatus beraubt und stellt sich vielmehr als real auffindbarer Sachverhalt dar (vgl. Koller 2016). Eine weitere Kritik richtet sich an den Ertrag empirischen Materials. Dieses werde in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung eher zur Illustration bereits vorliegender theoretischer Konzepte genutzt als zur Hervorbringung neuen Wissens oder zur Weiterentwicklung theoretischer Konzepte (vgl. Müller 2003; von Felden 2003; Fuchs 2011). Dieser Kritik könne nur durch das ernst zu nehmende Gebot der Offenheit qualitativer Forschung begegnet werden und der Prämisse, dem empirischen Datenmaterial ein Maximum an Chancen einzuräumen, die eigenen theoretischen Vorannahmen infrage zu stellen und neue Einsichten hervorzubringen (vgl. Koller 2016: 177). Nicht zuletzt ist der bereits angesprochene Einwand der Weltvergessenheit von Wigger (2004) zu nennen. Dieser moniert, dass eine ausschließliche Interpretation biographischer Materialien dazu verführen kann, dass den gesellschaftlichen Bedingungen von Bildungsprozessen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Eine mögliche Auflösung wird in der Einbeziehung gesellschaftstheoretischer Ansätze wie z.B. der Habitustheorie von Bourdieu oder den Diskurstheorien Foucaults und Butlers gesehen. Als weitere Möglichkeit schlägt

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Koller (2016) die Erweiterung der empirischen Basis der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung um weitere Datensorten vor (vgl. ebd.: 179; vgl. auch von Rosenberg 2011; Reh 2003). Für die vorliegende Arbeit ist die Idee der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung insofern relevant, als dass die Bewältigung von Migrationsund Fluchtprozessen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung immer auch grundlegend als eine Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Selbst- und Weltverständnis gesehen werden kann (vgl. z.B. Fuchs 2015). Im Kontext von durch Fluchtmigration hervorgerufenen Traumata wird zudem häufig von einer Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses berichtet (vgl. Bohleber 2017). Kokemohr (2007) und Rose (2012) stellen darüber hinaus explizit den Zusammenhang zum Thema der Migration her, indem sie es sowohl als Möglichkeit sehen mit Herausforderungen für Bildungsprozesse umzugehen, als auch diesen Ansatz für die Diskussion um Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen verwenden. Um die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung im Kontext von Migration weiter zu denken, bietet sich an dieser Stelle auch das Konzept der transformatorischen Bildung an (vgl. Koller 1999/2018). Basierend auf Ansätzen von Kokemohr (1989, 1992, 2000, 2007) und Peuckert (2000b, 2015) hat Koller (1999/2018) die Theorie transformatorischer Bildung als Reformulierung der Humboldtschen Bildungstheorie entwickelt, die auf neue, sich wandelnde Gesellschaftskonzepte eingehen soll. Bildung wird demnach verstanden als »Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen, die sich potenziell immer dann vollzieht, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen. Bildungsprozesse bestehen demzufolge also darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen hervorbringen, die es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu werden« (Koller 2018: 16). Koller untersucht dabei zunächst Konzepte und Theorien, mit denen die Weltund Selbstverständnisse angemessen erfasst werden können. Er greift dabei auf Bourdieus Gesellschaftstheorie und dessen Habitusverständnis zurück. »Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen« (Bourdieu 1998: 99) strukturieren das Handeln des Menschen und sind für eine transformatorische Bildung insofern bedeutsam, als dass sie die Trägheit der individuellen Selbstund Weltverhältnisse betonen und damit die Schwierigkeiten, die entsprechenden Veränderungen im Weg stehen (vgl. Koller 2018: 26f.). Neben Judith Butlers Konzept der Subjektivation (Butler 2001) blickt Koller beispielsweise auch auf Jacques Lacans strukturale Psychoanalyse, deren Bedeutung er für die transformatorische

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Bildung in der theoretischen Erfassung des Subjekts sowie seines Verhältnisses zu anderen und zu sich selbst sieht (vgl. Lacan 1975a/b; Koller 1999/2018, 53). Neben der konkreten Erfassung des Welt- und Selbstverständnisses gilt es nach Koller auch zu klären, wie Problemlagen, die zum Anlass für transformatorische Bildungsprozesse werden, näher bestimmt werden können. Koller greift hier sowohl auf Günter Bucks Konzept ›negativer Erfahrung‹ (Buck 1981), Lyotards Philosophie des Widerstreits (Lyotard 1989) als auch Bernhard Waldenfels‹ Konzeption des Fremden (Waldenfels 1997) zurück. Den Mehrwert letzterer Konzeption für die Bedeutung transformatorischer Bildung sieht Koller beispielsweise in der Beschreibung der Fremderfahrung selbst: Fremderfahrung als Erfahrung dessen, was sich zeigt, indem es sich dem Zugriff einer je herrschenden Ordnung entzieht und damit die Ordnung infrage stellt, die dem Welt- und Selbstverhältnis eines Individuums zugrunde liegt (vgl. Koller 2018: 85). Als Beispiele können individuelle Krisenerfahrungen durch Statuspassagen im Lebenslauf angeführt werden oder auch allgemeine soziale Wandlungsprozesse aufgrund technologischer Veränderungen oder gesellschaftlicher Umbrüche. In diesem Zusammenhang ist dann auch die weltweit zunehmende Migration in Bezug auf Menschen, die unter bestimmten sozio-kulturellen Bedingungen aufwachsen und in neuen gesellschaftlichen Umgebungen mit ganz anderen Anforderungen und Lebensweisen konfrontiert werden, eine mögliche Krisenerfahrung (vgl. Koller 2010: 94f.). Das Konzept der transformatorischen Bildung ist also insofern hilfreich, als dass es einen Bildungsbegriff ermöglicht, der explizit auf Wandlungsprozesse und Umbrüche, auch im Kontext von Migration, eingeht und damit eine entsprechende Brücke ermöglicht. Empirisch kann dies anhand von Biographien untersucht werden. Wlazny (2012) betont darüber hinaus, dass autobiographisches Erzählen möglicherweise selbst einen transformierenden Bildungsprozess initiieren kann: »Das autobiographische Erzählen in narrativen Interviews oder literarischen Texten könne insofern selbst zum Anlass transformierender Prozesse werden, als es einer zeitlichen und sinnhaften Ordnung genügen muss, sich aber bestimmte Momente der Vielfältigkeit des eigenen Lebens ihr möglicherweise nicht fügen.« (Ebd.: 3) Bildungstheorie wird dabei grundsätzlich nicht außer Acht gelassen und kann somit im Verhältnis zur Bildungsforschung dargestellt werden. Die transformatorische Bildung wird schlussendlich als eine Weiterentwicklung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verstanden.

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

2.2.2

Bildung im Lebenslauf3 – zur Bedeutung institutioneller Ablaufmuster

Zunächst einmal lässt sich grundsätzlich herausstellen, dass Bildung und Lebenslauf eng miteinander verwoben sind (vgl. Sackmann 2007: 100). In der Perspektive der Lebenslaufforschung spielt die Teilhabe am Bildungssystem eine wichtige Rolle, die vor allem im ersten Drittel des Lebenslaufs untersucht wird, ebenso wie die kontinuierliche Abfolge von Bildungs- und Erwerbstätigkeitsprozessen. Aus bildungstheoretischer Sicht erfolgt eine Verknüpfung beider Ansätze beispielsweise, indem Bildung definitorisch bereits als Selbstbildung auftaucht und damit auch der Prozess des Lebenslaufs als Selbstbildung verstanden wird oder indem Vorstellungen zu lebenslangem Lernen expliziert werden (vgl. ebd.). In der Betrachtung von Bildungsprozessen entlang des Lebenslaufs erfolgt eine entsprechende Orientierung neben einer temporalen Dimension häufig auch an institutionellen Ablaufmustern. Diese bilden gesellschaftliche Strukturen ab, die in einer biographischen Perspektive beispielsweise im Kontext von Bildungsentscheidungen zum Tragen kommen und somit auch Lebensläufe beeinflussen. »Biographische Prozesse und gesellschaftliche Strukturen stehen in einem Wechselverhältnis zueinander und bedingen sich gegenseitig. In der Biographie spiegeln sich das subjektive Erleben und die Verarbeitung dieser gesellschaftlichen Gegebenheiten stets wider. Bildungsentscheidungen im Lebenslauf beruhen deshalb immer sowohl auf Handlungskompetenzen, subjektiven Einstellungen, kollektiven Orientierungen als auch auf institutionellen Abläufen des Bildungssystems, in welches wiederum Formen institutioneller Diskriminierung eingeschrieben sind.« (Ecarius et al. 2014: 10f.) Die hier genannten institutionellen Abläufe des Bildungssystems dienen somit einerseits als Handlungsempfehlung und mögliche Basis für Entscheidungen im Lebenslauf, können jedoch andererseits auch Idealvorstellungen und ›Normalbiographien‹ suggerieren, die gesellschaftlich erwünscht und gefordert sind. Denn » ›Normalbiographien‹ und damit einhergehende institutionelle Ablaufmuster verweisen in dieser Hinsicht auf einen idealtypischen Verlauf einer Biographie. Die Möglichkeiten der Erreichbarkeit beziehungsweise der Erfüllung dieser mit der Normalbiographie korrespondierenden Erwartungsschritte sind jedoch innerhalb der Gesellschaftsgruppen höchst ungleich verteilt. […] Biographische Ent3

Biographie bezeichnet im Gegensatz zum Lebenslauf die »subjektive Aneignung des Lebenslaufs durch die Individuen und seine (Re)Konstruktion der subjektiv stimmigen, sinnvollen und kontinuierlichen Lebensgeschichte. Analog zum Lebenslauf als Verzeitlichung von Vergesellschaftung lässt sich Biographie als subjektive Identitätsarbeit über die Zeit verstehen: Bilanzierung des vergangenen, Entwurf des zukünftigen und Bewältigung des gegenwärtigen Lebens im biographischen Gesamtzusammenhang.« (Walther 2014: 20)

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würfe [vollziehen sich] in Bezug auf institutionelle Ablaufmuster in einem Spannungsverhältnis zwischen idealisierter Erwartung und Möglichkeiten der tatsächlichen Realisierung […]« (Pilch Ortega 2018: 134). Es wird bereits deutlich, dass der Zusammenhang beziehungsweise das Wechselverhältnis und die jeweils wechselseitigen Implikationen von Bildung im Lebenslauf und institutionellen Ablaufmustern nicht unkritisch hinzunehmen sind. Doch bevor eine derartige Linie argumentiert wird, gilt es zunächst die Grundlagen des Zusammenhangs von Bildung, Biographie und Institution zu klären. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Institutionalisierung des Lebenslaufs findet sich bei Martin Kohli, der Mitte der 1980er Jahre die Frage nach der gesellschaftlichen Beeinflussung individueller Lebensläufe bearbeitete. Seine These besagt, dass der moderne institutionalisierte Lebenslauf über eine Dreiteilung einen inneren Strukturzusammenhang des individuellen Lebenslaufs schafft (vgl. Kohli 1985: 2f.). In verschiedenen Arbeiten begründet Kohli diese These und entfaltet seine Theorie des institutionalisierten Lebenslaufs (vgl. Kohli 1985, 1986, 1988, 1989, 2000). Den Begriff der Institution verwendet Kohli in zwei unterschiedlichen Bedeutungen. Zum einen haben gesellschaftliche Institutionen, wie das Bildungssystem oder der Arbeitsmarkt, einen Einfluss auf den Lebenslauf, insbesondere auf besondere Phasen im Lebenslauf. Zum anderen sieht Kohli den Lebenslauf auch als eine soziale Institution, die dem Individuum Orientierung gibt, normale Erwartungen aufzeigt und Abweichungen korrigiert: »Die Bedeutung des Lebenslaufs als soziale Institution hat stark zugenommen. Der historische Wandel hat von einer Lebensform, in der Alter nur als kategorieller Status relevant war, zu einer Lebensform geführt, zu deren zentralen Strukturprinzipien der Ablauf der Lebenszeit gehört (Verzeitlichung)« (Kohli 1985: 2). Neben der genannten Verzeitlichung beziehen sich weitere Elemente seiner Theorie auf die Aspekte der Chronologisierung, Individualisierung und Biographisierung. Die Chronologisierung bezieht sich auf die Verzeitlichung des Lebens, die weitgehend am Lebensalter orientiert ist und damit einhergehend eine entsprechende Orientierung an Altersgrenzen. Kohli betont jedoch, dass »die Bindung der Lebensereignisse an das chronologische Alter […] einem der normativen Kernprinzipien der Moderne [widerspricht], nämlich der Orientierung an erworbenen statt an zugeschriebenen Merkmalen. Alter ist – ähnlich wie Geschlecht – eines der noch verbleibenden askriptiven Merkmale« (vgl. Kohli 1985: 19). Eine derartige Chronologisierung führt auch dazu, dass Individuen aus (ständischen und lokalen) Bindungen gelöst werden und selbst Träger ihres Lebenslaufs

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

sind, was Kohli als Individualisierung bezeichnet. Daraus resultiert ebenfalls die Biographisierung, die sich auf die Gestaltung lebensweltlicher Horizonte bezieht. Weiterhin geht Kohli davon aus, dass der Lebenslauf in modernen Gesellschaften um das Erwerbssystem herum organisiert ist und damit auch das Erlangen beziehungsweise Erreichen bestimmter Erwerbspositionen impliziert ist (vgl. ebd.). Aus diesen Grundannahmen folgert er dann die Vorstellung einer Dreiteilung des modernen Lebenslaufs, in der drei gesellschaftliche Institutionen aufeinanderfolgende Lebensphasen prägen. Sackmann (2007) beschreibt die Kohlische Dreiteilung in einer Sekundärperspektive: »Das Bildungssystem nimmt einen wichtigen Platz in der Kindheit und Jugend von modernen Menschen ein. Es bereitet auch den Zugang zum Arbeitsmarkt vor. Die Institution des Arbeitsmarktes übt einen starken Einfluss auf die mittlere Lebensphase aus. Er ist zugleich der zentrale Referenzpunkt des gesamten Lebenslaufs. Das höhere Alter wiederum wird von der dritten Kerninstitution moderner Lebensläufe definiert, dem Ruhestand, der durch Rentenversicherungen abgesichert ist.« (Sackmann 2007: 20) Historisch gesehen ist diese Dreiteilung ein noch recht neues Phänomen, denn Schulpflicht oder auch eine Erwerbstätigkeit gibt es für die Masse der Bevölkerung erst seit dem 19. Jahrhundert, wodurch der Lebenslauf zu einem spezifischen Produkt moderner Gesellschaften wird. Ein institutionalisierter Lebenslauf erfüllt daher auch eine gesellschaftliche Funktion und trägt aber auch zur sozialen Kontrolle bei. Zusammenfassend stellt Kohli (1985) heraus: »Die Institutionalisierung des Lebenslaufs bedeutet (notwendige) Entlastung; sie gibt der Lebensführung ein festes Gerüst vor und setzt Kriterien dafür, was erreichbar ist und was nicht. Sie bedeutet aber auch – wie jede Herausbildung von Institutionen – eine Einschränkung individueller Handlungsspielräume.« (Ebd.: 20) Es wird deutlich, dass das Konzept des institutionalisierten Lebenslaufs durchaus Spannungsfelder evoziert, beispielsweise die Spannung zwischen Universalität und Askription oder auch das Erzeugen von Erwartungshaltungen und Normallebensläufen im Gegensatz zur Individualisierung. Das Aufzeigen dieser Spannungsfelder führte durchaus auch zu Kritik und Weiterentwicklungen von Kohlis Konzepten, von denen einige im Folgenden exemplarisch genannt werden sollen. Mayer/Müller (1989) widersprechen zunächst der Annahme, der institutionalisierte Lebenslauf sei am Erwerbsleben orientiert und durch die Rückbindung an den Arbeitsmarkt verändert worden. Vielmehr sehen die beiden Autoren die Einflüsse auf den institutionalisierten Lebenslauf in der zunehmenden Intervention des Wohlfahrtsstaates begründet.

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»Der Wohlfahrtsstaat integriert den Lebensverlauf, indem er hoch organisierte Bildungsgänge und berufliche Ausbildungsgänge anbietet, stabile Beschäftigungen und bürokratische Karrieren. Wir haben aber auch gesehen, dass auf diese Weise Übergangsereignisse schärfer akzentuiert werden, die Alterssegmentation verschärft wird und damit Lebensstadien ihre eigene Definition, ihre eigenen Zugänge und Ausgänge erhalten. In dieser Weise trägt der Staat zur Differenzierung und Segmentierung des Lebensverlaufes bei.« (Ebd.: 58) Der Zusammenhang von Bildung und Erwerb ist somit stark von den jeweiligen Regulierungen einzelner Staaten abhängig und beispielsweise in Deutschland und Frankreich deutlich höher als in den USA4 . Meyer (1992) argumentiert hingegen, der institutionalisierte Lebenslauf sei primär ein kulturelles Konstrukt. Im Rahmen der Analyse von Bildungsdeklarationen und Lehrplänen wird gezeigt, dass zunehmend positiv auf das Individuum als Träger von Entscheidungen und Rechten Bezug genommen wird, wohingegen andere Instanzen weiter aus dem kulturellen Diskurs verschwinden (vgl. Meyer 1992: 85). Mayer/Müller (1989) und Meyer (1992) folgen der Kohlischen Theorie jedoch insofern, als dass die Institutionalisierung von Lebensläufen relativ »zeitstabile Strukturen moderner Gesellschaften« (Sackmann 2007: 24) beschreibt. Ein weiterer Ansatz, der sich den Genannten in Gänze entgegenstellt, ist die Theorie von Riley/Riley (1994), die die vorhandenen Lebenslaufstrukturen nur als strukturellen Ballast sehen und eine Anpassung an die Handlungswünsche der Individuen fordern. Abbildung 1 zeigt die der Theorie von Riley/Riley (1994) zugrundeliegenden Überlegungen und Weiterentwicklungen. Sie richtet sich gegen die Konzeption der Dreiteilung des Lebenslaufs in einer altersintegrierten Perspektive. Demnach gäbe es Bildung nur für junge Menschen, die Erwerbstätigkeit sei auf das mittlere Alter fixiert und die Phase der Ruhe nur für ältere Menschen vorgesehen. In der Konsequenz führe eine derartige Trennung der Gesellschaft in Lebensphasen zu Unzufriedenheit und zu einer Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten. Eine altersintegrierte Struktur hingegen könne die Handlungsfähigkeit erhöhen. »Ideally, such flexible structures would open to older people the full range of role choices. For the middle-aged, there would be reductions in the strains imposed by multiple roles of work combined with family and homemaking. For young adults, there would be opportunities for the meaningful integration of work and school; and for children, opportunities to participate in responsibilities and decision making in family, school and community.« (Riley/Riley 1994: 27) 4

In den USA ist die Theorie institutionalisierter Lebensläufe längst nicht so weit verbreitet und widerspricht eher der Idee von Unabhängigkeit und Individualisierung, personifiziert im »American Dream« (vgl. Sackmann 2007).

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Abb. 1: Lebenslauf in altersintegrierter und altersdifferenzierter Sozialstruktur (Riley/Riley 1994: 26)

Die Argumentation von Riley und Riley ist nachvollziehbar, jedoch gibt es auch hier kritische Betrachtungen bezüglich der wissenschaftlichen Analyse, der eine Schwankung zwischen empirischer Beschreibung und normativen Wünschen nachgesagt wird und die damit zum Teil Züge einer Utopie aufweist. Zusammenfassend lässt sich herausstellen, dass institutionalisierte Lebensläufe in Gesellschaftskontexten als Orientierung an Erwartungs- und Normalvorstellungen dienen und dementsprechend Individuen Handlungsleitung vorgeben können. Dadurch hervorgerufene Spannungsverhältnisse zwischen Anpassung und Individualisierung können in den genannten Theorien jedoch nicht aufgelöst werden. In der erziehungswissenschaftlichen Forschung sind institutionalisierte Lebensläufe insofern relevante Forschungsfelder, als dass der Blick häufig auf einzelne Ausschnitte (Institutionen oder Altersphasen) ebenso wie auf Übergänge beziehungsweise Transitionen gelegt wird. Da in der vorliegenden Arbeit besonders das Studium als Teil institutionalisierter Lebensläufe im Fokus steht und primär der Einstieg beziehungsweise Übergang in das deutsche Hochschulstudium relevant ist, ebenso das Thema Migration im Kontext von Übergängen diskutiert werden kann, soll im Folgenden die Perspektive auf Übergänge und Transitionen als eigenes Forschungsthema vertieft werden.

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2.2.3

Zur Bewältigung von Übergängen und Transitionen im Lebenslauf

Wie im vorherigen Kapitel deutlich geworden ist, können institutionelle Ablaufmuster als Orientierung im Lebenslauf dienen, sodass sich eine gewisse Phasierung ergibt. »Lebensläufe lassen sich als Abfolge von Lebensaltersphasen, aber auch als Abfolge von Übergängen beschreiben, die soziale Zustands- und Positionswechsel markieren.« (Walther/Stauber 2013: 28) Übergänge werden in vielfältigen Zweigen der Sozialwissenschaften thematisiert. Neben der Erziehungswissenschaft befassen sich auch die eher durch die Soziologie und Psychologie geprägten Forschungsbereiche der Lebenslauf- und Biographieforschung, der Sozialisations- und Bildungsforschung sowie der Kindheits-, Jugend- und Altersforschung mit der Erforschung von Übergängen (Schröer et al. 2013: 11f.). Walther (2014) konstatiert vor allem für die letzten Jahre eine verstärkte Betrachtung von Übergängen in Biographien und Lebensläufen in Pädagogik und Erziehungswissenschaft, was er auf eine Veränderung der Gesellschaftsstrukturen in der Spätmoderne zurückführt. »Dies steht mit der Bewegung zu Individualisierung, Entstandardisierung und Entgrenzung in Zusammenhang, was zu einer Zunahme von Ungewissheit und Unsicherheit im Lebenslauf führt« (vgl. Walther 2014: 14). Übergänge werden dabei definiert als individuelle Prozesse des Zustandswechsels, die institutionell gerahmt sind (Sackmann/Wingens 2001: 31) oder auch als ›changes in state that are more or less abrupt‹ (Elder 1985: 31). Bührmann/König (2008) unterscheiden verschiedene Ansätze zur Beschreibung von Übergängen, von denen zwei Ansätze, ›Übergang als Statuspassage‹ und ›Übergang als Transition‹, genauer betrachtet werden sollen, da sich in diesen Ansätzen Anknüpfungen an die Fragestellung der vorliegenden Arbeit finden lassen. Das klassische und im Alltag gängige Verständnis von Übergängen bezieht sich auf den Übergang als Statuspassage. Mit den Besonderheiten von Übergängen im Lebenslauf haben sich insbesondere Glaser und Strauss (1971) beschäftigt und in diesem Zusammenhang den eben genannten Begriff der Statuspassage geprägt, der sich auf verschiedene Übergänge im Lebenslauf bezieht. Der Begriff Status rekurriert auf »die mehr oder minder hohe Stellung, die eine Person im Vergleich zu anderen Mitgliedern des jeweiligen Sozialsystems (z.B. Betrieb, Gemeinde, Gesamtgesellschaft) einnimmt« (Peuckert 2000a: 380). »Die Statuspassage bezeichnet dementsprechend den Übergang von einem (sozialen) Zustand in einen anderen, so beispielsweise einen Wechsel vom Studenten zum Absolventen« (Bührmann/König 2008: 22). Das Konstrukt der Statuspassage wird dabei immer im Kontext des

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Lebenslaufs gedacht, der jedem Individuum zugeschrieben ist und auf dem sich jedes Individuum individuell voran bewegt. »Übergänge lassen sich somit im Begriffssystem dieses Ansatzes als Bewegungssequenzen von normativ definierten Lebensabschnitten in andere bezeichnen, so beispielsweise von der Schule zur Berufsausbildung, von der Berufstätigkeit in die Verrentung usw.« (ebd.: 23). So werden in Studien häufig einzelne Statuspassagen untersucht, so beispielsweise der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule (Mellgren/Pramling Samuelsson 2014; Neuß et al. 2014; Griebel 2018), der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule (z.B. Liegmann 2014; Mammes/Schäffer 2014; Porsch 2018), der Übergang von der Schule in ein Hochschulstudium (Bornkessel/Asdonk 2011; Becker 2012; Dürr et al. 2016) oder in den Arbeitsmarkt (Beicht/Ulrich 2008; Pötter 2014; Dethloff 2016). Übergänge als Statuspassagen sind somit einerseits stark individualisiert, andererseits kommen auch hier institutionelle Mechanismen und GatekeepingStrukturen zum Tragen, die eine Bewältigung entsprechender Übergänge bedingen können. Zudem weisen Glaser und Strauss eine Pluralität und Gleichzeitigkeit verschiedener Statuspassagen nach, die das Bewältigungssystem komplex werden lassen (vgl. Glaser/Strauss 1971). Der institutionalisierte Lebenslauf liefert dabei eine Rahmung und Erwartbarkeit dieser Statuswechsel, dennoch bleibt die Herausforderung der Bewältigung individuell. Übergänge stellen somit auch biographische Konstruktionskontexte dar und werden zu einer Form biographischer Arbeit (vgl. Truschkat 2013: 48). Das Verständnis von Übergängen als Transitionen wurde im deutschsprachigen Raum vor allem durch Harald Welzer (1993) geprägt. Dieser sieht Übergangsstadien ebenfalls einhergehend mit biographischen Wandlungsprozessen und beschreibt Transitionen als eine Veränderung eingelebter Zusammenhänge (vgl. Welzer 1993a: 9). »Zeiten, in denen wir unser Weltbild und unsere Möglichkeiten, Teil dieser Welt zu sein, neu festlegen. Wir erfahren das als etwas, das uns zustößt; doch zu den Folgen gehören bedeutende Veränderungen im Kernland unseres Selbst: in solchen Zeiten sind wir auf einzigartige Weise geöffnet für Hilfe und Schädigung.« (Parkes 1974: 13 zitiert nach Welzer 1993b: 137) Parkes betont hier beide genannten Aspekte und sieht das Individuum in dieser Phase der Transition als besonders sensibel und auch angreifbar. Das Transitionskonzept nach Welzer fragt somit primär danach, wie Individuen Diskontinuitäten im persönlichen Entwicklungsprozess bewältigen und wie sich das dynamische Wechselverhältnis zwischen Selbstkonzept und äußeren Erwartungen in individueller Handlungsfähigkeit niederschlägt (Walther/Sauber 2013: 29).

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Transitionsforschung beschäftigt sich mit »dem Wechsel von Individuen aus eingelebten Lebensabschnitten in andere, also mit Wohnortwechseln, Partnerverlusten, Karrierebrüchen – kurz: mit psychosozialen Übergangsstadien« (Welzer 1993b: 137). Die Bearbeitung des Themas vollzieht sich dabei auf zwei Ebenen. Zum einen werden gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Handlungsanforderungen in den Blick genommen, in die der Transitionsprozess eingebettet ist, wie beispielsweise die aktuelle Arbeitsmarktlage. Zum anderen ist das individuelle Handlungs- und Bewältigungsvermögen Perspektive der Transitionsforschung (vgl. ebd.). »Transitionsforschung operiert damit an einer Schnittstelle von individuellen Handlungspotenzialen und Bewältigungsvermögen und von gesellschaftlichen Handlungsanforderungen und Rahmensetzungen für mögliche Bewältigungsprozesse – das Individuum ist in einer Transition besonders deutlich zugleich Subjekt und Objekt eines Geschehens« (Welzer 1993b: 137). Durch diesen Ansatz wird in einer umfassenden Weise versucht, die psychosozialen Wirkungen von Übergängen zu erklären. Zur Bewältigung von derartigen Transitionen gibt es einige modellhafte Vorschläge, von denen der bekannteste und einer der ersten das Modell subjektiver Bewältigungsprozesse eines transitorischen Ereignisses von Adams und Hopson (1976) darstellt (siehe Abb. 2).

Abb. 2: Subjektiver Bewältigungsprozess eines transitorischen Ereignisses nach Adams und Hopson (Hopson/Adams 1976 zit. nach Bührmann 2008: 27)

Nach Adams und Hopson (1976) sind Transitionen häufig unbekannte und unerwartete Ereignisse, wodurch die Person zunächst in eine Phase der Lähmung

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

gerät, die mit Gefühlen von Überwältigung und Desorientierung verbunden ist (Immobilisation). In der nächsten Phase der Minimierung (Minimisation) erfolgt der Versuch, die Bedeutung des Ereignisses zu minimieren und auf ein handhabbares Niveau zu bringen, einhergehend mit Reaktionen der Verleugnung der Veränderung oder auch einer Euphorisierung. Wenn die bisherigen Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen, setzt eine Phase der Depression ein, was dann in der Regel zu einer Anerkennung und Akzeptanz der Realität führt (acceptance of reality). Die Veränderung der Perspektive führt zu ansteigendem Selbstbewusstsein und der Erprobung neuer Möglichkeiten (Testing), um die Situation zu bewältigen, was mit einer kognitiven Verarbeitung der Situation einhergeht (Search for meaning). Die kognitive Verarbeitung ist insofern notwendig, als dass dadurch der Veränderungsprozess abgeschlossen werden kann (Internalisation) (vgl. Bührmann/König 2008: 27f.). Diese Darstellung ist jedoch stark modellhaft und in der strikten Abfolge in der Realität und im Alltag in der Regel so nicht anzutreffen, was Hopson und Adams selbst betonen: »Before proceeding, we want to make it clear that seldom if ever does a person move neatly from phase to phase as it has been described and diagrammed above. It is rather more likely that these representations are of the general experience and that any given individual’s progressions and regressions are unique to his or her unique circumstances.« (Adams/Hopson 1976: 13) Dieses Modell soll daher an dieser Stelle lediglich eine Orientierung geben, wie komplex ein derartiger Prozess der Bewältigung einer Transition eigentlich ist und mit welchen Phasen, Erlebnissen und Empfindungen eine Person durch eine zu bewältigende Transition möglicherweise konfrontiert werden kann. Walther und Sauber (2013) sehen die Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze zur Beschreibung von Übergängen in der Vorstellung von Übergängen als Interaktionen und in der »Beobachtung, dass Übergänge prinzipiell Zonen der Ungewissheit und Verwundbarkeit darstellen – sowohl für die gesellschaftliche Ordnung, weil nicht sicher ist, ob die nachfolgende Generation die angestrebten Zielzustände erreicht und die herrschenden Normalitätsannahmen übernimmt, als auch für die Individuen, deren Lebensentwurf – im Sinne einer an die bisherige Biographie anschlussfähigen Identitätsbalance in der Zukunft – auf dem Spiel steht« (Walther/Sauber 2013: 30). Diese Übergänge gilt es also zu bewältigen, was in Bezug auf das Bildungssystem auch eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat. Bildungsinstitutionen bedingen Übergänge und werden damit auch zu wichtigen Türöffnern (vgl. Kap. 2.1.3). Diese Türöffner sind zunächst natürlich positiv konnotiert, indem mit dem Begriff die Eröffnung von Chancen verbunden wird, sie können jedoch auch Bildungsungleichheit weiter fördern, indem diese Türen an bestimmte Voraussetzungen und

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Bedingungen gebunden sind und damit auch leicht verschlossen werden können, was bereits die Befunde zum Gatekeeping dargelegt haben. »Die Organisation und Bewältigung der Übergänge innerhalb des Bildungssystems sind nicht nur im Hinblick auf die individuelle Perspektive von erheblicher Relevanz. Sie gewinnen gesellschaftlich besondere Bedeutung dadurch, dass diese Gelenkstellen der Bildungskarriere als entscheidende Stationen für die Entstehung von Bildungsungleichheiten identifiziert wurden. Insbesondere die Frage, welche weiterführende Schule besucht wird, ist eng verknüpft mit dem späteren Schul- und Bildungsabschluss und damit auch mit der sozioökonomischen Position als Erwachsener innerhalb der Gesellschaft.« (Maaz et al. 2010: 5) Die Diskussion um Bildungsungleichheiten im Kontext von Übergängen ist in der Forschung breit aufgestellt und vor allem an einem Verständnis von Übergängen als Statuspassagen orientiert (vgl. u.a. Reißig/Gaupp 2007; Hupka-Brunner et al. 2012; Pohl 2015). In Bezug auf die vorliegende Arbeit ist das Thema Übergänge in zweierlei Hinsicht relevant. Zunächst einmal erfolgt ein Übergang in das deutsche Bildungsund Hochschulsystem, es geht also um eine Form von Statuspassage, die bewältigt werden muss. Der Übergang in die Hochschule wird in der Forschung aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Beispielsweise geht es hier auch um Fragen von Bildungsungleichheit und der Bedeutung der sozialen Herkunft (vgl. z.B. Becker 2012) oder auch um Heterogenität als Herausforderung beim Übergang in die Hochschule (vgl. z.B. Hanft et al. 2015; Egger 2018). Diese Perspektiven gilt es als sensibilisierende Konzepte zu berücksichtigen. Zum anderen erfolgt ein Übergang im Kontext von Migration, der essenzieller zu betrachten ist, da diese Form des Übergangs möglicherweise auch auf den Einstieg in das deutsche Bildungs- beziehungsweise Hochschulsystem wirken kann. Nach Gemende (2013) nimmt »Migration als Übergang […] die Vervielfachung von Zugehörigkeiten in den Blick, wenn Menschen über Ländergrenzen hinweg migrieren. Zugehörigkeit heißt, sich in Beziehung zu sozialen und kulturellen Umwelten zu setzen, und hat damit einen Identität stiftenden Charakter. Menschen mit Migrationshintergrund müssen sich mit ihren Zugehörigkeiten zu Herkunfts- und Aufnahmeland, zu sich konstruierenden ethnischen Gruppen im Aufnahmeland und mit den Emotionen, die die Zugehörigkeiten in ihren Ambivalenzen und konflikthaften sozialen Dynamiken auslösen können, auseinandersetzen.« (Gemende 2013: 869)

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Das zu bewältigende kritische Lebensereignis wird also biographisch im Kontext der Ausbalancierung von Vervielfachungen von Zugehörigkeiten5 verstanden und damit in der Übergangsforschung am ehesten mit dem Begriff der Transition assoziiert. Im Kontext der vorliegenden Arbeit und der besonderen Implikationen von Fluchtmigrationen verstärkt sich möglicherweise die psychosoziale Bedeutung des Übergangs beziehungsweise der Zugehörigkeitsempfindungen, da die Unfreiwilligkeit der Migration, verbunden mit verheerenden Erlebnissen im Heimatland und während der Flucht, bereits eine hohe Emotionalität bis hin zu Traumatisierungen mit sich bringt und damit auch biographische Aushandlungen von Zugehörigkeiten mitbedingen kann. Diese Diskussion spielt im folgenden Kapitel zum Thema ›Biographie und Migration‹ eine besondere Rolle und wird entsprechend vertieft.

2.3

Biographie und Migration »Zum einen beeinflussen der Migrationsprozess und die darin eingelagerten Erfahrungen in ihren verschiedenen Dimensionen – einerseits in ihrer individuellen Ausgestaltung, andererseits in ihren familienbiographischen sowie milieu- und migrationsspezifischen strukturellen Einrahmungen – den Prozess der biographischen Gesamtdeutung. Zum anderen beeinflusst der biographische Gesamtzusammenhang seinerseits die Ausgestaltung und Bearbeitung der migrationsbezogenen Erfahrungen.« (Kempf 2013: 74)

Das vorangegangene Zitat macht bereits einen unmissverständlichen Zusammenhang der beiden im Fokus stehenden Begrifflichkeiten ›Biographie‹ und ›Migration‹ deutlich. Diese Forschungsperspektive ist insofern besonders, als dass sie einen umfassenden Blick auf Migrationsphänomene ermöglicht und gleichzeitig deren Einflüsse auf Lebenswege aufzeigen kann. Eine Annäherung an dieses Forschungsfeld erfolgt im Folgenden zunächst über eine Diskussion der Bedeutung von Biographien in der Migrationsforschung und geht dann spezifischer zur Frage von Identitätskonstruktionen in Form von Selbst- und Fremdzuschreibungen im Kontext von migrationsgeprägten Lebensformen über. Die Einbeziehung einer transnationalen Perspektive auf Biographien ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung und mündet in das spezifische Forschungsfeld von Fluchtbiographien.

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Die Vervielfachung von Zugehörigkeiten wird in der kulturwissenschaftlichen Forschung mit unterschiedlichen Begriffen verknüpft, deren Erläuterung im weiteren Verlauf dieser Arbeit folgen wird (vgl. Kapitel 2.3.2 und 2.3.3).

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

2.3.1

Zur Auseinandersetzung mit Biographien in der Migrationsforschung

Die erste Migrationsstudie, in der ein biographischer Ansatz entwickelt wurde, stammt aus dem Jahr 1918 von William Isaac Thomson und Florian Znaniecki (»The Polish Peasant in Europe and America«), deren Wurzeln in der Tradition des interpretativen Paradigmas der Soziologie, der Chicago School of Sociology (19181920) liegen. Das Forschungsinteresse bezog sich auf die Frage, welche Veränderungen die untersuchten Wanderungsbewegungen sowohl für die Ankunftsgesellschaft als auch für die Orientierungen der Migrant/-innen bedeuten. Eine systematische theoretische und methodische Auseinandersetzung erfolgte dann jedoch erst in den 1990er Jahren, zu einer Zeit, in der kulturalistische Deutungen und Typisierungen nach einem Schema der Modernitätsdifferenz den migrationstheoretischen Diskurs dominierten, ebenso wie quantitativ verfahrende Ansätze (vgl. Breckner 2005: 22). Ein durch die stetig wachsende Globalisierung bedingter Mobilitätsdruck führte zu einem Paradigmenwechsel und der Modifikation theoretischer und methodischer Modelle, um den empirischen Befunden mobilisierter Biographien und Wanderungsbewegungen gerecht werden zu können. Die biographische Migrationsforschung ist damit zu einem eigenständigen Forschungsfeld erwachsen (vgl. Lutz/Schwalgin 2006). »Migration stellt einen komplexen lebensgeschichtlichen Veränderungsprozess dar. Die Beweggründe sowie die Auswirkungen von Migration auf die weitere Lebensgeschichte ebenso wie der Umgang der Ankunftsgesellschaft mit Migration und die Auswirkungen auf die Lebensgestaltung offenbaren sich gerade in biographischen Erzählungen, die in der biographischen Migrationsforschung zur Rekonstruktion von Migrationsprozessen eingesetzt werden.« (Siouti 2018: 225) Mithilfe des Konzepts der Prozessstrukturen des Lebenslaufs nach Schützes Theorie zur Biographieforschung ist die Prozesshaftigkeit von biographischen Migrationserfahrungen im Kontext gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse untersucht worden. Eine weitgehend defizitorientierte Migrationsforschung konnte so um eine ressourcen- und subjektorientierte Perspektive erweitert werden, die beispielsweise auch explizit die Gender Perspektive berücksichtigt hat (vgl. Ruokonen-Engler 2012). Inhaltlich lassen sich seitdem zwei Phasen mit unterschiedlichen Forschungsperspektiven erkennen. Bis zu den 2000er Jahren bestand die Ausrichtung zunächst in der Untersuchung von Migrationsprozessen aus der Perspektive der Ankunftsnation und der Einwanderungsgesellschaft. Relevante Studien beziehen sich im Wesentlichen auf Aspekte der Gastarbeiter/-innenmigration, speziell auf die Lebenswelten der ersten Generation angeworbener Gastarbeiter/-innen und deren Nachkommen (vgl. u.a. Apitzsch 1990; Lutz 1991; Bukow et al. 2006). Der biographische Ansatz nimmt dabei sowohl die Perspektive des Immigranten als auch des

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

Aufnahmelandes in den Blick und verschafft somit Zugang zu einer doppelten Perspektive auf den biographischen Prozess im Kontext von Migration. Die durch die Migration ausgelösten biographischen Prozesse können sowohl negative als auch positive Verlaufskurvenpotenziale beinhalten, was beispielsweise Untersuchungen zu Migrations- und Bildungsverläufen von Jugendlichen der zweiten Generation italienischer Arbeitsmigrant/-innen zeigen (vgl. Apitzsch 1990). Eine weitere Studie von Schiffauer (1991) untersucht beispielsweise die Migrationsverläufe von Arbeitsmigrant/-innen aus einem türkischen Dorf nach Deutschland und Österreich. Die Migrationsverläufe stellen sich dabei hauptsächlich als Neuorientierungsprozesse dar, die sich einerseits innerhalb des biographischen Bezugsrahmens als Lösungsstrategie erweisen, andererseits aber auch neue Problemlagen hervorrufen können. Damit kommt Schiffauer zu ähnlichen Ergebnissen wie Apitzsch (1990). Neben der Perspektive auf die Gastarbeiterbewegung ist auch die Frauen- und Geschlechterforschung mehr und mehr in den Blick biographischer Migrationsforschung gerückt, wobei dabei die Migration und Remigration von Frauen im Mittelpunkt steht (vgl. z.B. Agha 1997; Steinhilber 1997; Philipper 1999). Durch die kritische Hinterfragung einer differenztheoretischen Betrachtungsweise von Geschlecht als Primärkategorie wurde aufgezeigt, dass Biographien darüber hinaus durch eine Reihe anderer gesellschaftlicher Differenz- und Ungleichheitskonstruktionen geprägt und strukturiert werden (vgl. Dausien 2004, S. 30). Weiterhin wurden Forschungen zu Fragen nach der biographischen Bearbeitung von Tradition und neuen Formen der Ethnizität in Migrationsprozessen in den Blick genommen, deren Gegenstand Ethnizität und Transformationen im Kontext der Ost-/Westmigration sowie aktuelle Entwicklungen der Arbeitsmigration darstellen (vgl. Bade 1996; Rosenthal/Bogner 2009). Seit Anfang der 2000er Jahre bewegt sich die biographische Migrationsforschung dann über das bisherige Blickfeld hinaus. Mobile und transnationale Lebensformen sowie (Mehrfach-)Positionierungen und Zugehörigkeiten in Migrationsgesellschaften werden zum Untersuchungsgegenstand. So wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch internationale Forschungsprojekte über die europäischen Grenzen hinaus durchgeführt, in denen transnationale Teams die Migrationsprozesse aus biographieanalytischer Perspektive erforschen und so zu einer Internationalisierung des Forschungsfeldes beitragen. Der sogenannte »transnational turn« (Levitt 2004) hat in der Migrationsforschung zu einer Perspektiverweiterung geführt, die die nationalstaatliche Rahmung der biographischen Migrationsforschung kritisch hinterfragt (vgl. Tuider 2009). Während bisher die Reproduktion der Annahme, dass nationalstaatliche Grenzen Forschung und Analyse begrenzen, vorherrschte, führte der transnationale Fokus zur Auflösung der Reproduktion und Hinterfragung dieser Annahme. Neben der Erweiterung der Migrationsforschung durch die biographische Perspektive erfolgte andersherum auch eine Weiterentwicklung des Biographiekonzeptes unter Einbezug von Transnationalisierungstheorien, postkolonialen und raumsozio-

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logischen Theoriebezügen (vgl. u.a. Lutz 2004; Apitzsch/Siouti 2008; RuokonenEngler/Siouti 2013). Kempf (2013) arbeitet auf Basis dieser gegenseitigen Bedingtheit und mit Rückgriff auf Befunde von Apitzsch (vgl. Apitzsch 2003; Apitzsch/Siouti 2008) strukturelle Rahmungen von Migrationsprozessen heraus, die einen Einfluss auf biographische Prozesse haben können (vgl. Kempf 2013: 74-77). Zunächst sieht er einen Einfluss in der unmittelbaren Erfahrung der Grenzüberschreitung, die strukturell von konkreten politisch-rechtlichen Bedingungen beziehungsweise Migrationsregimes eingerahmt ist. Diese strukturieren die Migrationsverläufe sowie die darin eingeschlossenen Beziehungsmuster und sorgen für eine »Konditionierung von kollektiven biographischen Trajectories im sozialen Raum« (Apitzsch 2003: 77). Darüber hinaus kann eine Transformation alltagsrelevanten Wissens durch den Wechsel in ein neuartiges Bezugssystem mit bestimmten Fremdheitserfahrungen sowie damit verbundenen Neustrukturierungen von Relevanzbeständen verbunden sein und sich somit auch in biographischen Prozessen abbilden. Die Frage nach externen Zuschreibungen und Differenzsetzungen ist weiterhin von den Entwicklungen der Beziehungen zwischen Ankunfts- und Herkunftskontext bestimmt. Zusammenfassend lässt sich auf Basis der erläuterten strukturellen Rahmungen herausstellen, inwiefern sich die gegenseitigen Einflüsse von Migration und Biographie im Kontext eines gemeinsamen Forschungsinteresses bedingen und inwiefern sich so beispielsweise Migrationserfahrungen biographisch als Diskontinuitätsoder Kontinuitätserfahrungen konstituieren. »Ausgehend vom biographischen Gesamtzusammenhang wird das Verhältnis zwischen Biographie und Migration daraufhin befragt, in welcher Form die Erfahrungen von Migration in die Biographien eingebettet werden und wie beziehungsweise entlang welcher Aspekte auf Migrationserfahrungen im Zusammenhang mit anderen Lebenserfahrungen Bezug genommen wird.« (Kempf 2013: 78) Die hier angesprochene aktuelle Entwicklung der biographischen Migrationsforschung hin zu einer Perspektive auf Transnationalität, ebenso wie die Debatte um Selbst- und Fremdzuschreibungen beziehungsweise Zugehörigkeiten sollen im Folgenden differenzierter betrachtet werden, um die jeweilige Relevanz für die Konstituierung und Entwicklung der biographischen Migrationsforschung zu betonen.

2.3.2

Selbst- und Fremdheitszuschreibungen im Kontext von Migration

Die Frage nach den Auswirkungen von Migrationsprozessen auf die Biographie beziehungsweise die Identität wird in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zumeist im Kontext von Selbst- und Fremdzuschreibungen diskutiert. »Herkunft

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

und Abstammung zwingen gleichwohl niemanden, sich im Umgang mit anderen umstandslos als Mitglied oder Angehörige(r) eines nationalen oder ethnischen Kollektivs zu präsentieren« (Dannenbeck 2002: 62); dennoch wird diese Kategorie immer wieder als Grundlage für Zuschreibungen verwandt. Eine Unterscheidung von beziehungsweise Abgrenzung zu Fremden wurde historisch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, indem Georg Simmel beispielsweise die Abgrenzung zwischen Außenseitern und Etablierten diskutierte (vgl. Simmel 1908/1992). In Weiterentwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg spielen vor allem Fragen nach zu bewältigenden kulturellen und sozialen Ambivalenzen in den Zugehörigkeiten zu Herkunfts- und Zielkontext eine Rolle (vgl. Schütz 1944/1972), ebenso wie der Blick auf Machtproben und Konflikte zwischen den sogenannten Fremden und Einheimischen (vgl. Elias/Scotson 1965/1993). In den frühen pädagogischen Auseinandersetzungen mit Ausländerkindern in den 1970er Jahren war die Kulturkonflikthypothese leitend. »Die These des Kulturkonfliktes geht also davon aus, dass Sozialisation unter Bedingungen divergierender kultureller Erwartungs- und Handlungssysteme zu Identitätsproblemen und Persönlichkeitsstörungen führe« (Mecheril 2001: 42) und damit einen Defizitansatz verfolgt. Mit dem Aufkommen der Interkulturellen Pädagogik wurde auch die Kulturkonflikthypothese kritisch bewertet, und es ging fortan vielmehr darum, vor allem die Bearbeitungsstrategien der Migrant/-innen im Umgang mit Migrationserfahrungen sowie deren Ressourcen in einer stärker prozessorientierten Perspektive auf Migration in den Blick zu nehmen und die komplexen Gesamtzusammenhänge zu untersuchen (vgl. Kempf 2013: 70). Hier zeigt sich also auch der bereits angesprochene Wandel von einer bisherigen Defizitorientierung hin zu einer Ressourcen- und Subjektorientierung. Mecheril (2011) sieht jedoch das Grundproblem differenzbejahender Ansätze darin, dass der Versuch, kulturelle Differenzen anzuerkennen, immer schon Differenzen voraussetzt, dass ›Kultur‹ die zentrale Differenzdimension sei, auf der Unterschiede zu untersuchen seien (vgl. Mecheril 2011: 40). Kennzeichnend für den Diskurs ist für Mecheril daher vielmehr der Begriff der Zugehörigkeit, der über eine kulturelle Differenzdimension hinausgeht und folgendermaßen definiert wird: »Natio-ethno-kulturelle Kontexte der Zugehörigkeit sind imaginierte Räume mit territorialer Referenz. Sie sind vorgestellte Räume, in denen Personen ein handlungsrelevantes Verständnis ihrer selbst erlernen. Sie erfahren sich – idealtypisch gesprochen – als Gleiche unter Gleichen, entwickeln und verwirklichen Handlungsmächtigkeit und sind schließlich mit diesen Kontexten biographisch verbunden. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit verweist also auf Strukturen, in denen symbolische Distinktions- und Klassifikationserfahrungen, Erfahrungen der Handlungsmächtigkeit und Wirksamkeit, wie auch biographische Erfahrungen der kontextuellen Verortung nahegelegt sind.« (Mecheril 2011: 44)

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Konstitutiv für die Erzeugung von Zugehörigkeit sind demnach die Elemente der Mitgliedschaft, der Wirkung und der Verbundenheit. Während sich die Mitgliedschaft auf den symbolischen Einbezug in ein ›Wir‹ fokussiert, meint die Wirksamkeit, dass bestimmte Formen von Praxis und Partizipation zugestanden und andere wiederum verhindert werden. Die Verbundenheit bezieht sich darüber hinaus auf die Bedeutung von Bindungen, emotionalen Bindungen, moralischen Verpflichtungen, kognitiv-praktischer Vertrautheit und materieller Gebundenheit (vgl. ebd.). Zugehörigkeit wird in Form unterschiedlicher Zuschreibungen artikuliert, die sowohl den Herkunftsraum als auch den neuen Lebensraum berücksichtigen, so dass damit die Zugehörigkeit auf die Unterscheidung von mindestens zwei Kontexten bezogen verstanden wird. Eine Form der Artikulation stellt die Bikulturalität oder duale Orientierung dar, die Anfang der 1990er Jahre von Heckmann diskutiert wurde: »Bei relativer Schwäche der Minderheitenkultur, hierarchischem, aber offenem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit, bikultureller Bestimmung der Positionen und Lösung des Zugehörigkeitskonflikts durch bewusste Anerkennung der Herkunft bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber der Mehrheitskultur, bei »Ich-Stärke« gegenüber Kultur- und Selbstwertkonflikten kommt es in marginalen Positionen zur dualen Orientierung.« (Heckmann 1992: 206f.) Der erstmals 1956 von Antonovsky eingeführte Begriff der dualen Orientierung bezog sich auf einen verhaltensmäßigen und ideologischen Bezug auf Minderheitenund Mehrheitskultur, lehnte Assimilation ab und beinhaltete eine bikulturelle Persönlichkeit (vgl. ebd.). Bikulturalität meinte dabei die Prägung der Persönlichkeit beziehungsweise Identität durch zwei kulturelle Einflüsse. »Ausschlaggebend ist hierbei, dass dieses Aufeinandertreffen zweier Kulturen nicht nur Kennzeichen einer vorübergehenden Lebensphase ist, wie z.B. bei einem Auslandsaufenthalt, sondern elementarer Bestandteil der Lebenserfahrung« (Wießmeier 1999: 5). Während bei der dualen Orientierung die Kulturdimension im Vordergrund stand und die Dualität noch keine Wertung beziehungsweise Betonung einer Sichtweise beinhaltete, ging es bei dem Begriff der ›Zwischenwelt‹, einer weiteren Artikulation von Zugehörigkeitsordnungen, um eine breitere Sichtweise auf verschiedene Lebenswelten, die als grundsätzlich gegensätzlich angenommen wurden. »Zwischenwelt nennen wir jenen psychischen, sozialen und kulturellen Standort, den ein Mensch bezieht, wenn er unter dem Anspruch eines einheitlichen Lebensentwurfs versucht, gegensätzliche Lebenswelten, von denen er abhängig ist, zusammenzufügen. Zwischenwelten sind keine Übergangsmuster des Handelns von einer Gesellschaft zur anderen, sondern dauerhafte Handlungsmodi, die in bestimmten Situationen und biographischen Phasen besonders herausgefordert

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

werden, aber eben auch latent vorhanden sind.« (Hettlage-Vargas/Hettlage 1984: 378) So wurden beispielsweise bereits in den späten 1990er Jahren biographische Übergänge von Migrant/-innen aus unterschiedlichen Herkunftskontexten als Zwischenwelten analysiert und artikuliert (vgl. u.a. Meister 1997; Philipper 1999; Gemende 2002). Dabei stand die doppelte Entfremdung im Fokus, also fremd im Herkunftsland und gleichzeitig auch fremd im Einwanderungsland zu sein. Es bedurfte also eines neuen Raumes, einer ›Zwischenwelt‹, um eine Verortung zu ermöglichen. Ein ähnlicher Ansatz wird auch durch die ›Sowohl-als-auch-Identitäten‹ und die Metapher des ›dritten Stuhls‹ von Badawia (2002) verfolgt. Die Metapher des ›dritten Stuhls‹ als weitere Artikulationsform steht für eine Identitätsaspiration von Immigrantenjugendlichen, mit der sie ihren Immigrantenstatus sowohl jenseits der als auch in den konkret einflussnehmenden Kulturwelten zu etablieren versuchen (vgl. Badawia 2002: 308). Bikulturalität wird trotz aller Schwierigkeiten als faszinierend und bereichernd wahrgenommen und erfährt damit eine andere und positivere Wertung als im Konzept der Zwischenwelten. Zugrunde liegt hier also ein positiver Differenzbegriff, der ausgeprägte Selbstkompetenzen voraussetzt und den Prozess der Doppelablösungsleistungen beschreibt (vgl. ebd.: 309). Mecheril (2003) erweitert die Perspektive und betont die Vielschichtigkeit von Zugehörigkeiten, indem er den Fokus auf den Begriff der natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten legt und sich nicht nur auf das Vereinen zweier nationaler beziehungsweise kultureller Identitäten beschränkt. Er arbeitet die Vielschichtigkeit vor allem in Untersuchungen von Zugehörigkeiten Jugendlicher mit Migrationshintergrund heraus (vgl. Mecheril 2003). Die Vielfältigkeit der Facetten von Mehrfachzugehörigkeiten und des Wohlbefindens zeigt auch die Untersuchung »Viele Welten leben« von Boos-Nünning/Karakaşoğlu (2004/2007), welche die Lebenslagen von jungen Frauen mit griechischem, italienischem, jugoslawischem, türkischem und Aussiedlerhintergrund untersuchten. Es zeigt sich hier, dass nicht die ethnischen Zugehörigkeiten die psychische Gesundheit und die Bewältigung des Übergangs beeinflussen, sondern vielmehr die Zufriedenheit mit den Lebensumständen in Deutschland. Die interviewten Mädchen und jungen Frauen fühlen sich ihrer Herkunftskultur zugehörig und weisen Selbstverortungen als Deutsche ebenso wie eine bikulturelle Zugehörigkeit zurück (vgl. Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2004: 37). Im Fall einer nicht so eindeutigen Selbstverortung greift Mecheril (2011) den bereits von Homi Bhaba (1994) geprägten Begriff der Hybridität als Ausdruck uneindeutiger Zugehörigkeit auf, welcher mit dem Konzept der Mehrfachzugehörigkeiten einhergeht:

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»Hybridität und hybrides Handlungsvermögen stellen Phänomene der Überschreitung und Zurückweisung binärer Unterscheidungen dar, die in zweierlei Hinsicht widerständig sind. Zum einen widersetzt sich Hybridität dem universellen Anspruch binär unterscheidender Schemata, sie verweigert sich der allein oppositionellen Repräsentation und Konstruktion sozialer Prozesse und Antagonismen. Das widerständige Potenzial von Hybridität besteht weiterhin darin, dass es die hegemoniale Praxis der dominanten Kultur unterwandert und unterläuft. Weil die dominante Kultur darauf angewiesen ist, sich etwa durch Bildung und Pädagogik auf die Anderen zu beziehen und sich sozusagen an und in den Anderen zu wiederholen, stellt sie ein Einfallstor für Veränderungen bereit, die Machtverhältnisse nachträglich destabilisieren.« (Mecheril 2001: 47f.) Hybridität beschreibt also einen Mischzustand, eine Art der Zusammensetzung aus Unvereinbarem, eine Zusammenfügung aus als unvereinbar Angesehenem, welche die Trennung der Identitäten durch Neuformierung überwindet (vgl. ebd.). Die Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeiten und die Anerkennung von Hybridität führt also zu einer Anerkennung des Nicht-Eindeutigen. Bildungstheoretisch hat dieses dekonstruktive Potenzial Bedeutung, weil es auf binär strukturierte Zugehörigkeitsordnungen (›wir‹ oder ›nicht-wir‹) irritierend, verändernd und dekonstruierend wirkt und damit auch auf die Perspektive der Selbst- und Fremdzuschreibungen einwirkt (vgl. ebd.: 53). Durch Migration entsteht also insgesamt die Herausforderung, multiple Selbstverortungen in das eigene Selbstbild zu integrieren und diese anderen gegenüber überzeugend darzustellen (vgl. Lutz/Schwalgin 2006). Die Anerkennung der mehrfachzugehörigen Disposition von Menschen, für die lebensweltlich (mindestens) zwei natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitskontexte von subjektivierender Relevanz sind, ermöglicht ihre Handlungsfähigkeit in dem vorherrschenden Zugehörigkeitskontext und verändert diesen (vgl. Mecheril 2011: 52). Dies unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit verschiedenen Zugehörigkeitsartikulationen und deren pädagogischer und gesellschaftlicher Anerkennung. Gerade für die Migrationsform der Flucht ist diese Auseinandersetzung essenziell. Böhmer (2019) betont in diesem Zusammenhang, dass im Kontext von Fluchtmigration grundsätzlich Mehrfachzugehörigkeiten statt dichotomer Bildungs- und Subjektivitätskonzepte anzusetzen seien, wenn es um die Untersuchung inklusiver Strukturen gehe (vgl. ebd.: 209). Die allseits geforderte Verortungsleistung zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ist für Geflüchtete insofern besonders befremdlich, als dass die bisherige hauptsächliche Zugehörigkeit zur Herkunftsgesellschaft unfreiwillig aufgegeben wurde und erzwungenermaßen eine Neuverortung stattfinden muss. Eine derartige Bewusstmachung und Auseinandersetzung unter Berücksichtigung möglicher-

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

weise verheerender Erfahrungen im Herkunftsland und auf der Flucht ist unter Umständen mit verstärkten psychischen Belastungen verbunden (vgl. Silove 1999). Eine weitere Perspektive, die noch über die Artikulation von Migrationsbiographien hinausgeht und eigene Sozialräume konzipiert, soll im Folgenden aufgrund ihrer Relevanz und eigenen Forschungstradition gesondert dargestellt werden.

2.3.3

Die transnationale Perspektive auf die Verortung von Biographien

Transnationalität ist eine Migrationsform, die über die klassischen Formen hinausgeht und für die gleichzeitige Verortung von Migrant/-innen in ihrer Herkunftsund Ankunftsgesellschaft steht. Denn »mit den Begriffen transnational und Transnationalisierung werden hier grenzüberschreitende Phänomene verstanden, die – lokal verankert in verschiedenen Nationalgesellschaften – relativ dauerhafte und dichte soziale Beziehungen, soziale Netzwerke oder Sozialräume konstituieren.« (Pries 2010: 13) Das Konzept der Transnationalisierung geht damit insofern über die klassischen Migrationsformen hinaus, als dass die üblich als gültig und notwendig gesehenen nationalstaatlichen Grenzen hier eine Auflösung erfahren und jenseits dieser Grenzen eigene und neue Räume eröffnet werden können und damit auch im Kontext von Fluchtmigration interessant erscheinen. Der bereits angesprochene ›transnational turn‹ (Kap. 2.3.1) wird in der Migrationsforschung als Perspektiverweiterung gesehen, welche die nationalstaatliche Rahmung der biographischen Migrationsforschung kritisch hinterfragt (vgl. Tuider 2009; Lutz/MoroskvasicMüller 2002), wenngleich das Phänomen der Transnationalisierung kein neues ist und historisch beispielsweise Untersuchungen zu Alltagspraktiken von Migrantengruppen in Europa und den USA ganz ähnliche Konstrukte aufzeigen (vgl. Higham/Brooks 1978). Der weltweite Ausbau von Kommunikations- und Verkehrsinfrastrukturen führte zu einer Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung transnationaler Lebensformen. Prozesse, die Glick Schiller et al. (1997) bereits in den 1990er Jahren beschrieben als »processes by which immigrants forge and sustain simultaneous multi-sited social relations that link together their societies of origin and settlement« (ebd.: 121). Eine besondere Perspektive wurde dabei auf transnationale Haushalts- und Familienformen gelegt. Während sich die Untersuchungen zunächst auf Karibik, Mittel- und Südamerika sowie Asien konzentrierten (vgl. z.B. Hodagneu-Sotelo 1997; Foner 1997), so kommen transnationale Familienstrukturen nach und nach auch im europäischen Raum in den Blick (vgl. z.B. Al-Ali 2002; Bryceson/Vuorela 2002), und weisen einen hohen ökonomischen Faktor mit einem entsprechenden ökonomischen Austausch auf. Vor allem Frauen machen sich dabei entgegen den typischen Bildern vom männlichen Migranten als Familienernährer auf den Weg, um häufig im Bereich von Pflege-

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und/oder Haushaltshilfe tätig zu sein. Die sogenannte Care-Debatte brachte in den 1990er Jahren einige empirische Studien über Haushaltsarbeiterinnen aus Ost- nach Westeuropa hervor, bei denen die Transnationalisierung von familialen Pflege-, Sorge- und Betreuungsbeziehungen im Vordergrund steht (vgl. u.a. Lutz 2007; Karakayali 2010). Die Rolle der Migrantinnen führt auch zu einem Perspektivwechsel in Bezug auf das Familienverständnis, welches durch Begriffe wie »transnational parenting« (Parrenas 2001) oder »long-distance-mothering« (Gamburd 2000) eine Annäherung und Artikulation findet. Grenzüberschreitende Familienformen führen mitunter zu Brüchen und Konflikten, eröffnen aber auch neue Spielräume und Optionen, was auch eine Marburger Untersuchung zur Bedeutung und zum Wandel von Familiarität in Familien zeigt, die in verschiedenen Weisen plurilokal organisiert sind (vgl. Körber 2011). Auch Bildungsprozesse erfahren so eine neue Dimension und können nicht mehr an nationalstaatlichen Bildungssystemen gemessen werden. Adick (2005) prägt in diesem Zusammenhang den Begriff des transnationalen Bildungsraums, der »grenzüberschreitende Bildungsprozesse leibhaftig mobiler Menschen, ihre Lernprozesse und ihren Erwerb von Qualifikationen und Zertifikaten in transnationalen Sozialräumen [bezeichnet]« (Adick 2005: 264). Transnationalisierung meint also auch grenzüberschreitende Prozesse, in denen Bildung über Ländergrenzen hinweg mitgenommen und erworben wird. Kennzeichnend sind nach Pries (2010) die grenzüberschreitenden Phänomene, die dauerhaft dichte soziale Beziehungen und Netzwerke ermöglichen, wodurch diese Lebensform kennzeichnend für die zuvor dargestellten Varianten der Sowohl-als-auch-Identitäten ist und folglich auch in einem engen Bezug zu biographischen Kontexten steht. Die Erforschung transnationaler Räume auch außerhalb des europäischen Raumes ist daher häufig Gegenstand biographieanalytischer Studien. Transnationale Räume werden dabei nach Faist et al. (2014) verstanden als »Prozesse, in denen Migranten in sozialen Beziehungen über Ländergrenzen hinweg involviert sind. Viele Migranten leben in Sozialräumen, die politische, geographische und kulturelle Grenzen überspannen« (ebd.: 18). Der biographische Ansatz eröffnet dabei neue Perspektiven für die Untersuchung von Transmigration und die Etablierung transnationaler sozialer Räume. Als Konstitutionsbedingungen von transnationalen Lebensformen werden das Zusammenwirken von biographischen Ressourcen, strukturellen Zwängen und politischen Abkommen diskutiert (vgl. u.a. Ruokonen-Engler 2012; Kempf 2013). »Ausgehend von der empirischen Erforschung transnationaler Lebensformen wurde das theoretische Konzept der Biographie unter Einbezug wissenssoziologischer, transnationaler und postkolonialer Theorieaspekte erweitert. Transnationale Biographien werden dabei einerseits nach Hall als ›Artikulationen‹

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

konzipiert, andererseits als ›Orte transnationaler Sozialräume‹ betrachtet, in denen sich das transnationale biographische Wissen aufschichtet.« (Siouti 2018: 228) Transnationalisierungstheorien ermöglichen also in ihren verschiedenen Perspektiven beispielsweise auf Familienformen, Rollen von Migrantinnen und Bildungsprozesse auch einen besonderen Fokus auf das Konzept der Biographie, was durchaus als Weiterentwicklung des Biographie-Konzepts durch eine transnationale Dimension verstanden werden kann (vgl. ebd.).

2.3.4

Biographie im Kontext von Fluchtmigration

Auch die besondere Migrationsform der Flucht findet mit ihren eigenen Implikationen Berücksichtigung hinsichtlich biographischer Kontexte. Dabei lassen sich verschiedene Forschungsperspektiven ausmachen. Biographien im Kontext von Flucht werden häufig im Zusammenhang mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs untersucht, ebenso in literaturwissenschaftlichen und künstlerischen Darstellungen. Aktuelle Forschungsarbeiten lassen sich in diesem Bereich nur vereinzelt nennen und werden zudem häufig im Zusammenhang mit bildungswissenschaftlichen Fragen analysiert. Der Begriff ›Flüchtling‹ ist in seiner heutigen Verwendung eher ein unscharfer Begriff, der zumeist auf die Fluchtbewegungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg rekurriert (vgl. Ghaderi/Eppenstein 2017: 4), sodass sich zahlreiche Forschungsarbeiten im Kontext von Biographie auf diese historische Perspektive beziehen. Bereits 1943 verwendete Hannah Arendt den Begriff noch vor der Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention und konstatierte die Bedeutungsvielfalt und mögliche negative Implikationen dieses Begriffs, indem sie betonte: »Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns Flüchtlinge nennt. Wir selbst bezeichnen uns als ›Neuankömmlinge‹ oder ›Einwanderer‹. Mit uns hat sich auch die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt.« (Arendt 1943: 9) Arendt beschrieb in ihrem Essay »Wir Flüchtlinge« die Flucht vor dem NS-Regime und strebte mit ihren Begriffsvorschlägen die Perspektive und Intention von einem ›weg von‹ zu einem ›hin zu‹ an, um der Gewaltherrschaft des NS-Regimes mit einer besonderen Form des Widerstands zu begegnen, indem die Gewaltherrschaft nicht mehr als solche thematisiert wurde, sondern das ›Neue‹ im Vordergrund steht. Flüchtlingsbiographien in der Zeit des Nationalsozialismus waren daher häufig geprägt von einer verminderten Lebensqualität sowie gesundheitlichen Einschränkungen und Einschränkungen in der Alltagsbewältigung sowohl im höheren (vgl. Bartmann 2006; Beutel et al. 2007) als auch im Kinder- und Jugendalter (vgl. Kirsch 2010). Auch die besondere Situation von Juden im Nationalsozialismus

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

findet Beachtung im Kontext von Biographie und Flucht, vor allem die Situation von Kindern (vgl. Bregler 2010) oder auch Dienstmädchen-Erfahrungen jüdischer Frauen (vgl. Bollauf 2010). Flucht und Biographie werden häufig im Kontext literarischen und künstlerischen Ausdrucks betrachtet und analysiert. Dabei findet die Bearbeitung sowohl im Kontext von Romantexten und Autobiographien (vgl. Feuchert 2005; Sanders 2009; Markus 2018) als auch wie in Fotographie- und Gemäldeanalysen statt (vgl. Priem 2007). In Bezug auf die aktuelle erziehungswissenschaftliche Forschungslage kann zunächst herausgestellt werden, dass eine biographische Perspektive auf Fluchtprozesse durchaus als lohnenswerte und notwendige Forschungsperspektive diskutiert wird: »The primary goal is to explore how post-resettlement social trajectories are linked to changes in identities. It is argued here that ethno-social practices and identities of refugees need to be seen in the light of their migration biographies, everyday experiences and anticipated futures.« (Valenta 2010: 1) Valenta (2010) stellt hier heraus, dass Flucht- und Migrationsprozesse eigentlich nur in einer ganzheitlichen und biographischen Perspektive analysiert werden können, um die vielschichtigen Implikationen und Bedingungslagen erfassen zu können und damit auch eine adäquate Betrachtungsweise erfahren. Aktuelle biographische Studien haben häufig eine Art Aufklärungscharakter und möchten auf die besondere Lebenssituation von Geflüchteten aufmerksam machen (vgl. Kaloudis/Marker 2015). Darüber hinaus steht in der erziehungswissenschaftlichen Forschung besonders die Perspektive auf Bildungsprozesse und Bildungsverläufe im Vordergrund (vgl. u.a. Lewes 2003; Niedrig 2005; Seukwa 2006; Korntheuer 2016; Wojciechowicz 2018). Diese Forschungsrichtung soll im Zuge der hier vorangegangen theoretischen Diskussionen und im Hinblick auf die Bedeutung für die vorliegende Forschungsarbeit im folgenden Kapitel noch ausführlicher betrachtet werden und damit zu einer theoretischen Argumentation hinsichtlich der Vereinbarkeit der Forschungslinien von Bildungs-, Biographieund Migrationsprozessen beitragen.

2.4

Migration, Bildung und Biographie – Zusammenschau

In der Zusammenschau der drei großen thematischen Schwerpunkte dieser Arbeit ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹ ergeben sich noch einmal besondere Perspektivierungen. Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten jeweiligen Kombinationen zweier Schwerpunkte stehen bereits für sich genommen für je eigene Forschungsbereiche und zeigen eigene Positionierungen und Ausrichtungen

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

auf. Schlussfolgernd gilt es nun also, diese Bereiche zusammenzuführen und einen gemeinsamen Kern zu erarbeiten. Auffällig ist zunächst, dass die Biographie als roter Faden sowohl für den thematischen Schwerpunkt der Bildung als auch der Migration gesehen werden kann. Im Kontext von Bildung ist deutlich geworden, dass häufig institutionelle Ablaufmuster befolgt werden, die sich an den jeweiligen Lebensaltern orientieren. Thematisiert werden in diesem Kontext auch Übergangs- und Zugangsmechanismen, die damit auch einer Verlaufsorientierung folgen. In Bezug auf den Themenbereich der Migration stehen Fragen nach identitären Zuordnungen im Vordergrund, die ebenfalls für Biographien höchst relevant sind. Auch die gemeinsame Perspektive von ›Bildung‹ und ›Migration‹ in der besonderen Fokussierung auf den Hochschulzugang für geflüchtete Studierende weist explizite biographische Bezüge auf, da einerseits, in Anlehnung an die erwähnten Bildungsdiskurse, eine besondere institutionelle Phase im Vordergrund steht und andererseits die betroffenen Individuen als Biographieträger/-innen mit spezifischen und zu bewältigenden Herausforderungen konfrontiert werden. Es bietet sich also an, im Folgenden in der Perspektive von Biographien von Bildungsmigrant/-innen zu argumentieren. Herausgestellt werden kann, dass Biographien in diesem Feld häufig daraufhin untersucht werden, inwiefern Migrationsprozesse Anlässe für Bildungserfahrungen sind (vgl. Koller/Wulftange 2014), denn Migration gilt als Mechanismus der Modernisierung (vgl. Hamburger 1994) und hat eine Transformationstradition (Apitzsch 1999), was im Sinne eines transformatorischen Bildungsverständnisses relevant ist (vgl. Kapitel 2.2.1). In einer konkreteren Perspektive auf Studierende mit Migrationshintergrund zeigen die Befunde, dass die Bildungsverläufe dieser Personengruppe grundsätzlich divers sind und ein biographischer Zugang – hier im methodischen Sinne – die Herausarbeitung von Verlaufsstrukturen ermöglicht. Dennoch wird auch deutlich, dass Biographien von Migrant/-innen ein hohes Potenzial negativer Bildungsverläufe aufzeigen (vgl. u.a. Neumann et al. 2003; Koller/Wulftange 2014), was bei einem unsicheren Aufenthaltsstatus besonders prägnant ist (vgl. Neumann/Niedrig 2003). Auffällig ist, dass Biographien von Bildungsmigrant/-innen häufig durch Hürden beziehungsweise Barrieren gekennzeichnet sind. Diese Hürden werden einerseits durch das Bildungssystem bedingt, andererseits äußern sie sich auch auf der Ebene der Migration. Im Kontext des Bildungssystems wird häufig eine vermehrte institutionelle Diskriminierung festgestellt (vgl. Rose 2012; Zölch 2014). Gomolla und Radtke (2009) haben die Bedeutung institutioneller Diskriminierung für die Schulmisserfolge von Migrantenkindern untersucht und die Herstellung ethnischer Differenz bereits in der Schule herausgearbeitet. Rose (2012) arbeitet positionierende und diskriminierende Anrufungen auch als Bildungsherausforderungen und damit Anlässe für Bildungsprozesse heraus. Die Sichtweise, dass nur Migrationsandere sich als Individuen der Herausforderung im Sinne einer Bewältigung

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

von Diskriminierungserfahrungen zu stellen haben, greift ihnen zufolge jedoch zu kurz. In Anlehnung an Butler sieht Rose diese Bewältigung als kollektives, politisches und diskursives Bildungsprojekt. Die Bildungsherausforderung sei nicht an Migrationsandere delegierbar, sondern sollte auch von denen anerkannt werden, die sich als legitim Anerkannte unproblematisch Gehör verschaffen können (vgl. S. 415-417). Zölch (2014) betont ebenfalls die Bedeutung institutioneller Diskriminierung im Kontext von Migration und Bildung, sieht diese aber auch als Anstoß oder Herausforderung für transformatorische Bildungsprozesse. Als weitere Hürde im Bildungssystem lassen sich institutionelle Blockierungen im Sinne der Verwehrung von Zugängen erkennen. Die Zugangsbedingungen zu Bildungsinstitutionen und entsprechenden Bildungsgängen sind zwar in der Regel transparent und für alle gleich, dennoch zeigt sich, dass Migrant/-innen häufig schlechtere Voraussetzungen mitbringen und somit die Anforderungen, die für den Zugang zu Bildungsinstitutionen und Bildungsgängen gestellt werden, nur erschwert bewältigen können (vgl. Butterwegge 2010; Wojciechowicz 2018). In Abhängigkeit vom Aufenthaltstitel treten gerade bei Fluchtbiographien verstärkt institutionelle Blockierungen auf, da hier die besondere Lebenslage durch eine nicht selbst verursachte Flucht, besondere psychische Dispositionen oder beispielsweise auch Sprachprobleme dazu führt, dass institutionelle Blockierungen als besonders herausfordernd und negativ erlebt werden (vgl. z.B. Wojciechowicz 2018). Darüber hinaus arbeiten Neumann et al. (2003) heraus, dass spezielle Bildungsangebote für junge Geflüchtete häufig unterrepräsentiert sind und daher generell wenige Wahlmöglichkeiten bestehen. Zwar hat hier in den letzten Jahren durch zahlreiche auch non-formale Bildungsangebote sicherlich eine Weiterentwicklung stattgefunden, dennoch deutet dies zunächst auf eine weitere Hürde im Kontext des Bildungssystems hin. Auch migrationsbedingt zeigt sich eine besondere Hürde. Schwendowius (2015) thematisiert unterschiedliche Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen, indem sie Lebensgeschichten als sequenzielle Abfolge von Relationen der Subjekte zu bildungsrelevanten Kontexten beschreibt, in denen sich biographische Erfahrungsressourcen und Zugehörigkeitsverständnisse herausbilden und transformieren (vgl. auch Mecheril 2003). Teilhabe und Zugehörigkeit können demnach im universitären Kontext hergestellt werden, indem die Studierenden sich selbst als Akteur/-innen und Konstrukteur/-innen ihrer Bildungsbiographie verstehen und zudem Bildungskontexte immer in Relation zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen gesetzt werden, die wiederum jeweils unterschiedliche Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen ermöglichen. Für den Übergang an die Hochschule ergeben sich damit doppelte Anforderungen. Neben dem Übergang zum fachspezifischen Hochschulstudium werden auch migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse erzeugt, aus denen sich eine weitere Anforderung an marginalisierte Positionen ergibt. Auch dies ist im Kontext eines Fluchthintergrunds be-

2. Migration, Bildung und Biographie – eine theoretische Annäherung

sonders ausgeprägt, da die Anforderungen zum Hochschulzugang durchaus eine Herausforderung darstellen (vgl. Kapitel 2.1.2). Die dargestellten Hürden, sowohl migrationsbedingt als auch auf der Ebene des Bildungssystems, haben Auswirkungen auf die Biographien der Betroffenen. Es lassen sich Erfahrungen der Destabilisierung sowie gravierende Brüche in der biographischen Selbstkonstruktion ausmachen (vgl. Wojciechowicz 2018). Dies ist im Kontext von Fluchterfahrungen ebenfalls besonders ausgeprägt, und es lassen sich traumatische Erlebnisse, Verlusterfahrungen und unterbrochene Bildungsverläufe aufzeigen (vgl. Seukwa 2006; Korntheuer 2016). Biographische Ressourcen haben aber auch einen besonderen Stellenwert, um Transformationspotenziale zu fassen. Biographien können darüber hinaus zwischen unterschiedlichen Handlungsräumen vermitteln (vgl. Hummrich 2009). Neben den genannten Hürden und biographischen Auswirkungen lassen sich im Diskurs um ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹ auch Bewältigungsstrategien der Biographieträger/-innen erkennen. Zunächst kann eine Bewältigung der Erfahrungen durch eine Fokussierung auf Bildung erfolgen. Gerade Fluchterfahrungen führen dazu, »dass Bildungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern besonders positiv wahrgenommen werden und Hindernisse mit erworbenen Bewältigungsstrategien der Hartnäckigkeit und optimistischen Denkstilen überwindbar sind. Andererseits helfen Bildungsaspirationen, den schwierigen Lebensereignissen Sinn zu geben und begünstigen so kohärente Identitätskonstruktionen« (Korntheuer 2016: 371), was unter dem Ausdruck »spirit of going to school« (ebd.) zusammengefasst wird. Auch Wojciechowicz (2018) arbeitet heraus, dass der beständigen Arbeit an der eigenen Leistungsfähigkeit höchste Priorität beigemessen wird und damit einhergehend eine hohe Leistungsorientierung konstatiert werden kann. Als weitere Bewältigungsstrategien sehen Korntheuer (2016) und Schwendowius (2015) die Inanspruchnahme non-formaler Bildungsangebote und die Nutzung von informellen und sozialen Netzwerken. Es geht dabei vor allem um den Aufbau hoffnungsvoller Sichtweisen und die Aufgabe von Passivität. Gerade die Familie wird dabei zum wichtigen Akteur und wirksamen Schutz vor sozialer Isolation (vgl. Korntheuer 2016). Das Hineinfinden in das Studium durch die flexible Nutzung von Gelegenheitsstrukturen ebenso wie ein generelles Systemmisstrauen werden als weitere Bewältigungsformen genannt (vgl. Wojciechowicz 2018). Über die individuellen Bewältigungsstrategien der Biographieträger/-innen hinausgehend wird auch immer wieder diskutiert, wie die besonderen Potenziale von Biographien von Bildungsmigrant/-innen positiv nutzbar gemacht werden können. Zunächst gilt es, informell erworbene Kompetenzen als Lebenserfahrungen im Flucht- und Migrationsprozess als wertvolle Ressource für den

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Bildungsprozess im Aufnahmeland anzuerkennen und entsprechende Kompetenzen und soziales Kapital im Sinne nützlicher Beziehungen zu erfassen (vgl. Niedrig 2005; Seukwa 2006). Damit einhergehend steht für Seukwa (2006) der Begriff des ›Habitus als Überlebenskunst‹ im Fokus, der die Übertragbarkeit der Ressourcen und Kompetenzen aus dem Herkunftsland auf die Migrationssituation in Deutschland erfasst. Dies ist ebenfalls im Kontext von Fluchtbiographien essenziell, da eine entsprechende Anerkennung sowohl für die Kontinuität der eigenen Biographie notwendig ist, aber auch zur sozialen Mobilität beiträgt (vgl. Lintner 2017). Niedrig (2005) betont darüber hinaus die Notwendigkeit der Ermöglichung anderer Lernorte, um transnationale Ressourcen besser nutzbar machen zu können. Aus der dargelegten Perspektive auf durch Hürden und deren zu leistenden Bewältigungen geprägte Biographien von Bildungsmigrant/-innen lassen sich nun zusammenfassend grundsätzlich Stärken biographieanalytisch angelegter Studien im Rahmen migrationsspezifischer Themenstellungen erkennen. Schwendowius (2015) fasst diese in zweierlei Hinsicht zusammen. Zum einen können durch das Offenlegen individueller biographischer Prozessstrukturen in präzise analysierten Eckfällen über den kontrastiven Vergleich des gesamten Datenmaterials hinaus verallgemeinerbare Aussagen durch relevante Kategorienbildungen getroffen werden, ohne die Gefahr der Reproduktion ethnischer Typisierungen einzugehen. Auf der anderen Seite kann das biographienanalytisch-rekonstruktiven Studien zugrundeliegende offene Vorgehen wissenschaftlichen Fortschritt anregen, indem die Komplexität der Erkenntnislagen in der Bearbeitung des Forschungsgegenstands sichtbar wird (vgl. ebd.: 512f.). Für die vorliegende Forschungsarbeit ergibt sich damit durch die Kombination und Verknüpfung der drei angesprochenen Themengebiete im Sinne sensibilisierender Konzepte eine besondere Perspektive auf die Biographien geflüchteter Studierender beziehungsweise Studieninteressierter. Um auch den besonderen Umständen einer Fluchtmigration gerecht werden zu können, bedarf es ebenfalls besonderer methodischer Überlegungen, die im folgenden Kapitel unter Berücksichtigung des Forschungsgegenstandes angestellt werden sollen.

3. Forschungsmethodisches Design

In diesem Kapitel wird der Forschungsprozess mit seinen methodologischen und methodischen Implikationen in Bezug auf Erhebung und Auswertung dargestellt. Es geht zunächst um die Entwicklung einer konkreten Forschungsfrage und den sich daraus ergebenden methodologischen Kriterien der Arbeit, die sowohl der besonderen Situation der Befragten als auch dem vorliegenden Erkenntnisinteresse gerecht werden sollen. Das Aufzeigen der Forschungsperspektive führt schließlich zu der Darstellung der verwendeten Methoden und deren konkreter Umsetzung.

3.1

Erkenntnisinteresse und methodologische Kriterien dieser Arbeit

Im Folgenden soll im Rahmen des Erkenntnisinteresses und der zugrunde gelegten Methodologie zunächst auf die Entstehung der Forschungsfrage eingegangen werden, woraufhin dann eine methodologische Einordnung erfolgt.

3.1.1

Entwicklung der Forschungsfrage

In den ersten Kapiteln dieser Arbeit ist bereits deutlich geworden, dass die Themen ›Bildung‹, ›Fluchtmigration‹ und ›Biographie‹ eine zentrale Rolle für den Zusammenhang dieser Arbeit spielen. Die wesentlichen Erkenntnisse sollen hier noch einmal kurz zusammengetragen werden und dann auf die leitende Forschungsfrage hinführen. Vor allem das Thema ›Fluchtmigration‹ hat seit den steigenden Zahlen von Fluchtwanderungen nach Deutschland in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen, was sich auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung abbildet. Zwar weist Kleist (2016) auf ein Forschungsdesiderat und die Notwendigkeit einer unabhängigen Migrations- und Flüchtlingsforschung hin, dennoch gibt es eine steigende Anzahl an Studien und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu dieser Thematik. Es werden die besonderen Lebensumstände von Menschen auf der Flucht und nach ihrer Ankunft thematisiert (vgl. Friese 2017; Ghaderi/Eppenstein 2017). Ein besonderes Interesse zeigt sich dabei an der Situation

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

von Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund sowie in Möglichkeiten und Herausforderungen von Integration und Bildung in Bezug auf diese Personengruppe (vgl. Dieckhoff 2010; Korntheuer 2016; Bleher/Gingelmaier 2017). Die Lebenslagen von Erwachsenen werden häufig im Zusammenhang mit dem Einstieg in eine Erwerbstätigkeit aufgegriffen (vgl. Schroeder/Seukwa 2007; Brücker et al. 2016) oder eher unspezifisch in Bezug auf eine ethnische Zugehörigkeit oder sich daraus ergebender kultureller Chancen und Herausforderungen (vgl. Johler et al. 2007; Hartwig/Kroneberg 2016). Menschen mit Fluchthintergrund, die eine akademische Ausbildung beziehungsweise die Fortsetzung einer akademischen Ausbildung anstreben, finden jedoch bisher nur vereinzelt Beachtung (vgl. Schammann/Younso 2016; Westphal/Kämpfe 2017). Diese nur marginal stattfindende Auseinandersetzung und wiederkehrende persönliche Begegnungen mit Menschen mit Fluchthintergrund, die von einem besonders erschwerten Einstieg in das Hochschulsystem berichteten, führte zu einem besonderen Forschungsinteresse in diesem Bereich, welches sich im Rahmen dieser Arbeit widerspiegelt. Eine Verflechtung der Themen ›Fluchtmigration‹ und ›Biographie‹ findet sich darüber hinaus ebenfalls in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Erzählungen von Fluchtbiographien, der zurückgelassenen Situation im Herkunftsland, eines oftmals mühsamen und gefährlichen Fluchtweges und dem neuen Leben in Deutschland stehen im Mittelpunkt des Interesses. Es geht jedoch hauptsächlich um ein ›Aufmerksam-Machen‹ auf diese besondere Lebenssituation, und dies impliziert vor allem gesellschaftliche Funktionen zur Aufklärung und Akzeptanz, jedoch bisher weniger wissenschaftliches Erkenntnisinteresse (vgl. Breckner 2011; Metz 2016; Rosenthal et al. 2017). Dieses zeigt sich vor allem in migrationspädagogischen Untersuchungen zu Menschen mit Migrationshintergrund, wie beispielsweise den Bildungbiographien von beruflich erfolgreichen Migrant/-innen (vgl. Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2005; Behrensen/Westphal 2009). Bei diesem Ansatz geht es jedoch nicht um die spezifische Migrationsform der Flucht. Auch an dieser Stelle knüpft die Idee dieser Arbeit an und erhebt den Anspruch auf eine Zusammenführung von Biographie- und Migrationsforschung im Kontext von Fluchtmigration. Im Mittelpunkt steht der von Geflüchteten zu bewältigende Übergang von dem Bildungssystem ihres Herkunftslandes in das Bildungssystem des Aufnahmelandes Deutschland. Cuconato und Walther (2015) verweisen mit dem Ansatz des ›doing transitions‹ auf die Notwendigkeit eines geöffneten Blicks auf die Thematik der Übergänge und eine Befreiung des Begriffs von einer grundsätzlichen Problembehaftung. Auf individueller Ebene geht es bei diesem Ansatz um eine subjektiv-biographische Bewältigung von Übergängen (vgl. Cuconato/Walther 2015: 43), was sich als anschlussfähig an das besondere Interesse der Lebensläufe von Menschen mit Fluchthintergrund erweist und die erforderliche Offenheit mitbringt, um einen Fluchthintergrund nicht grundsätzlich als Makel anzunehmen.

3. Forschungsmethodisches Design

Der Zusammenhang aller drei genannten Themen ›Bildung‹, ›Fluchtmigration‹ und ›Biographie‹ wird nur marginal thematisiert. Während noch im Jahr 2009 Behrensen und Westphal einen gänzlichen Mangel an Befunden und Daten über die Bildungssituation und Bildungsverläufe von Menschen mit Fluchthintergrund konstatierten (vgl. Behrensen/Westphal 2009), hat die steigende gesellschaftliche Relevanz auch zu einer beginnenden Thematisierung in der erziehungswissenschaftlichen Forschung geführt (vgl. Rose 2012). Diese kurze Zusammenschau bisheriger Ergebnisse und Interessenlagen führt nun zu folgender für diese Arbeit leitenden Forschungsfrage: »Wie erleben und verarbeiten Menschen mit Fluchthintergrund den Einstieg in das deutsche Bildungssystem?« Die formulierte Frage impliziert somit die genannten relevanten Themen. Thematisch geht es zunächst um den Einstieg in das deutsche Bildungssystem, insbesondere in das Hochschulsystem am Beispiel NRW – es interessiert also zum einen der Übergang von einem nationalen Bildungssystem in ein anderes, unter besonderer Berücksichtigung der Bildungslandschaft in NRW. Die Gruppe der Befragten wird in der Forschungsfrage klar als ›Menschen mit Fluchthintergrund‹ definiert, deren Bildungsbiographie im Mittelpunkt steht, da es um das persönliche Erleben sowie Übergangs- beziehungsweise Bewältigungsprozesse im Kontext der Bildungsbiographie geht. Aus den genannten Implikationen ergibt sich eindeutig ein Bezug zur qualitativen Forschung, denn »typischerweise beschreiben und analysieren qualitativ arbeitende Forscherinnen und Forscher soziale Kontexte unterschiedlicher Akteursgruppen, biographische und episodische Verläufe, Arbeitsabläufe oder institutionelle Kontexte und Bedingungen. Sie untersuchen Interaktions-, Sozialisations- und Bildungsprozesse ebenso wie subjektive Sichtweisen, (latente) Sinnstrukturen oder Handlungsund Deutungsmuster.« (Bennewitz 2010: 43) Welche methodologischen und methodischen Bezüge konkret hergestellt werden können, soll in den folgenden Kapiteln eingehender erläutert werden.

3.1.2

Zur Forschungsperspektive der Grounded Theory

Die Entscheidung für eine methodologische beziehungsweise methodische Einordnung eines Forschungsvorhabens erfolgt auf Basis der Forschungsfrage. Für die hier zugrundeliegende Forschungsfrage (siehe Kapitel 3.1.1) eignet sich aufgrund des festgestellten Mangels an theoretischen Bezügen zum Zeitpunkt der Erhebung ein exploratives Vorgehen. Die Erhebung erfolgt durch teilnarrative Interviews (siehe Kapitel 3.2.1) mit dem Ziel, einerseits Forschung mit und nicht über Geflüchtete zu betreiben und andererseits so die latenten Sinnstrukturen und biographischen Wandlungsprozesse erfassen zu können. Für die Auswertung teilnarrativer Interviews, einer Mischform aus narrativem und Leitfadeninterview, er-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

scheinen zunächst die Auswertungsverfahren der Narrationsanalyse (vgl. Schütze 1983) und der qualitativen Inhaltsanalyse als ›Klassiker‹ bezüglich der genannten Interviewformen offensichtlich. Die Narrationsanalyse eignet sich zur Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Strukturen (vgl. Jakob 2010: 226) und zur Herausarbeitung von Prozessen des »Handelns und Erleidens« (Schütze 1987: 14). In den sechs von Schütze vorgeschlagenen fallbezogenen und fallübergreifenden Auswertungsschritten liegt bei der Analyse ein besonderes Augenmerk auf formalen und sprachlichen Indikatoren. Da die Interviews jedoch nicht in der Muttersprache der Befragten erhoben werden und die fremdsprachlichen Kenntnisse im Deutschen oder Englischen im Durchschnitt eher als mittelmäßig eingestuft werden, kann nicht mit Gewissheit herausgearbeitet werden, ob beispielsweise sprachliche Bilder und Wendungen entstehen, weil sie spontan gewollt sind, oder ob eine andere Formulierung aufgrund fehlender sprachlicher Kompetenzen gar nicht möglich wäre. Daher erweist sich die Narrationsanalyse in ihrer reinen Form zunächst als weniger geeignet für das zu erhebende Datenmaterial. Die zweite Auswertungsform der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. z.B. Mayring 2015) geht zwar weniger intensiv auf die Bedeutung sprachlicher Indikatoren ein, erscheint hier jedoch ebenso wenig zielführend. Obwohl Mayring und Brunner (2010) Transkripte von narrativen oder halb-strukturierten Interviews als mögliche Datenquellen vorschlagen (vgl. ebd.: 323) und die Grundidee der Auswertung basierend auf Kategorien beziehungsweise Kategoriensystemen (vgl. ebd: 325) auch für die hier zugrundeliegende Forschungsfrage plausibel scheint, so widerspricht die starke Theoriegeleitetheit und enge Orientierung an der Forschungsfrage in der qualitativen Inhaltsanalyse dem hier notwendigen und gewünschten explorativen Vorgehen. Diese besondere Betonung der Explorativität führt auf die Grounded Theory, die nicht nur auf eine klassische Auswertungsmethode reduziert werden darf, sondern eine eigene Methodologie darstellt und damit rahmend auf den gesamten Forschungsprozess wirkt. Reichertz (2007) stellt die Fragen nach subjektivem, sozialem und vorgedeutetem Sinn als zentrale Anwendungsgebiete der Grounded Theory Methodologie heraus. Aus dem subjektiven Sinn emergieren Fragen nach den subjektiven Sinnwelten von Handlungen, Sichtweisen, Weltbildern, lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Handlungsmöglichkeiten. Dies lässt sich besonders gut auf das vorliegende Forschungsvorhaben übertragen, da die Forschungsfrage bereits die Betrachtung subjektiver Sinnstrukturen suggeriert. Fragen nach der Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus zielen auf den sozialen Sinn ab und fokussieren Alltagsroutinen und deren Herstellung in Interaktionen in spezifischen sozialen Handlungsfeldern und Milieus. Auch hier ist die Anknüpfungsfähigkeit erkennbar, denn die herausgestellte Relevanz von Übergangsund Bewältigungsprozessen für die vorliegende Forschungsfrage impliziert auch die Fragen nach der sozialen Rahmung beziehungsweise möglichen Interaktionsstrukturen. Der von Reichertz sogenannte vorgedeutete Sinn bezieht sich darüber

3. Forschungsmethodisches Design

hinaus auf Fragen nach der (Re-)Konstruktion historisch und sozial vortypisierter Deutungsarbeit und rekurriert damit auf die Fragen nach möglichen Sinnbezügen handelnder Menschen, was neben den bereits herausgestellten Anknüpfungsmöglichkeiten ebenfalls auf eine Relevanz für das vorliegende Forschungsvorhaben hindeutet (vgl. Reicherz 2007: 198f.). Bevor die Grundideen von Anselm Strauss‹ sogenannten »essentials der Grounded Theory« (Strauss et al. 2011: 75) erläutert werden, gilt es zunächst einen historischen Blick auf die Entstehung und Ursprünge der Grounded Theory zu werfen. Die Methodologie der Grounded Theory wurde von den amerikanischen Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss erstmals 1967 in der gemeinsamen Monographie »The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research« dargelegt (vgl. Mey/Mruck 2011: 11) mit dem Ziel, »regelgeleitete, kontrollierte und prüfbare ›Entdeckung‹ von Theorie aus Daten/Empirie« (ebd.) zu ermöglichen und wurde damit, zunächst gedacht als »Produkt der Rebellion« (Strübing 2014: 1), in den letzten Jahrzehnten »zu einem der am weitesten verbreiteten Verfahren der qualitativ-interpretativen Sozialforschung« (ebd.). Ein Disput zwischen Glaser und Strauss bezüglich der Verbindung von Theorie und Empirie führte Anfang der 1990er Jahre zu unüberbrückbaren Differenzen und brachte eine zweite Entwicklungslinie der Grounded Theory durch Anselm Strauss und Juliet Corbin hervor. »Thus the earliest version of Grounded Theory contained two different concepts concerning the relation between data and theory with conflicting implications: on the one hand the idea is stressed that theoretical concepts ›emerge‹ from the data if the researcher approaches the empirical field with no preconceived theories or hypothesis, on the other hand the researcher is advised to use his or her previous theoretical knowledge to identify theoretical relevant phenomena in the data.« (Kelle 2005: 48) Während also Glaser die Vorstellung eines radikalen Induktivismus und damit die Ablehnung jedweder theoretischen Konzepte im Rahmen der Analyse vertrat, gingen Strauss und Corbin deutlich stärker auf eine Verbindung von Theorie und Empirie in Form der »theoretical sensitivity« (Strauss/Corbin 1990: 41) ein und bezogen das Vorwissen der Forscherin/des Forschers durch sensibilisierende Konzepte mit in die Analyse der Daten ein, was im nachfolgenden Kapitel expliziter erläutert werden soll. Konsequent gegen Glasers Tabula Rasa Vorstellung richten sich auch die neueren Weiterentwicklungen der sogenannten zweiten Generation der Grounded Theory-Forscherinnen. So fordert beispielsweise Kathy Charmaz in ihrer Idee einer konstruktivistischen Grounded Theory einen bewussten und reflektierenden Rückgriff auf sensibilisierende Konzepte (vgl. Hohage 2016: 115), wenngleich Strübing konstatiert, dass die Grounded Theory durch den Stellenwert der Reflexivität im Vergleich zu Strauss und Corbin zwar eine Akzentverschiebung sei, aber die Grounded Theory Methodologie nicht grundlegend erweitert werde (vgl. Strübing

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

2014: 99). Auch Adele Clarke sieht in der Situationsanalyse, ebenfalls als potenzielle Weiterentwicklung der Strauss’schen Konzeption, ein Paket aus Theorie und Methode für die Analyse als unerlässlich (vgl. ebd.: 102). Die Situationsanalyse erscheint mit einer Engführung auf spezifische, konkrete Situationen eher für kleine, enge Themenbereiche geeignet. Daher erfolgt die Orientierung des vorliegenden Forschungsvorhabens weiterhin an den Grundlagen von Strauss und Corbin. Die Grundidee dieser Grounded Theory Methodologie sehen Mey und Mruck (2007) darin, »dass ausgehend von Daten zu dem interessierenden Phänomen […] den einzelnen ›Vorfällen‹ ein Begriff/eine Bezeichnung (Kode) zugewiesen wird. Durch diese Zuweisung werden die Daten zu ›Indikatoren‹ für ein dahinterliegendes Konzept, das durch den Kode bezeichnet werden soll.« (Ebd.: 25) Das Kodieren ist damit bereits ein Essential der Grounded Theory und soll im Rahmen der Auswertung dieser Studie weiter vertieft werden. Neben dem Kodieren sind das Theoretische Sampling und das damit eng verbundene permanente Vergleichen beziehungsweise Dimensionalisieren weitere Grundideen der Grounded Theory. Diese sind insofern relevant, als dass die bisherige Standardabfolge von Datenerhebung, Datenanalyse und daraus emergierender Theorie in der qualitativen Forschung durchbrochen wird und »folglich stehen Datensammlung, Analyse und Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Am Anfang steht nicht eine Theorie, die anschließend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozess herausstellen.« (Strauss/Corbin 1996: 8) In Kapitel 3.2.2 wird konkret auf die Bedeutung des theoretischen Samplings eingegangen. Strauss und Corbin verstehen diese Essentials jedoch nicht als Werkzeuge, die zu einer häufig kritisierten Technologisierung des Forschungsprozesses beitragen, sondern konstatieren: »Während die Verfahren entworfen wurden, um dem analytischen Prozeß Präzision und Regelgeleitetheit zu verleihen, ist Kreativität ein ebenso wichtiges Element. Sie ist es, die den Forscher angemessene Fragen an die Daten stellen und die Vergleiche anstellen läßt, die den Daten neue Einblicke in das untersuchte Phänomen und neue theoretische Formulierungen entlocken« (Strauss/Corbin 1996: 18). In diesem Sinne wird Forschung als Arbeit verstanden, aus der, gepaart mit der entsprechenden Kreativität, der Weg zu einer Grounded Theory geebnet werden kann.

3. Forschungsmethodisches Design

3.1.3

Umgang mit theoretischem Vorwissen – sensibilisierende Konzepte

Der Umgang mit theoretischem Vorwissen war, wie bereits angesprochen, die Quelle des Disputs zwischen Glaser und Strauss. Glaser und Strauss nahmen zunächst in ihrem gemeinsamen Werk Bezug zum Umgang mit Vorwissen und stellten heraus: »Of course the researcher does not approach reality as a tabula rasa. He must have a perspective that will help him see relevant data and abstract significant categories from his scrutinity of the data« (Glaser/Strauss 1967: 3). Glaser sah durch das Einbringen theoretischen Vorwissens jedoch eher eine Engführung und Fokussierung auf bestimmte Ideen und damit die Offenheit in Bezug auf die Datenanalyse gefährdet. Erst durch Strauss und Corbin wurde der Umgang mit theoretischem Vorwissen in Form von sensibilisierenden Konzepten positiv konnotiert, denn »theoretische Sensibilität bezieht sich auf die Fähigkeit, Einsichten zu haben, den Daten Bedeutung zu verleihen, die Fähigkeit zu verstehen und das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen« (Strauss/Corbin 1996: 25). Quellen theoretischer Sensibilität können demzufolge neben Literatur auch berufliche und persönliche Erfahrungen sein (vgl. ebd.). Breuer (2010) führt die Debatte um die theoretische Sensibilität weiter aus und geht dabei besonders auf die Rolle des Forschenden ein, der theoretische Sensibilität als eine wesentliche Qualifikation in den Forschungsprozess einbringt. Diese Qualifikation impliziert demnach »eine Haltung der Selbstaufmerksamkeit, der sozialen Achtsamkeit, ein Interesse an sprachlicher Genauigkeit und Differenzierung […] [sowie] spezifisch themenbezügliche Sensibilität und Souveränität« (Breuer 2010: 59) und damit nicht zu unterschätzende Kompetenzen und Fähigkeiten der Person der Forscherin/des Forschers. Daher erscheint es unumgänglich, die sensibilisierenden Konzepte offen zu legen und im Forschungsprozess zu reflektieren. Die für das vorliegende Forschungsvorhaben relevanten sensibilisierenden Konzepte wurden bereits in Kapitel 2 dargelegt.

3.1.4

Zur Forschungsperspektive der Biographieforschung nach Fritz Schütze

Neben der Grounded Theory Methodologie zeigt sich eine Relevanz der Forschungsfrage auch im Kontext von Biographieforschung, sodass im Folgenden diese Forschungsperspektive näher erläutert werden muss, um dann beide Perspektiven zusammenführen zu können. Der Name ›Biographieforschung‹ birgt den zentralen und sinnstiftenden Wortteil der Biographie, sodass zunächst kurz die Grundidee der Biographie definiert werden soll, bevor es dann vor allem um die Forschung über und mit Biographien geht. Eine Biographie ist allgemein

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»die wissenschaftliche oder literarische Darstellung der Lebensgeschichte von Menschen. Bios bedeutet, aus dem Griechischen stammend, Leben, aber auch Lebensform; Grafe bedeutet Schrift. Biographie ist also gleichsam die Schrift eines Lebens, individuell oder kollektiv. Biographieforschung ist dementsprechend die Entzifferung dieser Schrift eines Lebens.« (Bohnsack 2011: 22) Die Amerikaner und Anhänger der Chicago School, William Isaac Thomas und Florian Znaniecki, deren Migrationsstudie, wie bereits erwähnt, als Beginn der soziologischen Biographieforschung verstanden wird, forderten auf methodologischer Ebene ein tieferes Eintauchen der Sozialwissenschaft in soziale Prozesse und legten damit den Grundstein für die biographische Methode (vgl. Jakob 2010; Kohli 1981). In den 1970er und 1980er Jahren fand zunehmend eine Rückbesinnung auf die Arbeiten und Erkenntnisse der Chicago School statt (vgl. Rosenthal 2001). Während dieser Zeit entwickelte Fritz Schütze im Rahmen einer Studie über Gemeindezusammenlegungen in der BRD (vgl. Schütze 1982) das narrative Interview mit dem Ziel, Sinnkonstruktionen und Handlungsverläufe aus der Sicht der Subjekte zu rekonstruieren (vgl. Jakob 2010). »Das autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. […] Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne exmanente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen, darstellt und expliziert.« (Schütze 1983: 285) Sowohl die amerikanischen Ursprünge, als auch Schütze selbst folgen dabei der zu Beginn erwähnten pragmatischen Vorstellung von Biographie als Darstellung einer Lebensgeschichte. Schütze geht es dabei vor allem um lebensgeschichtliche Hintergrunderzählungen, um sogenanntes »Hinterbühnenwissen« (Schütze 1982: 586ff.). In seiner Studie erkennt er die Grundstrukturen der Zugzwänge des Erzählens als Konstruktionsverfahren einer autobiographischen Stegreiferzählung. Der Gestaltschließungszwang, der Kondensierungszwang und der Detaillierungszwang »garantieren die wahrhafte Dokumentation der vergangenen Erfahrungen« (Bude 1985: 330), was Schütze zu der bis heute immer wieder kritisch hinterfragbaren These der Homologie von Erzählkonstitution und Erfahrungskonstitution führt. Engler (2001) zeigt in diesem Zusammenhang ein problematisches Subjektverständnis in Schützes Theorie auf und verweist »eine Rekonstruktion des Erlebens im Verlauf der erzählten Zeit« (Engler 2001: 24) und damit die Schützesche Idee einer Analyse von Lebensgeschichten auf Bourdieus »biographische Illusion« (Bourdieu 1990). Auch im Rahmen des hier vorliegenden Forschungsvorhabens kommt es aufgrund

3. Forschungsmethodisches Design

der besonderen Lebenssituation der Befragten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Homologiethese, welche im weiteren Verlauf dieser Arbeit diskutiert werden soll. Im Rahmen der Analyse der durch die Zugzwänge des Erzählens generierten Stegreiferzählung erkennt Schütze in der Darstellung der Lebensgeschichte eine gewisse Sequentialität und sich daraus ergebende sogenannte Prozessstrukturen (Schütze 1983). »Die systematischen Haltungen des Biographieträgers zum Erfahrungsstrom seiner Lebensgeschichte ziehen sich entsprechend diesbezüglichen Ereignisabläufen in der Lebensgeschichte langfristig durch. […] Der Beginn und das Ende der Geltung eines solchen Erfahrungsprinzips und der Beginn und das Ende des entsprechenden Gesamtzusammenhangs der Ereignisabläufe müssen systematisch in der autobiographischen Stegreiferzählung markiert werden; die Lebensphase, die in den zeitlichen Grenzen der so gestalteten Erzählstruktur dargestellt wird, soll ›Prozessstruktur des Lebenslaufs‹ genannt werden.« (Schütze 1984: 93). Dazu benennt Schütze vier grundsätzliche Arten der Haltung gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen, die er in seinen biographischen Studien erkennt: institutionelle Ablaufmuster und -erwartungen des Lebensablaufs, Handlungsschemata von biographischer Relevanz, Verlaufskurven, Wandlungsprozesse und eine biographische Gesamtformung (vgl. Schütze 1981). Schütze entwickelte auf dieser Basis ein eigenes biographieanalytisches Verfahren zur Auswertung der biographischen Stegreiferzählungen und Aufdeckung der Prozessstrukturen des Lebenslaufs. Die Biographien von Menschen mit Fluchthintergrund sind durch die besonderen Umstände einer Flucht vermutlich kollektiv von einem Verlaufskurvenpotenzial geprägt und unterscheiden sich womöglich individuell darin, inwieweit eine Veränderung und ein Übergang in eine andere Prozessstruktur möglich sind, was das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit widerspiegelt. Im Folgenden soll genauer erläutert werden, wie das narrative Interview in der hier dargestellten Studie eingesetzt wurde und welche Faktoren zu einer bereits angedeuteten Abweichung von Schützes Methodologie geführt haben.

3.1.5

Zur Vereinbarkeit von Biographieforschung und Grounded Theory

Nach einer einführenden Erläuterung der Forschungsmethodologien der Biographieforschung und Grounded Theory1 mit ihren jeweiligen individuellen Implika-

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Streng genommen meint Grounded Theory nur das Resultat des Forschungsprozesses. Bezieht man sich auf die Methodologie und Methode, so müsste korrekterweise der Terminus Grounded Theory Methodologie verwendet werden (vgl. Mey/Mruck 2007). In dieser For-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

tionen für das hier vorliegende Forschungsvorhaben gilt es nun, die methodologische Vereinbarkeit der beiden Forschungsstile zu begründen. Blickt man zunächst auf die Wurzeln der beiden Methodologien, so lassen sich hier bereits Übereinstimmungen erkennen, denn beide Forschungsstile haben sich aus den Arbeiten der Chicago School und insbesondere dem symbolischen Interaktionismus entwickelt. Fritz Schütze sieht in seiner Idee von Biographieforschung das für den symbolischen Interaktionismus so bedeutsame Medium der Kommunikation auch in seiner Vorstellung von sozialer Wirklichkeit und sozialer Welt als unerlässlich. Interaktion und Kommunikation werden in seiner Theorie zu den Bedingungsfaktoren sozialer Welten, denn »soziale Welten schöpfen und systematisieren im Medium der Kommunikation von Theorie- und Geschichtsprotagonisten (und natürlich auch der imaginierten Auseinandersetzung zwischen ihnen) zentrale Orientierungsideologien und Darstellungen ihrer eigenen Geschichte mit Selbstverständigungsfunktion.« (Schütze 2002: 60) Dabei stellt Yvonne Küsters (2009) in ihrem Verständnis der Schützeschen Theorie noch einmal die besondere Bedeutung des Interaktionismus eines jeden Einzelnen für die Gesellschaft und damit umfassend für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit heraus und betont so zusammenfassend, »dass die soziale Wirklichkeit nicht außerhalb des Handelns der Gesellschaftsmitglieder ›existiert‹, sondern jeweils im Rahmen kommunikativer Interaktionen hergestellt wird« (Ebd.: 18). Auch aus der Perspektive der Grounded Theory um Anselm Strauss ist die Basis des symbolischen Interaktionismus erkennbar. Es geht um die Notwendigkeit der Erfassung des Standpunktes von Handelnden, um Interaktionen, Prozesse und sozialen Wandel zu verstehen. Interaktion ist somit Teil der sozialen Wirklichkeit, was Hildenbrand (1991) im Vorwort zu Strauss‹ Werk zu den Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Datenanalyse und Theoriebildung dazu führt, die Überschneidungen der Grounded Theory und des symbolischen Interaktionismus in der Erforschung von Interaktionsprozessen und der entsprechenden Handlung und Wahrnehmung des Individuums zu sehen, wenngleich Strauss eine derartige Etikettierung als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schule selber ablehnte (Hildenbrand 1991: 17). Glaser und Strauss schlossen sich mit ihrer Vorstellung einer Grounded Theory auch der von der Chicago School und dem symbolischen Interaktionismus proklamierten Kritik an abstrakter, nicht an Empirie gebundener Theorie an. »Our book is directed toward improving social scientists‹ capacities for generating theory that will be relevant to their research. […] We argue […] for grounding

schungsarbeit soll jedoch mit Grounded Theory dem gängigen Ausdruck in deutschen Publikationen gefolgt werden.

3. Forschungsmethodisches Design

theory in social research itself – for generating it from the data.« (Glaser/Strauss 1967: 6) Somit eröffnet die Grounded Theory im Vergleich zu anderen Forschungsansätzen die Möglichkeit der Generierung von sowohl gegenstandsbezogener als auch formaler Theorie. Im Hinblick auf die Darstellung der spezifischen methodologischen Implikationen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung eignen sich insbesondere die Zusammenhänge von Biographie, Struktur und Handlung beziehungsweise Subjektivität und Gesellschaft zur Erklärung dieses Instrumentariums für die vorliegende Untersuchung. Aufgrund der thematischen Verortung dieser Arbeit werden darüber hinaus Bezüge zu den Themen Bildung und Migration hergestellt. Struktur und Handlung sind im Kontext von Migration wichtige Determinanten, deren jeweilige Einseitigkeit in dem hier angestrebten Forschungsansatz überwunden werden soll. Ausgehend von den subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmustern der Befragten eröffnet die Biographieforschung einen Weg, der das Ineinander und damit die Aufhebung der Dichotomie von Struktur und Handlung ermöglicht. Juhasz und Mey (2003) stellen dieses Zusammenspiel im Kontext von Biographie folgendermaßen dar: »Ausgehend von der Analyse von Biographien wird danach gefragt, wie sich darin gesellschaftliche Strukturen abbilden und anhand der Möglichkeitsräume der Individuen beschreiben lassen. Darüber hinaus wird jedoch auch danach gefragt, inwiefern Individuen durch ihr Denken und Handeln ihre Möglichkeitsräume vergrößern und Barrieren überwinden können. Der biographietheoretische Zugang erweitert somit die Frage nach der Verschränkung von Struktur und Handlung […].« (Juhasz/Mey 2003: 86) In der Biographie eines jeden Einzelnen werden somit die subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster mit den Einflüssen und einem Verständnis von Gesellschaft zusammengeführt, wodurch die Analyse von Biographien in historischer Perspektive besonderes Interesse im Rahmen qualitativer Sozialforschung nach sich zog. »Die biographische Methode eröffnet methodologisch und theoretisch den Zugang zum Problem der Subjektivität, ohne dieses jedoch auf die individuell-psychologische Dimension einerseits oder den auf die Interaktionssituation verkürzten sozial-konstruktivistischen Aspekt andererseits zu reduzieren. Biographie als theoretisches Konzept thematisiert die subjektive Aneignung und ›Konstruktion‹ von Gesellschaft (vgl. Fischer-Rosenthal 1991) ebenso wie die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität.« (Dausien 1994: 152f.)

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Das Zusammenspiel von Subjektivität und Gesellschaft spielt auch in der Betrachtung von Biographie im Kontext von Bildung eine Rolle. Biographien können konkret auch als Lern- und Bildungsgeschichten verstanden werden, wobei biographische Analysen beispielsweise Möglichkeiten und Blockaden von Bildungsprozessen aufzeigen können (vgl. Fuchs 2011: 93). Die Absicht besteht also darin, »Bildungsprozesse in ihren lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu analysieren und der Untersuchung die methodologischen Standards der qualitativen Sozialforschung zugrunde zu legen« (Koller 1999: 164). Die Zusammenführung von Biographie- und Migrationsforschung soll hier als Ansatz gegen Kulturalismen und Essentialismen verstanden werden. Während von der Chicagoer School bis in die 1980er Jahre hinein die Themen Integration, Assimilation und Akkulturation in der Migrationsforschung eine besondere Rolle spielten, wurden mit dem aufkommenden Umdenken hin zu Multikulturalität als Selbstverständnis in den 1990er Jahren verstärkt qualitativ orientierte Untersuchungen durchgeführt. Bei Migrations- und insbesondere Fluchterfahrungen handelt es sich nicht um punktuelle Ereignisse, sondern »vielmehr sind Migrations- und Fremdheitserfahrungen als zeitlich ausgedehnte Prozesse mit mehr oder weniger weitreichenden Verweisungsbezügen vorzustellen. Zudem sind ihr jeweiliger Beginn und ihr Ende extern nicht bestimmbar. Um die Komplexität dieser Prozesse sowohl in der Sach- wie in der Zeitdimension erfassen zu können, bedarf es eines Konzeptes, das selbst als temporales Strukturmuster konzipiert ist.« (Breckner 2009: 121) Somit bietet das Konzept der Biographie einen Anknüpfungspunkt an die Untersuchung von Migrations- beziehungsweise Fluchtprozessen. Betrachtet man nun neben der Biographieforschung die Methodologie der Grounded Theory so fasst Hildenbrand (1991) die Charakteristika der Grounded Theory prägnant zusammen: »Die Spezifika der grounded theory, ihre zentralen Merkmale, die sie als eine eigenständige Methodenlehre gegenüber anderen Verfahrensweisen ausweist, sind die folgenden: Der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit; soziologische Interpretation als Kunstlehre; Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken; Offenheit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung.« (Hildenbrand 1991: 11) Der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit meint nichts anderes, als den Fall als eine »autonome Handlungseinheit« (ebd.) zu sehen, was bereits hier Bezüge zur Biographieforschung erkennen lässt, indem ein Fall eine individuelle Biographie darstellt. Die sozialwissenschaftliche Interpretation als Kunstlehre bezieht sich auf einen unvoreingenommenen Blick und das Gestalten von Wirklichkeit, wobei sich die Unvoreingenommenheit insbesondere im Umgang mit theoretischem

3. Forschungsmethodisches Design

Vorwissen zeigt, welches zunächst grundsätzlich bei der Analyse der Daten eher eine untergeordnete Rolle spielt und im Rahmen der theoretischen Sensibilität seine Berechtigung findet (vgl. Strauss/Corbin 1996: 25). Auch die Biographie als Zusammenspiel von Subjektivität und Gesellschaft und daraus folgernd die Biographie als Gestaltung und Rekonstruktion von Wirklichkeit fordert eine gewisse Unvoreingenommenheit. Schütze empfiehlt in diesem Zusammenhang »respektlos mit bereits vorliegenden, zum festen Bestand der Sozialwissenschaften gehörenden theoretischen Kategorien- und Hypothesenapparaten« umzugehen und sie einzusetzen, »wenn ihnen aus dem empirischen Material original hervorgehende allgemeine Merkmale von Prozeßmechanismen, ihrer sozialen Rahmen und Bedingungen sowie ihrer systematischen Folgen entsprechen« (Schütze 1987: 258). Die Forderung nach der Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken findet in der Grounded Theory die praktische Umsetzung im theoretical sampling – der auf der Basis von fortschreitender Theoriebildung sukzessive getroffenen Auswahl von zu untersuchenden Fällen und späteren Kategorien, die zu einer Antwort auf die gestellte Forschungsfrage führen sollen. Das theoretical sampling hat sich auch in der Biographieforschung als Werkzeug zur Auswahl der zu untersuchenden Biographien bewährt (Krüger/Marotzki 2006: 27). Das letzte von Strauss formulierte Spezifikum der Grounded Theory, nämlich das der Offenheit in der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, lässt sich ebenfalls in gewissem Maße auf die Biographieforschung übertragen. Im Forschungsstil der Grounded Theory entwickelte Begriffe, Konzepte und Kategorien müssen ihre Adäquatheit zum wissenschaftlichen Erschließen alltäglicher Wirklichkeiten in jeder Untersuchung neu erweisen. Begriffe, Konzepte und Kategorien können dabei aus den unterschiedlichsten Formen von Material induziert werden, neben den klassischen Interviewtranskripten können somit auch alle Formen anderer Textdokumente, ebenso wie Bild- und Videomaterial in der Grounded Theory analysiert werden. Fritz Schütze wird dem Prinzip der Offenheit vor allem auf der Ebene der Interviewführung gerecht, indem das Interview hauptsächlich Raum für die Stegreiferzählungen der Befragten gibt und die Interviewerin bzw. der Interviewer diese Narrationen ›lediglich‹ anregen und aufmerksam zuhören muss. Die Form der Datenerhebung ist hier weniger reichhaltig und beschränkt sich häufig auf die Form des narrativen Interviews. Da die Grounded Theory vor allem für explorative Forschungsvorhaben und Forschungsfragen, die eine Prozess- und Handlungsorientierung implizieren, geeignet ist (vgl. Strauss/Corbin 1996: 23), ist eine Anwendung auf die Themengebiete ›Bildung‹ und ›Migration‹ möglich – beide Themenbereiche gehen mit Prozess- und Handlungsorientierungen einher. Besonders in Bezug auf den Themenkomplex der Migration beziehungsweise Flucht als spezifischer Form eignet sich die Grounded Theory als Forschungsstil:

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»Grounded theory allows for such an approach, as it approaches […] placing the actual data, that is the interview or stories told by the interviewees, at the foreground of the research.« (Sheridan/Storch 2009: 6) Die Grounded Theory Methodologie ermöglicht also in besonderem Maße den Befragten eine Stimme zu geben, was gerade nach den Erfahrungen einer Flucht und dem Ankommen in einem völlig neuen Gesellschaftssystem von besonderer Bedeutung im Interviewkontext ist. Kommunikation und Interaktion sind neben den konkreten Alltagserfahrungen im Aufnahmeland geprägt durch die persönlichen Kommunikationskompetenzen, die Erfahrungen und Lebensumstände im Herkunftsland und die Erlebnisse während der Flucht (vgl. ebd.). Diese komplexe Beeinflussung von Kommunikationssituationen erfordert eine unbedingte Offenheit und Fokussierung auf das Gegenüber, ohne die subjektiven Sinnkonstruktionen der Befragten einzuschränken, was erneut auch auf die Implikationen der Biographieforschung hinweist. »Although narrative theory has not been commonly associated with grounded theory, the emphasis in narrative theory on the meaning of symbolic systems that humans use to construct reality, such as language (Bruner 1987, 1991, 2004) does suggest theoretical commensurability between grounded theory (via symbolic interactionism) and narrative inquiry.« (Lal et al. 2012: 7) Fritz Schütze ist vor allem in seinem Auswertungskonzept, der sogenannten Narrationsanalyse, stark durch Glaser und Strauss beeinflusst (vgl. Marotzki 2006: 122). Die Auswertung der Daten geht, wie auch in der Grounded Theory, mit dem Aufbau einer Theorie einher, wobei die besondere Aufmerksamkeit den Daten selbst gilt und weniger dem Vorwissen beziehungsweise den theoretischen Konzepten des Interviewers. Während in der Biographieforschung und der damit verbundenen Erhebungsmethode des narrativen Interviews vor allem der Sprache und dem, wie Stegreiferzählungen erfolgen, Rechnung getragen wird, ermöglicht die Grounded Theory eine größere Offenheit gegenüber den konkreten Inhalten und Konzepten, ohne dabei zwangsläufig auf das ›Wie‹ achten zu müssen. Dies erweist sich besonders für die hier dargestellte Untersuchung von Biographien Geflüchteter als hilfreich, da aus forschungspragmatischen Gründen auf eine Interviewführung in der Muttersprache der Befragten verzichtet wurde und die fremdsprachlichen Kompetenzen im Deutschen oder Englischen teilweise zu gering waren, um sprachliche Mittel (Metaphern usw.) herausarbeiten zu können. Es zeigt sich also zusammenfassend, dass Biographieforschung und Grounded Theory für die hier vorliegende Untersuchung wertvolle gemeinsame Implikationen aufweisen und sich die Grenzen der einen Methodologie durch die Potenziale der jeweils anderen aufwiegen lassen.

3. Forschungsmethodisches Design

»From a theoretical perspective, grounded theory and narrative inquiry are commensurable because both have been influenced by the work of American pragmatists. Moreover, narrative theory can constitute a bridge between narrative inquiry and the symbolic interaction roots of grounded theory. From a methodological perspective, the comparative analysis of grounded theory and narrative inquiry reveals that the strengths of one approach can offset the limitations associated with the other. […] Combining the two approaches creates possibilities for developing a richer understanding of the phenomenon under study and making findings accessible to a wider range of audience.« (Lal et al. 2012: 14-16)

3.1.6

Methodologische Herausforderungen

Aus den Forschungsperspektiven der Biographieforschung und der Grounded Theory ergeben sich spezifische methodologische Herausforderungen für das vorliegende Forschungsvorhaben. Die Biographieforschung nach Fritz Schütze impliziert eine eindeutig westlich geprägte Erzähltheorie, was nach Küsters (2010) auf eine möglicherweise bestehende Abhängigkeit des Verfahrens von kulturell vorbereiteten Traditionen des Erzählens beziehungsweise Von-Sich-Erzählens verweise (Küsters 2009: 190). Sie bezieht sich in ihrer Argumentation auf Matthes (1985), der eine ungeprüfte Universalisierung der Basisregeln des Erzählens konstatiert und herausstellt, dass Erzählen in nicht-westlichen Kulturen etwas anderes als in westlichen Kulturen bedeute (vgl. Matthes 1985: 316). Hieraus lässt sich auch die Universalität einer westlichen Erzähltheorie hinterfragen, sodass die grundsätzliche Frage nach der Abhängigkeit des Einsatzes narrativer Interviews von der Erzählkultur weiterhin offenbleibt und eine systematische Grundlagenforschung in diesem Bereich bisher noch aussteht (Küsters 2009: 191). Dies ist insofern für die vorliegende Untersuchung relevant, als dass die befragten Geflüchteten eben nicht aus einer westlichen Kultur stammen, sondern in ihren Herkunftsländern eher arabisch beziehungsweise afrikanisch geprägt waren und damit möglicherweise ein anderes Verständnis von Erzählen mitbringen können, was insbesondere bei der Konzeption des Erhebungsinstruments beachtet werden muss. Darüber hinaus wird in der Schützeschen Erzähltheorie von einer geschlossenen Erfahrungsrekapitulation im Prozess des Erzählens ausgegangen. Durch die Zugzwänge des Erzählens soll eine umfassende und geschlossene Rekapitulation der Biographie stattfinden, wobei Risse und Abschweifungen in den Stegreiferzählungen als »fehlende Erfahrungsvoraussetzung für die Gestaltschließung oder als Widerstand gegen den Gestaltschließungsdruck erzählerischer Erfahrungsvergewisserung« gelten (Bude 1985: 332). Nach Bude ist die Theorie damit beherrscht »von der Vorstellung eines Ideal-Ichs mit einer kontinuierlichen biographischen Identität« (ebd.). Auch hier kann es möglicherweise zu Problemen bezüglich der

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

relevanten Gruppe der Befragten kommen. Geflüchtete sind häufig durch die Erlebnisse im Herkunftsland und die Erfahrungen während der Flucht traumatisiert (vgl. Hauschild 2015), was sich auch auf die Erfahrungsrekapitulation in der Interviewsituation auswirken kann. »Einerseits gibt es ein Bedürfnis, über die bedrohlichen Situationen zu sprechen, und dieses wird auch in Gesprächen signalisiert. Dieses Bedürfnis ist vor allem getragen von dem Wunsch nach Erleichterung durch Mitteilen und Teilen dieser schwierigen, oftmals tabuisierten Erfahrungen mit einer weiteren Person. Auf der anderen Seite sind diese Erfahrungen mit einem hohen Erzählwiderstand belegt.« (Loch 2008: 3) Möglicherweise kann es daher zu Brüchen und Lücken in der Erzählung kommen, und ein sensibles Vorgehen in der Interviewsituation durch die Forscherin erscheint unerlässlich und erfordert eine eingehende Reflexion. Die Form der Erzählung impliziert zudem die Voraussetzung guter sprachlicher Kompetenzen. Der Befragte muss sprachlich in der Lage sein, seine Erzählung verständlich zu artikulieren und seine Gedanken auszudrücken, damit dann auch die Zugzwänge des Erzählens greifen können. Da, wie bereits erwähnt, aus forschungspraktischen Gründen darauf verzichtet wurde, die Interviews jeweils in der Muttersprache der Befragten durchzuführen, sodass die Befragten in einer für sie fremden Sprache auf Deutsch oder Englisch interviewt wurden. Den Diskurs um eine feste Muttersprache sehen Enzenhofer und Resch (2013) generell zwar als überholt, indem sie herausstellen, dass »vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Disglossie und Wechselwirkung zwischen Sprachen, angesichts der […] Varietäten innerhalb von Sprachen, angesichts der Möglichkeit, Sprachregister aus unterschiedlichen Sprachen produktiv und kreativ zu mischen, […] Authentizitätsvorstellungen im Zusammenhang mit einer homogen konstruierten ›Ursprungskultur‹ und ›Muttersprache‹ nicht nur überholt, sondern auch als überaus bedenklich [scheinen]« (Enzenhofer/Resch 2013: 218). Dennoch fordert die Kommunikation in einer gemeinsamen Sprache ein gegenseitiges Verstehen und ist somit an konkrete soziale und individuelle Erfahrungshintergründe geknüpft (vgl. Brandmaier 2012: 136). Grundsätzlich sollte daher den Befragten selber die Wahl beziehungsweise Entscheidung der Interviewsprache überlassen werden. Der Wunsch nach einem Interview auf Deutsch kann zudem Ausdruck dafür sein, »dass sie als der Sprache mächtig wahrgenommen werden wollen, und es kann ihr Kompetenzerleben befördern« (ebd.: 139; vgl. Enzenhofer/Resch 2011, 2013). Daher sollte auch der Aspekt der Interviewsprache bei der Konzeption des Erhebungsinstruments beachtet und auch im Verlauf der weiteren Analyse immer wieder reflektiert werden.

3. Forschungsmethodisches Design

Der Aspekt der Interviewsprache spielt sicherlich auch für die von Thielen (2009) untersuchten Machtprozeduren des Asylverfahrens in ihrer Bedeutung für biographische Interviews mit Flüchtlingen eine nicht zu unterschätzende Rolle. »Handelt es sich beim Interviewer um einen Angehörigen der Majoritätsgesellschaft, bildet sich in der Interviewsituation selbst potenziell kulturelle Differenz ab, die sich auf die Interaktion und damit auch auf die im Interview entfaltete Erzählung auswirken kann.« (Thielen 2009: 1) Am Beispiel der Interviewsprache Deutsch zeigt sich bereits eine deutliche Differenz durch die Interviewerin als deutsche Muttersprachlerin einerseits und die Befragten mit nicht-muttersprachlichen Deutschkenntnissen andererseits. Zudem sieht Thielen (2009) die Schützesche Annahme, dass sich eine Stegreiferzählung weitgehend unabhängig vom jeweiligen Interviewkontext entwickele, als umstritten (ebd.: 2). Diese Überlegungen sollten sowohl im Zusammenhang der Überlegungen zum Sampling der Untersuchung als auch in der Reflexion der Erhebungssituationen erneut aufgegriffen werden. Auch im Kontext der Grounded Theory ergeben sich methodologische Herausforderungen für das vorliegende Forschungsvorhaben. Die Anlage der Studie ist einerseits stark explorativ und stößt andererseits dann im Rahmen des Analyseprozesses beziehungsweise des axialen Kodierens auf ein von Strauss und Corbin entwickeltes Kodierparadigma, welches eine Abstraktion der offenen Kodes durch die Einordnung unter festgelegte und vorgegebene Begriffe fordert, was auch die grundsätzliche Kritik an dem Kodierparadigma widerspiegelt (vgl. Charmaz 2006; Mey/Mruck 2011). Daher gilt es auch, die Passung des rahmenden Kodierparadigmas im Laufe der Analyse stetig zu reflektieren und gegebenenfalls über spezifische und begründete Anpassungen nachzudenken. Die genannten methodologischen Herausforderungen erfordern daher, wie bereits an mehreren Stellen angeklungen, eine besonders intensive Reflexion der Forscherinnenrolle und des Forscherinnenhandelns, worauf im folgenden Kapitel detaillierter Bezug genommen werden soll. Breuer (2010) empfiehlt in diesem Zusammenhang als Verfahren beziehungsweise Praktiken der Selbstreflexion beispielsweise das Forschungstagebuch oder auch die Formen der Forschungswerkstatt, auf die auch im weiteren Verlauf spezifischer eingegangen werden soll (vgl. Breuer 2010: 128-142).

3.1.6.1

Die Rolle der Forscherin

Die Forscherin nimmt in dieser Studie eine besondere Rolle ein, die einer kritischen Reflexion bedarf. Die Generierung der Rolle vollzieht sich im Wesentlichen auf der Basis qualitativer Forschung, insbesondere der Biographieforschung, der Grounded Theory und der Situation der Befragten, mit unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Implikationen.

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Grundlegend für die Rolle des Forschenden in der qualitativen Forschung ist das Prinzip der Offenheit: »Der Kern des Offenheits-Prinzips liegt darin, das aufzunehmen, zu hören, erzählen zu lassen, was nicht bekannt, was neu, einzigartig und fremd ist. Sich auf die Annahme einer prinzipiellen Fremdheit einzulassen, fördert eine Haltung des Respekts der Erzählperson gegenüber.« (Helfferich 2014: 131) Eine prinzipielle Fremdheit ist besonders wichtig, um den Befragten im Rahmen der durchgeführten teilnarrativen Interviews den nötigen Raum für ihre Erzählungen zu geben. Die »biographische Forschung verlangt [ebenfalls] vom Forscher etwas von seiner Persönlichkeit: Eine interessierte Toleranz gegenüber Lebensgeschichten und Lebensauffassungen, die ihm fremd sind; Neugier und Gelassenheit sind gleichzeitig gefragt. Mindestens muss sich der Sozialforscher von einigen Sprechund Hörgewohnheiten seines professionellen Umfeldes (akademisches Milieu) trennen können.« (Fuchs-Heinritz 2000: 209) Im Rahmen einer reflexiven Grounded Theory weist Breuer (2010) auf die unrealistische Fiktion der Objektivität hin (vgl. ebd.: 120) und fordert stattdessen durch die Person des Forschers beziehungsweise der Forscherin bedingte »personale Resonanzen […] als unvermeidliche und konstitutive Phänomene und hinsichtlich ihrer positiven Erkenntnismöglichkeiten in den Blick zu nehmen« (ebd.: 127) und damit »Störungen des Feldes« zu positivieren (ebd.: 124). Dazu führt Breuer eine Reihe von praktisch angelegten Reflexionsfragen an (vgl. ebd.: 130-139), die jedoch im Rahmen dieser Studie keinen spezifischen Charakter haben sollen, sondern vielmehr als Grundlage in der Auseinandersetzung mit qualitativer Forschung verstanden werden sollen. Eine spezifische Begründung durch die reflexive Grounded Theory soll somit nicht erfolgen. Im zu Beginn erläuterten Erkenntnisinteresse wurde bereits der thematische Weg hin zur Forschungsfrage erläutert und damit auch das persönliche thematische Interesse der Forscherin aufgezeigt. Die von Fuchs-Heinritz (2000: 209) erwähnte interessierte Toleranz ist im Rahmen dieser Studie von besonderer Bedeutung, da die Lebensgeschichten der Befragten das Phänomen einer Flucht gemeinsam haben und damit außerhalb der Lebensrealität beziehungsweise des Lebensalltags der Forscherin liegen. Ebenso ist eine sprachliche Anpassung unumgänglich, da die Befragten mehrheitlich nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen und teilweise Englischkenntnisse mitbringen. Zudem zeigt sich in den Interviewsituationen immer wieder großer Respekt und auch der eigene Wunsch der Befragten bezüglich einer Anstellung im akademischen Milieu, sodass eine sprachliche Adaption besondere Beachtung finden musste. In diesem Zusammenhang betrachtet Steinert im Rahmen der professionellen Interviewführung »das Antwort-

3. Forschungsmethodisches Design

verhalten als das kombinierte Resultat der individuellen Einstellung des Befragten und der in der Situation aktualisierten Erwartungen und Situationsdefinitionen« (Steinert 1984: 279). Dieser Aspekt ist für die hier dargestellte Studie von zentraler Bedeutung, denn die in der Erhebungsphase generierten Interviewsituationen sind durchweg durch starke Erwartungen geprägt. Durch die gewählte Interviewform versucht die Forscherin, narrative Sequenzen zu initialisieren und verlangt damit durchaus beachtliche Leistungen von den Befragten, von Menschen, die gerade eine häufig mit Traumatisierungen verbundene Flucht hinter sich gebracht haben, ihre Lebensgeschichte erneut und möglichst umfassend erzählen sollen und sich zudem noch im Prozess des Spracherwerbs befinden. Demgegenüber stehen die Erwartungen der Befragten, die alle eine akademische Ausbildung anstreben oder teilweise bereits im Herkunftsland absolviert haben und nun in Deutschland an ihre Bildungskarriere anknüpfen möchten. Gerade zu Beginn der Interviews stellen die Befragten sehr überschwänglich ihre Bildungserfolge und guten Leistungen im Herkunftsland dar und bieten sich damit regelrecht für eine Fortsetzung der Bildungsbiographie an der Universität bei der Forscherin an. Im Verlauf des Interviews lässt diese Form der Präsentation nach. Die von Küsters betonte Übertreibung der »Asymmetrie in der Verteilung des Rederechts« in narrativen Interviews (Küsters 2009: 22) soll hier die Funktion übernehmen, das Aufkommen möglicher Dominanzverhältnisse aufgrund der unterschiedlichen Erwartungen zu kompensieren. Die Forscherin beschränkt sich dabei im Sinne der Biographieforschung ganz auf »die Rolle des aufmerksamen, aber thematisch nicht intervenierenden Zuhörers« (ebd.). Weitere Überlegungen zum Nähe- und Distanz-Verhältnis von Forscher/-in und Befragten, insbesondere der Affektivität der Forscherin bzw. des Forschers, stellt Maindok (2003) an: »Der professionelle Interviewer [soll] sich affektiv-neutral verhalten […]. Gleichzeitig empfiehlt [es sich] aber auch, dass der Interviewer sich in der Eröffnungsphase affektiv verhalten und sich umfassend auf den Befragten beziehen soll. Die Einwilligung zum Interview und der Aufbau einer guten Beziehung erfordert es nämlich, dass er als freundlicher Nachbar erscheint, der Fragen stellen und gehen kann.« (Maindok 2003: 71) Das empfohlene affektive Verhalten in der Eröffnungsphase des Interviews ist gerade für Interviews mit Menschen mit Fluchthintergrund von großer Relevanz. Die Befragten befinden sich teilweise noch im Asylverfahren oder haben dieses gerade abgeschlossen. Die damit zusammenhängende bereits absolvierte Anhörung ist geprägt von starken Macht- und Dominanzverhältnissen, denn den durchführenden Mitarbeiter/-innen des Bundesamtes kommt hier die Rolle der Gatekeeper zu. Eine affektive Eröffnungsphase der Interviews in der hier dargelegten Studie ist daher unbedingt notwendig, um diese Interviewerfahrungen und Situationen der

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Prüfung aufzulösen und eine vertraute, dem tatsächlichen Erleben der Befragten zugängliche und damit erzählfördernde Atmosphäre zu schaffen, deren Vorteile auch Helfferich herausstellt: »Der Erzählfluss und positive Erfahrungen mit der situativen Resonanz, die die Interviewenden signalisieren, führen in der Regel zu einer Entspannung und Öffnung im weiteren Interviewverlauf.« (Helfferich 2014: 564) Im Kontext der Grounded Theory lassen sich zudem spezifische Forscher/-innenKompetenzen benennen. Demnach sollten Forschende analytische Distanz, das Ertragen von Konfusion/Rückschlägen, komplexes theoretisches Denken, Abstraktion, Visualisierung und Mehrperspektivität mitbringen (vgl. Mey/Mruck 2009: 107), was erneut die Komplexität der Anforderungen und Reflexionsansätze beziehungsweise -potenziale aufzeigt. Zur Reflexion der Rolle der Forscherin und der damit verbundenen Implikationen wurde zum einen intensiv ein Forschungstagebuch geführt und zum anderen wurden regelmäßig eigene Beiträge in einem Doktorandenkolloquium in Form einer Forschungswerkstatt und einer Grounded-TheoryGruppe eingebracht, um, die eigene Reflexion intersubjektiv vermittelbar zu halten.

3.1.6.2

Forschungstagebuch und Forschungswerkstatt

Der gesamte Forschungsprozess wurde in einem Forschungstagebuch dokumentiert, dessen Bearbeitung und Nutzung in Anlehnung an Fischer/Bosse (2010) erfolgt ist. Breuer (2010) beschreibt das Forschungstagebuch als »Werkzeug, das den Forscher beziehungsweise die Forscherin begleitend zum Arbeitsprozess dazu anhält, in systematischer Weise die Transaktionen zwischen Person, Thema, Forschungspartnern und -feld, Kontext etc. aufmerksam zu registrieren, in Worte zu fassen, schriftlich festzuhalten und selbstreflexiv zu analysieren.« (Breuer 2010: 129) In dem Forschungstagebuch sind daher zunächst Beobachtungen und Hinweise zu den einzelnen Interviewsituationen vermerkt worden, die immer wieder im Verlauf der Forschung durch Kurzkommentare ergänzt wurden. Da die Interviews durch die besonderen Lebenssituationen der Befragten sehr unterschiedlich hinsichtlich der Ausgestaltung und Qualität ausgefallen sind, war diese Dokumentation unbedingt notwendig. Aufgrund der besonderen methodologischen und methodischen Herausforderungen dieser Forschung wurden auch Ideen, Anregungen und Verknüpfungen in diesem thematischen Feld in das Forschungstagebuch aufgenommen. Die so generierten Ideen und Informationen waren sowohl für die Transkription als auch für die spätere Analyse beziehungsweise Auswertung hilfreich. Konkrete Interviewsituationen konnten im Nachhinein besser nachvollzogen werden und damit auch Gefühlsregungen, wie Lachen oder Trauer, besser in das

3. Forschungsmethodisches Design

Transkript integriert werden. Analyseideen und -hinweise im Rahmen der Kurzkommentare haben beispielsweise den Einstieg in die Auswertung erleichtert und immer wieder neue Ideen für mögliche Themenfokussierungen aufgeworfen. Das Forschungstagebuch konnte durch den gewählten Aufbau auch kontinuierlich und strukturiert zur Reflexion der eigenen Forscherinnenrolle und des eigenen Forscherhandelns verwendet werden. Neben dem Forschungstagebuch diente auch die regelmäßige und aktive Teilnahme an einer Forschungswerkstatt im Rahmen des Doktorandenkolloquiums als Plattform für Austausch und Reflexion. Im Doktorandenkolloquium wurden die Datenmaterialien der einzelnen Teilnehmer/-innen bearbeitet, und es erfolgte Austausch und Diskussion über methodische und methodologische Fragestellungen. Riemann (2005) stellt in diesem Zusammenhang die Vorzüge einer derartigen Forschungswerkstatt heraus: »Man entdeckt mehr im gemeinsamen mündlichen Beschreiben von Texten, die Darstellung wird facettenreicher und dichter; und das dialogische Argumentieren, das Behaupten, Bestreiten, Bezweifeln, Begründen und Belegen – führt zu einer Differenzierung und Verdichtung von analytischen Abstraktionen, kontrastiven Vergleichen und theoretischen Modellen.« (Riemann 2005: 3f.) Die heterogene Zusammensetzung der Arbeitsgruppe in Bezug auf Themen, Analyseverfahren, Vorerfahrungen der Teilnehmer/-innen und dem jeweiligen Projektstand wurde von der Forscherin als gewinnbringend und hilfreich erlebt, was auch Bohnsack (2005) als bewährte Arbeitsgruppenzusammensetzung im Rahmen von Forschungswerkstätten herausstellt (vgl. Bohnsack et al. 2005: 68). Die Forscherin hat regelmäßig eigene Beiträge zu ihrem jeweils aktuellen Forschungsstand eingebracht und im Rahmen der Arbeitsgruppe zur Diskussion gestellt, beispielsweise wurden kontinuierlich Teilergebnisse des Auswertungsprozesses in diesem Zusammenhang besprochen und gemeinsam durchdacht. Kritik, Anregungen und Ideen aus der Arbeitsgruppe wurden ebenfalls in das Forschungstagebuch aufgenommen und offene Fragen aus dem Forschungstagebuch wiederum im Kolloquium aufgeworfen. Im Rahmen einer regelmäßigen, wöchentlich stattfindenden Grounded-Theory-Arbeitsgruppe wurden zudem immer wieder Textstellen gemeinsam bearbeitet und der gesamte Forschungsprozess zur Diskussion gestellt. Dieses Wechselspiel von Forschungstagebuch und Doktorandenkolloquium, Grounded-Theory-Arbeitsgruppe und die intensive Nutzung beider Medien beziehungsweise Reflexionsplattformen führt so zu einer im Rahmen des Projekts höchstmöglichen intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses und einer Annäherung an »eine selbst-/reflexive Hin- und Herbewegung gewissermaßen zwischen Person-Sein und Forscher-Sein, zwischen Sich-Einlassen und Distanz-Nehmen im Untersuchungszusammenhang« (Breuer 2010: 140).

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82

Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

3.2

Methodisches Design und Erhebung

Nach der Erläuterung der methodologischen Grundlagen dieser Arbeit geht es um das konkrete Vorgehen im Forschungsprozess, insbesondere um die Darstellung und Besonderheiten der Erhebungsphase.

3.2.1

Teilnarrative Interviews zur Bildungs- und Fluchtbiographie

Bei den Überlegungen zur Auswahl einer geeigneten Erhebungsmethode galt es, einige besondere Voraussetzungen zu berücksichtigen. Zunächst sollte die Interviewführung so offen wie möglich gestaltet werden, um den Befragten Raum für ihre Erzählungen zu geben. Da das Vorgehen explorativ angelegt ist und die Bildungs- und Fluchtbiographie im Vordergrund steht, bot es sich zunächst an, das narrative Interview nach Fritz Schütze als Erhebungsmethode zu wählen. Die Interviewerin bzw. der Interviewer übernimmt dabei eher die Rolle eines aktiven Zuhörers, der sich zunächst nur zu Beginn durch eine Erzählaufforderung einbringt. Erzählaufforderungen oder Erzählstimuli sind »die Bühne für eine längere, sich im optimalen Fall über einen vorab vereinbarten Zeitrahmen erstreckende Erzählung« (Helfferich 2011: 102). Im Wesentlichen besteht das narrative Interview aus drei zentralen Teilen. Nach der Erzählaufforderung folgt eine autobiographische Erzählung, in die die Interviewerin bzw. der Interviewer erst nach der Beendigung durch eine Erzählkoda mit narrationsgenerierenden Nachfragen bezüglich interessanter Interviewstellen und Erzählfäden eingreift, um das Erzählpotenzial auszuschöpfen. Erst im dritten Teil des Interviews erfolgen konkrete Nachfragen, die beispielsweise auf argumentative Beantwortungen abzielen (vgl. Schütze 1983: 285). Durch die von Schütze herausgestellten Zugzwänge des Erzählens soll im Hauptteil des Interviews eine zusammenhängende Erfahrungsrekapitulation entstehen und der Interviewte beispielsweise durch den Detaillierungszwang dazu geführt werden, Ereignisse und Erfahrungen zu erzählen, die er grundsätzlich aus Gründen von Schuld- oder Schambewusstsein eher verschweigen würde (vgl. Schütze 1982: 576). Hier zeigt sich ein erstes Dilemma in der Durchführung des narrativen Interviews bezüglich der für dieses Forschungsvorhaben relevanten Zielgruppe. Menschen mit Fluchthintergrund können durchaus traumatische Erlebnisse mit ihrer Flucht verbinden, die durch den Detaillierungszwang im Interviewkontext erneut psychisch durchlebt werden können, sodass Erzählstränge unterbrochen werden oder auch ganz abbrechen können (vgl. Krappmann et al. 2009: 53). Thielen (2009) betont darüber hinaus – wie bereits erläutert – die Machtverhältnisse, die sich in einer narrativen Interviewsituation abbilden können. Die Interviewerin bzw. der Interviewer als »Angehöriger der Majoritätsgesellschaft« (ebd.: 2) und »professioneller Akteur« (ebd.: 6) fordert eine Privatperson auf, über

3. Forschungsmethodisches Design

persönliche Migrationserfahrungen und intime Lebensbereiche zu erzählen. Diese Situation kann stark an die bereits erlebte Interviewsituation im Rahmen des Asylverfahrens erinnern. Die mündliche Anhörung »ist als ein umfassender Zugriff auf die Biographie der Betroffenen zu betrachten, die ihre Lebensgeschichte vor ihnen fremden Zuhörer/-innen offenbaren müssen« (ebd.: 4-5), was zudem essentielle Auswirkungen auf die Aufenthaltsperspektive in Deutschland hat. Um diese Nähe zum Asylverfahren in der Interviewsituation zu vermeiden, wurden nur Befragte ausgewählt, deren Asylverfahren bereits abgeschlossen wurde. Zudem hat die Interviewerin durch Vorgespräche und intensiven Kontakt bereits vor den eigentlichen Interviewterminen ein besonderes Augenmerk auf eine angenehme und vertraute Interviewsituation gelegt. Als Erzählstimulus wurde folgende Aufforderung formuliert:   Wenn Sie nun auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken, dann erzählen Sie mir doch mal von Beispielen, Situationen und Erfahrungen, die Ihnen zum Thema Bildung einfallen. Nehmen Sie sich ruhig Zeit, für mich ist alles wichtig, was Sie erzählen.   Aufgrund der bereits genannten möglichen Gefahren in der Interviewführung mit Geflüchteten wurde bewusst auf die Thematisierung der Flucht im Erzählstimulus verzichtet, sodass die Befragten im Rahmen ihrer Erzählung durchaus die Möglichkeit bekommen haben, die Lebensphase der Flucht nicht in ihre Erzählung miteinzubeziehen beziehungsweise selbst über eine Thematisierung zu entscheiden. Im Rahmen zweier durchgeführter Probeinterviews zeigte sich jedoch, dass es den Befragten aufgrund sprachlicher Barrieren und möglicherweise auch aufgrund eines bisherigen Lebens in demokratiefernen Staatssystemen sehr schwer fallen kann, eine freie und offene Erzählung nur auf Basis einer weiten Erzählaufforderung zu entwickeln. Nach dem Erzählstimulus folgten in den Probeinterviews nur einige Sätze durch die Befragten, die sich auch durch narrationsgenerierende Nachfragen nur geringfügig erweitern ließen. Ein Befragter äußerte den Wunsch nach konkreten Fragen, auf die er antworten könne. Bude (1985) kritisiert einen zu Beginn derartig hohen Aufwand des Forschers in der Interviewführung als »Narrationsanimation« (ebd.: 331) und verweist auf der Seite der Befragten auf ein in der Schützeschen Theorie vorhandenes »Ideal-Ich des Narrativismus« (ebd.: 332) mit einer kontinuierlichen biographischen Identität, die durch die traumatischen Erlebnisse der Flucht bei den Befragten dieser Forschung häufig nicht greifbar ist. Besonders der sprachliche Aspekt ist, wie bereits angesprochen, zu diskutieren. Aus forschungspragmatischen Gründen wurde auf die Arbeit mit Übersetzungen verzichtet. Durch Übersetzungen aus der Muttersprache ins Deutsche kann es zu Sinnveränderungen der Erzählungen kommen. Im Fall einer Übersetzung des Interviewtextes

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

»arbeiten [die auswertenden Forscher] also mit einem mehrfach transformierten Material, dessen Ausgangssprache sie eventuell nicht oder nur rudimentär beherrschen und dessen Endsprache eventuell auch nicht ihre Muttersprache ist. Dies bedeutet natürlich einen immensen Informationsverlust, zum Teil werden auch Informationsdeutungen durch die Übersetzungen vorweggenommen« (Küsters 2009: 189). Wenngleich Schütze selbst mit Übersetzungen gearbeitet hat (Schütze 2001), soll im Rahmen dieser Forschung auf die Sprachen Deutsch und Englisch zurückgegriffen werden, was von den Befragten im Rahmen der Vor- und Nachbereitung der Interviews als Wertschätzung ihrer fremdsprachlichen Fähigkeiten artikuliert wird und somit zu einer positiven Interviewsituation beiträgt. Um den Bedürfnissen der Befragten gerecht werden zu können, aber nicht auf die größtmögliche Offenheit und damit die Möglichkeit der eigenen inhaltlichen Gestaltung des Interviews zu verzichten, ist in Anlehnung an ein LeitfadenInterview ein zusätzlicher Interviewleitfaden entwickelt worden, der eingesetzt wurde, sofern aufgrund des Erzählstimulus und weiterer Nachfragen keine zusammenhängende Erzählung generiert werden konnte. »Leitfaden-Interviews […] eignen sich, wenn einerseits subjektive Theorien und Formen des Alltagswissens zu rekonstruieren sind und so maximale Offenheit gewährleistet sein soll, und wenn andererseits von den Interviewenden Themen eingeführt werden sollen […].« (Helfferich 2011: 179) Die Einführung verschiedener Themen führte häufig auch zu einer Entspannung der Interviewsituation, sodass sich in einigen Interviews noch im späteren Verlauf narrative Passagen entwickelt haben. Die Themen der Leitfragen beziehen sich auf das zentrale Thema der Bildung und sind in räumlicher Perspektive an den Lebenslauf angepasst (siehe Abb. 3). Als erster Themenkomplex wurde nach den Bildungserfahrungen im Herkunftsland gefragt. Da die Befragten den Großteil ihrer bisher erlangten Bildung in ihrem Herkunftsland oder anderen räumlichen Umgebungen als dem Aufnahmeland Deutschland erfahren haben, gilt es zunächst, dieser Lebensphase vor der Ankunft in Deutschland eine besondere Bedeutung beizumessen. Insbesondere Erfahrungen in bisher besuchten Bildungsinstitutionen, ebenso wie Bildungserlebnisse im außerinstitutionellen Bereich sowie die generelle Bedeutung von Bildung im Herkunftsland stehen im Vordergrund der Interviewfragen. Im zweiten Teil der Fragen geht es um die Erlebnisse und Erfahrungen im Kontext von Bildung nach der Ankunft in Deutschland. Einige Befragte haben bereits ein Studium in Deutschland aufgenommen, andere absolvieren noch Sprachkurse, um damit die nötige Zulassung zum Studium zu erlangen, sodass hier aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Erlebensprozessen berichtet wird. Auch hier sind

3. Forschungsmethodisches Design

Abb. 3: Themen der Interview Leitfragen (eigene Darstellung)

der Zugang zu Bildungsinstitutionen und mögliche Unterstützungsangebote von Interesse. Zudem wird hier noch einmal auf die Bildung im Herkunftsland rekurriert, inwieweit diese bei der Ankunft und Integration in das deutsche Bildungssystem hilfreich ist. Abgerundet wird der Leitfaden (siehe Anhang) durch die Frage nach Zukunftsvorstellungen. Bei beiden Themenbereichen stehen das persönliche Erleben und mit den jeweiligen Erfahrungen und Erlebnissen verbundene Emotionen im Vordergrund, die auch in der Grundidee des autobiographischen Erzählens in narrativen Interviews erkennbar sind. Nach Helfferich wird ein derartiger Interviewtypus »bei einem ausgewogenen Verhältnis von Erzählaufforderungen und Nachfragen […] ›teilnarrativ‹ genannt« (Helfferich 2011: 568). Damit ist eine Möglichkeit geschaffen, das narrative Interview für Befragte mit Fremdsprachenkenntnissen unter dem Niveau der Muttersprache und geringerem Erzählpotenzial nicht grundsätzlich ausschließen zu müssen.

3.2.2

Theoretical Sampling und Feldzugang

Für die Auswahl eines Samplings haben Glaser und Strauss, im Gegensatz zu den Annahmen des statistischen Samplings, in dem die Grundgesamtheit zu Beginn der Erhebung größtenteils bekannt ist, ein sukzessives und phänomengeleitetes Theoretical Sampling entwickelt, an dem sich auch das vorliegende Forschungsvorhaben orientiert. Die erhobenen Fälle sind an einer im Laufe des Forschungsprozesses entwickelten Theorie orientiert.

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

»The basic criterion governing the selection of comparison groups for discovering theory is their theoretical relevance for furthering the development of emerging categories. The researcher chooses any groups that will help to generate, to the fullest extent, as many properties of the categories as possible, and that will help relate categories to each other and to their properties.« (Glaser/Strauss 1967: 49) Breuer (2010) detailliert dieses Konzept und verweist auf die Suche nach Variationen und Kontrasten, »die das Wissen über Facetten des Untersuchungsgegenstands beziehungsweise fokussierter Konzepte voraussichtlich erweitern und anreichern oder absichern und verdichten können« (ebd.: 58). Nachdem der erste Feldzugang auf den sensibilisierenden Konzepten basiert, erfolgen bereits erste Analysen und Theoriebildungsprozesse aus den Daten heraus, bevor sich die Forscherin bzw. der Forscher erneut phänomengeleitet in das Untersuchungsfeld hineinbegibt. Theorie bedeutet somit die Entstehung sukzessiver theoretischer Konzepte, was an die Vorstellung eines sich ständig wandelnden Wissensbestands anknüpft (vgl. Strübing 2014: 60f.). Als Konsequenz ergibt sich ein notwendiges Ineinandergreifen von Datenerhebung und Datenauswertung, die im Theoretical Sampling nicht getrennt voneinander ablaufen, sondern iterativ erfolgen (siehe Abb. 4).

Abb. 4: Theoretical Sampling (Mey/Mruck 2011, S. 24)

3. Forschungsmethodisches Design

Da sich die Erhebung dieses Forschungsvorhabens vor allem auf die Methodik der Biographieforschung fokussiert, gilt es zunächst, die vorhandene Kongruenz des Samplings in beiden Forschungsstilen zu begründen. Schütze selbst schlägt die Formen des minimalen und maximalen Vergleichs zur Kontrastierung und Auswahl der Fälle vor (vgl. Schütze 1983: 287). In der Rezeption wird das Theoretical Sampling noch viel grundlegender als Kriterium einer qualitativen Methodologie in der Biographieforschung herausgestellt (vgl. Krüger/Marotzki 2006: 27) und soll im Rahmen einer theoretischen Repräsentativität die Verschiedenheiten innerhalb der Grundgesamtheit vollständig abbilden. Nach Strübing (2014) besteht damit in der Art der Fallauswahl die größte Parallele zwischen der Biographieforschung und der Grounded Theory, die nicht zuletzt auf gemeinsamen wissenschaftstheoretischen Wurzeln (vgl. Kap.3.1.5) und einer engen persönlichen Freundschaft von Strauss und Schütze beruht (vgl. Strübing 2014: 161). Somit erweist sich die Idee des Theoretical Samplings als praktikabel für das vorliegende Forschungsvorhaben. Da zum Zeitpunkt der Erhebung nur eine marginale Debatte bezüglich des Hochschulzugangs für Geflüchtete bestand und wissenschaftliche Befunde entsprechend rar waren, sollte bei einem ersten Feldzugang ein besonderes Augenmerk auf Geflüchtete an Hochschulen gelegt werden, die zudem ihr Asylverfahren abgeschlossen haben sollten, um damit eine offene Interviewsituation zu ermöglichen. In weiteren Erhebungsphasen erfolgten, basierend auf Auswertungs- und Theoriebildungsprozessen, Variationen und Kontraste bezüglich der Herkunftsländer der Befragten, der Aufenthaltsdauer und dem individuell empfundenen Status der Integration in das deutsche Bildungssystem (siehe Tabelle 1). Die Namen der Befragten wurden dabei anonymisiert. Hauptsächlich haben sich männliche Studierende beziehungsweise Studieninteressierte auf den Interviewaufruf gemeldet, lediglich drei Interviews konnten mit Frauen geführt werden. Das Alter der Befragten wurde erhoben, um Hinweise auf Bildungsmöglichkeiten und Finanzierungen zu erhalten, da beispielsweise BAföG nur bis zum 35. Lebensjahr bezogen werden kann (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016). Die meisten Befragten stammen aus Syrien, da syrische Bildungsabschlüsse ein nach den deutschen Bildungsmaßstäben vergleichsweise hohes Qualifikationsniveau vorweisen und Syrer/-innen somit häufig bereits die fachlichen Qualifikationen für ein Studium mitbringen, welche noch durch Sprachzertifikate komplettiert werden müssen. Die Perspektive dieser Forschung soll sich jedoch nicht ausschließlich auf das Land Syrien beziehen, sodass weitere Herkunftsländer als mögliche Kontrastierungen ausgewählt wurden. Darüber hinaus ermöglicht die Abfrage der Aufenthaltsdauer eine zeitliche Einordnung zum Status der Integration in das deutsche Bildungssystem und gibt auch Auskunft über den Zeitpunkt der Flucht und gesellschaftliche beziehungsweise zeitgeschichtliche Hintergründe. Die Angabe der Interviewdauer gibt zudem einen Einblick in die Heterogenität der Erzählbereitschaft und möglicherweise auch in die Sprachkompetenzen der

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Befragten. Drei Interviews wurden aufgrund großer sprachlicher Schwierigkeiten oder sozialer Kontrolle durch Anwesenheit von Familienmitgliedern in der Interviewsituation nicht für die Analyse verwendet. Tab. 1: Übersicht Interviewpartner/-innen (eigene Darstellung) Fall

Name

Geschlecht

Alter (in Jahren)

Herkunftsland

Aufenthaltsdauer in Deutschland (z. Zeitpunkt der Erhebung)

Dauer (in Stunden)

1

Junis

M

35

Syrien

15 Monate

0:35:31

2

Samira

W

26

Syrien

3 Jahre

0:54:16

3

Amir

M

20

Syrien

7 Monate

0:49:56

4

Ali

M

26

Irak

4 Jahre

2:02:52

5

Tarek

M

28

Syrien

9 Monate

3:02:50

6

Can

M

24

Irak

6 Monate

0:23:00

7

Enes

M

20

Syrien

14 Monate

0:47:18

8

Mayla

W

22

Syrien

14 Monate

0:32:06

9

Yasin

M

25

Ägypten

6 Monate

0:39:30

10

Ilias

M

23

Syrien

8 Monate

0:55:35

11

Abdul

M

20

Syrien

9 Monate

0:25:18

12

Djamal

M

21

Syrien

10 Monate

0:41:17

13

Luan

M

25

Syrien

7 Monate

0:34:05

14

Arian

M

26

Kosovo

Seit 1993

1:37:21

15

Faris

M

28

Syrien

9 Monate

0:50:50

16

Neyla

W

21

Ghana

Seit 1997

1:56:10

17

Basel

M

27

Syrien

Seit 1996

0:51:58

Der Zugang zu den Befragten erfolgte über Aushänge in Beratungsstellen und Deutschkursen an verschiedenen Hochschulen. Interessierte Studierende und/oder Sprachkursteilnehmer/-innen konnten dann per E-Mail Kontakt zu der Forscherin aufnehmen. Aufgrund der besonderen Sensibilität bezüglich der bisherigen Flucht- und Ankommenserlebnisse der Befragten wurde zunächst mit jedem Befragten ein persönliches Kennenlernen vereinbart, bevor der eigentliche Interviewtermin stattfand. Im Rahmen dieses Kennenlernens wurde den Befragten die Person der Forscherin kurz vorgestellt und noch einmal die Idee des Forschungsvorhabens und der Interviews erläutert, ohne konkrete Inhalte und Fragen vorweg

3. Forschungsmethodisches Design

zu nehmen, was zur Bereitschaft der Interviewteilnahme beitragen sollte (vgl. Fuchs-Heinritz 2000: 238f.). Die Interviews haben auf Wunsch der Befragten, trotz teilweise nötiger Anreise, am Arbeitsort der Forscherin stattgefunden; zwei Interviews wurden in Seminarräumen an anderen Hochschulen durchgeführt und zwei weitere Interviews in privater Atmosphäre bei den Befragten zu Hause. Sprachlich wurde es den Befragten freigestellt, das Interview in deutscher oder englischer Sprache zu führen, wobei die Entscheidung auf den jeweiligen Sprachkompetenzen der Befragten beruhte. In einigen Interviews wechselte die Sprache im Verlauf, in der Regel dann, wenn die Kompetenzen für eine bestimmte Erzählung auf Deutsch doch noch nicht ausreichend waren. Nach dem Interview war überraschenderweise der Dank der Befragten für eine aufmerksame Zuhörerin, die eine persönliche Geschichte interessiert, sehr groß. Einige Befragte haben dann noch persönlich Fragen zu Angeboten der Hochschule, zu der generellen Studienorganisation oder zu alltagspraktischen Problemen gestellt, was noch einmal die besondere Rolle der Forscherin als Hochschulmitarbeiterin und damit Inbegriff dessen, was die Befragten bezüglich ihrer Bildungsvorstellungen erreichen möchten, unterstreicht. An dieser Stelle zeigt die in Kapitel 3.1.6.1 vorgenommene Reflexion der Rolle der Forscherin noch einmal ihre besondere Relevanz und Notwendigkeit. Zudem gab es Nachfragen bezüglich des Termins, zu dem die Ergebnisse der Forschung veröffentlicht werden, verbunden mit der immer wieder artikulierten Hoffnung, dass dann eine Verbesserung der eigenen Situation eintritt.

3.2.3

Transkription

Nach der Erhebung der Daten ist ein notwendiger Schritt die Verschriftlichung des aufgenommenen Materials, bevor eine Analyse stattfinden kann. Ein Standard bezüglich eines grundlegenden Transkriptionssystems hat sich bisher nicht durchgesetzt (vgl. Flick 2010: 379), jedoch gibt es seit den vergangenen Jahren eine Vielzahl an unterschiedlich genauen Transkriptionssystemen (vgl. Kowal/O’Connell 2008: 439). Anhand des jeweiligen Forschungsinteresses muss entschieden werden, ob eine Transkription vollständig oder nur in Teilen (selektiv) erfolgen soll (vgl. Gläser/Laudel 2009: 193). »Letztendlich gilt es, einen Kompromiss zwischen Lesbarkeit und adäquater Beschreibung und der damit verbundenen Komplexitätsdarstellung zu finden.« (Langer 2010: 519) Küsters (2009) schlägt für narrative Interviews eine möglichst detaillierte und umfassende Transkription vor (vgl. ebd.: 73ff.). Auch Strauss und Corbin (1996) bevorzugen für die Grounded Theory eine möglichst ausführliche Transkription, da neben einem akribischen Abhören des Audiomaterials auch ein ausführliches Tran-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

skript für eine möglichst vollständige und vielfältige Analyse unerlässlich ist (vgl. ebd.: 15). Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens fiel die Entscheidung daher auf eine vollständige Transkription, da aufgrund des explorativen Vorgehens im Vorhinein nicht über die Relevanz einzelner Erzählabschnitte entschieden werden konnte. Zudem findet nach der Erhebung eine erneute intensive Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Material statt, und es erfolgen Distanzierungen und Reflexionen durch die Forscherin/den Forscher (vgl. Langer 2010: 517). Für das vorliegende Material wurde die literarische Umschrift gewählt, um in einer möglichst authentischen Niederschrift auch besondere sprachliche Details wie Dialekte und ähnliches aufnehmen zu können, beispielsweise wurde so ,weißte‹ statt ,weißt du‹ transkribiert (Vgl. Fuß/Karbach 2014: 22). Dies ist im Kontext dieses Forschungsvorhabens insofern bedeutsam, als dass die Interviewten in einer anderen als ihrer Muttersprache befragt werden und es dadurch auch zu Grammatik-Fehlern und ähnlichem kam. Damit der Sinn auch sprachlicher Fehler zunächst offenblieb und nicht einseitig gedeutet wurde, war die literarische Umschrift ein gutes Mittel zur Verschriftlichung. Aus Gründen der Lesbarkeit wurde eine Zeichensetzung verwendet, die jedoch nicht immer formalen Kriterien folgt. Die genauen Transkriptionsregeln können der nachfolgenden Tabelle entnommen werden. Tab. 2: Transkriptionsregeln (eigene Darstellung) I B (.) (3) Nein Nein °Nein° () (Flucht) BilS-Stadt [Großstadt]

Kennzeichen der Interviewerin Kennzeichen der Befragten/des Befragten Pause bis zu einer Sekunde Pause in Sekunden Betonung Laut gesprochen (im Vergleich zur üblichen Sprechlautstärke der Befragten/des Befragten) Leise gesprochen (im Vergleich zur üblichen Sprechlautstärke der Befragten/des Befragten) Unverständliche Passage, wobei die Länge der Klammer ca. die Dauer angibt Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerung Abbruch eines Wortes Ergänzende Informationen für ein besseres Kontextverständnis der Leserin/des Lesers

Darüber hinaus gilt es im Transkript Anonymisierungen vorzunehmen, das heißt, Namen, Zeit- und Ortsangaben zu maskieren und zu ersetzen, um die durch die Interviewerin/den Interviewer versprochene Vertraulichkeit und Anonymisierung zu gewährleisten (Helfferich 2011: 176). Satzzeichen werden nach Sinn und Betonung gesetzt und die Groß- und Kleinschreibung ist an die Rechtschreibung der jeweiligen Interviewsprache angepasst.

3. Forschungsmethodisches Design

Die Forscherin hat ca. 90 % der Interviews eigenständig transkribiert, während eine geringe Anzahl an Interviews von Dritten transkribiert wurden. Eine eigenständige Transkription erwies sich jedoch für die Forscherin als sinnvoller, um noch einmal in eine intensive Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial zu treten. Reflexionsansätze und erste Analysegedanken wurden in Form von Memos im Forschungstagebuch notiert und für den späteren detaillierten Analyseprozess verwendet.

3.3

Vorgehen bei der Datenauswertung

Das Vorgehen bei der Datenauswertung orientiert sich an einer Kombination aus der Narrationsanalyse und den Kodierverfahren der Grounded Theory. Der Schritt der Segmentierung der Daten dient hier einer Strukturierung der erhobenen Daten, woran dann die Kodierverfahren der Grounded Theory anschließen; dies soll im Folgenden genauer erläutert werden.

3.3.1

Segmentierung der Daten

Das Datenmaterial soll entlang der in ihm enthaltenen Geschichten segmentiert werden (vgl. Jakob 2010: 226). Dieser erste Schritt der Datenauswertung erfolgt in Anlehnung an die Formale Textanalyse als erstem Schritt der Narrationsanalyse zur Auswertung narrativer Interviews. Schütze (1983) bedient sich dabei auch einer sprachlichen Analyse, indem er formale Indikatoren benennt, die auf dieser Ebene erkennbar sind. »Formale Indikatoren in Erzähltexten sind insbesondere die narrativen Rahmenschaltelemente, die anzeigen, dass eine Darstellungseinheit geschlossen ist und nunmehr die nächste folgt. Der erste Analyseschritt – die formale Textanalyse – besteht mithin darin, zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den bereinigten Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren.« (Schütze 1983: 286) Neben narrativen Rahmenschaltelementen wie ›und dann‹ oder formalen Markierern wie beispielsweise ›eh‹ oder Pausen (vgl. Schütze 1987: 99ff.), zeigen auch Textsortenwechsel, Hintergrundkonstruktionen oder Veränderungen des Narrationsgrades Segmentwechsel an. Die einzelnen Segmente bilden zusammen die Erzählkette und damit den geschilderten Ereignisverlauf (vgl. Küsters 2009: 78). Berg und Milmeister (2008) schlagen auch eine Textsegmentierung im Rahmen der Grounded Theory vor und orientieren sich dabei, im Gegensatz zu Schütze, eher an inhaltlichen Indikatoren, wie Themenkonstanz oder Themenwechsel (vgl. Berg/Milmeister 2008: Abs. 19). Aufgrund der sehr unterschiedlichen sprachlichen Qualität

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92

Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

der hier vorliegenden Daten sind sowohl sprachliche als auch inhaltliche Indikatoren beachtet worden. Eine rein sprachliche Fokussierung auf die von Schütze deklarierten Rahmenschaltelemente wäre kaum möglich gewesen, da der Wortschatz der Befragten teilweise noch sehr gering war und somit viele sprachliche Wendungen noch nicht im Repertoire der Befragten enthalten waren. Da die Interviewsprache beziehungsweise die von den Befragten verwendeten Vokabeln jedoch immer wieder einer besonderen Reflexion im Forschungsprozess bedürfen, wurde nicht in Gänze auf die sprachlichen Indikatoren verzichtet und nur, wenn auf dieser Basis keine Segmentierung möglich war, zu inhaltlichen Indikatoren übergegangen. Jedes so entstandene Segment wurde mit einer deskriptiven, möglichst nah am Text formulierten Überschrift versehen, und am Ende wurde eine Übersicht über die Interviewthemen auf der Basis der Überschriften erstellt. Eine derartige Segmentierung wurde bereits von Schütze als »technischer Schritt« beschrieben (Schütze 1983: 286) und dient hier als Vorbereitung der weiteren Analysearbeit. Im Rahmen des offenen Kodierens und des damit verbundenen permanenten Vergleichens können so relevante Themen schnell auch in anderen Interviews wiedergefunden werden.

3.3.2

Offenes Kodieren

Die Phase des Offenen Kodierens dient dem Aufbrechen, Untersuchen, Vergleichen und Konzeptualisieren der Daten (vgl. Strauss/Corbin 1996: 43). »Mit Aufbrechen und Konzeptualisieren meinen wir das Herausgreifen einer Beobachtung, eines Satzes, eines Abschnitts und das Vergeben von Namen für jeden einzelnen darin enthaltenen Vorfall, jede Idee oder jedes Ereignis – für etwas, das für ein Phänomen steht oder es repräsentiert.« (ebd.: 45) Es geht also darum, hinter den Daten liegende Konzepte zu finden und zu offenbaren. Dabei wird zwischen Kodes als Konzepten und Kodes als Invivo Kodes unterschieden. Die Bezeichnungen für Kodes als Konzepte emergieren aus den Konzepten der Forscherin/des Forschers und auch aus dem bisherigen wissenschaftlichen und fachlichen Literaturstudium (vgl. ebd., S. 49), wohingegen Corbin und Strauss (1996) Invivo Kodes definieren als »concepts using the actual words of research participants rather than being named by the analyst« (Strauss/Corbin 1996: 65). In den hier zugrunde liegenden Daten erfolgt die Analyse durch ein Zeile-fürZeile-Vorgehen. Eine Analyseeinheit umfasst dabei einzelne Wörter (vor allem bei Invivo Kodes), ganze Sätze oder auch ganze Abschnitte. Der Analyseprozess im offenen Kodieren ist somit sehr aufwendig, aber gewinnbringend. Ein Beispiel aus den vorliegenden Daten soll nun den Prozess des Kodierens veranschaulichen. Das ausgewählte Zitat stammt aus dem ersten Interview der Erhebung und wurde mit Junis, einem 35-jährigen Mann, der aus Syrien stammt,

3. Forschungsmethodisches Design

geführt, der zum Zeitpunkt der Erhebung bereits seit 15 Monaten in Deutschland lebte und in dieser Textstelle über den Spracherwerb in Deutschland erzählt. »So the problem is, you know, yes, of course, B1 is good for Handwerker but there are some people here they came, they really want to learn to educate, to keep educate. And there is some gap between B1 and C1 because university wants C1. So when this between B1 and C1 we are very completely lost. Because when you finish also after the B1, Jobcenter don’t leave you alone, you know. They push you, you have to work, you have to work, you have to go. Okay but I really want to work but you know I came here to work but but after all (.) after all my education I don’t want to clean things. It’s work but it’s not why I came here to clean things. I want to use my mind not my hands.« Bei der Kodierung der Vielzahl an Daten wurde kontinuierlich mit der Software MAXQDA gearbeitet, was eine hilfreiche Unterstützung für die Analyse- beziehungsweise Auswertungsarbeit bietet (vgl. Kuckartz 2009: 14). Die Veranschaulichung der zugehörigen Kodes erfolgt hier jedoch für eine bessere Übersichtlichkeit in Form einer Tabelle. Tab. 3: Kodierbeispiel (eigene Darstellung) So the problem is, you know, yes, of course, B1 is good for Handwerker but there are some people here they came, they really want to learn to educate, to keep educate.

Kode: Abgrenzung – ich und die Anderen

B1 is good for Handwerker

Kode: Abwertung des Handwerks Kode: Diskriminierung des Berufsstandes

we are very completely lost

Kode: hohe Erwartung – das Angebot reicht uns nicht

very completely lost

Invivo Kode

They push you, you have to work, you have to work, you have to go.

Kode: Machtstrukturen – andere bestimmen über mich

I really want to work but you know I came here to work but but after all (.) after all my education I don’t want to clean things.

Kode: Zukunftsvorstellung = akademische Tätigkeit

I don’t want to clean things.

Kode: mangelnde individuelle Förderung Kode: Diskriminierung des Berufsstandes

I want to use my mind not my hands.

Invivo Kode

Das erste Interview wurde entsprechend detailliert und kleinschrittig analysiert, um erste Ideen für in den Daten liegende Themen und Fragen zu generieren. Die weitere Analyse erfolgte themenbasiert und Interviewübergreifend. Durch das

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Verfahren der »constant comparative method«, welches Glaser und Strauss als die Quelle gegenstandsbezogener theoretischer Konzepte sehen (vgl. Strübing 2014: 14, in Anlehnung an Glaser/Strauss 1998), werden für die Forschungsfrage leitende Themen durch das permanente Vergleichen mit anderen Interviews zu Kategorien beziehungsweise Phänomenen entwickelt. Interpretationsideen und weitergehende Fragestellungen an das Material werden in Form von Memos notiert, die im weiteren Analyse- beziehungsweise Auswertungsprozess immer wieder ergänzt und hinzugezogen werden. Nach Glaser und Holton (2011) sind Memos »theoretische Notizen über die Daten und über die konzeptuellen Beziehungen zwischen Kategorien. Das Schreiben von theoretischen Memos ist die Schlüsselphase im Prozess der Theoriegenerierung.« (Glaser/Holton 2011: 155) Das Schreiben der Memos erfolgt hier parallel zum Kodierprozess, sodass möglichst keine Assoziationen verloren gehen. Ein Beispiel, bezugnehmend auf die kodierte Textstelle, soll die Idee des Memo-Schreibens verdeutlichen. Tab. 4: Memobeispiel (eigene Darstellung) Memo: Es geht um Möglichkeiten beziehungsweise Hindernisse für den Zugang zu Sprachkursen, die der Befragte mit einer Wertung hinsichtlich eines für ihn adäquaten, hohen Niveaus im Kontext des Spracherwerbs beschreibt. Während zunächst allgemein die Problematik für Geflüchtete, die mehr als nur einen handwerklichen Beruf erlernen beziehungsweise ausüben möchten, eröffnet wird, erfolgt dann durch das Pronomen »we« eine Identifikation. Spracherwerb als ›kollektives Problem‹? Der Invivo Kode »very completely lost« steht für die unzureichende Unterstützung/Betreuung und auch mangelnde Angebote während des Spracherwerbs für Geflüchtete, die eine akademische Ausbildung anstreben. Wie sehen das andere Geflüchtete? Ein weiterer Invivo Kode »I want to use my mind not my hands« beschreibt den starken Wunsch nach einer akademischen Bildung beziehungsweise Berufstätigkeit und pointiert das, was der Befragte erreichen möchte. Klare Vorstellung von Bildungszielen

Im Prozess des offenen Kodierens ergeben sich somit neben einer Reihe an Kodes, die dahinterliegende Konzepte beschreiben, auch zahlreiche Memos mit Assoziationen, Fragen und Interpretationsideen. Muckel (2007) sieht in der Arbeit mit entsprechenden Kodes und Memos das Potenzial, Zusammenhänge in den Daten zu erkennen und zu beschreiben: »Jeder Kode ermöglicht es, Beziehungen zu anderen Memos, Daten und Auszügen der bereits existierenden Forschungsliteratur herzustellen, denn immer, wenn ein Kode so oder in einer ähnlichen Bezeichnung wieder auftaucht, dann kommt dies einer Aufforderung gleich, über mögliche Zusammenhänge nachzudenken und durch Vergleiche diese Zusammenhänge zu beschreiben.« (Muckel 2007: 226)

3. Forschungsmethodisches Design

Die Kodes und Konzepte werden dann mithilfe der Memos bezüglich ihrer Eigenschaften und Dimensionen so zusammengefasst und weiterentwickelt, dass sich Kategorien und Phänomene ergeben. Strauss und Corbin (1996) verstehen Kategorien als eine Klassifikation von Konzepten (vgl. Strauss/Corbin 1996: 216). »Diese Klassifikation wird erstellt, wenn Konzepte miteinander verglichen werden und sich offenbar auf ein ähnliches Phänomen beziehen. So werden die Konzepte unter einem Konzept höherer Ordnung zusammengruppiert, – ein abstrakteres Konzept, genannt Kategorie.« (Ebd.) Ein Phänomen wird hier als eine Kategorie verstanden, die für die Klärung der Forschungsfrage relevant ist und erste vage Hypothesen abbildet (vgl. Strübing 2014: 18). Kategorien beziehungsweise Phänomene sind im Sinne der Grounded Theory bis zum Abschluss der Theorieentwicklung nie endgültig und bleiben offen für Veränderungen. Die Entwicklung von Kategorien beziehungsweise Phänomenen findet im Prozess des axialen Kodierens statt.

3.3.3

Axiales Kodieren

Das axiale Kodieren als weiterer Schritt der Datenanalyse in der Grounded Theory findet nicht automatisch nach dem offenen Kodieren beziehungsweise getrennt von diesem statt, sondern vielmehr wechselt die Forscherin zwischen den beiden Analysemodi hin und her (vgl. Strauss/Corbin 1996: 77). Es geht im axialen Kodieren darum, die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Kodes herauszuarbeiten, um schon vorhandene Kategorien und Subkategorien aus dem Material heraus zu entwickeln, im Sinne einer Verfeinerung und Differenzierung (vgl. Böhm et al. 2008: 49). Strauss und Corbin (1996) verstehen darunter weiterhin »eine Reihe von Verfahren, mit denen durch das Erstellen von Verbindungen zwischen Kategorien die Daten nach dem offenen Kodieren auf neue Art zusammengesetzt werden. Dies wird durch Einsatz eines Kodier-Paradigmas erreicht, das aus Bedingungen, Kontext, Handlungs- und interaktionalen Strategien und Konsequenzen besteht.« (Strauss/Corbin 1996: 75) Neben dem permanenten Vergleichen ist das Stellen von sogenannten generativen Fragen ein notwendiges Verfahren zur Vorbereitung des Kodierparadigmas. Für das vorliegende Forschungsvorhaben sind die folgenden von Mey und Mruck (2011) vorgeschlagenen generativen Fragen leitend: »Was – um welches ›Phänomen‹ geht es; Wer – welche Akteur*innen sind beteiligt, welche Rollen nehmen sie ein beziehungsweise werden ihnen zugewiesen; Wie – welche Aspekte des ›Phänomens‹ werden behandelt beziehungsweise welche werden ausgespart; Wann/wie lange/wo – welche Bedeutung kommt der raum-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

zeitlichen Dimension zu (biographisch beziehungsweise für eine einzelne Handlung); Warum – welche Begründungen werden gegeben/sind erschließbar; Womit – welche Strategien werden verwandt; Wozu – welche Konsequenzen werden antizipiert/wahrgenommen« (Mey/Mruck 2011: 39). Strübing (2014) sieht darin eine enge Anknüpfung an Alltagsheuristiken, da das Stellen derartiger Fragen auch im Alltag dazu dient, den Sinn von Ereignissen zu erschließen (vgl. Strübing 2014: 25). Diese Fragen führen auf eine systematische Anordnung der Kodes, die im Zusammenhang für ein der Forschungsfrage dienliches Phänomen stehen. Das Kodierparadigma wurde erstmals 1987 (dt. 1991) im Rahmen der Straussschen Weiterentwicklung der Grounded Theory veröffentlicht und setzt ursächliche Bedingungen, intervenierende Bedingungen, Handlungen und Interaktionen, Konsequenzen und Kontext in Beziehung zu einem zentralen in der Mitte stehenden Phänomen. In der Grounded Theory Literatur lassen sich verschiedene Darstellungen des Kodierparadigmas finden (vgl. u.a. Strauss/Cobrin 1990; Mühlmeyer-Mentzel/Schürmann 2011; Strübing 2014), wobei hier die Darstellung von Strübing (2014) gewählt wird:

Abb. 5: Kodierparadigma (eigene Darstellung in Anlehnung an Strübing 2014: 25)

Strauss und Corbin (1996) definieren und beschreiben in ihrem gemeinsamen Werk die einzelnen Aspekte des Paradigmas: In der Mitte steht das Phänomen, »die zentrale Idee, das Ereignis, Geschehnis, auf das eine Reihe von Handlungen/Interaktionen gerichtet ist, um es zu bewältigen oder damit umzugehen« (Strauss/Corbin 1996: 79). Das Phänomen entsteht durch Ereignisse oder Vorfälle, die sogenann-

3. Forschungsmethodisches Design

ten ursächlichen Bedingungen (vgl. ebd.). Eine genauere Beschreibung des Phänomens erfolgt durch den ›Kontext‹, der »den spezifischen Satz von Eigenschaften [darstellt], die zu einem Phänomen gehören […]. Gleichzeitig stellt Kontext auch den besonderen Satz von Bedingungen dar, innerhalb dessen die Handlungs- und Interaktionsstrategien stattfinden, um ein spezifisches Phänomen zu bewältigen, damit umzugehen, es auszuführen und darauf zu reagieren.« (ebd.: 80f.) Die Bedingungen, die auf Handlungs- und Interaktionsstrategien einwirken, werden als intervenierende Bedingungen bezeichnet. Darunter werden die Aspekte »Zeit, Raum, Kultur, sozialökonomischer Status, technologischer Status, Karriere, Geschichte und individuelle Biographie« (ebd.: 82) gefasst. Handlungen und Interaktionen sind auf jedes Phänomen gerichtet, sodass sich Handlungs- und Interaktionsstrategien herausarbeiten lassen. Diese sind prozessual, zweckgerichtet und zielorientiert (vgl. ebd.: 83) und bewirken bestimmte Ergebnisse oder Konsequenzen, die tatsächlich oder möglich sein können und in der Gegenwart oder in der Zukunft auftreten (vgl. ebd.: 85).

Abb. 6: Beispiel zur Herleitung eines Phänomens (eigene Darstellung)

Betrachtet man das im offenen Kodieren bereits erläuterte Zitat, so lassen sich Bezüge zu einem Phänomen herstellen:

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Das Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ steht für die Anstrengungen und hohen Aufwendungen des Spracherwerbs. Der Zitatteil ›And there is some gap between B1 and C1 because university wants C1. So when this between B1 and C1 we are very completley lost.‹ beschreibt das Phänomen näher, ähnliche Aussagen lassen sich auch in anderen Interviews wiederfinden, was die Relevanz dieser Kategorie für ein Phänomen bestärkt. Das Zustandekommen dieses Phänomens wird zusammenfassend als das ›Bestreben nach individuellem Fortkommen‹ erklärt und somit als Ursache benannt. Der Zitatteil ›I want to use my mind not my hands‹ geht auf diesen ursächlichen Zusammenhang ein und beschreibt den Wunsch nach Bildung und Fortschritt. Durch den intensiven Auswertungsprozess, das Wechselspiel zwischen offenem und axialem Kodieren, konnten eine Reihe relevanter Phänomene und Kategorien erarbeitet werden. Diese gilt es im folgenden Schritt des selektiven Kodierens erneut zu verdichten und eine Kernkategorie zu entwickeln.

3.3.4

Selektives Kodieren

Das selektive Kodieren stellt den nächsten und letzten Schritt der Datenauswertung dar. Es geht darum, das für die vorliegenden Daten zentralste Phänomen herauszuarbeiten und mit den anderen Phänomenen, Kategorien und Konzepten in Verbindung zu setzen. Strauss und Corbin (1996) beschreiben dies als »Prozess des Auswählens der Kernkategorie des systematischen In-BeziehungSetzens der Kernkategorien mit anderen Kategorien, der Validierung dieser Beziehungen und des Auffüllens von Kategorien, die einer weiteren Verfeinerung und Entwicklung bedürfen« (Strauss/Corbin 1996: 94). Die Kernkategorie weist verschiedene Eigenschaften auf. Sie ist zentral mit Verbindungen zu möglichst vielen Themen, d.h. Indikatoren sollen möglichst häufig aufzufinden sein. Darüber hinaus sollen Bezüge zu anderen relevanten Schlüsselkategorien erkennbar sein und somit die maximale Breite einer Thematik einschließlich Variationen abdecken. Weiterhin führt die Kernkategorie als Extrakt der Analyse zur Produktion von theoretischen Annahmen, Hypothesen und Verbindungen (vgl. Hülst 2010: 289). Dieser finale Schritt der Analyse vollzieht sich ähnlich wie beim axialen Kodieren. Die abschließende Integration ist ein komplizierter Prozess, der im Vergleich zum axialen Kodieren auf einer höheren und abstrakteren Ebene stattfindet (vgl. Strauss/Corbin 1996: 95). Dennoch muss auch auf dieser Ebene die Analyse beziehungsweise Integration dem vorliegenden Datenmaterial standhalten und immer überprüft werden. Strauss und Corbin (1990) veranschaulichen das dahinterliegende Beziehungsgefüge und die Tragweite der Kernkategorie, indem sie herausstel-

3. Forschungsmethodisches Design

len, »the core category must be the sun, standing in orderly systematic relationships to its planets« (Strauss/Corbin 1990: 124). Für die vorliegende Forschungsarbeit konnte in diesem dritten Kodierschritt aus insgesamt fünf zentralen Kategorien beziehungsweise Phänomenen eine Kernkategorie entwickelt werden, die eine übergeordnete Perspektive auf die gefundenen Phänomene ermöglicht und damit die inhaltlich relevanten Kategorien umfasst. Die Kernkategorie führt damit am Ende zur Beantwortung der leitenden Forschungsfrage. Eine detaillierte Hinführung zur Kernkategorie und der Erläuterung der damit verbundenen Phänomene erfolgt im folgenden Kapitel zur Darstellung der Ergebnisse.

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4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse des Forschungsprozesses dargestellt. Obgleich im Sinne der Grounded Theory »das publizierte Wort also nicht das letzte [ist], sondern […] nur eine Pause im nie endenden Prozess der Theoriegenerierung [markiert]« (Glaser/Strauss 1998: 58), gilt es hier die aus den Daten gewonnenen Erkenntnisse darzulegen. Die Erläuterung der sich daraus ergebenden zentralen Kernkategorie führt schlussendlich zur Beantwortung der eingangs formulierten Forschungsfrage. Dazu soll zunächst das zentrale Konstrukt dieser Arbeit ›Studium als Bildungserleben‹ und damit das Ergebnis des selektiven Kodierens erörtert werden. Für das Verständnis der Kernkategorie ist es darüber hinaus unumgänglich, auch die Phänomene als Ergebnisse des Axialen Kodierens in den Blick zu nehmen, die als Subkategorien die Kernkategorie spezifizieren und das ›Allumfassende‹ der Kernkategorie legitimieren: »The first step in integration is deciding upon a central category. The central, or as it is sometimes called, the ›core category‹, represents the main theme of the research. It is the concept that all the other concepts will be related to.« (Corbin/Strauss 2008: 104) Im folgenden Kapitel 4.1 soll daher also zunächst eine theoretische wie auch empirische Annäherung an die zentrale Begrifflichkeit des ›Bildungserlebens‹ erfolgen. Die Darstellung dieser Kategorie führt in einem weiteren Schritt (Kapitel 4.2) auf eine höhere Emergenzebene, ein »Zentralkonzept hoher theoretischer Integrationskraft« (Breuer 2010: 92). Eine zugehörige graphische Darstellung soll dabei helfen, die Zusammenhänge aufzuzeigen, und dient als ›roter Faden‹ durch die weitere Ergebnisdarstellung. Die für das Verständnis notwendigen Ergebnisse des Axialen Kodierens werden als ›Satelliten‹ in den Unterkapiteln 4.1.2, 4.2.3.1, 4.2.3.2 und 4.2.4.1, 4.2.4.2 erläutert. Um einzelne Aspekte zu belegen, werden Zitate aus dem vorhandenen Interviewmaterial angeführt. Die Zitate sind je nach Interviewsprache in deutscher oder englischer Sprache verfasst, und es erfolgt bewusst keine Übersetzung der englischen Zitate. Da für die Befragten in der Regel weder Deutsch noch Englisch die

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Muttersprache war und sie sich zum Zeitpunkt des Interviews häufig noch in der Phase des Spracherwerbs befanden, sind die Interviewzitate sprachlich durchaus fehlerhaft, was in der Darstellung nicht korrigiert wurde, um eine mögliche Verzerrung des inhaltlichen Sinngehalts auszuschließen. Auch können Zitate durchaus mehrfach auftauchen, um verschiedene Aspekte der Phänomene zu verdeutlichen. Parallel zur Darstellung der empirischen Ergebnisse erfolgen immer wieder Rückgriffe auf bereits ausgearbeitete Theoriebefunde. Gerade im Kontext der Grounded Theory wird immer wieder das Theorie-Empirie Verhältnis im Sinne der Theoretischen Sensibilität diskutiert (vgl. Strauss/Corbin 1996). Aust/Völcker (2018) konstatieren in dem Zusammenhang beispielsweise, dass »allein im reflexiven Verhältnis zwischen Empirie und Theorie grundlagentheoretische Erweiterungen wie auch methodologische Modifikationen« (ebd.: 135) möglich seien. In der vorliegenden Forschungsarbeit erfolgt eine intensive reflexive Auseinandersetzung zwischen Empirie und Theorie, die offengelegt und plausibilisiert werden soll, indem bereits in der Darstellung der empirischen Ergebnisse immer wieder Rückgriffe auf die bereits herausgearbeiteten theoretischen Befunde erfolgen.

4.1

Eine begriffliche Annäherung an das ›Bildungserleben‹

Die Kernkategorie ›Studium als Bildungserleben‹ steht im Forschungsprozess dieser Arbeit für den starken Wunsch und das Bedürfnis Geflüchteter, ihre Bildungsbiographie durch das Aufnehmen und Absolvieren eines Studiums im Aufnahmeland fortzusetzen. Das ›Bildungserleben‹ ist dabei ein sehr prägnanter Begriff, der sowohl mit einem starken Antrieb und gleichzeitig hohen Erwartungen an das Bildungssystem, als auch an das eigene Selbstverständnis verbunden ist. Bevor die Kernkategorie in ihrer abstrakten Form als die Grounded Theory dargestellt wird, gilt es, sich zum besseren Verständnis schrittweise aus den empirischen Zwischenergebnissen heraus der Kernkategorie anzunähern. In einem ersten Schritt soll daher eine begriffliche Annäherung an den sich herauskristallisierenden zentralen Begriff des ›Bildungserlebens‹ erfolgen. Dabei wird zunächst eine kurze theoretische Einordnung vorgenommen, bevor dann der Blick auf die zentrale Empirie erfolgt.

4.1.1

Theoretische Annäherung

Eine theoretische Perspektive auf den Begriff des ›Bildungserlebens‹ gestaltet sich nicht sonderlich einfach, da sich tatsächlich nur wenige explizite Bezüge finden lassen. Eine erste Rahmung zu diesem Begriff zeigt sich bereits in der Humboldt’schen Theorie. Aus bildungstheoretischer Sicht assoziiert er ein Bildungserleben beispielsweise mit Kraft und Freiheit (vgl. Humboldt 1792). Das Individuum bildet sich durch ›Kraft‹ angetrieben selbst aus und findet seine

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

größte Erfüllung »am meisten in den Momenten, in welchen [es] sich in dem höchsten Grade seiner Kraft und seiner Einheit fühlt« (Humboldt 1792: 48). Dieser Prozess vollzieht sich in und durch Freiheit, die es dem Individuum ermöglicht, ein »bildungsangemessenes Selbst-/Weltverhältnis zu entfalten« (Angenendt et al. 2019: 52). Kraft und Freiheit stellen damit zwei Merkmale dar, die den Prozess der Subjektwerdung zu einem positiv konnotierten Selbst-/Weltverhältnis werden lassen (vgl. ebd.). In diesem Verständnis eines ›Bildungserlebens‹ geht es also stärker um eine Transformation des Selbst. Wenngleich die Auseinandersetzung mit den Weltverhältnissen in der Humboldtschen Theorie als Teil der Subjektwerdung impliziert ist, liegt der Fokus hier mehr auf den Selbstverhältnissen. Für die befragten Geflüchteten in der vorliegenden Forschungsarbeit stellen aber gerade gesellschaftliche Veränderungen entscheidende Einflussfaktoren auf das Bildungserleben dar. Besonders die fluchtbedingten Veränderungen führen zu einer Veränderung des Bildungserlebens, sodass es hier einer erweiterten Perspektive bedarf, die über die Humboldt’sche Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse hinausgeht und eine stärkere Betonung der gesellschaftlichen Perspektive mit einbezieht. An dieser Stelle kann an die bereits in Kapitel 2.2.1 dargestellte Theorie transformatorischer Bildung angeknüpft werden. Nach Koller (2018) vollziehen sich Transformationsprozesse unter den Bedingungen gesellschaftlich ungleich verteilter Handlungsfreiräume der Individuen, Auseinandersetzungen mit den Selbst- und Weltverhältnissen werden durch Krisenerfahrungen initiiert und führen somit zu Bildungserfahrungen. Ein ›Bildungserleben‹ ist im Sinne Kollers damit beeinflusst durch die erlebten und zu bewältigenden Krisenerfahrungen, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse und somit auch Migrationsbewegungen einschließen. Eine weitere Facette des ›Bildungserlebens‹ greift bereits Stirner (1970) auf: »und je mehr wir uns fühlen, desto kleiner erscheint, was zuvor unüberwindlich dünkte« (Stirner 1970: 39), und weist einem Bildungserleben damit eine explorative Neugier und hohe Selbstwirksamkeitserwartung zu (vgl. auch Kergel 2020: 87). Im Sinne einer Dimensionalisierung kann das Bildungserleben positiv oder negativ konnotiert sein, beispielsweise, wenn ein Bildungsweg von Erfolg oder eben auch Misserfolg gekrönt ist. Erfolge können dabei an verschiedenen Maßstäben gemessen werden, wie guten Zeugnissen, erfolgreichen Bildungsabschlüssen oder auch Bildungserlebnissen jenseits institutioneller Rahmungen. Auch Misserfolgserlebnisse sind entsprechend vielseitig und reichen von nicht bestandenen Prüfungen bis hin zu Bildungsabbrüchen, die beispielsweise fluchtbedingt sein können. Die daraus resultierende hohe Antriebskraft der befragten Geflüchteten, Erfolgserlebnisse und damit ein positives Bildungserleben zu erreichen, einhergehend mit einer starken Zielorientierung, führen zu einer emotionalen Aufladung des Begriffs.

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Diese kurze theoretische Rahmung soll den folgenden Blick auf das in den vorliegenden Forschungsdaten liegende Verständnis des ›Bildungserlebens‹ sensibilisieren.

4.1.2

Phänomen ›Bildung erleben‹

Der Titel der Kernkategorie ›Studium als Bildungserleben‹ resultiert in den vorliegenden Daten aus dem im Prozess des axialen Kodierens generierten Phänomen ›Bildung erleben‹, welches im Folgenden im Sinne einer Kontexterläuterung und empirischen Hinführung zum Begriff des ›Bildungserlebens‹ dargelegt wird.

Abb. 7: Phänomen ›Bildung erleben‹ (eigene Darstellung)

Das Phänomen ›Bildung erleben‹ steht für die nach der Ankunft in Deutschland notwendige Bewältigung des Einstiegs in das deutsche Bildungssystem. Die Befragten bringen Wissen und Erfahrungen aus den nationalen Bildungssystemen ihrer Herkunftsländer mit, jedoch erweisen sich diese Erfahrungen anscheinend als wenig anschlussfähig an das neue Bildungssystem. Vor allem die Dauer des Spracherwerbs ist ein Faktor, der häufig im Vorfeld unterschätzt wird, was beispielsweise in der folgenden Äußerung eines Befragten deutlich wird: »Ich hab mir vorgestellt also so so wie mein Schwester gesagt hat, dass so sechs oder maximal ein Jahr dann bin ich mit der Sprache fertig. Aber jetzt bin ich schon seit eineinhalb Jahren und ich bin noch nicht fertig also bis, bis Oktober, dann hab

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

ich C1. Dann bin ich eigentlich fertig, das heißt zwei Jahre hat das gedauert von Anfang.« (I9: 374-377) Alle Befragten möchten ein Studium in Deutschland aufnehmen oder fortsetzen. Dafür ist es unumgänglich, die deutsche Sprache mit Niveau C1 zu erlernen, was den erhofften Studienbeginn zeitlich deutlich verzögert. Zudem sind bürokratische Hürden beispielsweise in der Anerkennung von mitgebrachten Bildungsabschlüssen oder in der Finanzierung des Studiums beziehungsweise der akademischen Ausbildung zu überwinden, was beispielsweise folgende Befragte berichten: »Ich musste, ich musste meine Dokumente mitbringen, also die Zeugnisse. Aber ich konnte nicht, weil ich über das Meer gekommen bin, deswegen hab ich mein mit meinem Vater gesprochen und hat er mir das geschickt. Äh ich hab das bekommen, aber im Moment hab ich da, ich hab damit nichts zu tun. Vielleicht wenn ich mich anmelden möchte brauch ich das (.) ähm ja und (.) das erste Mal als wir mit eine Frau von der Stiftung uns getroffen haben, hat sie uns kaputt gemacht, mich und meine Schwester. Hat sie gesagt, ohne Sprache das geht nicht. Ihr müsst zuerst die Sprache lernen, ihre Zeugnisse hier bedeutet nichts, ihr müsst von Anfang von Anfang an wiederholen und so.« (I9: 386-393)   »You have finished your study, your master degree in Syria, so you will study in Germany PhD, but BAföG will not pay for PhD. (2) If I know this facts before, I will say that I will study Master not PhD. But (.) so they will not pay. And I am in trouble, I try to find a job, by the way I don’t look for money from stupid (.) from smart Jobcenter or smart people in BAföG. I don’t look for this but I have in the first I have to find a job (.) but there is no jobs here. I didn’t find jobs without Deutsch.« (I5: 800-805)   »[…] luckily äh unluckily ähm a little bit I am now thirtyfive years old so it’s a bit hard for me to to you know to start studying here because of the financing problems äh because BAföG don’t pay money for if I want to study the Master zu äh zum Beispiel. I can’t I have to äh you know they pay only for thirtyfive years old, after that they don’t pay.« (I1: 36-40) Dies deutet bereits zu Beginn der Erläuterung des Phänomens auf Erschwernisse im Bildungserleben hin, die im weiteren Verlauf noch stärker zum Tragen kommen werden. Auch in theoretischer Hinsicht sind die genannten Aspekte bereits in anderen Studien herausgearbeitet worden (vgl. Kapitel 2.1.2): Studiengebühren stellen für geflüchtete Studierende häufig eine zu überwindende Hürde dar, auch BAföG Leistungen sind nur bedingt abrufbar, da die notwendigen Kriterien teilweise nicht erfüllt werden können (vgl. Anselme/Hands 2010; Avery/Said 2017, Hohberger 2017; Prümm/Trauerschmidt 2016). Es deutet sich an, dass die vorliegenden

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Daten auch den von Schammann/Younso (2016) kritisierten Mangel an Bearbeitung derartiger lebenspraktischer Themen im Hochschulkontext unterstützen. Die genannten langen Wartezeiten wurden bereits in einer Studie von Schwaiger/Neumann (2014) belegt, wenngleich sich auch dort der Versuch einer Überbrückung der Wartezeiten zeigt, was in den hier vorliegenden Daten an dieser Stelle noch nicht ersichtlich wird. Auch das Thema ›Spracherwerb‹ wird bereits in den vorliegenden Forschungsbefunden auf einer formalen Ebene im Hinblick auf zu bewältigende Anforderungen diskutiert. Jedoch findet die individuelle und emotionale Bedeutung des Spracherwerbs für geflüchtete Studierende nur marginale Berücksichtigung. An dieser Stelle kann die vorliegende Arbeit also einen Beitrag leisten, da das Thema ›Spracherwerb‹ für die Befragten eine bedeutende Rolle spielt und eines der zentralen Themen im Kontext des Bildungserlebens darstellt (vgl. Kapitel 4.2.3.1). Der Titel des aus der Empirie heraus formulierten Phänomens ›Bildung erleben‹ verdeutlicht somit zusammenfassend und sinnbildlich die neuen Anforderungen, die die Befragten einerseits so nicht erwartet haben und andererseits aus dem Bildungssystem ihres Herkunftslandes, in dem sie sich auskennen und Bildung erfahren haben, so nicht kennen und praktisch erst in Deutschland erfahren. Die Konfrontation besteht in diesem Zusammenhang darin, dass die Befragten mit Formen von Bildung vertraut sind, sich entsprechend in ihrem Studium, ihren Themengebieten und ihrem Bildungssystem auskennen und mit diesen Erfahrungen hoffnungsvoll in Bezug auf Passung und Anschlussfähigkeit ihrer Bildung nach Deutschland kommen. Das deutsche Bildungssystem folgt jedoch ganz anderen Regelungen, Prämissen und praktischen Umsetzungen, wodurch es zur Klärung bürokratischer Fragen und auch Verzögerungen kommt. Dies impliziert also den Wechsel der Befragten in ein völlig neues und anderes System der Bildung und macht damit ›Bildung‹ selbst zu einer neuen Herausforderung. Die Hoffnung auf ein positives Bildungserleben scheint auf die Probe gestellt zu werden. Kontext Die Kontextbedingungen des Phänomens ›Bildung erleben‹ sind vor allem von drei Faktoren geprägt, die als eher negativ erlebt werden. Das Erlebnis ›Bildung‹ wird von Veränderung begleitet. Während ein Befragter beispielhaft eher implizit die Veränderung erwähnt, indem er nahezu schmerzlich auf eine sehr schöne Zeit im Bildungssystem seines Herkunftslandes zurückblickt, stehen in weiteren Interviews eher praktische Probleme beziehungsweise Veränderungen beim Einstieg in das Bildungssystem im Vordergrund, beispielsweise indem zunächst ganz basal das Alphabet erlernt werden muss: »[…] und äh die Zeit war sehr schön und ich vermisse das, immer noch (.), ja (.) ja.« (I15: 96-97)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

  »My problems started at the university. Yes it was you know […] because yes that’s what one of my problems because we used to learn you know in Arabic letters like in mathematics also but in university we have to make in Latin äh letters […]. So so everything was new, ja, that’s what that was one of my problems also.« (I1: 204-207) Die Veränderung drückt sich also darin aus, dass Lernsituationen und Inhalte nicht mehr dem entsprechen, was eigentlich gewohnt und bekannt ist. Mit Veränderungen sind auch immer Selbstwirksamkeitsprozesse verbunden beziehungsweise Emotionen, die aus diesen Veränderungen resultieren. Die Befragten zeigen beispielsweise ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit. Bildungskarrieren in den Herkunftsländern waren geprägt von guten Leistungen und Erfolg. Dies zeigt sich hier in dem Versuch, an diese Leistungen anzuknüpfen beziehungsweise aus diesen Erfahrungen Potenziale für die Konfrontation mit und Bewältigung von neuen Herausforderungen in Bezug auf Bildung zu generieren. »Was was ich mir wünsche, dass ich das schaffen kann. Mhh und was ich weiß, ich weiss schon, dass wenn ich etwas machen möchte oder will, mach ich das auf jeden Fall. (.) Ich wollte Europa erreichen und ich konnte Europa erreichen.« (I7: 408-482)   »Ich will weiter gehen mit der Arbeit und wenn ich fühle mich auch gut mit der Sprache, ja möchte ich. Aber wenn ich meinen Master machen kann (2) ich denke immer (.) ja warum nicht. Als Frau und das ist gut auch.« (I2: 390 392) Mit der Konfrontation mit neuen Herausforderungen ist bei einigen Befragten ebenfalls ein Gefühl der Enttäuschung verbunden, das bereits aus dem Herkunftsland mitgebracht wird und zu einer Hoffnung auf ein besseres Leben führte. Die Enttäuschung bezieht sich beispielsweise auf gesellschaftliche Systeme und Strukturen in den Herkunftsländern, aber auch auf Bezugspersonen, in diesem Fall insbesondere den Vater, der seinen Sohn nur in Bezug auf Bildung und Erfolg sieht und weniger dessen persönliche Belange: » […] but there is like a level of parts you can get for hard working and then there is the level afterwards that you get for knowing the doctor […] And (.) that’s why I always wanted to come here (.) and study. And äh I know like the openmindness that äh is here in Europe it’s not (.) I mean in Syria you had to follow you (.) there is one way of living and you had to live by it.« (I3: 78-88)   »Vor zwei Tagen ja ja ich sprechen mit ihm und nicht sagen hallo wie gehts oder was machst du, oder wo bist du. Was äh, was hat gesagt, was machst du für deine Uni und was machst du für dein Studieren. Ich sage, Papa, du musst sagen, hallo,

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du musst wie geht’s, was machst du, nicht was machst von deine Uni und ja.« (I12: 142-145) Dem Phänomen ›Bildung erleben‹ stehen also Menschen gegenüber, deren Situation zum Zeitpunkt der Befragung durch ein hohes Maß an Emotionalität und Ambivalenz geprägt ist. Zum einen bringen die Befragten, wie bereits beschrieben, häufig ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit mit. Auf der anderen Seite sind ihre Flucht und die Erinnerungen an die oftmals zerrütteten Systeme und Strukturen der Herkunftsländer geprägt von Enttäuschung. Diese Ambivalenz kann womöglich auch Einfluss auf ein Gelingen der beschriebenen Konfrontation in Deutschland haben. Das sich hier zeigende Bildungsverständnis, das Bildung in den Kontext von Veränderung und Wandel setzt, knüpft in einer theoretisch fundierten Perspektive an die Ansätze der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung an. Im Sinne einer transformatorischen Bildung wird Bildung verstanden als Prozess der Aushandlung von Welt- und Selbstverhältnis, welches sich im Kontext von Krisenerfahrungen transformiert (vgl. Koller 2018). Als Krisenerfahrungen werden dabei auch Migrations- beziehungsweise Fluchtprozesse angesehen, wobei diese Verortung durchaus vorsichtig zu behandeln ist, da Migrations- und Fluchterfahrungen nicht immer zwangsläufig mit Krisenerfahrungen einhergehen müssen. Kokemohr (2007) beschreibt ebenfalls den Mehrwert von Migrationserfahrungen für den Umgang mit Herausforderungen in Bildungsprozessen. Auch nach von Rosenberg (2011) vollzieht sich Bildung in Wandlungsprozessen. Veränderungen sind somit einerseits mögliche Initiatoren für Bildungsprozesse, andererseits zeigt sich aber auch in der vorliegenden Empirie, dass Veränderungen notwendig sind und hingenommen werden, um Bildung formal fortsetzen zu können, wenngleich dies nicht den bisherigen Erwartungen der Befragten entsprach. Eine dem zunächst augenscheinlich entgegenstehende große Selbstwirksamkeit der befragten Geflüchteten in Bezug auf die Darstellung ihrer bisherigen Bildungserfolge kann als mögliche Strategie gedeutet werden, um die Wandlungsprozesse bewältigen zu können. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Korntheuer (2016), die in ihrer Studie zur Bildungsteilhabe junger Geflüchteter einen ›spirit of going to school‹ und eine damit verbundene starke Fokussierung auf Bildung wahrnimmt. Das sich herauskristallisierende, durch Ambivalenz geprägte Empfinden der befragten Studierenden spiegelt sich theoretisch in den durch ›Biographie‹ und ›Migration‹ geprägten Zugehörigkeitsdiskursen wider, die an späterer Stelle detaillierter betrachtet werden, da es zunächst einer weiteren empirischen Annäherung an die genannten Diskurse bedarf. Für eine Charakterisierung des ›Bildungserlebens‹ zeigt sich an dieser Stelle, dass das zunächst positiv konnotierte Erleben offensichtlich auf guten Leistungen, also auf messbaren Erfolgen und damit eher formalen Kriterien zu beruhen

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

scheint. Die möglicherweise durch vorherrschende Konflikte bedingten Veränderungen des gesellschaftlichen und auch politischen Systems im Herkunftsland führen dazu, dass das Bildungserleben insofern in Frage gestellt wird, als dass es dem mit einem positiven Erleben einhergehenden Wunsch nach Kontinuität und Fortführung nur noch einschränkend genügen kann. Eine Veränderung dieser Situation wird durch eine Flucht nach Europa beziehungsweise Deutschland evoziert. Es wird also ein Wandel angestrebt, um Bildung fortsetzen zu können. Die Perspektive der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung hinsichtlich eines notwendigen biographischen Wandels zur Hervorbringung von Bildungsprozessen scheint also zunächst mit einem Wandel im Bildungserleben einherzugehen, wenngleich die Zielsetzung immer einem positiven Erleben entspricht. Ursachen Um sich dieser Analyse zum Bildungserleben weiter anzunähern, sollen die vielfältigen und komplexen Ursachen, die sich in der vorliegenden Untersuchung für die im Bildungserleben implizierten Ambivalenzen zeigen, untersucht werden. Zum einen verfolgen die Befragten den hier betitelten ›European Dream‹. Die Befragten haben eine bestimmte Vorstellung von Europa, von Deutschland und dem, was sie dort erwartet. Vorstellungen und Erwartungen sind ausschließlich vielversprechend und repräsentieren eine deutliche Verbesserung der Lebens- und Bildungssituation. Ein Befragter erklärt in diesem Zusammenhang exemplarisch, dass er immer schon in ein anderes Land wollte, wo er bessere Bildungsmöglichkeiten wahrnehmen könne, die er in einem Land außerhalb Syriens, in diesem Fall aufgrund der zuvor erzählten Reiseroute, in Europa sieht: »And I knew like I always wanted to go to another country where I could get an education that’s in a level for with my performance for meine Leistung. So in Syria didn’t offer that, it didn’t offer proper education so I knew I had to like (.) travel.« (I3: 185-187) Die Vorzüge Deutschlands werden beispielsweise in der grundsätzlichen Ordnung gesehen, die im Herkunftsland so oft nicht vorgefunden wurde. Der ›European Dream‹ kann in dem Zusammenhang gedeutet werden als Tatkraft und grenzenlose Verwirklichung. Nach dem Wunsch, Europa zu erreichen und dieses tatsächlich geschafft zu haben, scheint alles möglich zu sein und keine Chance mehr verwehrt. »Ähm aber die, das System hier, es ist wirklich nett, richtig richtig schön. Alles ist vorbereitet, alles in Ordnung, nicht chaotisch wie bei uns im Land.« (I7: 347-349)   »Ich wollte Europa erreichen und ich konnte Europa erreichen.« (I7: 481-482) Der für alle Befragten sehr hohe Stellenwert von Bildung äußert sich darin, dass Bildung als eine Lebensaufgabe gesehen wird. Für viele Befragte ist es nahezu un-

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vorstellbar, ohne Bildung im Allgemeinen, Lernen oder die Fortsetzung ihrer bisherigen Bildungslaufbahn weiter zu leben, wie z.B. auch der folgende Befragte konstatiert: »When I stop learning I feel like I am dead or something.« (I1: 24-25) Im weiteren Verlauf des Interviews begründet er die Notwendigkeit von Bildung darin, dass er etwas in seinem Leben erreichen möchte, und sieht den Weg dahin über Bildung und Lernen: »So maybe that’s about my previous life so after all I decided to come to here ähm also because I want (.) to keep learning and äh (.) trying to achieve something in my life.« (I1: 34-36) Bildung wird darüber hinaus auch mit Selbstfindung gleichgesetzt, was sich exemplarisch besonders prägnant bei einem der befragten Geflüchteten zeigt. Nach einigen Umwegen und einer kurzzeitigen Berufstätigkeit bei einer Mineralöl-Firma ist der Befragte wieder an eine Universität gewechselt und hat sein Masterstudium absolviert, nach dem er nun eine Promotion anstrebt: »So I concentrate in Ma- in Master Degree because I found myself in educational way. (.) Not in work or in äh work in field of engineering äh petrol petrol company in field of petrol company or in normal äh comp- äh ja I found myself in education.« (I5: 102-105) Mit der Lebensaufgabe Bildung geht auch eine große Freude an Bildung einher. Bildung wird als Spaß beschrieben, etwas, das Energie verleiht und auch mit Freundschaften verbunden wird. Diese Assoziationen führen auch zu guten Erinnerungen an die bisherige Bildungslaufbahn, wie beispielhaft der folgende Befragte darlegt: »I was a good student at school and you know it was something like fun. I was no more you know maybe more energy energied have more energy and […] like to tell like to say some jokes and you know I have a lot of friends so it was it was you know äh it was good days at school. That’s what I remember, I like it you know.« (I1: 198-201) Bildung scheint darüber hinaus eine ganz besondere Atmosphäre zu vermitteln, die offensichtlich besonders fasziniert. Der Umgang mit gebildeten Menschen aus dem akademischen Bereich wird als Genuss empfunden, Gesten und Alltagsverhalten von Akademiker/-innen werden als etwas Besonderes, etwas Elegantes beschrieben. Aus diesem Verhalten folgt der Wunsch nach noch mehr Bildung, was mit einer starken Sehnsucht gleichzusetzen zu sein scheint. »Ich mag diese Atmosphäre als akademische Leute. Das fasziniert mich. Sie sind ganz anders, die alle Leute sind gut. Aber ich meine, sie haben bestimmte Wor-

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

te, sie haben (.) sie sind de- weil sie haben viele Vorlesung äh sie waren in viele Vorlesung. Das das kommt automatisch, sie wissen genau so was ist Verhalten, (.) elegantes Verhalten, das das wirklich fasziniert mich. Zum Beispiel wenn du sprichst ich ich spreche nicht, wenn diese diese Details kleine Details das fasziniert mich. Besonders mit akademische Leute. Sie möchten mehr lernen, mehr lesen.« (I2: 392-402) Schließlich äußert sich die Freude an Bildung auch ganz einfach darin, dass formale Zugangskriterien erfüllt werden und beispielsweise eine Studienzugangsberechtigung ausgestellt wird und damit die Möglichkeit besteht, auch in Deutschland ein Studium aufnehmen zu können: »Und ja als ich ähm das Bescheinigung, dass ich an Uni studieren kann, habe ich mich richtig richtig gefreut.« (I7: 343-344) Eine weitere Ursache dafür, dass Bildung in Deutschland für die Befragten zu einem Erlebnis mit neuen Herausforderungen wird, liegt auch darin, dass die Befragten Träume verfolgen und erfüllen möchten, die im Zusammenhang mit Bildung beziehungsweise ihrer Bildungskarriere stehen. Die im Phänomen verwendete prägnante Formulierung ›gut sein, um Träume zu erfüllen‹ bezieht sich auf den Wunsch nach einer besseren akademischen Ausbildung. Vor allem sind damit Studienorte beziehungsweise -inhalte gemeint, die ein adäquates und erstklassiges Bildungsniveau bieten und unabhängig von der familiären und finanziellen Situation zugänglich sind. Damit einhergehend geht es auch hier wieder um den Wunsch nach einer Fortsetzung der akademischen Laufbahn und somit auch um den Zugang zu Bildungsabschlüssen. »I always dreamed that I would like studying in a more developed country. That would offer me these opportunities because in Syria how much äh however äh smart or hardworking you are. You don’t get the same treatment as some other people who come from rich families and families of äh responsibles in the government or stuff.« (I3: 69-76)   »I have to study more about communications about optical networks about I have a lot (.) very very very many things, many topics I have to know and it’s the PhD it’s opportunity for for me to go with this äh ocean it’s like ocean and I (.) I (.) I have just a bottle of knowledge from this ocean. So, it’s my opportunity my dream is to compl- to continue my PhD to be able to work in Universität.« (I5: 391-395) Des Weiteren möchten die Befragten ›gut sein‹ beziehungsweise gute Bildungsleistungen erbringen, um der Armut zu entfliehen, und nehmen daher die Herausforderungen des neuen Bildungssystems im Aufnahmeland Deutschland an und versuchen, diese zu bewältigen. In den von den Befragten beschriebenen Herkunfts-

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ländern herrschen große Unterschiede im Bildungssystem für Menschen mit gutem oder eher schlechtem finanziellen Hintergrund. Die finanzielle Situation der Familie hat Einfluss darauf, welche Schulen und Bildungsinstitutionen die Kinder besuchen können und damit einhergehend, welche Bildungsqualität ihnen zuteilwird, was die folgenden Befragten beispielhaft eindrucksvoll darlegen: »I will mean äh how I make my education in Syria. Okay, äh::m in Syria (6) mh first I am from a family they concentrate on education very very well. Ähm (.) my father do his done his best to improve good environment for us to learn. Because in Syria it’s very hard for poor family. Ähm to have a good educational education environment for their for their children because you know it’s very difficult if the family is poor, it’s very difficult for them to put their child children children, children in ähm in good institute or in good schools.« (I5: 6-16)   »Dann ähm weil ich kein Geld habe, musste ich zu eine Institut gehen. (.) Und habe ich dort zwei Jahre studiert und es war die erste Studenten, hatte die besten Noten. Dann habe ich von meinem Institut sofort zu Uni ähm (2) ich hab das, weil ich die erste Studenten war. Und dann bin ich in die Uni ähm ich habe Agrarwissenschaft studiert im Bereich Lebensmitteltechnik und Lebensmittelherstellung.« (I15: 8-12) Es wird deutlich, dass gute Noten und gute Bildungsabschlüsse scheinbar die schlechte finanzielle Ausgangslage etwas kompensieren können, was den Wunsch und das Streben nach Bildung, um der Armut zu entgehen, unterstreichen. Dies ist insofern interessant, als dass die Befragten eine ähnliche Situation wie auch in Deutschland hinsichtlich der Bedeutung des familiären Hintergrundes in Bezug auf Bildungserfolge beschreiben. Rokitte (2012) hat herausgearbeitet, dass der familiäre und der sozioökonomische Hintergrund gerade im Migrationskontext hemmende Faktoren auf die Bildungsteilhabe in Deutschland sein können. Auch Schwendowius/Thoma (2016) weisen der familialen Herkunft eine Relevanz zu. Für die hier befragten Studierenden scheint sich also das ›Statuserleben‹ zu wiederholen, dem sie eigentlich durch eine Flucht zwecks Fortsetzung der Umsetzung ihrer Bildungsziele entfliehen wollten. Das Bildungserleben scheint sich insofern möglicherweise zu wiederholen und auch zu verstärken, indem die als durchaus belastend und negativ empfundenen Kontextbedingungen teilweise auch in Deutschland relevant sind, obwohl doch der Wunsch nach einer nahezu bedingungslosen Anschlussfähigkeit von Bildung überhaupt erst handlungsleitend war. Dies unterstreicht noch einmal den emotionalen Gehalt eines ›Bildungserlebens‹. Strategie Im Umgang mit diesem ›Bildungserleben‹ legen die Befragten den Fokus daher auf die bereits angedeutete Präsentation ihrer Selbstwirksamkeit. Sie berichten

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

überschwänglich von ihren Kenntnissen und Fähigkeiten und betonen in auffälliger Weise ihre herausragenden Leistungen in Form von Noten und Bildungsabschlüssen. Beispielhaft betont ein Befragter zunächst die Rolle seiner Eltern, die ihm die beste Bildung an einer katholischen Privatschule ermöglicht haben, und verweist dann im weiteren Verlauf des Interviews auf seine daraus resultierenden persönlichen Fähigkeiten: »Ich bin in eine privat- katholischen Schule gegangen, also mein Eltern haben immer für mich gesorgt, haben es möglich gemacht, dass ich die beste Bildung habe (.) und ja, so I went to this catholic school and I had always like (.) very good marks.« (I3: 39-42)   »But I was a hard working student, I was a smart student and I always wanted the best education (.) and so that need for that good university life was (stayed) with me.« (I3: 183-185) Die Darstellung der persönlichen Fähigkeiten geht noch einen Schritt weiter, indem häufig das eigene Wissen über das der unterrichtenden Lehrkräfte in der Schule im Herkunftsland gestellt wird. Zudem wird die Lehrqualität in der Universitätsausbildung kritisiert. Auch dort werden die eigenen Fähigkeiten beispielsweise im Erklären der Vorlesungen gegenüber Mitstudierenden hervorgehoben, was sich exemplarisch im folgenden Zitat zeigt: »In Schulzeit war ich die Lehrerin. Ja ich war besser als die Lehrerin. Außer in Englisch, wir hatten sehr sehr gut Englisch Lehrer. Aber die war war ich besser als sie. Ähm (.) auch in der Uni manchmal haben wir die äh Vorlesung äh gelassen. Und ich sitze mit meinen Freundinnen zusammen und ich erkläre die Vorlesung und das war besser als die Dozent.« (I8: 182-185) Die Präsentation der Selbstwirksamkeit gipfelt bei dem folgenden Befragten darin, dass er schon während der Prüfung sicher sein kann, dass er eine gute beziehungsweise sehr gute Note für seine Leistung bekommt: »Ja die Prüfung, wenn ich eine Prüfung mache, dann bin ich ganz sicher, dass ich gute Noten dann bekomme, dafür bekomme. Und (.) ja dann bekomm ich zehn äh also bei uns nicht eins, eins ist die höchste, sondern zehn. Dann bekomm ich fast immer zehn. Und das war sehr gut bei mir. Das war schön- was schönste erlebt.« (I9: 163-167) Die Präsentation der Selbstwirksamkeit zeigt sich sehr deutlich in nahezu allen geführten Interviews und scheint damit eine zentrale Rolle zu spielen und der Inbegriff des Bildungserlebens zu sein. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle in besonderem Maße auch die Rolle der Forscherin zu reflektieren ist, die in eben dieser Forscherinnenrolle dem akademischen Milieu zugehörig ist und damit

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das repräsentiert, wonach die Befragten zu streben versuchen. Dies kann möglicherweise auch Einfluss auf die Interviewsituation haben, was in Kapitel 3.1.6.1 (die Rolle der Forscherin) bereits detaillierter erläutert wurde. Intervenierende Bedingungen Das, was die Strategie der Präsentation der Selbstwirksamkeit erst ermöglicht und beeinflusst, die intervenierenden Bedingungen, können in extrinsische und intrinsische Faktoren unterschieden werden. Extrinsisch motivierte Faktoren sind die Einflüsse, die nicht von den Befragten selbst ausgehen, sondern von außen bestimmt werden. Für die in dieser Studie Befragten scheint vor allem der familiäre Druck sehr hoch zu sein. Der Vater nimmt eine Schlüsselfigur im Rahmen der Fremdbestimmung ein, gute Leistungen und damit verbundene Bildungskarrieren werden häufig ihm gewidmet. Auch der folgende Befragte stellt in seinen Aussagen explizit den väterlichen Einfluss dar: »Und äh ich äh immer in der Schule eins für meine Klasse, ja und mein Vater immer sagt für mich, du, du musst lernen, du musst studieren, du musst lernen. Nur nur ich möchte (.) du äh gehst zur Uni und fertig. Ja nur er möchte und jetzt auch, ja, er sagt mir im Telefon und sagt nur und Uni Uni Uni Uni, nur sagt Uni Uni ((lacht)) ja, er nur möchte das. Und äh natürlich auch arbeiten.« (I12: 43-49) Dieser geht sogar so weit, dass der Befragte etwas enttäuscht wirkt, da sich der Vater ausschließlich für das Fortkommen an der Universität interessiert und nicht auf das allgemeine Wohlbefinden seines Sohnes eingeht: »Vor zwei Tagen ja ja ich sprechen mit ihm und nicht sagen hallo wie gehts oder was machst du, oder wo bist du. Was äh, was hat gesagt, was machst du für deine Uni und was machst du für dein Studieren. Ich sage, Papa, du musst sagen, hallo, du musst wie geht’s, was machst du, nicht was machst von deine Uni und ja. Er sieht sehr äh:: studiert und lernen und die (.) immer zu uns er hat gesagt, du musst lernen, du musst studieren, du musst lernen. Ja, und wirklich ich studiere nur für meinen Vater. Nur für meinen Vater ich studiere, ja.« (I12: 142-148) Die Darstellung der Selbstwirksamkeit wird ebenfalls beeinflusst durch eine Form von Zwang, der von außen an die Befragten herangetragen wird. Häufig wird in diesem Zusammenhang das Verb ›müssen‹ verwendet. Dieses drückt damit die herangetragenen Erwartungen aus. Ein Befragter geht in diesem Zusammenhang auf die Anforderungen der Universität ein und erklärt, dass er für die Universität viel lernen musste und auch immer noch muss: »Wir wir mussten oder wir müssen auch viel viel lernen, viel für Uni tun.« (I7: 346347)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Auf der anderen Seite erleben die Befragten aber auch Freude und Spaß, wenn gute schulische oder universitäre Leistungen erbracht werden und die Befragten in ihrer Bildungskarriere vorankommen: »When I pass a level you was (.) you come they make a party for you and you go out and that was very good.« (I11: 65-66) Neben den genannten extrinsischen Faktoren beeinflussen auch die intrinsisch motivierten Bedingungen das Gelingen der Strategie. Hier sind vor allem eine ausgeprägte Willensstärke, Leichtigkeit und der Umgang mit Problemen zu nennen. Die Befragten haben genaue Vorstellungen von dem, was sie erreichen möchten und wirken sehr selbstsicher in Bezug auf ihre Erfolgschancen in der Zukunft. Dies zeigt sich in der sprachlichen Darstellung vor allem in dem häufig verwendeten Ausspruch ›ich will‹: »Mhh und was ich weiss, ich weiss schon, dass wenn ich etwas machen möchte oder will, mach ich das auf jeden Fall.« (I7: 480-481)   »Ich will weiter gehen mit der Arbeit und wenn ich fühle mich auch gut mit der Sprache, ja möchte ich. Aber wenn ich meinen Master machen kann (2) ich denke immer (.) ja warum nicht. Als Frau und das ist gut auch.« (I2: 390-392) Der Begriff der Leichtigkeit drückt aus, dass es den Befragten scheinbar bisher nicht schwergefallen ist, ihre Bildungsziele und -abschlüsse zu erreichen. Der folgende Befragte verwendet bei der Beschreibung seiner Bildungslaufbahn häufig das Verb »absolvieren«, was beispielsweise als Synonym für »etwas ableisten«, »etwas durchlaufen«, »etwas bestehen« verstanden wird und damit impliziert, dass etwas ohne besondere Schwierigkeiten und Anstrengung bewältigt wird. Dieser Zusammenhang wird hier als »Leichtigkeit« gedeutet: »Ähm habe ich ungefähr fünf Jahre studiert, äh (.) bin ich ähm absolviert, dann fange ich an zu unterrichten. Ich hab das an die Uni, weil ich einer von den besten war. Und (.) dann habe ich auch meinen Master und bei (.) mh Master war ich die Beste und hatte die beste Note überall in die Geschichte von unserer Uni (.) und äh hab ich das absolviert.« (I15: 13-16) Ein weiterer Befragter drückt Leichtigkeit in der Beschreibung des Lernens aus. Er sitzt im Unterricht und hört zu oder liest etwas und hat damit schon die Lerninhalte verstanden und verinnerlicht, ohne zusätzlichen Aufwand außerhalb des Unterrichts: »Äh (.) nur ich (.) ich sitzen in Klasse und lesen und verstanden, hören und verstehen, okay.« (I12: 60-61)

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Bei dem Umgang mit beziehungsweise der Bewältigung von Problemen erläutert ein Großteil der Befragten, dass sie nie mit Problemen konfrontiert wurden. Die Darstellung der Schul- und eventuellen Universitätszeit ist anscheinend durchweg positiv und nur mit guten Erinnerungen und guten Leistungen verbunden, was folgende Beispiele belegen: »And because I was good you know also at subjects and notes so the teachers like me, liked me and also the my friends liked, so I had good days. I didn’t have any problems with this.« (I1: 201-203)   »No, it was not any problem, äh really, I don’t remember any important problem that I faced.« (I13: 86-87) Das hier deutlich werdende Bewusstsein des Nicht-Vorhandenseins von Problemen stärkt die Strategie und erleichtert die Präsentation der Selbstwirksamkeit. Ausschließlich gute Schulleistungen und ggf. gute universitäre Leistungen, verbunden mit sozialer Anerkennung, stärken das Selbstbewusstsein und damit auch die Selbstwirksamkeit der Befragten. Es erscheint nur konsequent, dass die befragten Studierenden nach ihrer Flucht und Ankunft in Deutschland versuchen, an diese erlebten Erfolge anzuknüpfen und ihre Selbstwirksamkeitspotenziale aktivieren. Was diese Strategie jedoch tatsächlich bewirkt, soll im Folgenden weiter erläutert werden. Konsequenzen Die angewendete Strategie lässt zunächst vermuten, dass die Befragten aufgrund ihrer Kenntnisse, ihrer Bildungserfolge und Erfahrungen den Übergang beziehungsweise Einstieg in das deutsche Bildungssystem relativ problemlos meistern können. Es zeigt sich jedoch, dass bei den Befragten aus der Strategie ›Präsentation der Selbstwirksamkeit‹ eher ein Gefühl der Unsicherheit folgt und Bildung den Charakter der Leichtigkeit etwas verliert; stattdessen Bildung vielmehr als Anstrengung beziehungsweise Arbeit gesehen wird. Ein Gefühl der Unsicherheit zeigt sich bei dem folgenden Befragten beispielsweise darin, dass er am Ende des Interviews erklärt, dass er eigentlich gar nicht weiß, wie er seine Bildungskarriere auf institutioneller Ebene fortführen kann. Er berichtet von Problemen bezüglich der Finanzierung der sprachlichen Ausbildung und muss nun die letzten beiden Niveaustufen zu Hause alleine lernen, um die Sprachqualifikation für die Bewerbung um einen Studienplatz zu erhalten, was implizit eine gewisse Unsicherheit ausdrückt: »Maybe (2) let Jobcenter pay not for all of course it costs a lot of money I know. But if (.) which (.) for some people who proved that you know, they learn faster, they want to learn, they want to educate themselves you know. They have some äh

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

degrees from their homeland you know. So maybe it’s good idea to let them also (2) learn more, you know. Now I’m planning to learn B2 and C1 alone (.) at home, you know. Because, what shall I do? There is no other option you know. (.) Yes, so. Maybe it’s that’s what I (.) one of the most also problems here I faced you know. I I it happened to me you know.« (I1: 347-353) Ein weiterer Befragter beschreibt ebenfalls am Ende des Interviews nach einer ausführlichen Darstellung seiner guten Leistungen und Erfolge in Bezug auf Bildung im Herkunftsland, dass er jetzt in Deutschland durch die Erlebnisse der Flucht viele der gelernten Inhalte vergessen habe. Er deutet seine Unsicherheit an, demzufolge er nicht einschätzen könne, inwieweit sein Wissen für das deutsche System eigentlich genüge. »Also jetzt hab ich alles vergessen, was ich gelernt habe, aber vielleicht mit dem Zeit kommt das alles. Ob das hilft oder nicht, ich weiß nicht. Weil wir ähm äh am meisten haben wir alles selber gelernt, nicht nur ich, sondern auch mein mein Bruder. (2) Äh vielleicht ähm sind wir schwach beim Basis (3). Ja ich weiß nicht, ich kann das äh jetzt nicht sagen. Ich muss zuerst probieren.« (I8: 337-341) Das Gefühl der Unsicherheit gipfelt sogar darin, dass Gefühle der Angst beschrieben werden: »Jetzt ich mache Deutschkurs. Ich hab kein Gefühl. (2) Angst. (.) Ich habe Angst. Wirklich, ja. (.) Ä::hm ja, weil das ist, was was kommt, das ist unbekannt. Oder ich weiß nicht, was kommt. Und immer ich bin zurückhaltend, weil (.) ja kann ich sagen wirklich hab ich Angst.« (I2: 495-498) Bildung wird nun zu etwas, das nicht mehr wie selbstverständlich erreichbar sowie machbar ist und absolviert werden kann, bei jedoch gleichzeitiger Konstanz der intrinsischen Motivation und Willensstärke. Ein Befragter erkennt in diesem Prozess auch rückwirkend, dass an der einen oder anderen Stelle Bildung auch im Herkunftsland bereits mit Aufwand und äußeren Faktoren verbunden war. Interessant ist, dass das Interview zunächst mit einer sehr deutlichen und starken Präsentation der Selbstwirksamkeit begonnen hat und im Verlauf des Erzählens mehr und mehr aufbricht und sich in der Selbstreflexion auch Rückbezüge der neuen Situation auf bereits erlebte Situationen im Herkunftsland ergeben. In diesem Beispiel erläutert der Befragte exemplarisch das Problem der Korruption, welches großen Einfluss auf Leistungen und Bildungsabschlüsse zu haben scheint und in weniger privilegierten gesellschaftlichen Positionen zu einer Konfrontation mit Bildung als Arbeit führt: »You don’t get the same treatment as some other people who come from rich families and families of äh responsibles in the government or stuff and it’s(.), it’s (.) obvious I mean if you know the doctor, like my sisters studied architects and she

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(.) she was like really hard working (.) but there is like a level of parts you can get for hardworking and then there is the level afterwards that you get for knowing the doctor.« (I3: 71-79) Ein weiterer Befragter erkennt, dass er bereits viel in seiner Bildungskarriere erreicht hat, dass er aber für seinen großen Wunsch einer Promotion in Deutschland noch viel lernen muss und eigentlich erst einen kleinen Bereich dessen, was Bildung seiner Meinung nach ermöglicht, für sich verinnerlicht hat: »I have to study more about communications about äh ähm optical networks about I I have a lot (.) very very very many things many topics I have to know and it’s the PhD it’s opportunity for for me to go with this äh:: ocean it’s like ocean and I I I have just a bottle of knowledge from this ocean.« (I5: 391-394) Die zu Beginn bereits im Rahmen des Kontextes erwähnte Ambivalenz zeigt sich also auch in den Konsequenzen und damit im Rückschluss auch in Bezug auf das Phänomen. Vorhandene Potenziale werden zwar von den Befragten selbst erkannt und in einer möglichst auffälligen Darstellung der Erfolge angewendet, jedoch zeigen sich nicht die gewünschten Erfolge darin, weil Bildung in Deutschland, also zunächst einmal das Erlernen der deutschen Sprache und der Zugang zu Bildungsinstitutionen wie der Universität, nicht so einfach absolviert werden können. Dies wirkt sich in dem Sinne auf die Befragten aus, dass sie sich sehr unsicher fühlen und das Gelingen eines positiven Bildungserlebnisses erschwert wird.

4.1.3

Zwischenfazit

Für die Konkretisierung des ›Bildungserlebens‹ zeigt sich in diesem Phänomen zusammenfassend noch einmal die starke Emotionsgebundenheit dieses Begriffs. Das Bildungserleben hängt an subjektiven Empfindungen, die sich jedoch komparativ in ihrer Ausprägung wiederholen, indem Bildung als Traum und Lebensaufgabe verstanden wird und beispielsweise dem Kontakt zu Akademikern eine besondere Atmosphäre, die sich von der als ›normal‹ empfundenen positiv abhebt, zugeschrieben wird. Ambivalenzen spielen dabei auf verschiedenen Ebenen eine Rolle: sei es in Bezug auf eine dem politischen und gesellschaftlichen Herkunftssystem zugeschriebene Enttäuschung im Gegensatz zur Vorfreude auf eine Fortsetzung der Bildungsbiographie im Aufnahmeland oder sei es hinsichtlich der ausgeprägten Selbstwirksamkeitsdarstellung im Kontrast zum sich andeutenden Unsicherheitsempfinden und den mit Bildung verbundenen Anstrengungen. Interessanterweise ist die Realität von Bildung im Aufnahmeland Deutschland dabei häufig eine andere und knüpft hinsichtlich der Bedeutung des gesellschaftlichen und sozioökonomischen Status eigentlich an die Erlebnisse im Herkunftsland an.

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

In Bezug auf die eingangs vollzogene theoretische Annäherung an den Begriff des ›Bildungserlebens‹ lassen sich auch die dargelegten empirischen Befunde einordnen. Die von Humboldt verwendete Beschreibung über das Zusammenwirken von Kraft und Freiheit bezieht sich im Kontext der befragten Geflüchteten auf den freiheitlichen Wunsch der Loslösung vom bildungsbezogenen Herkunftskontext, verbunden mit der Hoffnung auf Fortsetzung im neuen Aufnahmesystem. ›Kraft‹ wird durch die Darstellung der hohen Selbstwirksamkeit symbolisiert, die unmittelbar mit dem Bildungserleben einherzugehen scheint, wenngleich sie sich jedoch letztendlich eher als Strategie zur Überspielung von Unsicherheit darstellt. Das, was Kergel (2020) als explorative Neugier bezeichnet, das Kennenlernen-wollen und sich Einlassen auf Neues, ist für die hier befragten geflüchteten Studierenden weniger zentral und vielmehr bestimmt durch das Bedürfnis nach Fortsetzung und Anknüpfbarkeit, eben dem Wunsch nach Kontinuität.

4.2

Studium als Bildungserleben: das Zusammenwirken von Bildung, Biographie und Migration

Nachdem bisher die Begriffsbestimmung zur zentralen Kategorie dieser Forschungsarbeit – ›Studium als Bildungserleben‹ – im Vordergrund stand und vor allem dem Begriff des ›Bildungserlebens‹ besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, geht es nun im folgenden Schritt darum, die Kernkategorie auf einer höheren Theorieebene zu erläutern. Denn »mittels des Theoretical Samplings sollen Kodes dann so zu Kategorien verdichtet werden, dass am Ende eine Kernkategorie herausgebildet wird, die in zu definierenden Beziehungen zu allen anderen herausgearbeiteten Kategorien steht und das interessierende soziale Phänomen oder Problemfeld am besten erklärt. Das so ausgearbeitete relationale Gefüge bildet die neue (substantive) Theorie.« (Mey/Mruck 2011: 35) Es geht also darum, die aus den Daten heraus beschriebene Kategorie des ›Studiums als Bildungserleben‹ noch weiter zu verdichten. Maßgeblich für den Prozess des Verdichtens sind die Auswertungsschritte des offenen und axialen Kodierens. Besonders die im axialen Kodieren generierten Kategorien gilt es in Anlehnung an das o.g. Zitat von Mey/Mruck (2011) in Beziehung zu setzen und zur Erklärung der Kernkategorie heranzuziehen. Um die Kernkategorie weiter zu erläutern und eben genau das Verhältnis zu den Phänomenen beziehungsweise Subkategorien deutlich zu machen, soll Abbildung 8 als roter Faden dienen. In der zentralen Kategorie ›Studium als Bildungserleben‹ zeigt sich für mich prägnant das Verhältnis zwischen den Konzepten ›Biographie‹, ›Bildung‹ und ›Mi-

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Abb. 8: Kernkategorie ›Studium als Bildungserleben‹ (eigene Darstellung)

gration‹, die hier den Fokus der Grafik bilden. Der Bezug zur Theorie der ›Bildung‹ ist vielfältig und komplex. Die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung fokussierte Phase des Hochschulstudiums stellt einen Bildungsprozess dar, der einen formalen Bildungsabschluss ermöglicht und somit im Kontext institutionalisierter Bildung etabliert ist. Darüber hinaus spielt die Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse eine zentrale Rolle, die u.a. bereits im Zusammenhang mit der Begriffsbestimmung des ›Bildungserlebens‹ diskutiert wurde (vgl. Kapitel 4.1.1) und damit noch über eine institutionelle und auf ein Hochschulstudium beschränkte Perspektive hinausgeht. Das Konzept der ›Biographie‹ zeigt sich für mich insofern, als dass das Bildungserleben als handlungsleitendes Konzept verstanden wird. (Weiter-)Bildung zeigt sich als Lebensaufgabe, die es zu bewältigen gilt. Die Biographie und biographischen Veränderungen sind stets darauf ausgerichtet, das Bildungserleben zu erhalten beziehungsweise zu steigern. Das Thema ›Migration‹ ist darüber hinaus ein zentrales Konzept, da, wie bereits deutlich wurde, im Kontext der Forschungsfrage dieser Arbeit ausschließlich geflüchtete Studierende beziehungsweise Studieninteressierte befragt worden sind und somit eine besondere Fokussierung auf die Migrationsform der Flucht stattfindet. Für die befragten Geflüchteten stellt die eigene Flucht ein zentrales Ereignis auch in ihrem Bildungserleben dar, und es gilt, dessen Auswirkungen darzulegen. Aufgrund unzumutbarer Lebensverhältnisse im Herkunftsland und einer damit einhergehenden großen Enttäuschung gegenüber dem politischen und gesellschaftlichen Herkunftssystem

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

hat auch das Bildungserleben einen negativen Trend erlitten und hat somit maßgeblich Einfluss auf das Konzept der Kernkategorie. Bei der Betrachtung der drei genannten Konzepte geht es nicht um eine Gewichtung oder Hierarchisierung, sondern vielmehr um ein ›In-Beziehung-Setzen‹ (vgl. Strauss/Corbin 1996), weshalb auch die Kreisdarstellung gewählt wurde. Die drei Konzepte in je gleich großen Kreisen symbolisieren, dass eben nicht die Konzepte gegeneinander aufgewertet werden sollen. Der äußere Kreis steht wiederum dafür, dass sich die inneren Kreise beziehungsweise die drei Konzepte gleichermaßen darin bewegen und nicht der Eindruck erweckt werden soll, das Thema ›Flucht‹ sei beispielsweise den anderen beiden Themen untergeordnet. Im Sinne des ›InBeziehung-Setzens‹ zeigen die in jeweils beide Richtungen weisenden Pfeile die Symbiose zwischen den Konzepten an. Der äußere Kreis dient der Verdeutlichung nicht nur der Beziehung zwischen jeweils zwei Konzepten, sondern betont das Zusammenwirken aller drei Konzepte, dem es sich anzunähern gilt. Die in der Grafik an den äußeren Kreis angebundenen vier Satelliten stellen die im Prozess des axialen Kodierens generierten Phänomene ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹, ›Sprache als Schwelle‹, ›Bedürfnis nach Sicherheit‹ und ›Einstieg ohne Ausstieg‹ dar und charakterisieren jeweils verschiedene Beziehungsgefüge der innerhalb des Kreises angesiedelten Konzepte. Um sich also weiter der Emergenzebene zu nähern, bedarf es zunächst der Betrachtung der jeweiligen Beziehungen zwischen den Konzepten.

4.2.1

Der Zusammenhang von Biographie und Bildung

Das Verhältnis von ›Biographie‹ und ›Bildung‹ ist im Kontext der vorliegenden Untersuchung ein zentrales, welches die Basis für die weitere Betrachtung der Forschungsergebnisse darstellt. Es geht darum, das Bildungsverständnis der befragten Geflüchteten herauszuarbeiten und zu exemplifizieren, wobei biographische Aspekte eine maßgebliche Rolle spielen. Auch in theoretischer Perspektive sind ›Bildung‹ und ›Biographie‹ zunächst kaum ohne einander zu denken. In der erziehungswissenschaftlichen Forschung manifestiert sich das Verhältnis von ›Biographie‹ und ›Bildung‹ beispielsweise in dem bereits erläuterten Konzept der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, die den Versuch darstellt, Bildungstheorie und Bildungsforschung näher zusammenzubringen (vgl. Kapitel 2.2.1). Bildungsprozesse sind dabei langfristig zu denken und stellen keine objektiven Gegebenheiten dar, sondern sind an die Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten geknüpft (vgl. Koller 2018). Koller selbst entwickelt daraus sein Verständnis einer transformatorischen Bildung, die sich auf die »Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses« (Koller 2018: S. 16) bezieht und Bildungsprozesse in der Auseinandersetzung mit neuartigen Problemla-

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Abb. 9: Der Zusammenhang von Biographie und Bildung (eigene Darstellung)

gen verortet. Die Bedeutung der biographischen Einflüsse zeigt sich beispielsweise in der Berücksichtigung der Bedeutungszuschreibungen der Beteiligten wie auch in der individuellen und möglicherweise erfahrungsbasierten Auseinandersetzung mit neuartigen Problemlagen. Diese theoretischen Implikationen zeigen sich auch in den vorliegenden empirischen Befunden, in denen sich das Verhältnis von Bildung und Biographie für die befragten geflüchteten Studierenden in vielfältiger Weise zeigt: Bildung beziehungsweise Bildungsprozesse werden immer wieder an institutionellen Ablaufmustern festgemacht, verbunden mit der Hoffnung auf einen positiven Wandel im Kontext der Biographie. Dies äußert sich insofern, als dass die Befragten ihren Bildungsweg in der Regel entlang institutioneller Stationen und entsprechender Abschlüsse äußern, was folgendes Zitat beispielhaft zeigt: »Okay das ist äh in der Schule wir beginnen mit äh der Schule äh ungefähr sechs Jahre. Was war bei mir ein bisschen besonders, das ist äh mein Eltern haben das angemeldet. Zum Beispiel die in letztes Jahr, das bedeutet die Kinder waren großer als ich ein Jahr. Ja, des das war ein bisschen schwer, weil ich hab ein bisschen Schwierigkeiten mit die Infor- Informationen im Kopf zu verstehen. Das ist, aber das kann man auch ähm vermeiden mit äh viel Lesen und Lernen und und und. In der Schule:: (.) war ich kann sagen das war (.) für mich gut. Die äh Grundschule, ich meine von sechs Jahren ungefähr bis äh ähm (3) ich denke sechs (murmelt) bis zwölf. […] Das war vielleicht (.) einige Lehrer oder Lehrerin streng (.), aber das ist

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

bei uns in unserer Atmosphäre das bedeutet sie möchten zum Beispiel me::hr von uns fleißig zu sein. Das hat nicht persönliche Sache zu tun, nein, das in meinem Kopf in dieser Phase (.) das ist immer schön, wirklich, ja. Ja, und und danach haben wir auch äh an- äh wir gehen zu andere Schule. […] und dann wir haben nur gewartet auf äh auf der Uni, weil an der Uni wir zurück auch.« (I2: 30-59) Die Beschreibung der institutionellen Abläufe setzt an verschiedenen Stationen an. So geht der folgende Befragte beispielsweise stärker auf sein bisheriges Studium und seine Berufstätigkeit ein. Darüber hinaus deutet sich hier bereits an, dass das Bildungsverständnis nicht nur auf die institutionellen Abschlüsse beschränkt ist, sondern unter anderem auch Aspekte kultureller Bildung in ein umfassendes Bildungsverständnis integriert sind: »My life in Syria was no somehow was good you know I got a good education I think. Ehm I finished Bachelor Degree of mathematics, I also ehm learned alone byself […], I worked for ten years in socs market and eh also I had my small own business. […] I learned English, I learned some Italian also so I think I was very lucky to to have such education, ehm I was musician also I made a band and or and eh an interrock band and eh in two thousand and four I eh played eh music in opera Kairo house in Egypt ehm that’s all. I am, I am kind of person who likes always to learn new things ehm when I stop learning I feel like I am dead or something.« (I1: 14-25) Das Zitat endet mit der prägnanten Beschreibung der Bedeutung, die Bildung im Kontext der Biographie des Befragten einnimmt und rekurriert in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Bedeutung des Bildungserlebens. Interessanterweise zeigt sich bei studieninteressierten Geflüchteten noch ein sehr nüchternes und zugleich hoffnungsvolles Bild, entgegen aller Herausforderungen, die tatsächlich mit dem Einstieg ins Studium verbunden sind (vgl. Kapitel 2.1.2.2). Die Befragten stellen sich den Alltag im Studium genauso vor, wie es bereits im Herkunftsland erlebt wurde, oder sehen sogar Verbesserungen, solange sie selbst den Einstieg in das Studiensystem in Deutschland noch nicht absolviert haben: »And the University life, I mean I haven’t started studying here at the university but äh as I am allowed to think it would be the same. I won’t be having any troubles because I’ve studied a semester in Syria, and that would help me a lot, (.) because they will be the same subjects and (.) in Syria we learned them I mean some subjects were in really just like a Übersetzung from English book ((lacht)) or something, so it will help me a lot with just äh with the educational system in here. (.) So it’s really helpful but at the same time in like biology, I mean I went to private school but I know that there are some things that I don’t understand with. I mean like mathematics, it’s a simple example. I always learned it by heart. Like I get this exercise and I learned it by heart and then, I mean I was smart and

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learned it by heart and if they changed something I could solve it but I never really understood what this equation means or what am I doing ((lacht)).« (I3: 353-363) »Eh education (.) is for me as I see it’s easier than in Irak. (2) Because homework in Irak was difficult and learning was difficult. But here as I see people are not studying are not think anything and they (.) they are passing, they are succeeding. (.) I think here is easy but (.) to (.) to go to university for refugees I think this is difficult because they need I think C1. (.) Yes? Yes. And that’s difficult.« (I6: 125129) In Bezug auf eine institutionalisierte Perspektive wird Bildung entsprechend auch ein großer Einfluss auf den Übergang ins Berufsleben zugeschrieben. Bildung ermöglicht in diesem Zusammenhang eine gute berufliche Stellung. Die Einschätzung ist dabei vom jeweiligen Landessystem abhängig. Während beispielsweise in Syrien zusätzlich zu einer guten Bildung politische Kontakte als notwendig und hilfreich geschildert werden, so wird die berufliche Situation in Deutschland bei einer guten Bildung als unproblematisch gesehen: »Without education you know you can’t you can’t you know have a good job or you can’t eh you know we have a corrupted government you know. Eh and eh sometimes eh very stupid people they they are in eh high positions also. But after all if you don’t have connections to to the regime or to the government and you are not educated then you have no choice, no chance to have a good job you know. So at least you have to be educated then at least maybe you can get a good job.« (I1: 188-193)   »Ja, ähm ich glaube, wenn ich äh mein Masterabschluss (2) abschließen werde, bekomme ich eine einen guten Job hier, weil äh man hat sehr viele Möglichkeiten hier, also ich bin der Meinung Arbeit ist immer verfügbar hier in Deutschland, überall. (.) Egal welche Bereich, also (.) weil (.) also glauben Sie mir, ich hab die gesehen, wie die Deutschen arbeiten, also (.) sehr fleißig, sehr perfekt. (.) Sie machen nichts (2) also ohne ohne Perfektion. (.) Entweder perfekt oder nicht. Bei uns ist (.), ist leider nicht so. Es gibt (.) man kann übersehen Sachen, ja das Kleinigkeit und weiter. Hier, auf keinen Fall.« (I4: 1069-1074) Ein erweitertes Bildungsverständnis, das über die institutionellen Ablaufmuster hinausgeht, manifestiert sich im Rahmen kultureller Bildung in Beschreibungen zum Verständnis von Menschen und Kulturen: »I have to ähm ja my education helped me in (.) to understand more cultures, more people, ja. When I was studying in Universität I (.) read a lot of books, America, Canada, (.) a lot of cultures, especially in Europe, France, Germany. Ja, I (.) know ähm (.) by reading the books, this magazines or äh articles or papers in internet, how the Europe man think, how they, what is their habits, what they… Ja, there is

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

äh my culture, my education helped me to understand more people to to understand.« (I5: 1086-1092) Ein Großteil der Befragten beantwortet die Frage nach der Bedeutung von Bildung während ihrer Flucht nach Deutschland eher resigniert und stellt den Schutz von Leib und Leben in den Vordergrund: »Ne auf dem Weg waren wir nur auf dem Boot und über das Meer und danach nach Italien und dann nach Deutschland. Also ich konnte nicht, also an nichts denken. Äh sonst denk ich an meine Familie, dass es mich äh dass ich äh an um meine Schwestern mich kümmern muss und ja deswegen konnt ich an nichts mehr denken, also nur meine Familie.« (I9: 365-368) Dennoch gibt es auch während der Flucht besonders prägende und nachhaltige Bildungserlebnisse. Beispielhaft erläutert ein Befragter entsprechend, wie ihn die Flucht selbst verändert hat und wie die Flucht sein Verständnis vom Umgang mit anderen Menschen gewandelt hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die starke positive Wendung, die die erlebte Flucht hervorgerufen hat, im Kontrast zu grundsätzlich eher traumatischen Erlebnissen während der Flucht. Der hier so massive positive Wandel scheint auch explizite Auswirkungen auf die individuelle Biographie nach sich zu ziehen: »I: On your way from Syria to Germany, was there kind of education? B: Ja ja ja, 100 per cent. First it introduced me to another cultures, second (2) it’s make me more positive, it’s make more (.) creative, it’s make me more ja äh think about other humans. All of us are the same, Macedonia, in Turkey, we are all the same. (.) Here we always look for good, work for good things. (.) I met (.) in Macedonia a nice people, I met in Serbia funny and nice people. They are very friendly and simple. It’s not, we think that Europe it’s very complex people and that say put this in here and (.) and they are no with my trip from Syria to Germany (3) I don’t have the word, sorry I don’t have the words to explain for you. I have this feeling but I don’t have words, I don’t know if I said it right. (2) My trip from Syria to Germany changed me onehundred and eighty degree. Onehundred and eighty degree changed my way to see the world, (.) it changed a lot of my personality, it give me (3) make me (2) more (2) love to meet people. (3) If you ask me, do you want to make this trip again and I say Ja, I will make it again and again and again.« (I5: 1161-1178) Bildung wird dabei ein sehr hoher Stellenwert auch für den weiteren biographischen Verlauf zugeschrieben. Dies zeigt sich beispielsweise an der Frage, inwiefern die im Herkunftsland bereits erworbene Bildung auch in Deutschland hilfreich ist. Neben fachlichen Aspekten werden auch grundlegende Fähigkeiten, wie das logische Denken genannt:

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»I: Okay. Ehm and how does your education from Syria help you here in Germany? B: Of course it helped me in more eh eh you know (3) when you study some logic things you know in your life. That help you, you know. Eh (.) even you (.) you (.) you know because of the bureaucracy here that don’t let you work and such. But you know after all eh it helps you. You know, because you feel you are more organized than other persons so you know today I have to do this and this and this.« (I1: 302309) Darüber hinaus fungieren bildungsbezogene Qualifikationen als Motivator für den weiteren biographischen Verlauf und damit auch für weitere berufliche Ambitionen: »Maybe I have eh (.) qualifications and (.) I really everyday want to be better than me the last day eh and I see myself here and I will be (.) I will be myself here really and I can make myself. Cause I am ambitious, I have ambitions I can make everything that I have to make.« (I13: 294-297) Dabei wird der Instanz der Familie als soziales Unterstützungssystem eine besondere Bedeutung beigemessen, und das Bildungsverständnis wird stark durch die Familie geprägt. Die berufliche Orientierung der Eltern spielt eine Rolle auch für die Orientierung der Kinder, verbunden mit der Hoffnung der Eltern, ihren Kindern eine noch bessere Bildung im Vergleich zu ihren eigenen Bildungsabschlüssen ermöglichen zu können: »Ich komme von einer gebildeten Familie, also meine Mutter ist Bauingenieur und mein Vater ist ein Rechner, also… und er wollte mehr als nur ein Rechner sein, es war zu wenig, er wollte dass alle seine Kinder, eh sein Kinder eh Ärzte geworden sind eh (.) oder die höchste eh (.) highest educational level that you can reach, also and I am the youngest of four brothers (.) and sisters, I have one brother, er ist zwölf Jahre älter als mich, eh er hat Wirtschaft studiert und er arbeitet jetzt in Katar Airways, meine Schwester ist (.) zehn Jahre älter als mich, und eh (.) ist ein Architekt, sie arbeitet auch in Katar jetzt, im Moment und meine jüngste Schwester ist acht Jahre älter als mich (.). Sie ist Bauingenieur, auch sie arbeitet in Katar in einer italienischen Firma. Also Bildung ist sehr wichtig in unserer Familie.« (I3: 26-35) Der soziale Status der Familie, gemessen am Prestige der Berufe und der Höhe des Einkommens, hatte im Herkunftsland großen Einfluss darauf, welche Form von Bildung überhaupt ermöglicht werden konnte, da gute Bildungsinstitutionen und zusätzliche Lernhilfen hochpreisig sind und damit abhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familien: »I will mean how I make my education in Syria. Okay, äh::m in Syria first I am from a family they concentrate on education very very well. Ähm (.) my father do his

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

done his best to improve good environment for us to learn. Because in Syria it’s very hard for poor family. Ehm to have a good educational education environment for their for their childrens because you know it’s very difficult if the family is poor, it’s very difficult for them to put their child childrens children, children ja? In in good institute or in good schools. So for us our my father was a teacher in school and his salary was very very low and he have to (2) to go out of Syria to work out of Syria like in Golf or in Lybia before, because they pay more much money for us.« (I5: 6-19) Neben der direkten Familie bestehend aus Eltern und Geschwistern, wird auch die Bedeutung des erweiterten sozialen Umfelds, Freundinnen und Freunde, genannt, wenn es um das Wohlbefinden im Aufnahmeland und damit im erweiterten Sinn auch um eine Bildungsmotivation geht: »Ähm, zuerst das war sehr sehr schwer. Ähm (.) ist alles ganz anders. (.) Ähm die (.) Kultur hier ganz anders. Die ähm, ich habe mich nicht vor- vorgestellt, dass ich zwei Jahre brauche um die Sprache zu lernen. Ähm und äh ich dachte, dass ich kann von die (.) äh siebte oder die achte Semester hier anfangen, aber hier muss ich vielleicht von Anfang an wieder alles machen. Und auch äh: ich fühle mich hier alleine (2). Ja ich hab meine Familie dabei, aber (.) die Freundinnen (.) ist etwas anderes.« (I8: 84-89) Unterstützungssysteme wie Familie oder Freunde sind für die geflüchteten Befragten besonders wichtig, da sie aufgrund ihres Status die Zugangsvoraussetzungen zum Studium als besonders hoch und belastend erleben. Die Abhängigkeit von Gatekeepern ist unabwendbar und das sowohl bereits bei der Anerkennung von Zugangsvoraussetzungen wie Zeugnissen und Abschlüssen als auch bei der Vergabe von Studien- oder Ausbildungsplätzen, was folgende Beispiele betonen: »I: Okay, and which hopes and expectations do you have for ehm education here in Germany? B: Yes eh, you know for me eh (2) I studied many things before in my life eh and eh (2) eh the only thing I want now is to you know at least qualify my lessons here of mathematics. So I can work with it or I can use it or now I’m I’m planning for doing Ausbildung in Fachinformatiker eh so eh I’m just waiting maybe today or tomorrow to to get the answer about if they accept me or not so. But I have very good chances. Eh if I couldn’t then maybe I will go to study the Master of mathematics. So eh all I need you know now I just need a licence to start working you know.« (I1: 14-23)   »Das [Bildung] hilft zum Beispiel das äh ä::hm das kann ich zum Beispiel wissen (.) äh bei zum Beispiel in Deutschkurs (.) ich beurteile nicht, ich sag das nicht offen, wirklich nein. Aber ich kann wissen von Charakter der Lehrerin, sie ist wirklich Lehrerin oder sie arbeitet wegen des Gelds. Das kann sein auch. Überall. Ja das hilft

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mir sehr. Das auch helft mir (.) das ist auch ein bisschen tut weh. Ich war Lehrerin und jetzt ich sitze hier. Das auch ein bisschen tut weh, aber jetzt habe ich daran gewöhnt, hab ich daran gewöhnt. Und was hilft mir auch, wie kann ich äh mit ä::h mit Leute behandeln. Wir sind Menschen, wir sind alle gleich. Das, was ich denke, zum Beispiel wenn du äh auch studierst, dann können wir automatisch miteinander gut behandeln. Weil wir haben zusammen he- äh Hintergrund zum Beispiel als wir wir sind Studenten oder wir haben eine Beruf oder wir sind Lehrerin. Das das das gibt es Gefühl. Das kann ich mit diese Art von Leute gut umgehen. Das das, was hat mir in Syrien mein Studium gehelfen, aber geholfen aber die Sache ist die er- äh Erkennung mit unsere Studium das ist nicht einfach hier. Ich kann nicht mit meiner ä::hm Zeu- Zeugnis arbeiten hier. Das brauche ich Er- Erkennung Anerkennung. Und das ist äh nicht einfach.« (I2: 528-554) Die belastende Situation durch die zu erbringenden Zugangsvoraussetzungen für ein Studium zeigt sich auch in anderen Forschungskontexten, wie in Kapitel 2.1.2 bereits erläutert. Der Aufenthaltstitel (vgl. u.a. Avery/Said 2017), die Meldeadresse (vgl. Doyle/O’Toole 2013), lange Wartezeiten (vgl. Bieber et al. 2017) und auch Schwierigkeiten beim Spracherwerb, die sich auch auf den gesamten Zugangsprozess auswirken (vgl. Morris-Lange 2017), sind hier beispielhaft zu nennen. Während viele Studien nur die Bedeutung einzelner genannter Aspekte untersuchen, zeichnet sich die Belastung in der vorliegenden Untersuchung besonders durch die Kumulation der zu bewältigenden Anforderungen aus. Auch der Stellenwert sozialer Unterstützungssysteme wurde bereits einschlägig untersucht (vgl. u.a. Bajwa et al. 2017), ebenso wie die Bedeutung der familiären Anbindung beziehungsweise Einbindung (vgl. u.a. Morrice 2013) und deren Auswirkungen auf Studienvorbereitung und Studiensituation (vgl. Berg et al. 2018). Die vorliegende Untersuchung knüpft insofern an die bereits bestehenden Ergebnisse an, als dass die Rolle der Familie als Unterstützungssystem grundsätzlich eine essenzielle darstellt und häufig aber auch aus der Familienverbindung heraus erst Ansprüche an das gute Absolvieren eines Studiums gestellt werden. Geflüchtete Studierende, die schon länger in Deutschland leben, beschreiben zudem, dass die Schwierigkeiten in der Erbringung der Voraussetzungen dazu führen, dass sie selten denselben Lernstand wie andere gleichaltrige Jugendliche und junge Erwachsene erreichen, da sich die statusbedingte Benachteiligung immer wieder auf verschiedene Bildungskontexte auswirkt und kumuliert. Es zeigen sich also durchaus auch längerfristige Auswirkungen, die besonders im biographischen Kontext relevant sind, was auch die folgende Befragte exemplarisch belegt: »Ja also das war in meiner Schullaufbahn immer son Ding, dass ich immer mh (.) ja das Gefühl hatte, ok, ich hab nicht dieselben Voraussetzungen und dementsprechend ist vieles schwer, aber (.) und das ist dann auch wieder sone Kopfsache, ich muss da halt lernen, ok, ich bin vielleicht nicht, ich hab vielleicht nicht diesel-

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

ben Voraussetzungen, aber es heißt nicht, dass ich ähm also dass ich nicht so weit gehen kann wie die anderen oder sowas. Und ähm ja das haben mir meine Eltern dann auch eigentlich recht früh klar gemacht, aber ich weiß nicht, manchmal dauerts halt nen bisschen bis etwas klick macht, ja und ähm ne und ich hatte wirklich Glück, dass ich immer wieder Menschen hatte, die mir da geholfen haben.« (I16: 282-290) Zusammenfassend lässt sich für das Bildungsverständnis der befragten Geflüchteten herausstellen, dass Bildung einen hohen biographischen Stellenwert einnimmt, sowohl im Sinne eines notwendigen und lebenswerten Guts, als auch im Kontext sozialer beziehungsweise familiärer Systeme, die fordernd und fördernd auf die Bedeutsamkeit von Bildung einwirken. Das Bildungsverständnis ist dabei grundsätzlich positiv konnotiert und wird mit der Erwartung einer positiven Transformation verknüpft. Im Sinne einer transformatorischen Bildung spielt die Auseinandersetzung mit neuartigen Problemlagen für die Befragten eine große Rolle und prägt ihr Bildungsbewusstsein während der Flucht und nach der Ankunft im Aufnahmeland Deutschland. Die status- beziehungsweise herkunftsbedingten Herausforderungen haben dabei durchaus auch langfristige Auswirkungen auf den individuellen Bildungsprozess. Das Bildungsverständnis orientiert sich grundsätzlich an institutionellen Ablaufmustern und entsprechenden Bildungsabschlüssen, sodass Transitionen gehäuft auftauchen und zu bewältigen sind. Nichtsdestotrotz stehen die Befragten auch für ein umfassendes Bildungsverständnis ein und erläutern neben der institutionellen Rahmung beispielsweise auch Aspekte kultureller Bildung. Interessant ist vor allem, dass die Phase der Flucht selbst im Kontext von Bildungserfahrungen sehr unterschiedlich bewertet wird, zwischen völliger Abstinenz bis hin zu stark Biographie prägenden Bildungserlebnissen. Der Stellenwert migrations- beziehungsweise fluchtbedingter Einflüsse sowohl auf den biographischen als auch auf den Bildungskontext soll in den folgenden Kapiteln noch spezifischer betrachtet werden. Das hier dargelegte Bildungsverständnis und das implizierte Verhältnis zwischen ›Bildung‹ und ›Biographie‹ dienen als Grundlage für das Verständnis der weiteren Darstellung.

4.2.2

Der Zusammenhang von Bildung und Migration

Der Zusammenhang von Bildung und Migration im Kontext des Bildungserlebens zeigt sich in der vorliegenden Untersuchung auf vielfältige Weise. In bestehenden Forschungsbefunden wird das Verhältnis von ›Bildung‹ und ›Migration‹ vor allem immer wieder in Bezug auf Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit diskutiert. Die Herkunft spielt eine entscheidende Rolle bei Bildungsfragen und insbesondere, wenn es um Bildungserfolge geht. Migration ist

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Abb. 10: Der Zusammenhang von Bildung und Migration (eigene Darstellung)

nach wie vor ein Indiz für bildungsbenachteiligte Schichten, Diskriminierung und generelle Benachteiligung. Entsprechend ist auch bei Geflüchteten die familiäre Herkunft nicht irrelevant (vgl. Schwendowius/Thoma 2016). »Die Bedeutung des sozio-kulturellen Hintergrunds für den Zugang zu den Bildungseinrichtungen in der Aufnahmegesellschaft und seine Auswirkungen auf die Studiensituation werden auf ›deep-rooted material inequalities of globalisation and involuntary migration‹ (Morrice 2013: 654) zurückgeführt. Ökonomische und sozio-kulturelle Ungleichheiten verknüpfen sich in abträglicher Weise in Bezug auf die Möglichkeiten der Studienvorbereitung […].« (Berg et al. 2018: 71) Auf institutioneller Ebene ist der Diskurs beispielsweise im Kontext der Internationalisierung von Hochschulen bedeutsam, da nach wie vor eine hohe Nachfrage bei internationalen Studierenden zu verzeichnen ist (vgl. Wehking 2017). Geflüchtete Studierende stellen dabei eine ganz besondere Gruppe dar, die herkunfts- und statusbedingt zusätzliche Herausforderungen bewältigen müssen und gleichzeitig hohe Bildungsziele verfolgen (vgl. Blossfeld et al. 2016). Die in der vorliegenden Untersuchung befragten geflüchteten Studierenden sind vor allem mit der Verarbeitung von Systemwechseln beschäftigt, dabei spielen fluchtbedingte politische und gesellschaftliche Systemwechsel ebenso eine Rolle wie das Zurechtfinden und Ankommen in einem neuen Bildungssystem. Damit sind durchaus schwierige Lebensumstände verbunden, die sich im Kontext eines Hochschulstudiums beispielsweise auf Lernumgebungen und Lernsituationen auswirken. Zudem sind die

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Zugangsvoraussetzungen für ein Hochschulstudium für die Befragten besonders schwer zu erreichen, eine der größten Anforderungen bezieht sich dabei auf den Spracherwerb. Die Anforderungen bezüglich des Spracherwerbs sind für die Befragten der vorliegenden Untersuchung immens und zentral und werden daher im Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ noch ausführlich dargelegt (vgl. Kapitel 4.2.2.1). Die genannten Herausforderungen führen dazu, dass eine von den Geflüchteten erhoffte Anschlussfähigkeit ihrer Bildung in Deutschland häufig nicht direkt erreicht werden kann, sodass es zu Brüchen in der Bildungsbiographie kommt. Diese durch Migration und Bildung bedingten Bewältigungsanforderungen führen in der Einschränkung auf die Gruppe geflüchteter Studierender in der vorliegenden Studie zu einem ausgeprägten Bedürfnis nach Sicherheit, was ebenfalls in einem eigenen Phänomen detailliert werden soll (vgl. Kapitel 4.2.2.2).

4.2.2.1

Phänomen ›Sprache als Schwelle‹

Bereits an mehreren Stellen dieser Arbeit wurde auf die besondere Bedeutung des Spracherwerbs und die damit verbundenen Anforderungen an geflüchtete Studieninteressierte hingewiesen (vgl. Kapitel 2.1.2.3). Geflüchtete verfügen bei ihrer Einreise häufig über geringe oder keine Kenntnisse der Sprache der Aufnahmegesellschaft, sodass es einer intensiven sprachlichen Vorbereitung bedarf (vgl. Shakya 2010). Tatsächlich stellen die sprachlichen Voraussetzungen das zentrale Hindernis für eine mögliche Studienaufnahme dar (vgl. Stevenson/Willott 2007), was sich auch in der vorliegenden Untersuchung zeigt. Die konkreten Implikationen, die von den geflüchteten Befragten mit dem Thema des Spracherwerbs verbunden werden, sollen im folgenden Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ detailliert erläutert werden. Abbildung 11 dient dabei als Orientierung. Das Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ steht für die besondere Bedeutung der Sprache für Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland. Die Befragten sind ohne Kenntnis der deutschen Sprache nach Deutschland gekommen und verfügen bei ihrer Ankunft in der Regel lediglich über ihre Muttersprache und ggf. mittlere bis gute Englischkenntnisse. Die Sprache beziehungsweise der Spracherwerb spielt in dieser Phase eine große Rolle, was auch von den Interviewten erkannt wird: »Die Sprache spielt eine Rolle in Ausbildung, in Studium (.) und auch ä::hm äh Gesellschaft. Wie können wir hier in dieser Gesellschaft wie können die Leute uns akzeptieren. (.) Und (.) ja ich ich denke, dass gr- große Problem hier in Deutschland die Sprache. Ohne Sprache kann kann man nichts machen.« (I2: 336-339)   »Ähm ich wünsche mir, dass ich (.) die Sprache mehr beherrsche, dass ich wie eine Deutsche sprechen kann. (.) Ähm (.) weil ich (.) ja, es ist unglaublich wichtig für mich, dass ich die alle Sachen lernen und ähm (.) Redewendungen und (.) diese Sachen, Kleinigkeiten ähm, gut beherrsche und so.« (I14: 347-350)

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Abb. 11: Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ (eigene Darstellung)

Die Muttersprache beziehungsweise Landessprache des Herkunftslandes ist zwar sehr vertraut, jedoch nach der Flucht in Deutschland häufig wenig hilfreich. Sowohl im Alltag als auch bei behördlichen Angelegenheiten ist der Einsatz eines Übersetzers für eine gute und verständliche Kommunikation nahezu unerlässlich. »Äh (.) I äh at first eh (.) you know everyone have a lot of problem, because he can’t speak with the others and can’t interact with them, and when he needs something or (.) anything he must call someone (.) to translate and to make all clear for him.« (I11: 193-195) Der Begriff ›Schwelle‹ impliziert dabei zwei unterschiedliche Konnotationen: auf der einen Seite stellt eine Schwelle etwas Positives dar, etwas das einen neuen Weg öffnet und für eine positive Veränderung steht. Auf der anderen Seite kann eine Schwelle auch eine Hürde sein, die es zu überwinden gilt. In Bezug auf den Erwerb der deutschen Sprache können somit durch das Erlernen der Sprache Türen geöffnet werden, die es ermöglichen, den eigenen Bildungsweg fortzusetzen. Aber der Spracherwerb kann auch eine zunächst unüberwindbar scheinende Hürde darstellen und zu Problemen führen. Eine junge Frau aus Syrien berichtet sehr hoffnungsvoll über ihre beruflichen Vorstellungen, die sie nach dem Erlernen der deutschen Sprache umsetzen kann: »Ich hoffe von hier, wirklich ich hoffe, dass, wenn das funktioniert äh, Master machen und so weiter und weiter und weiter.« (I2: 563-564)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Andere Interviewte hingegen sehen im Erlernen der Sprache Deutsch große Schwierigkeiten, die mit einem großen Zeitaufwand verbunden sind, der so nicht gedacht war: »There is a very big problem with the language, it’s very hard for me.« (I11: 185-186)   »Last year I did voluntary work in Caritas, so I was like involved but here die Sprache (.) the language barrier till now I (.) I’m not overcoming.« (I3: 396-398)   »Äh (2) ich hab mir vorgestellt, also so so, wie mein Schwester gesagt hat, dass so sechs oder maximal ein Jahr dann bin ich mit der Sprache fertig. Aber jetzt bin ich schon seit eineinhalb Jahren und ich bin noch nicht fertig also bis, bis Oktober, dann hab ich C1. Dann bin ich eigentlich fertig, das heißt zwei Jahre hat das gedauert von Anfang.« (I9: 374-377) Die starke Konfrontation mit dem Thema Sprache nach der Ankunft der Interviewten in Deutschland mit der bereits beschriebenen Dimensionalisierung impliziert für die Interviewten eine erkennbare Notwendigkeit, die deutsche Sprache zu erlernen. Mittlere bis gute Englischkenntnisse können zwar im Alltag und bei der grundlegenden Organisation des Alltags in Deutschland weiterhelfen, dennoch ist es unumgänglich, die deutsche Sprache zu erlernen, um in das Bildungs- und Arbeitsmarktsystem integriert werden zu können, was von den Interviewten durchaus leidvoll erkannt wird. »Die Sprache, weil die Sprache ist die Schlüssel. Die Sprache. Ich muss, ich muss wirklich die Sprache gut, gut, gut, gut lernen.« (I2: 562-563) Die Interviewte beschreibt ihre Teilnahme an verschiedenen Deutschkursen und drückt ihre Bemühungen und auch ihre Hoffnung aus. Die Sprache scheint somit als Sinnbild für ein Vorankommen und Inbegriff einer erfolgreichen Zukunft in Deutschland zu fungieren. Dieses Verständnis bestätigt sich in anderen Forschungskontexten auch aus einer institutionellen Perspektive heraus. Sprachkenntnisse sind unerlässlich bei der Integration in den Arbeitsmarkt, und ein Mangel wird als Hindernis einer zügigen Eingliederung gesehen. Gerade der Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten hängt wesentlich von einem schnellen Spracherwerb ab (vgl. u.a. Brenke 2015, Esser 2006). Der Spracherwerb sei zudem eine Investition, »die sich in der Regel erst mittelbis langfristig auszahlt« (Libau 2011: 34). Die Förderung des Spracherwerbs taucht an vielen Stellen als Faktor für eine erfolgreiche Bildungs- und Arbeitsmarktintegration auf (vgl. Buch et al. 2016; Brücker et al. 2016). Laut einer Studie von Cheung/Phillimore (2014) führt eine gute Sprachkompetenz zu einer höheren Beschäftigungsfähigkeit von Geflüchteten, wobei sich jedoch kein signifikanter Effekt in Bezug auf die Beständigkeit der Beschäftigung feststellen lässt. Hieraus

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resultiert die Forderung nach einer unbedingten Förderung der Sprachkompetenz und einem freien Zugang zu berufsbezogener Sprachförderung zeitnah nach erfolgtem Asylantrag. In Bezug auf den in dieser Arbeit vorrangig thematisierten Zugang zum Hochschulsystem bestätigen sich diese Aussagen hinsichtlich der besonderen Notwendigkeit des Spracherwerbs. Im Rahmen einer Untersuchung des Vereins ›Uni-assist‹ geben 89,9 % von rund 7.000 befragten Geflüchteten an, dass sie vor allem Sprachkurse als studienvorbereitende Angebote nutzen und weitere 61,5 % sehen die Fachsprache als Problem, welches das Studium gefährden könnte (Arbeits- und Servicestelle für internationale Studienbewerbungen (uni-assist) e.V. 2019: 16-22). Eine genauere Begründung zur besonderen Bedeutung der Sprache soll im weiteren Verlauf erfolgen. Kontext Das Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ wird von einigen Kontextbedingungen begleitet, die das Phänomen genauer beschreiben. Der Wunsch nach einem Vorankommen beziehungsweise die damit verbundenen Zukunftsvisionen beziehen sich vor allem auf eine mögliche Berufsausbildung/ein Studium und eine entsprechende Berufstätigkeit im weiteren Sinne. Ein Interviewter beschreibt, dass sich an seinem Interesse an Bildung auch nach seiner Flucht und einem neuen Leben in Deutschland nichts geändert habe: »Ja, bei pauschal sage ich, Bildung und Lernen ähm interessiert mich immer noch und äh:: (.) ich habe das immer Spaß gemacht, gehabt und war unglaublich schön. Ähm ich hatte keine schlechte Erinnerung, ähm (.) daran.« (I15: 215-217) Nach der Ankunft in Deutschland ist es für die Interviewten häufig nicht leicht, den Wunsch nach Bildung adäquat auszuleben und einen individuellen Weg zu finden. Dennoch sind der Wunsch und die Motivation so stark, dass auch Phasen des Suchens und Ausprobierens hilfreich sein können, um den vermeintlich richtigen beruflichen Weg zu finden und sich mit Enthusiasmus für die Umsetzung und Erreichung der angestrebten Ziele einzusetzen. Ein Interviewter, der bereits seit längerer Zeit in Deutschland lebt, beschreibt seinen beruflichen Werdegang wie folgt: »Ja (.) da hats dann mit der Bildung mehr oder weniger abgebrochen. Ähm man hat versucht (.) so seinen Interessen zu folgen, sich selber vielleicht weiterzubilden. Ähm aber es war nichts Handfestes, dann hab ich hier und da gearbeitet, war ne zeitlang in der Schweiz. Bis ich dann entschlossen hab zu studieren und hab durch son Test im Internet ne Auswertung bekommen, und eine von den Sachen war halt Wirtschaftspsychologie und dann hab ich alles dran gesetzt das zu studieren. Kam auch nichts Anderes in Frage, BWL war zu trocken, Wirtschaftsrecht war auch zu trocken, also es sollte was Interessantes sein und ich denke mit, mit

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diesem Studium hat man viele Facetten offen, je nachdem, wohin man möchte.« (I14: 96-104) Der Wunsch nach Bildung und Anerkennung wird als klare Zielvision auch nach außen getragen, beispielsweise durch das Zeigen einer hohen Lernbereitschaft und Leistungsmotivation in den Deutschkursen, was auch die unterrichtenden Lehrer/innen bemerken: »Mhh und da hab ich eine Bekannte kennengelernt. Äh sie ist Lehrerin und sie gibt, sie unterrichtet uns oder sie unterrichtet die Flüchtlinge. Äh und sie hat gemerkt, dass ich richtig lernen möchte, das ist mein Ziel.« (I7: 306-308) Am Beispiel des Spracherwerbs zeigt sich deutlich, dass die befragten Geflüchteten bereits mit einer hohen Motivation an die Bewältigung der studienbezogenen Voraussetzungen herangehen. Eine Bildungsmotivation und entsprechende Ambitionen bereits während des Spracherwerbprozesses sind klar erkennbar. Nach Berg et al. (2018) entwickelt sich eine Bildungsaspiration bei Geflüchteten im Gegensatz zu internationalen Studierenden erst im Laufe des Aufenthalts, was sich an dieser Stelle nicht bestätigen lässt. Die Sprache wird als Schlüssel gesehen, durch den die Tür zum Bildungs- und Arbeitsmarktsystem geöffnet wird. Im Prozess der Bewerbung um einen Studienplatz stellt die Sprache beispielsweise eine große Schwelle dar, die es zu überwinden gilt, um dann tatsächlich studieren zu können. Der folgende Interviewte sieht diese Schwelle für sich als sehr schwierig, jedoch auch überwindbar: ,,I want to study medicine and here at the University of A-Stadt, it’s not, there isn’t anywhere to start so I should apply again. And applying like for a Deutsche is like applying, I mean that’s hard and it but for me it’s like okay what am I gonna do? I mean ((smiling)) I have no idea and it’s all in German so (.) but äh (.) I mean it goes and (3) it’s not there aren’t any real difficulties, I mean those difficulties I can get through them with time I will overcome them.« (I3: 118-123) Bei der Überwindung der Schwelle ›Sprache‹ bewegen sich die Interviewten scheinbar in einem ständigen Aushandlungsprozess zwischen Individualität und Assimilation. Einerseits sind Kultur und Tradition aus dem Heimatland noch sehr präsent und Teil des Lebensalltags der Interviewten, auf der anderen Seite besteht aber auch der große Wunsch nach Anpassung, danach ›deutsch‹ zu sein und nicht durch eine andere Sprache beziehungsweise geringe Kenntnisse der deutschen Sprache in der Gesellschaft aufzufallen. Eine Interviewte beschreibt, dass sich die Menschen in ihrem Heimatland freuen, wenn Nicht-Einheimische versuchen Arabisch zu lernen und diese dabei sogar motiviert werden, während in Deutschland die Menschen abweisend reagieren, wenn die mangelnden Sprachkenntnisse bemerkt

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werden. Sie fragt sich also, wie sie es schaffen kann, wie eine Deutsche zu sprechen, so, dass ihre Herkunft anhand ihrer Sprache nicht mehr ersichtlich ist. »Und was war hier hab ich das nicht wie in meinem Heimatland (.) bei uns wenn du zum Beispiel zu nach Syrien äh gehst und wenn du versucht äh Arabisch zu sprechen, sie haben Freude, ja gut ((Hände klatschen)) sehr gut und ja und und, aber hier, ich weiß nicht, warum sie warten von Ausländer (.) sie müssen sprechen fließend Deutsch. Wie (.) wie kann ich das sprechen, wie wie wie wie ich möchte nur wissen, wie wie kann ich jetzt wie Deutsche sprechen.« (I2: 339-344) Die Individualität der Interviewten drückt sich in diesem Zusammenhang darin aus, dass sie auf jeden Fall ihr Ziel erreichen möchte und die in ihrem Heimatland erlernte Selbstständigkeit und Eigeninitiative in Bezug auf Lernstrategien nutzt, um ihre sprachlichen Kompetenzen verbessern zu können. »Und hab ich versucht, weil ähm als äh Studentin du brauchst DSH2 damit du ä::h äh in an der Uni ä::hm Master (.) äh machen kannst. Und dann hab ich versucht allein (.) DSH zu machen, viele Institute hab ich ein bisschen Kurs gemacht […].« (I2: 295-297) Das deutsche Bildungssystem genießt dabei ein hohes Ansehen in Bezug auf die Bildungsqualität und wird dementsprechend sehr geschätzt. Ein Interviewter erzählt, dass er sich auch vorstellen kann, nach der Beendigung des Krieges in sein Heimatland zurückzukehren, aber erst nachdem er hier seine Ausbildung beziehungsweise sein Studium abgeschlossen hat, was durchaus eine besondere Wertigkeit betont. ,,For my future? Yeah I hope that I (.) finish my education a::nd that I eh can maybe find a job here and continue my life, eh (.) but yeah if it is possible.(.) And eh (.) the wars finish in Syria I think maybe I will go back (.), but after I finished my education here.« (I11: 254-256) Durch das Kennenlernen der deutschen Bildungs- und Lernkultur ist es den Interviewten möglich, ihre Bildungs- und Lernstrategien zu erweitern, denn die Individualität der Befragten kann nun auf den Einflüssen mindestens zweier Kulturen beruhen und sie können jeweils die Dinge annehmen, die aus der jeweiligen Kultur besonders geschätzt werden. »Also wir, mein Bruder (.) ähm (.) kann besser Deutsch als Albanisch, weil er hier komplett aufgewachsen ist. Er hat sich auch nicht wirklich für diese Ganze, ja dieses Albanisch Ding so interessiert und für unsere Kultur. Ich war da ein bisschen mehr hinterher, aber ähm (.) ich hab halt auf beiden Seiten also beide Kulturen versucht so das Beste wirklich rauszupicken.« (I14: 807-810)

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Ein Interviewter hofft sogar, dass die bisherigen Vorstellungen zur deutschen Bildung beziehungsweise zum Bildungssystem durch das Kennenlernen der neuen Bildungs- und Lernkultur womöglich noch übertroffen werden. Diese Hoffnung ermöglicht eine starke intrinsische Motivation, verbunden mit dem großen Wunsch nach einer Berufstätigkeit. »Ja, I hope it’s like my expectation is like how imagined exactly not what was like in the university or in Syria like. Ja, like I think it’ll be like how imagined or maybe better. Ja, I really want to try like when I study also I want to work.« (I10: 575-577) Der Wunsch nach Bildung und Berufstätigkeit führt auf einer höheren Ebene auch zu einem Wunsch nach Anerkennung. Neben der Schwelle Sprache, die überwunden werden muss, macht sich ein Interviewter auch Gedanken um sein Aussehen, insbesondere um seinen langen schwarzen Bart, der in Deutschland seinem Empfinden nach nicht gern gesehen ist. Selbst sein Vater rät ihm, den Bart abzuschneiden. Es werden also sogar Veränderungen der äußeren Merkmale diskutiert und gedacht, um möglicherweise Anerkennung und Akzeptanz in der Gesellschaft zu erlangen: »Ich weiss nicht, warum same Deutscher ihr lebt nicht äh schwarz Männer oder schwarze junge Mann, ja nur ich @(.)@ ich möchte verstehen das. Äh:: meine Bart gestern, ja sehr lang, ja ich mag das, ich mag das sehr lang. In Syrien oder in Irak immer ist sehr lang, ja. Und wenn ich lebe in Syrien und Irak, wenn ich äh:: ja ISIS kommt (.) du weisst alles dieses in die lange Bart, meine Vater sagt du musst äh, was heißt äh abschneiden.« (I12: 381-389) Ein weiterer Interviewter beschreibt, dass er momentan noch Hilfe in der Organisation des Lebens in Deutschland benötigt, aber irgendwann in der Lage sein möchte, eigenständig zu sein, sich selbst zu organisieren, was scheinbar implizit als Form einer gesellschaftlichen Anerkennung gesehen wird, wenn der Interviewte nicht mehr auf Hilfe angewiesen ist: »It’s easier for us because we already have like too much problems not only in the past like even here. Ja it’s not easy, a whole different life, a whole different system, all different thing and ja we have to depend on ourselves. (.) It’s a little bit harder. So I hope it will stay like that and this keeping helping us now. Ja it’s not temporary situation or (.) and they stop and say okay you have to depend on yourself like just at the beginning when we settled down. Then it’s okay we can (.) can keep on alone.« (I10: 591-597) Der frühe Zugang zur deutschen Sprache gilt als wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Integration (vgl. Höhne/Michalowski 2015).

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»Gleichzeitig darf die Kompetenz in der Sprache des Aufnahmelandes nicht als einzige Voraussetzung für Integration missverstanden werden: Neben dem Eintauchen in die Sprache gehört die Teilnahme am sozialen Leben des Aufnahmelandes zu den stärksten positiven Einflussfaktoren im Zweitspracherwerb. Der erfolgreiche Deutscherwerb und die gelungene soziale Integration bedingen sich wechselseitig. Sowohl Einwanderer als auch Einwanderungsgesellschaft sind hier gefordert: Die Akzeptanz von Mehrsprachigkeit im Aufnahmeland und die Möglichkeit, insbesondere im Behördenalltag, sich auch in der Erstsprache verständigen zu können, ist ebenfalls eng mit der Frage nach der Migrationspolitik als Sprachpolitik verknüpft.« (Robert Bosch Stiftung 2015: 5). Wenngleich Einigkeit in der Sichtweise gesellschaftlicher Institutionen und der Geflüchteten selbst darin besteht, dass Spracherwerb und gesellschaftliche Integration unmittelbar zusammenhängen, erscheint es umso interessanter, die Perspektive von ›Sprache als Schwelle‹ weiter zu ergründen, die bereits im Begriff der ›Schwelle‹ vermeintliche Herausforderungen beziehungsweise Schwierigkeiten suggeriert. Ursache Der Ausgangspunkt für das Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ ist das Bestreben der Befragten nach individuellem Fortkommen. Jeder einzelne bringt bestimmte Vorstellungen von einem deutschen Bildungssystem mit und möchte damit einen jeweils individuellen Bildungsweg verwirklichen. Der folgende Interviewte beruft sich in seinen Vorstellungen auf die Erzählungen seines Vaters, der bereits erfolgreich in Deutschland ein Studium absolviert hat: »When I was in Syria I:: I read about education here and everything and I (.) I think it’s very good here because I, äh (.) because my father was here and studied here (.) a::nd he told me about it äh (.) and the education system is very good. […] Soo I think it will be good, I have a chance to study now and, I will be good at it, I would say.« (I11: 47-51) Der Erwerb der deutschen Sprache erscheint für den weiteren Lebensweg in Deutschland unerlässlich. Dabei geht es häufig gar nicht um das Erlernen der Sprache für die Einschreibung in einen Studiengang, sondern vielmehr darum, die sprachlichen Fähigkeiten für eine gute Kommunikation im Alltag zu beherrschen: »Ich möchte hier nicht später studieren oder vielleicht später äh aber nicht viel und ich wollte einfach mein Deutsch, meine Sprache, meine Aussprache verbessern. Ich möchte später oder ich möchte mit die Leute mit den Leuten vernünftig unterhalten. Äh ok ich hab gefunden, dass ich viel schriftlich lerne. Das ist auch gut, ich könnte, ohne das ich könnte ihre Bescheinigung das nicht lesen, nicht verstehen. Das ist gut, aber wenn man beides macht, ist auch viel besser.« (I7: 377-382)

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Der Spracherwerb ist aber auch bei der Verfolgung individueller Bildungswege unerlässlich. Für den Zugang zur Universität beziehungsweise zu einem Studium generell muss das Sprachniveau C1 erreicht werden, dem die Kursniveaus A1, A2, B1 und B2 vorangeschaltet sind und entsprechend erfolgreich absolviert werden müssen. »Und dann hab ich ä::h hab ich gedacht dann lass mich zurück zur Uni. Und dann hab ich auch hier Zulassung bekommen, hab ich C-Test gemacht, war ich B1, hab die Prüfung B1 gemacht, hab ich das geschafft. Und jetzt bin ich B2.« (I2: 324-326) Das Vorankommen, Fortkommen hat dabei eine sehr starke Bedeutung, sodass der Spracherwerb einen prozesshaften Charakter für die Interviewten hat. Fortschritte und Erfolge haben positive Konsequenzen auf die Kommunikation im Alltag und im Studium. Die Teilnahme an einem Deutschkurs an der Universität wird dabei als sehr hilfreich gesehen: »While I am studying […] I can understand what others saying, when someone is speaking to me I can understand and answer him. […] So it’s getting better now every day. And I have the Deutschkurs in this University, Paderborn university and it’s (.) very good.« (I11: 196-200) Die Interviewten verfügen dabei über eine hohe intrinsische Motivation und verfolgen ihr eigenes Bestreben bei dem Erwerb der deutschen Sprache, um in der Zukunft einen positiven Nutzen aus den Anstrengungen bei der Absolvierung der Deutschkurse erreichen zu können. Zentral sind dabei der eigene Erfolg und das damit verbundene individuelle Streben nach den eigenen Bildungszielen. Der folgende Interviewte beschreibt, dass das Niveau seines Deutschkurses sehr hoch sei und viele Teilnehmer/-innen, so auch der Bruder des Interviewten, den Inhalten nicht mehr folgen konnten und dementsprechend den Kurs verlassen mussten, um einen anderen Deutschkurs mit einem niedrigeren Niveau zu besuchen. Er sieht jedoch gute Chancen für seine Zukunft, wenn er diesen Deutschkurs mit hohem Niveau absolviert und stellt die Situation folgendermaßen dar: »I really wanna stick like with this course because some people drop from the course also. At the beginning there were too much people. They thought it’s harder and like ja also my brother drop from the course ja he found it too much harder. […] But no, I knew that it was better for me from (.) like later it will be better.« (I10: 460-466) Die Vorstellungen für einen Lebens- und Bildungsweg der Interviewten in Deutschland sind höchst individuell und damit auch die Motive für den Erwerb der deutschen Sprache. Dass der Erwerb der deutschen Sprache notwendig ist für jegliche weitere Lebensplanung in Deutschland, ist jedoch allen Interviewten

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offensichtlich. Somit führt das Bestreben nach einem individuellen Fortkommen nicht an der Thematik der Sprache und der damit verbundenen Schwelle vorbei. Strategie Die Strategie, diese Schwelle zu überwinden beziehungsweise positiv zu nutzen, zeigt sich in einem aktiven Spracherwerb. Die Interviewten warten nicht darauf, dass ihnen die Sprachkenntnisse wie von selbst zugetragen werden, sondern sie machen sich selbst auf den Weg und bemühen sich aktiv, bewerben sich bei Institutionen und absolvieren Sprachkurse. Dabei steht der Prozess des Spracherwerbs auch auf institutioneller Ebene im Vordergrund, indem die Interviewten beispielsweise für die Bescheinigung der Studierfähigkeit das Sprachniveau C1 erreichen müssen und dementsprechend eine Reihe von Sprachkursen zu absolvieren haben. Ein Interviewter beschreibt, dass er sehr schnell lernt und ihm die deutsche Sprache gefällt, auch wenn er dies nicht genauer begründen kann. Er beschreibt, dass er momentan den Deutschkurs mit Niveau A2 absolviert und das C1-Niveau erreichen möchte, womit er die Prozesshaftigkeit des Spracherwerbs betont und seine eigene Aktivität herausstellt: »I learn very fast, because it’s very good and I love German, yes it’s really strange but it’s really good, yes. Everything till now is okay, I am now in the A2 level and I want to be C1 level.« (I13: 217-219) Eine andere Interviewte stellt ebenfalls die Prozesshaftigkeit des Spracherwerbs anhand der unterschiedlichen Kursniveaus heraus. Bei diesem Zitat zeigt sich die Aktivität auch deutlich an der Sprache der Interviewten, indem in der ersten Person Singular gesprochen wird und das Personalpronomen ›ich‹ im Vergleich zu anderen Textstellen sehr häufig verwendet wird: »Und dann hab ich auch hier Zulassung bekommen, hab ich C-Test gemacht, war ich B1, hab die Prüfung B1 gemacht, hab ich das geschafft. Und jetzt bin ich B2. Und was ich möchte machen als (.) Studium oder Ausbildung, das weiss ich noch nicht.« (I2: 325-327) Die Interviewte betont somit bereits durch ihre Form der Erzählung, wie sie in den Prozess des Spracherwerbs involviert ist und stellt damit ihre Eigenaktivität heraus. Die dargestellte Aktivität wird somit durch das Durchlaufen der verschiedenen, aufeinander aufbauenden Sprachniveaukurse geleitet und bedingt. Intervenierende Bedingungen Der aktive Spracherwerb als Strategie zur Überwindung oder Nutzung der Sprache als Schwelle wird dabei von einigen Faktoren beeinflusst. Dabei handelt es sich um Faktoren, die die Aktivität der Interviewten sowohl fördern als auch hemmen können und in unterschiedlichen Dimensionalisierungen auftreten.

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Zunächst sei das Angebot an Sprachkursen genannt, das den Spracherwerb beeinflussen kann. Wenn es viele institutionelle und ehrenamtliche Angebote zum Spracherwerb gibt, auf die auch durch Werbung oder Hinweise aufmerksam gemacht wird, so ist dies auch für die Strategie des aktiven Spracherwerbs zur Bewältigung der Schwelle hilfreich. Gibt es jedoch nur wenige Initiativen, über die Geflüchtete zudem nicht informiert werden, kann dies eher hemmend auf die eigene Aktivität wirken. Der folgende Interviewte beschreibt eine Werbeanzeige für einen Sprachkurs, auf die er jeden Abend aufmerksam wurde und sich dann entschlossen hat, dieses Angebot wahrzunehmen: »Every evening I see an advertisement for eh it’s not real school like that you have to participate in but it’s voluntary school and good people like you and eh yes, told us that if you want to (.) learn Deutsch you can come, can do something and this and this. And I really participated and it was really good experience for me.« (I 13: 206-209) Bei dieser intervenierenden Bedingung geht es noch nicht um inhaltliche Ausrichtungen oder weitere äußere Faktoren, die eine Teilnahme an einem Sprachkurs beeinflussen, sondern lediglich die Form und Größe des Angebots, das den Geflüchteten von institutioneller und gesellschaftlicher Seite zur Verfügung gestellt wird. Die Qualität der Lehre ist dann ein weiterer Einflussfaktor auf die Aktivität der Interviewten. Qualität wird dabei an der Kompetenz der unterrichtenden Person gemessen, wie gut der Lehrer/die Lehrerin Inhalte erklären und plausibel machen kann, wie geduldig er/sie ist und wie er/sie mit Fragen der Teilnehmer/-innen umgeht. Zusätzlich spielt der Einsatz diverser Unterrichtsmaterialien eine Rolle, die unterschiedliche Zugänge zu den Inhalten und Eigenarten der deutschen Sprache ermöglichen. Nicht zuletzt scheint die Beziehung zwischen Lehrer/-in und Teilnehmenden eine Bedeutung zu haben und damit auch Einfluss auf die Bewertung der Unterrichtsqualität zu nehmen. Ein Interviewter beschreibt beispielsweise eine Lehrerin, die er sehr gut findet. Sie beantwortet die Fragen der Teilnehmenden verständlich, bringt verschiedene Materialien mit in den Unterricht und kommuniziert mit den Teilnehmenden: »The teacher is very good, äh (.) the teacher is very good, I like her, she (.) always, when I when we have a question she (.) make it clear ähm she get us (.) I don’t know what it is called, but she get us papers and photos, and other things, (.) yeah and she is very interactive with us and (2) yes very good.« (I11: 216-219) Ein weiterer Interviewter betont das generell gute Angebot, sowohl in Bezug auf die angebotenen Sprachkurse als auch auf die inhaltliche Ebene der Unterrichtsgestaltung. Die Lehrperson wird aufgrund des Angebots als sehr gut beschrieben. Diese Situation ermöglicht dem Interviewten ein schnelles Lernen und Vorankommen,

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was er in den Prozess des institutionellen Durchlaufens der Sprachkurse einordnet und das C1 Sprachniveau als sein Ziel nennt: »And eh the teacher is very good, yes and the offerment is good generally and eh I learn very fast, because it’s very good and I love German, yes it’s really strange but it’s really good, yes. Everything till now is okay, I am now in the A2 level and I want to be C1 level.« (I13: 216-219) Es wird implizit deutlich, dass auch der Charakter der Lehrperson ein nicht unerheblicher Faktor im Rahmen der Unterrichtsqualität zu sein scheint. Kommunikationsfähigkeit, Offenheit und Geduld sind Kompetenzen, die zwar erlernt und trainiert werden können, aber sicherlich auch in der Lehrperson selbst liegen. Der folgende Interviewte beschreibt seine Lehrerin in einer verniedlichenden Form als »sehr süß« und »sehr sehr gut«, was er nicht näher konkretisiert. Dies betont jedoch eine zu vermutende gute Beziehung auf Lehrer-Schüler-Ebene. »Äh Frau E., ja. Ja wirklich sehr süß @(.)@ und ja wirklich sehr sehr gut, ja.« (I12: 341) Ähnlich positiv beschreibt ein weiterer Interviewter seine Deutschlehrerin. Im Vordergrund stehen nicht ihre rein fachlichen Qualifikationen in Bezug auf die Vermittlung der korrekten Grammatik, sondern viel mehr die Fähigkeit mit den Teilnehmer/-innen in Kommunikation zu treten und Sprache in einem Dialog zu vermitteln. Die Lehrerin ermutigte ihre Schüler/-innen dazu, die Sprache im Alltag anzuwenden, ohne darüber nachzudenken, wie richtig oder falsch das Gesagte tatsächlich war. Sensibilität und Einfühlungsvermögen im Umgang mit der Unsicherheit der Teilnehmer/-innen scheinen hier besondere Stärken der Lehrerin zu sein: »Mhh:: (.) mein erster Kurs war A1, A2, B1, das war zwei Lehrerin und das war die beste Lehrerin in Volkshochschule, das habe ich Glück gehabt und äh eine ist äh heißt äh Frau N. und sie war unglaublich gut (.) und sie versucht äh nicht die Grammatik zu beherrschen, sondern (.) und er versucht immer mit uns ähm alles zu sagen und (.) wie ein (.) kleiner Dialog. Und äh wir haben das immer gemacht in äh:: in seinem ähm:: (.) äh Unterricht. Äh er versucht das immer, dass wir eine Dialog, egal egal mit was, aber mit einem Dialog, dass wir ein bisschen besser ähm (.) oder (.) ein bisschen mehr (.) mutig, wie man das jetzt äußert und sagen ohne zu (.) zu denken.« (I15: 276-283) Die Gestaltung und Umsetzung der Sprachkurse ist grundsätzlich vielfältig, was auch andere Studien belegen (vgl. u.a. Schammann/Younso 2016). Der Zugang zu Sprachkursen ist nicht klar geregelt, und es gibt keine einheitliche Zertifizierung. Ehrenamtlicher Sprachunterricht wird dabei als hilfreiche Unterstützung gesehen. Bemängelt wird vielfach die Unvereinbarkeit von universitären Sprachkursen und

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verpflichtenden Integrationskursen, was Anerkennungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen in Deutschland besuchten Kursen und Institutionen hervorruft (vgl. ebd.). Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass neben der Qualität der Sprachkurse vor allem auch die Persönlichkeit der Lehrperson einen entscheidenden Einfluss auf ein erfolgreiches Absolvieren des Kurses hat. Hier kann auch auf die Diskurse rund um Gatekeeping-Strukturen und Machtprozeduren verwiesen werden, da ein positives Erleben in den Sprachkursen offensichtlich stark an der Lehrperson und damit in der Regel einer Person hängt, die am Ende über Erfolg beziehungsweise Misserfolg entscheidet und eine entsprechende Richtung bereits während des Kursverlaufs beeinflussen kann. Der Lehrperson kommt damit eine besondere Rolle zu, die es in der Praxis im Kontext der Lehrerpersönlichkeit zu reflektieren gilt. Die Geflüchteten haben in der Regel kaum andere Möglichkeiten für einen zügigen und angemessenen Spracherwerb und sind abhängig von einer guten Betreuung und guten Qualität im Sprachkurs. Grundsätzlich zeigen auch andere Studien bereits die besondere Bedeutung des Spracherwerbs für Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland auf. Der Spracherwerb ist essenziell für den Zugang zum Bildungssystem (vgl. Durkis 2016) und hat große Relevanz auch für kulturelle Bildung (vgl. Ziese/Gritschke 2016). Ebenso haben unzureichende Kompetenzen Einfluss auf Übergangsprobleme (vgl. Bickes/Steuber 2017). Die in der vorliegenden Studie befragten Geflüchteten sehen Sprache als Schlüssel zu Bildung, wodurch die Ergebnisse an den erläuterten Forschungsstand anknüpfen. Es lässt sich weiterhin eine große Abhängigkeit geflüchteter Studierender von der Informationspolitik und den Angeboten entsprechender Stellen in Bezug auf Spracherwerbsmöglichkeiten konstatieren (Bajwa et al. 2017). Dies unterstreichen auch die hier befragten geflüchteten Studierenden, die sich beispielsweise grundsätzlich mehr Informationen auch von öffentlichen Stellen wie dem Jobcenter zu Sprachkursen an Universitäten wünschen. Da das Jobcenter in der Regel eigene Sprachkurse anbietet, werden die Klienten in die internen Kurse vermittelt, und es wird häufig ein Mangel an darüber hinausgehender Beratung beklagt. Dies lässt sich ebenfalls im Kontext von GatekeepingStrukturen diskutieren, da anhand der Sprachkurszuteilung institutionell bereits frühzeitig über den Werdegang der Geflüchteten entschieden wird und somit eine starke Abhängigkeit von den entscheidenden Organen unausweichlich erscheint. Neben den Unterrichtsinhalten und der individuellen Persönlichkeit der Lehrenden hat auch der Ruf einer Universität als Ausdruck von Ansehen und Bildungsniveau eine Bedeutung in der Beurteilung der Qualität eines Deutschkurses im Rahmen eines institutionellen Angebots. Je besser der Ruf beziehungsweise das offizielle Ranking der Universität ist, umso positiver wird auch die Unterstützung an der Universität dargestellt. Ein Interviewter verbindet das hohe Ranking der Universität mit der helfenden Unterstützung:

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»Ja they have a good rate, it’s a technical university ja but I also hear that here, really good rate and they are really helping us.« (I10: 474-476) Unabhängig von den Faktoren, die sich direkt auf die Inhalte und Organisation der Sprachkurse beziehen, gibt es weitere Rahmenbedingungen, die einen Einfluss auf einen aktiven Spracherwerb haben können. Das Üben und Anwenden der gelernten Inhalte aus den Deutschkursen hängt auch davon ab, inwieweit die Interviewten soziale Kontakte zu Einheimischen haben. Soziale Kontakte zu deutschsprachigen Menschen sind eine gute Ergänzung zu den Sprachkursen und ermöglichen die Schulung der Sprachpraxis im Alltag und in der Freizeit. Die hohe Bedeutung der sozialen Kontakte als Möglichkeit zur Schulung der Sprachpraxis deutet sich bereits in der Beschreibung der Deutschkurse an, wo Kommunikation und Dialog für die Interviewten einen guten Deutschkurs mitbedingen. Häufig beklagen die Interviewten jedoch einen Mangel an entsprechenden sozialen Kontakten und empfinden dies als hinderlich beim Verinnerlichen der deutschen Sprache: »Auch groß Probleme, wir haben kein Kontakt mit Deutsche. Wirklich, wenn ich geh zu Deutschkurs, ich kann verstehen meine Lehrerin was sie hat gesagt und was äh und ich kann äh sprechen ein bisschen, nicht sehr gut, aber mit sprechen mit dir oder mit äh @(.)@ manchmal ich verstehe nicht. @(.)@ Weil wir haben kein Kontakt mit Deutsche oder das (.) das ist Problem mit Deutsch lernen, ja.« (I12: 332-336) Soziale Kontakte zu deutschsprachigen Menschen bieten die Möglichkeit, den Wortschatz zu erweitern, den Klang der Sprache zu verinnerlichen und das eigene Sprechen zu trainieren, was durch eine Beschränkung auf den Rahmen des Deutschkurses nur über eine nicht ausreichende Stundenzahl möglich ist. Darüber hinaus führen mangelnde soziale Kontakte zu Einsamkeit und haben nicht zu unterschätzende psychische Folgen. So beschreibt eine Befragte massive Probleme im Rahmen depressionsartiger Zustände, die sogar zu einem Abbruch des Deutschkurses geführt hätten, da sie mit der Einsamkeit und den mangelnden sozialen Kontakten nicht umgehen konnte. »Ich konnte ich nicht mehr, weil viele Schwierigkeiten, ich kenne niemanden hier, ich bin hier allein gekommen. Äh ich hab nur äh eine Freundin und sie will zu andere Stadt äh umziehen.« (I2: 288-289) Auch das persönliche Bildungsniveau trägt dazu bei, wie erfolgreich und in welchem Tempo die deutsche Sprache erworben werden kann. Ein Befragter hat ein Praktikum in der Lebensmittelindustrie absolviert und ist dabei vor allem sprachlich auf Hürden gestoßen. Die praktische Tätigkeit war ihm bereits aufgrund seiner Erfahrungen und seiner beruflichen Tätigkeit im Heimatland Syrien bekannt, jedoch fehlten die entsprechenden deutschen Begriffe und Beschreibungen für die

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Arbeitsvorgänge. Andersherum konnten die deutschen Begriffe auch nicht mit Inhalt gefüllt und die Tätigkeiten entsprechend zugeordnet werden, sodass der Interviewte auf Hilfe angewiesen war, obwohl er die Tätigkeit beherrschte und Routine vorweisen konnte. Dadurch, dass die Handlungen aufgrund von Studium und Berufstätigkeit bekannt waren, ließen sich die deutschen Vokabeln dazu viel einfacher erlernen. »Ähm, ähm das hilft nur im Bereich Praktikum, ähm:: mein Praktikum war (.) für mich ist einfaches Thema. Ähm, ich habe nur eine Problem bei die Sprache. Vielleicht bin ich gut in die Sprache, aber das hilft nicht draußen, ähm jetzt zum Beispiel wenn ich sage verdünnen, verdünnen ja, was bedeutet verdünnen? Ich brauchte ein bisschen Zeit zum Verstehen, was das äh:: wie funktioniert das, ähm kenne ich wie funktioniert äh die Methoden kenne ich, kann ich zum Beispiel alleine machen, ähm so dass meine Bildung hilft so viel. Ich hab das bemerkt und äh:: das war gut, weil äh ich brauchte nicht so viel äh zu lernen, ähm ich brauchte nur die Sprache.« (I15: 332-339) Eine weitere Hürde, die einen aktiven Spracherwerb beeinflussen kann, zeigt sich in der Finanzierung der Deutschkursangebote. Zunächst beginnt ein bürokratischer Weg, auf dem Geflüchtete sich über Möglichkeiten zur Finanzierung der Sprachkurse informieren müssen. Das Jobcenter vermittelt beispielsweise Deutschkurse. Für die Interviewten, die bereits ein Hochschulstudium absolviert haben oder ein Studium in Deutschland anstreben, sind die vom Jobcenter vermittelten Sprachkurse nicht attraktiv, da sie als weniger niveauvoll und zu langsam eingeschätzt werden, sodass Deutschkurse an Universitäten bevorzugt werden. Diese wiederum werden zunächst nicht vom Jobcenter bezahlt, sodass die Interviewten die Kosten teilweise selbst tragen müssen. Ein Interviewter beschreibt, dass er dabei von einer ehrenamtlichen Helferin unterstützt wurde, die zunächst die Kosten für den Deutschkurs übernommen hat: »Und die Frau hat mich auch unterstützen und sie hat oder ich hab hier an Uni angemeldet oder ich hab mich eingeschrieben. Mhh und ich musste das Gebühr bezahlen, das ist kostet 750 € für drei Monate, normal 250 € das ist das Gebühr für Uni und 450 €, das ist für Deutschkurs nur für Deutschkurs. Äh sie hat mich unterstützen und sie hat das bezahlt äh für mich. (.) Und sie hat gesagt wenn ich Geld, wenn ich später Geld habe, kann ich das wieder zurück bezahlen.« (I7: 315320) Diejenigen, die die finanziellen Mittel nicht aufbringen können, müssen einen finanzierten Deutschkurs besuchen, der jedoch nicht auf einem universitären Niveau stattfindet.

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»And we were paying the ticket at the beginning (.) then they give us the money. So some people saw that they were paying money and they don’t understand so they can go to another courses that’s easier for them all start from a lower level.« (I10: 462-465) Die Bedeutung der finanziellen Belastung für die geflüchteten Studierenden wurde bereits hinreichend diskutiert. Interessant hervorzuheben erscheint hier noch einmal die Bedeutung sozialer Kontakte beziehungsweise der wahrgenommene Mangel durch die Geflüchteten selbst. Dieser Aspekt zeigt sich immer wieder auch in anderen Forschungskontexten. Im Rahmen einer Studie zu den Lebenslagen Geflüchteter in Deutschland betont Schu (2017): »So dankbar die Flüchtlinge für die Unterstützung durch Sozialarbeiter und Ehrenamtliche sind, so wenig können unterstützende Kontakte echte Freundschaften ersetzen. Die Flüchtlinge wünschen sich, dass sich echte und stabile persönliche Beziehungen entwickeln.« (Schu 2017) Je nach Altersgruppe und institutioneller Einbindung fällt es Geflüchteten leichter beziehungsweise schwerer Kontakte zu Einheimischen zu knüpfen. So finden geflüchtete Kinder durch die schulische Anbindung leichter soziale Kontakte zu Einheimischen als Erwachsene, wobei für die Kinder und Jugendlichen die nationale Herkunft der Freunde weniger relevant ist als vielmehr gemeinsame Interessen (vgl. Bretl/Kraft 2008). Eine Studie mit erwachsenen Geflüchteten, die in einer Gemeinschaftsunterkunft leben, zeigt, dass Freundschaften in der Phase des Ankommens häufig hauptsächlich zu Landsleuten innerhalb und außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft bestehen und sich nur vereinzelt Bekanntschaften zu Einheimischen entwickeln (vgl. Täubig 2009). Soziale Kontakte und Freundschaften zu Einheimischen hängen darüber hinaus stark von Eigeninitiative und Handlungsfähigkeit der jeweiligen Person ab (vgl. u.a. Bretl/Kraft 2008). Eine repräsentative Umfrage der Robert Bosch Stiftung (2014) zur Wahrnehmung Geflüchteter in der deutschen Bevölkerung zeigt zudem, dass nur fünf Prozent der Deutschen über enge persönliche Kontakte zu Asylsuchenden verfügen. Im Kontext des Spracherwerbs bedingt sich dieser Missstand wechselseitig. Einerseits sind soziale Kontakte zu Einheimischen für die Geflüchteten während des Spracherwerbs notwendig, um Praxis im Umgang mit der deutschen Sprache zu erwerben. Andererseits wirken mangelnde Sprachkenntnisse wiederum hemmend auf die Eigeninitiative und Handlungsfähigkeit der Geflüchteten, um überhaupt soziale Kontakte zu Deutschen aufnehmen zu können. Dies hat für die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung befragten Geflüchteten starke emotionale Auswirkungen, die auch in den folgenden Konsequenzen deutlich werden.

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Konsequenzen Es wird also deutlich, dass ein aktiver Spracherwerb von zahlreichen Faktoren bedingt wird und sich die Strategie eines aktiven Spracherwerbs damit auch in zwei Richtungen entwickeln kann, die in der vorangehenden Darstellung deutlich geworden sind. Grundsätzlich kann ein aktiver Sprachgebrauch, sofern dieser Weg möglich ist, positive Folgen haben und den Interviewten ein Gefühl der Zuversicht vermitteln: Zuversicht in Bezug auf ein allgemeines Vorankommen in Alltagsaufgaben, die mit der Flucht und dem Ankommen in Deutschland verbunden sind, oder auch in Bezug auf die Möglichkeit ein Studium (wieder-)aufzunehmen, auf Berufstätigkeit beziehungsweise Karrierechancen. Wenn die Strategie des aktiven Spracherwerbs aber nicht in dem gewünschten Maße umgesetzt wird und die Interviewten die Teilnahme an den Sprachkursen und den Spracherwerb im Allgemeinen nicht adäquat und ihrem Eigenständigkeitsinteresse entsprechend praktizieren können, so kann dies zu eher negativ geprägten Folgen führen. Dann ist ein Gefühl der Unsicherheit bei den Interviewten auszumachen, was sich auf den Lebensalltag auswirkt, da die eigene Sprachkompetenz in Frage gestellt wird und ein Voranschreiten im Prozess des Spracherwerbs nicht wie gewünscht möglich ist. Die genannten Folgen der Strategie des aktiven Spracherwerbs sind unter dem Begriff der Konsequenzen zusammengefasst. Die folgende Interviewte beschäftigt sich in einer längeren Passage mit der Unsicherheit im Ausdruck der Sprache und beschreibt detailliert, wie sie in ihrem Alltag ihre sprachlichen Defizite erkannt hat. »[…] aber dann auf dem Gymnasium hatte ich das Gefühl, da kam viel mehr Grammatik, viel mehr wirklich Deutsch und da hab ich gemerkt, okay, ich bin nicht auf dem Stand wie die anderen. Ähm vor allem ich merk das auch immer wieder an mir und meinen Schwestern, meine also meine Freundinnen waren immer schon Kinder, die einen Migrationshintergrund hatten oder selber Ausländer waren und dementsprechend man merkt einfach, man drückt sich ganz anders aus und meine Schwestern hatten schon immer deutsche, äh »deutsche« Freunde und die drücken sich auch dementsprechend aus. Also manchmal die reden mit mir und dann frag ich die, was hast du grad gesagt, ich versteh – also ich verstehs einfach nicht, weil ich diese Worte nicht in meinem Wortschatz habe und ähm ja und, das ist mir auf dem Gymnasium richtig aufgefallen, also auf der Realschule, klar ab und zu du hattest deine Freunde, die deutsch waren oder sich besser ausdrücken konnten, aber das ging total, aber auf dem Gymnasium hab ich sofort gemerkt, okay da sind Unterschiede. Und mein Problem war, ich wusste nie, wie ich das irgendwie aufholen kann, also klar, dann meint meine Lehrerin, du musst viel lesen, aber weiss nicht, aber irgendwie war viel Lesen nicht die Lösung für mich. Ähm und äh, man kann auch nicht von einem Tag auf den anderen meine Freunde, sag ich mal, wechseln und sagen, okay, ich bin heute ab heute nur noch mit denen, die

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sich besser ausdrücken können, also so geht das halt nicht. Und das war auf jeden Fall son Ding, ähm, was sehr schwierig war und wo ich auch gemerkt hab, vor allem, weil in der elften, oder auch in der zehnten hab ich dann auch angefangen voll viel auch ehrenamtlich zu machen und meistens war das dann halt so Kinderbetreuung, Kinderkirche, lauter solche Sachen und es waren meistens so, dass die Kinder, die ich betreut hab, aus ähm Familien stammen, die einfach aus Deutschland sind. Und schon an den Kindern hab ich gemerkt, die drücken sich ganz anders aus, die reden ganz anders. Und ich weiss noch, dass das mich immer voll beschäftigt hat, also es hat mich immer son bisschen gestört, dass ich mich nicht so richtig ausdrücken kann und das (.) als wäre ich nicht auf demselben Level, genau.« (I17: 188-212) Ein weiterer Interviewter nennt seine Angst, das Studium nicht zu schaffen. Er kann noch nicht einschätzen, ob seine Sprachkenntnisse für das Absolvieren eines technischen Studiengangs ausreichend sind, und würde sich mit der englischen Sprache sicherer fühlen. So wird einerseits die Unsicherheit des Interviewten deutlich, auf der anderen Seite wird diese aber relativiert, da in der Konklusion die sprachlichen Herausforderungen als machbar beziehungsweise überwindbar gesehen werden und die Unsicherheit eher auf generelle Versagensängste bezogen ist, was aber implizit auch auf die sprachliche Schwelle hindeutet. »But it’s only the language I don’t what it would be in engineering. I’m also afraid a little bit. (.) Like ja if there is in English I think I can be better but it’s all in German but it’s okay I can also manage it. Ja I’m only afraid ja that ja of failing.« (I10: 135137) Eine derartige Unsicherheit gipfelt bei einer anderen Interviewten darin, dass sie ihre Zukunft sehr pessimistisch sieht. Scheinbar kraftlos beschreibt sie ihre Gefühle zusammenfassend damit, dass sie vielleicht aufgeben muss, falls sich die sprachliche Schwelle als unüberwindbar erweist. »I: Also wie würden Sie Ihr Gefühl jetzt hier beschreiben in Bezug auf Bildung? B: (4) Ich würde aufgeben. (.) Ja vielleicht (3) hier ist sehr schwer und vielleicht kann ich das nicht schaffen. (2) Ja ich weiss noch nicht (4). Ich will das machen, aber vielleicht kann ich nicht.« (I8: 125-129) Interessant ist hier jedoch, dass das Interview in deutscher Sprache geführt wurde und Erzählungen umfassend und verständlich in deutscher Sprache möglich waren. Das Selbstvertrauen beziehungsweise die vorhandenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen scheinen somit ebenfalls eine zentrale Rolle zu spielen, also die Frage, wie sprachliche Kompetenzen wahrgenommen und gelebt werden. Neben der negativen Konsequenz der Unsicherheit lassen sich jedoch die positiven Konsequenzen mit den Begriffen Zuversicht und Zufriedenheit benennen.

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Der Erwerb der deutschen Sprache kann in der Konsequenz auch als sehr wertvoll und gewinnbringend gesehen werden: »And it was really very important for me because in the (.) last March I have participated in the Deutschkurs in Technologiepark here and it’s really amazing and it’s really valuable, and it’s free.« (I13: 212-214) Die Strategie des aktiven Spracherwerbs, verbunden mit den genannten Einflussfaktoren, kann auch durchweg positive Effekte haben. Der folgende Interviewte berichtet in englischer Sprache über seinen Spracherwerb in Deutschland. Seine Erzählung gipfelt in einem Satz in deutscher Sprache »Leben ist okay«, um seine positiven Erfahrungen allumfassend und zufrieden darzustellen: »[…] everything is really good. I mean I am visiting the course and I am passing all the levels, I am not having any difficulties with German or so or anything, and äh (.) Leben ist okay […].« (I3: 113-115) Das beschriebene Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ ist für die Interviewten zusammenfassend mit sehr ambivalenten Gefühlen und Erlebnissen verbunden. Enthusiasmus und Unsicherheit stehen einander gegenüber und müssen im Rahmen des Spracherwerbsprozesses ausgehandelt werden. Diese Ergebnisse ermöglichen unter Umständen in einem weiteren Sinne die Ableitung von Handlungsalternativen beziehungsweise Anregungen für die institutionelle Praxis des Sprachunterrichts. Die mit dem Begriff des ›Bildungserlebens‹ verbundenen Empfindungen wie eine starke Antriebskraft und der Wunsch, die eigene Bildungsbiographie fortzusetzen bei gleichzeitiger Unsicherheit und Enttäuschung, zeigen sich auch am Beispiel des Spracherwerbs, was der Begriff der ›Schwelle‹ versinnbildlicht. Einerseits ist mit dem Spracherwerb der große Wunsch verbunden, voranzukommen und die starke intrinsische Motivation nach außen durch einen erfolgreichen und zügigen Spracherwerb zu präsentieren, während andererseits eine große Unsicherheit beim Umgang mit sprachlichen Defiziten vorherrscht. Dennoch zeigen sich die Befragten durchaus zuversichtlich, denn sie verstehen Sprache als den Schlüssel zum Bildungssystem und damit auch als Schlüssel, um ihre Bildungsbiographie fortzusetzen. Interessant ist dabei tatsächlich, dass die Befragten den Spracherwerb nicht explizit als Bildungsprozess empfinden, sondern eher als Notwendigkeit, um danach wieder ihre institutionelle Bildungsbiographie fortsetzen zu können. Dies macht auch das Verhältnis von Migration und Bildung besonders, denn der Schlüssel zum Bildungssystem muss vorranging von nicht deutschen Muttersprachlern und damit in der Regel von Studieninteressierten mit Migrationshintergrund auf besondere Weise erworben werden, während deutschen Studierenden diese Voraussetzung bereits in die Wiege gelegt ist. Eine fluchtbedingte Benachteiligung zeigt sich dabei an verschiedenen Stellen, wie beispielsweise der Frage nach der

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Sprachkursfinanzierung oder auch bei den nicht zu beeinflussenden langen Wartezeiten. Zudem sind geflüchtete Studieninteressierte besonders den unterrichtenden Lehrpersonen ausgeliefert, da sie kaum andere Möglichkeiten des Spracherwerbs haben und nicht so einfach in einen anderen Kurs wechseln können. Zudem verfügen sie über wenig soziale Kontakte zu Deutschen, die beispielsweise eine mangelnde Empathiefähigkeit der Lehrpersonen kompensieren könnten. Die dargelegten Befunde knüpfen grundlegend an bereits vorliegende Studien an, gehen jedoch viel spezifischer und ganzheitlicher auf die konkreten Rahmenbedingungen der Sprachkurse ein. Die Rolle der Lehrkraft und ihre Empathiefähigkeit sind beispielsweise entscheidend, ebenso wurden sprachpraktische Übungen und Kontakte zu Einheimischen als unbedingte Notwendigkeiten herausgestellt. Es zeigt sich also, dass auch an dieser Stelle der Zusammenhang von Migration und Bildung bedeutsam und durchaus prekär ist. Worin sich dieses Verhältnis weiter manifestiert, wird das folgende Phänomen ›Bedürfnis nach Sicherheit‹ verdeutlichen.

4.2.2.2

Phänomen ›Bedürfnis nach Sicherheit‹

Das vorangegangene Phänomen ›Sprache als Schwelle‹ hat bereits aufgezeigt, inwiefern sich der Zusammenhang von Migration und Bildung am Beispiel des Spracherwerbs herausstellen lässt. Im Kontext der Diskurse um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit äußert sich demnach auch im Spracherwerb eine starke emotionale Ambivalenz, die gleichzeitig Ungleichheiten aufzeigt. Das Phänomen ›Bedürfnis nach Sicherheit‹ steht für den Wunsch der Geflüchteten, Gewissheit zu haben und vor Gefahren und Risiken geschützt zu sein. In vielfältiger Weise sind sie Situationen der Ungewissheit und Unsicherheit ausgeliefert, bei existenziellen Fragen wie dem Aufenthaltsstatus ebenso wie in Verbindung mit alltagspraktischen Herausforderungen, wie einer sicheren und lebenswerten Unterkunft oder auch der Finanzierung von Lebensunterhalt und Studium. Sicherheit impliziert dabei Schutz als etwas, das Sicherheit erhöht und Gefahren und Schaden abwehrt. Damit geht auch eine langfristige Perspektive einher. Bedingt durch die häufig nicht einfache Flucht nach Deutschland und vor allem den Prozess des Ankommens und der Integration sehnen sich die Befragten nach Sicherheit und einer einhergehenden Kontinuität: »Ich hab kein Gefühl. (2) Angst. (.) Ich habe Angst. Wirklich, ja. (.) Ä::hm ja, weil, das ist was was kommt, das ist unbekannt. Oder ich weiß nicht was kommt. Und immer ich bin zurückhaltend, weil (.) ja kann ich sagen wirklich, hab ich Angst.« (I2: 495-498)   »I speak a dream and with (.) I tell you yet I don’t have a job, I don’t know how to make it without a job or without feeling safe. If you are not safe you can’t ähm (.)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

no, for me I am ja I’m not safe and at the same time I’m trying to help another people, but if I’m ja ja more safer, I feel more safer, what can I do?« (I5: 1354-1357) Um den Start in ein neues Leben zu bewältigen und dieses Ziel zu erreichen, sind die Geflüchteten vielfach auf Hilfe angewiesen und davon abhängig, wie sie beraten und unterstützt werden, was auch der folgende Befragte beispielhaft betont: »Also it will be stay like that the situation is better with education. It’s easier for us because we already have like too much problems not only in the past like even here. Ja, it’s not easy, a whole different life, a whole different system, all different thing and ja, we have to depend on ourselves. (.) It’s a little bit harder. So I hope it will stay like that and this keeping helping us now. Ja, it’s not temporary situation or (.) and they stop and say okay you have to depend on yourself like just at the beginning when we settled down.« (I10: 591-596) Es wird deutlich, dass die befragten Geflüchteten viel auf sich selbst gestellt sind, bei der Herausforderung, in einem neuen Land mit einem neuen Alltag zurechtzukommen. Dies steht zunächst dem genannten Verständnis von Sicherheit entgegen und fördert eben genau das Bedürfnis, das in den Äußerungen der Befragten immer wieder zur Geltung kommt. Um die Aspekte und Zusammenhänge des Phänomens zu spezifizieren, folgt die weitere Erläuterung der graphischen Darstellung in Abbildung 12.

Abb. 12: Phänomen ›Bedürfnis nach Sicherheit‹ (eigene Darstellung)

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Kontext Das Empfinden der Befragten, auf sich selbst gestellt zu sein, ist ebenfalls in sich ambivalent. Auf der einen Seite resultiert daraus der bereits erwähnte Wunsch nach mehr Unterstützung und Ansprechpartner/-innen. Auf der anderen Seite sind sie einer Flucht und deren Folgen aufgrund der unzumutbaren Situation im Herkunftsland ausgeliefert und möchten sich dem nicht hingeben, sondern ein Stück weit ihre Eigenaktivität erhalten. Es geht also im Wesentlichen darum, das ›Ausgeliefertsein‹ abzuwenden bei gleichzeitiger Erhöhung der eigenen Sicherheit und in der Regel auch die der Familie. Dies zeigt sich beispielsweise sprachlich, indem die Befragten ihre Flucht oft als geplant und eigene echte Entscheidung darstellen, wenngleich die Situationsbeschreibung verdeutlicht, dass es keine andere Möglichkeit als die Flucht gab, um das Überleben zu sichern. Kennzeichnend für diese Darstellungen sind die häufige Verwendung des Personalpronomens ›ich‹ und zugehöriger Possessivpronomen, um die Eigenaktivität zu betonen und sich dem Zwang zur Flucht nicht auszusetzen, was auch folgendes Zitat illustriert: »Ähm bis ungefähr drei Jahre (.) habe ich gearbeitet an meiner Promotion (.) habe ich so viel gearbeitet (.) ja, (.) dann (.) musste ich (.) ja, ja hier sagen (.) nach Deutschland auszuwandern. Ja und dann (.) musste ich entscheiden, ob ich in Syrien weiterarbeiten und ähm (.) weiter studieren meine (.) meine Promotion (.) zu erledigen oder zu absolvieren oder muss ich hier nach Deutschland kommen (.) und das war ein einfaches Thema für mich, weil meine Familie ist hier sicher sind (.) und so. Dann habe ich meine, habe ich mich entscheid- entschieden und bin ich hier in Deutschland.« (I15: 23-29) Begleitet wird die Situation der Geflüchteten dabei zusätzlich von einer großen Ungewissheit. Für viele ist nach wie vor unklar, wie sich das Leben in Deutschland und die Bildungsbiographie weiter gestalten werden. Maßgeblich für das Gefühl der Unsicherheit sind die statusbedingten Herausforderungen. Die befragten Geflüchteten schildern, dass sie mit vielen Problemen konfrontiert sind und sich dabei einsam fühlen. Dies führt teilweise zu Perspektivlosigkeit und am Ende sogar zu Gedanken des Aufgebens: »Hab ich hier in Deu- in ä::h in A-Stadt Sprachkurs Zulassung zu Sprachkurs, dann war ich (.) A2. Aber leider vielleicht war ich zwei Wochen und dann kann ich, konnte ich nicht mehr, weil viele Schwierigkeiten. Ich kenne niemanden hier, ich bin hier allein gekommen. Äh, ich hab nur äh eine Freundin und sie will zu andere Stadt äh umziehen und dann wo wie wann, und die Finanzierung auch das war auch ein bisschen Problem und dann hab ich diese äh Deutschkurs abge- abgebrochen.« (I2: 286-292)   »Mh hopeless, you can’t you are not allowed to find a job, there is no jobs for you and the future is very dark. You don’t see anything in your future. You don’t know

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

if you will find a job in Germany or not. You don’t know if you will live in Germany or not. You don’t know if you will make your dreams or not. So it makes you crazy when you sit there alone.« (I5: 972-976) Wenngleich Abbrüche die Ungewissheit möglicherweise noch weiter verstärken, scheint dies häufiger in Betracht gezogen zu werden. Die Ungewissheit führt offensichtlich zu Unsicherheiten, sodass Empfindungen des Scheiterns schneller aufkommen. Auf die Frage, wie sie sich momentan im Kontext ihrer Bildungsbiographie fühle, antwortet eine Befragte folgendes: »Ich würde aufgeben. (.) Ja vielleicht (3) hier ist sehr schwer und vielleicht kann ich das nicht schaffen. (2) Ja ich weiss noch nicht (4). Ich will das machen, aber vielleicht kann ich nicht.« (I8: 127-129) Auch hier äußert sich die Unsicherheit durch Verzweiflung darüber, wie es weitergehen soll und wie die gestellten Anforderungen noch bewältigt werden können, was sie schlussendlich auch zu Gedanken des Scheiterns führt. Da die Ungewissheit und mangelnde Sicherheit mit statusbedingten Herausforderungen einhergeht, ist ein weiteres Charakteristikum des Phänomens, dass die Befragten teilweise versuchen, sich von ihrem Flüchtlingsstatus abzuwenden und abzugrenzen. So wird häufig allgemein und distanziert über die Gruppe der Geflüchteten gesprochen oder aber die Begrifflichkeit der Flucht vermieden. Exemplarisch verdeutlicht dies folgendes Zitat: »Ja und äh (2) ich hab zuerst hier bei F-Institution gearbeitet. Äh, als Lasermaschineningenieur und dann kam äh (.) das Flüchtlingsthema. Und das war (.) ich weiß ganz genau, wie, warum die Menschen fliehen oder warum alles so ist. Weil ich weiß gar, ich hab das alles erlebt, alles gesehen. (.) Und darunter gelitten, sehr. Aber wir sagen immer Gott sei Dank für alles, obwohl unser (.) äh (.) Situation schlecht war, wir sagen es gibt Menschen ihren ihren Situation schlechter als uns.« (I4: 221-226) Obwohl die eigene Flucht noch nicht lange zurückliegt, baut der Befragte eine gewisse Distanz auf, indem er über die neu angekommenen Geflüchteten nachdenkt und sich aufgrund seiner eigenen Erfahrungen verständnisvoll zeigt. Ein weiterer Befragter ist noch im Herkunftsland an der Universität seiner Lehrtätigkeit nachgegangen, bis er dann mit seiner Familie nach Deutschland geflohen ist. Den Begriff der Flucht vermeidet er explizit und spricht viel mehr von ›Auswanderung‹. »Ähm:: (.) und das äh (.) dauert ungefähr sechs Monate (.) habe ich angefangen zu unterrichten neues Semester und äh (.) das dauert auch sechs Monate bei uns. Hab ich äh:: angefangen zu unterrichten (.) dann (.) mussten wir (.) auswandern.« (I15: 216-218)

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Auswanderung steht für das geplante Verlassen des Heimatlandes, was freiwillig oder gezwungenermaßen stattfinden kann. In letzterem Fall ist der Begriff der Flucht zutreffend. Der Befragte versucht durch die Nicht-Verwendung des Fluchtbegriffs somit erneut die eigene Entscheidung und Eigenaktivität zu unterstreichen, um sich einem Ausgeliefertsein und einer Ungewissheit entgegenzustellen und das Bedürfnis nach Sicherheit zu artikulieren, wenngleich das Verb »mussten« eindeutig auf die erzwungene Situation hinweist. Die bereits vorliegenden Forschungsbefunde zeigen in diesem Zusammenhang, dass Geflüchtete häufig befürchten, den eigenen Fluchthintergrund zu enthüllen und dadurch stigmatisiert zu werden (vgl. Stevenson/Willott 2007). Auch nach Morrice (2013) zögern Geflüchtete demnach, Unterstützung und Förderung bei der Studienvorbereitung in Anspruch zu nehmen. Sie möchten ihren Fluchthintergrund nicht offenlegen, was eigenverantwortliches und selbstständiges Lernen erschwert (vgl. auch Berg et al. 2018). Im Kontext der bisherigen Ergebnisse der im Rahmen dieser Arbeit unternommenen Untersuchung lassen sich diese Ansätze nicht bestätigen. Die befragten Geflüchteten versuchen zwar, wie bereits erläutert, ihren Flüchtlingsstatus umzubenennen und dementsprechend zu vermeiden, aber nicht aus Sorge vor Stigmatisierungen, sondern weil sie dadurch eine Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit sehen und befürchten. Das Studium wird von Geflüchteten als eine Art Neustart ihres Lebens empfunden und ermöglicht die (Wieder-)Aufnahme des Bildungsweges beziehungsweise die Fortsetzung der Bildungsbiographie (vgl. Student et al. 2017). Die Geflüchteten befinden sich dabei in einem ständigen Reflexionsprozess, indem sie den gesellschaftlichen Wert von Bildung im Aufnahmeland, aber auch die Form der Bildung als Selbstzweck überdenken. Bildung als Selbstzweck ermöglicht die Herstellung sozialer Kontakte und wird als »Mittel zur Selbstoptimierung« (Gateley 2015: 36) verstanden. Neben den genannten Aspekten auf der Gefühlsebene äußert sich das Bedürfnis nach Sicherheit auch in ganz alltagspraktischen Beobachtungen. Das Leben in Deutschland wird von den Befragten als angenehm und lebenswert empfunden, da neben der Perspektive, in Deutschland grundsätzlich mehr Möglichkeiten als im Herkunftsland zu haben, auch die Orientierung an Regeln und Normen als Sicherheitsfaktor gesehen wird. Beispielsweise stellt der folgende Befragte heraus, dass er in Deutschland im Vergleich zu seinem Herkunftsland die gesellschaftlichen Regeln, Gesetze und die generelle Infrastruktur sehr schätzt. Darüber hinaus bewundert er die deutsche Mentalität des Aufbruchs und des Aufbauens, indem er in einer historischen Perspektive Zeiten des Kriegs in Deutschland auf die momentane Situation in seinem Herkunftsland bezieht: »Warum unser Schicksal so und so, aber weitergehen und Leben geht weiter. Und (3) ja (3) mh (2) als in als ich in Deutschland kam (.) war richtig schön. Ich sag

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

immer (.) ja also diese Stadt oder Deutschland insgesamt also alles so geordnet alles ist so (.) nach Regeln, Gesetze und alles ist schön, obwohl (.) gibt es gab es auch hier Krieg und alles war kaputt, fast alles war kaputt und aber ist schon alles so starkes (.) gutes Land geworden und ich (.) ich vergleiche immer mit meinem Land, wir hatten auch Krieg alles war kaputt. (.) Infrastrukturen und äh (.) ja Gebäude (.) alles alles und ich hab gesagt ja wa- also nach so 50 Jahren es ist möglich, dass, also mein Land so (.) so wie Deutschland (.) werden kann oder mh ja die die Menschen dort in diesem (.) ja mit dieser Mentalität so, alles zu verbessern und zu entwickeln werden können. Aber jetzt nach 11 Jahren (2) bis jetzt ist alles ist (2) alles ist chaotisch, gefährlich (.) und nach diese Terroristen, die ISIS ge- äh gekommen sind, das war, das war Alptraum, wir- richtig.« (I5: 258-263) Weiterhin halten viele der Befragten nach wie vor intensive Kontakte zu Familienmitgliedern, Freunden und vor allem auch Kollegen, um den Alltag durch etwas Bekanntes zu erleichtern und ein gewisses Gefühl der Sicherheit erhalten zu können. Der folgende Befragte belegt dies in einem Zitat beispielhaft. Er hält weiterhin intensive soziale Kontakte zu Personen, die ihre Bildungsbiographie noch im Herkunftsland absolvieren, was Studierende seiner ehemaligen Universität umfasst ebenso wie ehemalige Kolleg/-innen aus Wissenschaft und Verwaltung, die ihm sogar eine berufliche Rückkehr angeboten haben. »Ich habe immer, immer noch das gute Beziehung mit meiner Studenten (.) in facebook oder so. Äh und falls etwas mit ihnen passiert äh und sie (.) sie sind jetzt in einer Master, ich hab viele Studenten jetzt in einem Master oder einem Doktorand und falls sie (.) falls äh:: (.) schwierig äh gehabt Schwierigkeiten, sie äh haben immer Kontakt mit mir und sie sagen, was sollen wir machen? (.) Wie ein Berater oder von Distanz, von Abstand. Ähm und ich mach das gern, ich hab immer gute Beziehung mit meine Doktoranden, wir reden immer. Äh:: ich hab immer gute Beziehung zu meine Studenten und meine Doktoranden, meine Verwaltung, die die Professoren sagen immer, wenn du das (.) ähm (.) zurück (.) äh nach Heimat möchte, wir sind glücklich und zufrieden ihn zu (.) noch einmal mit ihm zu arbeiten und so.« (I15: 222-231) Dieser Aspekt der sozialen Kontakte im Herkunftsland ist so bedeutsam, dass er im Verlauf dieser Arbeit noch einmal in Form eines eigenen Phänomens (vgl. Kapitel 4.2.3.1) auftauchen und an dortiger Stelle noch tiefgehender diskutiert wird. Ursachen Als Ursache für das Bedürfnis nach Sicherheit können die schlechten Bedingungen im Herkunftsland herausgestellt werden. Die Bedrohung durch den Krieg ist dabei einer der wichtigsten Faktoren. Terrormilizen schränkten beispielsweise das gesellschaftliche Leben, den Alltag und die Handlungsfähigkeit der Befragten ein.

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Ihr Ziel ist es, durch kriegerische Handlungen weite Teile des Landes zu besetzen und unter ihre Macht zu bringen. Die damit verbundenen Einschränkungen und Gefahren für die Bevölkerung beschreibt die folgende Aussage eines Geflüchteten. Der Befragte möchte im Kontext dieser Situation die Stadt und damit die Universität wechseln, um der Gefahr zu entgehen, jedoch scheitert er daran, dass er nicht auf wichtige, personenbezogene Unterlagen seiner alten Universität zugreifen kann, da dieses Gebiet von einer Terrormiliz kontrolliert wird und eine Anforderung der Unterlagen nicht möglich ist. »So eh one year I was in, then the situation became not eh, not good. Eh ISIS come, eh (.) the situation became bad then I I asked the university if they can (.) give me the permission to go to a university of talk in Kurdistan. Then they give me eh the permission like a guest. They said you can go like a guest, not eh to move. Then I, I went to university of talk, (.) two years I studied there. Eh then ISIS come to eh they attacked (.) M2-Stadt, government, governors. Then eh (2) all my papers (.) wasn’t in M2-Stadt, I didn’t (.) I can’t (.) I can (.) not bring it like (.). Mh then eh problems happened because of these university of talk was asking about the papers (.) and then I said to them (.) I can not bring the papers now. M2-Stadt are under ISIS control I can not go there. Then I left the university because of this situations. (2) And eh I came here. (2) That’s all.« (I6: 32-41)   »Dann haben wir den Krieg (.) und das war (.) keine Verkehrs (.) zwischen den Städten, war eine (.) war Krieg drin, die andere war ein bisschen ruhiger, aber äh draußen war keiner, das war sehr gefährlich zu sein (.), ja (.). Dann musste ich nur in A4-Stadt äh bleiben, ja. (2) Das wars.« (I15: 207-210) Auch der Alltag in der Universität war von den Veränderungen innerhalb des Landes massiv betroffen. Beschädigungen durch Bomben und verstorbene Kommiliton/-innen gehörten zur Tagesordnung und die entsprechenden Berichte geben einen Einblick in die Geschehnisse in den Herkunftsländern der Befragten. Zudem stellt ein Befragter beispielhaft heraus, dass er neben den genannten Gefahren auch noch selbst zum Militär eingezogen worden wäre, wenn er sein Studium absolviert hätte: »Ja so (.) ja it was hard for me. And then I thought like I (.) it really got worse in the university, too much bombs and like (.) ja like each semester some students died (.) it was really hard. Ja so I started like I should leave the country. And even if I graduate they have to take me to military so I (.) my dream would be ended so as (.) as I graduate if I could also take my certificate sometimes they don’t give you the certificate.« (I10: 65-69) Derartige Erlebnisse im Herkunftsland stellen für die Befragten nicht immer einfache Erinnerungen dar, sodass sie nicht immer explizit so detailliert wie in dem

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

oben genannten Beispiel erläutert werden. Häufig lassen sich aus den Aussagen der Geflüchteten vielmehr Hinweise auf die erlebte Situation im Herkunftsland erahnen, was ein weiteres Zitat exemplifizieren soll. Es werden nicht explizit die schlechten Bedingungen im Herkunftsland genannt, jedoch wird angedeutet, dass alles, was dort bisher erreicht wurde, nun verloren geglaubt erscheint und damit indirekt für die schlechten Bedingungen und mangelnden Möglichkeiten spricht. »Und jetzt äh (.) ja von Anfang an habe ich das Gedanken und das (.) hier weiter zu werden und meine Promotion erledigen, aber jetzt nicht, ich suche jetzt eine Arbeit und das war total anders. Und hoffe ich, wenn ich die äh Deutsch Staatsangehörigkeit bekomme, bin ich sicher ein Deutscher, habe ich keine Problem hier (.) immer zu sein, immer zu bleiben, dann mache ich das gerne meine Promotion und ähm:: (.) weil ist sehr wichtig für mich (2), das tut weh (.) von drinnen, weil eine Person (.) ist sehr:: klug und ich hab das so viel Sachen gemacht und an vier verschiedene Universitäten gearbeitet und so viel Sachen erledigt (.). Dann muss ich (.) hier (.) nix, ich hab das alles verloren (.) und das tut weh (.) ein bisschen, (.) ja.« (I15: 29-37) Die von den geflüchteten Studierenden wahrgenommenen und erlebten schlechten Bedingungen in den Herkunftsländern sind Konflikte, die durch die Medien auch in Deutschland diskutiert werden. Beispielsweise ist der bewaffnete und gefährliche Bürgerkrieg in Syrien seit Jahren Thema der internationalen Staatengemeinschaft und wurde durch internationale politische Maßnahmen immer wieder befeuert: »Die Eskalation der Proteste und der Gewalt gegen das autoritäre Assad-Regime wurde eilfertig und naiv von der Zulieferung von Freiwilligen und Waffen aus Libyen, nicht zuletzt durch amerikanische Hilfe befeuert. Während des Bürgerkrieges in Syrien ist versäumt worden, früh durch die internationale Staatengemeinschaft, repräsentiert im Sicherheitsrat zur Eindämmung des sich entfesselnden Bürgerkrieges beizutragen und etwa der Idee 2012 zu folgen, Waffenstillstände auch unter Hinnahme der Tatsache des Bestehens des Assad-Regimes durchzusetzen.« (Funke 2018: S. 35) Auch Jahre später ist der Konflikt nicht gelöst und durch ein Ringen internationaler Mächte, wie den USA, Russland und europäischen Einflüssen bestimmt. Diese verzwickte politische Situation hat nach wie vor verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung in Syrien und führt zu Fluchtbewegungen. Die hier dargestellten Wahrnehmungen und konfliktbedingten Erlebnisse werden auch in anderen Studien deutlich (vgl. u.a. Aumüller 2016). Das Erleben im Herkunftsland ist immer wieder geprägt von Gewalt, Diskriminierung und Verlusten. Dies bedingt auch Einschränkungen bezüglich der Teilhabe am Bildungssystem im Herkunftsland, und es werden durchweg den Aufnahmeländern bessere Bildungsmöglichkeiten zuge-

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schrieben (vgl. Korntheuer 2016: 302). Die Situation in den Herkunftsländern ist also massiv durch Unruhen und Unsicherheiten geprägt, was zu einem erhöhten Bedürfnis nach Sicherheit führt. Wie die befragten Geflüchteten mit dem Bedürfnis nach Sicherheit umgehen, ist bereits in der Kontextualisierung des Phänomens angeklungen und soll im Folgenden detaillierter beschrieben werden. Strategie Um das Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen und die Möglichkeit der Sicherheit zu steigern, versuchen die befragten Geflüchteten ihren eigenen Fluchtprozess möglichst aktiv zu gestalten und selbstbestimmt zu handeln. Dies gibt ihnen das Gefühl, den weiteren Verlauf selbst steuern zu können und dem Geschehen nicht ausgeliefert zu sein. In den vorliegenden Daten zeigt sich darin, dass die Flucht wie geplant und langfristig organisiert aussehen soll, wenngleich die Situationsbeschreibungen nur ein geringes Zeitfenster zwischen der Entscheidung zur Flucht und ihrer tatsächlichen Umsetzung offenbart. Zudem ziehen die Befragten zunächst andere Möglichkeiten in Betracht, wie sie nach Deutschland kommen können, bevor sie eine Flucht anstreben. Es manifestiert sich eine Bewegung des ›Zweite-Chance-Asyls‹, denn viele Befragte versuchen anfänglich über ein Visum legal nach Deutschland einzuwandern. Selbst wenn dies gelingt, jedoch die Unterstützungsmaßnahmen im Aufnahmesystem wenig greifbar sind, entscheiden sich einige Befragte für eine nachträgliche Asylantragstellung. Sie erhoffen sich dadurch zusätzliche Hilfen und Unterstützung, was zu einer aktiven Gestaltung ihres Fluchtprozesses führt, sofern man den Fluchtprozess als Prozess von der Entscheidung bis zur Asylgewährung versteht. »Und ä::h danach diese Phase das war am Ende: ich denke 2011 (.) und dann 2012 hab ich ähm lange Urlaub gestellt und hab ich alles organisiert. Wie kann ich nach Deutschland äh kommen und und und und. Und mein Visum ist gekommen in drei tausend äh 2013. (2) Und dann bin ich hier als ä::h neue Erfahrung. (.) Ja, das ist in Syrien.« (I2: 266-269)   »Hab ich geguckt in Fernsehen Nachricht und und und und wie ist die Situation immer schlecht in meinem Heimatland. (.) Und das kommt alle in meinem Kopf. (.) Das konnte ich nicht so gut konzentrieren wirklich ja. (.) Ä::hm und (.) d- dann konnte ich, ne konnte ich das nicht schaffen, hab ich alles (.) was hab ich alles auch Finanzierung, hab ich das ausgegeben und und und und. Hab ich versucht bis (.) 1.2015. Und dann hab ich äh Asylantrag gestellt, das war in W6-Stadt (2) und dann (2) dann hab ich diese Erfahrung bekommen als Flüchtlinge. Das war ganz neu und ganz anders, als Flüchtlinge das ist ganz anders als Student oder Studentin. Das gibt es Leute (.) auch wie bei uns gibt es überall gute und schlechte Leute. (.)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Als Wort Flüchtlinge (2) das kommt ohhh arme Flüchtlinge ohh ja nein wie hm ich möchte nicht sagen wie aber wie eine Sache äh wir sollen ja wir sollen ihnen helfen und und und manche Leute nein, sie mögen keine Flüchtlinge. Einfach. Ä::hm als meine Erfahrung (2) und wenn ich wenn hab ich meine Ausweis bekommen und alles in Ordnung und Aufenthalt und das war sehr äh gut.« (I2: 298-310) Um den Fluchtprozess aktiv zu gestalten, beziehen die Befragten auch Ratschläge und Unterstützung von Bezugspersonen aus ihrem Herkunftsland mit ein. Der folgende Befragte schildert die Situation in seinem Herkunftsland, wo er zum Militär eingezogen werden sollte, sofern er nicht innerhalb weniger Tage eine Promotionsbetreuerin/einen Promotionsbetreuer an der Universität fände. Gemeinsam mit einem Kollegen hat er dann einen systematischen Plan entwickelt, der ihn letztendlich nach Deutschland geführt hat. »It’s not easy to find a supervisor in one or two weeks. Ja and e::h the same time I have just one month to eh go to military. So what can I do. (.) What can I do. Eh my eh:: my professor assistant said eh I I was in France and I have a lot of superveh ehm professors that if you go to France that you can complete your PhD but in France ehm:: I (.) ehm (.) you know in France the situation in France it’s very hard to st- to to live there how to study and live in France (.) for refugees. So ehm my decision was to go to Germany to came to Germany. Ja and ehm (2) to complete my PhD.« (I5: 406-412) Der Wunsch, den eigenen Fluchtprozess aktiv und selbst zu gestalten, ist ein besonderes Ergebnis dieser Untersuchung. Zwar wird in verschiedenen Studien immer wieder erwähnt, dass nach der Ankunft in Deutschland die Eigenaktivität der Geflüchteten gefördert werden muss (vgl. z.B. Mörath 2019: 59) und Eigenaktivitäten der Geflüchteten als positiv wahrgenommen werden, wie beispielsweise Mitgliedschaften in Organisationen und Vereinen (vgl. Haug et al. 2009), jedoch ist die Perspektive hauptsächlich auf die Situation im Aufnahmeland beschränkt und lässt eine ganzheitliche Perspektive auf den Fluchtprozess außer Acht. Die gesellschaftliche Perspektive des Aufnahmelandes Deutschland mit der Forderung nach mehr Eigenaktivität und dem entsprechenden Wunsch der Geflüchteten selbst scheinen dennoch in ihrer Passung aneinander vorbeizugehen, und es zeigt sich der Bedarf nach weiteren Untersuchungen, die dieses Verhältnis vertiefen. Das Bedürfnis nach Sicherheit durch die Erhöhung der Eigenaktivität im Fluchtprozess zu stillen, ist insofern besonders, als dass die Befragten damit tatsächlich aktiv für ihre Bedürfnisse einstehen. Das Verlangen nach Sicherheit könnte auch bedeuten, sich zurückzuziehen, auszuharren und eben möglichst wenig aktiv zu werden. Stattdessen sehen die Geflüchteten ihren Raum der Sicherheit aber explizit in der besonderen Eigenaktivität, also darin, möglichst selbstbestimmt zu agieren.

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Intervenierende Bedingungen Die Strategie der aktiven Gestaltung des Fluchtprozesses wird dabei von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Relevante Bedingungsfaktoren sind in diesem Zusammenhang das politische und gesellschaftliche System des Herkunftslandes, die bereits erworbene Bildungsbiographie im Herkunftsland, die Erlebnisse während der Flucht sowie das System des Ziellandes. Die Befragten empfinden das politische und gesellschaftliche System ihres Herkunftslandes bereits als Einschränkung ihrer Eigenaktivität. Verschiedene Institutionen und entsprechende Vorgaben ermöglichten kein uneingeschränktes Fortführen der eigenen Bildungsbiographie. Zu nennen ist beispielsweise, wie bereits erwähnt, das Militär. Alle jungen Männer sind staatlich zum Militärdienst verpflichtet und werden spätestens nach ihrer Ausbildung eingezogen. »Ja I have to go to military first but if you couldn’t get aware of this ((lacht)). So it’s and (.) it’s end end way, it’s a dead way like (.) ja so I thought I have to look for another solution.« (I10: 69-71) Auch das Schul- und Bildungssystem wird häufig kritisiert. Die Lehrpersonen werden als rechthaberisch, unfreundlich und streng beschrieben. Die didaktischen Praktiken werden als wenig hilfreich und fachlich inkompetent empfunden, sodass ein immenser Bedarf an Privatunterricht und Nachhilfe gegeben ist, woraus sich ein eigener Wirtschaftsbereich entwickelt hat. Die berufliche Tätigkeit als Lehrperson genießt häufig wenig Ansehen und ist oftmals schlecht bezahlt, wodurch es auch bei den Lehrpersonen selbst zu entsprechenden Nebenerwerbsbedarfen kommt. »[Die Lehrer] waren wie Monster. (4) Wir durften gar nicht sprechen und wir durften gar nicht äh sagen, das ist falsch. Die äh die Lehrer hat immer Recht. Und ähm (.) egal was steht im Bücher, die Bücher sind falsch. Aber die Lehrer ist richtig. (3) Ja, das war so, ja.« (I8: 201-208)   »In public schools (2) I mean the teachers doesn’t, (.) in private schools, I got to start with private schools because that is my experience (.) the teacher like is acquired to do his work. The book was (.) is to be done and when kids have problems they should be allowed to ask him. But in most teachers in private schools have äh (.) another (.) objective that is like to get the most private lessons (.) private students he could get. So there will be like some teachers who (.) wouldn’t explain something or would do something (.) whatever makes sense so the kids won’t understand and they would have to take private lessons. And teachers knew that at a private school like mine (.) the kids can afford (.) to go to private lessons, and private lessons are so common. I mean (.) before the war it wasn’t expensive I mean to take a private lessons it was affordable. So many kids went to (.) especially kids

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whose, parents were like (.) don’t have time for them or (.) they like (.) they were not educated enough to explain to their kids they would always send to private lessons.« (I3: 212-223)   »Ein Lehrer macht nur seinen Job äh. Die ganze System, das ist ihm wichtig oder die System? Das System. Das System bei uns, es ist völlig (2) falsch. Die Lehrer bekommt von Uni wenig Geld, deswegen macht er Nachhilfe, damit er äh viel Geld bekommen oder mehr Geld bekommen. Äh wir bezahlen für Uni auch wenig Geld. Äh obwohl wir arm sind oder obwohl wir, ob wir ob wir viel Geld haben als Studenten oder viel oder wenig Geld haben, spielt das keine Rolle. Wir bezahlen auch das Gebühr für Uni oder Schule, nicht mehr nicht wenig. Äh:: also das ist einfach ein eine Runde. Wir bezahlen wenig, der Lehrer bekommt wenig, er unterricht wenig. Alles wenig wenig wenig. (4) Die System es ist, unser System ist ein bisschen chaotisch.« (I7: 231-239) Darüber hinaus spielt in den Herkunftsländern häufig die gesellschaftliche und sozioökonomische Stellung der Familie bei der Absolvierung institutioneller Bildung eine wichtige Rolle. Hat eine Familie eine hohe soziale Stellung und beispielsweise Kontakte in die politischen Reihen, so werden die Kinder auch in der Schule bevorzugt behandelt. Auch Korruption wird in diesem Zusammenhang immer wieder an verschiedenen Stellen angedeutet. Exemplarisch stellt die folgende Befragte die Zusammenhänge dar: »Gibt es gute Leute, gibt es schlechte Leute und gibt es bei uns wirklich gute Leute. Sie geben (.) sie geben (.) äh zum Beispiel sie geben mir, was ich verdiene, aber auch auch gleichzeitig gibt es Leute (.) °nein° (.) das zum Beispiel das spricht eine Rolle (.) Geld (.) kann ich Geld bezahlen oder nicht, spielt eine Rolle (.) die ä::h St- die ä::h Stellung in Gesellschaft. Haben meine Familie Macht oder nicht, oder wir sin- normale Leute, auch das spielt eine Rolle. Meine Familie zum Beispiel äh hat äh mh ä::h pf auch Macht mit Regierung oder nicht, auch das spielt eine Rolle. Aber ich kann nicht sagen, das ganz nur schlechte Leute, nein. Hab ich Leute, sie haben mir wirklich, was ich verdiene.« (I2: 156-163) Dies hat entscheidende Auswirkungen auf die Bildungsbiographien von Kindern und Jugendlichen, und es wird deutlich, dass teilweise Bildungsabschlüsse und Zeugnisse alleine nicht unbedingt aussagekräftig für den tatsächlichen Leistungsstand sind. Die im Herkunftsland bereits erworbene Bildungsbiographie wiederum stellt damit einen weiteren wichtigen Einflussfaktor auf eine aktive Gestaltung des Fluchtprozesses dar. Bereits absolvierte institutionelle Stationen fördern den Willen beziehungsweise den Wunsch, die eigene Bildungsbiographie fortzusetzen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, was zu dem Wunsch nach einer aktiven Gestaltung des Fluchtprozesses führt. Die bereits erworbene Bildungsbiographie

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wird dabei entlang institutioneller Ablaufmuster beschrieben, die auch der folgende Befragte für seine Darstellung verwendet: »Äh, ich hab zuerst die Schulabschluss (.) ähm ich hab bis die neunte Klasse gelernt, danach hab ich ähm Fachabitur äh ne Fachhochschule äh medizinische Fachhochschule. Dann Medizin Abitur, danach hab ich äh in 2009 hab ich die erste Semester in Medizin äh eigentlich hab ich fünf Semester, sieben Semester gemacht. Ja, äh aber das, das hat mehr als drei Jahre gedauert, weil äh in zwei…(.) in 2011 das war die libysche Revolution und die Dozenten in unserer Universität waren alle Ausländer und wegen des Kriegs mussten die Dozenten alle nach ihren Heimat zurück fahren. Ähm deswegen konnten wir nicht mehr(.) an der Uni weitermachen. Äh, ich musste ein Jahr in zu Hause bleiben (.). Ja, und (.) die erste die erste Jahr war war ähm allgemein wissenschaftliche, naturwissenschaftlich. Und dann haben wir Medizin richtig Medizin äh studiert.« (I8: 19-28) Neben den in Bezug auf das Herkunftsland relevanten Aspekten sind auch die Erlebnisse während des eigentlichen Fluchtweges entscheidend für eine aktive Gestaltung des weiteren Fluchtprozesses. Je nachdem, inwiefern der Fluchtweg selbst beeinflusst werden kann und welche Erfahrungen die Befragten während ihrer Flucht gemacht haben, resultiert daraus der Wunsch, den Fluchtprozess selbstständiger beziehungsweise aktiver zu gestalten. Einige Geflüchtete beschreiben eine bewusste Entscheidung für den gewählten Fluchtweg, wenngleich sie aufgrund der finanziellen Lage der Familie auch andere Möglichkeiten gehabt hätten. Die Flucht wird in diesem Zusammenhang zwar als gefährlich, aber gleichzeitig auch aufregend empfunden, was den Befragten ein Gefühl der Eigenaktivität gibt. Dies stellt auch der folgende Befragte eindrücklich heraus: »It was very (.) dangerous, very scary trip, and at the same time I was happy (.) because (.) all my time, life was in safe environment and now I have to be in very dangerous environment and make me this exciting. Yeah you see I am crazy, like my family by the way okay my family said okay BB-Name, you have to go I1-Stadt, take airplane to Germany. (.) Please take airplane, and I said no I don’t want to take airplane, I want to go bei Fuß(.), so they said no take the airplane. No cause I prefer that this money I would pay for airplane I would give my family this money.« (I5: 431-437) Andere Befragte, die nicht die Möglichkeit hatten ihre Fluchtroute selbst festzulegen, sehen in der fremdbestimmten Organisation der Flucht eine Einschränkung ihrer Eigenaktivität. Sie möchten diese nach der erfolgreichen Absolvierung der Fluchtroute unbedingt zurückerlangen und legen daher ebenfalls besonderen Wert auf eine aktive Gestaltung des weiteren Fluchtprozesses. Eine Befragte blickt erleichtert auf ihren Fluchtweg über das Meer zurück, der von der Sorge begleitet war, jederzeit wieder zurückgeschickt werden zu können und dann im Herkunfts-

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land doch noch die fluchtbedingt abgebrochene Prüfung an der Universität absolvieren zu müssen. »Wir mussten zu einer, nach einer anderen Stadt gehen, damit wir über das Meer kommen können. Äh aber im der in der Stadt mussten wir vielleicht so ungefähr 14-16 Tage bleiben, warten eigentlich. Und ich dachte, dass ich vielleicht ähm wenn ich, wenn es nicht geklappt ist, vielleicht klappt es, vielleicht klappt es nicht, dann muss ich wieder zurück. Und wenn ich zurückgehe, dann schaff ich nie, also die Prüfung hab ich gar nicht gelernt und äh ja, manchmal meine Freunde rufen mich an und sagen äh kannst du vielleicht hier jetzt in der Stadt lernen. Vielleicht klappt das nicht und musst du wieder wieder zurückgehen und die Prüfung auch machen, musst du das bestehen. Wenn du das nicht bestehst, dann musst du das Jahr wieder von Anfang wiederholen. Aber hab ich nicht gelernt und zum Glück hat das geklappt und sind wir nach Deutschland gekommen, (.) über das Meer natürlich.« (I9: 298-308) Für viele Geflüchtete sind aber gerade mit der eigentlichen Flucht sehr traumatische Erlebnisse verbunden, die im Rahmen der Interviews dieser Untersuchung nur am Rande von den Geflüchteten thematisiert beziehungsweise angedeutet werden. Werden etwa Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen erwähnt, deuten sich die traumatischen Erlebnisse des folgenden Befragten beispielsweise in einer extremen Form des Vergessens an: »Und ja, als ich über das Meer gekommen bin, dann hab ich viel viel viel vergessen von meinem ganzen Leben.« (I9: 328-329) Um auch derartige traumatische Erlebnisse verarbeiten zu können, wird es von den Geflüchteten als hilfreich empfunden, einen aktiven Einfluss auf die Gestaltung ihres eigenen Fluchtprozesses ausüben zu können. Neben der eigentlichen Flucht hat dann auch das System des Aufnahmelandes einen entscheidenden Einfluss auf die weitere aktive Gestaltung des Fluchtprozesses. Grundsätzlich wird Deutschland dabei ein sehr positives Bild zugeschrieben, ein Land, in dem das Bildungssystem zunächst alles ermöglichen kann und viele Ressourcen zur Verfügung stellt: »Eh, Germany is one of the you I think best countries in the world about education. So, (.) eh (2) I think it’s the best you know. I can’t say anymore. Ja. You can find anything you want. You you eh (.) you know (2) and there is a lot of chances and you know (.) very helpful things eh to to if you are you know interested in one subject and you want to be good at it you know. Then you can. You can find resources, you can find the you know the help you want. That’s what I feel here, yes.« (I1: 292-300) Gleichzeitig werden durch das politische und bürokratische System des Aufnahmelandes Deutschland auch wiederum viele systembedingte Anforderungen gestellt, die von den Geflüchteten bewältigt werden müssen und je nach Bewältigungsmög-

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lichkeit förderlich oder hemmend auf eine weitere aktive Gestaltung des Fluchtprozesses wirken können. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder das Thema der Finanzierung angesprochen: »Ja but when you always think about the goal like you don’t care you don’t see the other things, you just cross it. I just jumped on it, like even here in Germany ja when I first arrived it was really hard for me. I didn’t know what’s gonna happen like it’s a new life, a new start and (.) ja and it’s like the situation like always I have to go to BAföG and you know the finance problem always. In Syria I don’t care, I have my parents but here ja I have to think about it always and to find a job, find a mini job, to find a flat or something. Ja so (.) ja but I hope it will be better like before like I can pass it.« (I10: 225-232) Gerade die dargelegten Erkenntnisse zur Bedeutung der bisherigen Bildungsbiographie ebenso wie die Erlebnisse während der eigentlichen Flucht erscheinen im Kontext einer Einordnung in schon bestehende Forschungsergebnisse relevant. Wenn in bereits vorliegenden Studien die Bildungsbiographie der Geflüchteten thematisiert wird, so geht es zumeist um eine institutionelle Perspektive, die einer Orientierung an bereits erworbenen Bildungsabschlüssen folgt (vgl. u.a. Maué et al. 2018). Die Bildungsbiographien werden in ihrer Einordnung dabei auch nach Herkunftsregionen unterschieden. Personen aus Ländern, die erst in den letzten Jahren zu Kriegsschauplätzen geworden sind, wie beispielsweise Syrien, weisen relativ stringente Bildungsbiographien auf (vgl. Brücker et al. 2016), dennoch führt die Flucht dann eher zu unterbrochenen beziehungsweise fragmentierten Bildungsbiographien (vgl. Shakya 2010). Quantifizierbare Kategorien dienen als Orientierung für eine Beschreibung der Bildungsbiographien. Zu nennen sind hier insbesondere Bildungsabschlüsse, Schuljahre, der Bildungserwerb im In- und Ausland ebenso wie Anerkennungsverfahren und die Sprachkompetenz, wie es beispielsweise in einem Forschungsbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung dargelegt ist (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2016). Außer Acht gelassen wird dabei das Bildungserleben der Geflüchteten, Erfahrungen und Emotionen im Bildungskontext jenseits messbarer Abschlüsse. In diesem Zusammenhang kommt der vorliegenden Untersuchung eine besondere Bedeutung zu, da die Ergebnisse zeigen, dass die bisherige Bildungsbiographie einerseits bei positiven Erlebnissen im Herkunftsland Halt bieten kann, auch noch im Aufnahmeland nach der Flucht, andererseits aber auch ein negatives Bildungserleben im Herkunftsland zu späteren Unsicherheiten führen kann. In beiden Fällen resultiert offensichtlich ein besonderes Bedürfnis nach Sicherheit, da es ein positives Bildungserleben zu erhalten beziehungsweise wiederzuerlangen gilt. Hieraus resultiert die Strategie einer aktiven Gestaltung des Fluchtprozesses. Auch die Erlebnisse während der Flucht haben Auswirkungen auf den Prozess des Ankommens in Deutschland. Nach Brücker et al. (2016) ist die Flucht häu-

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fig durch traumatisierende Erfahrungen, Überforderung und Todesangst geprägt. Flüchtende sind lebensgefährlichen Situationen sowie häufig auch Schikanen und Misshandlungen durch Polizei und Militär ausgeliefert. Zudem sind sie immer wieder abhängig von Schleppern und leiden unter genereller Erschöpfung, z.B. durch lange Fußmärsche, schlechte Unterbringungsmöglichkeiten in Flüchtlingslagern und lange Wartezeiten. Derartige Erlebnisse haben häufig massive psychische Konsequenzen und wirken auch später noch belastend, was im Kontext von Bildungsfragen berücksichtigt werden sollte (vgl. Korntheuer 2016). An diese Befunde knüpfen auch die Interviewaussagen der in dieser Untersuchung befragten Geflüchteten an, wenngleich die Form der Thematisierung sehr heterogen ist und unterschiedlich in der Detaillierung der Darstellung ausfällt. Da dies aufgrund der starken Belastung ein sehr sensibles Thema darstellt, ist die Interviewerin in ihren Nachfragen in der Regel nicht weiter auf die Thematik eingegangen. Welche Konsequenzen eine aktive Gestaltung des Fluchtprozesses mit sich bringt, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Konsequenzen Aus der Strategie der aktiven Gestaltung des Fluchtprozesses und den darauf wirkenden genannten Einflussfaktoren folgen unterschiedliche Konsequenzen. Auf der einen Seite führt eine aktive Gestaltung zu einer besonderen Betonung der eigenen Fähigkeiten und Formen positiver Selbstdarstellung. Bei der Organisation der weiteren Bildungsbiographie in Deutschland ist häufig das Jobcenter eine erste Anlaufstelle und die Geflüchteten erhoffen sich dort Informationen und Unterstützung zur Fortsetzung oder Aufnahme ihres Studiums. Das Jobcenter ist jedoch vielmehr darauf ausgerichtet, die Klienten möglichst schnell in den deutschen Arbeitsmarkt zu vermitteln und entsprechende Maßnahmen anzuregen. Dementsprechend berichten die Geflüchteten häufig entrüstet von ihren Besuchen im Jobcenter, wenn ihnen dort Umschulungen in praktische Berufe angeboten werden und betonen ihre eigenen Fähigkeiten, vor allem in Bezug auf eine akademische Laufbahn, was die folgenden Beispiele verdeutlichen: »Und dann sie hat gesagt okay, aber was war die Angebot, Angebot als ä::hm (.) Altenbepfleger. (.) Ich bin nicht dagegen, alte Leute zu helfen. Aber das ist nicht mein Traum. Ich möchte zurück zu Bereich Lehrer und Lehrerin. Das fühle ich wie Fisch, wenn sie ist raus äh das Meer ohne ohne die (.) ich kann das nicht, ich mag das sehr.« (I2: 318-321)   »Because when you finish also after the B1, Jobcenter don’t leave you alone, you know. They push you, you have to work, you have to work, you have to go. Okay but you know I really want to work but you know I came here to work but but after all (.) after all my education I don’t want to clean things you know. It’s work but

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it’s not why I came here to clean things you know. I want to use my mind not my hands.« (I1: 341-346) Über ein fachliches und institutionell geprägtes Bildungsverständnis hinaus beschreiben die Geflüchteten als Resultat ihrer aktiven Fluchtgestaltung auch informelle Bildungsprozesse während ihres Fluchtweges, die zur Darstellung der eigenen Fähigkeiten beitragen. Dabei stehen grundlegende Bewusstseinsveränderungen im Sinne des Kennenlernens anderer Kulturen und der Ausbildung von Kreativität und Teamfähigkeit im Vordergrund: »First it introduced me to another cultures, second (2) it’s make me more positive, it’s make more (.) creative, it’s make me more ja äh think about other humans. All of us are the same, Macedonia, in Turkey, we are all the same. (.) Here we always look for good, work for good things. (.) I met (.) in Macedonia a nice people, I met in Serbia funny and nice people. They are very friendly and simple. It’s not, we think that Europe it’s very complex people and that say put this in here and (.) and they are no with my trip from Syria to Germany (3) I don’t have the word, sorry I don’t have the words to explain for you. I have this feeling but I don’t have words, I don’t know if I said it right. (2) My trip from Syria to Germany changed me onehoundred and eighty degree. Onehoundred and eighty degree changed my way to see the world, (.) it changed a lot of my personality, it give me (3) make me (2) more (2) love to meet people.« (I5: 1167-1177) Des Weiteren benennen die befragten Geflüchteten das Zeigen von Stärke und Offenheit als grundlegende Voraussetzungen, um die eigenen Ziele erreichen zu können, und schreiben sich entsprechend diese Fähigkeiten selbst zu: »Mhh und was ich weiß, ich weiß schon, dass wenn ich etwas machen möchte oder will, mach ich das auf jeden Fall. (.) Ich wollte Europa erreichen und ich konnte Europa erreichen.« (I7: 480-482)   »I hope that äh (.) I mean I can adapt even more; I mean I am really open minded, I am not like (.) in Syria they had really so many negatives that overwhelm the positives of living there.« (I3: 380-382) Schlussendlich ist die Selbstdarstellung auch durch eine Orientierung an Statussymbolen geprägt. So betont der folgende Befragte exemplarisch die materiellen und ideellen Besitztümer in seinem Herkunftsland, Auto, Karriere und Familie. Durch die Flucht nach Deutschland hat er diese zwar weitgehend verloren, was er jedoch in seiner Darstellung nicht erwähnt und stattdessen betont, dass er seinen Status durch die Flucht und das neue Leben in Deutschland noch verbessern möchte:

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»Und ich war (.) in diese Firma für sieben Monate und dann 2013 (.) äh (.) ich hab mich entschieden, dass (.) so geht es nicht weiter. Also man kann keine Familie gründen (.) man kann nicht heiraten oder so normal leben, keine als gute Zukunft oder vernünftige Zukunft. (2) Also oder gute Karriere machen in die (leider) in B2-Stadt. Hahhh ja und äh (.) ich hatte alles, ich hatte mein Auto, mein meine Familie bis jetzt ist dort und äh (2) meinen (.) meinen Job, meine Freunde, war schön, aber ja, ich habe gesagt ich war etwas ich mö- ich möchte mein Leben mein Leben ändern, verbessern.« (I4: 180-187) Grundsätzlich zeigen sich durch eine hohe Bildungsmotivation positive Effekte (vgl. Schamann/Younso 2016), wenngleich aber auch immer wieder die Kehrseite diskutiert wird. Möglicherweise kann eine übersteigerte Selbstwahrnehmung oder eine zu starke Fokussierung auf Bildung auch verheerende Auswirkungen des Scheiterns nach sich ziehen (vgl. u.a. Harris et al. 2015). Gerade bei Geflüchteten ist häufig ein hoher Erfolgsdruck zu verzeichnen, der eng mit familiären Erwartungen verknüpft ist (vgl. McWilliams/Bonet 2016). Auf der anderen Seite bedingt die Strategie der aktiven Gestaltung des Fluchtprozesses aber auch ein Nachdenken über mögliche Abweichungen von den bisherigen Zielvorstellungen und beschreibt damit eher eine nachdenkliche und weniger euphorische Sichtweise auf die Situation der Geflüchteten. Aufgrund der in Deutschland alltagspraktisch und hochschulbezogen zu bewältigenden Anforderungen werden Zielvorstellungen im Laufe der Zeit häufig pessimistischer betrachtet: »Ähm (.) my (3) in the first I think that my dream will come true but now (.) I see my dreams go far away because now I have to (.) ähm (4) to solve the problems, Jobcenter and (.) ja I (3) I’m thinking always positive and I think (6) I think ähm (4) in Germany, when I reached Germany a lot things changed in my mind. (2) First in Syria ja I I didn’t I was not thinking like this ja. I have a job, I have to work, but in Germany I start thinking more positive because (2) if I am in trouble, okay. So I have a lot of people to ask for example ja I am in trouble. I have problems with Jobcenter, I have problems with BAföG, I don’t know how to get money, I don’t have a job, so what can I do?« (I5: 938-945) Auch Alternativen zu einem Hochschulstudium werden in diesem Zusammenhang in Betracht gezogen, wie beispielsweise die Möglichkeit einer dualen beruflichen Ausbildung: »Wenn das funktioniert nicht mit Studium, vielleicht ich denke in Ausbildung mit Physiotherapie. Dann Physiotherapie mit äh Bereich Massage und wenn jemanden hat äh ä::h Verletzung und Muskeln oder so. Ja, das kann ich arbeiten und dann meine ähm meine Studium nicht vergessen. Gehe ich in diesen Bereich. Dann kann ich sagen entweder mit Ausbildung als ähm Physiotherapie oder Stu-

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dium als Master in Sportwissenschaft, aber das Problem Finanzierung.« (I2: 403412) Zusammenfassend zeigt sich für das dargestellte Phänomen, dass sich das von den Geflüchteten erlebte Bedürfnis nach Sicherheit auf vielfältige Weise äußert und damit ihr Leben begleitet und bestimmt. Der Flüchtlingsstatus nimmt dabei eine besondere Rolle ein, da die Herausforderungen während des Fluchtprozesses das Bedürfnis nach Sicherheit bedingen. Das Bedürfnis nach Sicherheit wird damit zum handlungsleitenden Konzept auch bei der Organisation des Einstiegs in das deutsche Bildungssystem. Für das Bildungserleben zeigt sich, dass die Orientierungen im Herkunftsland offensichtlich auch Auswirkungen auf das Bildungserleben im Aufnahmeland haben und die bisherige Bildungsbiographie daher unbedingt im Kontext der Integration im Aufnahmeland berücksichtigt werden sollte. Dieser Aspekt wird im weiteren Verlauf auch an anderer Stelle noch einmal aufgegriffen.

4.2.2.3

Zwischenfazit

Dieses Kapitel hat zu Beginn der Diskussion den Anspruch erhoben, den Zusammenhang von Bildung und Migration zu erläutern. Es ist deutlich geworden, dass vor allem die Sprache beziehungsweise der Spracherwerb und ein besonderes Sicherheitsbedürfnis die geflüchteten Studierenden in diesem Kontext begleiten. Die bereits vielfach angesprochenen statusbedingten Herausforderungen, wie beispielsweise Finanzierungsprobleme oder auch soziale Isolation sind dabei durchaus hemmende Faktoren auf die uneingeschränkte Fortsetzung der Bildungsbiographie der Geflüchteten. Dabei zeigt sich, dass geflüchtete Studierende in besonderer Weise auf Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen angewiesen sind, die ihnen fundierte und präzise Auskunft zu studien- und alltagsbezogenen Fragen geben. Der Spracherwerb hat zunächst oberste Priorität und ist ebenfalls abhängig von Personen, die einerseits an entsprechenden Stellen Zugänge zu adäquaten Sprachkursen ermöglichen und andererseits empathisch auf die besonderen Lern- und Lebenssituationen der Geflüchteten reagieren können. Im Kontext der Diskurse um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit ist das hier dargelegte Verhältnis von Bildung und Migration ein höchst sensibles Thema. Menschen mit Fluchthintergrund wird zwar grundsätzlich ein Zugang zur Hochschule ermöglicht, die Zugangsvoraussetzungen sind jedoch für Geflüchtete eine besonders hohe Hürde, was sich am Beispiel der Sprache zeigt. In Kumulation mit den statusbedingten alltagspraktischen Herausforderungen ist es für die befragten Geflüchteten sehr belastend, den Zugang zum Hochschulsystem zu erreichen. Das bereits vorherrschende besondere Bedürfnis nach Sicherheit verstärkt dieses Empfinden. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die Geflüchteten großen Wert auf die Beibehaltung ihrer Selbstbestimmung und Eigenaktivität legen, was sich explizit

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in beiden Phänomenen zeigt. In der anfänglichen Begriffsbestimmung zur Kernkategorie wurde bereits das Bildungserleben als ein sehr ambivalenter Prozess herausgearbeitet, was sich auch für den Zusammenhang von Bildung und Migration bestätigt.

4.2.3

Der Zusammenhang von Migration und Biographie

Im Folgenden steht das Verhältnis von ›Migration‹ und ›Biographie‹ im Vordergrund. Die beiden Phänomene ›Einstieg ohne Ausstieg‹ und ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹ werden dabei zur Annäherung herangezogen.

Abb. 13: Der Zusammenhang von Migration und Biographie (eigene Darstellung)

›Migration‹ und ›Biographie‹ sind kaum ohne einander zu denken. In einer theoretischen Perspektive wurde bereits auf den Zusammenhang von Migration und Biographie hingewiesen, auch in forschungsmethodischer Sicht bietet die Biographieforschung wichtige Potenziale, um Migrationsprozesse zu erforschen. Valenta (2010) betont, dass Flucht- und Migrationsprozesse nur in ganzheitlicher und biographischer Perspektive analysiert werden können, um die vielschichtigen Implikationen und Bedingungslagen erfassen zu können. Gerade Fluchtprozesse werden häufig im Kontext lebensgeschichtlicher Wendepunkte diskutiert (vgl. Breckner 2011) und führen zu unterbrochenen beziehungsweise fragmentierten Bildungsbiographien (vgl. Naidoo 2015). Die Biographieforschung ermöglicht dabei beispielsweise eine Perspektive auf die besonderen Alltagswelten Geflüchteter und kann Aufschichtungen kollektiver und individueller Marginalisierungen auf-

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zeigen (vgl. Worm 2019). Darüber hinaus impliziert der Zusammenhang von Migration und Biographie immer auch Fragen nach Verortungen beziehungsweise Selbst- und Fremdzuschreibungen. Lutz/Schwalgin (2006) verstehen Migration als Herausforderung, multiple Selbstverortungen in das eigene Selbstbild zu integrieren und diese anderen gegenüber überzeugend darzustellen. In diesem Kontext wurde bereits in Kapitel 2.3.2 auf die Konzepte der Mehrfachzugehörigkeiten (vgl. Mecheril 2011), der Bikulturalität (vgl. Heckmann 1992) und der Hybridität (vgl. Mecheril 2001) in Bezug auf Verortungsprozesse hingewiesen. In neueren Diskursen wird die nationalstaatliche Rahmung der biographischen Migrationsforschung deutlich kritischer hinterfragt. Transnationalität ist dabei die Antwort auf die Forderung zur Weiterentwicklung des Biographie-Konzepts, denn die Erforschung transnationaler Lebensformen führt zu neuen Perspektiven auf das Verständnis von Biographien (vgl. auch Kapitel 2.3.3). Auch für die Migrationsforschung ist dieses Konzept gewinnbringend: »Das Transnationalisierungsparadigma wird im Bereich der Migrationsforschung verstanden als eine erkenntnistheoretische und methodische Hilfskonstruktion, um sowohl die Entwicklung auf politisch, konzeptueller Ebene als auch neue beziehungsweise alte Strategien von Migrantinnen und Migranten in den Blick zu bekommen, die bislang von der klassischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung konzeptionell nicht erfasst werden konnten.« (Schroeder 2009: 2) Dies ermöglicht Menschen Positionierungen, die losgelöst von nationalstaatlichen Grenzen erfolgen können, was gerade für Geflüchtete, die eher unfreiwillig ihr Herkunftsland verlassen, eine attraktive Lebensform darstellen kann. Dennoch sind auch hier die Möglichkeiten der Positionierung begrenzt (vgl. Mecheril/Plößer 2011). »Inwieweit Migrantinnen und Migranten die transnationale Dimension ihrer Biografien tatsächlich produktiv nutzen können, hängt vor allem von den politischlegalen Rahmenbedingungen ab – die bekanntlich für die verschiedenen Migrantengruppen sehr unterschiedlich, für Asylsuchende und Geduldete jedenfalls besonders restriktiv sind.« (Schroeder 2009: 6) Wie sich die geflüchteten Studierenden in der vorliegenden Befragung positionieren, soll im folgenden Kapitel im Rahmen des Phänomens ›Einstieg ohne Ausstieg‹ diskutiert werden, was aufzeigt, dass das Thema auch in dieser Untersuchung relevant ist. Ein weiteres Phänomen mit dem Titel ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹ spielt insofern im Kontext der Diskussion um den Zusammenhang von Migration und Biographie eine Rolle, als dass diese erlebte Emotion maßgeblich die Biographien der Geflüchteten begleitet und sowohl im Herkunfts- als auch

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

im Aufnahmeland eine Rolle spielt und zu unterschiedlichen Strategien auch hinsichtlich der Frage nach Verortungen beziehungsweise Positionierungen führt.

4.2.3.1

Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹

Das Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ steht für die biographische Perspektive auf Fluchtprozesse und die Frage nach damit einhergehenden Verortungen und Identitätskonstruktionen. Die befragten Geflüchteten befinden sich in einem Dilemma. Sie fühlen sich weder eindeutig der Herkunfts- noch der Ankunftsnation zugehörig. Durch die sich im Herkunftsland prekär verschlechternden Situationen und damit einhergehenden Fluchtprozesse haben die Befragten häufig Familienangehörige, Freunde, berufliche Kontakte und vieles mehr zurückgelassen, wenngleich sie mit ihrer Lebenssituation vor den sich verändernden Umständen eigentlich zufrieden waren. »My life in Syria was no somehow was good you know I I got a good education I think.« (I1: 14-15)   »Ja, Bildung im Irak (.) also (.) seit der Schülerzeiten und so war für mich sehr so die besten Zeiten in meinem Leben. Und äh, ja, weil das vor dem Krieg war, das war alles schön in Ordnung.« (I4: 42-44) Im Aufnahmeland Deutschland ist vieles neu und fremd, und es bedarf einer Neuorientierung und Neuorganisation des Lebensalltags. Die durch das politische und gesellschaftliche System gestellten Anforderungen stellen somit Herausforderungen dar, die bewältigt werden müssen, um die Integration in die Aufnahmegesellschaft voranzutreiben. Dies geschieht jedoch nicht losgelöst und frei von bisherigen Erfahrungen und Handlungskonzepten, was der Titel des Phänomens ›Einstieg ohne Ausstieg‹ symbolisiert. Dies hat auch Auswirkungen auf die Bildungsprozesse der Geflüchteten. Das eingangs hervorgehobene Bildungserleben ist geprägt von dem starken Wunsch, die eigene Bildungsbiographie fortzusetzen, was unter anderem auch als Auslöser der individuellen Fluchtmigrationen verstanden wird und auch Auswirkungen auf die Situation im Aufnahmeland hat. Das Bildungserleben wird somit zu einer Art Brücke beziehungsweise kontinuitätsstiftendem Element in der Biographie der Befragten. Die mit dem Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ verbundenen Ursachen, Kontexte, Strategien und Konsequenzen sind in Abbildung 14 ersichtlich und sollen im Verlauf detaillierter betrachtet werden: In diesem Phänomen wurde bewusst auf die Benennung konkreter intervenierender Bedingungen verzichtet. Breuer (2010) versteht die intervenierenden Bedingungen als

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Abb. 14: Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ (eigene Darstellung)

»Merkmale eines breiteren strukturellen Kontextes: z.B. Zeit, Raum, Kultur, sozioökonomischer Status, technologischer Status, individuelle Biographie …, die mit dem Phänomen und den Umgehens-Strategien zusammenhängen.« (ebd.: 86) Die Strategie des erfahrungsbasierten Handelns wird durch viele Aspekte beeinflusst, die jedoch nicht eindeutig auf die genannten Kontexte, wie räumliche oder kulturelle Faktoren begrenzt werden können und zudem bereits in der Kategorie ›Kontext‹ Einzug gefunden haben. Strübing (2014) betont in diesem Zusammenhang, dass es nicht immer einfach ist, gerade den Kontext und die intervenierenden Bedingungen voneinander zu trennen, eine grundsätzliche Zusammenfassung dennoch für den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit zu ungenau sei, weshalb an dieser Stelle eine entsprechende Begründung erfolgt. »Auch die verschiedenen Aspekte des Kontextes »erleichtern oder hemmen« die Handlungsstrategien der Akteure, und die komplette Konstellation struktureller Bedingungen, die im Einzelfall eines Phänomens zum Tragen kommen, stellt in gewisser Hinsicht ebenfalls eine »spezifische« Eigenschaft des Phänomens dar. Für die Theoriebildung ist es wichtig den Unterschied zwischen konkreten, eher situationsgebundenen Eigenschaften des Phänomens und allgemeinen, eher sozialstrukturellen, ökonomischen etc. Zusammenhängen im Blick zu behalten, um das Verhältnis von Fallspezifik und verallgemeinerbaren Strukturmerkmalen angemessen konzipieren zu können« (Strübing 2014: 26).

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Kontext Das Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ wird sehr häufig von eher negativ geprägten Gefühlen begleitet. Besonders Gefühle der Angst, Einsamkeit, Heimwehempfindungen beziehungsweise Sehnsucht nach der alten Heimat sind hier zu nennen. Diese Empfindungen bedingen sich dabei auch gegenseitig und führen in der Kumulation zu einem noch intensiveren Erleben. Beispielsweise kann sich die Angst darauf beziehen in der Aufnahmegesellschaft unangenehm aufzufallen, sodass ein unauffälliges und Kontakte vermeidendes Verhalten resultiert. Vor allem die Sprache und damit verbundene befürchtete Marginalisierungen sind auch an dieser Stelle ein wesentlicher Aspekt, der Angstgefühle bedingt, was auch das folgende Beispiel demonstriert: »Hier in Deutschland habe ich Angst. Obwohl ich als Lehrerin war (.) ich habe hier Angst. Ich vermeide, mit ä::h mit den Leuten zu sprechen. Ich möchte das nicht. Wenn sie brauchen mich, ich bin hier. Ich bin hier, und ich kann das machen. Aber ich vermeide das, weil ich möchte nicht zum Beispiel (.) neue Verletzung. Das ist die das Problem für uns. Und auch das Problem hab ich dir auch gesagt ä::h Flüchtlinge kann nicht nu- kann nicht äh wählen was er will. (.) Das ist auch das Problem. Und was noch (.) ja kann ich dir sagen, wirklich die Sprache.« (I2: 351-357) Heimweh und die Sehnsucht nach der alten Heimat sind wiederum Gefühle, die nicht unbedingt in Bezug auf die Aufnahmegesellschaft ausgelöst werden, sondern vielmehr mit den Verlusten aus der Herkunftsnation zusammenhängen. Auch wenn in Deutschland offenkundig nichts Negatives erlebt wird, überkommen die Befragten dennoch die Gedanken an die alte Heimat. »Also ich habe gar nicht so Schlechtes erlebt hier. Alles für mich war (.) schön alles in Ordnung und (.) aber naja die (.) aber es gibt Menschen, die haben Vorurteile und sagen nein, (.) nur raus und so. Aber es ist eine andere Seite. Gibt es auch normale Menschen und so. So ist das, ist überall. Und äh, ja aber manchmal äh leide ich unter Einsamkeit oder (.) Heimweh manchmal. Ich habe mich daran gewöhnt, aber trotzdem. (2) Obwohl (.) wenn man stark ist oder daran gewöhnt ist, kommen die Zeit, in die fühlt man sich äh alleine und einsam und keine Freunde oder mh ja nicht so viele Freunde oder so. Aber, ja (2) äh (.) ich muss mich daran gewöhnen und weiter und (.) und kommt diese Sehnsucht von meiner Familie und mein Land und so, aber ich fliege einmal pro (.) einmal pro Jahr in den Irak.« (I4: 428-436) In der bisherigen erziehungswissenschaftlichen Forschung wird die Bedeutung von Heimweh im Kontext von Flucht- beziehungsweise Migrationsbewegungen nur bedingt aufgegriffen. Während Heimweh lange Zeit als Krankheit galt (vgl. Frigessi 1992), hat sich die Bedeutung hin zu einem pädagogischen Begriff gewandelt (vgl. Karakaşoğlu/Lüddecke 2004).

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In der interkulturellen Forschung ist Heimweh bisher ein Trauma-Phänomen hier niedergelassener Migrant/-innen und weniger der aktuellen Forschung zu Geflüchteten. Dennoch zeigt sich an dieser Stelle, dass Heimweh gerade für Geflüchtete häufig eine zentrale emotionale Belastung darstellen kann, die Auswirkungen auf Positionierungsbestrebungen nach der Ankunft in Deutschland hat. Zu bewältigende Heimwehempfindungen finden zudem nur marginale Berücksichtigung an deutschen Hochschulen. Desintegration und Anonymität an Universitäten können vielmehr noch zu einem verstärkten Erleben beitragen (vgl. Pietsch 2017). Bisher gibt es nur vereinzelt Projekte zum Umgang mit Heimweh für Studierende und Mitarbeiter/-innen im universitären Bereich (vgl. Stettner 2016). Dies unterstützt noch einmal den Bedarf an besonderer psychosozialer Unterstützung für Studierende mit Fluchthintergrund. Im Kontext des Aspekts der Sprache ist für die Befragten bedeutsam, dass sich der Spracherwerb und damit die Integration in die Aufnahmegesellschaft noch erschwert, wenn sich die Muttersprache und die deutsche Sprache in ihrer Struktur nicht ähneln und nicht zur selben Sprachgruppe gehören. Eine Befragte, die beispielsweise ghanaische Wurzeln hat, ringt auch Jahre, nachdem ihre Familie aus Ghana nach Deutschland geflohen ist, immer noch mit den Sprachunterschieden und erschwerten Bedingungen des Erwerbs einer völlig neuen und unbekannten Sprache, die der Muttersprache nicht ähnelt und keine Ableitungen ermöglicht. Die in Ghana vorherrschenden Sprachvarietäten gehören beispielsweise zur Gruppe der Akan-Sprachen, die nichts mit der germanischen Sprache gemein haben. »Deutsch ist so schwierig find ich, also kann ich sozusagen sagen, weil ich das auch die andere Seite sehe. Ich glaub, wenn du dann keine Ahnung, wenn man zum Beispiel aus (.) weiss nicht Italien kommt, kann ich mir gut vorstellen, dass es einfacher ist Deutsch zu lernen, weil manche Sachen einfach ähnlich sind vom Wort her oder sowas, aber Twi, also das spricht man in Ghana, ist einfach eine ganze andere Sprache. Also da ist nichts irgendwie ähnlich wie Deutsch und wenn man dann also ich mein ja genau im Deutschen spricht man Dinge einfach ganz anders aus als in Twi und deswegen, wenn du dann das alles neu lernen musst, glaub ich nicht, dass das einfach so einfach ist.« (I16: 82-90) Dies beeinflusst das Ankommen in der Aufnahmegesellschaft insofern, als dass es schwer ist, Verknüpfungen zwischen der Herkunftsnation und der Aufnahmenation im Kontext der Sprache herzustellen, so dass es möglicherweise zu einem Bruch kommt. Maßgeblich für das eigene Erleben und die individuelle Verortung sind dabei auch die persönliche Offenheit und die eigenen Selbstkonzepte, mit denen die Geflüchteten Situationen bearbeiten. Exemplarisch thematisiert ein Befragter sehr explizit seine eigene Offenheit und grenzt sich damit gleichzeitig auch von der Mentalität seines Herkunftslandes ab. Im gleichen Zug hebt er die besondere Bedeutung hervor, die die ›deutsche Lebensweise‹ für ihn hat:

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

»I hope that äh (.) I mean I can adapt even more; I mean I am really open minded, I am not like (.) in Syria they had really so many negatives that overwhelm the positives of living there. So I mean being here (.) I am like open minded and (.) well I can appreciate when the street is clean ((lacht)) and I mean it was funny like when we came, when I came here die Deutschen sind sehr höflich. ((lacht)) And they don’t understand when you are not höflich, and in Syria, you don’t just simply say hello anyone who walks in front of you, or like say danke or (.) we don’t have those. ((lacht)) I mean we really have to be thankful to say thank you, you know you say it all the time, and (.) it’s äh:: and everybody here is educated I mean (.) to a certain level or they know they had to be educated so (.) yeah it’s not a comparison to where I came from.« (I3: 380-389) Der Vergleich zwischen der Herkunftsnation und der Aufnahmenation zeigt sich auch im Alltag der Geflüchteten durch eine genaue Beobachtung der neuen Umwelt. Es wird sehr feinfühlig auf verschiedenste Alltagssituationen reagiert, beispielsweise ist dabei sehr bedeutsam, wie die Interaktion mit anderen Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft vonstattengeht beziehungsweise wie ›die Anderen‹ auf sie reagieren. Es wird damit selbstverständlich ein Vergleich zwischen der Herkunftsnation und der Aufnahmenation Deutschland angestellt. Beispielsweise sind für die Geflüchteten die Reaktionen auf das eigene äußere Erscheinungsbild relevant. So versteht der folgende Befragte nicht, warum die deutschen Mitmenschen Angst vor Männern mit schwarzen Bärten haben, die in seiner Kultur völlig normal sind und zum männlichen Schönheitsideal gehören: »Ich frage dir, ja (.) ich mag das nicht, fragen, aber (2) nur ich äh:: ich hab eine Fragen, aber nicht für dieses Programm oder dieses und deine Leben und dieses, weil ich äh was kann sagen. (2) Ich weiss nicht, warum same Deutscher ihr lebt nicht äh schwarz Männer oder schwarze junge Mann, ja nur ich @(.)@ ich möchte verstehen das. Äh:: meine Bart gestern, ja sehr lang, ja ich mag das, ich mag das sehr lang. In Syrien oder in Irak immer ist sehr lang, ja. Und wenn ich lebe in Syrien und Irak, wenn ich äh:: ja ISIS kommt (.) du weißt alles dieses in die lange Bart, meine Vater sagt du musst äh, was heißt äh […] abschneiden, aber ich habe gesagt, ich mag das, nee. Kein Abschneiden, ich mag das. Oder hier, wenn hier ich mözum shopping oder in Uni, wenn ich hab auch lang alles, guck mal da @(.)@.« (I12: 380-396) Herkunftsbezogene Vergleiche werden aber nicht nur von den Geflüchteten selbst gezogen, sondern durchaus auch von Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft. Die zunehmende medial befeuerte Diskussion über Terroranschläge, die häufig auch unreflektiert mit der islamischen Religion in Verbindung gebracht werden, führt zu schlichten Argumentationsketten. Mit der arabischen Welt wird automatisch auch die islamische Religion verbunden, und so kommt es zu Kategorisierungen,

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die Rechtfertigungen erfordern, obwohl die Herkunft der Geflüchteten nichts über eine etwaige Religionszugehörigkeit und viel weniger über Motive verübter Terroranschläge aussagt. Die befragten Geflüchteten reagieren im Kontext einer genauen Beobachtung der sie umgebenden Umwelt sensibel auf derartige oberflächliche Zuschreibungen. Exemplarisch stellt dies der folgende Befragte dar, der sich selbst klar eine ablehnende Position zu derartigen Terroranschlägen zuordnet, dennoch aufgrund seiner Herkunft mit der vermeintlich anderen Seite in Verbindung gebracht wird: »Aber, also (.) ich leide manchmal unter diese Vorurteile. Mh weil äh die Menschen (.) unterscheiden nicht von (.) von diese Idioten von normale Menschen die oder diese Terroristen, die machen im Namen einer Religion (.) so Explosionen überall zum Beispiel in B-Stadt oder so und dann bekommen wir diesen Hass. Das finde ich traurig. Und, ich möchte nur (.) diesen Ruf ändern oder verbessern, dass wir nicht so, die Menschen sind nicht so, (.) die Muslime sind nicht so. Wir haben andere sehr viele Religionen auch im Irak, sehr viele Menschen, aber (.) ähm also viele denken das nicht so. Zum Beispiel ich wohne in eine WG mit deutsche Freunde von mir. Wir sind äh 5, jetzt 4. (.) So drei Männer und eine Frau. Und nachdem die an- (.) die Ansch- Anschläge in B-Stadt sie haben mich gefragt warum die Menschen machen so etwas. Das nich- das steht nicht im Koran. Und ich wollte nur erklären, dass die Menschen sie sagen wir sind Muslime aber so aber zum Beispiel ich si- ich sie sagen das, aber sie sind nicht. (.) Glauben Sie mir also, äh die sagen so im Namen von diese Religion, das ist wie diese von KKK in die USA. Alles im Namen von Gott, von einer Religion und kaputt machen. Und, (.) und nach diese (.) sexuelle Übergriffe in M-Stadt (.), das war auch äh also traurig für mich, das richtig (.) schlimm, sehr schlimm, was was dort passiert (.) und zum Beispiel AC-Name meine Mitbewohnerin hat auch Angst, sagt sie AA-Name, warum so? (2) Ich sag, ich hab gesagt also tut mir leid, also es gibt viele Idioten hier, die die das nicht schätzen was Deutschland oder was die Menschen hier für sie machen sie werden äh sie trinken viel und machen schlechte dumme Sachen. Und ist überall, Idioten überall gibt es und äh ja zum Beispiel sie hat, sie hat Angst jetzt alleine auf die Straße zu laufen, sie sie trägt immer diese Pfefferspray und so. Sie hat Angst. Also wir brauchen eine Krankenschwester in einer Notun- in unserer Notunterkunft und sie ist eine Krankenschwester. Ich hab sie gefragt, möchtest du bei uns arbeiten, ist alles in Ordnung, schön und sie hat gesagt, nein, nach diese sexuelle Übergriffe.« (I3: 393-416) Solche Erlebnisse bestärken die Empfindung ›nicht dazuzugehören‹ und den Einstieg in die deutsche Gesellschaft noch nicht bewältigt zu haben. Ein weiterer kontextueller Aspekt zum Phänomen ist das ›an der Heimat festhalten‹, was auf den Teil des Phänomens ›ohne Ausstieg‹ rekurriert und auch mit den bereits genannten Kontextfaktoren in Verbindung beziehungsweise Wechselwirkung steht. Viele

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Befragte halten nach wie vor enge Kontakte zu den sozialen und beruflichen Netzwerken im Herkunftsland: »Ähm, das war auch Doktoren, die auch sehr nett waren, sehr nett, äh: und ich hab einmal Kontakt, ich hab immer Kontakt mit meiner ähm Doktoren ähm überall in Syrien.« (I15: 139-141)   »Ich habe immer, immer noch das gute Beziehung mit meiner Studenten (.) in facebook oder so. Äh und falls etwas mit ihnen passiert äh und sie (.) sie sind jetzt in einer Master, ich hab viele Studenten jetzt in einem Master oder einem Doktorand und falls sie (.) falls äh:: (.) schwierig äh gehabt Schwierigkeiten, sie äh haben immer Kontakt mit mir und sie sagen, was sollen wir machen? (.) Wie ein Berater oder von Distanz, von Abstand. Ähm und ich mach das gern, ich hab immer gute Beziehung mit meine Doktoranden, wir reden immer. Äh:: ich hab immer gute Beziehung zu meine Studenten und meine Doktoranden, meine Verwaltung, die die Professoren sagen immer, wenn du das (.) ähm (.) zurück (.) äh nach Heimat möchte, wir sind glücklich und zufrieden ihn zu (.) noch einmal mit ihm zu arbeiten und so. Und sage nein, das ist schon vorbei.« (I15: 207-217) Dabei geht es vor allem um die Wertschätzung sowie soziale und gesellschaftliche Anerkennung, die im Herkunftsland erlebt worden ist. Das Gefühl, eine Rolle beziehungsweise einen Platz im gesellschaftlichen System zu haben, ist von essenzieller Bedeutung für das Ankommen in der neuen Gesellschaft, sodass sich die Erinnerungen häufig auf die Position beziehen, die die Befragten in der Herkunftsgesellschaft innehatten. Eine Befragte versteht dabei beispielhaft die deutschen Integrationsbemühungen im Sinne einer Assimilation und bemängelt, dass die Herkunftsidentität in ihren Augen nach Maßgabe der aufnehmenden Gesellschaft aufgegeben werden soll. Sie nimmt die Aufforderung wahr, »zu vergessen, wer wir waren«, was bei ihr zu Angst und Passivität führt. Sie fühlt sich damit ausgeschlossen und nicht als Teil des Systems. »Und wenn ich möchte sagen, wenn kein Krieg hi- jetzt gehabt hätte, (.) wirklich vielleicht (.) würde ich denken (.) vielleicht besser dort. Für mich persönlich als Arbeit, weil war ich als ich hab ein Wert. Ich bin gekommen (.) ich hab Information gegeben, ich hab eine Rolle gespielt. Aber hier was mach ich, Deutschkurs ja, und ich zum Beispiel helfe die Flücht- das ist sehr gut. Ich ich auch, ich versuche mit aller meiner Kraft alles zu geben, wie die gute Leute haben mir gegeben. (.) Aber wo ist unsere Wert, wer ist hier gekommen als Akadem- akademische Leute, sie haben studiert (.) Wo, wo ist unsere Wert, das kommt zum Beispiel in einem:: Deutschkurs, und vielleicht kommt gute Lehrerin oder ein bisschen gute Lehrerin oder nicht so gut. Und dann wir sitzen so, und ja wir sind nichts, diese nichts wir sollen das akzeptieren. Wenn wir diese nicht akzeptieren können, dann vielleicht

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können wir weiter. Wir sollen ein bisschen vergessen wie waren wir. Aber nicht vergessen zum Beispiel (.) dass wir auch weiter machen können. Aber vergessen unsere Stelle. Wir haben jetzt neue Phase. Aber kann ich dir wirklich deutlich sagen (.) ich hab Angst. Wirklich, das das tut weh, aber ja hab ich Angst.« (I2: 509522) Das Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ beschreibt also offensichtlich sehr diskrepante Verortungsbemühungen, die nicht klar und eindeutig eine Zugehörigkeit zu der einen beziehungsweise der anderen Gesellschaft ermöglichen. Die Vielzahl der zu bewältigenden Herausforderungen im Aufnahmeland Deutschland suggeriert den Geflüchteten die Erwartung, sich dem Aufnahmesystem anzupassen und folgt damit einer nationalstaatlich organisierten Perspektive, die durch gesellschaftliche Diskurse im Kontext von Flucht und Asyl weiter bekräftigt wird. »Diskurse über Andere machen die Anderen zu dem, was sie sind, und produzieren zugleich Nicht-Andere.« (Mecheril 2004: 45) Wenngleich Herkunft und Abstammung an sich nicht zu einer Unterscheidung und Positionierung zwingen (vgl. Dannenbeck 2002), werden dennoch nationalstaatliche Unterscheidungen produziert. »In diesem Kontext gilt der Flüchtling im Diskurs als der Andere, der NichtNormale, der Fremde und somit derjenige, welcher vom Normaltyp abweicht. Im Diskurs geht es um die Differenz zwischen der Normalität, also der natioethnokulturellen Zugehörigkeit, und der Abweichung, also dem Flüchtling mit dem anderen Nationalpass.« (Stephens 2019: o. S.) Die Abweichung kann dabei entweder in ihrer Existenzform akzeptiert werden oder es werden Assimilationsprozesse erwartet, so wie es die befragten Geflüchteten eher wahrnehmen. Dies zeigt detaillierter auch die folgende Diskussion der Ursachenzusammenhänge, die überhaupt erst zu einem ›Einstieg ohne Ausstieg‹ führen. Ursachen Eine Ursache ist die Wahrnehmung einer großen Diskrepanz zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland hinsichtlich verschiedener Aspekte wie beispielsweise den politischen, kulturellen und sozialen Systemen, die Auswirkungen auf den Habitus der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder haben. Die Herkunftsgesellschaft ist dabei die bekannte und häufig positiver wahrgenommene, entsprechende Anknüpfungen in der Aufnahmegesellschaft werden oft vermisst. So geht es auch dem folgenden Befragten, der die Zustände in seinem Herkunftsland als sehr positiv beschreibt und dies selbstsicher darstellt. Jedoch

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

vermisst er diese Sicherheit in Deutschland und ist aber hoffnungsvoll gestimmt, dass sich der gewünschte Zustand noch einstellen wird: »Ähm:: ja ich habe keine schlechte Erfahrung in meine Thema Bildung, ähh ich liebe das zu studieren. Ich hab immer das Motivation in mir drin, ich liebe das Studieren und äh:: (.) ich finde ich bin sehr entspannt, wenn ich das studiere, wenn ich das erledige. Ich hab in meinem Leben niemals, niemals eine Prüfung nicht geschafft. Ich hab das immer, immer erste Mal, und es ist unglaublich für mich, ist unglaublich äh schön (.) und äh:: die:: die Zeit war (2) sehr schön und ich vermisse das, immer noch (.), ja (.) ja.« (I15: 91-97) Konkret fallen den Befragten Unterschiede anhand gesellschaftlicher Regeln und Moralvorstellungen auf, beispielsweise im Kontext der Bedeutung von Achtung und Respekt. Der folgende Befragte beschreibt, dass Respekt in seinem Herkunftsland eine sehr wichtige Regel beziehungsweise einen sehr wichtigen Wert darstellt, was über allem steht und auch den Kindern von Beginn an anerzogen wird und somit den hohen gesellschaftlichen Stellenwert unterstreicht. In Deutschland hingegen nimmt der Befragte eher mangelnden Respekt von Kindern gegenüber Erwachsenen wahr und kritisiert dies anhand der Beschreibung einer Situation während einer Busfahrt: »Und wenn er das schlagen, auch schlag ihm, wenn ist nicht gut, aber das war anders, jetzt anders, es ist verboten, ein Kind zu schlagen bei uns (.). Egal ob es Kind oder groß oder das ist verboten jetzt. Aber früher war so, dass die Eltern (.) ist ein bisschen wie ein äh Respekt für die Lehrerin anzubieten. Äh und sie sagen, dass egal wie, muss mein Sohn ein bisschen das Respekt haben, das Respekt vor die andere Leute und das, das sehen wir überall. (.) Zum Beispiel wenn ich in einem Bus bin und sehe eine alte Frau, dann muss ich sowieso aufstehen und mein Platz anbieten äh::, aber (.) hier sehe ich (.) anders, besonders die Kinder. Die alte Leute kann ich das sehen, ich hab das zu viel gesehen, habe das die Leute seinen Platz abgeben, aber im Bereich Kinder habe ich niemanden gesehen. Äh:: sie lassen die Tasche in eine Stuhl und sitzen in eine andere und sie lassen die Füße an die gegenüber. (2) Ja. […] Und niemand kann mit das Kind (.) etwas sagen, die lassen das Kind, müssen das nicht sagen, das finde ich eklig (.), weil das Kind hat kein Respekt, ja.« (I15: 118-133) Auch die Bedeutung der Sprache findet hier eine erneute Anknüpfung als Symbol dafür, wie in der Herkunfts- beziehungsweise Aufnahmegesellschaft mit vermeintlich ›Anderen‹ umgegangen wird. Offensichtlich unterscheidet sich die Mentalität beziehungsweise Offenheit gegenüber anderssprachigen Menschen je nach Nation deutlich, so wie es aus der Wahrnehmung der Befragten hervorgeht. Eine Befragte hat in ihrem Herkunftsland eine deutlich größere Offenheit gegenüber anderssprachigen Menschen empfunden, denen deutlich positiver entgegengetreten

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wird, auch wenn sprachliche Defizite auszumachen sind. In Deutschland hingegen empfindet die Befragte Perfektionserwartungen hinsichtlich ihrer Bemühungen, die deutsche Sprache richtig zu verwenden und zu beherrschen. Die Befragte sieht diese Perfektion bei sich selber aufgrund mangelnder beziehungsweise noch nicht ausreichender Sprachkenntnisse noch nicht erfüllt und fühlt sich daher minderwertig und als nicht zugehörig, was sie durch die Selbstzuschreibung als ›Ausländerin‹ verdeutlicht. »Ich weiß nicht warum (.) vielleicht wenn man sehr sensibel ist oder das ist wirklich Wahrheit. Die Leute bei mir zum Beispiel, wenn sie mich sehen dann haben sie kein Problem, aber wenn ich spreche und sie wissen ich kann kein so gut Deutsch, dann auch das ist ein bisschen nicht so Zufriedenheit. Die Sprache spielt eine Rolle in Ausbildung, in Studium (.) und auch ä::hm äh Gesellschaft. Wie können wir hier in dieser Gesellschaft, wie können die Leute uns akzeptieren? (.) Und (.) ja ich ich denke, dass gr- große Problem hier in Deutschland die Sprache. Ohne Sprache kann kann man nichts machen. Wirklich nichts. Und was war hier hab ich das nicht wie in meinem Heimatland (.) bei uns wenn du zum Beispiel zu nach Syrien äh gehst und wenn du versucht äh arabich zu sprechen, sie haben Freude, ja gut ((Hände klatschen)), sehr gut und ja und und aber hier ich weiß nicht warum sie warten von Ausländer (.) sie müssen sprechen fließend deutsch. Wie (.) wie kann ich das sprechen, wie wie wie wie ich möchte nur wissen, wie wie kann ich jetzt wie Deutsche sprechen?« (I2: 333-344) Neben der Wahrnehmung einer großen Diskrepanz zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland weichen die mit der Flucht und der Ankunft in Deutschland verbundenen Hoffnungen und Erwartungen zudem von der Realität ab. Der Mangel an sozialen Kontakten und die damit verbundene Einsamkeit steigern die Enttäuschung nach der Ankunft in Deutschland, wo ein anderes System und andere Abläufe erwartet wurden. Exemplarisch deutet eine Befragte an, dass der Einstieg in Deutschland sehr schwer ist, da Kultur, Sprache und das alltägliche Leben ganz anders sind. Sie hat zwar ihre Familie bei sich, dennoch werden die Freunde vermisst. Es deutet sich ein besonderer Bedarf an sozialer Unterstützung und dem Aufbau von Kontakten an. »Ähm, zuerst das war sehr sehr schwer. Ähm (.) ist alles ganz anders. (.) Ähm die (.) Kultur hier ganz anders. Die ähm, ich habe mich nicht vor- vorgestellt, dass ich zwei Jahre brauche um die Sprache zu lernen. Ähm und äh ich dachte, dass ich kann von die (.) äh siebte oder die achte Semester hier anfangen, aber hier muss ich vielleicht von Anfang an wieder alles machen. Und auch äh:: ich fühle mich hier alleine (2). Ja ich hab meine Familie dabei, aber (.) die Freundinnen (.) ist etwas anderes.« (I8: 84-89)

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Nach Mecheril (2011) sind die konstituierenden Elemente für die Erzeugung von Zugehörigkeit die Mitgliedschaft, die Wirkung und die Verbundenheit, was sich auch auf die vorliegenden Äußerungen der befragten Geflüchteten übertragen lässt. Wenngleich die Mitgliedschaft durch die Gewährung des Asylstatus suggeriert wird, ist eine Wirkung für die Befragten noch nicht umfänglich ersichtlich. Es werden zwar Zugänge zum gesellschaftlichen System und damit auch zum Bildungssystem eröffnet, bei gleichzeitig hohen Anforderungen und starken Gatekeeping-Strukturen. Der Aspekt der Verbundenheit bezieht sich auf emotionale Bindungen und Strukturen der Vertrautheit, die von den Befragten in Deutschland kaum erfahren werden und im Kontext mangelnder Sozialkontakte verortet sind. Es lässt sich also nur schwer von tatsächlicher Zugehörigkeit der Befragten im Aufnahmeland ausgehen. Strategie Die Lebensform des ›Einstiegs ohne Ausstieg‹ führt auf praktischer Ebene dazu, dass die Geflüchteten ihr Alltagshandeln stark erfahrungsbasiert gestalten und versuchen, die im Herkunftsland entwickelten Erfahrungen und Strategien auf das Leben in Deutschland zu übertragen. Beispielsweise werden so auch die Erwartungen an ein Studium in Deutschland an den Erfahrungen aus dem Hochschulsystem des Herkunftslandes und dem dort erlebten studentischen Alltag gemessen: »And the University life, I mean I haven’t started studying here at the university but eh as I am allowed to think it would be the same. I won’t be having any troubles because I’ve studied a semester in Syria, and that would help me a lot.« (I3: 353356) Auch Erfahrungen während der Flucht werden für die Organisation des Alltags in Deutschland genutzt. Ein Befragter beschreibt beispielsweise, dass er während der Flucht gelernt hat mit Anderen zusammenzuarbeiten, während er in seinem Herkunftsland Situationen in der Regel alleine, als Einzelkämpfer, gelöst hat. Diese Erfahrung nutzt er auch für sein Alltagshandeln in Deutschland insofern, als dass er problemlos Kontakte knüpft und diese nutzt, um seine Alltagsprobleme zu lösen und sich Hilfe zu suchen. »To cooperate with another people, it’s very very important, to be in group, to be in team, to be in… you can make (2) anything if you are in a team cooperate with another people. I didn’t feel that in Syria because in Syria we have to work to earn money because it’s very very (.) hardly life. But in my trip I learned how to be in group, how to work in team, how to (.) how to cooperate with people, how to help them, how to get help from other people, when you ask what help not one or two, one hundred will help you, not helping not (.) maybe it’s I found a lot of people

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from Greece, people are nice, not the police but the people are nice, in Greece, Macedonia, Serbia, Hungary.« (I5: 1198-1205)   »I asked him if he know maybe if he knows friends in A-Stadt who find a room, I said him I want to go to A-Stadt. I didn’t find a room. Maybe always be in the Kirche, I don’t, ja it’s egal for me, I will stay in Kirche, they have a lot of free places there, until I find a room. And eh I asked that lady, she’s an angel by the way, I asked her if she know anybody in A-Stadt, her friends or maybe (.) she can ask a room for me, help me find a room.« (I5: 1056-1061) Die Strategie des erfahrungsbasierten Alltagshandelns resultiert somit aus dem Phänomen ›Einstieg ohne Ausstieg‹ und ermöglicht den Geflüchteten eine Orientierung an bereits Bekanntem bei gleichzeitigem Kennenlernen des Neuen, was jedoch zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Konsequenzen Die aus der Strategie des erfahrungsbasierten Alltagshandelns folgenden Konsequenzen gestalten sich unterschiedlich, je nach bereits vergangener Aufenthaltsdauer in Deutschland seit der Flucht. Wenn die Flucht für die Befragten noch nicht lange zurückliegt und sie maximal ein bis zwei Jahre in Deutschland sind, so sind die Konsequenzen aus dem erfahrungsbasierten Alltagshandeln durch negative Emotionen geprägt. Beispielsweise folgen Irritationen, wie bei dem folgenden Befragten, der sich über die Jahreszeiten und das damit verbundene Wetter in Deutschland wundert. Aus seiner Herkunftsregion ist er es gewohnt, dass es im Sommer immer warm und trocken ist, was er auch in Deutschland so erwartet. Daher macht er sich auf eine längere Reise mit seinem Fahrrad, um die Teilnahme an einem Deutschkurs zu organisieren, wider Erwarten gibt es einen starken Regenschauer, was seine Fahrt enorm beeinträchtigt. »So I ca- I move with my bycicle from B10-Stadt to A-Stadt. It takes with me twelve hours. It was raining. It’s summer in Germany, in summer it’s raining, I can’t understand this. In our country summer for summer, winter for winter. In Germany summer and winter and aah crazy here. The weather is very very crazy.« (I5: 692695) Neben Irritationen kommt bei den Befragten auch eine gewisse Überforderung auf, wenn sie im Ankunftsland auf erfahrungsbasiertes Alltagshandeln vertrauen. Die Anforderungen an die Bewältigung des Alltags und die Bewältigung des Einstiegs in das Hochschulsystem in Deutschland sind für die Befragten belastend und überfordernd. Im Vergleich war das Leben im Herkunftsland deutlich ruhiger und selbstverständlicher.

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

»In Ägypten habe ich mich wohler gefühlt, mit -er am Ende wohler, ja? Weil ich musste, wie, ich musste nicht viel machen. Ich musste einfach wenig für Uni machen und mein Zeit, ich hab meine Zeit genossen. Aber hier äh ich muss für Uni viel viel machen, ich hab viel Geld bezahlt oder jemand hat für mich viel Geld bezahlt und ich wollte nicht, dass es einfach, Geld einfach ausgeben äh ohne nützlich zu sein. Mhh ich habe jetzt Semesterticket und ich kann in N3-Bundesland fahren, aber ich hab keine Zeit dafür. Ich muss das für Uni machen und das und das, ich muss die Speisekammer helfen, ich muss das, ich muss hier helfen, ich muss hier übersetzen.« (I7: 421-428) Die Überforderung äußert sich auch darin, dass die Befragten teilweise darüber nachdenken aufzugeben und zu resignieren, da sie nicht sicher sind, ob sie die gestellten Anforderungen weiter bewältigen können, wie auch die folgende Befragte exemplarisch berichtet: »Ich würde aufgeben. (.) Ja vielleicht (3) hier ist sehr schwer und vielleicht kann ich das nicht schaffen. (2) Ja, ich weiss noch nicht (4). Ich will das machen, aber vielleicht kann ich nicht.« (I8: 127-129) Wenn die Befragten diese Phase der Irritation und Überforderung überwinden, kann diese Entwicklung dennoch nur bedingt für die Integration in das Bildungsund Arbeitsmarktsystem genutzt werden, und der ›Einstieg ohne Ausstieg‹ beziehungsweise Vernetzungen zur Herkunftsgesellschaft scheinen auch Jahre nach der Ankunft kaum förderliche Konsequenzen auf die Integration in Deutschland zu haben. Exemplarisch legt eine Befragte ihren Bildungsweg dar und bemängelt, dass sie immer anders war und nie jemanden hatte, der ihre besondere Situation verstand, wodurch die im Bildungskontext gestellten Anforderungen für sie immer besonders schwer zu bewältigen waren. Bis heute empfindet sie daher eine gewisse Benachteiligung. »Ich versteh mich meistens eigentlich immer mit allen Leuten und es war auch so in der Klasse, aber ich hatte keinen so wirklich, der meine Lage so wirklich verstanden oder der meinen Hintergrund verstanden hat und (.) oder was heißt nicht mal verstanden, aber nachvollziehen konnte, warum manches einfach anders ist und ähm (.) ja also allein schon wie die sich ausgedrückt haben, das ist mir da richtig bewusst geworden, dass die sich einfach ganz anders reden als ich ((lacht)) ähm und dass die meisten einfach ganz andere (.) ja (.) mh Förderungsmittel zu Hause. Ähm ich, wie gesagt, musste immer alles alleine machen, klar ich hatte ab und zu Nachhilfe, aber ich hab das Gefühl, dass die meisten einfach viel mehr zu Hause gefordert wurden – und auch schon von klein auf, also (.) die (.) waren wahrscheinlich noch im Kindergarten und hatten schon ihren (.) keine Ahnung ABC-Kurs oder sowas und die wurden dann von klein auf gefördert und denen wurde von klein auf irgendwie oft Dinge mitgegeben und ich denke auch, einfach wenn man die

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Sprache zu Hause auch spricht, dann hat man nochmal einen größeren Vorteil als jemand, der zu Hause ne ganz andere Sprache spricht und ähm (.) ja, also ich weiß also, die letzten zwei Jahre, also die 12. und die 13. Klasse auf dem Gymnasium waren wirklich echt anstrengend. Nicht mal nur vom Stoff, sondern auch einfach zu wissen, dass die Anderen irgendwie bessere Chancen ich sag mal haben.« (I16: 257-273) Auch die Schwierigkeiten und Verzögerung durch den Erwerb der Sprache, die mit Irritationen und Überforderungen verknüpft sein können, führen Jahre nach einem dann doch erfolgreichen Spracherwerb immer noch zu bildungsbiographischinstitutionellen Verzögerungen. So stellt ein Befragter exemplarisch heraus, dass er im Alter von sechs Jahren aufgrund seiner mangelnden Sprachkenntnisse noch ein Jahr lang die Vorschule besucht hat und erst im Alter von acht Jahren eingeschult worden ist, was für ihn zu einer Verlängerung der gesamten Bildungslaufbahn führte und ihn noch heute während seines Studiums ärgerlich stimmt, da er immer der Älteste ist und seine Kommilitonen bereits in einem jüngeren Alter das Studium abschließen und entsprechend früher in die Erwerbstätigkeit übergehen. »Das ärgert ich weiß nicht, ob es mich ärgert oder sonst was ähm, das ist vielleicht auch son Punkt, wo ich sagen würde, hättet ihr mich vielleicht doch lieber in die Schule geschickt, auf der einen Seite, weil ich bin jetzt (.) werde 28 dieses Jahr und wenn ich dann meine Freunde seh- also generell meine Freunde waren immer zwei Jahre jünger als ich, also weil ich, ne, mit der Schule und so weiter und das hat mich immer son bisschen geärgert, dass ich immer so der Älteste war, ne, aufgrund dass ich die zwei Jahre Rückstand hatte durch Kindergarten und Vorschule und jetzt im Studium ärgert mich das auch nen Stück weit, weil ähm (.) ja meine ganzen Kollegen oder einer meiner besten Freunde, der ist zum Beispiel (.) wird dieses Jahr 25 ne der kriegt seinen Master wenn alles gut läuft mit 25. Während bei mir wärs kurz vorm 29sten Lebensjahr. Da denk ich auch schon, boah, dass sind vier Jahre Unterschied und wenn du jetzt diese zwei Jahre Schule nicht gehabt hättest, ganz am Anfang, wärste 27. Viel (.) also nen schöneres Alter um nen Titel, also nen M.Sc. zu haben. Äh das muss ich sagen, das ärgert mich immer wieder.« (I17: 494-506) Es entstehen somit Bildungsbiographien, die von Brüchen und einem vergleichsweise hohen Anteil an Wandel geprägt sind. Die Geflüchteten verfügen dabei über einen besonderen Erfahrungsschatz und Kontaktnetzwerke, die vereinzelt für den Arbeitsmarktzugang genutzt werden können. »Ähm (.) ja dann gings nen bisschen hin und her. Ja (.) da hats dann mit der Bildung mehr oder weniger abgebrochen. Ähm man hat versucht (.) so seinen Interessen zu folgen, sich selber vielleicht weiterzubilden. Ähm aber es war nichts Handfes-

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

tes, dann hab ich hier und da gearbeitet, war ne zeitlang in der Schweiz.« (I14: 96-99)   »Also ich hab in der Schweiz, äh in der französischen Schweiz Familie, aber auch direkt am B7-See an der Grenze zur Schweiz und ähm da wurden nen paar Hebel in Bewegung gesetzt, dass man da Arbeit findet. Ja ähm das war zu dem Zeitpunkt auch (.), also Geld verdienen war damals das Maß aller Dinge. Nach der Ausbildung sofort hab ich nicht mehr geguckt okay (.) ja Studium wär bestimmt was Gutes, aber ich wollte einfach nur Geld verdienen. Und als sich diese Möglichkeit ergeben hat, hab ich sie genutzt. Es war dann auf Dauer aber nicht das, was ich mir wirklich vorgestellt habe. Ja, also dann hat man gemerkt, Geld verdienen ist nicht alles. Es ist zwar nett, besonders in der Schweiz oder in der Region kann man gutes Geld verdienen, war auch gutes Geld, aber auf Dauer, also ich bin sehr unglücklich geworden. Und hab dann (.) hab dann nach etwas gesucht so, was mich ein bisschen mehr erfüllen kann und bin dann mehr oder weniger auch durch einen damaligen Freund, mit dem ich jetzt leider weniger Kontakt hab, aber man ist trotzdem befreundet, ähm (.) über ihn er hat mich (.) fast gedrängt zu studieren. Mach das, komm, du bist doch nicht blöd, bist doch nicht auf den Kopf gefallen. Mach mal ein Studium, kümmer dich mal drum.« (I14: 495-508) Zu betonen ist jedoch, dass vermehrt soziale beziehungsweise freundschaftliche/familiäre und transnationale Kontakte, die während Phasen des Bruchs beziehungsweise Wandels bereits stützend waren oder auch neu geknüpft wurden, für die Befragten langfristig hilfreich sind und eben nicht zwangsläufig Kontakte aus der Herkunftsregion. Der ›Einstieg ohne Ausstieg‹ zeigt sich dennoch langfristig immer noch darin, dass die statusbedingten Benachteiligungen und damit einhergehenden Versäumnisse auch nach Jahren noch relevant sind und sich durch Chancenungleichheiten zeigen. Dadurch kann es möglicherweise häufiger zu Brüchen in der Bildungsbiographie kommen. Die in diesem Phänomen deutlich werdende beidseitig produzierte nationalstaatliche Unterscheidung hemmt die Möglichkeit einer transnationalen und unterschiedsauflösenden Lebensweise, wenngleich dies eine gute Möglichkeit darstellen könnte, das Ringen um Verortungen und Positionierungen der befragten Geflüchteten zu regulieren. Zwick (2015) hat herausgearbeitet, dass Studien in den vergangenen Jahren gezeigt haben, dass gerade transnationale Mobilität und Netzwerke eine lebenswichtige Bewältigungsstrategie für Geflüchtete darstellen (vgl. dazu u.a. van Hear 2006; Scalettaris 2009; Sturridge 2011): »Transnationale Transfers von Geld (remittances), Gütern und Ideen tragen maßgeblich zum Überleben der Flüchtlingsfamilien und -gemeinden bei. Nicholas Van Hear (2011: 6) konstatiert, diese Ressourcen stellten darüber hinaus ein potenzielles Mittel für Aufschwung und Entwicklung in Konfliktsituationen dar und sei-

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en zudem effektiver als Verteilungen humanitärer Hilfen, da sie die Bedürftigen eins zu eins erreichen würden. Ausgehend davon haben FlüchtlingsforscherInnen in den vergangenen Jahren transnationale Migration als eine »vierte [dauerhafte] Lösung« (Long 2009: 4) für displacement vorgeschlagen, insbesondere für langwierige Flüchtlingssituationen (protracted refugee situations).« (Zwick 2015: 260f.) Gerade Geflüchtete werden häufig aufgrund der ›erzwungenen‹ Migration als in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt (vgl. Horst 2006) und vom ökonomischen, kulturellen und sozialen Austausch abgeschnitten (vgl. Herz 2013) dargestellt. Die Konzepte der Transnationalismusforschung, die bislang kaum im Rahmen von Flüchtlingsforschung reflektiert werden, können dazu beitragen, neue Perspektiven auf die Handlungsfähigkeit der betroffenen Akteure zu richten (vgl. Zwick 2015). »Transnationalen MigrantInnen wird hingegen häufig widerständiges Potenzial und agency zugeschrieben: Indem sie kontinuierlich nationalstaatliche Grenzen überschreiten und plurilokale, hybride Identitäten über Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft hinweg entwickeln, seien sie fähig, ihren Widerstand gegenüber den globalen politischen und ökonomischen Machtverhältnissen auszudrücken (Glick Schiller u.a. 1997).« (Zwick 2015: 261) Dennoch zeigt sich in der Untersuchung von Zwick (2015) zur Lebenssituation saharauischer Flüchtlinge in Lagern, dass transnationale Lebensweisen zwar hilfreich sind, aber gleichzeitig auch zu neuer Prekarität und Vulnerabilität führen und keine dauerhafte Lösung der Flüchtlingssituation darstellen, da der eigentliche Konflikt dadurch unberührt bleibt. In der in dieser Arbeit vorliegenden Untersuchung zeigt sich, dass die Konflikte in den Herkunftsländern und die daraus resultierenden schlechten Bedingungen die Möglichkeit transnationaler Lebensweisen erschweren. Aus der Perspektive des Aufnahmelandes Deutschland heraus erschwert ebenfalls beispielsweise das bereits deutlich gewordene stark nationalstaatlich orientierte Bildungssystem und das damit einhergehende vorherrschende Integrationsverständnis transnationale Lebensweisen. Nichtsdestotrotz zeigen bereits vorliegende Befunde, dass mehrfache Lerngelegenheiten gewinnbringend für die Bildungsbiographie Geflüchteter genutzt werden können (vgl. Fürstenau 2004), was auch die hier dargestellten Ergebnisse belegen, wenngleich sich die Lerngelegenheiten nicht zwangsläufig auf den Herkunftskontext beziehen. Darüber hinaus knüpfen die vorliegenden Befunde an die Studienergebnisse von Mecheril und Seukwa (2006) an, die herausstellen, dass ein Bildungsziel für Migrant/-innen in der Regel nicht in der Transnationalität, sondern in der Ermöglichung von Handlungsfähigkeit besteht. Die Ermöglichung von Handlungsfähigkeit stellt gerade für

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

die hier befragten Geflüchteten ein besonderes Ziel dar, was sich auch im Kontext anderer bereits erläuterter Phänomene zeigt. In der Praxis gelingt eine individuelle Anknüpfung an die Potenziale der Geflüchteten nur marginal, und entsprechende Maßnahmen scheitern häufig an fehlenden Ressourcen. Aktuell noch laufende Forschungsprojekte wie beispielsweise eine vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Auftrag gegebene Studie mit dem Titel »Forced Migration and Transnational Family Arrangements – Eritrean and Syrian Refugees in Germany (TransFAR)« (u.a. Kraus/Sauer 2019) lassen weitere interessante Ergebnisse im Kontext der Debatte um Transnationalismus und Fluchtmigration erwarten. In einem Rückbezug auf den Titel des Phänomens ›Einstieg ohne Ausstieg‹ zeigt sich also, dass die befragten Geflüchteten einerseits in das Aufnahmeland einsteigen und integriert werden möchten, gleichzeitig aber auch aus ihrem Herkunftsland nicht aussteigen und ihre Identität nicht aufgeben möchten. Die nationalstaatliche Perspektive und damit einhergehende systembedingte Implikationen suggerieren jedoch für die Geflüchteten, dass transnationale Lebensmodelle nicht kompatibel sind. Dies führt die Geflüchteten in ein emotionales Dilemma, das sich in den stark negativ geprägten Emotionen äußert und zu einem ausgeprägten Gefühl des Ausgeliefertseins führt. Um das Ziel der Handlungsfähigkeit weiter zu verfolgen, ist der Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins für die Befragten zentral und soll im folgenden Phänomen anhand der Grafik (Abb. 15) genauer thematisiert werden.

4.2.3.2

Phänomen ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹

Phänomen und Ursachen Geflüchtete, die unfreiwillig ihr Herkunftsland verlassen mussten und mitunter einen nicht einfachen Fluchtweg hinter sich gebracht haben, kommen in Europa beziehungsweise in Deutschland bedingt durch ihren Asylbewerber- beziehungsweise Flüchtlingsstatus zunächst in einer Art Schutzraum an. Sie sind nicht länger der verheerenden Situation im Herkunftsland ausgeliefert, ebenso wenig den Strapazen eines mühsamen und gefährlichen Fluchtweges. Dieser Schutzraum bietet jedoch nur bedingt die Möglichkeit des ›Ankommens‹, da eine gesellschaftliche Teilhabe aufgrund der häufig abgeschotteten Unterbringung und eingeschränkter Unterstützung von Beginn an nur schwer zu erreichen ist. Durch den Status »Flüchtling« werden Geflüchtete bereits auf ihrem Weg nach Deutschland von Fremdheitsgefühlen begleitet. So beschreibt ein Geflüchteter eine längere Station auf dem Fluchtweg in Libyen und erlebt bereits hier statt Akzeptanz eher Fremdheit:

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Abb. 15: Phänomen ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefert seins‹ (eigene Darstellung)

»Ja ähm (2) äh es war schwer (.) und (.) ähm wir haben auch viele Rassismus gehabt wegen, weil wir (.) wir waren Ausländer und ähm äh die äh die Libyen Studenten bekommen mehr Hilfe und mehr Interesse und so. (.) Ähm und auch bei der Prüfung ähm (.) manchmal durfte ich nicht mehr Zeit haben, aber die anderen natürlich dürfen.« (I8: 92-98)   »Aber äh (.) wir haben mehr schlechte Behandlung bekommen (.) weil wir Ausländer waren. Nicht nur im Lernen, so überall.« (I8: 352-354) Die gesellschaftlichen Reaktionen in Deutschland sind demgegenüber sehr konträr, so begegnen Geflüchtete in diesem zunächst gewonnenen Schutzraum einerseits Menschen, die sehr hilfsbereit sind und Unterstützung bei der Bewältigung der verschiedenen Alltagsaufgaben anbieten, ebenso wie Menschen, die Geflüchtete meiden und ablehnen. Bei den Geflüchteten selbst entsteht dadurch zunächst schnell ein ›schwarz-weiß‹-Bild der ›guten‹ und der ›schlechten‹ Menschen. »Und dann hab ich äh Asylantrag gestellt, das war in (Ortsname) (2) und dann (2) dann hab ich diese Erfahrung bekommen als Flüchtlinge. Das war ganz neu und ganz anders, als Flüchtlinge das ist ganz anders als Student oder Studentin. Das gibt es Leute (.) auch wie bei uns gibt es überall gute und schlechte Leute. (.) Als Wort Flüchtlinge (2) das kommt ohhh arme Flüchtlinge ohh ja nein wie hm ich möchte nicht sagen wie aber wie eine Sache äh wir sollen ja wir sollen ihnen helfen und und und manche Leute nein, sie mögen keine Flüchtlinge. Einfach ä::hm als meine Erfahrung (2) und wenn ich wenn hab ich meine Ausweis bekommen und alles in Ordnung und Aufenthalt und das war sehr äh gut.« (I2: 365-375)

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Auch Jahre später beschreiben einige Geflüchtete eine besondere Aufmerksamkeit aufgrund äußerer Merkmale, die sie als anders beziehungsweise nicht deutscher Herkunft kennzeichnen. »Die haben mir immer gesagt, ok, du bist in Deutschland geboren und du bist vielleicht auch vom Pass her Deutsche, aber wenn dich Leute sehen, werden die dich immer als anders ansehen und das stimmt auch. Also, egal wo ich hingehe, ich werde immer daran erinnert, dass ich anders bin, obwohl ich eigentlich Deutsche bin.« (I17: 83-85) Die Wahrnehmung von Migrant/-innen beziehungsweise Geflüchteten in der Gesellschaft ist nicht zu unterschätzen und hat Auswirkungen auf das Integrationsgelingen. Gerade die hohen Zahlen der Fluchtmigration in den vergangenen Jahren haben zu verstärkten Diskussionen über die deutschen Integrations- und Willkommensbemühungen geführt. Die Medien haben dabei zu einer Befeuerung der Debatten beigetragen und zu negativen Konnotationen in Bezug auf Fluchtbewegungen geführt (vgl. Ghaderi/Eppenstein 2017). Wie Geflüchtete aktuell in der Bevölkerung wahrgenommen werden, zeigt folgender Ausschnitt aus einer von der Bertelsmann Stiftung initiierten Studie zur Willkommenskultur in Deutschland nach der ›Flüchtlingskrise‹: »Die Migrationsskepsis geht gegenüber 2017 etwas zurück, aber sie bleibt höher als bei den Umfragen vor der Fluchtkrise aus den Jahren 2012 und 2015. Die negativen Effekte von Zuwanderung werden weiterhin stark wahrgenommen, aber mit rückläufiger Tendenz gegenüber 2017: Aktuell sehen 71 Prozent Belastungen für den Sozialstaat, 69 Prozent Konflikte zwischen Einwanderern und Einheimischen, 64 Prozent Pro-bleme in Schulen und 60 Prozent Wohnungsnot in Ballungsräumen. Positive Effekte von Zuwanderung werden weniger stark wahrgenommen, jedoch mit steigender positiver Tendenz gegenüber 2017: Aktuell meinen 67 Prozent, das Leben werde interessanter, 64 Prozent sehen geringere Überalterung, 63 Prozent die Vorteile für die Ansiedlung ausländischer Firmen, 47 Prozent einen Ausgleich für den Fachkräftemangel und 41 Prozent Mehreinnahmen für die Rentenversicherung.« (Kober/Kösemen 2019: 11) Geflüchtete, die in Deutschland arbeiten und studieren, werden von der Bevölkerung als willkommen wahrgenommen. Auch die Aufnahmebereitschaft gegenüber Geflüchteten ist in den vergangenen Jahren leicht gestiegen, trotzdem sind noch 49 % der Bevölkerung der Meinung, Deutschland könne keine weiteren Geflüchteten aufnehmen, wohingegen 37 % dies befürworten (vgl. ebd.). Dennoch nehmen die Geflüchteten im vorliegenden Interviewmaterial ein Gefühl von Fremdheit wahr, was jedoch nicht zwangsläufig auf den Status ›Flüchtling‹ zurückzuführen ist, da eine derartige Ablehnung auch gegenüber Migrant/-innen ohne Fluchthintergrund auftritt. Die Besonderheit des Fluchthintergrundes zeigt

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sich in der Unfreiwilligkeit der Wanderungsbewegung. Geflüchtete verlassen nicht gewollt ihr Herkunftsland und versuchen dementsprechend teilweise auch an dem bisherigen Leben festzuhalten. Die Gedanken und Empfindungen sind häufig aufgrund dessen, was zurückgelassen wurde, und der oftmals verheerenden Situation vor Ort zunächst nicht frei und offen für die neue Umgebung (vgl. auch Kap. 4.2.3.1). Werden dann dort noch negative Erfahrungen gemacht, sei es beispielsweise in Form von wahrgenommener Ablehnung oder dem Erkennen von persönlichen Differenzmerkmalen, so verstärken sich diese negativen Empfindungen und Gefühlslagen erheblich und können damit zu einer stärkeren Ausprägung und Bewältigungsaufgabe führen als bei Migrant/-innen, die sich freiwillig für das Verlassen ihres Herkunftslandes entschieden haben und sich damit bewusst einerseits von dem Bisherigen verabschiedet haben, andererseits aber damit offen für ein neues Leben sind. Es ist jedoch zu betonen, dass eine scharfe Statustrennung zwischen Geflüchteten und Menschen mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre Gefühlslagen kaum möglich ist, denn es bleibt auch fraglich, inwieweit Migration freiwillig stattfindet beziehungsweise eine Flucht auch primär als Möglichkeit zur Steigerung der Bildungschancen genutzt wird. Besonders im Kontext dieses Phänomens ist zudem, dass die Befragten das Gefühl des Ausgeliefertseins bereits im Herkunftsland erlebt haben. Die Entscheidung zur Flucht hängt maßgeblich damit zusammen, mit diesem Gefühl umgehen zu wollen. Ausgelöst wird das Gefühl des Ausgeliefertseins im Herkunftsland durch die verheerende Kriegssituation, die beispielsweise durch ausfallende Elektrizität und bewaffnete Konflikte massiv den institutionellen Bildungsalltag einschränkt, was folgende Interviewaussagen exemplifizieren: »And äh the education like downgraded me. I started I started one semester eh in the university in A4-Stadt and you I mean (.) it was going you were pretending that we are having like the educational experience. But sometimes the war turned out the electricity and seminars had to be cancelled and it was chaotic. It was like okay yeah let’s do this you took those subjects (.) and so (2) it wasn’t that good and. The education was like downgraded and I wanted (.) I mean my country doesn’t have a future I mean. How I see it I don’t have a future in my country so I wanted to travel somewhere, where I can get a decent degree.« (I3: 96-102)   »Manchmal gabs äh sowas von Probleme, vielleicht in der Stadt oder äh (.) gabs auch in der Uni auch. Vielleicht die Studenten streiten miteinander und so. Äh und nicht normal streiten, sondern mit Waffen und so. Also gabs Krieg und deswegen und ähm vielleicht auch die der Dozent kommt nicht. Dann haben wir schon Bescheid, vielleicht nächste Woche oder nächste Woche, die ganze Woche der Dozent kommt nicht, dann bekommen wir ein Papier davon. Deswegen mussten wir zu Hause bleiben, aber trotzdem habe ich zu Hause gelernt ähm ja und (.) als ich

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

mich entschieden, dass ich noch in also die Familie, dass ich nach Deutschland kommen will oder muss, sagt man.« (I9: 285-297) Im Gegensatz zu dem Erleben bei Migrant/-innen ohne Fluchthintergrund verstärken diese Erfahrungen bereits im Herkunftsland noch einmal besonders die Wahrnehmung im Aufnahmeland Deutschland, da die Enttäuschung des erneuten Erlebens nach der häufig aufwendigen Flucht besonders groß ist. Auch im Kontext einer biographischen Perspektive ist diese Erkenntnis relevant, da sich das zu bewältigende Gefühl des Ausgeliefertseins biographisch zu manifestieren scheint und Auswirkungen auf das Erleben der Befragten im Aufnahmeland hat. Insofern ist dieses Phänomen für die vorliegende Untersuchung und die Darstellung des Zusammenhangs von Migration und Biographie relevant, wenngleich einige Aspekte des Phänomens bereits in einem anderen Kontext der Auswertung diskutiert worden sind. Es zeigen sich hier vielmehr die biographischen Auswirkungen beziehungsweise Handlungsmuster und entsprechende Einflussfaktoren. Beim Einstieg der Geflüchteten in das Bildungssystem des Aufnahmelandes Deutschland wird der bereits angesprochene Schutzraum in gewisser Weise verlassen, da die Bedingungen und Anforderungen im Bildungs- und Arbeitsmarktsystem vielfältig sind und teilweise für Geflüchtete noch besondere Einschränkungen gelten, ganz besonders, wenn sie sich noch im Asylverfahren befinden. Auch nach der Anerkennung ist eine Perspektive zunächst auf wenige Jahre beschränkt, solange die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erlangt ist (vgl. auch Kapitel 2.1.2). Das deutsche Bildungs- und Arbeitsmarktsystem ist zudem völlig anders als das des Herkunftslandes und damit in der Regel unbekannt. Rechtliche Grundlagen, Aufbau und Prozesse des Systems sowie der Raum der Möglichkeiten sind für die Geflüchteten neu und häufig unverständlich. Die genannten Aspekte stellen entsprechende Einflussfaktoren auf das biographische Erleben beziehungsweise die Möglichkeiten biographischer Handlungsmuster dar. Die befragten Geflüchteten empfinden sich diesem Gefüge gegenüber als ausgeliefert. Dies impliziert sowohl das Verlassen des Schutzraums durch die Partizipation an dem für die Geflüchteten neuen System der Bildung als auch die augenscheinliche Abhängigkeit von diesem System, das notwendigerweise akzeptiert werden muss, sofern die eigenen ambitionierten Bildungsvorstellungen weiterhin umgesetzt werden sollen. Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und Rechtlosigkeit sind weitere Attribute, die mit einem derartigen Gefühl des Ausgeliefertseins einhergehen und in der weiteren Beschreibung des Phänomens noch näher erläutert werden. Kontext In der genaueren Betrachtung des Phänomens ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹ beziehungsweise in seinem Kontext wird deutlich, dass das bereits beschriebene ›Ausgeliefertsein‹ als etwas Negatives empfunden wird, was in der

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folgenden Darstellung des Kontextes nachgezeichnet wird. Durch das ›Ausgeliefertsein‹ erfahren die Befragten Ablehnung, zeigen selbst eine gewisse Hilfsbedürftigkeit auf und müssen die von der Gesellschaft gestellten Regeln erlernen. Die Befragten erfahren Ablehnung im alltäglichen Kontakt mit den Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft durch offen gezeigte Abneigung, Zurückweisung oder Verurteilung. Vereinzelt ist dieses Verhalten auch in politischen Bewegungen institutionalisiert, was oft als Recht auf Meinungsfreiheit auch von denen akzeptiert wird, die die Ablehnung gegenüber Geflüchteten eigentlich verurteilen. Je länger Geflüchtete dabei in Deutschland leben und versuchen einen individuellen Weg zwischen der Aufgabe ihrer eigenen Werte und Normen des Herkunftslandes und den neuen Gegebenheiten im Aufnahmeland zu finden, desto mehr Situationen der Ablehnung werden erfahren und berichtet. Auf der anderen Seite werden weniger negative Situationen berichtet, je schneller und positiver die Integration in den neuen Aufnahmeort verläuft und Kontakte zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft geknüpft werden. Das Gefühl des Ausgeliefertseins führt die befragten Geflüchteten dabei scheinbar zu einem Dilemma – auf der einen Seite erfahren sie diese Situationen der Ablehnung, auf der anderen Seite sind sie in einem fremden Land, in dem sie sich nicht auskennen, auf Hilfe angewiesen sind, um den Alltag nach der Flucht zu bewältigen. Dies bezieht sich beispielsweise auf alltagspraktische Probleme, wie die Wohnungssuche. Viele Wohnungseigentümer scheinen Geflüchteten gegenüber wenig aufgeschlossen, so dass häufig besondere Bezirke in einer Stadt entstehen, in denen vermehrt Geflüchtete untergebracht werden. Diese räumliche Grenze vermittelt ebenfalls ein deutliches Signal der Ablehnung. Eine Befragte, deren Familie aus Ghana stammt und Mitte der 90er Jahre nach Deutschland geflohen ist, skizziert sehr deutlich ein solches Alltagsproblem und die Freude über die durch eine engagierte Mitarbeiterin einer staatlichen Institution erfahrene Unterstützung. »Und da hats, aber ich weiß noch richtig richtig lang gebraucht, bis wir ne Wohnung bekommen haben. Und selbst da war (.) das war bei uns (.) wir haben die Wohnung nicht (.) sozusagen selber gesucht, sondern das hat so eine (.) ich weiß nicht, ich glaub die war vom Jugendamt oder so, die hat das dann für uns übernommen, weil ähm (.) also ich mein meine Eltern wussten ja auch nicht, wo ist die Anlaufstelle. Und oft ist es halt einfach so, wenn die Vermieter sehen, große Familie, Ausländer oben drauf in Anführungsstrichen, sagen die fünfmal nein und ähm die hat das dann für uns ähm übernommen, was auch sehr nett und freundlich war und dann (.) also die die sozusagen dafür zuständig waren, ob wir die Wohnungen bekommen oder nicht, waren dann auch erstmal so, ja ne eigentlich nicht, die ist viel zu groß für euch und blablabla. Also ich glaub nicht, dass es Jugendamt war, sondern halt auf jeden Fall irgendson Amt. Und die hat sich dann richtig für uns eingesetzt und gemeint, hey also die haben echt ne lange Reise hin-

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ter sich und also (.) da seis denen echt gegönnt, dass die einmal son Raum haben, wo die wirklich einmal erstmal angekommen können […] und ja (.) und da leben jetzt meine Eltern immer noch und ist auch immer noch ne sehr schöne Gegend, ähm aber was ich sagen muss, was nicht schlimm ist, aber es ist halt ne Gegend, man merkt, da werden alle (.) sag ich mal Ausländer oder alle mit Migrationshintergrund (.) hingebracht, also da wohnen kaum Deutsche, was nicht schlimm, also ich finds nicht schlimm. Aber ja man merkt halt, okay, da sind die Ausländer und hier wohnen die Deutschen, na gut.« (I16: 1007-1030) Eine Bestandsaufnahme der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Ablehnungsund Diskriminierungsrisiken von Geflüchteten in Deutschland (2016) offenbart wesentliche Fakten. Es berichten 55 % der Geflüchteten von Diskriminierungserfahrungen, die sie bei der Arbeits- und Ausbildungsplatzsuche (55 %), bei Ämtern und Behörden (52 %), im Alltag (46 %), bei der Wohnungssuche (42 %) und bei der Polizei (19 %) erfahren. Die Diskriminierung erfolgt aufgrund des Aussehens, der Sprachkenntnisse, der Religion, des Alters oder der sexuellen Orientierung. Dabei kommt es zu verbalen und non-verbalen Artikulationen in Form von Beleidigungen, Abwertungen, Distanz, nicht ernst genommen werden oder Willkür. Die damit einhergehenden Folgen sind nicht verwunderlich. Eine Identifikation mit dem Aufnahmeland wird abgeschwächt, es erfolgen negative Auswirkungen auf psychische und physische Gesundheit. Traurigkeit, Ärger, Aggression, Resignation/Einschränkung des eigenen Verhaltens sind typische Äußerungen. Geflüchtete selbst sehen eine Lösungsstrategie in der Veränderung des eigenen Verhaltens und nehmen sich damit die Kritik an (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016). Wagner (2016) versucht die psychologischen Ursachen für Akzeptanz und Ablehnung zu erklären: »Wir tendieren dazu, Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen, aufzuwerten, weil wir uns damit selbst aufwerten. Wenn diese Tendenz zur Aufwertung der eigenen Gruppe nur dadurch umsetzbar ist, dass Vergleichsgruppen – die Fremden – relativ zur eigenen Gruppe abgewertet werden, tun wir das. […] Identifikationen mit ethnischen, nationalen, religiösen etc. Gruppen [gehen] auch mit der Gefahr [einher], dass diejenigen, die als nicht zugehörig betrachtet werden, ausgegrenzt, abgewertet, diskriminiert und mit Gewalt attackiert werden […].« (Wagner 2016: 171f.) Der politische und mediale Umgang mit Geflüchteten beeinflusst dabei entsprechende psychologische Mechanismen. Diese Befunde beziehungsweise Entwicklungen bestätigen die Erfahrungen der befragten Geflüchteten, wenngleich diese die erlebte Ablehnung eher unterschwellig wahrnehmen. Verschiedene Formen gesellschaftlicher Unterstützung durch Organisationen oder Einzelpersonen werden dabei durchweg als positiv und sehr hilfreich heraus-

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gestellt. Die Unterstützung erfolgt sowohl in beratender als auch monetärer Weise und erscheint für eine erfolgreiche Partizipation und einen schnellen Zugang zum Bildungssystem, wie beispielsweise der Teilnahme an qualifizierten Sprachkursen, als ein wichtiger Motor zur Förderung der Integration. Das Gefühl des Ausgeliefertseins impliziert darüber hinaus aber auch eine gewisse Forderung beziehungsweise Notwendigkeit der Anpassung. Die Geflüchteten stehen einem neuen Gesellschaftssystem gegenüber, dem sie beispielsweise begegnen können, indem sie sich informieren und die gesellschaftlichen Regeln, Normen und Werte erlernen und akzeptieren, was auch im Rahmen von Integrationskursen vermittelt werden soll. Ein Befragter aus dem Irak, der sich mittlerweile selbst in Deutschland angekommen und integriert fühlt und sich zum Zeitpunkt der Befragung für Geflüchtete in einer Notunterkunft eingesetzt hat, stellt die Notwendigkeit des Erlernens der Regeln und Konventionen im Aufnahmeland heraus und gibt diese Erfahrung auch an andere Geflüchtete weiter: »Ja und manchmal die Menschen haben Angst hier (.) sie sagen ja warum, warum die Menschen also die Bewohner von diesem Land hassen uns. Ich hab gesagt nein, di- das normal. Es ge- ja ihr seid gute Menschen und es gibt dazwischen schlechte Mensche Menschen bis jetzt in unserer Not- unserer Notunterkunft. Die bekommen Abschiebung oder (.) werden (2) fest- ähm festgenommen. Ja sie (…) machen also dumme Sachen, tschuldigung. Und ja so ist das, ich erzähle immer. Das das hier nicht wie (.) in deinem Land. In deinem Land war vielleicht so alles chaotisch, alles keine keine Regierung oder keine Regel, du kannst alles machen, obwohl du du du du nicht darfst, aber hier nein. Ist Deutschland, Gesetze, Regeln, Essenszeiten, äh (…) Ausgabe und so alles nach Regeln, Zeit. (.) Viele Menschen verstehen das, viele Menschen nicht.« (I4: 336-348) Bildung, die bereits im Herkunftsland erlangt wurde, wie beispielsweise politische Bildung oder das Erlernen der englischen Sprache, werden dabei als positive und hilfreiche Faktoren bei dem Erlernen und Verstehen der deutschen Regeln und Werte herausgestellt. Strategie Dieses somit eher negativ konnotierte Gefühl des Ausgeliefertseins ruft bei den Geflüchteten unterschiedliche Handlungen beziehungsweise Strategien hervor, die durchaus konträr sind und auf den individuellen Dispositionen beziehungsweise Ambiguitätstoleranzen der Befragten beruhen. Zum einen führt dies dazu, dass die Befragten ihre Integrationsbemühungen verstärken und über ihre Herkunftsidentität aufklären, um den Ruf des Herkunftslandes zu verbessern, eine höhere Kompatibilität anzubahnen und damit dem ›Gefühl des Ausgeliefertsein‹ zu entgehen beziehungsweise dieses zu bewältigen, indem konkret die Bemühungen zur

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Teilnahme an Bildungsaktivitäten intensiviert werden und Vorurteile gegenüber dem Herkunftsland ausgeräumt werden sollen. Ein Befragter beschreibt seine Bestrebungen beispielsweise darin, dass er über sein Heimatland erzählen und aufklären möchte, um so mehr Akzeptanz zu erlangen. Er stammt aus dem Irak, und durch den islamistischen Terror, den Stellenwert der islamischen Religion und den Krieg hat das Land an Ansehen verloren. Durch seine Erzählungen möchte er das Vertrauen in sein Land wiederherstellen und das Bild verbessern. »Aber, also (.) ich leide manchmal unter diese Vorurteile. Mh weil äh die Menschen (.) unterscheiden nicht von (.) von diese Idioten von normale Menschen die oder diese Terroristen, die machen im Namen einer Religion (.) so Explosionen überall zum Beispiel in B-Stadt oder so und dann bekommen wir diesen Hass. Das finde ich traurig. Und, ich möchte nur (.) diesen Ruf ändern oder verbessern, das wir nicht so, die Menschen sind nicht so, (.) die Muslime sind nicht so. Wir haben andere sehr viele Religionen auch im Irak, sehr viele Menschen, aber (.) ähm also viele denken das nicht so.« (I4: 393-399) Zum anderen zeigt sich eine eher entgegengesetzte Strategie, in dem der Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins in einem ›sich Zurückhalten‹ geäußert wird. Die Idee ist hier nicht aktiv tätig zu werden und sich so dem Ausgeliefertsein zu stellen, sondern vielmehr darin zu verharren. Dies zeigt sich in Form einer ausgeprägten Sensibilität, verbunden mit Angst- und Unsicherheitsgefühlen im Kontext einer neuen Umgebung, was auch der folgende Interviewausschnitt illustriert: »Aber das ist, weil in diesem Bereich gehört zu Flüchtlinge. Aber in andere Bereiche ich hab Angst. Hier in Deutschland habe ich Angst. Obwohl ich als Lehrerin war (.) ich habe hier Angst. Ich vermeide mit ä::h mit den Leuten zu sprechen. Ich möchte das nicht. Wenn sie brauchen mich, ich bin hier. Ich bin hier und ich kann das machen. Aber ich vermeide das, weil ich möchte nicht zum Beispiel (.) neue Verletzung. Das ist die das Problem für uns. Und auch das Problem hab ich dir auch gesagt ä::h Flüchtlinge kann nicht nu- kann nicht äh wählen, was er will. (.) Das ist auch das Problem.« (I2: 423-431) In diesem Zusammenhang ziehen sich die Geflüchteten häufig zurück und werden erst dann gesellschaftlich aktiv, wenn jemand auf sie zukommt. Eine solche gegenseitig bedingte Kontaktvermeidung ist jedoch für das Gelingen der Integration eher bedenklich. Die Zurückhaltung kann sich aber auch in einer Form der Gelassenheit zeigen, indem die beschriebene Ablehnung zwar erfahren und erlebt wird, diese jedoch durch eine starke Fokussierung auf die angestrebten Bildungsziele nicht als Irritation oder Hindernis erfahren wird. Diese Form der Zurückhaltung beschreibt auch eine Art Lernprozess, der von Geflüchteten, die bereits auf einen jahrelangen Aufenthalt im Aufnahmeland zurückblicken können, eindrücklich beschrieben wird. Die Routine in der Art und Häufigkeit der erfahrenen Ablehnung

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kann zu einer entsprechenden Gelassenheit führen, da sich die Erwartung in Bezug auf das Erfahren von Ablehnung entsprechend einstellt. Intervenierende Bedingungen Beide Strategien wiederum werden von verschiedenen intervenierenden Bedingungen beeinflusst, die die jeweilige Sensibilität für die eine oder andere Strategie mitbedingen. Als eine intervenierende Bedingung ist hier zunächst die Sprache als Differenzmerkmal zu nennen. Durch das Artikulieren von Sprache kann die Zugehörigkeit oder auch Nicht-Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region offenbart werden. Geflüchtete beschreiben häufig Schwierigkeiten mit der Aussprache des Deutschen und empfinden dies als offensichtliches Merkmal, das sie in Deutschland als ›fremd‹ wahrgenommen werden. Mit dem Ankommen und Angekommensein in Deutschland wird daher häufig das Ziel des Spracherwerbs und einer guten Aussprache verbunden (vgl. auch Kap. 4.2.2.1). Darüber hinaus scheinen auch die gesellschaftliche Akzeptanz des Herkunftslandes beziehungsweise die Akzeptanz der erlernten Muttersprache eine Rolle zu spielen sowie der Aspekt, inwieweit eine andere Sprache beziehungsweise ein entsprechender Akzent im Aufnahmeland toleriert werden. Eine Person aus Großbritannien mit englischer Muttersprache erfährt dabei beispielsweise eine bessere Akzeptanz von Sprachschwierigkeiten beim Erwerb der deutschen Sprache als Menschen arabischer Herkunft, so wurde es von Betroffenen in den Sprachkursen erlebt. Die befragten Geflüchteten, vor allem arabischer Herkunft, fühlen sich somit noch einmal besonders ausgeliefert, da sie diese unterschiedliche gesellschaftliche Akzeptanz beziehungsweise Ablehnung entsprechend wahrnehmen und erleben. Neben der Sprache fungieren auch das Äußere beziehungsweise äußere Merkmale als Differenzmerkmale, die den Umgang mit dem Gefühl des ›Ausgeliefertseins‹ bedingen beziehungsweise die Strategien beeinflussen. Dabei spielen die Hautfarbe oder auch Form und Farbe von Kopfbehaarung und Bartwuchs eine Rolle. »Ähm (.) daran (.) ja also (.) im alltäglichen Leben, ich mein (.) mir fällt das manchmal auf, zumindest seitdem ich in A-Stadt bin, ich weiß ist vielleicht nicht so daran gewöhnt, dass es hier viele Schwarze gibt, sag ich mal und ich kann verstehen, wenn Leute (.) vielleicht gucken und dann sag ich mal überrascht sind und dann vielleicht auch länger gucken, aber nach ner Zeit wird es, nervt das und ist auch nen bisschen unangenehm, weil du weißt nicht, okay, hab ich jetzt was falsch gemacht oder sonst was. Und das fällt mir zum Beispiel beim Einkaufen auf, ich bin Einkaufen, ich zahl mit der Karte und komischerweise muss ich immer meinen Ausweis zeigen, also wirklich immer meinen Ausweis zeigen und manchmal ist es so, dass die Person vor mir und hat auch mit Karte gezahlt, aber musste keinen

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Ausweis zeigen, versteh ich nicht. Und (.) und dann hab ich auch einmal gefragt, warum ich meinen Ausweis zeigen muss, dann kommt eine Antwort wie ja äh (.) ja äh das wird äh wie heißt das, beliebig ausgewählt, also ja (.) frei nach Zufall. Aber ich bin (.) also es ist nicht immer, aber oft so, es fällt mir halt, es ist oft genug passiert, dass es mir aufgefallen ist, dass ich meinen Ausweis zeigen muss.« (I16: 828-841) Je dunkler die Farbe von Haut und Behaarung, desto eher wird eine nicht deutsche Herkunft angenommen und Ablehnung möglicherweise bedingt. Um mit diesen nur geringfügig veränderbaren Merkmalen in der neuen Gesellschaft einen Platz zu finden, werden die beiden oben genannten Strategien angewendet. Neben den durch Sprache und Äußerlichkeiten tatsächlich zu erkennenden Differenzmerkmalen scheint auch eine vermeintliche Identifikation mit dem Islam beziehungsweise eine Religionszugehörigkeit als ein nicht direkt offensichtliches Merkmal bedeutsam zu sein. Durch terroristische Anschläge, die in Europa passieren, werden immer häufiger radikale Formen des Islamismus thematisiert. Dabei wird häufig wenig differenziert, und es entstehen negative Generalzuschreibungen bezüglich der islamischen Religion. Die Religionszugehörigkeit wird auf ein ganzes Land reproduziert, und es besteht wenig gesellschaftliches Wissen darüber, dass beispielsweise in Syrien auch die christliche Religion verbreitet ist. Geflüchtete, die beispielsweise aus Syrien oder dem Irak stammen, äußern, dass sie oftmals automatisch bei gesellschaftlichen Unruhen bezüglich terroristischer Anschläge oder vereitelter Vorhaben auf den Islam angesprochen werden. Es werden entsprechende Erklärungen oder Rechtfertigungen von ihnen eingefordert, die zunächst nichts mit der Person des Geflüchteten gemein haben, so in den vorliegenden Interviews geschildert. Ein Befragter, der aus dem Irak geflohen ist, beschreibt in mehreren Interviewpassagen detailliert derartige Situationen, die als intervenierende Bedingung in diesem Fall zu der Strategie gesteigerter Anstrengungen und Aufklärungsbemühungen führen, um diesen Generalverdacht möglichst zu entkräften. »Aber manchmal, wenn etwas (.) Schlechtes passiert irgendwo (2) in B-Stadt oder (2) irgendwelche Land, dann (.) ja (.) dann der Täter ist immer, ist leider ist schon immer bekannt und so. Sagen ja, wer wer ist uns nur die Ausländer, die Muslimen und so. Nicht alle Menschen sagen so, aber viele Menschen und so fühle mich unerwünscht oder (.) nicht willkommen. Warum, warum so? ((lächelt)) Ja warum? Vielleicht nicht wir (.) oder ja obwohl (.) ja keine Ahnung wer sagt wer sagt wir sind verantwortlich dafür. Aber normale Menschen haben das damit nichts zu tun. Weil die sind Muslimen oder Christen, das hat damit nichts zu tun. Und manchmal, ja. Äh wenn meine Mitbewohner fragen, die haben mich nur ein nur diese nur erstes Mal gefragt nach die B-Stadt äh (.) Angriffen oder so und dann (.) kamen kamen viele Gedanken in meinem Kopf.« (I4: 478-487)

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Die vermeintliche und teilweise vielleicht auch nur zugeschriebene Zugehörigkeit zum Islam wird somit zu einem Faktor, der das Gefühl des ›Ausgeliefertseins‹ in der Aufnahmegesellschaft fördern kann. Die Wahrnehmung des Islams ist in der deutschen Gesellschaft ein zunehmendes und vielfach kontrovers diskutiertes Thema. Im Rahmen des internationalen Religionsmonitors zur Wahrnehmung des Islams in Deutschland stellen die Autoren zu den vorherrschenden Vorurteilen heraus: »Muslime sind eine sehr heterogene Gruppe mit Wurzeln in vielen verschiedenen Ländern sowie mit unterschiedlichen religiösen Ausrichtungen und Sichtweisen. Insgesamt stehen sie der Mehrheitsbevölkerung offen gegenüber und akzeptieren universelle Grundwerte. Die viel beschworenen Parallelgesellschaften existieren faktisch nicht. Der Anteil an Muslimen mit radikalen Einstellungen ist verschwindend gering, und diese stehen genauso wenig für das Gros der Muslime, wie Rechtsextreme für die Mehrheit der Deutschen stehen.« (Hafez/Schmidt 2015: 8f.) Mit dem Islam werden häufig negative Eigenschaften verbunden, wie Gewaltbereitschaft, Fanatismus, Benachteiligung der Frau, Rückwärtsgewandtheit und Engstirnigkeit. Mit dem Christentum hingegen gehen eher positive Assoziationen wie Toleranz, Solidarität, die Achtung der Menschenrechte und Friedfertigkeit einher. Im Vergleich zu einer höheren Quote in anderen europäischen Ländern empfinden in Deutschland nur ca. ein Drittel der Bevölkerung den Islam als Bereicherung (vgl. Pollack 2013: 96f.). Dies bestätigt im Wesentlichen auch die beschriebene Wahrnehmung der befragten Geflüchteten. Die hier dargestellten intervenierenden Bedingungen sind Faktoren, die im Kontext von Migration relevant sind und nicht zwangsläufig fluchtspezifische Implikationen darstellen. Es zeigt sich jedoch durch die biographische Bedeutung des Umgangs mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins, dass Geflüchtete in besonderem Maße aufgrund des wiederholten Erlebnisses, den fluchtbedingten Strapazen und statusbedingten Einschränkungen in Deutschland ausgeliefert sind, über eine geringere Handlungsfähigkeit verfügen und somit erschwert mit den in den intervenierenden Bedingungen dargestellten Gegebenheiten umgehen müssen. Konsequenzen Die sich ergebenden Konsequenzen sind vielfältig und können im Wesentlichen in eher negative/hemmende und positive/fördernde Konsequenzen unterschieden werden. Beide Formen können dabei aus jeweils beiden Strategien entstehen, je nach individuellem Gelingen beziehungsweise individueller Bewältigung der Strategien. Die Seite der negativen/hemmenden Konsequenzen umfasst hauptsächlich seelische Gefühlslagen wie Verzweiflung, sich unerwünscht fühlen, Angst oder Depressionen.

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

Derartig negative Gefühle gehen einher mit Versagensängsten, die gesetzten Bildungsziele nicht zu erreichen und keinen adäquaten Zugang zum Bildungssystem zu finden. Die Geflüchteten beklagen ihre Verzweiflung vor allem in Bezug auf den Spracherwerb. Es erscheint ihnen nahezu unmöglich, ein gutes Deutsch zu erlernen und aussprechen zu können, sie empfinden jedoch die Erwartung, ein muttersprachliches Niveau erreichen zu müssen. Obwohl die Befragten in der Regel bereits eine gute Vorbildung aus ihrem Herkunftsland mitbringen, durch ein abgeschlossenes Bachelorstudium oder Ähnliches, sehen sie die an sie herangetragenen Erwartungen im Aufnahmeland als zu hoch, was neben Verzweiflung und Angst auch dazu führt, dass die Geflüchteten sich unerwünscht fühlen, wenn sie keine Möglichkeit sehen, ihre Ziele zu erreichen beziehungsweise den Spracherwerb erfolgreich zu absolvieren. Die stärkste und wohl auch verheerendste Ausprägung der negativen und hemmenden Konsequenzen äußert sich bei einer Geflüchteten aus Syrien in Form einer aufkommenden Depression. Nachdem sie eine Zulassung für einen Sprachkurs in A-Stadt bekommen hat, kommen verschiedene Herausforderungen auf die Befragte zu. Sie kennt niemanden in A-Stadt, hat Schwierigkeiten ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und wird zudem durch die in den Medien immer wieder propagierten Kriegsgeschehnisse in ihrem Herkunftsland überwältigt, was dazu führt, dass eine Konzentration auf den Spracherwerb kaum noch möglich scheint und die Befragte somit den Sprachkurs abbricht. »Hab ich hier in Deu- in ä::h in A-Stadt Sprachkurs Zulassung zu Sprachkurs, dann war ich (.) A2. Aber leider vielleicht war ich zwei Wochen und dann kann ich konnte ich nicht mehr, weil viele Schwierigkeiten ich kenne niemanden hier, ich bin hier allein gekommen. Äh ich hab nur äh eine Freundin und sie will zu andere Stadt äh umziehen und dann wo wie wann und die Finanzierung auch das war auch ein bisschen Problem und dann hab ich diese äh Deutschkurs abge- abgeschlossen. Und hab ich versucht weil ähm als äh Studentin du brauchst DSH2 damit du ä::h äh in an der Uni ä::hm Master (.) äh machen kannst. Und dann hab ich versucht allein (.) DSH zu machen, viele Institute hab ich ein bisschen Kurs gemacht und und und aber leider (2) weil (.) hab ich geguckt in Fernsehen Nachricht und und und und wie ist die Situation immer schlecht in meinem Heimatland. (.) Und das kommt alle in meinem Kopf. (.) Das konnte ich nicht so gut konzentrieren wirklich ja. (.) Ä::hm und (.) d- dann konnte ich ne konnte ich das nicht schaffen, hab ich alles (.) was hab ich alles auch Finanzierung hab ich das ausgegeben und und und und. Hab ich versucht bis (.) eins Punkt 2015.« (I2: 304-322) Wie bereits angedeutet ergeben sich durch die beiden dargestellten Strategien nicht nur negative und hemmende Konsequenzen, sondern auch solche, die positiv und fördernd wirken. Obwohl der Kern des Phänomens, das Gefühl des Ausgeliefertseins, wie zu Beginn herausgestellt, auch eher negativ konnotiert ist, so

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kann dennoch über eine erfolgreich absolvierte Strategie plötzlich ein Gefühl der Hoffnung aufkeimen und so leitend werden für den Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Hoffnung bezieht sich in diesem Kontext einerseits auf eine individuelle Ebene, die Hoffnung auf das Erreichen der persönlichen Ziele. Andererseits rekurriert sie auf einer gesellschaftlich/politischen Ebene auf die Hoffnung, dass die Integrationsbemühungen in Deutschland noch weiter intensiviert werden. Ebenfalls als positiv beziehungsweise fördernd wird die Motivation von außen erlebt. Engagierte Freiwillige unterstützen vielfach Geflüchtete in ihren Alltagsbegehren und helfen auch bei Bildungsfragen. Ein Befragter beschreibt in einer längeren Textpassage die Unterstützung sowohl beim Lernen der deutschen Sprache, als auch monetär bei der Finanzierung eines Sprachkurses. »In S-Stadt, ich wohne in S-Stadt und in S-Stadt gibt es eine Gemeinde, wo man unterrichtet wird. Mhh und da hab ich eine Bekannte kennengelernt. Äh sie ist Lehrerin und sie gibt, sie unterrichtet uns oder sie unterrichtet die Flüchtlinge. Äh und sie hat gemerkt, dass ich richtig lernen möchte, das ist mein Ziel. Ähm:: sie ist ungefähr 50 Jahre alt, aber trotzdem sie lernt noch an Uni, sie wollte Lehrerin sein, Lehrerin werden. Mhh sie lernt an Uni in A-Stadt und sie hat gesagt, ok die Uni in A- die Uni in A-Stadt bietet die Uni ähm:: Deutschkurs für Flüchtlinge an. Ähh:: aber nur zweimal, nur einmal pro Woche, äh ich hab gesagt ok gerne äh und ich möch- ich bin mit ihr gefahren äh und ich hab an Uni in A-Stadt B1 gemacht. Ähm aber das war mir ein bisschen zu wenig. Und die Uni in die Uni in B-Stadt auch hat für Flüchtlinge nix mehr ange- angeboten äh ich dachte ok vielleicht kommt B2 oder so weiter, aber das war falsch. Und die Frau hat mich auch unterstützen und sie hat oder ich hab hier an Uni angemeldet oder ich hab mich eingeschrieben. Mhh und ich musste das Gebühr bezahlen, das ist kostet 750 € für 3 Monate, normal 250 € das ist das Gebühr für Uni und 450 €, das ist für Deutschkurs nur für Deutschkurs. Äh sie hat mich unterstützen und sie hat das bezahlt äh für mich. (.) Und sie hat gesagt wenn ich Geld, wenn ich später Geld habe, kann ich das wieder zurück bezahlen. Das ist sehr sehr nett, das gibt Motivation.« (I2: 250-260) Als letzte Konsequenz kann sich eine gesteigerte Wertschätzung der eigenen Bildung ergeben. Durch die Anstrengungen zur Bewältigung des Gefühls des Ausgeliefertseins können auch bisher unbemerkte Potenziale erkannt werden und das Vertrauen in die Fähigkeiten und Leistungen gefördert werden. Während einige Geflüchtete ihre bisherige Vorbildung noch nicht als besonders anschlussfähig an ihre momentane Situation sehen, zeigt sich genau hier eine entsprechende Erkenntnis, die auch der folgende Befragte erfährt: »Even they are in peace or in good countries (.) right now I am in Germany and I really see people here, the German people accept me, generally. Maybe I have äh (.) qualifications and (.) I really everyday want to be better than me the last day

4. Studium als Bildungserleben: die Entstehung einer Grounded Theory

äh and I see myself here and I will be (.) I will be myself here really and I can make myself. Cause I am ambitious, I have ambitions I can make everything that I have to make.« (I13: 52-56) Insgesamt wird also deutlich, dass der Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins eine besondere biographische Relevanz hat und den Migrationsprozess der Befragten begleitet. Bei einer Bewältigung des Umgangs kann das Ankommen beziehungsweise die Integration gefördert werden oder bei einer Verstärkung zu einem Kreislauf führen, der eine gesellschaftliche Anknüpfung erschwert, aber auch durchaus zu persönlichen Problemen führen kann. Aufgrund des eingeschränkten politischen Status und der persönlichen und gesellschaftlich zugeschriebenen Fremdheit in einer neuen Umgebung hat der Aspekt der Hilfsbedürftigkeit für das Phänomen des Umgangs mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins eine immense Bedeutung gewonnen. An verschiedenen Stellen die positive Relevanz von gesellschaftlicher Unterstützung, sei es institutionell oder in Form von engagierten Einzelpersonen, herausgestellt werden.

4.2.3.3

Zwischenfazit

In diesem Abschnitt der Auswertung stand das Verhältnis von Migration und Biographie im Mittelpunkt, dem es sich anzunähern galt. Im Kontext der herangezogenen Phänomene ist deutlich geworden, dass vor allem Fragen nach Verortungen beziehungsweise Positionierungen der eigenen Identität zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft für die Geflüchteten relevant sind. Einerseits soll die Herkunftsidentität nicht aufgegeben werden und andererseits aber auch eine Anpassung an die Aufnahmegesellschaft erfolgen, und es gilt dieses Verhältnis auszuloten, was die Befragten zu ambivalenten und eher negativ geprägten Gefühlslagen führt. Auch das zweite Phänomen ›Umgang mit dem Gefühl des Ausgeliefertseins‹ knüpft an diese Gefühlswelten an und betont vor allem die biographischen Auswirkungen des Ausgeliefertseins. Dies ist insofern besonders, als dass damit auch die Lebenswelten der Geflüchteten im Herkunftsland in den Blick genommen und entsprechende Auswirkungen auf die Situation im Aufnahmeland diskutiert werden. Auch im Rahmen der Bestrebungen zur Aufnahme beziehungsweise zum Absolvieren eines Hochschulstudiums sind diese Ergebnisse relevant. Dadurch, dass Geflüchtete sich neben den systembedingten Anforderungen zur Aufnahme eines Hochschulstudiums auch noch mit der Verarbeitung der herausgearbeiteten biographischen Prozesse auseinandersetzen müssen, wird die Konzentration auf den Einstieg in das Bildungssystem noch einmal erschwert beziehungsweise durch zusätzliche Herausforderungen begleitet. Die Auswirkungen auf das Bildungserleben der Geflüchteten sind damit ebenfalls erwartbar und lassen eine Verstärkung des bereits herausgearbeiteten ambivalenten Erlebens vermuten.

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5. Das Bildungserleben geflüchteter Studierender – Fazit und Ausblick

Wenngleich die Historie zeigt, dass die Debatte um die Bildungsintegration Geflüchteter bereits seit langer Zeit andauert und im Sinne einer besonderen Wahrnehmung und Berücksichtigung der Bedürfnisse Geflüchteter hoffentlich noch lange andauern und immer wieder entfachen wird, um auf die besondere Situation Geflüchteter aufmerksam zu machen, so gilt es an dieser Stelle im Rahmen des folgenden Kapitels ein Fazit über die geführten Diskussionen im Verlauf dieser Arbeit zu ziehen und einen Ausblick in die Zukunft zu geben. Daher soll zunächst neben einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse die Beantwortung der formulierten Forschungsfrage fokussiert werden (Kapitel 5.1). Anschließend erfolgt ein Ausblick in Bezug auf sich ergebende Chancen und Herausforderungen im Kontext weiterer Forschung (Kapitel 5.2), ebenso wie der schlussendlichen Diskussion von Anregungen für die Praxis (Kapitel 5.3).

5.1

Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse hinsichtlich des Bildungserlebens geflüchteter Studierender

In der zentralen Kategorie ›Studium als Bildungserleben‹ manifestiert sich schlussendlich das Verhältnis der Konzepte ›Biographie‹, ›Bildung‹ und ›Migration‹, die eng miteinander verwoben sind und nur in einer ganzheitlichen Perspektive die Situation geflüchteter Studierender erfassen können (vgl. Kapitel 4). Wenngleich sich die biographischen Verläufe höchst individuell gestalten, so ist das Bildungserleben das zentrale und handlungsleitende Konzept für die Organisation und Ausrichtung biographischer Verläufe. Die Erhaltung eines positiven Bildungserlebens und dessen Steigerung wird zu einer Art Lebensziel für geflüchtete Studierende beziehungsweise Studieninteressierte. Migrationsprozesse, insbesondere Fluchtbewegungen, beeinflussen die biographischen Verläufe und das Bildungserleben und haben dabei vielfältige Auswirkungen. Tendenziell führen die Erlebnisse während des Fluchtprozesses zunächst zu Brüchen in den biographischen Verläufen, die im Herkunftsland bisher eher von Stringenz und einer Orien-

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

tierung an institutionellen Ablaufmustern geprägt waren. Das Ziel der Aufnahme beziehungsweise Fortsetzung eines Studiums wird damit zu einem kontinuitätsstiftenden Element, was den Fluchtprozess antreibt und begleitet. Der Fluchtprozess ist dabei im Kontext dieser Arbeit eine weitgefasste Phase, die mit der Entscheidung zur Flucht im Herkunftsland beginnt und nach der Ankunft im Aufnahmeland Deutschland noch längst nicht abgeschlossen ist (vgl. z.B. Kapitel 4.2.3). Die eigentliche Flucht, das heißt der aufgrund verheerender Verhältnisse unumgängliche Wechsel des Lebensmittelpunktes, evoziert mitunter neue Perspektiven auf Gesellschaftsformen und den Umgang mit Mitmenschen; explizit werden die Notwendigkeit von Vernetzung, Kommunikation und Zusammenarbeit als Perspektiven und Auswirkungen auf den neuen Alltag und die weitere Biographie dargelegt. Bildung, einerseits im Sinne der institutionellen Phase des Studiums und andererseits im Sinne der Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse, wird somit zum Motivator für den weiteren biographischen Verlauf. Wenngleich Bildung als Motivator zunächst einen positiven Anreiz suggeriert, so ist dies mitunter kritisch zu betrachten. Die Transformation der Selbst- und Weltverhältnisse rekurriert aus der Auseinandersetzung mit neuartigen Problemlagen, die sich im Rahmen dieser Untersuchung auf die sich verschlechternden Lebensbedingungen im Herkunftsland und die fluchtbedingten Veränderungen beziehen. Es ist deutlich geworden, dass mit diesem Wandel vor allem auch großes Leid und höchst individuelle Emotionen und Verluste einhergehen. Enttäuschung, Unsicherheit, Angst, Einsamkeit und das Gefühl einem System ausgeliefert zu sein, stehen dabei der Bildungsmotivation zunächst entgegen. Bildungsmomente sind während des Fluchtprozesses zwar vorhanden, stellen für die Geflüchteten jedoch keine greifbaren und explizit wahrnehmbaren Prozesse dar, da diese nicht durch institutionalisierte Kategorien beschrieben werden können und zudem die negativ geprägten Emotionen eine Explizierung überschatten. Fluchtbewegungen verursachen daher eher negativ konnotierte Trends im Hinblick auf bildungsbiographische Verläufe. In der Phase nach der Ankunft im Aufnahmeland Deutschland sind die Geflüchteten trotz ihrer starken Bildungsambitionen vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt, die sie bewältigen müssen. Besonders das Erlernen der Sprache, die bürokratischen Anforderungen zur notwendigen Organisation des Lebensalltags und Studieneinstiegs und das aus den Erlebnissen im Herkunftsland und der Flucht resultierende Bedürfnis nach Sicherheit prägen das Erleben der Geflüchteten in Deutschland nach ihrer Ankunft. Aus dem handlungsleitenden Konzept der Erhaltung beziehungsweise Steigerung des Bildungserlebens im Kontext dieser zu bewältigenden Herausforderungen resultiert dann interessanter- und besondererweise die unbedingte Beibehaltung der Selbsttätigkeit und Eigenaktivität der Geflüchteten. Dennoch zeigt sich in einer langfristigen Perspektive, dass diese Strategie zwar dazu führt, dass die Bildungsbiographie grundsätzlich fortgesetzt werden kann, die in der Phase nach

5. Das Bildungserleben geflüchteter Studierender – Fazit und Ausblick

der Ankunft notwendige Bewältigung der statusbedingten Herausforderungen sich jedoch langfristig auch in einer durch Unterbrechungen, starken Wandel oder Verzögerungen geprägten Bildungsbiographie äußern. Leitend für den Forschungsprozess und die resultierten Ergebnisse war die eingangs formulierte Forschungsfrage, wie Geflüchtete den Einstieg in das deutsche Bildungssystem erleben und verarbeiten. Am Beispiel des Hochschulzugangs zeichnet sich nun bereits in der Darlegung der zentralen Kategorie ›Studium als Bildungserleben‹ und des Zusammenhangs von ›Biographie‹, ›Bildung‹ und ›Migration‹ die Beantwortung dieser Fragestellung ab. Das Erleben der Geflüchteten ist in der Zusammenführung der unterschiedlichen konzeptionellen Perspektiven durch Ambivalenzen beziehungsweise ambivalente Prozesse geprägt. Zunächst ist die Entscheidung zur Flucht geprägt von einer großen Hoffnung auf ein besseres Leben und vor allem auf die Möglichkeit zur Fortsetzung der Bildungsbiographie. Zuversicht und Kontinuität sind Emotionen, die die verheerenden Umstände des Kriegsgeschehens überdecken. Nach der Ankunft in Deutschland können diese positiven Emotionen jedoch selten aufrechterhalten werden und stehen in einem Gegensatz zu aufkommender Enttäuschung und Unsicherheit. Diese negativ geprägten Emotionen werden durch die Realisierung der unmöglich erscheinenden direkten Anknüpfbarkeit an das deutsche Bildungssystem bedingt und verstärken sich durch die Vielzahl der zu bewältigenden Herausforderungen und einer entsprechenden Kumulation. Einhergehend damit lässt sich eine weitere Ambivalenz benennen, der Wunsch nach einer hohen Eigenaktivität und Selbsttätigkeit im Gegensatz zu einer erlebten Passivität. Bereits im Herkunftsland wird durch die sich verändernden Lebensumstände eine Einschränkung des alltäglichen Lebens und der Eigenaktivität erlebt, die es durch die Flucht und den damit vollzogenen Wechsel in ein neues politisches und gesellschaftliches System für die Geflüchteten wiederherzustellen gilt. Durch die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen, die verbundenen Herausforderungen und bereits herausgearbeiteten Emotionen verfallen die Geflüchteten in eine erneute Passivität, die die Spirale negativer Gefühle zusätzlich nährt. In Bezug auf die Frage nach der Integration in die Aufnahmegesellschaft zeigt sich ebenfalls eine kaum aufzulösende Ambivalenz. Die Positionierung bewegt sich zwischen einem besonderen Bezug zur Herkunftsnation, dortigen Kontaktnetzwerken und der bekannten Lebenspraxis im Gegensatz zu einer wahrgenommenen Forderung nach Assimilation in die Aufnahmegesellschaft und einer damit verbundenen Aufgabe der Herkunftsidentität. Es zeigt sich also beiderseits eine deutlich nationalstaatlich organisierte Perspektive, die wiederum hemmend auf die Anknüpfbarkeit beziehungsweise Kontinuität der Bildungsbiographie und damit auf das Bildungserleben wirkt.

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Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem

Inwieweit diese Ergebnisse eine Übertragbarkeit auf zukünftige Forschungsperspektiven zulassen und praktische Konsequenzen nach sich ziehen können, soll im Folgenden genauer diskutiert werden.

5.2

Implikationen für weitere wissenschaftliche Forschung

Am Ende des Forschungsprozesses gilt es nun zu diskutieren, inwieweit die Ergebnisse für die beteiligten Forschungsdisziplinen relevant sind und Anregungen für weitere dabei nicht, was die Ergebnisse dieser Untersuchung für die einzelnen beteiligten Disziplinen bedeuten Forschungsvorhaben geben können. Dabei wird nicht der Anspruch erhoben sämtliche Anknüpfungspunkte im Detail darzulegen, sondern vielmehr einen Raum der Möglichkeiten zu eröffnen. Die Frage im Kontext dieser Arbeit ist, sondern wie eine Disziplin über den Einbezug der jeweils anderen durch den hier dargelegten Forschungsprozess bereichert werden kann und wie damit ein gemeinsamer Forschungsweg weitergehen könnte. Die Argumentation folgt damit der bisherigen Forschungslogik, deren Besonderheit in der ganzheitlichen und gemeinsamen Betrachtung der Konzeptionen von ›Migration‹, ›Bildung‹ und ›Biographie‹ liegt.   Inwiefern können die zugrundeliegenden Implikationen von ›Bildung‹ durch die Perspektiven von erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung und Biographieforschung bereichert werden?   Im Verlauf dieser Arbeit ist deutlich geworden, dass sich die Schnittmenge aus erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung und Biographieforschung zwischen Fragen nach Zugehörigkeit und Verortung sowie den biographischen Auswirkungen von Migrations- beziehungsweise Fluchtprozessen, wie beispielsweise der Bedeutung des Ausgeliefertseins, bewegt. Die vorliegenden empirischen Befunde zeigen verschiedene Facetten von ›Bildung‹ auf, die im Rahmen dieser Diskussion relevant sind. Die zentrale Kategorie beschäftigt sich mit dem Bildungserleben geflüchteter Studierender beziehungsweise Studieninteressierter und der einhergehenden Bedeutung von Bildung. Trotz der verheerenden Kriegsgeschehnisse machen sich die Betroffenen auf den Weg, um ganz bewusst den schlechten und gefährlichen Lebensbedingungen zu entgehen und ihre Bildungsbiographie fortsetzen zu können. Sie verstehen Bildung als ihre Lebensaufgabe und kontinuitätsstiftendes Element. Die emotionale Ausnahmesituation durch die schlechten und unsicheren Lebensund Fluchtbedingungen wird durch das Bestreben und die Aussicht, die eigene Bildungsbiographie fortsetzen zu können, in Kauf genommen. Andere Betroffene nehmen Bildung zunächst nicht bewusst wahr und sehen während des Flucht-

5. Das Bildungserleben geflüchteter Studierender – Fazit und Ausblick

prozesses ausschließlich den Schutz von Leib und Leben im Vordergrund. Häufig sind dabei traumatische Erlebnisse zu bewältigen, die durch die zunächst wahrgenommene Nicht-Aufnahme in das deutsche Bildungssystem beziehungsweise die unerreichbar und herausfordernd erscheinende Fortführung der Bildungsbiographie verstärkt werden. Das Bildungserleben gestaltet sich daher insgesamt sehr ambivalent zwischen großer Hoffnung und Zuversicht auf der einen Seite und sehr negativ geprägten Emotionen wie Angst, Unsicherheit und Einsamkeit. Offen bleibt jedoch, wie sich dieses ambivalente Erleben beispielsweise auf den weiteren Verlauf der Bildungsbiographie auswirkt und wie das Bildungserleben hin zu einem positiveren Empfinden beeinflusst werden kann. Anhand der Analyse des Bildungserlebens offenbart sich die besondere Bedeutung, die Bildung im Leben der Geflüchteten einnimmt. Das Bedürfnis nach Bildung und der Fortsetzung der Bildungsbiographie fördert häufig ihre Eigenaktivität und Selbsttätigkeit und lässt sie so scheinbar unüberwindbare Hürden, wie beispielsweise den schweren und langwierigen Prozess des Erwerbs der deutschen Sprache, bewältigen (vgl. Kapitel 4.2.2.1). An dieser Stelle wäre es interessant zu untersuchen, woraus diese besondere Bedeutung für die Geflüchteten erwächst und wodurch sie auch während des langwierigen und schweren Fluchtprozesses weiter gestärkt wird. Die besondere Bedeutung, die Bildung für die Befragten innehat, und die kontinuitätsstiftende Eigenschaft werden vor allem an Teilhabe und dem Durchlaufen institutioneller Ablaufmuster festgemacht (vgl. Kapitel 4.2.1). So wird beispielsweise der notwendige Spracherwerb nicht als Teil des Bildungsprozesses gesehen und ruft bedingt durch die Vielzahl der zu bewältigenden Kurse und die damit augenscheinlich verlorene Zeit eine große Unzufriedenheit hervor und stützt für die Befragten das Gefühl des Nicht-Teilhaben-Dürfens am deutschen Bildungssystem. Es bleibt fraglich, warum die an Bildungsinstitutionen gebundenen Sprachkurse nicht als Teil des individuellen Bildungsprozesses und Fortsetzung der Bildungsbiographie wahrgenommen werden und wie diese konzipiert werden können, um ein Ankommen im Bildungssystem zu fördern. Die Bedeutung der Nicht-Anschlussfähigkeit hat darüber hinaus auch Auswirkungen auf die Diskurse um Zugehörigkeit und Verortungen. Nach Apitzsch (2003) kann der durch Transformationen alltagsrelevanten Wissens stattfindende Wechsel in ein neues Bezugssystem mit Fremdheitserfahrungen und Neustrukturierungen verbunden sein. Fremdheitserfahrungen und Neustrukturierungen beziehen sich dabei auf Fragen nach Selbst- und Fremdverortungen. Die vorliegende Untersuchung hat aus der Diskussion um die Bedeutung und das Erleben von Bildung gezeigt, dass sich die befragten Geflüchteten in einem ständigen Aushandlungsprozess zwischen dem Nicht-Aufgeben-Wollen und -Können ihrer Herkunftsidentität und der als gegensätzlich suggerierten Forderung nach Anpassung an die Aufnahmegesellschaft befinden (vgl. Kapitel 4.2.3.1). Obwohl die Betroffenen ein hohes

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Maß an Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit offenbaren und dies als Strategie nutzen, um möglicherweise eine bessere Anschlussfähigkeit zu erreichen, so ergibt sich in der Konsequenz ein ambivalentes und vor allem negativ geprägtes Bildungserleben. Besonders auffällig ist dabei, dass die Betroffenen unbedingt teilhaben wollen und dafür auch versuchen die Offenbarung ihres Flüchtlingsstatus zu unterbinden, ihnen jedoch trotzdem die bedingungslose Fortsetzung ihrer Bildungsbiographie verwehrt wird. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für weitere Forschungsvorhaben stellen sollten, beziehen sich auf die Bedeutung multipler Verortungen für nationalstaatlich organisierte Bildungssysteme. Wie kann Kompatibilität beispielsweise zwischen Hybriditäten oder Mehrfachzugehörigkeiten und dem institutionalisierten Bildungssystem hergestellt werden? Welche Auswirkungen hat wiederum ein positives Bildungserleben auf die Verortungs- und Zugehörigkeitsbestrebungen der Geflüchteten? Wie kann ein positives Bildungserleben jenseits einer verbesserten Anschlussfähigkeit nachhaltig ermöglicht werden? Anregungen für die Beantwortungen dieser Frage werden im noch folgenden Kapitel zu den praktischen Bezügen zwar aufgeworfen, dennoch bedarf es weiterer spezifischer Forschung, um eine adäquate Lösung für eine bessere Teilhabe Geflüchteter zu ermöglichen.   Inwiefern können die zugrundeliegenden Implikationen von ›Biographie‹ durch die Perspektiven der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung und den Ansätzen zur Bildungsforschung bereichert werden?   Das Verhältnis von ›Migration‹ und ›Bildung‹ zeichnet sich durch Diskurse um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, Diskussionen zur Bedeutung der sozialen Herkunft und auch den besonderen Herausforderungen Geflüchteter in Bezug auf den Einstieg in das deutsche Bildungssystem aus. Es gilt nun zu eruieren, welche Erkenntnisse und Ableitungen sich daraus möglicherweise für weitere Forschungsvorhaben in einem biographischen Kontext ergeben. In Anknüpfung an den Aspekt der Herausforderungen für Geflüchtete, die eine so zentrale und weitreichende Wirkungen haben, dass sie die Diskussion an dieser Stelle anführen, hat sich in dieser Untersuchung die Vielschichtigkeit der Herausforderungen für Geflüchtete bestätigt. Es hat sich gezeigt, dass besonders eine entsprechende Kumulation zu einer Spiralwirkung führt, die das individuelle Bildungserleben massiv negativ beeinflusst. Auch Jahre nach der eigentlichen Flucht und der Bewältigung des Einstiegs in das Bildungssystem lassen sich Verzögerungen und Unterbrechungen in der Biographie der Geflüchteten ausmachen, die auf die Einstiegsherausforderungen zurückzuführen sind. Diese Ergebnisse könnten beispielsweise durch eine Längsschnittstudie noch differenzierter untersucht werden. Ebenso wäre es interessant die Gestaltung und Bewältigung weiterer Übergänge in der Bildungsbiographie Geflüchteter zu betrachten, beispielsweise

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den Übergang in das Arbeitsmarktsystem nach einem erfolgreichen Hochschulabschluss. Welche Bewältigungsstrategien werden überhaupt angewendet, um trotz der offenkundigen Benachteiligung die Bildungsbiographie fortzusetzen? Welchen Einfluss haben möglicherweise auch unterschiedliche Studienfächer auf die Bewältigung und Fortsetzung der Bildungsbiographie? Als eine besondere Herausforderung ist der Erwerb der deutschen Sprache zu nennen (vgl. Kapitel 4.2.2.1). Bereits in den studienvorbereitenden Sprachkursen zeigen die Geflüchteten entgegen bisheriger Forschungsergebnisse eine hohe Lernbereitschaft und Leistungsmotivation. Dennoch setzt bereits in dieser Phase ein ambivalentes und damit auch negatives Erleben ein. Die Geflüchteten bewegen sich emotional zwischen Zuversicht auf der einen Seite und Angst, Unsicherheit und Unzufriedenheit auf der anderen Seite. Das aus institutioneller Perspektive nötige Durchlaufen und Bestehen mehrerer aufeinander aufbauender Sprachkurse bedarf eines entsprechenden Zeitrahmens und trägt damit maßgeblich zur Unzufriedenheit bei. Zudem wird der Spracherwerb von den Geflüchteten nicht explizit als Bildungsprozess wahrgenommen, sondern ist in ihrem Empfinden einem Einstieg in das Bildungssystem vorgeschaltet, wie es auch durch die entsprechenden staatlichen Anforderungen suggeriert wird. Im Kontext der biographischen beziehungsweise narrativen Analysen nach Schütze (1981) kann in diesem Zusammenhang vermutlich von einer negativen Verlaufskurve ausgegangen werden. Offen bleibt, welche Auswirkungen der Erwerb der deutschen Sprache und damit auch Mehrsprachigkeit auf die weitere Bildungsbiographie der Befragten hat. Darüber hinaus wäre es interessant zu beleuchten, wie geflüchtete Studierende langfristig und rückwirkend die Phase des Spracherwerbs im Kontext ihrer Biographie rekonstruieren und welche Bedeutung einem derartigen Erleben zugeschrieben wird. Es lassen sich dazu zwar Ansätze im Rahmen dieser Untersuchung erkennen, beispielsweise in der Befragung Studierender, deren Flucht bereits Jahre zurückliegt, dennoch wäre ein systematischer Fokus nach wie vor wünschenswert und kann möglicherweise weitere wertvolle Erkenntnisse auch für die Ermöglichung eines verbesserten beziehungsweise positiveren Erleben des Einstiegs in das Bildungssystem aufzeigen. Für den Spracherwerb sind beispielsweise auch soziale Kontakte sehr bedeutsam, die eine Erprobung und Festigung des praktischen Sprachgebrauchs ermöglichen und zudem auf der Ebene des Erlebens helfen, Einsamkeit und Heimweh entgegenzuwirken. Der Kontakt zu Einheimischen ist dabei jedoch sehr eingeschränkt, wohingegen verstärkt Kontakte zu Freunden und Familienmitgliedern auch im Herkunftsland aufrechterhalten werden. In einer biographischen Perspektive ist deutlich geworden, dass das Aufrechterhalten von Kontakten in die Herkunftsregion schlussendlich keine besonderen Auswirkungen auf den Verlauf der Bildungsbiographie hat, sondern eher eine grundsätzliche Affinität zu transnationalen Kontakten zu erkennen ist, die wiederum förderlich für die Teilhabe am

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Bildungs- und Arbeitsmarktsystem sein können (vgl. Kapitel 4.2.3.1). Auch an dieser Stelle lohnt es sich weitere Untersuchungen vorzunehmen, um die Bedeutung sozialer Kontakte für die Bildungsbiographie Geflüchteter genauer zu konturieren. Welche Auswirkungen haben beispielsweise Kommunikationsfähigkeit und internationale Kontakte für den weiteren biographischen Verlauf? Welchen Stellenwert nimmt am Ende auch der Flüchtlingsstatus ein, wenn es um die Bedeutung sozialer Kontakte und damit verbundener langfristiger Auswirkungen geht? Inwiefern hängen diese Fragen mit unterschiedlichen Fachrichtungen und Studienfächern zusammen? Zu den sozialen Kontakten gehören auch enge Bezugspersonen, wie Familienangehörige. Im Rahmen dieser Untersuchung ist deutlich geworden, dass mit der familiären Eingebundenheit zwar auch Möglichkeiten der Unterstützung gegeben sind, aber dadurch auch besondere Erwartungen, Ansprüche bis hin zu Druck in Bezug auf das Erreichen erfolgreicher Bildungsergebnisse und -abschlüsse aufgebaut wird (vgl. Kapitel 4.1.2). Diese Verwobenheit der individuellen Dispositionen der befragten Geflüchteten mit den familiären Erwartungshaltungen zeigt sich bereits im Herkunftsland und wird durch die Flucht und die Bestrebungen des Einstiegs in ein neues Bildungssystem nicht aufgelöst, sondern eher verstärkt, da auch in Deutschland Bildungserfolge nach wie vor von der sozialen Herkunft abhängig sind. Inwiefern die familiären Einflüsse auch nach dem Absolvieren des Einstiegs in das Bildungssystem Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Bildungsbiographie haben, könnte aus biographischer Sicht zu weiteren interessanten Forschungsvorhaben führen. In einer methodologischen beziehungsweise methodischen Perspektive auf Biographieforschung offenbart der Bezug zur Bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung ebenfalls Potenzial zur Weiterentwicklung. Die klassische Form des narrativen Interviews bedarf eines enormen Aufwands um eine vorgesehene muttersprachliche Durchführung zu gewährleisten, was jedoch praktisch in der Regel zusätzlicher finanzieller Mittel und guter Kontakte bedarf und damit oft kaum umsetzbar ist. Zudem wünschen die Geflüchteten eine Interviewführung entweder in deutscher oder englischer Sprache, um damit bereits möglicherweise dem akademischen Umfeld des Interviewers/der Interviewerin ein Stück näher zu kommen (vgl. Kapitel 3.1.6.1). Werden Interviews in einer Fremdsprache durchgeführt, lassen sich in der Regel wenige Narrationen ausmachen, und es bedarf eines Interviewleitfadens für die Interviewer/-innen, um immer wieder narrative Passagen anzuregen. Dies hat wiederum auch Auswirkungen auf die Auswertung der Interviews. Das von Schütze (1981) vorgeschlagene Verfahren der Narrationsanalyse ist in diesem Kontext kaum anwendbar, da durch die fremdsprachliche Durchführung die Qualität der Interviews sehr heterogen ausfallen kann und zudem beispielsweise Bedeutungszuschreibungen im Sinne der Zugzwänge des Erzählens nicht eindeutig möglich sind. Es bedarf daher offener

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Ansätze beziehungsweise Auswertungsmethoden, die die Bedeutung der Interviewsprache berücksichtigen und gleichzeitig unabhängige Schlussfolgerungen ermöglichen. Die in dieser Untersuchung vorgenommene methodologische und methodische Orientierung an der Grounded Theory hat sich als eine Möglichkeit erwiesen, um die nötige Offenheit gegenüber besonderen Interviewsituationen gewährleisten und diese entsprechend reflektieren zu können. Es bedarf jedoch weiterhin eines besonderen Augenmerks darauf, unter welchen Bedingungen überhaupt Narrationen im Kontext von Interviews mit Geflüchteten zustande kommen können und welche Auswirkungen die Rolle des Interviewers/der Interviewerin auf das Forschungssetting hat. Zudem erscheint es notwendig, im Rahmen biographischer Untersuchungen die Möglichkeiten der Kombination mit anderen Forschungsmethoden zu prüfen. Wenngleich es hierzu bereits Ansätze gibt, steht eine Übersicht geeigneter Ansätze im Kontext der biographischen Bearbeitung von Fluchtmigrationen noch aus.   Inwiefern können die zugrundeliegenden Implikationen von ›erziehungswissenschaftlicher Migrationsforschung‹ durch die Perspektiven von Biographieforschung und Ansätzen zur Bildungsforschung bereichert werden?   Bildungs- und Biographieforschung führen in ihrer Symbiose zur Beschäftigung mit Transitionen beziehungsweise Übergängen und der Bedeutung institutioneller Ablaufmuster. Wenngleich die genannten Aspekte auch in den bisherigen Diskussionen bereits angeklungen sind, sollen die besonderen Implikationen für die erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung an dieser Stelle noch einmal explizit herausgearbeitet werden. Die bisherige Auseinandersetzung mit den Welt- und Selbstverhältnissen und deren biographische Verwobenheit ermöglichen beziehungsweise bedingen die Verarbeitung der fluchtbedingten Erlebnisse. Zunächst einmal rufen Migrationsund explizit Fluchtprozesse bei den Betroffenen ein großes Bedürfnis nach Sicherheit hervor, was sich jedoch im Kontext der Fortsetzung ihrer Bildungsbiographie nicht in einem Rückzug, sondern gegenteilig in einer unbedingten Bewahrung ihrer Eigenaktivität und Selbsttätigkeit äußert (vgl. Kapitel 4.2.2.2). Der Wunsch der Geflüchteten geht in diesem Zusammenhang mit der Perspektive der Aufnahmegesellschaft konform, die von den Geflüchteten den Willen zur Integration fordert, welche durch die Aktivität der Geflüchteten erreicht werden kann. Faktisch passen die beiden Perspektiven aber dennoch nicht zusammen, da die betroffenen Geflüchteten systembedingt in ihrer Eigenaktivität behindert und eingeschränkt werden. Die Aufnahmegesellschaft suggeriert zwar Offenheit und die Chancen auf Teilhabe, aber nur unter definierten und herausfordernden Bedingungen. Sich mit der Frage zu beschäftigen, inwiefern Fluchtprozesse durch systembedingte Anforderungen beeinflusst werden und wie eine bessere

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Passung zwischen der individuellen Perspektive beziehungsweise dem Erleben der Geflüchteten auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Forderungen auf der anderen Seite ermöglicht werden kann, ist durchaus eine bedeutsame Perspektive für die erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ebenso wie der Einstieg in das deutsche Bildungssystem stellen für die Geflüchteten Transitionen dar. Das politische und gesellschaftliche System in Deutschland folgt einer ganz eigenen und für die Betroffenen neuen Logik, die es zu verstehen gilt. Daraus bedingt sich auch der Aufbau des Bildungssystems, das stark an institutionellen Abläufen orientiert ist. Das System ist dabei in sich schlüssig und impliziert ebenfalls Formen von Übergängen, wie beispielsweise von der Schule in die Hochschule und in den Arbeitsmarkt. Wirken jedoch Migrations- beziehungsweise Fluchtprozesse ein, das heißt die Betroffenen möchten und müssen Übergänge und Einstiege jenseits der systembedingten Übergänge absolvieren, so werden die institutionellen Ablaufmuster durchbrochen, und es fällt den Betroffenen schwer anzukommen und teilzuhaben. Für die Geflüchteten sind diese Transitionen eine zusätzliche Belastung, da sie mit der Flucht ohnehin schon eine schwierige Situation bewältigen müssen und dadurch bedingt bereits auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig mit Transitionen konfrontiert sind (vgl. Kapitel 4.2.1). Daraus ergeben sich neben den im folgenden Kapitel diskutierten praktischen Handlungsbedarfen auch interessante Forschungsperspektiven für die erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung, beispielsweise, wenn es darum geht, welche Auswirkungen Fluchtprozesse auf die Bewältigung von Transitionen im Bildungskontext haben oder auch wie sich Fluchterfahrungen möglicherweise langfristig auf die Bildungsbiographien der Betroffenen auswirken.

5.3

Implikationen für die Praxis

Neben den Implikationen für weitere wissenschaftliche Forschung gilt es nun Diskussionen für die Praxis anzuregen. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung ermöglichen zahlreiche Anknüpfungspunkte, die an dieser Stelle auf einer gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Ebene und auf der Ebene der Hochschulpolitik beziehungsweise Hochschuldidaktik diskutiert werden sollen. Eine Debatte um gesellschaftliche Fragen ist dabei kein nationalstaatliches Phänomen, sondern wird auf der internationalen Bühne breit diskutiert. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen sieht die übergreifende gesellschaftliche Aufgabe in der Integration der Geflüchteten: »Integration beschreibt einen komplexen Prozess der stetig wachsenden rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Teilhabe der Flüchtlinge in der

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Aufnahmegesellschaft. Sowohl Flüchtlinge als auch die Aufnahmegesellschaft müssen einander offen gegenüberstehen und aufeinander zugehen, damit Integration gelingen kann. Die umfassende Teilhabe von Flüchtlingen in allen Lebensbereichen kann langfristige Abhängigkeiten vermeiden und ein konstruktives Miteinander von Flüchtlingen und Aufnahmegesellschaft schaffen, das die Vorzüge beider Gemeinschaften vereint. […] Die Aufnahmegesellschaft kann positiv auf die Integration von Flüchtlingen hinwirken, indem Sie die Menschen beim Erlernen der Sprache unterstützt, ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert (etwa durch die Anerkennung von Bildungsabschlüssen) sowie Hilfestellung bei der gesellschaftlichen Eingliederung gibt.« (UNHCR 2020) Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung knüpfen an dieses Anliegen an und legen verstärkte Bemühungen in der gesellschaftlichen Integration der Geflüchteten nahe. Auf der einen Seite verdeutlichen die Geflüchteten selbst sehr stark ihren Wunsch möglichst nahtlos in das deutsche Bildungssystem und damit auch in die Gesellschaft integriert zu werden. Auf der anderen Seite wird durch die Gesellschaft, beispielsweise durch die Forderung zum Erwerb der neuen Sprache und der Aufforderung zur Partizipation am Bildungs- und Arbeitsmarkt, die unbedingte Notwendigkeit der Integration suggeriert. Praktisch zeigt sich dennoch, dass die jeweiligen augenscheinlich identischen Zielvorstellungen nur schwer ineinandergreifen und nur durch die Bewältigung vielfältiger Herausforderungen und Verzögerungen umgesetzt werden können. Damit offenbart sich Handlungsbedarf, um eine bessere Passung zwischen den Anliegen der Geflüchteten und den gesellschaftlichen Bedingungen zu ermöglichen. Gesellschaftliche Teilhabe hängt für die Geflüchteten sehr eng zusammen mit dem Einstieg in das deutsche Bildungssystem; an dieser Stelle lassen sich Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen. Wenn es zunächst darum geht, überhaupt den Weg an eine Hochschule zu finden, so bedarf es adäquater Beratungsangebote. In der Regel ist in diesem Zusammenhang nach dem Ausländeramt die Bundesagentur für Arbeit die erste Anlaufstelle für die Geflüchteten. Die Bundesagentur für Arbeit verfolgt die Zielsetzung, Klienten möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, im Kontext Geflüchteter werden daher beispielsweise auch eigene Sprachkurse angeboten. Möchten die Geflüchteten ein Studium aufnehmen oder fortsetzen, so muss die Beratung anderen Zielsetzungen folgen, da die möglichst schnelle Aufnahme einer Arbeitstätigkeit an dieser Stelle nicht im Vordergrund steht. Die betroffenen Geflüchteten empfinden dies als Herausforderung, da sie sich den Weg zur für sie passenden Beratung selbst bahnen müssen und teilweise durch Beratung in eine andere Richtung verunsichert und irritiert werden. In der Regel verfügen die Geflüchteten über sehr klare Zielvorstellungen, wodurch sich der Beratungsbedarf eher auf konkrete Umsetzungs- und Zugangsmöglichkeiten bezieht. Es erscheint notwendig die Zusammenarbeit und Vernetzung zwi-

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schen den verschiedenen Beratungsinstitutionen stärker zu fokussieren, um die Geflüchteten adäquat auf ihrem Weg unterstützen zu können. Zudem gilt es die Berater/-innen immer wieder zur Reflexion ihrer Rolle anzuregen, die Macht- und Gatekeeping-Strukturen beinhaltet und die Abhängigkeit der zu Beratenden beziehungsweise der Geflüchteten expliziert. Neben der Verbesserung der Beratungsangebote gilt es auch den Einstieg in das Bildungssystem zu erleichtern, indem Einstiege jenseits der zeitlichen Ordnung institutioneller Ablaufmuster einfacher ermöglicht werden können. Die dargelegten Untersuchungsergebnisse haben einen Bruch zwischen den institutionellen Ablaufmustern und den Fluchtprozessen dargelegt, die zusätzlich zu bewältigende Herausforderungen für die Betroffenen mit sich bringen und vor allem die Wartezeiten erhöhen. Eine Möglichkeit wäre hier beispielsweise die Einrichtung intensiver vorbereitender Kurse, die sowohl den Spracherwerb fördern, als auch das Kennenlernen der deutschen Hochschulstrukturen ermöglichen und zudem fachspezifisch auf die unterschiedlichen Anforderungen bezüglich wissenschaftlicher Arbeitsmethoden vorbereiten können. So können die Geflüchteten bereits die Bedeutsamkeit für ihr allgemeines Studien- und Fachinteresse wahrnehmen und so leichter partizipieren. Darüber hinaus sollten grundsätzlich die Lebens- und damit auch Lernbedingungen erleichtert werden. Vor allem die Finanzierung des Studiums und der vorbereitenden und notwendigen Sprachkurse stellt eine enorme Belastung dar. Einerseits müssen die Sprachkurse bis zum Niveau C1 absolviert werden. Eine Unterstützung bei der Finanzierung steht für die beiden höchsten Niveaukurse (B2 und C1) jedoch andererseits in der Regel nicht zur Verfügung und muss von den Geflüchteten selbst geleistet werden, wodurch sie auf private Spender/-innen oder Stipendien angewiesen sind. Da sie jedoch nur selten über entsprechendes Wissen und Netzwerke verfügen, gestaltet sich der Zugang schwierig und wird für die Betroffenen zu einer zusätzlichen Belastung. Auch bei der Finanzierung des eigentlichen Studiums gestaltet sich die Situation schwierig. Bedingt durch die studienvorbereitenden Maßnahmen kommt es zu zeitlichen Verzögerungen, sodass die Studierenden in der Regel älter sind als ihre Kommiliton/-innen. Das BAföG wird jedoch nur bis zum 35. Lebensjahr ausgezahlt, wodurch die Geflüchteten häufig benachteiligt sind. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, die status- und vorbereitungsbedingten Verzögerungen auf die Dauer der BAföG-Berichtigung anzurechnen und damit die Berechtigungszeit entsprechend zu verlängern. So könnte zumindest die Verkettung von Benachteiligungen durchbrochen werden. Auf der Ebene der Hochschule sollte vor allem Wert auf die Anbahnung und Stärkung sozialer Kontakte gelegt werden. Die Geflüchteten beklagen Einsamkeit und einen Mangel an sozialen Kontakten, der es ihnen auch erschwert die deutsche Sprache anzuwenden und zu erproben. Zudem fühlen sie sich unsicher in der Konfrontation mit der neuen Lebens- und Bildungssituation in Deutschland.

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Gerade soziale Kontakte zu Einheimischen könnten dabei helfen die Studierenden besser zu begleiten und ein positives Bildungserleben zu fördern. So kann automatisch auch eine Unterstützung bei alltagspraktischen Fragen stattfinden, da die Geflüchteten in ihrem Umfeld auf Ansprechpartner/-innen zurückgreifen können, die bereits Teil des Systems sind und entsprechend beraten oder auf andere Beratungsstellen verweisen können. Die Hochschule ist insofern ein guter Ort für die Knüpfung von Kontakten, da sie von einer großen Vielfalt lebt und Raum zum Kennenlernen bietet. Es können Projekte, wie beispielsweise Buddy- oder Patenprogramme installiert werden, um Begegnungen zu initiieren und dies auch im Sinne eines Ehrenamts und Service-Learning Projekts für die sich engagierenden Studierenden attraktiv zu machen. Durch derartige Projekte kann die für die Geflüchteten durchaus bedrückende Anonymität der Hochschule aufgelöst werden und das soziale Leben gefördert und damit zu einem positiveren Bildungserleben beigetragen werden. Auf hochschuldidaktischer Ebene liefern die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung Hinweise für die Gestaltung der Sprachkurse. Die Geflüchteten legen Wert auf einen aktiven Spracherwerb, den sie neben den bereits erläuterten Finanzierungsmöglichkeiten und dem Zugang zu sozialen Kontakten unter anderem auch am grundsätzlichen Angebot an Sprachkursen, der Qualität der Lehre und der Lehrperson messen. Bevorzugt werden Sprachkurse, die an einer Hochschule angeboten werden, da sich die Geflüchteten dort ein höheres Niveau und eine bessere Vorbereitung auf das Hochschulstudium erhoffen. Auch an dieser Stelle zeigt sich der Bedarf an guten Beratungsmöglichkeiten, um die Geflüchteten auch von externen Stellen auf die universitären Kurse aufmerksam zu machen. Wenngleich beispielsweise das Jobcenter eigene Sprachkurse anbietet und dementsprechend zunächst eine Finanzierung externer Kurse ablehnt, so sollte auch dieses System überdacht werden und Möglichkeiten zur Förderung externer Kurse sollten bereitgestellt werden, sofern diese besser zu den Bedürfnissen und Bildungszielen der Betroffenen passen. Die Qualität der Lehre zeigt sich für die Geflüchteten darin, inwieweit sich die Didaktik sowohl auf den Erwerb der Schriftsprache als auch auf den der gesprochenen Sprache bezieht. Ziel ist damit ein ganzheitlicher Spracherwerb, der sowohl auf alltagspraktische Kommunikation wie auch auf die Wissenschaftssprache im Studium vorbereitet. Neben Schriftsprache und gesprochener Sprache sollten daher auch Bezüge zur Wissenschafts- und Fachsprache hergestellt werden, die in einem eigenen Kurs gelehrt werden könnten, zu dem sich die Geflüchteten bei Bedarf und freiwillig anmelden können. Ein derartiger Kurs eröffnet auch die Möglichkeit auf Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens einzugehen und die Geflüchteten damit vertraut zu machen. Solche Bezüge und Verknüpfungen können das Bildungserleben der Geflüchteten steigern, da der Spracherwerb vermutlich

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viel mehr als sinnvolle und notwendige Vorbereitung auf das Hochschulstudium und damit Teil des Bildungsprozesses wahrgenommen wird. Als besonders bedeutsam konnte ebenfalls die Rolle der Lehrperson herausgearbeitet werden. Da es häufig an sozialen Kontakten mangelt, wird gerade auf die personale Kompetenz der Lehrperson besonders Wert gelegt, da sie für die Geflüchteten eine wesentliche Bezugsperson im Alltag darstellt. Es ist daher für den Spracherwerb wichtig, dass eine vertrauensvolle und freundliche Atmosphäre herrscht und die Lehrperson offen, verständnisvoll und sensibel mit den Geflüchteten umgeht. Ein gegenteiliges Verhalten hat großen Einfluss auf ein negatives Erleben und verstärkt massiv Gefühle des Scheiterns und Nicht-Teilhaben-Dürfens. Daher bedarf es einer sorgfältigen Prüfung und Auswahl des Lehrpersonals in den Sprachkursen. Die genannten Aspekte sollten in den Einstellungsverfahren unbedingt berücksichtigt werden. Die sich aus der Analyse der vorliegenden Daten ergebenden Vorschläge für die Verbesserung der Praxis stellen letztendlich Maßnahmen da, um das vorherrschende System besser an die Bedürfnisse der Geflüchteten anzupassen und auf diese einzugehen. Es ließe sich die Anschlussfähigkeit der Bildungsbiographie verbessern, um so schlussendlich ein gemeinsames positives Bildungserleben zu fördern, eine bedingungslose Teilhabe und ein Miteinander ohne Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu ermöglichen – ein Zeichen gegen das Fortschreiten einer Flüchtlingsbildungskrise.

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Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3

Karin Lackner, Lisa Schilhan, Christian Kaier (Hg.)

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Pädagogik Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

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Joachim Willems (Hg.)

Religion in der Schule Pädagogische Praxis zwischen Diskriminierung und Anerkennung 2020, 432 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5355-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5355-1

Ulaș Aktaș (Hg.)

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