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German Pages [146] Year 2014
EDITORIAL ΞΞ Danny Michelsen / Katharina Rahlf
Akademische Schulen im Sinne von Lehr- und Lerngemeinschaften, die sich um eine dominante Gründerpersönlichkeit gruppieren und ein von ihr geprägtes Forschungsparadigma über mehrere Generationen hinweg tradieren, kennen wir im Prinzip schon seit der griechischen Antike: Das Konkurrenzverhältnis zwischen der Schule des Isokrates und der Akademie Platons stellt ein besonders bekanntes Beispiel aus der frühen Wissenschaftsgeschichte dar. Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Geistes- und Sozialwissenschaften eine Vielzahl bedeutender Schulen hervorgebracht, wobei die meisten ihren Namen dem Ort der jeweiligen Universität verdanken, an der sie entstanden und ihre Blütezeit erlebten. Man denke nur an die stilbildenden Denkschulen der deutschen Nachkriegspolitologie, von denen allerdings jede ebenso untrennbar mit dem Namen ihres Gründers und Hauptvertreters verbunden ist. Ob nun die Freiburger (Bergstraesser), Marburger (Abendroth), die Heidelberger (Sternberger) oder auch die um Ferdinand Hermens zentrierte Kölner Schule, die Ellen Thümmler in ihrem Heftbeitrag porträtiert – sie alle repräsentieren vollkommen unterschiedliche Forschungsansätze, die seinerzeit zusammen das ganze theoretische Spektrum der Politikwissenschaft abdeckten, mit der Folge, dass in der Gesamtschau eine überaus pluralistische Forschungslandschaft entstand. Dagegen scheint es innerhalb von Schulen wenig pluralistisch zuzugehen. Dabei handelt es sich offenkundig um ein notwendiges Gebot: Denn Schulen müssen einen »Mindestgrad an kognitiver Kohärenz« (Hubertus Buchstein) aufweisen, um das eigene Forschungsprogramm, die eigene Methode oder auch nur den eigenen Stil gegen Angriffe von außen zu festigen. Natürlich besteht hier ständig die Gefahr, dass Schulen allzu homogene Identitäten entwickeln, um sich gegen unmittelbare Kritik zu immunisieren. In der Folge droht das Abrutschen in die Isolation, in das Sektendasein. Sind die meisten Schulen vielleicht gar »keine Forschungszusammenhänge, sondern konsolidierte Dogmatiken der Interpretation« (Rudolf Stichweh), die nur solange überleben, wie es ihren Gründern gelingt, Gläubige zu rekrutieren, die bereit sind, an der Lehre des Meisters unkritisch festzuhalten? Und: Ist der
INDES, 2014–3, S. 1–4, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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Begriff »Schule« überhaupt (noch) brauchbar? Diese Frage stellt sich umso mehr in Bezug auf die Gegenwart, auf jene rasenden kommunikativen und infrastrukturellen Veränderungen, mit denen sich der Wissenschaftsbetrieb konfrontiert sieht: Was bedeuten die allgegenwärtigen Gebote, globales »networking« zu betreiben und »interdisziplinär« zu arbeiten, für die Herausbildung lokaler Wissenskulturen? Uns interessiert zudem die Frage nach den für eine Schulenbildung günstigen Rahmenbedingungen, den besonderen Persönlichkeitsprofilen, die die Gründer erfolgreicher Schulen auszeichnen, und der typischen internen Organisationsstruktur solcher Schulen, denen wohl nicht ganz zu Unrecht häufig eine elitäre Aura unterstellt wird. Dies sind einige der Leitfragen, die uns zur Konzeption des vorliegenden Titelhefts angeregt haben und die insbesondere den Beiträgen im ersten Teil unseres Themenschwerpunktes zugrunde liegen. Erste Antworten liefert Ralf Klausnitzers wissenschafts- und begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der »wissenschaftlichen Schule«. Mit seinem Rückgriff auf eine Vielzahl historischer Beispiele gelingt es Klausnitzer, allgemeine Aussagen über Kernmerkmale von Schulen und über die Voraussetzungen ihrer Entstehung zu treffen. Der hierauf aufbauenden Frage, welche spezifischen Funktionen Schulen innerhalb der scientific community traditionell erfüllen und in Zukunft erfüllen könnten, widmet sich Jan-Hendrik König im Zuge seiner »wissenssoziologischen Suchbewegungen«. Allerdings kann man auch ganz grundsätzlich fragen, ob es sich aus theoriegeschichtlicher Perspektive überhaupt lohnt, auf Schulen zu fokussieren. In ihrem Beitrag über Denkschulen in der US-amerikanischen Politikwissenschaft vertritt Emily Hauptmann die provozierende These, dass die Bedeutung von Schulen in den Systemen der universitären Wissensproduktion äußerst gering sei. Für Nachwuchswissenschaftler war und ist die Aufnahme in einen Schulzusammenhang stets mit einer Vielzahl von Privilegien verbunden. Immerhin vermittelt die Integration in einen Schul-Komplex ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Schutzes und der Ordnung in einer zunehmend kompetitiven Wissenschaftslandschaft. Doch meist erwarten die Lehrer von ihren Schülern im Gegenzug uneingeschränkte Loyalität; die oft patriarchalischen Lehrer/ Schüler-Beziehungen können auf die Kreativität des Nachwuchses enorm einengend wirken, was dann zur Folge hat, dass innovative Weiterentwicklungen des jeweiligen Schul-Paradigmas ausbleiben. Diese Ambivalenzen beschreibt Stefan Haas, der in seinem Beitrag die Entwicklung geschichtswissenschaftlicher Schulen im Zusammenhang mit der Veränderung der Medienlandschaft nachzeichnet und fragt, inwieweit moderne interaktive Kommunikationstechnologien Möglichkeiten bieten, neue Formen von wissenschaftlichem
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Editorial
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community building jenseits der alten Schul-Strukturen mit ihren persönlichen Treue- und Dienstverhältnissen zu schaffen. Im zweiten Abschnitt unseres Schwerpunktteils finden sich Analysen zu einzelnen Schulen, von denen einige über die Grenzen ihrer Fachbereiche hinaus berühmt geworden sind – und manchmal auch berüchtigt, wie im Falle der von Danny Michelsen betrachteten US-amerikanischen Straussians, die als eine besonders elitär-verschlossene Denkschule galten und eine bis heute überaus umstrittene Tradition der ideengeschichtlichen Forschung begründet haben. Eine andere Schule der politischen Ideengeschichte, die Cambridge School, deren kontextualistische Methodologie im Gegensatz dazu in den vergangenen vierzig Jahren einen beispiellosen Aufstieg in die Mitte des Fachs erlebt hat, wird von Martin Baesler porträtiert. Dass eine enge Bindung an einen akademischen Lehrer und Schul-Gründer keineswegs immer mit einem rigiden Zwang zur Anpassung an eine einheitliche Lehre oder gar an die politischen Ansichten des Meisters einhergehen muss, zeigt Christoph Nonn in seinem Aufsatz über den streitbaren Historiker Theodor Schieder. Unter dessen talentiertesten Schülern befand sich u. a. Hans-Ulrich Wehler, der in den 1970er Jahren zusammen mit Jürgen Kocka die Bielefelder Schule der »Historischen Sozialwissenschaft« begründen sollte. Einen sehr persönlichen Einblick in den Entstehungs- und Tradierungsprozess dieser Schule gewährt unser Interview mit Professor Kocka, das wir mit ihm knapp eine Woche nach dem plötzlichen Tod seines Freundes und Kollegen Wehler führen durften. Eine INDES-Ausgabe zu wissenschaftlichen Schulen kann jedoch schlechterdings nicht auskommen ohne einen Beitrag über die ohne Zweifel prominenteste sozialwissenschaftliche Schulenbildung im Deutschland der Nachkriegszeit: allerdings argumentieren Hannes Keune und Julian Schenke in ihrem Beitrag über die »Frankfurter« gerade gegen deren Einordnung in das Schulen-Konzept, da sie hierin eine »Akademisierung« am Werk sehen, die ihrer Meinung nach die Kritische Theorie ihres Wesenskerns – nämlich: ihres »außerakademischen Impulses« – beraubt. Politisch ähnlich relevant wie die Frankfurter Schule war die wohl bekannteste wirtschaftswissenschaftliche Schule der deutschen Nachkriegszeit, die Freiburger Schule mit ihren Hauptprotagonisten Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, deren ordoliberales Programm bis heute einen starken Einfluss auf die deutsche und europäische Krisenpolitik hat – so jedenfalls die These von Ralf Ptak, der die Freiburger Schule (mit bewusster Zweideutigkeit) eine »deutsche Legende« nennt. Im »Perspektiven«-Teil geht es diesmal inhaltlich wieder sehr vielfältig zu: Franz Walter erinnert an den Tod von Philipp Scheidemann und Otto Editorial
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Wels im Exil vor 75 Jahren und zeichnet anhand dieser beiden Protagonisten Aufstieg und Scheitern der sozialdemokratischen Generation aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach. Wilfried von Bredow wirft einen Blick auf die Deutungskämpfe, die die Selbststilisierung und Rezeption Carl Schmitts als intellektuellem Außenseiter in der Nachkriegszeit begleitet haben. Abschließend plädiert Samuel Salzborn – in einem weiteren Beitrag der Rubrik »Konzept« – für eine neue Perspektive auf die festgefahrene duale Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Methoden der Sozialforschung.
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Editorial
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INHALT
1 Editorial ΞΞDanny Michelsen / Katharina Rahlf
WISSENSCHAFTLICHE SCHULEN >> ANALYSE
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Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
Wissenschaftliche Schulen im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbeobachtungen ΞΞRalf Klausnitzer
20 Wissenssoziologische Suchbewegungen Die Funktionen von Schulen für die Wissenschaft ΞΞJan-Hendrik König
28 Die beschränkte Sicht der Schulperspektive Was Studien über Denkschulen in der amerikanischen Politikwissenschaft nicht erkennen können ΞΞEmily Hauptmann
36 Begrenzte Halbwertszeiten
Das Ende der wissenschaftlichen Schulen in den Datennetzen ΞΞStefan Haas
44 Form und Funktion
Das Demokratieverständnis der Köln-Mannheimer Schule ΞΞEllen Thümmler
52 Geschichtliches Verstehen und praktisches Wissen Der Kontextualismus der Cambridge School ΞΞK. F. Martin Baesler
60 Wahrheit und Gemeinsinn
Der Begriff des Common Sense im Denken der Strauss-Schule ΞΞDanny Michelsen
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70 Eine deutsche Legende
Die Freiburger Schule und der Ordoliberalismus ΞΞRalf Ptak
78 »Weitsicht und Naivität«
Ein studentischer Blick auf die Ambivalenz der Frankfurter Schule ΞΞHannes Keune / Julian Schenke
87 Der Meister, die Methode und die Politik Theodor Schieder und seine Historikerschule ΞΞChristoph Nonn
>> INTERVIEW 95 »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
Die Bielefelder Schule und die günstige Gelegenheit der siebziger Jahre ΞΞInterview mit Jürgen Kocka
PERSPEKTIVEN >> PORTRAIT 110 Tod im Herbst 1939
Aufstieg und Scheitern der sozialdemokratischen Generation Scheidemann und Wels ΞΞFranz Walter
>> ANALYSE 125 Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu Ein asymmetrischer Sinn-Krieg
ΞΞWilfried von Bredow
>> KONZEPT 136 Die Kehrseite der methodischen Medaille
Ein Plädoyer für die Erweiterung der sozialwissenschaftlichen Unterscheidungssystematik ΞΞSamuel Salzborn
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INHALT
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SCHWERPUNKT: WISSENSCHAFTLICHE SCHULEN
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ANALYSE
DENKKOLLEKTIV ODER KLÜNGELSYSTEM? WISSENSCHAFTLICHE SCHULEN IM SPANNUNGSFELD VON SELBST- UND FREMDBEOBACHTUNGEN ΞΞ Ralf Klausnitzer
»Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein deutscher Philolog aus Scherers Schule«1, erklärt der Berliner Literaturwissenschaftler Richard Moritz Meyer 1907 und positioniert sich damit als »Schüler« eines Gelehrten, der trotz seiner kurzen Lebenszeit von nur 46 Jahren als »Lehrer« einer ganzen Generation von Germanisten wirken konnte. Denn Wilhelm Scherer – der nach einer Professur in Straßburg 1877 auf das erste Ordinariat für Neuere deutsche Literaturgeschichte an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen wurde – war nicht allein wichtiger Innovator innerhalb einer sich rasant entwickelnden Disziplin, sondern auch ein überragender Wissenschaftsorganisator. Von ihm ausgebildete Philologen sollten zahlreiche Lehrstühle an Hochschulen im deutschen Sprachraum besetzen. Zu ihnen gehörten berühmte Germanisten wie Erich Schmidt (der bereits im Alter von 27 Jahren Ordinarius in Wien und 1885 Direktor des GoetheArchivs in Weimar wurde, bevor er 1887 als Nachfolger Scherers nach Berlin kam und bis zum Rektor der Universität bei deren Hundertjahrfeier 1910 aufstieg) und der gleichfalls aus Österreich stammende Jakob Minor (der 1888 zum Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Wien avancierte). Scherers Schüler Konrad Burdach wurde von seinem Ordinariat in Halle 1902 auf eine der drei kaiserlichen Stiftungsprofessuren der Preußischen Akademie der Wissenschaften berufen (neben Albert Einstein und Jakob van’t Hoff); Richard Heinzle, August Sauer und Richard Maria Werner unterrichteten an den wichtigsten Hochschulen der k.u.k.-Monarchie. Doch wirkten Angehörige der »Scherer-Schule« in den Jahrzehnten um 1900 nicht nur an Universitäten. Nach der lange erwarteten und zum Jahrhundertereignis stilisierten
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1 Richard Moritz Meyer an Gustav Roethe. Brief vom 15. Juli 1907. Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Öffnung des Goethe-Nachlasses verwalteten sie den Umgang mit den Quellen der deutschen Klassik und koordinierten die seit 1887 erscheinende Weimarer Sophien-Ausgabe der Werke Goethes. Schüler von Scherer-Schülern (wie Alfred Kerr und Ludwig Marcuse, Arthur Eloesser und Monty Jacobs, die bei Erich Schmidt in Berlin promoviert hatten) saßen in den Redaktionen wichtiger Zeitungen und Zeitschriften. Gleichfalls hier ausgebildete Literaturforscher und spätere Lehrstuhlinhaber wie Friedrich Gundolf und Harry Maync, Julius Petersen und Franz Schultz sicherten mit ihren Kontakten in literarische Gesellschaften, Verlage und Ministerien die Machtpositionen dieses auch als »Berliner Schule« bezeichneten Netzwerks innerhalb der kulturellen Öffentlichkeit bis in die 1930er und 1940er Jahre. Möglich wurde diese erfolgreiche Schulen-Bildung aufgrund persönlichen Engagements und produktiver Vernetzungen in einer sich ausweitenden Wissenschaftslandschaft. Schulgründer Wilhelm Scherer gab nicht nur die Zeitschrift für deutsches Alterthum heraus (und sorgte für die Erweiterung des Namens um die noch heute gültige Angabe und für deutsche Literatur); mit dem Straßburger Anglisten Bernhard ten Brink begründete er die Schriftenreihe Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker (die den Qualifikationsschriften des Nachwuchses eine Plattform bot und mit leicht verändertem Titel noch heute im Verlag de Gruyter erscheint). Vor allem aber erkannte er frühzeitig die Bedeutung methodischer Unterweisung und Unterstützung: Er schuf theoretische und methodologische Grundlagen für wissenschaftliche Textumgangsformen, integrierte Studierende frühzeitig in den Seminarbetrieb, verschaffte ihnen Stipendien und Druckkostenzuschüsse, verfasste Empfehlungsschreiben und gab informelle Hinweise an ministerielle Stellen. Doch die so erlangte Machtposition weckte auch Argwohn und Misstrauen. Während die Angehörigen der »Scherer-Schule« ihre Ausbildung beim charismatischen Lehrer als Schlüsselereignis der akademischen Sozialisation herausstellten und die besonderen Leistungen ihres Verbundes betonten, nahmen außenstehende Wissenschaftler diesen Zusammenhang als »Klüngelsystem« und »Kartell« wahr. Zunehmend skeptisch beobachtete man auch die Verhältnisse innerhalb einer sozialen Gruppe, die von reflektierter Wahrnehmungs- und Urteilskonvergenz zu unkritischer Anerkennung und Unterwerfung reichen sollten. »Jede akademische Jugend hat die ›Wissenschaft‹, die sie verdient. Jeder Popanz lebt nur so lange, als man ihn fürchtet«, heißt es schließlich zu Beginn der 1920er gegen Scherers Schüler und nunmehrigen Berliner »Schulmeister« Gustav Roethe, um nach einer aufschlussreichen wissenschaftssoziologischen Einsicht in (noch heute gültige) Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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Mechanismen des Sozialsystems Wissenschaft zu offener Gefolgschaftsverweigerung aufzurufen: »Sich nur nicht schaden, das war die Seelenlage des akademischen Nachwuchses, auf die allein sich ein unerhörtes Klüngelsystem gründen konnte. Geht der Jugend wieder Wahrhaftigkeit und Mut über die geduckte Sorge, es mit keinem der gebietenden Götzen zu verderben, so wird das ganze System wechselweise abhängiger wissenschaftlicher Existenzen von selber zusammenbrechen. Ein Schulmeister, dessen Schüler meutern, ist selbst durch den Gemeindebüttel nicht mehr zu reparieren.«2 Die weitreichenden Dimensionen des Begriffs »wissenschaftliche Schulen« sind mit diesen knappen Hinweisen nicht erschöpft. Doch sie lassen ahnen, welche komplexen epistemischen und sozialen Zusammenhänge jene Verbände prägen, die seit den Anfängen der Wissenschaftsentwicklung konstitutive Funktionen für den Transfer von Kenntnissen und Verfahren übernehmen sollten. Schon ein Blick in die Geschichte des Wissens zeigt die Präsenz »wissenschaftlicher Schulen« zu unterschiedlichen Zeiten: Seitdem Pythagoras seine Erkenntnisse an Lernende weitergab, die nicht nur Gedanken des »Lehrers«, sondern auch seinen Habitus und die Formen seiner systematischen Lebensführung übernahmen, lässt sich der Topos der »Schule« in der Philosophiegeschichte verfolgen; die Historiographie der Mathematik nennt Euklid als Begründer der »mathematischen Schule von Alexandria«; der an der Bergakademie Freiberg lehrende Abraham Gottlob Werner wird als »Lehrer« mehrerer Generationen von Geologen und Mineralogen aufgeführt. In der Geschichte der deutschen Philologie figuriert Karl Lachmann ebenso als Begründer einer »Schule« wie der oben erwähnte Wilhelm Scherer. Zugleich gibt es nicht nur personal gebundene, sondern auch lokal zentrierte »Schulen«; zu denken ist an die »Frankfurter Schule« (die aus einem privatwirtschaftlich alimentierten Institut hervorging und mit weitgespannten Interessen ihrer Angehörigen wesentliche Anstöße für die Kultur- und Sozialwissenschaften gab) und die »Konstanzer Schule der Literaturwissenschaft« (deren Vertreter aus unterschiedlichen Philologien stammten und nur schwer auf eine gemeinsame Konzeption festzulegen sind). Sowohl das Konzept als auch die historische Rekonstruktion und Bewertung »wissenschaftlicher Schulen« werfen dennoch Fragen auf. Nicht ohne Grund: Denn neben nur schwer zu ermittelnden Zusammenhängen des generationsübergreifenden Transfers von Wissen und Werten bzw. von Praktiken und Einstellungen verbinden sich »wissenschaftliche Schulen« mit weitreichenden und oftmals invisiblen Beziehungsökonomien, die diesen
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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2 Josef Nadler, Und doch eine fröhliche Wissenschaft, in: Oberdeutschland, Bd. 7 (1922), S. 52–57, hier S. 57.
Netzwerken der Erkenntnisproduktion und Wissensdistribution schon frühzeitig den Ruf eintrugen, ein Hort undurchsichtiger Machinationen zu sein. Diese Wahrnehmung erfolgt nicht ohne Berechtigung, denn die Bindung einer generationenübergreifenden Gruppe von Wissenschaftlern an einen »Gründer« und dessen Programm realisiert sich durch jene kollektive Akzeptanz von Wissensansprüchen, die von epistemischer Übereinstimmung bis zur dogmatischen Bewahrung von Kenntnisbeständen und Prinzipien reichen kann. Verstärkt durch soziale Abhängigkeiten führt diese kollektive Akzeptanz von Geltungsansprüchen zu Deformationen, deren Folgen zumeist von Außenstehenden oder »exkommunizierten« Schülern attackiert werden. Zugleich basiert ein Teil der Interaktionen in Schul-Zusammenhängen auf verdeckten, für den Außenstehenden kaum rekonstruierbaren Kommunikationen – so dass der Verdacht einer konspirativ agierenden Konkurrenz gesteigert wird. Wenn im Folgenden das Konzept der »wissenschaftlichen Schule« als ein zentraler und gleichwohl problematischer Begriff zur Beschreibung und Erklärung von Wissenstransferprozessen vorgestellt wird, sind Teilnehmer- und Beobachterperspektive voneinander zu trennen, um performative Zuschreibungen nicht mit historischen Rekonstruktionen zu vermengen. Zudem sind die spezifischen Konditionen des Begriffsfeldes zu berücksichtigen – denn selbstverständlich manifestieren nicht alle Formen einer kollektiven Bindung an Konzepte und Verfahren oder Darstellungsweisen einen »Schul«-Zusammenhang. Was wie eine Trivialität klingt, wird sich als Herausforderung erweisen: Denn die Frage, wie in den komplexen Prozessen der Erzeugung und Verbreitung von Wissensansprüchen konsensuelle Bindungen erzeugt und gemeinsame Überzeugungen von Wissenschaftlerindividuen ermöglicht werden, ist ein noch immer diskutiertes Problemfeld der sozialen und historischen Epistemologie. ID AS KONZEPT »WISSENSCHAFTLICHE SCHULE« UND SEINE ERFORSCHUNG Der Wissens- und Sozialverbund »wissenschaftliche Schule« (samt seinen Derivaten »Schulgründer« bzw. »Lehrer«; »Schüler« und »Schülerkreis«; »Aufnahme« bzw. »Initiation« und »Ausschluss« bzw. »Exkommunikation« etc.) partizipiert an den kognitiven und sozialen Dimensionen eines Systems, das wie nur wenige andere Segmente der modernen Gesellschaft von interindividuellen Austauschprozessen und kollektiven Strukturen geprägt ist. Auf der Ebene der Wissensproduktion sind Verbindungen von forschenden Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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Individuen schlichtweg notwendig: Um Kenntnisse methodisch produzieren und weiter entwickeln zu können, müssen Wissenschaftler sich von anderen gesellschaftlichen Akteuren abteilen und intern disziplinieren. Gruppen – ob projektbezogene Assoziationen, persönlich verbundene Gemeinschaften oder eben generationsübergreifende »Schulen« – fokussieren Forschungstätigkeiten durch fortgesetzte Segmentierung und treiben so die spezialisierte Bearbeitung von Themen voran. Innerhalb des Sozialsystems Wissenschaft stellt die Ausbildung von »Schulen« ein zentrales Moment der Weitergabe von Wissensbeständen, vor allem von Konzepten und Praktiken, Normen und Werten an nachrückende Generationen dar. Um es mit den Worten des polnischen Wissenschaftsforschers Ludwik Fleck zu sagen: Das »Denkkollektiv« der wissenschaftlichen Schule konditioniert den Nachwuchs durch Einübung in einen kollektiv geteilten »Denkstil«; es entscheidet durch Reputation und Einfluss über Karrierewege von Forschern und sichert mit dem eigenen Fortbestand auch die Aufrechterhaltung der Gesamtveranstaltung Wissenschaft. Eben diese Eigenschaften können aber auch zu Irritationen führen: Die oftmals invisiblen, weil informellen Kommunikationszusammenhänge zwischen Schul-Angehörigen haben nicht nur frühzeitig zu einer tiefsitzenden Skepsis gegenüber scheinbar mafiösen Beziehungsnetzen beigetragen, sondern eine genauere Ermittlung von »schulischen« Zusammenhängen erschwert; die Konstruktion von Genealogien durch involvierte Wissenschaftlerindividuen folgt immer auch eigenen Legitimationsbedürfnissen und kann nur durch reflektierte und materialgesättigte Rekonstruktionen auf sichere Fundamente gestellt werden. Wichtige Beiträge dazu hat die Wissenschaftsforschung vor allem im 20. Jahrhundert geleistet. Entscheidende Anregungen gab die bereits 1935 von Ludwik Fleck vorgelegte Lehre vom »Denkstil« und vom »Denkkollektiv«,3 die in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsauffassung des »Wiener Kreises« und dessen statischem Theoriebegriff die kollektive Organisation der Wissensproduktion thematisierte und als wichtiger Vorläufer von Thomas S. Kuhns vieldiskutiertem Buch über »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« angesehen werden kann. Ausgangspunkt von Flecks Buch »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« ist die Überzeugung, dass bereits die fundamentalen epistemischen Prozesse des Beobachtens an vorgängige Unterweisungen und Instruktionen durch eine »Denkgemeinschaft« gebunden sind. Dieses »Denkkollektiv« prägt mit spezifischen Erkenntnisinteressen, Schlussprinzipien und angewendeten Methoden einen »Denkstil« aus, der nicht nur Experimentalanordnungen und implizite Praktiken anleitet, sondern sogar den
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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3 Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und vom Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer u. Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1993.
»technischen und literarischen Stil« der in ihm sozialisierten Wissenschaftler dirigiert. Obzwar Fleck den Begriff der »wissenschaftlichen Schule« in seiner Schrift nicht explizit verwendet und nur an einer Stelle das Verhältnis von »Lehrer« und »Schüler« als hierarchische Gliederung eines »intrakollektiven Denkverkehrs« anführt, lassen sich seine Überlegungen gewinnbringend auf die Beobachtung von Schulen und Schulen-Bildung anwenden. Denn Fleck erkannte, dass »Denkkollektive« als stabile soziale Gruppen agieren, die sich formell und inhaltlich von anderen Wissenschaftlergemeinschaften abschließen. Ihre formelle Distinktion realisieren diese Gemeinden mit Aufnahmeprüfungen, Sprachregelungen, Verhaltensregulierungen; die inhaltliche Sonderung erfolgt durch eine quasi suggestive »Einweihung« der Aspiranten in das Gedankengebäude des Denkkollektivs. Fleck war sogar der Meinung, dass diese »rein autoritäre Gedankensuggestion« der Initiation notwendig sei und nicht durch »allgemein rationellen Gedankenaufbau« ersetzt werden könne, da das System der Wissenschaft im Ganzen dem Neuling vollkommen unverständlich bleibe. Mit der formalen und inhaltlichen Abgeschlossenheit jeder »Denkgemeinde« korrespondieren epistemische Beschränkungen: Wissenschaftliche Probleme werden strikt ausgewählt, dem eigenen Denkstil nicht entsprechende Fragestellungen als »Scheinprobleme« abgewiesen. So bilden sich Ansichten und Wertmaßstäbe aus, die die Anschauungen und Normen der eigenen »Schule« zur unhinterfragt geltenden Grundlage wissenschaftlichen Handelns verfestigen. An diese Einsichten konnte Thomas S. Kuhn anknüpfen. In seinem Buch über »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« gilt die Existenz konkurrierender »Schulen« als Kennzeichen für eine krisenhafte Verfassung des Wissenschaftssystems.4 Während Fleck von der Existenz unterschiedlicher »Denkkollektive« in allen historischen Abschnitten der Wissenschaftsentwicklung ausging, sah Kuhn die Konkurrenz unterschiedlicher »wissenschaftlicher Schulen« als Kennzeichen einer »vorparadigmatischen« Verfassung des Wissenschaftssystems an: Da etwa in der Physik vor Newton von der Antike bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts keine Einigung über das Wesen des Lichts gefunden worden sei, habe »eine Anzahl miteinander streitender Schulen und Zweigschulen« existiert; Newtons Begründung der Optik habe dann ein »Paradigma« geliefert, das alle theoretischen und methodischen Diskrepanzen und damit auch wissenschaftliche Schulen zum Verschwinden brachte. Von diesem Paradigma ausgehend, habe sich die nunmehr geeinte wissenschaft4 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1976, S. 27 f.
liche Gemeinschaft auf die Lösung konkreter Aufgaben (»Rätsel«) konzentriert; und erst wenn diese »normale Wissenschaft« wieder auf unauflösbare »Anomalien« stoße, bildeten sich erneut konkurrierende »Schulen« heraus. Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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Auf diesen Grundlagen fanden »wissenschaftliche Schulen« seit Beginn der 1970er Jahre verstärkte Aufmerksamkeit. In den sozialistischen Ländern, namentlich in der Sowjetunion und in der DDR , wuchs ihnen aufgrund wissenschaftspolitischer Zielsetzungen besonderes Interesse zu; Schulbildungsprozesse wurden hier vor allem unter dem Gesichtspunkt der Planbarkeit kollektiver Wissenschaftsprozesse beobachtet. Die auf Anforderungen der Gegenwart beruhende Erforschung »wissenschaftlicher Schulen« wurde in einem zweibändigen Sammelwerk mit Beiträgen von Forschern aus der UdSSR und der DDR explizit damit begründet, »unter den Bedingungen
der gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Revolution das kollektive Schöpfertum in Wissenschaft und Forschung zu untersuchen und zu höchster Effektivität zu führen«5. Dagegen konzentrierten sich die im englischen Sprachraum verfolgten Recherchen auf das Verhältnis von Kontinuität und Varianz innerhalb eines durch Wandel strukturierten Wissenschaftssystems, das man mit der Konzeptualisierung von generationenübergreifenden Gruppenbildungen zu lösen versuchte. J. B. Morrells 1972 veröffentlichte Untersuchung zu den Schulen
5 Semen R. Mikulinskij u. a. (Hg.), Wissenschaftliche Schulen. 2 Bde., Berlin (DDR) 1977 u. 1979 (mit insgesamt 38 systematischen Erörterungen und Fallstudien), Vorwort. 6 U. a. Jack B. Morrell, The chemist breeders: The research schools of Liebig and Thomas Thomson, in: Ambix, Jg. 19 (1972) H. 1, S. 1–46; John W. Servos, The knowledge corporation: A. A. Noyes and chemistry at Cal-Tech, in: Ambix, Jg. 23 (1976) H. 3, S. 175–186; Gerald L. Geison, Michael Foster and the Cambridge School of Physiology: The scientific enterprise in late Victorian society, Princeton 1978. 7 Gerald L. Geison, Scientific Change, Emerging Specialties, and Research Schools, in: History of Science, Jg. 19 (1981), S. 20–40.
der Chemiker Liebig und Thomson war ein »Startschuss« zu historischen Observationen,6 die in Gerald Geisons Forschungsbericht von 1982 verzeichnet sind;7 weitere theoretische Überlegungen und historische Recherchen folgten.8 Gegenwärtig konzentriert sich die Erforschung wissenschaftlicher Schulen auf deren Funktionen und Leistungen im Rahmen der komplexen Prozesse des Wissenstransfers.9 Besondere Beachtung finden dabei die vielfältigen Praktiken, mit und in denen die aktive Weitergabe von Erkenntnissen realisiert wird. Zu diesen gehören neben Instruktionen und Zeigehandlungen, ›zwingenden‹ Argumentationen und analysierenden Demonstrationen immer auch Regeln für den Umgang mit Kenntnissen, die in neuen (veränderten) Situationen angewendet und eingesetzt werden sollen und also zu Modifikationen von epistemischen Beständen führen. Ebenso eminenter wie schwer zu rekonstruierender Bestandteil von Wissenstransferprozessen bleiben die Vorgänge, mit denen Regeln der Regelanwendung weitergegeben und aufgenommen, internalisiert und modifiziert werden. II PARAMETER Die bisherigen Untersuchungen stimmen in der Auffassung überein, nach der eine »wissenschaftliche Schule« eine generationenübergreifende Kommunikationsgemeinschaft mit besonderer epistemischer und sozialer Kohärenz darstellt. Den Differenzpunkt zu anderen kollektiven Organisationsformen wie »Wissenschaftlergruppen« oder »Forscherkollektiven« markiert jene
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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8 Leo J. Klosterman, A Research-School of Chemistry in the 19th-Century – Jean-Baptiste Dumas and his Research-Students, in: Annals of Science, Jg. 42 (1985), S. 1–40 u. S. 41–80; Stephen Keith u. Paul K. Hoch, Formation of a Research School – Theoretical Solid-State Physics at Bristol 1930–54, in: British Journal for the History of Science, Jg. 19 (1986) H. 1, S. 19–44. Einen deutschsprachigen Beitrag liefert der theoretische Erörterungen und historische Fallstudien verschränkende Tagungsband »Wissenschaft und Schulenbildung«, bearbeitet von Rüdiger Stolz, Jena 1991. Wichtig auch Lutz Danneberg u. a. (Hg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. 2005. 9 Jan Behrs u. a., Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (II), Frankfurt a. M. 2013.
Inhomogenität der Altersstruktur, die zugleich wesentliche Bedingung für die Aufrechterhaltung des prozessierenden Systems Wissenschaft ist: Das Verhältnis zwischen kognitiv und institutionell etablierten Produzenten bzw. Vermittlern von Wissensansprüchen (»Lehrer«) und erst zu sozialisierenden »Schülern« sichert nicht nur die Konditionierung des Nachwuchses innerhalb der »schul-eigenen« Lehrmeinung und eines »schul-spezifischen« Gegenstandsbereichs, sondern zugleich die permanente Tradierung übergreifender Wissensbestände und Normen an die nachrückende Generation. Wissenschaftliche Schulen basieren also auf der strukturellen Asymmetrie zwischen kognitiv und institutionell etablierten Produzenten bzw. Vermittlern von Wissensansprüchen und den auszubildenden Anwendern (und Weiterentwicklern) dieses Wissens. »Schulen-Bildung« lässt sich so als Prozess der Generierung, Weitergabe und Weiterentwicklung von Wissensansprüchen begreifen, dessen Spezifik im generationenübergreifenden Transfer eines spezifischen Wissens besteht. Von diesem Verständnis der »wissenschaftlichen Schule« als generationenübergreifender Kommunikationsgemeinschaft mit besonderer kognitiver und sozialer Kohärenz ausgehend, lassen sich Aussagen zu Struktur und Verlaufsformen von Schulen-Bildungsprozessen machen. (a) Voraussetzung der Bildung einer »wissenschaftlichen Schule« ist die Präsenz einer durch besondere intellektuelle und organisatorische Leistungen ausgezeichneten »Gründergestalt«, die ein originäres, in der Regel neuartiges, zumindest aber von den Konditionen des vorfindlichen wissenschaftlichen Feldes abweichendes Forschungsprogramm formuliert, eine besondere Form der Beobachtungs- oder Experimentalanordnung entwickelt oder eine alternative Form der Darstellung prägt und diese an Kollegen und die nachfolgende Generation von Wissenschaftlern zu vermitteln vermag. Ein historisches Beispiel dafür ist Justus von Liebig, der – nach Ausbildung in Paris und Erfahrung kollektiver Arbeitsformen bei Louis Gay-Lussac, in dessen Laboratorium der gerade 19-jährige Liebig hatte arbeiten können – in Gießen ein chemisches Forschungslaboratorium einrichtete und hier zwischen 1824 und 1852 die Studenten ausbildete, die nachfolgend zu den bedeutendsten Chemikern des 19. Jahrhunderts gehören sollten. Als sein schulbildendes Programm kann die Entwicklung von Verfahren und Instrumenten zur analytischen Bestimmung sowie zur Synthese organischer Verbindungen gelten, die durch beständige Vervollkommnung und systematische Weitergabe an zahlreiche Studenten aus ganz Europa nicht nur zur endgültigen Ablösung naturphilosophischer Spekulationen führten, sondern zugleich auch die organische Chemie als anwendungsorientiertes Forschungsgebiet (mit neuen Spezialgebieten wie Agrochemie und Lebensmittelchemie) etablierten. Notwendige Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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Innovationen können sich auf unterschiedliche Aspekte des vorfindlichen wissenschaftlichen Feldes beziehen: auf den Gegenstandsbereich der Forschung, der durch Einbeziehung neuer Phänomene erweitert wird, auf eine bestimmte Heuristik der Problembeschreibung und -lösung oder auch auf den Stil der Präsentation von Forschungsergebnissen. Ihren Ausdruck finden sie zumeist in programmatischen Verlautbarungen des Schulgründers, die nicht nur ein spezifisches Problem beschreiben, sondern auch Forschungsziele definieren und grundlegende Schritte dazu abstecken. Zu denken ist hier an Justus von Liebigs (noch zu seinen Lebzeiten in sieben Auflagen erschienenes) Lehrwerk »Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie« von 1840, an Max Delbrücks Vortrag vor der Connecticut Academy of Science »A physicist looks at biology« von 1948 (der neben Erwin Schrödingers Aufsatz »What is Life« von 1944 als Programm der Biochemie gilt) oder an Frederic Skinners 1938 veröffentlichtes Buch »The Behaviour of organisms«, das mit der bis dahin herrschenden Lerntheorie in der Psychologie brach und sofort starke Beachtung fand. Welche kanonische Wirkung aber auch dieses revolutionäre Werk entfalten konnte, zeigt der Umstand, dass es Ende der 1940er Jahre unter den zahlreichen Skinner-Schülern eine Art Gesellschaftsspiel gab, bei dem man auf Aufforderung die Seitenzahl eines willkürlich gewählten Zitats aus Skinners Buch angeben musste. (Die hier sichtbare Abfolge von »Abweichung« und »Kanonisierung« bildet denn auch den Hintergrund für die Auffassung, »wissenschaftliche Schulen« stünden als gleichsam abgeschottete Gruppen der Idee des wissenschaftlichen Wandels konträr gegenüber.) Während die in den sozialistischen Ländern betriebene, von einem steten Erkenntnisfortschritt ausgehende Wissenschaftsforschung das Wirken wissenschaftlicher Schulen direkt und untrennbar mit dem Begriff der Innovation verband, stellte Diana Crane in ihrem Buch über Invisible Colleges »wissenschaftliche Schulen« als »Sekten« dar, die aufgrund einer unkritischen »Meister«-»Jünger«-Beziehung externe Einflussnahmen ablehnten und innovationsfeindlich seien.10 Übereinstimmend betonen die Crane folgenden Szenarien (die als historisches Exempel nicht zufällig die SkinnerSchule des operanten Konditionierens heranziehen) den zunehmend dogmatischen Charakter von »wissenschaftlichen Schulen«: Die Abtrennung eines Wissenschaftlerkollektivs vom Hauptstrom der Forschung beginne als Ketzerbewegung mit der emphatischen Betonung von Aspekten, die durch die »offizielle« Wissenschaft ignoriert oder missinterpretiert worden seien; der Aufbau eines separaten Netzwerks münde aber in die Bildung eines geschlossenen Systems, das sich resistent gegenüber Außendruck verhalte und »Abweichler« durch Sanktionen bis zum Ausschluss (»Exkommunizierung«) bestrafe.
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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10 Vgl. Diana Crane, Invisible Colleges. Diffusion of Knowledge in Scientific Communities, Chicago 1972, S. 87: »A school is characterized by the uncritical acceptance on the part of disciples of a leader’s idea. It rejects external influence and validation of its work.«
(b) Der Prozess der »Schulenbildung« zeichnet sich durch Überzeugung von Kollegen und forcierte Bemühungen um Visibilität innerhalb der scientific community, vor allem aber durch Rekrutierung von Nachwuchs aus. Die Anstrengungen um Sichtbarkeit können unterschiedliche Formen annehmen; ihr Spektrum reicht von wechselseitigem Zitationsverhalten über die Organisation von Tagungen und Konferenzen (mit einer spezifischen Einladungspolitik) bis zur Gründung von Zeitschriften und Buchserien. Dabei findet das »Forschungsprogramm« seine Anwendung auf Problemfälle, offenbart seine Leistungsfähigkeit und sichert durch Proliferation wie durch schrittweise ausgeweitete Sichtbarkeit sowohl Akzeptanz in der wissenschaftlichen Gemeinschaft als auch Reputation für den »Schulgründer« und seine »Schüler«. Beispielhaft für den sich wechselseitig steigernden Zuwachs von Problemlösungskapazitäten und Distributionskompetenz ist etwa das »SpaziergangsSeminar« der an der Mathematischen Fakultät in Göttingen lehrenden David Hilbert, Felix Klein und Hermann Minkowski: 1899 begannen sie, sich zu gemeinsamen Spaziergängen am Donnerstagnachmittag zu treffen, und diskutierten auf diesen Gängen jene Probleme, die David Hilbert in seiner Pariser Rede von 1900 als die 23 zu lösenden Aufgaben der Mathematik benannte. Ihnen schlossen sich immer mehr Studierende an, und allein David Hilbert gewann hier eine große Zahl seiner insgesamt 69 Doktoranden. Bedingungen für ein exponentielles Wachstum der »Schule« sind dann gegeben, wenn jede neue Studentengeneration etwas größer ist als die vorangegangene 11 Belver C. Griffith u. Nicholas C. Mullins, Coherent Social Groups in Scientific Change: »Invisible Colleges« May be Consistent throughout Science, in: Science, Nr. 177 (1972), S. 959–964, in deutscher Übersetzung u.d.T. Kohärente soziale Gruppen im wissenschaftlichen Wandel, in: Peter Weingart (Hg.), Wissenschaftssoziologie. Bd. 2: Determinanten wissenschaftlicher Entwicklung. Frankfurt a. M. 1974, S. 223–238, hier S. 232. Zur Phagenforschung siehe E. Dahm, Probleme wissenschaftlicher Schulen und erfolgreicher Schulenbegründer im wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt – dargestellt am Beispiel der Delbrück-Schule im Erleben ihrer Schüler, in: Semen. R. Mikulinskij u. a. (Hg.), Wissenschaftliche Schulen. Bd. 1, Berlin (DDR) 1977, S. 199–224.
Generation von Lehrern. Da das anfängliche Wachstum sehr langsam voranschreitet, sind zur Entwicklung »explosiver« Wachstumsraten etwa 15 Jahre zu veranschlagen. Wie ein anfänglich nur langsamer »Schulen-Bildungsprozess« beschleunigt werden kann, zeigt das Beispiel Max Delbrücks: Er richtete in Cold Spring Harbor einen Sommerkurs zur Phagenforschung für Wissenschaftler ein, die bereits Studenten ausbildeten. Während sich vor der Einrichtung dieses Kurses im Jahre 1945 nur vier Biologen mit Bakteriophagen beschäftigten, waren es 1950 bereits 35.11 (c) Ergebnis einer so vollzogenen Schulen-Bildung ist die Durchsetzung von vormals neuen Wissensansprüchen, Methoden oder Darstellungsformen zu einem in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptierten Standard. Die Varianten dieser »Durchsetzung« sind weit gefächert; sie umfassen die Akzeptanz der Problemstellungen (die nun auch von anderen Wissenschaftlerkollektiven bearbeitet werden) bis zur Etablierung eines Spezialgebietes oder gar einer neuen Wissenschaftsdisziplin. Ein historisches Beispiel für diesen besonders weitreichenden epistemischen und sozialen Erfolg ist die Institutionalisierung der von Wilhelm Wundt begründeten und durch Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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Nachwuchsrekrutierung maßgeblich verbreiteten »experimentellen Psychologie«: Der ausgebildete Physiologe Wundt entwickelte in den 1863 veröffentlichten »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« ein introspektionistisches Forschungsprogramm, gründete 1879 in Leipzig ein Laboratorium für psychologische Experimente, bildete darin die später führenden Psychologen Deutschlands aus (unter ihnen Felix Krüger, Oskar Kulpe, Ernst Meumann) und begründete hier das erste Institut für Psychologie an einer deutschen Universität. Ähnliche Ansätze zur Begründung einer experimentellen Psychologie wurden auch durch andere Wissenschaftler verfolgt – doch ist etwa Gustav Fechner mit seinen »Elementen der Psycho-Physik« nur als »Vorläufer« zu bezeichnen, da er ohne Schüler blieb und sein Programm nicht weiterzugeben vermochte. Der zeitgleich mit Wundt agierende und ebenfalls auf eine empirische Psychologie hinarbeitende Franz Brentano hatte mit Christian von Ehrenfels, Alois Höfler und Alexius Meinong u. a. zwar bedeutende Schüler, konnte jedoch kein eigenes Institut begründen. (d) Das »Ende« einer »wissenschaftlichen Schule« kann durch mehrere Faktoren herbeigeführt und beeinflusst werden. Zum einen ist die unmittelbare, d. h. persönliche Wirkungsdauer eines »Schulgründers« zeitlich und räumlich begrenzt; seine wissenschaftliche Vitalität kann abnehmen oder aber auf andere Bahnen gelenkt werden. Zum anderen vermindert sich mit der Akzeptanz einer »Schule« innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft der anfängliche Antagonismus zwischen abweichenden »Neuerern« und »beharrender Umwelt«. Starke Prinzipien der Gruppenidentifikation wie schulkonformes Publikationsverhalten und Solidarisierungen sind nun nicht mehr notwendig; der »Schulzusammenhang« geht auf das Niveau eines eher lockeren »Netzwerks« zurück. Zugleich können vormalige »Schüler« mit der Modifikation übernommener Forschungsprogramme und der Weitergabe veränderter Konzepte und Methoden ihrerseits zu »Lehrern« und so zu Kristallisationskernen neuer Gemeinschaften werden. FAZIT Wissenschaftsschulen dokumentieren auf eindrucksvolle Weise die Verbindung von Erkenntnisgewinn und -weitergabe im Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen und disziplinierter Konditionen: Wissen und Wissenserzeugung sind von sozialen Bedingungen ihrer Proliferation und Modifikation nicht zu trennen. Die spezifische Qualität »wissenschaftlicher Schulen« – und zugleich eine der großen Herausforderungen für anschlussfähige Verwendungsweisen des Konzepts – besteht dabei nicht allein in (nachweisbaren) konzeptionellen und methodologischen Übereinstimmungen sowie
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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in (informellen) Durchsetzungsstrategien, sondern auch in jenen Eigenschaften des in »schulischen« Zusammenhängen vermittelten Wissens, die eine komplexe Veranstaltung wie Wissenschaft überhaupt auf Dauer stellen: Jede Einführung in wissenschaftliche Umgangsformen erfolgt als »Initiation« in Praktiken, Sprache, Verhalten, die durch Lehrer und in intellektuellen Gruppen vollzogen wird. Diese grundlegende Enkulturation in die Praxisformen wissenschaftlichen Tuns kann bis zur Ausbildung eines gruppenkonformen »Denkstils« reichen, in dem sich Verfahren und Werte und Normen zur Richtschnur individuellen und kollektiven Handelns im Dienste der Erkenntnisproduktion verfestigen. Und das bleibt auch gut so: Denn Wissenschaft ist eine Lebensform, die mehr umfasst als nur ein Beschäftigungsverhältnis an dauerhaften Einrichtungen wie Universität oder Akademie. In diesem Sinne sichern »wissenschaftliche Schulen« jene Prozesse der Unterweisung und Einübung in dauerhafte Investitionen von Zeit und Aufmerksamkeit, die den Beruf der Wissenschaft überhaupt ermöglichen. Ob und wie sich Wissenschaftsschulen in Zeiten zunehmend rascherer »turns« und Paradigmenwechsel behaupten, muss die Zukunft zeigen.
PD Dr. Ralf Klausnitzer, geb. 1967 in Leipzig, studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Rostow/Don (Russland) und Berlin. 1999 wurde er mit einer Arbeit über die Rezeption der deutschen Romantik 1933–45 promoviert; 2007 folgte die Habilitation mit einer Schrift über Verschwörungstheorien in Literatur, Publizistik, Wissenschaft 1750–1850. Er ist Hochschullehrer am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin.
Ralf Klausnitzer — Denkkollektiv oder Klüngelsystem?
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WISSENSSOZIOLOGISCHE SUCHBEWEGUNGEN DIE FUNKTIONEN VON SCHULEN FÜR DIE WISSENSCHAFT ΞΞ Jan-Hendrik König
Die Verwendung des Begriffs wissenschaftliche ›Schule‹ ist mindestens so vielfältig1 wie die Zahl der mit dem Begriff bezeichneten wissenschaftlichen Ansätze, Methoden, Verbünde und Theorien. Obschon nicht eindeutig definierbar, geht von dem Begriff offenbar ein Reiz aus, da er eine Vielzahl von Möglichkeiten bei der Typologisierung, der Ein- und Zuordnung sowie der Rekonstruktion von ›Verwandtschaftsbeziehungen‹ in der Wissenschaft zuzulassen scheint. Schulen ermöglichen die Zuordnung von Personen auf Themen, Theorien und Methoden sowie die Abgrenzung und Gegenüberstellung verschiedener Ansätze. Wenn von Schulen gesprochen wird, so mit dem primären Ziel, einen Überblick über die unterschiedlichen Positionen in einem Wissenschaftsbereich herzustellen. Schulen sind daher auch ein wichtiger Bestandteil bei der Rekonstruktion der Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen und für die Wissenschaftsgeschichte insgesamt.2 In all diesen Fällen entfaltet der Begriff der Schule analytisches Potenzial,3 ist allerdings schwer zu trennen von weiter gefassten Sammelbegriffen wie Stil oder scientific community. Der Begriff der Schule tritt als Selbst- und Fremdbeschreibungsbegriff auf.4 So können Schulen der Selbstverortung von Wissenschaftlern dienen und dabei helfen, in wissenschaftlichen Diskursen Position zu beziehen bzw. Standpunkte voneinander abzugrenzen. Schulen und angenommene, zugeschriebene oder proklamierte Zugehörigkeiten zu Schulen bieten nicht zuletzt mit Blick auf die Berufungspraxis ordnende Funktionen. Schulen sind aber zugleich konkrete Orte und spezifische soziale Konstellationen, in denen theoretische und methodische Ansätze entwickelt, erweitert, angewandt und weitergegeben werden; in denen gelehrt und gelernt wird, in denen es unterschiedliche Rollen gibt – mindestens aber Lehrer und Schüler – und die schon dadurch auch der Weitergabe von wissenschaftlichem Wissen über Generationen hinweg dienen. Diese (wissens-)soziologische Verwendung des Begriffes lässt spezifischere Fragen zu als lediglich eine historische bzw. disziplinäre Typologisierung.
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INDES, 2014–3, S. 20–27, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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1 Vgl. Semen R. Mikulinskij (Hg.), Wissenschaftliche Schulen, Bd. 1, Berlin 1977. Darin insb. der Beitrag von V. B. Gasilov (S. 291 ff.). 2 Vgl. z. B. Wolf Lepenies (Hg.), Geschichte der Soziologie: Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981. 3 Szacki differenziert die institutionelle, psychologische und typologische Bedeutungsebene des Begriffs, vgl. Jerzy Szacki, »Schulen« in der Soziologie, in: Lepenies (Hg.), S. 16–30. 4 Klausnitzer trennt zwischen »historischem« und »performativem« Gebrauch, vgl. ders., Wissenschaftliche Schule. Systematische Überlegungen und historische Recherchen zu einem nicht unproblematischen Begriff, in: Lutz Danneberg u. a. (Hg.), Stil, Schule, Disziplin, Frankfurt a. M. 2005, S. 31–64.
Erschwert wird die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Schulen dadurch, dass stets auch epistemische Fragen zu stellen sind, die auf die Produktionsbedingungen wissenschaftlichen Wissens und die Möglichkeiten der Innovationsfähigkeit von Wissenschaft abzielen. Damit ist eine weitere Besonderheit des Schulbegriffs beschrieben: die Verbindung epistemischer und soziologischer Fragen mit je verschiedenartigen Temporalisierungen, d. h. je spezifischen historischen und historisierenden Zugriffen auf Schulen. Wissenschaftsgeschichte verknüpft Schulen mit Fragen der Entstehungsgeschichte von Ideen bzw. Paradigmen, fragt danach, ob die Entwicklung zyklische Strukturen aufweist und Schulen an spezifische historische Formationen gebunden sind. Hier knüpft die soziale Dimension an, wenn nach den Beziehungen der beteiligten Wissenschaftler und ihrer Stellung zueinander gefragt wird. Welche Autoritäts- und Machtbeziehungen lassen sich rekonstruieren und wie sind sie mit der wissenschaftlichen Produktion der Schulen verknüpft? Schließlich: Entstehen in bzw. durch Schulen organisationale Kontexte, die besonders ›innovationsfreundlich‹ und womöglich planmäßiger Gestaltung zugänglich sind? Diese Überlegungen verweisen auf zentrale wissenssoziologische ›Suchrichtungen‹, die sowohl die analytische als auch die soziologische Weite des Begriffs der wissenschaftlichen Schule durchmessen. Sie können Untersuchungen zu wissenschaftlichen Schulen mit weiteren Fragen anreichern und sind mit verschiedenen Begriffsverwendungen kompatibel: 1) die wissenschafts- und disziplinenhistorische Suchbewegung, 2) die Rekonstruktion der sozialen Beziehungen in der Wissenschaft bis hin zu ihrer Analyse als Machtbeziehungen, 3) die Bereitstellung organisationaler Strukturen durch Schulen. Die Grundannahme besteht darin, dass in jeder dieser Dimensionen Schulen – als analytische Kategorie mit wirklichkeitserschließendem Potenzial wie als konkreter sozial-epistemischer Kontext – spezifische Leistungen für die Wissenschaft erbringen und dass sich daraus die anhaltende Faszination des Begriffs ableiten lässt. Zurecht ist die generationenübergreifende Komponente von Schulen als zentrales Kennzeichen und in Abgrenzung zu anderen Gruppenbildungen in der Wissenschaft betont worden. Ein je unterschiedlich ausfallender temporaler Zugriff auf Schulen, der diese entweder als wiederkehrende bzw. zu überwindende Grundelemente der Wissenschafts- und Disziplinenentwicklung beschreibt oder aber vor allem einen zeitdiagnostischen Bezugspunkt setzt, bestimmt darüber hinaus maßgeblich den Blick auf die je zu rekonstruierenden Leistungen von wissenschaftlichen Schulen. Jan-Hendrik König — Wissenssoziologische Suchbewegungen
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SCHULEN, GESCHICHTE(N) UND PARADIGMEN 1) Ein weiter, analytisch offener Begriff der Schule dient insbesondere der Systematisierung des Wissenschaftsfeldes, welche zugleich die Vielfalt der Forschungsfragen und -ansätze auch für Außenstehende zugänglich macht. Für die sozialwissenschaftlichen Disziplinen scheinen die Rekonstruktionen der eigenen Geschichte, die im Sinne einer Wissenschaftswerdung durchaus legitimatorische Züge beinhalten, ohne die Kategorie der Schule nicht auskommen zu können. Dies entweder vor dem Hintergrund der – an Kuhn anknüpfenden – Annahme einer Wissenschaftsentwicklung, bei der Schulen vielfach dem ›vorwissenschaftlichen Stadium‹ zugeordnet werden und somit eigentlich auf ein die Disziplin einendes und bestimmendes Paradigma hin zu überwinden sind. Oder aber unter Herausstellung der Besonderheit der Sozialwissenschaften, ihres eigenen Wissenschaftscharakters und damit letztlich ihres Selbstverständnisses als multiparadigmatische Wissenschaften.5 Wissenschaftliche Schulen werden hier zumeist im Sinne einer school of thought oder auch eines (Denk-)Stils verstanden; auch der Begriff des invisible college fällt in diese Kategorie. Schulen dienen demzufolge der temporalen Verortung von Theorien und Methoden und ermöglichen somit, die Entwicklungslinien von Disziplinen nachzuzeichnen; am deutlichsten dann, wenn eine Schule ein die gesamte Disziplin veränderndes neues Paradigma hervorzubringen und durchzusetzen vermag. Die epistemischen Fragen, die sich anschließen, thematisieren wiederkehrende Muster in diesen Entwicklungen: Verbreitet ist der hier vereinfachend als ›Häresie-Theorie‹ bezeichnete Blick auf wissenschaftliche Schulen als Keimzellen andersartigen Denkens, die sich zuerst durch den Abschluss gegenüber dem Mainstream stabilisieren, durch die Rekrutierung von Schülern wachsen und sich ggf. irgendwann durchsetzen und ihrerseits zum Mainstream werden.6 Diese Betrachtung von Schulen fokussiert z. T. bereits auf den sozialen Kontext (insb. Schließung), betrachtet diesen aber entweder kritisch (Klüngel, Elite, Kartelle etc.) oder aber als notwendig (im Hinblick auf die Stabilisierung einer gemeinsamen Wirklichkeitsauffassung). Damit wird die Frage der zeitlichen Stabilisierung einer Schule angesprochen: Gelingt es ihr, mehr als zwei Generationen (Lehrer und Schüler der ersten Generation) zu verbinden und längerfristig zu be-
5 Vgl. kritisch zum ParadigmaKonzept Douglas Lee Eckberg u. Lester Hill: Paradigm Concept and Sociology – A Critical Review, in: American Sociological Review, Jg. 44 (1979), S. 925–937 sowie Stephan Kornmesser u. Gerhard Schurz (Hg.), Die multiparadigmatische Struktur der Wissenschaften, Wiesbaden 2014. 6 Vgl. dazu Nicholas C. ullins, Theories and Theory M Groups in Contemporary American Sociology, New York 1973.
stehen? Werden also aus Schülern wiederum Lehrer, die die Theorie bzw. Methode der Schule weitertragen? Wie viel Veränderung am theoretisch-methodischen Kern ist möglich? Eine Grundannahme besteht hier darin, dass 7
zeitliche Stabilität insbesondere dann erreicht wird, wenn die ›neuen‹ Ansätze der Schule für umfangreiche weitere Arbeiten anschlussfähig sind, in
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7 Vgl. Gerhard Göhler, Die Freiburger und Münchner Schule als Scientific Community. Occasional papers/Universität Berlin, Fachbereich Politische Wissenschaft, Berlin 1982.
denen der theoretisch-methodische Kern angewandt und ausgeführt werden kann (puzzle solving).8 In Frage steht, inwieweit das Auftreten von Schulen an bestimmte Epochen gebunden ist bzw. ob Schulen einem bestimmten Stadium der Entwicklung von wissenschaftlichen Disziplinen zuzuordnen sind. Viele der vorliegenden Analysen weisen auf das 19. Jahrhundert als dem historischen Ort der Schulen hin. Insbesondere zwei Rahmenbedingungen sind zu nennen: a) die starke Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen mit umfassender Rationalisierung des Forschungsprozesses (insb. in den Naturwissenschaften) und dadurch gleichzeitig ein anhaltender Prozess der Spezialisierung und Professionalisierung sowie b) die hervorgehobene Position des universitären Professors und seine Stellung als Ordinarius bei gleichzeitiger Etablierung eines ›neuen‹ Formats der Wissensweitergabe in der Form des Interaktionen anregenden Seminars.9 In dieser besonderen Gelegenheitsstruktur konnten wissenschaftliche Schulen zu einer zentralen Konfiguration wissenschaftlicher Wissensproduktion werden. Die veränderten Rahmenbedingungen des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zeigen sich weniger geeignet für wissenschaftliche Schulen; ihre Ab- und Auflösung durch und in andersartige Netzwerkstrukturen wird erwartet.10 8 Vgl. Eckberg u. Hill, S. 925–937.
Zeigen sich Schulen auch gebunden an spezifische ›Entwicklungsstadien‹ von Disziplinen? Offenbar ist ihr Auftreten eng verbunden mit der formativen Phase einer Disziplin (grundlegend für die Naturwissenschaften11 bereits im
9 Vgl. Rudolf Stichweh, Zur Soziologie wissenschaftlicher Schulen, in: Wilhelm Bleek (Hg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 19–32. 10 11
Ebd.
Vgl. Semen R. Mikulinskij (Hg.), Wissenschaftliche Schulen, Bd. 2, Berlin 1979. 12
Vgl. Lepenies (Hg.).
13 Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 336 ff. 14 Studien zu durch Wissenschaftlerinnen begründeten Schulen scheinen bisher nicht vorzuliegen.
19. Jahrhundert, für die Soziologie12 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für die deutsche Politikwissenschaft13 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etc.). Schulen und die Ausdifferenzierung neuer Disziplinen werden oftmals verknüpft dargestellt. Dabei sollte aber immer auf das je zugrundeliegende Wissenschaftsverständnis (und die darin enthaltenen historischen bzw. historisierenden Grundannahmen) geachtet werden. DAS ›WER‹ UND ›WIE‹ DER SCHULEN 2) Der soziologische Begriff der Schule fokussiert vor allem auf die soziale Konfiguration des Verbundes von Wissenschaftlern. Wird die tatsächliche und verortbare Interaktion der Wissenschaftler zu einer notwendigen Bedingung der Schule, so gewinnt der Begriff auch Trennschärfe gegenüber verwandten Begriffen wie invisible college, scientific community, Denkkollektiv etc. Im Mittelpunkt der soziologischen Betrachtung von Schulen steht die Lehrer-Schüler-Beziehung. Diese hierarchische und patriarchale14 Konstellation ist Patron-Klient-Beziehungen ähnlich. Verfolgt man die Konsequenzen Jan-Hendrik König — Wissenssoziologische Suchbewegungen
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dieser Konstellation weiter, so zeigt sich, dass gerade in den gegenseitigen Verpflichtungen bei gleichzeitiger deutlich hierarchischer Ausformung der Kern von Machtbeziehungen angelegt ist, den Bourdieu15 ausführlich beschreibt. Eine weitere mögliche Patron-Klient-Konstellation kommt hinzu, wenn man, nach Tiryakian, den wissenschaftsexternen Helfern (Herausgeber einer Zeitschrift, Beamte im Staatsdienst, Mitarbeiter einer Stiftung etc.) einen Platz in der sozialen Konstellation einer Schule zuweist.16 Solche externen Helfer unterstützen die Durchsetzung des Programms einer Schule innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin, indem sie Ressourcen, die eigentlich außerhalb der Wissenschaft liegen, für Schulen und ihre innerwissenschaftlichen und innerdisziplinären Zwecke erschließen und nutzbar machen. Dieser Aspekt und damit die Rolle des ›Förderers‹ ist bisher, sofern überhaupt, erst wenig beachtet worden und kann für die weitere Analyse wissenschaftlicher Schulen eine interessante Ergänzung darstellen. Insbesondere die Betrachtungen der Gelegenheitsstrukturen, in und aus denen Schulen entstehen können, sollte um diese Perspektive erweitert und bereichert werden. Tiryakian entfaltet das soziologische Tableau einer Schule weiterhin wie folgt: Um den »geistigen charismatischen Führer« herum gruppiert sich zum einen die unmittelbare Gefolgschaft »Bekehrter«, die, so vorhanden, die unmittelbare Sichtbarkeit der Gruppe erhöhen. Sie können der Generation des Führers angehören und sind nicht durch ihn ausgebildet, haben sich aber seinem Paradigma angeschlossen. Schüler gehören einer folgenden Generation an und können, so sie umfassend durch ihren Lehrer geprägt werden, später zu dessen Stellvertreter werden und so den Fortbestand der Schule über Generationen sichern. Die oben genannten ›Helfer‹ finden sich gewissermaßen in der Peripherie der Schule und verbinden diese zugleich mit außerwissenschaftlichen Kontexten. Folgt man dieser Rollendifferenzierung, so schließen sich auch Fragen nach den spezifischen Anforderungen an die beteiligten Personen an, die oftmals direkt auf die Persönlichkeitsprofile der beteiligten Wissenschaftler zielen. Nicht jeder Wissenschaftler eignet sich offenbar zum Schulgründer, sei es, weil ihm das notwendige ›Charisma‹ fehlt, oder weil er sich dem Schulkonzept bewusst verschließt.17 Alle aufgeführten Rollen lassen sich nur über das Verhältnis zum Schulgründer bestimmen und formen sich entlang dieser zentralen Beziehungslinie aus. Die ›Aufnahme‹ in eine Schule mag bestimmten Regeln folgen, ist aber nicht formal reguliert
15 Vgl. Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1988, S. 159 ff. 16 Vgl. Edward A. Tiryakian, Die Bedeutung von Schulen für die Entwicklung der Soziologie, in: Lepenies (Hg.), S. 31–68.
und kann allein durch den Schulgründer erfolgen. Die sozialen Beziehungen sind maßgeblich von der Annahme und der performativen Verstetigung des Schüler-Lehrer-Verhältnisses auf beiden Seiten abhängig.
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17 Vgl. Niklas Luhmann, Universität als Milieu, Bielefeld 1992, S. 103 f.
3) Schulen verknüpfen kognitive und soziale Elemente von Wissenschaft, liegen aber zugleich quer zu organisatorischen bzw. institutionellen Ausformungen moderner Wissenschaft. Ihrem ›familiären‹, informellen und patriarchalen Charakter wird mit Misstrauen begegnet. Als Form der Patronage wird diesem Muster der sozialen Organisation einige Skepsis entgegengebracht,18 und vielleicht zeigt sich der generelle Trend zur Formalisierung sozialer Beziehungen auch hier, wenn formal genau bestimmte Organisationsformen von Wissenschaft an die Stelle der ›alten‹ Schulen treten. So könnten die Bestrebungen der umfassenden Einführung von Graduiertenschulen (die immerhin noch den Begriff der ›Schule‹ im Namen tragen, aber im Unterschied zu den ›alten‹ Schulen auf klare Verfahren, Strukturen und formalisierte Beziehungen sowie eindeutige und verfahrensförmige Regelungen der Mitgliedschaft setzen), aber auch von ähnlichen Strukturen (Nachwuchsgruppen etc.), die zumindest auf eine mittlere zeitliche Stabilität hin errichtet werden, als alternative Modellierungsversuche der sozialen, kognitiven und strukturellen Verbindungen im Bereich der Wissenschaft betrachtet werden. Auch diesen neueren Organisationsformen sind dabei – genau wie den alten Schulen – die besondere Beachtung der Weitergabe des Wissens an nachfolgende Wissenschaftlergenerationen sowie die Sichtbarkeit innerhalb der scientific community zentrale Anliegen. An die Stelle des Charismas des Gründers/ Lehrers soll und muss allerdings in hinreichendem Maße ein Charisma der Institution treten. Diese Gedanken knüpfen an ältere Überlegungen an, die die organisationalen Komponenten von Schulen bereits Ende der 1970er Jahre aufgegriffen haben. Insbesondere in der Vorbemerkung der zweibändigen Darstellung wissenschaftlicher Schulen durch die Akademien der Wissenschaften der UdSSR und der DDR19 werden diese als kollektive Produktionsräume wissenschaftlichen Wissens und von ›Innovationen‹ betrachtet. (Erwartete) Planbarkeit des wissenschaftlichen Fortschrittes mag ein Aspekt sein, zugleich aber kommt Schulen in diesem Blick eine positive Bedeutung zu, die die westeuropäische und wissenschaftstheoretische Diskussion nicht kennt, welche – ganz im Gegenteil – über die Anknüpfung an die ältere Sekten18 Vgl. Ernest Gellner, Patrons and Clients, in: Ernest Gellner u. John Waterbury (Hg.), Patrons and Clients in Mediterranean Societies, London 1977, S. 1–6.
Semantik20der Häresie-Theorie die Hemmnisse und eher dysfunktionalen Aspekte von Schulen stärker betonten. Zentral ist, dass auch hier Schulen dazu dienen, auf eine spezifische Weise das Verhältnis von sozialen und epistemischen Elementen von Wissenschaft zu beschreiben, dass sie aber
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Vgl. Mikulinskij (Hg.), S. 7 ff. und passim. Vgl. Klausnitzer, S. 40 ff.
zugleich, anders als bisher, nicht mehr primär auf die Vergangenheit (historische Typologisierung) bzw. die Gegenwart (zeitdiagnostisch) hin temporalisiert werden, sondern auf die Zukunft. Schulen sind die Orte von Jan-Hendrik König — Wissenssoziologische Suchbewegungen
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zukünftigen Innovationen in der Wissenschaft, diese konkreten räumlichen Orte und sozialen Konstellationen entsprechend ›innovationsfreundlich‹ auszugestalten, wird zur (wissenschaftspolitischen) Aufgabe. Es wäre spannend, diesen Gedanken mit den vielfältigen aktuellen Diskussionen zur Steuerung der Wissenschaft von der Organisationsebene (institutioneller Wettbewerb z. B. in den Exzellenzinitiativen) aus zu verbinden, wie eben bereits kurz am Beispiel der Graduiertenschulen angedeutet. Wissenschaftliche Schulen im klassischen Sinn würden dann nicht deshalb ›verschwinden‹, weil sie von ortsübergreifenden Netzwerkstrukturen ab- und aufgelöst werden, sondern auch, weil die organisationalen Gelegenheitsstrukturen mit dem Ziel der Kontrolle und Einhegung individueller Macht und informeller Strukturen aktiv verändert werden. Schulen bündeln und erschließen der Wissenschaft Ressourcen und bilden zugleich eigene, interne Muster für deren Verteilung aus. Sie machen aber auch Themen, Ansätze und Methoden ›adressierbar‹ und für wissenschaftsexterne Akteure sichtbar. Insbesondere die (mediale) Aufmerksamkeit sowie die gesellschaftlichen und politischen Erwartungen erfahren so einen Zugang zu den innerwissenschaftlich und innerdisziplinär ausdifferenzierten Wissensbereichen und Forschungsschwerpunkten. Sichtbarkeit der Positionen innerhalb der Wissenschaften und über sie hinaus entsteht nicht zuletzt über die charismatische Lehrerpersönlichkeit. Schulen können Kristallisationskerne für neue disziplinäre Ausdifferenzierungen und – so sie sich durchsetzen – auch Träger von Paradigmenwechseln werden. Dieser Leistung von Schulen als ›Innovationsgeber‹ für die Wissenschaftsentwicklung steht eine durchaus kritische Perspektive gegenüber. Anders als in den Naturwissenschaften, die eher einer Kuhn’schen Logik folgen und in denen sich über die Durchsetzung und Ablösung von Paradigmen der zentrale Kopplungspunkt zwischen Schulen und wissenschaftlichem Fortschritt herstellen lässt, fehlt in den Geistes- und Sozialwissenschaften in der Regel die paradigmatische Verdichtung der Innovation: Da Konkurrenzsituationen unterschiedlicher Deutungen, Zugänge, Methoden und Theorien selten in einem einzigen, neuen Paradigma aufgelöst werden, bleibt eine Vielzahl von ihnen laufend aktuell und weiter in Konkurrenz. Auf dieser Grundlage wird verständlich, warum Schulen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zumeist eher kritisch (d. h. hier im Sinne einer Zersplitterung der Disziplin/en) gesehen wurden, auch und insbesondere im Hinblick auf ihre aus diesem Grund schwieriger zu beschreibenden ›Innovationsleistungen‹. Schulen dienen somit in den Sozialwissenschaften stärker der innerwissenschaftlichen
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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Stabilisierung des Wettbewerbs und bleiben damit für externe Anknüpfungen tendenziell riskanter als in den Naturwissenschaften, in denen die dominante Schule in eine Phase der Selbstverstärkung eintritt, sobald sich die innerwissenschaftliche Durchsetzung eines Paradigmas mit externer Anerkennung dieses Erfolges in Form weiterer Ressourcenzuweisungen verbindet und verstärkt. Diese Perspektive bietet auch einen genaueren Blick auf den Bereich der organisationalen Strukturen und Leistungen wissenschaftlicher Schulen. In jedem Fall stellen wissenschaftliche Schulen einen vielversprechenden und nach wie vor tragfähigen Zugriff für die Wissenschaftsgeschichte und Wissenssoziologie dar. Dies vor allem, da sie als Verdichtungen auf allen Ebenen – epistemisch, sozial und organisational – die Dynamik innerhalb des netzwerkartig ausdifferenzierten Wissenschaftssystems verdeutlichen können und damit einen spezifischen Zugriffspunkt für empirische Untersuchungen und Fallstudien bieten.
Jan-Hendrik König, geb. 1981, Studium der Kulturwissenschaften und Politikwissenschaft in Leipzig und Halle (Saale), zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt, Staatswissenschaftliche Fakultät bei Prof. A. Anter (Lehrstuhl für Politische Bildung, insbesondere für das politische System Deutschlands). Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Hochschulforschung, Governance der Wissenschaft, Wandel des Wissenschaftssystems.
Jan-Hendrik König — Wissenssoziologische Suchbewegungen
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DIE BESCHRÄNKTE SICHT DER SCHULPERSPEKTIVE WAS STUDIEN ÜBER DENKSCHULEN IN DER AMERIKANISCHEN POLITIKWISSENSCHAFT NICHT ERKENNEN KÖNNEN ΞΞ Emily Hauptmann
Es geht ein beständiger Reiz davon aus, den Lebenszyklus von Denkschulen zu untersuchen. Wie sie entstehen und gedeihen, warum sie verwelken und absterben, ob sie einen nützlichen oder eher destruktiven Einfluss haben auf die Entwicklung der Forschungsfelder, in denen sie sich entfalten – dies sind nur einige der immer wiederkehrenden Fragen, die sich in Bezug auf Denkschulen stellen. Ich möchte jedoch erkunden, was alles aus dem Blickfeld gerät, wenn der Fokus auf Denkschulen gerichtet ist. Hierfür folge ich zwei unterschiedlichen, aber einander ergänzenden Pfaden. Zuerst diskutiere ich, warum Denkschulen kein Hauptgegenstand sowohl gegenwärtiger als auch historischer Bewertungen der Politikwissenschaft in den USA waren. Anschließend erkläre ich, warum ich selbst in meinen eigenen Arbeiten von einer Fokussierung auf Denkschulen abgerückt bin. Entlang dieser beiden Pfade möchte ich erklären, warum Denkschulen meiner Ansicht nach in Untersuchungen des akademischen Lebens meist nur eine unbedeutende Rolle spielen sollten – vor allem in solchen, die sich einer Analyse der dieses Milieu dominierenden Kräfte widmen. Zugegeben, einige der wichtigsten Schulen haben einen geradezu kometenhaften Aufstieg erlebt. Selbst nach ihrem Niedergang haben Studien, die sich ihrer retrospektiven Auslegung widmen, wichtige Neubewertungen der Forschungsfelder angeregt, in denen diese Schulen einst wirkten. Will man aber die weitgreifenden hegemonialen Strukturen, die Universitäten, Disziplinen und intellektuelle Kulturen im Allgemeinen beherrschen, und deren Transformationsprozesse verstehen, dann sind Denkschulen stets zu lokal, zu selten und zu kurzlebig, um hier Abhilfe zu schaffen. WO SIND DIE »DENKSCHULEN« IN DER AMERIKANISCHEN POLITIKWISSENSCHAFT? Prinzipiell wäre ein plausibler Ansatz zur Erforschung der jüngeren Geschichte der amerikanischen Politikwissenschaft denkbar, in dem Denkschulen eine Hauptrolle einnehmen. Immerhin gibt es keinen Mangel an
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INDES, 2014–3, S. 28–35, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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Emily Hauptmann — Die beschränkte Sicht der Schulperspektive
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Kandidaten, aus denen man auszuwählen hätte: die Chicago und Berkeley Schools, die US-Versionen der Cambridge School und der Frankfurter Schule, Behaviorismus, Neuer Institutionalismus, die Straussians, Neorealisten, Konstruktivisten und Rational-Choice-Theoretiker sind nur einige von ihnen. Aber trotz dieser langen Liste von Protagonisten spielt das Konzept der Denkschulen in den meisten jüngeren historischen Untersuchungen zur Entwicklung der amerikanischen Politikwissenschaft keine prominente Rolle. Warum nicht? Ein Grund könnte sein, dass sich die Einflusskreise der meisten Schulen nicht weiter erstrecken als auf ein einziges Forschungsgebiet innerhalb einer (Sub-)Disziplin. Außerhalb dieser Zirkel sind die meisten Schulen nicht sehr bekannt: Ein Spezialist auf dem Gebiet der amerikanischen Politik dürfte zum Beispiel genauso unfähig sein, über die Cambridge School der Ideengeschichte zu berichten wie ein politischer Theoretiker Probleme hätte, einen Einblick in die Rochester School of Rational Choice zu geben. Das heißt: Der Einfluss der meisten Schulen ist auf die lokale Ebene beschränkt bzw. nur in einzelnen Fachgebieten wahrnehmbar. Dennoch gibt es einige wenige Schulen – der Neue Institutionalismus und die Rational-Choice-Theorie sind gegenwärtig zwei der prominentesten Beispiele –, deren Einfluss weit über einzelne Fachgebiete hinausreicht und sich auf ganze Disziplinen auswirkt. Auf genau diese Schulen wird jedoch für gewöhnlich gar nicht als Denkschulen rekurriert. Natürlich haben einige Analysen innerhalb des Neuen
1 Für einen Überblick über Schulen des Neuen Institutionalismus vgl. Robert Adcock, Mark Bevir u. Shannon Stimson, Historicizing the New Institutionalism(s), in: Dies. (Hg.), Modern Political Science: Anglo-American Exchanges since 1880, Princeton 2007, S. 1–17. Für eine Schule innerhalb des Rational-ChoiceParadigmas vgl. S.M. Amadae u. Bruce Bueno de Mesquita, The Rochester School. The Origins of Positive Political Theory, in: Annual Review of Political Science, Jg. 2 (1999), S. 269–95.
Institutionalismus und der Rational-Choice-Theorie spezifische Denkschulen identifiziert.1 Aber wenn es darum geht, eben diese breiteren Ansätze selbst zu charakterisieren, dann müssen viele Kommentatoren zugeben, dass sie intern zu pluralistisch und, was die theoretische Ausrichtung und Institutionalisierung betrifft, zu diffus sind, um als Denkschulen gelten zu können.2 Ergänzend zu solch relativ neutralen Beobachtungen über disziplinären Pluralismus wurde zudem argumentiert, dass es sich bei der Politikwissenschaft um eine eklektische, offene und pluralistische Disziplin handeln sollte. Viele Autoren, die hier für mehr Pluralismus und Eklektizismus plädieren, erwähnen Denkschulen noch nicht einmal. Und wenn doch, kritisieren sie entweder die große Mehrheit der Schulen3 oder erklären, dass die verdienstreichsten von ihnen solche Leistungen nur vollbringen konnten, weil sie ungewöhnlich pluralistisch und offen sind.4 Da die meisten Schulen lokal beginnen und gegenüber Outsidern dogmatisch und intolerant erscheinen, wird ihnen zumeist ein Mangel an Pluralismus und Eklektizismus attestiert. Der große Wert, der diesen beiden Charakteristika von den meisten Wissenschaftlern beigemessen wird, mag jedenfalls ein weiterer Grund dafür sein,
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2 Ausführlich dazu, mit Bezug auf die Rational-Choice-Theorie: Emily Hauptmann, Defining »Theory« in Postwar Political Science, in: George Steinmetz (Hg.), The Politics of Method in the Human Sciences: Positivism and its Epistemological Others, Duke 2005, S. 207–232. 3 Vgl. Gabriel A. Almond, Separate Tables: Schools and Sects in Political Science, PS: Political Science and Politics, Jg. 21 (1988) H. 4, S. 828–842. 4 Vgl. z. B. die Anmerkungen zum internen Pluralismus der politikwissenschaftlichen Chicago Schools bei Kristen Renwick Monroe, The Chicago School: Forgotten but Not Gone, in: Perspectives on Politics, Jg. 2 (2004) H. 1, S. 95–98.
warum Denkschulen in Beiträgen zur Geschichte der amerikanischen Politikwissenschaft so selten vorkommen. Bezeichnenderweise sind solche Lobeshymnen auf den Eklektizismus sowohl in den etablierten Publikationen der Disziplin5 erschienen als auch von protestierenden Gegenbewegungen angestimmt worden, die sich organisierten, um den innerhalb des Fachs gepflegten Status quo anzufechten. Seit ungefähr fünfzig Jahren haben Generationen von Politologen immer wieder moniert, der etablierte Kern der Disziplin habe Orthodoxien errichtet und viele neuere Ansätze gezielt ignoriert – demgegenüber warben diese Gruppen für eine pluralistischere Politikwissenschaft. Die erste dieser Protestbewegungen formierte sich in den späten 1960er Jahren: Der »Caucus for a New Political Science« kritisierte u. a. das, was man als eine geschlossene Hierarchie im Herzen der Disziplin wahrnahm, aber auch die engen Kontakte von einigen 5 Vgl. z. B. Lee Sigelman, Introduction to the Centennial Issue, in: American Political Science Review, Jg. 100 (2006) H. 4, S. v–xvi; Ira Katznelson u. Helen V. Milner, Introduction, in: Dies. (Hg.), Political Science: The State of the Discipline, New York 2002, S. 1–32, hier S. xiv–xv, S. 1–3, S. 13 u. S. 25–26.
der mächtigsten Vertreter des Fachs zum außenpolitischen Establishment der USA. Über dreißig Jahre später beklagte eine weitere Protestbewegung, dass
die Zentren der Disziplinarmacht – die Vorstände der wissenschaftlichen Fachverbände und die Herausgeber und Redaktionen einschlägiger Fachzeitschriften – gegenüber vielversprechenden Forschungsansätzen verschlossen blieben. Wenngleich diese Bewegung den explizit politischen Namen »Perestroika« annahm, fokussierte sie doch in erster Linie auf interne verbandspolitische Fragen.6 Repräsentanten des Kerns hielten dieser Kritikwelle entgegen, dass die
6 Viele Beiträge in dem von Kristen Renwick Monroe herausgegebenen Band »Perestroika! The Raucous Rebellion in Political Science« (New Haven 2005) heben explizit den Wert des Pluralismus in der Politikwissenschaft hervor.
Disziplin in Wirklichkeit viel offener sei als es die Dissidenten unterstellten. Einige von ihnen entgegneten zudem, dass gerade der Kern der Disziplin eklektisch arbeite, während die Protestierenden für einen rigiden Dogmatismus plädierten.7 Nach wie vor ist es also die Empörung über die Macht des »Estab lishments«, die in Untersuchungen zum gegenwärtigen Stand der Disziplin den Stein des Anstoßes darstellt, und nicht etwa die Macht einzelner Schulen.
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Almond unternimmt diesen Angriff in »Separate Tables«, S. 829–830. Der zuvor erwähnte »Perestroika!«-Band enthält ebenfalls Repliken von Vertretern des angegriffenen »Kerns«: vgl. z. B. David D. Laitin, »The Perestroikan Challenge to Social Science« sowie Lee Sigelman »The APSR in the Perestroika Era«. 8 Vgl. z. B. John G. Gunnell, The Descent of Political Theory: The Genealogy of an American Vocation, Chicago 1993; Robert Adcock, Interpreting Behavioralism, in: Ders. u. a. (Hg.), Modern Political Science, S. 180–208.
Weil Denkschulen häufig (wenn auch nicht immer) retrospektive Konstruktionen – Produkte also nicht etwa ihrer Wortführer, sondern späterer Generationen von Bewunderern und Kritikern – darstellen, mag man zunächst erwarten, dass sie in Analysen zur Geschichte des Fachs häufiger vorkommen als in Bewertungen seines gegenwärtigen Status. Aber selbst in solchen Werken, die der Geschichte der Politikwissenschaft in den USA gewidmet sind, spielen Denkschulen keine prominente Rolle. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Manche historischen Arbeiten bemühen sich darum, die scharfen Grenzen, die für gewöhnlich um einzelne Forschungsgebiete oder -ansätze gezogen werden, zu verwischen oder ganz aufzulösen anstatt die jeweiligen Besonderheiten hervorzuheben.8 Andere explizit kritische Arbeiten argumentieren, dass die Mängel, die sie für die US-amerikanische Emily Hauptmann — Die beschränkte Sicht der Schulperspektive
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Politikwissenschaft identifizieren – sei es, dass sie demokratische Werte gering schätze, einem sterilen Professionalismus, einer pro-amerikanischen Ideologie oder einem falschen Szientismus erliege –, fast auf die gesamte Disziplin zutreffen, nicht nur auf die Arbeit einzelner Schulen.9 Die wenigen Abhandlungen über Denkschulen in der Politikwissenschaft fokussieren auf deren institutionelle Strukturen,10 ihre prägenden Ideen11 oder ihre langfristige Diffusion und Fragmentierung.12 Und nur in ein paar von diesen Arbeiten wird behauptet, dass die von ihnen behandelten Schulen einen signifikanten Einfluss auf die gesamte Disziplin hatten.13 WARUM SIND »DENKSCHULEN« SO SELTEN? Bislang ging es um die Frage, wie Autoren, die sich mit der Geschichte der amerikanischen Politikwissenschaft befassen, das Konzept der Denkschulen verwenden. Dabei mag es allzu dogmatisch erscheinen, nur solche Arbeiten zu betrachten, die explizit dieses spezifische Konzept verwenden – und nicht ähnliche Begriffe wie »Ansatz«, »Methode« oder »Paradigma«.14 Doch einer Konzentration auf diese Konzepte mangelt es meines Erachtens an jener institutionellen Fokussierung und soziologischen Ausrichtung, die, wie ich glaube, fundierte Analysen von Denkschulen besonders auszeichnen. Wenn eines dieser oder beide Elemente fehlen, scheint es angemessener, von Ansätzen, Methoden und Paradigmen statt von Denkschulen zu sprechen.
9 Vgl. z. B. David M. Ricci, The Tragedy of American Political Science: Politics, Scholarship, and Democracy, New Haven 1984; Raymond Seidelman u. a., Disenchanted Realists: Political Science and the American Crisis, 1884–1984, Albany, N.Y. 1985. 10 Vgl. Amadae u. Bueno de Mesquita; Michael T. Heaney u. John Mark Hansen, Building the Chicago School, in: American Political Science Review, Jg. 100 (2006) H. 4, S. 589–596. 11 Vgl. Richard Merelman, Pluralism at Yale. Madison 2003; Emily Hauptmann, A Local History of ›the Political‹, in: Political Theory, Jg. 32 (2004) H. 1, S. 34–60.
Jene schließen weite Teile einer Disziplin ein. Im Gegensatz dazu haben die meisten der gefeierten Denkschulen ihren Lebensweg in den lichtscheuen Interaktionen einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern an sehr begrenzten Orten begonnen. Andrew Abbotts Analyse der Chicago School of Sociology im frühen 20. Jahrhundert hebt beide Merkmale hervor.15 Bei dieser am gründlichsten analysierten sozialwissenschaftlichen Denkschule des 20. Jahrhunderts handelt es sich, Abbott zufolge, um eine besonders außergewöhnliche Konstruktion. Für ihren Aufbau bedurfte es mehrerer Jahrzehnte und einer Vielzahl
12 Vgl. z. B. den zweiten Teil von Catherine u. Michael Zuckert, The Truth about Leo Strauss. Political Philosophy and American Democracy. Chicago 2006; Gabriel Almond, Who Lost the Chicago School of Political Science?, in: Perspectives on Politics, Jg. 2 (2004) H. 1, S. 91–93. 13 Vgl. z. B. Merelman; Amadae u. Bueno de Mesquita.
begehrter Ressourcen: reichhaltige Mittel aus Universitäts- und Stiftungsfonds für die Rekrutierung von Personal und Studierenden sowie für die Unterstützung der Forschung, eine prestigereiche hauseigene Fachzeitschrift und die erfolgreiche Anwerbung von Nachwuchsforschern, die sich in das Studium urbanen Lebens vertieften. Sicher können sich Denkschulen auch unter weniger günstigen Bedingungen formieren. Aber Abbott betont zu Recht, dass die Chicago School nur deshalb entstehen konnte, weil hier seltene Faktoren auf eine noch seltenere Weise miteinander kombiniert wurden. Und doch: Trotz dieser glücklichen Umstände gedieh jene Gruppe, die erst später als
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14 Schulen und Methoden werden allerdings häufig gleichgesetzt, z. B. bei Peter Novick, That Noble Dream: The »Objectivity Question« and the American Historical Profession, Cambridge 1988, S. 9. 15 Vgl. Andrew Abbott, Department and Discipline. Chicago Sociology at One Hundred, Chicago 1999.
die Chicago School bekannt wurde, nur über eine relativ kurze Zeitspanne von etwa zwei Jahrzehnten. Die Lektion, die sich aus Abbotts sorgfältig gezeichnetem Porträt der Chicago School ableiten lässt, lautet also ganz simpel: Denkschulen – im Sinne von Abbotts starker Verwendung dieses Begriffs – sind äußerst selten und florieren nur für kurze Zeit. Die meisten akademischen Communities haben keinen Zugang zu jenen Ressourcen, die für den Aufbau einer Schule essentiell sind; die wenigen Glücklichen mit einem solchen Zugriff versuchen meist, die disziplinweite Verbreitung der von ihnen geprägten Ansätze zu fördern, anstatt dauerhafte, aber lokal beschränkte Institutionen aufzubauen. Günstige Zeiten für die vermehrte Bildung von Denkschulen herrschten während wirtschaftlicher Konjunkturen, wenn die Universitäten, die solche Schulen beheimateten, und ihre externen Financiers großzügig zu ihrer Kultivierung beitragen konnten. Das trifft sowohl auf die Politikwissenschaft als auch die Soziologie im Chicago der Zwischenkriegszeit wie auch auf die Politische Theorie in Berkeley und die Rational-Choice-Theorie in Rochester während der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte zu.16 Und doch hat keine dieser – unzweifelhaft wichtigen – Schulen einen sich über die gesamte Disziplin erstreckenden Einfluss erreicht, solange sie noch die strukturellen Merkmale einer Schule aufwies. Aus all diesen Gründen trägt ein Studium von Schulen als (informellen) akademischen Institutionen wenig zum Verständnis der Denkschemata bei, die innerhalb der US-amerikanischen Politikwissenschaft dominant geworden sind. Andere größere, länger bestehende Institutionen haben einen viel größeren Anteil an der Etablierung und Reproduktion von disziplinweiten Dogmen. Dazu zählen etwa jene Departments, die die meisten Ph.D.s und professionellen Organisationen sowie die spendabelsten Mäzene von außerhalb anziehen. Meine Schlussfolgerung lautet daher: Untersuchungen des akademischen Lebens und der sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion sollten diesen Institutionen mehr und Denkschulen weniger Beachtung schenken. MEINE EIGENE ABKEHR VON DEN DENKSCHULEN Diese Hauptgründe würde ich anführen, um zu erklären, warum das Kon16 Vgl. z. B. Emily Hauptmann, From Opposition to Accommodation: How Rockefeller Foundation Grants Redefined Relations between Political Theory and Social Science in the 1950s, in: American Political Science Review, Jg. 100 (2006) H. 4, S. 643–649.
zept der Denkschulen in meiner eigenen Arbeit an Prominenz eingebüßt hat. Insofern mich aber das Forschen über Denkschulen dazu gebracht hat, über die institutionellen Strukturen nachzudenken, in denen sich akademisches Leben entfaltet, ist der Rahmen dieses Konzepts in meinen gegenwärtigen Arbeiten zur Organisation und externen Finanzierung von universitärer Forschung noch immer präsent. Wie kam es dazu? Emily Hauptmann — Die beschränkte Sicht der Schulperspektive
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Ursprünglich setzte ich mich mit dem Konzept der Denkschulen auseinander, um die jüngere Geistesgeschichte des politikwissenschaftlichen Departments in Berkeley nachzuvollziehen, welches das Graduiertenprogramm beheimatet, in dem ich meinen Ph.D. erhalten habe. Ich war damals fasziniert von den Andeutungen, es hätte dort einmal eine »Berkeley School« der Politischen Theorie gegeben.17 Wenngleich dieses Label oftmals nur vorsichtig benutzt wurde,18 habe ich es zunächst übernommen – aus Gründen, die ich heute als doktrinär bezeichnen würde. Ich hoffte damals, dass ein Nachdenken über die Politische Theorie in Berkeley mir helfen würde, eine tiefere Kohärenz in dem zu entdecken, was ich selbst dort gelernt hatte. Aber indem ich versuchte, einige der Kernideen der Berkeley School herauszuschälen, trieb ich immer weiter weg von der Fokussierung auf diesen eigentlichen inhaltlichen Kern und hin zu einer Verortung der Schule in verschiedenen Frames: z. B. ihre Stellung innerhalb des Departments, der Universität und größerer akademischer und politischer Communities. Meine Konzeption der Berkeley School wandte sich ab von ihren inhaltlichen Doktrinen und hin zu den Institutionen, in deren Umfeld sie sich formierte. Die Verwendung von Frames vermag oft ein stimmigeres Bild von einem Gegenstand zu zeichnen und eine Fokussierung auf ein bestimmtes Problem zu ermöglichen. Indem man sich beim Framen der Kernideen einer Schule
17 Vgl. z. B. die kompakte Darstellung der Berkeley School in Gunnell, S. 259–261.
auf die sie einbettenden universitären Strukturen konzentriert, kann man offenlegen, wie beständige Auseinandersetzungen über Curricula, Ressourcenverteilungen und intellektuelle Autonomie manche Forschungsgruppen dazu veranlassen, eine neue Agenda zu artikulieren.19 Die Lokalisierung einer Schule in dem Frame einer weiteren Disziplin kann zeigen, wie wichtig die Identifizierung der einzelnen Opponenten innerhalb einer Disziplin für die Formierung einer Schule ist.20 Beschreibungen der Agenda einer Schule können meist auf polemische Abgrenzungserklärungen ihrer Vertreter gegenüber jeweils dominanten Paradigmen zurückgreifen, die man jeweils zu überwinden versuchte. Bemerkenswert ist, dass viele dieser opponierenden Statements sich gegen Allianzen richten, die sehr viel größer und stärker sind als die eigene Gruppe – sie wenden sich meist gegen fest etablierte Orthodoxien, die die gesamte Disziplin beherrschen. Die Positionierung der Berkeley School in diesen Frames hat mich weggeführt von einem exklusiven Fokus auf die interne Struktur der Schule und hin zu ihrer explizit räumlichen Verortung in einem größeren Milieu. Zweifellos kann die Fokussierung auf eine einzelne Schule (wie für mich damals) ein guter Startpunkt für eine solche Untersuchung sein; doch dieser Fokus ließ mich nicht viel von dem größeren institutionellen Milieu erkennen. Vor
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18 Eine lebhafte Kritik der Berkeley School liefert Richard Ashcraft, One Step Backward, Two Steps Forward: Reflections upon Contemporary Political Theory, in: John S. Nelson (Hg.), What Should Political Theory Be Now?, Albany, NY 1983, S. 515–548. 19 In meinem Aufsatz »A Local History of ›the Political‹« zeige ich, wie die Studierendenproteste der 1960er Jahre und die Antwort der Universitätsleitung darauf die führenden politischen Theoretiker in Berkeley dazu veranlassten, ihre Forschungsagenda zu verändern. 20 Zu der Bedeutung von Opposition für die Ausbildung akademischer Identitäten vgl. Wendy Brown, At the Edge, in: Political Theory, Jg. 30 (2002) H. 4, S. 556– 576; Emily Hauptmann, From Opposition to Accommodation.
allem wenn eine Schule die Linse ist, durch die jemand die akademische Welt betrachtet, ist diese Perspektive vermutlich sowohl zu eng als auch zu naiv, als dass man so den Machtprozessen, die den Aufstieg und Fall diverser Wissensarten innerhalb der akademischen Welt bedingen, genügend Beachtung schenken könnte. Daher interpretiere ich in meinen jüngeren Arbeiten den Behaviorismus in den Sozialwissenschaften nicht primär als Denkschule, sondern als einen eher amorphen Forschungsmodus, der durch die Unterstützung von Seiten der Regierung und philanthropischer Stiftungen aktiviert und legitimiert werden konnte.21 Die zwei Wege, denen ich in dieser Betrachtung von Denkschulen in der US-amerikanischen Politikwissenschaft gefolgt bin, durchqueren das Territorium der Disziplin in unterschiedlicher Weise. Der erste, breitere Pfad mäanderte durch eine Vielzahl von Forschungsfeldern, auf der Suche nach Gebieten, auf denen Theoriehistoriker das Konzept der Denkschulen dauerhaft verwendeten. Der zweite engere Pfad ist dem Kurs meiner eigenen Arbeit während des letzten Jahrzehnts gefolgt. Ich hoffe, dass ich anhand dieser beiden Wege zeigen konnte, warum ein Studium von Denkschulen meines Erachtens 21 Vgl. Emily Hauptmann, The Ford Foundation and the Rise of Behavioralism in Political Science, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences, Jg. 48 (2012) H. 2, S. 154–173 sowie dies., Propagandists for the Behavioral Sciences: The Partnership between the Carnegie Corporation and the SSRC in the Mid-20th Century, Paper presented at the 2013 meeting of the History of Science Society.
nicht viel dazu beitragen kann, die Interaktionsmuster und Machtprozesse innerhalb einer breiten Disziplin nachzuvollziehen. Sie kommen einfach zu selten vor. Vielleicht erklärt aber genau diese Seltenheit die anhaltende Faszination, die Denkschulen auf die akademische Vorstellungskraft ausüben. Wie rar sie auch sein mögen: Denkschulen hätten niemals entstehen können ohne die Unterstützung oder Duldung durch dauerhaftere Institutionen wie auch durch universitäre Einrichtungen, professionelle Organisationen, private Philanthropen und Regierungen. Es sind diese Mächte, nicht die Denkschulen, die unser intellektuelles Leben bestimmen. Übersetzung: Danny Michelsen
Prof. Dr. Emily Hauptmann, geb. 1961, ist Professorin für Politikwissenschaft an der Western Michigan University. Sie hat 1992 in Politikwissenschaft an der University of California, Berkeley, promoviert. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf den Einfluss des philanthropischen Stiftungswesens auf die politikwissenschaftliche Wissensproduktion in den Vereinigten Staaten.
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BEGRENZTE HALBWERTSZEITEN DAS ENDE DER WISSENSCHAFTLICHEN SCHULEN IN DEN DATENNETZEN ΞΞ Stefan Haas
Als mein Professor, an dessen Lehrstuhl ich nach meiner Dissertation arbeitete, mich angesichts seiner bevorstehenden Emeritierung aufforderte, mein bislang von ihm nicht beachtetes Habilitationsthema so zu ändern, dass ich als sein »Schüler« erkennbar sei und er damit eine Schule »habe«, war es um die Freiheit meiner akademischen Laufbahn geschehen. Desinteresse verwandelte sich in Vereinnahmung. Dieses Ansinnen legte sich um mich wie ein Korsett. Im Zuge des sich Mitte der 1990er Jahre vollziehenden Paradigmenwechsels war gerade, wie schon öfters in der Wissenschaftsgeschichte, eine breite Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation entstanden. Meiner postmodernen Selbstaufstellung eines ständig in Bewegung befindlichen Diskurskreuzungspunktes widersprach ein solches Ansinnen, das mich im klassischen Sinn eigentlich hätte ehren sollen. Noch dazu geschah dies zu einer Zeit, als der Begriff der akademischen Schule längst seinen Glanz verloren hatte. Und die damals noch »Neuen Medien« formierten sich bereits am Horizont als Totengräber dieser Idee von Exklusivität und sozialer Abgeschlossenheit. Die Vorstellung, die hier mitschwingt, ist jene einer Schule, die sich auf einen Schöpfer zurückführen lässt, der schulbildend wirkt. Dabei entsteht eine Situation, von der beide Seiten profitieren: Der Schulbildende sichert sich seine Nachwirkung – er vermag sogar selbst zu steuern, wie diese aussieht, da sich die Schüler nicht allzu weit von seinem Regelwerk oder Stil, je nachdem, was schulbildend wirken soll, entfernt haben. Die Schüler, in der Regel selbst nicht oder zumindest noch nicht in der intellektuellen oder institutionellen Position, eine eigene Schule zu gründen, können im vermeintlichen Glanz des Lehrers ihren eigenen Marktwert erhöhen und diesen gewinnbringend bei Bewerbungen oder im Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit einsetzen. Wenn man möchte, kann man diese Tradition bis auf die Antike zurückführen, in der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gelehrtenschule mit einer Zuordnung zu bestimmten Grundauffassungen einherging. Zentraler ist aber, dass die Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert mit Schulbildungen
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INDES, 2014–3, S. 36–43, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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ihre mangelnde Rationalität ausgleichen konnten. Die Geschichtswissenschaft verfügte im Selbstverständnis der Zeit nur über eine Methode, die quellenkritische, und diese war ein Handwerk, das man erlernen konnte. Über narrative Strukturen, argumentationslogische Verfahren oder dedizierte Theorien gab es keinen oder bestenfalls einen marginalen Diskurs in rebellischen Richtungen wie der Kulturgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts. Gelernt wurde durch Nachahmung des Lehrenden, dessen Stil man sich in Vorlesungen aneignete und dessen Urteilen man meist antizipativ entgegenkam. Denn die Bewertung der eigenen Studienleistungen und damit die Entscheidung über eine akademische Karriere waren kaum weniger irrational als die Lehrstrukturen während des Studiums. So entstand rasch eine Abhängigkeit des Einzelnen von seinem akademischen Lehrer, der in der Regel die Weitergabe des Eigenen und damit dessen Nachfolge gegenüber einer kritischen Auseinandersetzung und argumentativen Abgrenzung bevorzugte. Dass dabei ein ganzes Netz von Beziehungen entstand, das Karrieremuster oft weit mehr zu prägen schien als die Überzeugungskraft der tatsächlichen wissenschaftlichen Arbeit, hat Wolfgang Weber schon 1984 unter dem Titel »Priester der Klio« für die historischen Wissenschaften herausgearbeitet.1 Damit diese Kategorie einer wissenschaftlichen Schule von außen sichtbar ist, bedarf es eines spezifischen medialen Verhaltens. Zunächst muss in den Arbeiten der Jüngeren das Werk des Älteren als Maßstab für den eigenen Ansatz oder den eigenen narrativen Stil angegeben werden. In der Regel geschah dies im 19. Jahrhundert durch einen Sprachduktus der Verehrung, die dem akademischen Lehrer als einem »Meister« entgegengebracht wurde. Dies kulminierte in einer Kultur der Festschrift, in der, wenn es gut lief, die akademische Wirkung des Geehrten sich in der Heterogenität der Beiträge widerspiegelte. Die Arbeiten der Schüler präsentierten sich als Weiterführungen, nicht aber als Gegenentwürfe. Wie intensiv es dabei um Machtstrukturen geht, bei der der jeweils eigene Ansatz monolithisch gegen Alternativen verteidigt wird, lässt sich sehr gut am Beispiel der Psychoanalyse studieren. Sigmund Freud war immer darauf bedacht, durch die Bildung eines inneren Zirkels, der sich über die Treffen der 1902 gegründeten »Psychologischen Mittwochsgesellschaft« formierte, jede Abweichung als Ketzerei auszuschlie1
Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft 1800–1970 (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Bd. 216), Frankfurt a. M. 1984.
ßen, was besonders Alfred Adler und Carl Gustav Jung zu spüren bekamen – die dann ihrerseits analoge Schulen begründeten. Diese institutionell und medial geführte Auseinandersetzung um die richtige Lehre im Rahmen eines Paradigmas prägte die Geschichte der Psychoanalyse in den kommenden Jahrzehnten und führte nicht zuletzt zur lautstarken und für den Poststrukturalismus folgenreichen Abspaltung der Lacan-Schule. Stefan Haas — Begrenzte H albwertszeiten
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Mit dem zunehmenden Ausschleichen patriarchalischer Strukturen aus den Wissenschaften zum Ende des 20. Jahrhunderts, von oben erwähnten Ausnahmen abgesehen, verlor nicht nur die Festschrift, sondern auch der auf eine Person fokussierte Begriff einer Schule nach und nach an Bedeutung. Nach der Jahrtausendwende konnte dann ein kritisches Blatt wie die taz zum Lieblingsmedium der personalen Schule anmerken: »Festschriften sind obszöne Veranstaltungen. Da wird einer zur Festsau erklärt, um ihn anschließend am Spieß zu braten. So funktioniert der Wechsel akademischer Generationen: Den Ehrenplatz in den Festschriftregalen gibt es, damit man endlich Platz macht für seine Schüler.«2 Seit den 1990er Jahren schien in Deutschland die Bildung personeller Abhängigkeiten im Sinn des »Habens« einer Schule nicht mehr opportun. Letztlich ist dies immer auch ein Versuch gewesen, die jüngeren Generationen nicht ernst zu nehmen oder ihre Kreativität und Arbeit zu vereinnahmen. Als der Zeitgeist sich zum Ende des 20. Jahrhunderts drehte, war es beispielsweise verpönt, Nachwuchswissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen auf Tagungen dadurch vorzustellen, dass man angab, bei wem sie ihre Dissertation gerade anfertigten oder angefertigt hatten. Das war fast schon eine Revolution, aber die eigentliche war, dass junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen überhaupt reden durften. Was im angelsächsischen Raum längst üblich war, wurde in Kontinentaleuropa nach und nach denkbar. Anfangs gab es noch separate Veranstaltungen, die nicht ohne die zu erwartende Ironie auskamen. Der Verfasser hatte das Privileg, auf dem ersten »Tag des wissenschaftlichen Nachwuchses« der Universität Münster im Jahr 1997 den ersten Vortrag zu halten – nur um sich, froh, mehrere Jahre nach der Dissertation endlich auch einmal etwas sagen zu dürfen, im ersten Kommentar aus dem Publikum anzuhören, dass es doch nicht einzusehen sei, dass Studierende hier nicht vortragen dürften. Die soziale Wirklichkeit mit ihren Ansprüchen hatte das institutionelle Verhalten an deutschen Universitäten längst überholt. Heute ist das kaum noch nachvollziehbar. In weniger als zwanzig Jahren hat es sich so weit entwickelt, dass man als Doktorand oder Doktorandin nicht nur eine Konferenz veranstalten, einen Sammelband herausgegeben, auf solchen Tagungen eigenständig auftreten und unter dem eigenen Namen publizieren darf, (fast) muss man es eigentlich sogar, strebt man eine akademische Karriere an. Nicht immer, aber doch auffallend oft, geschieht dies mittlerweile ohne den klassischen »Stallgeruch«. Dazu hat auch und nicht zuletzt die Veränderung des Kommunikationsverhaltens und der Medien beigetragen. Im Zeitalter des klassischen Briefes waren Nachwuchswissenschaftler gezwungen, darauf zu warten, dass eine
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2 Fritz von Klinggräff, In Paradoxien und Parataxen, in: die tageszeitung, 17. 10. 2001.
Brotkrume vom Tisch des Professors zu ihnen heruntergereicht wurde. Sie standen nicht auf irgendwelchen Adressenlisten, waren nicht Mitglieder in Fachverbänden und hatten in nur geringem Maße die Möglichkeit, sich ein Informationsnetzwerk aufzubauen. Mithilfe der digitalen Medien kann man sich selbstständig (und ohne professorale Erlaubnisunterschrift) auf eine Mailingliste setzen, bekommt Informationen über anstehende Vortrags- (eher öfters) und Publikationsmöglichkeiten (eher peripher, meist bei neuen Online-Journalen, die noch nicht über einen Stamm von Beitragenden verfügen) und kann sich bewerben. Ob man dann genommen wird, das hängt dann manchmal immer noch davon ab, woher man kommt. Zunehmend geht es aber um die Qualität der eingereichten Vorschläge. Manchmal hängt es auch davon ab, zu welcher (wissenschaftstheoretischen) Richtung man gehört – und in gewisser Weise kann man dies auch eine Schule nennen. Dies ist der zweite Schulbegriff, der für die Wissenschaften relevant ist. Hier geht es nicht primär um Weitergabe, sondern darum, einen starken Auftritt herzustellen. In der Philosophie vermischen sich diese beiden Begriffe einer Schule häufig, was man schon an der Benennung als »Hegelianer« oder »Marxisten« ablesen kann, die den Schulgründer im Namen führen. Ein entscheidender Unterschied ist dabei, dass man nicht tatsächlich der akademische Schüler dieser Person gewesen sein muss. Das Verhältnis in solchen Schulen ist insofern entpersonalisierter. In den meisten Geisteswissenschaften ist es ein institutionalisierbarer Ort, eine Stadt, eine Region, eine Zeitschrift, eine Tagungsreihe, die für die Namensgebung herangezogen wird. Häufig kommen diese Bezeichnungen von außen, wollen eine rebellisch auftretende Gruppe aus- und abgrenzen, die diesen Namen dann selbst übernimmt. Denn eine Schule bietet ihren Mitgliedern zunächst eine Fülle von Vorteilen: Die Vielzahl von Personen in einer Schule führt zu einer höheren Aufmerksamkeit und gibt den von dieser Schule vertretenen Ansichten im öffentlichen Diskurs ein höheres Gewicht. Auch nach innen wirkt eine solche Schule stärkend, insofern sie dem Einzelnen das Gefühl vermittelt, Teil einer von vielen geteilten und damit starken Idee zu sein. Meist haben solche Schulen auch ihre expliziten Gegner, die wesentlich an der Definition einer Schule beteiligt sind, denn oft ist es gerade die Ausgrenzung, die erst zur Schulbildung führt. Das war im 19. Jahrhundert etwa bei der Historischen Rechtsschule so, die sich gegen die vorherrschende Naturrechtslehre stemmte, oder bei den Junggrammatikern. Der Begriff war zunächst ein Schimpfwort der Älteren für eine Gruppe nicht gerade bescheiden auftretender Linguisten in Leipzig. Diese übernahmen dann den Begriff und kehrten den negativen in einen positiven Sinn um. Ein Prinzip, das man auch aus der Kunstgeschichte, etwa von den Impressionisten, kennt. Stefan Haas — Begrenzte H albwertszeiten
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In der Regel brauchen diese Schulen, besonders außerhalb der Philosophie, eine mediale Institutionalisierung, um wahrgenommen zu werden. Die einflussreiche französische Annales-Schule ist nach der Zeitschrift benannt, die Marc Bloch und Lucien Febvre 1929 gründeten. Erst später und dann wiederum im Blick von außen bezeichnete der Begriff das Portfolio einer neuen Art, Geschichtswissenschaft zu betreiben. Die Bielefelder Schule, auch ein Begriff, der ihr von außen gegeben wurde, hat mit der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft und der Buchreihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« periodische Publikationsorgane geschaffen, die es nicht nur den Gründern, sondern auch ihren Schülern erlaubten, sich innerhalb der Gruppenkommunikationswege rasch öffentlich zu positionieren. Die wechselseitige Bezugnahme ist dabei wesentlich für die Konstituierung einer Gruppe als Schule. Diese Selbstkonstitution als Zitierkartell wiederum erlaubt dann erst die Wahrnehmung einer Gruppe als in sich kohärent. Und nicht zuletzt bedarf es eines gemeinsames Gegners, wobei es weniger darum geht, diesem gerecht zu werden, sondern im Sinn eines Otherings ein Konstrukt aufzubauen, das die eigene Identität überhaupt erst schafft, und über so manche interne Differenzen und Unterschiede hinwegsehen lässt. Manche Schulen folgen auch dem Zufall, dass an einem Ort mehrere Personen zusammenkommen, deren Arbeitsweise sich ähnelt. Die Toronto School hatte zwar mit Harold Innis eine Art Gründungsvater, mit Eric A. Havelock und Marshall McLuhan lehrten aber zeitgleich Professoren an der kanadischen Universität, die sich dem Theorem verschrieben hatten, dass Medien zentral sind für die Konstituierung der menschlichen Lebenswelt. Auch die Bielefelder Schule formierte sich über dieses Zusammentreffen von Wehler, Kocka, Koselleck, Pollard u. a., die dann im regelmäßigen Austausch etwas schufen, das sich von außen als Schule wahrnehmen ließ. Schule ist hier ein Etikett, das Zugehörigkeit zu einem In-Theorem, -thema oder -stil signalisiert oder auch nur den Anspruch erhebt, ein solch modisch-aktuelles Etwas gefunden zu haben. Dieses wiederum sichert dann eine erhöhte Aufmerksamkeit und Überzeugungskraft für die Arbeiten des Einzelnen. Durch die Cultural Turns und den damit verbundenen Theory Turn der 1990er Jahre sind nun Fragen nach der theoretischen Ausrichtung in den Mittelpunkt geraten. In gewisser Weise könnten sich auch darauf wiederum Schulen bilden. Dass dies nicht geschieht, liegt daran, dass man heute Theorien wechseln kann wie das Hemd. Wenn bei einer Forschungsfrage der Fokus auf Diskurse weiterhilft, mithin auf nicht wirklich greifbare, sprachliche Gebilde, die untereinander ein Netzwerk von Bedeutungen etablieren, so kann es in der Folgestudie opportun sein, die Materialität der Dinge zu
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thematisieren und zur methodischen Grundlage zu erklären, also etwas, das jenseits des Diskurses liegt. Gedeckelt wird dies dann vom Begriff der kulturwissenschaftlichen Ansätze – und die sind so bunt, vielfältig und heterogen, dass sie nicht wirklich eine Schule darstellen. Dazu fehlen ihnen die institutionelle Engführung und die Benennung eindeutiger Gegner. Aber das Unbehagen an dieser Situation wächst. Denn die Möglichkeit, für sich und seine eigene Arbeit schon jung einzustehen, bedeutet eben auch, dass es keine schützende Hand oder einen schiebenden Ellenbogen gibt. Und niemanden, der Jüngere vor Kritik mit der Souveränität des eigenen Standings bewahrt. Schulen geben schließlich auch sozialen Halt. Sie gestatten, die akademische Welt in Zugehörige und Außenstehende einzuteilen, und erlauben, sich rasch zu orientieren und Verbindungen aufzubauen. Und sie steuern die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien. Das gilt für die Wissenschaften wie für andere kulturelle Bereiche. Eine Neue Leipziger Schule der Malerei lässt sich leichter journalistisch ausdeuten als einzelne Künstler. Aber Schulen haben ohnehin eine begrenzte Halbwertszeit von zwei, höchstens drei Generationen. Dann verblasst die Erinnerung an den Meister oder das leitende Paradigma wird von der wissenschaftlichen Weiterentwicklung überholt. Wenn es mal vier Generationen sind, wie bei der französischen Annales Schule, handelt es sich nur noch um einen lose gekoppelten Verbund, der an einer stabilen Institution, in diesem Fall an einer Zeitschrift, hängt. Jede der vier Generationen ist aber einzeln identifizierbar und vertritt jeweils neue Theoreme und Stile. Der Preis für mehr Selbständigkeit und den Verzicht auf Schulzugehörigkeit ist hoch. Schulen dienen der sozialen Markierung und der theoretischen Verortung. In beiden Fällen sichern sie eine höhere mediale Aufmerksamkeit von außen und begründen nach innen das Gefühl, nicht eine solipsistische Monade im endlosen Gewaber wissenschaftlicher Diskursaktivität zu sein. Aber es gibt auch die andere Seite: Wer die Enge der alten akademischen Welt nicht erlebt hat, wird vielleicht nicht ermessen können, wie groß der Vorteil ist, den jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen heute haben, wenn sie für sich selbst unter ihrem Namen für ihre eigene Arbeit einstehen können und einer Schulzugehörigkeit nicht bedürfen. Aber ist das noch ein Vorteil für eine jetzt junge Generation, die in einer Welt ständiger Vernetzung lebt? Einer Generation, deren treuester Begleiter das Smartphone und mit diesem die Twitter- und Facebook-Apps sind. Und der selbst Blogs nicht mehr schnell genug sind, um neue Ideen und Erfahrungen zu kommunizieren. Die in eine Wissenschaftswelt hinein sozialisiert wird, in der die Buchpublikation, von den traditionell störrischen Geistes- und Sozialwissenschaften abgesehen, Stefan Haas — Begrenzte H albwertszeiten
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allein schon deswegen als veraltet gilt, weil die dort zu publizierenden Ergebnisse bis zur Veröffentlichung schon längst überholt sein könnten. Die alles, und sei es noch die unbedeutendste und austauschbarste Erfahrung, sofort in die digitale Welt hinaus kommuniziert, in der sich das digitale Gefolge in Gestalt von Like-Buttons und Followern mehr automatisch denn intentional anschließt. Aber es ist gerade diese Generation, die an einem neuen Schulbegriff arbeiten könnte, an einer Ordnung der akademischen sozialen Welt in Zugehörige und Außenstehende, die die Kraft der Argumente und der Intensität der empirischen Forschungsarbeit auch in der Anzahl der Aufrufe und der Zahl der Klicks auf den Like-Button bemisst. Und die auf dieser kommunikativen Praxis Zusammengehörigkeiten markiert. Ein Button mit der Aufschrift »we belong together« und der automatischen Benennung einer Gruppe ab zwanzig Mitgliedern als Schule wären da nur die nächsten logischen Schritte. So sehr die digitalen Medien zum Ende des klassischen Schulbildungszeitalters in den Wissenschaften durch Mailinglisten und einfachen Zugang zur digitalen Öffentlichkeit durch offene Kommentarfunktionen und Chats beigetragen haben, so sehr erlauben sie andererseits die rasche, wenn auch medial neu gestaltete Bildung von In- und Outgroups, die sich leicht zu einer neuen Art Schule verdichten kann. Digitale Medien würden dann auch erlauben, neue Texte zunächst unter jenen kursieren zu lassen, die sich als zusammengehörige Gruppe definieren und dadurch könnte gewährleistet werden, dass man angesichts der Pluralität von theoretischen Konzeptionen nicht immer sofort in Grundsatzdebatten verwickelt wird. Und es erlaubt, Ideen und Textpassagen zu kommunizieren und auszutauschen, die noch nicht völlig druckreif sind – und das in größerem Maße, als dies im Rahmen einer Gruppe von persönlich Bekannten im näheren Umfeld geschieht. Insofern bieten die digitalen Medien jungen Wissenschaftlern eine Fülle von Möglichkeiten, Gruppenbildungsprozesse zu initiieren, die ihrem geänderten Sozial- und Kommunikationsverhalten entsprechen – und falsch wäre es nicht, wenn dies auch als eine Möglichkeit gesehen würde, traditionell aufgestellte wissenschaftliche Schulen zu öffnen und damit zu dynamisieren. All dies geschieht derzeit noch nicht. Vielleicht ist, solange es um die prinzipiell prekären weil zu knappen Ressourcen Forschungsgelder, Reputation und Aufmerksamkeit geht, Vorsicht und Zurückhaltung immer noch der bessere Weg. Es ist auch nicht leicht, eine sich als Schule definierende Gruppe vorzustellen, die untereinander mit Avataren kommuniziert, um in einer kurzzeitigen Anonymität Kreativität und Argumentationskraft statt symbolisches Kapital wirksam werden zu lassen. Immerhin bieten die digitalen Medien Möglichkeiten, den Begriff
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der akademischen Schule neu zu definieren – und Probleme gibt es genug, die über einen solchen Prozess zu lösen wären. Besonders jenen der zunehmenden Isolierung des Einzelnen im komplexen wissenschaftlichen Netzwerk. Die Zugehörigkeit zu einer Schule könnte eine freie Entscheidung sein und nicht mehr eine Folge der vermeintlichen Gnade, als Schüler aufgenommen zu werden, um den Preis, über seine akademische Qualifikationsarbeit nicht mehr selbst verfügen zu können. Die digitalen Medien bieten hier eine Fülle von Optionen, die noch nicht hinreichend genutzt werden. Aber auch für solche neuen wissenschaftlichen Schulen des 21. Jahrhunderts würde sich eines nicht ändern: Alles beginnt mit einer neuen rebellischen Idee – und die muss erst einmal formuliert werden.
Stefan Haas, seit 2008 nach Stationen in Münster und Toronto Professor für Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft und Direktor des Zentrums für Theorie und Methoden der Kulturwissenschaften an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte liegen in der interdisziplinären Theoriebildung, der Digital Humanities sowie der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
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FORM UND FUNKTION DAS DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS DER KÖLN-MANNHEIMER SCHULE ΞΞ Ellen Thümmler
DIE ANALYSE DER POLITISCHEN FORM ALS WISSENSCHAFTLICHES SELBSTVERSTÄNDNIS Eine Gesamtdarstellung zur »Kölner«- oder »Köln-Mannheimer-Schule« innerhalb der deutschen Politikwissenschaft fehlt. Mit den Kriterien des Konzepts der wissenschaftlichen Schule – von Hubertus Buchstein1 mit einer »speziellen Form der sozialen Organisation« und einem »Mindestgrad an kognitiver Kohärenz« umschrieben – muss noch überprüft werden, ob die Berufung von Ferdinand Aloys Hermens (1906–1998) auf den vorher von Heinrich Brüning besetzten Lehrstuhl für Politische Wissenschaft 1959 in Köln tatsächlich schulbildend gewesen ist. Schließlich fehlt auch eine ausführliche Selbstdarstellung. Werner Kaltefleiter (1937–1998) charakterisierte die Traditionen mit wenigen Stichworten: Hermens habe »verfassungspolitische Ansätze zu einer allgemeinen Demokratietheorie« geliefert, »indem er die kanalisierenden und weichenstellenden Wirkungen von politischen Institutionen für das politische Verhalten herausarbeitete.«2 Auf der Suche nach den »objektiven Grundlagen«3 für eine stabile Demokratie mit den Mitteln einer Wissenschaft von der ökonomischen und politischen Ordnung stehe er nicht nur in der Tradition seines Doktorvaters Joseph Schumpeter, sondern in der einer Wirtschaftsordnungspolitik Walter Euckens oder A lfred MüllerArmacks.4 Der studierte Nationalökonom habe sich in der Verbindung von
1 Hubertus Buchstein, Wissenschaft von der Politik, Auslandwissenschaft, Political Science, Politologie. Die Berliner Tradition der Politikwissenschaft von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik, in: Wilhelm Bleek u. Hans J. Lietzmann (Hg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 183–212, hier S. 183. 2 Werner Kaltefleiter, Schüler der Geschichte. Zum Tode des Politologen Ferdinand Hermens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 02. 1998. 3 Ferdinand A. Hermens u. Helmut Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 8 (1967), S. 2–22, hier S. 2.
analytischer und empirischer Forschung, besonders zu Wahlrechtsfragen, verdient gemacht und darin den Blick auf institutionelle und verhaltensorientierte Faktoren gelegt.5 Als Direktor des Seminars für Politische Wissenschaft sowie später als Direktor des Forschungsinstituts für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen gab er zahlreiche Schriftenreihen heraus, darunter: »Demokratische Existenz heute«, »Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit«, »Kölner Schriften zur Politischen Wissenschaft« sowie »Demokratie und Frieden«. Darin entblättere sich ein originäres Fachverständnis im »Konzept der politischen Form«, das die Politikwissenschaft auf ein »Denken in Systemzusammenhängen« konzentriert und als empirische Sozialwissenschaft stärkt.
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INDES, 2014–3, S. 44–51, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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4 Vgl. Werner Kaltefleiter, Die Kölner Schule für Politische Wissenschaft, in: Vera Kaltefleiter-Gemmecke (Hg.), Im Kampf für Frieden und Freiheit. Ferdinand A. Hermens 65 Jahre, Köln 1972, S. 19–24. 5 Vgl. Werner Kaltefleiter, Politische Form, in: Rudolf Wildenmann (Hg.), Form und Erfahrung. Ein Leben für die Demokratie, zum 70. Geburtstag von Ferdinand A. Hermens, Berlin 1976, S. 173–180.
Das Primat der politischen Form wie die methodische Präzisierung ihrer Analyse sind Ausweis dieser »Kölner Schule« innerhalb der Politikwissenschaft auch für die nachfolgenden Generationen.6 Jene Verbindung von Form und Funktion generiert ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das – als Leitlinie politikwissenschaftlichen Forschens verstanden – zum Gerüst thematischer Traditionen wird. Die knappe Vergegenständlichung dieser Leitlinie ermöglicht, sich nur stichwortartig den Schwerpunkten der »Kölner Schule« anzunähern, ohne dem Anspruch der Kohärenz zu genügen. Es bleibt zu fragen, welche Themen und Forschungsschwerpunkte die Wissenschaftler umtrieben. Neben dem Selbstbild als Demokratiewissenschaft7 in ihren Gründungsjahrzehnten lässt sich dahinter auch ein Wandel von der Wahlsystem- zu einer Wahlverhaltensforschung und ihren sozialstrukturellen Einflussgrößen ab Mitte der 1960er Jahre erkennen. Hier wird Politikwissenschaft zur »Sozial6 Vgl. Kaltefleiter, Die Kölner Schule für Politische Wissenschaft, S. 19–24. 7
Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politik wissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 265–307.
technologie« – von »Ingenieuren der Gesellschaft«8 betrieben – und orientiert sich an einer sachgerechten Politik. Dennoch enthält sie innere, stets in den Begriffen von Form und Funktion mitgeführte, normative Prinzipien von Stabilität, Integration und politischer Mäßigung, auch wenn diese inhaltlich weitgehend unbestimmt bleiben. Ihren Science-Charakter gewinnt die Politikwissenschaft mit ihrer Fähigkeit zur politischen Deutung. Sie wird auf die Formulierung von »Wenn-Dann-Sätzen« verdichtet. Funktionale Beziehungen
8 Werner Kaltefleiter, Politik als Gestaltungschance. Anmerkungen zur Arbeit der Enquetekommission zur Verfassungsreform, in: Uwe Barschel (Hg.), Festschrift für Helmut Lemke zum 70. Geburtstag, Neumünster 1977, S. 126–136, hier S. 128.
innerhalb politischer Institutionen können mithilfe moderner Datenanalyse aufgedeckt werden. Dies schließt dem Mannheimer Politologen Rudolf Wil denmann (1921–1993), der wie Kaltefleiter in Köln habilitiert wurde, zufolge ein, über eine »Theorie des Regierens« nachzudenken.9 Auf die Bedeutung des Wahl- und Parteiensystems für die Stabilität einer politischen Ordnung wies Hermens früh hin, machte er doch im Zuge des
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Rudolf Wildenmann, Wahlsysteme und Demokratie, in: ders., Form und Erfahrung, S. 223–235, hier S. 226.
Vgl. Ferdinand A. Hermens, Demokratie und Wahlrecht. Eine wahlrechtssoziologische Untersuchung zur Krise der parlamentarischen Regierungsbildung, Paderborn 1933; vgl. Joachim Detjen, Ferdinand A. Hermens (1906–1998), in: Eckhard Jesse u. Sebastian Liebold (Hg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 347–360.
Scheiterns der Weimarer Republik gerade das Wahlsystem hierfür verantwortlich.10 Nach seiner Emigration wirkte er ab 1938 zunächst als Associate, ab 1945 dann als Full Professor für Politische Wissenschaft an der Notre Dame University, Indiana. Dabei hielt er an einem Mehrheitswahlrecht und einem Zweiparteiensystem als integrativen formalen Faktoren fest. Dies war Teil seiner Forschungen zu den Stabilitätsbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates, die er nach Köln überführte. Rudolf Wildenmann und Werner Kaltefleiter, später Kollegen, gelten als besonders enge »Schüler«, die aus diesem Zentrum für Wahl- und Parteienforschung innerhalb der jungen Politikwissenschaft in der Bundesrepublik hervorgingen. Nach einer kaufmännischen Ausbildung und der Kriegsgefangenschaft in Kanada studierte Wildenmann Sozialwissenschaften in Heidelberg. Ellen Thümmler — Form und Funktion
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Auf seine dortige Promotion folgte die Habilitation in Köln.11 Gemeinsam mit Erwin K. Scheuch und Gerhard Baumert entwickelte er ab 1960 eine empirische Studie zur Bundestagswahl 1961.12 Nachdem Wildenmann 1964 an der Universität Mannheim zum Professor für Politikwissenschaft ernannt wurde, begründete er dort das Zentrum für Umfrage, Methode und Analyse (ZUMA) und die Forschungsgruppe Wahlen e. V. mit. In späteren Jahren zählte die Elitenforschung zu seinen Schwerpunkten. Der 1971 als Professor für Politische Wissenschaft an die Universität Kiel berufene Werner Kaltefleiter wurde in Köln promoviert und habilitiert. Bis 1975 blieb er Leiter des Sozialwissen13
schaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer-Stiftung in der Domstadt. Neben seiner wissenschaftlichen Beratertätigkeit für die CDU rang Kaltefleiter 1980 um ein Bundestagsmandat. Später widmete er sich stärker der internationalen Sicherheitspolitik.14 DIE POLITISCHE ORDNUNG VERSTEHEN: DIE BEDEUTUNG DES WAHLSYSTEMS Welches Gewicht formale Faktoren wie das Wahlsystem für die Funktionsfähigkeit einer politischen Ordnung haben, betonte Hermens mit Blick auf die Weimarer Republik in der These, dass die Verhältniswahl einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Untergang geleistet habe. Darin kritisierte er einen politischen Pluralismus und die Formierung von Interessengruppen, die nur zu einer Zersplitterung der politischen Landschaft und zur Lähmung der politischen Ordnung beigetragen hätten.15 Die Kraft zur Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse liegt in den Händen der Politik – beim Parlament als Verfassungs- und Gesetzgeber. Politiker seien zentrale Akteure, die aufgrund ihrer Fähigkeit zur Kommunikation mit den Wählern und einer sachverständigen Politik eine Zukunftsaufgabe verwirklichten. Die demokratische
11 Vgl. Rudolf Wildenmann, Partei und Fraktion. Ein Beitrag zur Analyse der politischen Willensbildung und des ParteienSystems in der Bundesrepublik, o. O. 1952; ders., Macht und Konsens als Problem der Innenund Außenpolitik, Frankfurt a. M. 1963. 12 Die Forscher untersuchten wechselhaftes Stimmverhalten und überraschten mit dem Ergebnis, dass bei einer relativen Mehrheitswahl bereits 1961 die Chance für einen Machtwechsel bestanden habe, vgl. Erwin K. Scheuch u. Rudolf Wildenmann (Hg.), Zur Soziologie der Wahl, Köln 1965. 13 Vgl. Werner Kaltefleiter, Funktion und Verantwortung in den europäischen Organisationen. Über die Vereinbarkeit von parlamentarischem Mandat und exekutiver Funktion, Köln 1963; ders., Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, Köln 1970. 14 Zur wissenschaftlichen Biografie vgl. Katia H. Backhaus, Zwei Professoren, zwei Ansätze. Die Kieler Politikwissenschaft auf dem Weg zum Pluralismus (1971– 1998), in: Wilhelm Knelangen u. Tine Stein (Hg.), Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel, Essen 2013, S. 427–474.
Verfassung bilde das Grundgerüst der politischen Form. Ihre funktionalen Prinzipien seien politische Stabilität (Bildung und Erhalt der Macht als Befähigung zur Regierung), Mäßigung und Integration kritischer Stimmen in die demokratische Mitte. Dies solle die »sinnvolle Formung gesellschaftlicher Kräfte« ermöglichen.16 Mit dem Gestus des akademischen Beobachters warnte Hermens einerseits davor, in eine »Politik der Unpolitischen« zu verfallen, d. h. das gerade errichte Grundgesetz nicht weiter mit Leben zu fül-
15 Vgl. Ferdinand A. Hermens, Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, Köln 1968, S. 2 u. S. 226. 16 Vgl. ders., Der Proporz als Verhängnis der Bundesrepublik, in: Neues Abendland, Jg. 7 (1952) H. 4, S. 193–200, hier S. 200.
len, andererseits die politischen Fehler auf dem Weg zur »nationalsozialistischen Tyrannis« zu wiederholen. Die Erfolge der NPD in Landtagswahlen ab 1966 bestätigten die Weimarer Erfahrungen. Die befürchteten »Risse in der Bonner Verfassungskonstruktion« sollten mit einer relativen Mehrheitswahl, aus der sich ein Zwei- oder Dreiparteiensystem formiert, gekittet werden.17
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17 Die Diskussion um ein solches Zwei-Parteien- oder Zwei-Gruppen-System führten Hermens und seine Mitarbeiter auch mit der Forschergruppe um Dolf Sternberger in Heidelberg.
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Politische Stabilität zu erhalten und den Wechsel tragender Regierungsmehrheiten zu garantieren, bedeutete, nicht der »Romantik des Radikalen« zu verfallen, sondern eine realistische und funktionsgerechte Analyse anzustreben. Die Verhältniswahl begünstige die »Parteienzersplitterung« durch ihre »inneren Defekte«: Wenn alle Parteien im Verhältnis der abgegebenen Stimmen im Parlament vertreten seien, erleichtere dies auch den Weg für »koalitionsunwillige« Gruppen, die eine stabile Regierungsmehrheit verhindern, gar das Parlament zerstören wollen.18 So beschwor Hermens eine Wahlrechtsreform im Rahmen der Großen Koalition ab 1966, um den »verfassungspolitischen Immobilismus« zu beenden.19 Die funktionalen Anforderungen an Parteien als zentralen Vermittlern politischer Interessen lieferte er gleich mit: Sie sichern eine stabile parlamentarische Mehrheit durch das Gegenüber von Regierung und Opposition. Sie fördern ein ausgeglichenes Verhältnis von sachverständigen Parlamentariern und geeigneten politischen Führern, die den Konsens innerhalb der Bürgerschaft widerspiegeln.20
18 Vgl. Hermens u. Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, S. 8–13. 19 Ferdinand A. Hermens, Sicherung, Ausbau und Verankerung des parlamentarischen Systems in Deutschland, in: Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1972, Teil 1, S. 5–82.
Seine Forderung an die Politikwissenschaft lautete daher nur folgerichtig, mittels wissenschaftlicher Beobachtung Argumente für eine Wahlreform zu liefern. Politische Beratung als Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Politikern war nicht nur mit dem von allen geteilten Wert einer stabilen De-
20 Vgl. Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: ders., Regieren im modernen Staat, Tübingen 2000, S. 142–168.
mokratie begründet, sondern darüber hinaus mit der Einführung des Mehrheitswahlrechts verbunden, die jene politischen Gesetzmäßigkeiten referierte. Aus dieser Leitlinie ergaben sich weitere Forschungsfragen, die die »Schüler« von Hermens aufnahmen: 1. Die Differenzierung von Wählergruppen und Wahlthemen in der »Schönwetterdemokratie«21 vorantreiben: Rudolf Wildenmann und Werner Kaltefleiter hielten an den Prämissen von Stabilität und Mäßigung fest und verfeinerten die Wahlprognosen. Sie verbanden den Überblick über das deutsche Parteiensystem – auch die europäischen Nachbarländer einschließend – mit der Analyse von Institutionen und Kommunikationsprozessen innerhalb der föderalen Ordnung. Sie erneuerten die zentrale Bedeutung von Wahlsystemen wie das Votum für ein Mehrheitswahlrecht.22 Schließlich sei das Wahlsystem das »Werkzeug des Wählers beim Wählen«, um seinem Auftrag zur Gestaltung der Politik zu folgen bzw. die Freiheit in der Demokratie zu sichern.23 Sie übernahmen die Praxis, aus einer empirischen Untersuchung verschiedener Wahlsysteme normative und rechtspolitische Schlussfolgerungen abzuleiten. So gewinne die demokratische Wahl ihre »formal-legitimierende Funktion« aus der Verteilung von Wählerstimmen in Mandate.24 Dies schließe ein, vor dem Verlust an politischer Führung durch schwierige Koalitionsverhandlungen in einem Vielparteiensystem zu warnen. Die Verhältniswahl wiederum
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21 Zum »Schönwetter-Wahlsystem« vgl. Helmut Unkelbach u. Rudolf Wildenmann, Grundfragen des Wählens, Frankfurt a. M. 1961, S. 32. 22 Vgl. Rudolf Wildenmann u. a., Auswirkungen von Wahlsystemen auf das Parteienund Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Scheuch u. Wildenmann, Zur Soziologie der Wahl, S. 74–112. 23 Vgl. Unkelbach u. Wildenmann, Grundfragen des Wählens, S. 9 u. S. 18. 24 Wildenmann u. a., Auswirkungen von Wahlsystemen, S. 74. Zur Einordnung der Wahlsystemdiskussion vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985.
25 Unkelbach u. Wildenmann, Grundfragen des Wählens, S. 27. 26 Vgl. Helmut Unkelbach u. a., Wähler, Parteien, Parlament. Bedingungen und Funktionen der Wahl, Frankfurt a. M. 1965. Helmut Unkelbach (1910–1968) forschte als Mathematiker in Bonn auch zu Fragen des Wahlrechts. 27 Vgl. Jahrbuch für Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1973, Teil 2: Das labile Gleichgewicht. Das amerikanische Regierungs system nach den Wahlen von 1972, Köln 1974. 28 Vgl. Kaltefleiter, Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in: ders. u. a., Wähler, Parteien, Parlament, S. 148–168.
sei »geistesgeschichtlich das Produkt eines mechanistischen Weltbildes und einer radikal-ideologischen Vorstellung von Demokratie«, welche »Gerechtigkeit« als direkte Abbildung der Wählerstimmen im Parlament definiere.25 Sie folgten darin der akademischen Aufgabenstellung, Wahlsysteme nicht bloß als Rechentechniken oder -spiele zu sehen, sondern nach ihrer mehrheitsbildenden Funktion im Sinne eines demokratischen Gemeinwohls zu fragen. 2. Die funktionale Analyse des Parteiensystems ausbauen – dies mit Blick auf die Wahl geeigneter politischer Führer und Sachwalter, die Vermittlung politischer Inhalte sowie ihre Funktion als Lehrer und Erzieher durch sachgerechte Gesetzesinitiativen:26 Im Rhythmus der Landtags- und Bundestagswahlen veröffentlichten die Autoren Analysen zur Parteienentwicklung in Deutschland, betrachteten aber auch den internationalen Wandel.27 Demokratische Stabilität und Integrationskraft blieben als höchste Kriterien erhalten und wurden in einer zunehmenden Konzentration des deutschen Parteiensystems ab 1961 beobachtet. Besonders 1965 wird ihre Kritik an Koalitions-
29 Vgl. ders., Wähler und Parteien in den Landtagswahlen 1961–1965, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 12 (1965) H. 3, S. 224–250, hier S. 245.
regierungen deutlich, die eine handlungsfähige und auf politischen Konsens
30 Vgl. Rudolf Wildenmann, Volksparteien – Ratlose Riesen?, Baden-Baden 1989, hier S. 220– 222; Werner Kaltefleiter, Politik ohne Führung. Zur Situation des deutschen Parteiensystems nach den Landtagswahlen von 1970 und 1971, in: Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1972, Teil 1, S. 83–105.
Garant dieser Stabilität.29 Wie ein wachsender »Vertrauensverlust« der Wähler
orientierte Regierungstätigkeit verhindern würden.28 Ein Parteiensystem bestehend aus SPD und CDU/CSU sowie der FDP als Puffer bzw. ausschlaggebender Faktor für eine Regierungsbildung war für beide Politikwissenschaftler in Parteien und Politiker gestoppt werden könne, ist eine spätere Fragestellung von Wildenmann, der in einem organisatorischen Wandel von Parteien nicht sofort ein Moment politischer Instabilität erblickte, sondern dessen weitere Erforschung betonte.30 3. Die politische Form der Verfassungsordnung abklopfen: So warnte Kaltefleiter vor Rollenkonflikten im Amtsverständnis des Bundespräsidenten
31 Vgl. Kaltefleiter, Die Funktionen des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie, S. 14.
und stärkte eine funktionale Perspektive von der politischen Wirklichkeit auf
32 Vgl. Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik, S. 6–9.
schen Regierungssystems zu erhalten. Zunehmend werde der Staat nicht mehr
33 Vgl. Rudolf Wildenmann u. Werner Kaltefleiter, Funktionen der Massenmedien, Frankfurt a. M. 1965. 34 Vgl. Ferdinand A. Hermens, Demokratie und Kapitalismus. Ein Versuch zur Soziologie der Staatsformen, München 1931; ders., Der Staat und die Weltwirtschaftskrise, Wien 1936.
das Grundgesetz.31 Wildenmann wiederum analysierte die Funktionen des Grundgesetzes mit dem Ziel, die Struktur und Stabilität des parlamentarinur als »politisch-formatives Ordnungselement« begriffen, sondern seine Demokratisierung gefordert.32 Zugleich untersuchten beide Autoren die Funktionen von Medien als kommunikativen Mittlern im demokratischen Raum.33 4. Den Zusammenhang von ökonomischer Prosperität und politischer Stabilität erkennen: Bereits früh hatte Hermens auf die Veränderungen des Wählerverhaltens in wirtschaftlichen Krisen hingewiesen.34 Auch der Aufschwung in der Bundesrepublik versprach keine dauerhafte Zufriedenheit. Kaltefleiter untersuchte die Stabilität der Demokratie in der modernen Industriegesellschaft als ein System von »Wechselwirkungen« zwischen politischen und Ellen Thümmler — Form und Funktion
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wirtschaftlichen Faktoren. In historisierend-systematischer Perspektive überschaute er die innerdeutsche Konjunkturentwicklung seit 1918 und stärkte den Blick auf das individuelle Verhalten von Wirtschaftssubjekten (sozialer Status, Bildungsfaktor und Arbeitsbedingungen), welche ebenso als politische Akteure wahrgenommen werden müssten. POLITIKWISSENSCHAFT ALS POLICY-SCIENCE Aus dem Wahlsystem als formalem Faktor, dessen Wirkungen sich in Wahlumfragen und Wahlergebnissen, in der Koalitions- wie Regierungsbildung oder der Entwicklung der bundesdeutschen Parteienlandschaft niederschlugen, konnten Hermens, Kaltefleiter und Wildenmann »politische Gesetzmäßigkeiten« oder »lineare und geschlossene Kausalketten und Rückkopplungen« ableiten. Dahinter verbergen sich normative Bilder von politischer Stabilität und Integration, die selbst hinterfragt werden müssen.35 Ein solches Verständnis von Politikwissenschaft als Policy-Science bestimmte das Wählen als »Optimierungsproblem«.36 Hatte Wildenmann von einer noch ausstehenden wissenschaftlichen Theorie des Regierens gesprochen, erweiterte Kaltefleiter dies mit der Forderung, die Innovation politischer Ordnungen aus einer Verfassungstheorie heraus kristallisieren zu können. Darin wird die Politikwissenschaft zur Sozialtechnologie. Insgesamt ist die Systematik der Gegenüberstellung von Verhältniswahl und Mehrheitswahl vereinfacht, da mit ihnen politische Begriffe verbunden waren (desintegrierend vs. integrierend, Personenwahl vs. Mehrheitswahl, Proporz und Zersplitterung vs. Mehrheit und Einheit), die selbst einer Überprüfung harrten. Dennoch lieferten die »Kölner« vielfältige Daten zum Wählerverhalten und seinen Ursachen. Bis in die 1970er Jahre hinein untersuchten sie, wie eine Mandatsverteilung (unter der Prämisse der gleichen Stimmenabgabe) bei einer Mehrheitswahl ausgesehen hätte. Sie beobachteten, dass sich die Wahlergebnisse nach Größe der Wahlkreise und nach Struktur der Wählerschaft annäherten und generierten dies als neues Forschungsfeld. Der Rückblick auf das »Schreckbild Weimar« und eine mögliche Verhinderung der NSDAP bei den Reichstagswahlen zwischen 1930 und 1932 nach Mehrheitswahl legte den methodischen Fokus auf die mathematische Exaktheit der Berechnung auch für eine zukünftige Prognosefähigkeit. Dies schloss Untersuchungen zur Wählerstruktur (Stadt-Land-Verhältnis als Differenz zwischen den beiden Volksparteien SPD und CDU) und besonders zum Faktor der Wechselwähler bzw. der Wähler kleinerer Parteien ein. Die Einbeziehung von sozialstrukturellen Elementen bzw. soziologischen und psychologischen Fragestellungen stärkte den Blick für die Techniken der Datenerhebung und
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35 Bspw. Hartmut Jäckel, Die Auswirkungen einer Wahlreform. Methodische Bemerkungen zur Analyse von Wahlsystemen und Wahlergebnissen, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 7 (1966), S. 537–555; Wildenmann u. Kaltefleiter antworteten ebd., S. 556–573. 36 Kritisch dazu Gerhard Lehmbruch, Die Wahlreform als sozialtechnologisches Programm, in: Ders. u. a. (Hg.), Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik. Für Theodor Eschenburg, München 1971, S. 174–201, hier S. 188.
der Analyse individuellen Wahlverhaltens.37 Rudolf Wildenmann umschrieb den Wandel der politikwissenschaftlichen Forschung mit dem Schritt von der Wahlsystemforschung zur Wahlverhaltensforschung. So veränderten sich die »ideologischen Kämpfe« um Verhältniswahl oder Mehrheitswahl zu einer Diskussion verschiedener Konzepte, das Wahlverhalten abbilden und begründen zu können.38 Innerhalb einer empirisch gestützten Politikwissenschaft kritisierten Wil denmann und Kaltefleiter sie das Festhalten an rationalistischen Wählermodellen, die sozialstrukturelle Ursachen vernachlässigten. Wildenmann beobachtete, dass die Forderung nach zuverlässigen Prognosen hinter das Gewicht verifizierbarer Analysen zurücktrat. Dies gelte für politische An37 Vgl. Werner Kaltefleiter u. Peter Nißen, Empirische Wahlforschung. Eine Einführung in Theorie und Technik, Paderborn 1980. 38 Vgl. Rudolf Wildenmann, Wahlforschung, Mannheim 1992. 39 Vgl. ebd., S. 58–69. 40 Vgl. Florian Grotz, Verhältniswahl und Regierbarkeit. Das deutsche Wahlsystem auf dem Prüfstand, in: Gerd Strohmeier (Hg.), Wahlsystemreform, Baden-Baden 2009, S. 155–181; Hans Herbert von Arnim, Mehrheitswahl und Partizipation, in: ebd., S. 183–210.
sprüche an Wahlforschung insgesamt.39 Wissenschaftliche Standards und die überprüfbare Dokumentation von Forschungsergebnissen waren seine Prämissen. Dabei wird zunehmend die Wählerbindung an Parteien sowie die schwindende Parteiidentifikation insgesamt nicht mehr als Gefahr für die Demokratie gesehen, sondern das Augenmerk eher auf die Ursachenforschung für jene Prozesse gelegt. Dass die Prognose von Wahlergebnissen hinter die Verfeinerung der demoskopischen Analysen zurücktrete, ist ein weiteres Resümee. Eine »Wissenschaft von der politischen Ordnung« verliert demnach nichts von ihrer Relevanz, wenn sie sich von den normativen Prämissen einer stabilen und integrativen Demokratie hin zu ihrer Szientifizierung wandelt. Kaltefleiter und Wildenmann nahmen die Tradition von Form und Funktion zu ihrer methodischen Verfeinerung auf. Zugleich leben diese frühen Wahlsystemdebatten auch in den Kontroversen zur jüngsten Wahlrechtsreform auf.40
Dr. Ellen Thümmler, geboren 1981, hat Politikwissenschaft in Chemnitz studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politische Theorie und Ideen geschichte an der TU Chemnitz.
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GESCHICHTLICHES VERSTEHEN UND PRAKTISCHES WISSEN DER KONTEXTUALISMUS DER CAMBRIDGE SCHOOL ΞΞ K. F. Martin Baesler Die sogenannte Cambridge School des politischen Denkens, welche von John Pocock, Quentin Skinner und John Dunn begründet wurde, steht für einen Ansatz der Kontextualisierung des politischen Denkens. Diesem Ansatz zufolge gelingt die Interpretation von kanonischen Texten der politischen Theoriegeschichte besser, wenn die Absichten des Autors und die Gesellschaft der jeweiligen Zeit ausführlich in Betracht gezogen werden.1 Das kontextualistische Studium betrachtet die politiktheoretischen Texte als eine Form des Handelns innerhalb der politischen Gemeinschaft. In diesem Handeln ist eine Bedeutung angelegt, die nicht nur die Gesellschaftsmitglieder jener Zeit verstehen konnten, sondern auch die heutigen Menschen. Der Ideenhistoriker ist gemäß der Cambridge School bestrebt, die Bedeutungsgehalte
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INDES, 2014–3, S. 52–59, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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1 Vgl. Mark Bevir, The Contextual Approach, in: George Klosko (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy, Oxford 2011, S. 11–23.
durch die Darstellung der Ideengeschichte und gesellschaftlichen Zustände auszugraben und vor Augen zu führen.2 Doch die Cambridge School ermöglicht nicht nur ein geschichtliches Verstehen, sie zielt auch auf ein praktisches Wissen. Besonders kennzeichnend 2 So hob John Dunn hervor, dass die Ideen und Handlungsmotivationen nicht abgetrennt zu betrachten seien von einem kausalistischen Verständnis sozialer Prozesse. Dunn »sees normative categories as inexpugnable from the understanding of political causality«. John Dunn, Democracy and Development, in: Ian Shapiro u. Casiano Hacker-Cordon (Hg.), Democracy’s Value, Cambridge 1999, S. 132–140, hier S. 138. 3 Tully fasste die Annahme der Kontextualisten, dass nämlich politische Denker ein Teil der konfliktiven politischen Sphäre seien, treffend zusammen: »The pen is a mighty sword.« James Tully, The Pen is a Mighty Sword, in: Ders. (Hg.), Meaning and Context: Quentin Skinner and his Critics, Princeton 1989, S. 3–25.
für den Ansatz des Kontextualismus ist die Auffassung, dass politisches Handeln und somit auch politisches Denken in einer Sphäre des ständigen Kampfes, des Konflikts und Krieges stattfindet, in der die Verteidigung von Bedeutungsgehalten immer auch mit politischem Machtanspruch in eins zu setzen ist.3 Daraus wird abgeleitet, dass das historiographische Studium kanonischer Texte den heutigen Menschen ermöglichen könnte, gegenwärtig dominierende Theorieparadigmen und politische Legitimationskriterien als historisch gewachsen zu verstehen und somit in ihrem Universalitäts- und Machtanspruch zu hinterfragen.4 Folgt man den Annahmen des Cambridge-Kontextualismus, so wird der individuelle politische Autor in eine Geschichte eingebettet und das Urteil über sein Denken aus diesem Kontext herausgelesen. Argumentieren also die Vertreter der Cambridge School zu Gunsten eines rein individualistisch aufgefassten historischen Verstehens gegen einen Begriff des ›Politischen‹? DER ANSATZ DER LINGUISTISCHEN KONTEXTUALISIERUNG Vollziehen wir zur Beantwortung der Frage die Grundlinien der Kontextualisierungsmethode nach. Das politische Denken vollzieht sich im öffentlichen
4 Vgl. Raymond Geuss, Kritik der politischen Philosophie. Eine Streitschrift, Hamburg 2011, S. 96. 5 John Dunn, Interpreting Political Responsibility, Princeton 1990, S. 197. 6 Vgl. Jonathan Floyd u. Marc Stears, Political Philosophy versus History? Contextualism and Real Politics in Contemporary Political Thought, Cambridge 2011, S. 19. 7 Quentin Skinner, Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte, in: Martin Mulsow u. Andreas Mahler (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin: 2010, S. 81. Skinners wegweisender Aufsatz wurde ursprünglich 1969 in der Zeitschrift History and Theory, Bd. 8, Nr. 1, 3–53 veröffentlicht.
Raum und ist Ausdruck des Beurteilens durch einen bestimmten politischen Denker. Wichtig ist hierbei, dass dieses politische Urteilen den Vertretern der Cambridge School zufolge nicht als Klugheit im Sinn einer aristotelischen Tugend für zum Herrschen besonders Geeignete, sondern als kollektives Projekt aller Individuen5 aufzufassen ist. Politisches Denken und Urteilen sei immer praktisch, vollziehe sich stets im Austausch mit einem bestimmten Publikum und sei mit einer Absicht zur Veränderung verbunden. Es ziele nicht, wie philosophisches Denken, auf universelle Probleme, die wiederum auf das Politische Anwendung finden können sollen, sondern trete von vornherein in einen gesellschaftlichen Kontext, um bestimmte Probleme anzusprechen und spezifische Fragen zu beantworten.6 Nach Quentin Skinner besteht demnach »die grundlegende Aufgabenstellung, mit der wir uns bei der Textanalyse daher konfrontiert sehen, […] darin, herauszufinden, was ein Autor zu der Zeit, in der er schrieb, dem Publikum, das er ansprechen wollte, durch das Machen der Äußerung tatsächlich mitzuteilen beabsichtigte.«7 Skinner setzt hier voraus, dass sich die tatsächliche Intention des Autors nicht durch die motivierenden Ursachen, also die konkreten politischen K. F. Martin Baesler — Geschichtliches Verstehen und praktisches Wissen
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Probleme seiner Zeit, erschließen lasse. Vielmehr müsse die Absicht in einem Zweischritt rekonstruiert werden: Zunächst sei nach der Bedeutung der relevanten Äußerungen des politischen Theoretikers und daraufhin nach dem diskursiven Kontext dieser Äußerungen zu fragen. Anders ausgedrückt interpretiert man zuerst die eigentliche Tat des Sprechens und Schreibens, auf die der Autor mit einer bestimmten Sprechhandlung abzielte (etwa, um jemanden zu warnen), und dann die Wirkung, die der Autor herbeiführen wollte, indem er schrieb (im Vergleich zu anderen Äußerungen zum selben Gegenstandsbereich).8 Ziel dieses Vorgehens ist es, politisches Denken nur als »individuelle Antworten auf individuelle Fragen«9 und Probleme und keineswegs als zeitlose und epochenübergreifende Ideen aufzufassen. Der eigentliche Schauplatz des politischen Kampfes ist und bleibt für uns heutige Interpreten die Schrift und das effektivste Mittel dieses Kampfes ist die Sprache. Für Skinner besteht ein essentieller Zusammenhang zwischen der Analyse der Sprache, dem Verstehen der Handlungsintentionen und der Erklärung sozialer Prozesse. Im Vordergrund steht die Annahme, dass bestimmte politische Ideen in bestimmten Zeitabschnitten in den gesellschaftlichen Diskursen dominierten und deshalb als paradigmatisch sinngebend behandelt oder bekämpft wurden, weshalb John Pocock seine ebenso linguistisch orientierte historiographische Forschung als eine »Tunnelgeschichtsschreibung« bezeichnete.10 Pocock befasste sich mit der Entwicklung der Sprache des Humanismus und des Republikanismus während der verschiedenen Epochen der politischen Ideengeschichte und grenzte sie gegen andere Sprachen ab, die im Zusammenhang gesellschaftlicher Diskurse über politische Ideologien und Weltanschauungen jeweils vorzufinden waren. Im Vordergrund der historiographischen Untersuchung stehen nun folgende Fragen:
8 Vgl. Quentin Skinner, Interpretation und das Verstehen von Sprechakten, in: Ders., Visionen des Politischen, hg. v. Marion Heinz u. Martin Ruehl, Frankfurt a. M. 2009, S. 78.
Welche Gründe hatten die Denker anzunehmen, dass ihre Überlegungen zweckmäßig, d. h. politisch sinnvoll, waren? – Eine Frage, die sich nicht ohne Bezug auf die den damals herrschenden Sprachkonventionen zugrunde liegenden Rationalitätsvorstellungen beantworten lässt und die auf eine Normativität in den Diskursen hindeutet. Auf welche Weise vermochte es der Denker, seine Meinung sprachlich so zu verpacken, dass sie zu den Adressaten durchdrang und ihre Ansichten beeinflusste? Politische Autoren nutzen der Cambridge School zufolge die Sprache als Mittel, um etwas bei ihren Zeitgenossen zu bewirken. Bestimmte Sprachkonventionen sind zu einer bestimmten Zeit gegeben und vermitteln bestimmte Vorstellungen. Der politische Denker nutzt diese Sprache (wie ein rhetorischer Politiker), um etwas bei den Mitmenschen in ihrer Handlungs- und Moralvorstellung zu verändern. Die Sprachkonventionen sind geschichtlich
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9 Ebd., S. 62. 10 Vgl. Quentin Skinner, »Social Meaning« and the Explanation of Social Action, in: Patrick Gardiner (Hg.), The Philosophy of History, Oxford 1974, S. 106–126; John G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975, S. 177; Olaf Asbach, Von der Geschichte politischer Ideen zur »History of Political Discourse«? Skinner, Pocock und die »Cambridge School«, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 12 (2002) H. 2, S. 637–667, hier S. 650.
bestimmt und verändern sich im Zuge politischer Paradigmenwechsel. Aufgabe des Ideenhistorikers ist es, diese gesellschaftlichen und politischen Umbrüche anhand einer Analyse von sprachlichen Normen nachzuvollziehen. Wie wird aber im Kontext der Sprachen und in Antwort auf die obige Frage moralisches Handeln aufgefasst? Die kontextualistische Methode nach Pocock und Skinner betrachtet die Entstehung neuer moralischer Überzeugungen, die der Lösung gesellschaftlicher Probleme dienen sollen, auch als Ausdruck sprachlicher Neuerungen. Da die Sprache dem sozialen und politischen Handeln sowie den gesellschaftlichen Institutionen Bedeutung und Legitimation verleiht, haben sprachliche Innovationen die Macht, Änderungen in den Sprachkonventionen herbeizuführen und somit die intersubjektiv-normativen Bedeutungsgehalte des Handelns zu verändern: »[I]t may propose an alteration in value signs, a treatment of that which was bad as now good or vice versa; or it may propose to remove the discussion of a term or problem from the language context in which it has been conventionally discussed into some other context itself known but not hitherto consid11 John G. A. Pocock, The Concept of Language, in: Anthony Padgen (Hg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 19–38, hier 34. 12
Vgl. Skinner, Visionen des Politischen, S. 178 ff.
ered appropriate to this discussion.«11 Skinner führt zum Beispiel anhand von Thomas Hobbes’ Theorie der politischen Repräsentation vor Augen, dass darin eine Strategie angelegt sei, die radikalen Propagandisten des englischen Parlaments durch Umdeutung ihrer Grundannahme von politischer Vertretung zu schwächen.12 Historiker bewerten dabei nicht, ob die neue Sprache auch moralisch in irgendeiner Weise höherwertiger sei als die, die sie ablöst. Sie fokussieren auf
13 Im Gegensatz zu Alasdair MacIntyre und Charles Taylor, die eine Form von epistemischem Fortschritt in den Fokus ihrer geschichtlichen Untersuchungen stellen. Vgl. Alan Thomas, Value and Context: The Nature of Moral and Political Knowledge, Oxford 2010, S. 238. 14 Vgl. Skinner, Bedeutung und Verstehen; John Dunn, Rethinking Modern Political Theory. Essays 1979–83, Cambridge 1985; Thomas D. Weldon, Kritik der politischen Sprache. Vom Sinn politischer Begriffe, Neuwied 1962. 15 Vgl. Quentin Skinner, Interpretation, Rationality and Truth, in: Ders., Visions of Politics: Regarding Method. Cambridge 2002, S. 40.
bestimmte narrative Linien und stellen dabei die Übergänge und Paradigmenwechsel durch kontextualistische Analysen dar. Die Vorstellung von moralischer Entwicklung durch epistemischen Fortschritt wird insofern abgelehnt.13 Der Effekt des Studiums historischer Quellen der politischen Ideengeschichte für das heutige Reflektieren über Politik liegt vor allem darin, die gegenwärtige Vorstellungswelt als verschieden von anderen historischen Vorstellungswelten darzulegen und somit Mythenbildung und eine Moralisierung politischen Handelns aufzudecken.14 Durch die hierbei erzeugte Distanz gelinge es, politisches Denken als ein Handeln zu begreifen, das vorrangig aus einem gesellschaftlichen Umfeld und einer sozialen Prägung heraus geschieht und nie abschließend bewertet werden kann. Um einer Falschinterpretation vorzubeugen, sei der historisch Forschende dazu verpflichtet, die wie bizarr auch immer anmutenden Überzeugungen vergangener Zeiten, wie etwa den Glauben an Hexen im Mittelalter, erst einmal für rational begründet anzunehmen.15 Skinner fügt dem Anspruch der historiographischen Neutralität eine besondere praktische Relevanz hinzu: K. F. Martin Baesler — Geschichtliches Verstehen und praktisches Wissen
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»Aus der Geschichte des Denkens zu lernen, dass in Wirklichkeit keine zeitlosen Konzepte existieren, sondern nur viele unterschiedliche Konzepte, die es in vielen unterschiedlichen Gesellschaften gegeben hat, bedeutet, eine allgemeine Wahrheit zu begreifen – nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit, sondern in Bezug auf uns selbst […], weil die Geschichte dann einen Weg zur Selbsterkenntnis eröffnet. […] Aber aus der Vergangenheit […] unterscheiden zu lernen zwischen dem, was notwendig, und dem, was nur zufälliges Ergebnis unserer Organisationsformen ist, bedeutet, den Schlüssel zur Selbsterkenntnis in den Händen zu halten.«16 Anhand der Historiographie soll somit auch eine Gewissheit über das gegenwärtige politische Selbstverständnis ermöglicht werden, die von einer Vergessenheit gegenüber der Historizität der Bedeutungszuschreibungen von Freiheit und daraus resultierend einer extremen Kurzsichtigkeit gegenüber den heutigen individuellen Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräumen beeinträchtigt ist. Die Cambridge School bietet eine weite Bandbreite an Konsequenzen, die das kontextualistische Studium politiktheoretischer Quellen aus diesen Einsichten ziehen sollte. Pocock und Skinner entdecken im Studium der Sprachen des Republikanismus Möglichkeiten der historischen Rekonstruktion und weisen somit auf jene humanistischen Grundlagen hin, welche sich in der westlichen Welt noch immer finden. Anhand des Freiheitsbegriffs bei Machiavelli etwa untersucht Skinner die enge Verknüpfung der Freiheit des Staates und die des Individuums als republikanisches Ideal.17 DIE POLITISCHE IDEENGESCHICHTE UND IHRE IMPULSE FÜR DAS POLITISCHE DENKEN DER GEGENWART Ein Vertreter der Cambridge School, der sich um die Erforschung der Tücken politischen Denkens und der Bedeutung der Ideengeschichte für ihre Entlarvung vor allem in der Gegenwart besonders verdient gemacht hat, ist John Dunn. Er hat, genau wie Quentin Skinner und John Pocock, großen Einfluss auf die Entwicklung der linguistischen Kontextualisierungsmethode ge-
16 Skinner, Bedeutung und Verstehen, S. 87. 17 Vgl. Martin Baesler, Republikanische Herausforderungen – Freiheit durch Partizipation, in: Gisela Riescher u. Beate Rosenzweig (Hg.), Partizipation und Staatlichkeit. Ideengeschichtliche und aktuelle Diskurse, Stuttgart 2012, S. 71–90.
nommen.18 Allerdings entwickelte Dunn schon früh eine eigenständige Linie politischen Reflektierens – aufbauend auf der Annahme, dass die Betonung der Historizität, Sprache und auktorialen Intention des Cambridge-Ansatzes »possesses a real prudential force even when it comes to considering solely the current or future significance of the great works of political theory.«19 Dunn behauptet mit der »prudential force« der Ideengeschichte, dass der heutige Interpret klassischer politiktheoretischer Autoren unterscheiden lernen kann, inwiefern und auf welche Weise die Autoren beabsichtigten, bei den Menschen ein Verständnis für die sie umgebenden Probleme hervorzurufen und
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18 Wegweisend ist hierfür sein Aufsatz zur politischen Ideengeschichte: John Dunn, The Identity of the History of Ideas, in: The Journal of the Royal Institute of Philosophy, Jg. 43 (1968) H. 2, S. 85–104. 19 John Dunn, The History of Political Theory and Other Essays, Cambridge 1996, S. 25 [Hervorhebung durch den Autor].
eine kluge Rangfolge oder Anordnung an Lösungsversuchen für die Beseitigung oder zumindest Milderung der größten vorherrschenden Probleme zu vertreten. Eine solche Rangfolge beinhaltet sowohl die ideelle Vorstellung von Politik als auch ein Verständnis der sozialen und ökonomischen Kausalitäten. Dieses Wissen ist in diesem Sinne absolut praktisch verankert: »The distinction is a distinction in cognitive perspective: between the standpoints of theoretical and practical reason. The disjunction is a disjunction within historical experience; the disjunction between the notional domain of political authority and the causal processes of the production, distribution and exchange of goods and services.«20 In engem Zusammenhang damit steht die Vorstellung eines politischen Urteilsvermögens, das reflektierend abwägt und nicht urteilend abmisst.21 Versuchen die politischen Autoren auf die drängenden Probleme Antworten zu finden oder verschleiern sie sie gar durch moralisches Aufladen vorherrschender Vorstellungen und politischer Strukturen, mit der Folge, dass das Urteilsvermögen dadurch getrübt wird? Das politische Denken bestehe 20 Dunn, Interpreting Political Responsibility, S. 125.
zu allen Zeiten eher aus »painful attempts to elaborate their ideas to a degree of formal intellectual articulation which there is no evidence that they ever attained.«22 Dunns skeptischer Ansatz gründet sich auf dem Vorhaben
21 Vgl. Gulsen Seven, An Interview with John Dunn, in: International Political Anthropology, Jg. 5 (2012) H. 2, 2012, S. 179–196. 22 Dunn, The Identity of the History of Ideas, S. 88. 23 Dunn, Interpreting Political Responsibility, S. 33.
der Schulung einer »Maulfwurfsperspektive« (mole’s eyes perspective), wie er sagt.23 Er entwickelt seine Auseinandersetzung mit der Gegenwart über die Annahme, dass eine aus dem Nebeneinander verschiedener dominanter Theorien resultierende Verwirrung vorherrsche, die mithin paradigmatisch für unsere Gegenwart geworden sei und die dramatischen Ausmaße menschlicher politischer Entscheidungen verschleiere. Marxismus, Liberalismus und Utilitarismus, ja das politische Denken der Gegenwart in vielen Bereichen biete eher zu einfache und moralisch imprägnierte Lösungen an, anstatt die
24 Dazu zählt nach Dunn die Auseinandersetzung damit, wie die Ordnung der Gleichheit (Demokratie) durch die Ordnung des Egoismus (Kapitalismus) ausgehölt und sinnleer gemacht wurde. Vgl. John Dunn, Setting the People Free: The Story of Democracy, London 2005; Ders., Breaking Democracy’s Spell, New Haven 2014.
drängenden Probleme des Zusammenlebens tatsächlich zu benennen und damit auf kluge Weise lösen zu helfen.24 Dunn beschäftigte sich mit unterschiedlichen politischen Kategorien der politischen Moderne, allen voran Sozialismus, Liberalismus, Revolution und Demokratie. Dabei war es sein Ziel, Politik auf eine Weise zu verstehen, nicht wie es die moderne Republik bedürfe, sondern so »as to bring home to the citizens at large the current content of their responsibilities, or the stake they have in how professional politics happens to be doing.«25
25 John Dunn, The Cunning of Unreason. Making Sense of Politics, London 2000, S. 319.
Dunn geht jedoch über den Fokus auf das Handeln hinaus, wenn er das summum malum als »positive« Allgemeinheit des Individuums zur Fundierung K. F. Martin Baesler — Geschichtliches Verstehen und praktisches Wissen
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des Politischen einführt.26 Diese paradoxale Konstruktion kennzeichnet Dunns Skeptizismus. Durch die Inblicknahme der verheerenden Konsequenzen individualistischen Handelns gelingt ein Aufbrechen eines moralischen Konsensus, der sich aus der politischen Theoriegeschichte nährt, jedoch nicht mehr mit der aktuellen geschichtlichen Lage übereinstimmt. Nach Dunn werden die realen Gefahren von Umweltzerstörung, Armut und kriegerischer Bedrohungen durch die Brille vergangener moralischer Rezepte betrachtet. Anstatt das Joch der Geschichte abzuschütteln, sollten die Errungenschaften der geschichtlichen Entwicklung, allen voran der Staat als gewichtige politische Kategorie, als Verhinderung noch größerer menschlicher Katastrophen betrachtet werden: »What a political philosophy for the turbulent world of today and tomorrow needs at its centre is a theory of prudence – a theory adequate to the historical world in which we have to live«.27 Welcher positiven Allgemeinheit des Politischen spricht Dunn hier mit der Förderung von klugem Urteilsvermögen das Wort? Der Idee eines absoluten Gesetzes wird vom Cambridge-Kontextualismus kein Wert beigemessen, da angenommen wird, dass sich praktisches Urteilen umfassend nur durch die Interpretation der individuellen Handlungsabsichten verstehen lässt. Dunn verweist aber darauf, dass jedes Individuum dazu in der Lage ist, an der Gesellschaft teilzunehmen und in den gemeinsamen Angelegenheiten zu urteilen. Das Individuum soll in die Lage versetzt werden, für sein eigenes Wohlbefinden am Politischen teilnehmen zu können. Das individualistisch aufgefasste praktische Wissen biete eine Anleitung zum guten Handeln, sofern das Urteilen durch den Bezug auf die Umstände vollzogen wird. Für die Verwirklichung dieser realistischen Politik bestimmt Dunn die Voraussetzung, dass vor allem das Handeln der politischen Verantwortungsträger angemessen nachvollzogen werden müsse. Seine Diagnose einer »unreflective confidence in the efficacy and decency of existing institutions«28 zielt auf die Kritik eines instrumentell verstandenen Politikbegriffs und auf die Übertragung der Verantwortung für das Politische auf alle erwachsenen Bürger. Ziel sei ein Verständnis der Prioritäten, das sich an der menschlichen Unzulänglichkeit ausrichtet und dadurch gleichzeitig ein Vertrauen der Menschen in die Wirksamkeit moralischen Handelns erweckt. Eine Strategie der Vertrauensförderung und nicht deren Voraussetzbarkeit sollten den Zweck politischen Strebens ausmachen, wie Dunn anhand seiner Studien zur Demokratie ausführt. Dunn argumentiert gegen eine rein instrumentell verstandene Politik, die nur die Ergebnisse und nicht auch die Handlungsintentionen zu beurteilen sucht. Das historische Bewusstsein als Grundlage eines solchen Urteilens verbietet es, praktisches Wissen als Mittel einer Rückbindung der
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26 »[T]he sole possible basis for establishing a stable shape and a clear structure of priorities for human practical reason lay in the identification of a human summum malum.« In: Dunn, Interpreting Political Responsibility, S. 197. 27 Ders., Rethinking Modern Political Theory: Essays 1979–83, Cambridge 1985, S. 189. 28 Ders., Interpreting Political Responsibility, S. 43.
individuellen Existenz an die Rationalität des Gemeinwesens aufzufassen.29 Ein praktisches Wissen nach Dunn ist demzufolge der fortdauernde Versuch, einen Gemeinwohlbegriff nicht vorwegzunehmen, sondern vielmehr die den gemeinsamen Erfahrungen zugrunde liegende kollektive Sinnfrage immer wieder zu stellen. SCHLUSSFOLGERUNG Die Anhänger der Cambridge School messen der politischen Idee keinen Eigenwert bei. Daraus ergibt sich zwar die Schwierigkeit, wie gesellschaftliche Benachteiligung erkannt werden kann, wenn die zwecksetzende Idee, etwa der Gleichheit, als kontingent aufgefasst wird. Muss nicht auch eine zwecksetzende Idee bzw. eine objektive Erkenntnis im Begriff z. B. der Gleichheit angenommen werden, um sie umsetzen zu können? Wodurch lässt sich sonst überprüfen, ob das Individuum falsch liegt? Die hermeneutisch geprägte Sicht zielt aber auf das Handeln als kontinuierliches Antworten auf Problemstellungen. Zudem bietet Dunns konstruktiver Skeptizismus eine mögliche Begründung dafür, warum objektives Verstehen von Zwecken nicht verallgemeinert werden kann. Diese radikale Haltung bietet eine Neuorientierung für die Behandlung der Frage nach der allgemeinen Zweckvorstellung im politischen Umfeld. Ist daher in der kontextualistischen politischen Theorie ein allgemeines Prinzip angelegt, das sich aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext herauslesen lässt und eine Lösung für das »Wohlergehen« der Bürger bietet? Das Gewahrwerden der Macht- und Autoritätsstrukturen, die in den Ideen als Handlungen ausgedrückt sein können, zeigt 29 »[N]o modern society […] can fuse the rationalities of social role and individual existence in this way, […] modern moral existence is irretrievable individualist in its foundations.« In: Ders., Grounds for Despair: Review »After Virtue«, in: London Review of Books, 17. 09. 1981, S. 19.
nicht, dass die geschichtliche Entwicklung den Ideen als allgemeinen Instanzen unterworfen ist. Durch den Kontextualismus der Cambridge School wird die Möglichkeit einer vorurteilsfreien Moralitätsvorstellung des menschlichen Handelns geboten, die einen Weg zu einer realistischeren Forderungs- und Erwartungshaltung gegenüber den Zwecken des menschlichen politischen Lebens bahnt.
Dr. K. F. Martin Baesler, Jahrgang 1980, Studium der Philosophie und Politikwissenschaft in Freiburg und Glasgow, Promotion über »Die Freiheit des Individuums als Pointe der politischen Transformation. Eine Analyse des Demokratisierungsparadigmas mit John Dunn und Aristoteles« an der Universität Freiburg mit einjährigem Forschungsaufenthalt am King’s College, University of Cambridge, derzeit Habilitand am Seminar für Philosophie/Husserl-Archiv der Universität Freiburg mit Forschung zu Kants Moralphilosophie und Anthropologie, weitere Forschungsinteressen: Aristoteles’ praktische Philosophie, politische Theorien der Neuzeit und Ideengeschichte.
K. F. Martin Baesler — Geschichtliches Verstehen und praktisches Wissen
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WAHRHEIT UND GEMEINSINN DER BEGRIFF DES COMMON SENSE IM DENKEN DER STRAUSS-SCHULE ΞΞ Danny Michelsen
Schon vor dem Tod des deutsch-amerikanischen Politologen Leo Strauss im Jahr 1973 hatte sich um ihn und seine Schüler ein Mythos gebildet, der in den vergangenen drei Dekaden eine sich beständig intensivierende Kontroverse um die Deutung der politischen Philosophie der »Straussians« provozierte. Eine ganz neue Stufe erreichten diese Debatten, als nach dem Triumph der »Neokonservativen« bei der US-Präsidentschaftswahl 2000 und dem Ausbruch des Irakkrieges drei Jahre später plötzlich das Wort von den »LeoCons« durch die Feuilletons geisterte, das auf eine angeblich von Strauss beeinflusste Gruppierung von Vordenkern innerhalb der Republican Party und Proponenten einer expansiven Außenpolitik im Pentagon während der Bush-Jahre verweist. Wenngleich diese populären Rezeptionswege oft vom 1
eigentlichen Kern der Strauss’schen Lehre wegführten, vermittelten sie doch denselben Eindruck, der sich Jahrzehnte zuvor bereits innerhalb der Fachgrenzen der Politischen Theorie und Ideengeschichte in Bezug auf die StraussSchule eingestellt hatte: Diese hatte sich nämlich früh den Ruf einer elitären und antiliberalen Gruppe von »Fanatikern«,2 einer »intolerable sect of true believers«,3 erworben – nicht allein aufgrund von Strauss’ sehr offensiv vertretenem (anti)politischen Neoplatonismus, seiner Überzeugung etwa, »dass der Philosoph im Prinzip besser zur Herrschaft taugt als andere Menschen«,4 sondern auch wegen des äußerst aggressiven Tonfalls, mit dem die Straussians gegen den »liberalen Relativismus« der modernen Naturrechtstradition und der auf ihr gegründeten »new political science« polemisierten5 sowie aufgrund der unheimlichen Berichte über von Strauss-Schülern gebildete »truth squads«, die an der Universität von Chicago die Seminare ihnen ungenehmer Dozenten aufsuchten, um diese zu stören.6 Dass Strauss, trotz der von Beginn an polarisierenden Wirkung seiner Schule, heute dennoch große Anerkennung für seine unbestreitbaren Verdienste um die hart erkämpfte Re-Etablierung der normativen Politischen Theorie in den 1950er/60er Jahren genießt,7 ist nicht zuletzt auf das Engagement so einflussreicher Vertreter der ersten Generation von Strauss-Schülern wie Harvey Mansfield, Allan Bloom und Seth Benardete zurückzuführen.
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INDES, 2014–3, S. 60–69, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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1 James Atlas, Leo-Cons. A Classicist’s Legacy: New Empire Builders, in: New York Times, 04. 05. 2003. 2 John Schaar u. Sheldon Wolin, Essays on the Scientific Study of Politics: A Critique, in: American Political Science Review, Jg. 57 (1963) H. 1, S. 125–150, hier S. 126. 3 J.G.A. Pocock, Prophet and Inquisitor, in: Political Theory, Jg. 3 (1975) H. 4, S. 385–401, hier S. 399. 4 Leo Strauss, Noch einmal Xenophons »Hieron«, in: ders., Über Tyrannis, Neuwied 1963, S. 207. Vgl. auch ders., Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 145. 5 Strauss, Naturrecht, S. 6 sowie ders., An Epilogue, in: Herbert Storing (Hg.), Essays on the Scientific Study of Politics, New York 1962, S. 305–327, hier S. 310. 6 Vgl. hierzu Anne Norton, Leo Strauss and the Politics of American Empire, New Haven 2004, S. 44 f. 7 Die American Political Science Association hat z. B. den Preis für die beste Dissertation im Fachbereich Politische Theorie nach Strauss benannt; die Universität von Chicago hat ein Zentrum zur Erforschung seines Werkes eingerichtet.
DIE KUNST DES EXOTERISCHEN SCHREIBENS Doch worin genau besteht eigentlich der philosophische Kern der StraussSchule? Bekanntlich sah Strauss seine Lebensaufgabe darin, dem »extremen Skeptizismus« der Gegenwart, d. h. dem Verzicht der modernen Philosophie auf eine Betrachtung des Menschen »im Lichte unveränderlicher Ideen« und auf eine angemessene Reflexion des »kosmologischen Problems«, also der Begrenztheit, zugleich aber der Notwendigkeit eines »natürlichen Verstehens des Ganzen« auf der Grundlage der »Offenheit des Menschen für das Ganze«,8 den Kampf anzusagen. Allerdings ist es oft schwierig nachzuvollziehen, »wann Strauss lediglich die Meinung anderer paraphrasiert und wann er seine eigene Ansicht vertritt«,9 da ideengeschichtliche Rekonstruktion – Strauss’ Gesamtwerk besteht zum allergrößten Teil aus Kommentaren zu Klassikern der Politischen Theorie – und philosophische Reflexion in seinen Texten meist nicht klar voneinander getrennt werden. Das Verständnis seiner eigenen Lehre wird dadurch erheblich erschwert. Noch größere Probleme bereitet jedoch die Interpretation seines Werkes im Lichte seiner höchst umstrittenen hermeneutischen Methode. Deren Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass Philosophen zu allen, v. a. aber in vormodernen Zeiten, ihre Hauptbotschaften ›zwischen den Zeilen‹ dargelegt haben, um sich vor Verfolgung zu schützen, und dass es die Aufgabe des Ideenhistorikers sei, Grundannahmen über die richtige Technik der Entschlüsselung versteckter Mitteilungen zu entwickeln. Diese methodischen Grundsätze bilden den Kern des Selbstverständnisses der Strauss-Schule. Mehr noch als die (im engeren Sinne) politischen Implikationen der Strauss’schen Lehre – so etwa die emphatische Zurückweisung der liberalen Demokratie zugunsten einer »aristokratischen Republik«, die »nicht Freiheit sondern Tugend« zu ihrem höchsten Wert erhebt10 – haben wohl Strauss’ Bemerkungen über die
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8 Leo Strauss, What is Political Philosophy? And Other Studies, Chicago 1959, S. 39; ders., The City and Man, Chicago 1964, S. 39 u. S. 43.
»Kunst« des »exoterischen« Schreibens dazu beigetragen, dass der Eindruck
9 Stephen Holmes, Die Anatomie des Antiliberalismus, Hamburg 1995, S. 138.
die natürliche Ordnung der Dinge für die Stabilität der Gemeinschaft und
entstand, man habe es bei ihm und seinen Jüngern mit einem antidemokratischen »Kult« zu tun.11 Strauss geht davon aus, dass die großen Philosophen die Gefahr erkannt haben, die die von ihnen gesammelten Erkenntnisse über für ihre eigene Sicherheit darstellen. Um der Verfolgung durch Herrschende oder die ignoranten Massen zu entgehen, vor allem aber weil der Philosoph
Strauss, Naturrecht, S. 138 u. S. 146; ders., What is Political Philosophy?, S. 36 u. S. 40.
um seine »soziale Verantwortung« wisse, jene Wahrheiten, »die viele Men-
11 Shadia Drury, Leo Strauss and the American Right, Houndmills 1997, S. 2.
präsentiert: eine »populäre« Botschaft von »aufbauendem Charakter«, die die
schen schädigen würden«, in »noble Lügen« zu kleiden, sei er gezwungen, eine exoterische Darstellungsform zu wählen, die zwei verschiedene Lehren Oberfläche eines Textes bildet, und die eigentliche, »esoterische« Lehre, die Danny Michelsen — Wahrheit und Gemeinsinn
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zu decodieren »ein Privileg ›der Wenigen‹« sei.12 Die Weitergabe der für die Entschlüsselung esoterischer Botschaften nötigen Techniken – z. B. für das Aufspüren argumentativer Widersprüche, die, sofern es sich um den Text eines großen Philosophen handelt, laut Strauss immer als versteckte Hinweise zu lesen seien – kann denn auch als eine Art Initiationsritual betrachtet werden, das jeder künftige Straussianer erfolgreich zu durchlaufen hatte.13 Nun hat Shadia Drury die These aufgestellt, dass Strauss selbst sich um ein exoterisches Schreiben bemüht und seinen Schülern, je nach dem Grad der ihnen zugemessenen Auffassungsgabe, bewusst unterschiedliche Lehren vermittelt habe.14 Wenngleich ihre These – was die Quellenbasis anbelangt – auf eher wackligen Beinen steht, bietet Drury damit eine nicht ganz unplausible Erklärung für die gegenwärtige Spaltung der Straussians, die sich an einigen Divergenzen hinsichtlich der Interpretation ihres Gründererbes entzündet hat. In Anlehnung an sein berühmtes Buch »Crisis of the House Divided« über die Lincoln-Douglas Debates, einem frühen Zeugnis »straussianischer« Studien zur amerikanischen Ideengeschichte, spricht Harry Jaffa ironisch von einer »Crisis of the Strauss Divided«: Mittlerweile gibt es so etwas wie eine »Geo15
graphie« der Strauss-Schule, der zufolge eine Konfliktlinie zwischen »West«und »Ostküsten-Straussianern« verläuft.16 Bevor wir uns einigen Kernpunkten der diesem Konflikt zugrunde liegenden Deutungskontroversen zuwenden, richten wir unseren Blick jedoch zunächst auf den Mittleren Westen, auf die Universität von Chicago, wo die Strauss-Schule begründet wurde. STRAUSS UND CHICAGO Hier, in Chicago, haben ungewöhnlich viele einflussreiche Schulen ihren Siegeszug begonnen. Rudolf Stichweh führt dieses Phänomen auf die selbst für US-amerikanische Verhältnisse geringe Studierendenzahl und dezentrale
12 Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago 1952, S. 34 ff. 13 Vgl. Harald Bluhm, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, Berlin 2002, S. 303 f. 14 Shadia Drury, The Political Ideas of Leo Strauss, Houndmills 1988, S. 188 ff. 15 Harry Jaffa u. a., Crisis of the Strauss Divided. Essays on Leo Strauss and Straussianism, East and West, Lanham 2012.
Organisationsstruktur der Universität zurück, da diese »die Beherrschung eines ganzen Departments durch einen Schulzusammenhang« erleichtert habe.17 In einer zum Teil als Erfahrungsbericht angelegten Strauss(ians)-Studie weist Anne Norton auf einen weiteren Faktor hin, der sich speziell auf die Nachwuchsrekrutierung von Strauss-Jüngern günstig ausgewirkt haben dürfte. Im Gegensatz zu den Ivy-League-Universitäten sei die erst 1890 nach dem Vorbild deutscher Forschungsuniversitäten gegründete Universität von Chicago »a place deliberately distant form privilege and power« gewesen;18 nur wenige Studierende dort seien in den 1950er/60er Jahren wohlhabenden Familien entstammt. Gleichzeitig scheint gerade diese Verachtung gegenüber natürlichen Privilegien und Macht mit dem stolzen Bewusstsein, Teil einer rein geistigen Elite zu sein, korrespondiert und eine kompetitive Lernkultur
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16 Für einen Überblick vgl. z. B. Catherine u. Michael Zuckert, The Truth About Leo Strauss. Political Philosophy and American Democracy, Chicago 2006, S. 228 ff. 17 Vgl. Rudolf Stichweh, Zur Soziologie wissenschaftlicher Schulen, in: Wilhelm Bleek u. Hans J. Lietzmann (Hg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 19–32, hier S. 30. 18
Norton, Leo Strauss, S. 11.
befördert zu haben, die ganz den Vorstellungen von Strauss und der von ihm beeinflussten Dozenten entsprach. Als die wichtigste Voraussetzung für die Herausbildung einer wissenschaftlichen Schule wird meist das Wirken eines charismatischen Schulgründers, eines »founder-leader« mit einer »relatively dominating personality« genannt.19 In der Tat galt Strauss seinerzeit nicht nur als hingebungsvoller Lehrer, sondern auch als hervorragender Organisator: In Chicago knüpfte er Kontakte zu großen Stiftungen wie der Walgreen Foundation – aus einer von ihr finanzierten Vortragsreihe ging Strauss’ wohl berühmtestes Buch »Naturrecht und Geschichte« hervor –, kümmerte sich um Stipendien für besonders talentierte Studenten und hatte aufgrund der Präsenz seiner Anhänger in den Gremien und Kollegs der Universität (z. B. im legendären Committee on Social Thought, das v. a. in den 1960er Jahren von den Straussians dominiert wurde20) großen Einfluss auf Berufungen und Curricula.21 Dass es Strauss gelang, das Department of Political Science nach kurzer Zeit so sehr zu dominieren, wird 19 Martin Bulmer, The Chicago School of Sociology. Institutionalization, Diversity, and the Rise of Sociological Research, Chicago 1984, S. 2.
erst verständlich vor dem Hintergrund eines Traditionsbruchs, den die Universität von Chicago unter der Präsidentschaft des konservativen Juristen Robert M. Hutchins seit den späten 1920er Jahren vollzogen hatte. Hutchins setzte – ganz im Sinne von Strauss – auf eine humanistische Ausbildung im Geiste der Great Books-Tradition und bemühte sich, eine Reihe konservativer
20 Vgl. Bluhm, Das politische Philosophieren von Leo Strauss, S. 200.
Morgenthau, Friedrich von Hayek, Jacques Maritain u. a. auch Leo Strauss,
21 Vgl. Norton, Leo Strauss, S. 45 f.
Sozialwissenschaftler, an der New School for Social Research in New York ge-
europäischer Emigranten nach Chicago zu holen.22 Hierzu zählte neben Hans der zuvor, wie so viele vor dem NS-Terror geflohene europäische Geistes- und lehrt hatte. Letztlich richteten sich Hutchins Reformen gegen das pragmatis-
22 Vgl. John Gunnell, The Descent of Political Theory. The Genealogy of an American Vocation, Chicago 1993, S. 175; Stephan Steiner, Weimar in Amerika. Leo Strauss’ politische Philosophie, Tübingen 2013, S. 152 ff. 23 Strauss, What is Political Philosophy, S. 281.
tisch-progressivistische Erbe der Universität, das vor allem mit dem Namen John Dewey, aber auch mit der von George H. Mead und R obert E. Park begründeten »Chicago School of Sociology« verbunden war und ist. Jene Strömungen standen Strauss’ platonischem Idealismus fundamental entgegen. In Deweys »experimenteller« Methode sah Strauss nur jene wertrelativistische Weltsicht angelegt, die keinen Sinn habe für die existentielle Abhängigkeit der liberalen Demokratie von den notwendig »absoluten« Maßstäben der klassischen Naturrechtslehre.23 Was Strauss jedoch zumindest lose mit der Stoßrich-
24 Das Politische ist bei Strauss untrennbar mit der »Frage nach dem Guten«, verbunden. Für ihn ist Aristoteles nur deshalb »the founder of political science because he is the discoverer of moral virtue«. (Strauss, The City and Man, S. 27).
tung der pragmatischen Tradition Chicagos vereinte, waren die immer wieder durchscheinenden antimetaphysischen Züge seines Denkens – seine Überzeugung etwa, dass eine politische Theorie, die etwas über die das Telos der politischen Gemeinschaft und deren Grenzen definierenden Tugenden24 in Erfahrung bringen will, gerade nicht bei einer Deduktion von letzten Prinzipien, sondern bei der »fully conscious form of the ›common sense‹ understanding Danny Michelsen — Wahrheit und Gemeinsinn
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of political things«25 ansetzen müsse. Strauss’ Postulat, dass ein guter Politologe nicht nur die Perspektive der Bürger einnehmen, sondern zudem in der Sprache formulieren sollte, die »auf dem Marktplatz« Verwendung finde,26 überrascht zunächst angesichts der geringen Meinung, die Strauss von der politischen Reflexionsfähigkeit normaler Bürger hatte. »AUFGEKLÄRTER« COMMON SENSE Und doch steht die »Rückkehr zum ›common sense‹ oder zur ›Welt des common sense‹« im Zentrum des straussianischen Plädoyers für die Rückbesinnung auf eine »alte«, d. h. »aristotelische politische Wissenschaft«, die sich innerhalb der von Aristoteles vorgenommenen Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Wissenschaft eindeutig auf Seiten letzterer und gegen eine Behandlung des Politischen mit naturwissenschaftlichen Methoden positioniert. Stattdessen wird die Einheit von Politikwissenschaft und Philosophie und deren Verpflichtung auf die Suche nach dem objektiv Guten hervorgehoben.27. Neben der Pflege des exoterischen Lesens ist dies die zweite zentrale Zielstellung, die die Strauss-Schule, trotz all ihrer Differenzen, im Inneren zusammenhält; auch, weil sie mit der Konstruktion eines konstitutiven Außen verbunden war: der new political science, die die Straussians primär mit dem Behavioralismus identifizierten. Im Jahr 1963 entzündete sich der erste große Konflikt, den die Straussians mit den Vertretern einer anderen Schule der Politischen Theorie – Sheldon Wolin und John Schaar, zwei führenden Köpfen der sogenannten »Berkeley School« – austrugen, an eben dieser Kontrastierung des Behavioralismus mit der »alten Politikwissenschaft«, wobei u. a. Strauss’ eigentümlicher Begriff des Common Sense einen der zentralen Streitpunkte bildete. Strauss und vier seiner Chicagoer Kollegen, von denen zumindest zwei (Herbert Storing und Walter Berns) als wichtigste Straussianer der ersten Stunde gelten können, hatten einen Sammelband verfasst, in dem sie den »logischen Positivisten« der »neuen Politikwissenschaft« vorwarfen, sie würden aufgrund ihrer Konzentration auf abstrakte »subpolitische« Kategorien die »uniquely human faculty to form opinions« ignorieren und daher keine Vorstellung von der Bedeutung des Gemeinsinns für politische Entscheidungsprozesse haben.28 In ihrer Replik störten sich Wolin und Schaar v. a. an den Widersprüchen, die aus Strauss’ eigenwilliger Verknüpfung von aristotelischer Klugheitslehre – phronesis als ein vorwissenschaftliches, aber vernunftgemäßes »Meinen«29 – und platonischer Ideenschau bei der Definition des Common-Sense-Begriffs resultierten. Einerseits hatte Strauss erklärt, dass »political science stands or falls by the truth of the pre-scientific awareness of
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25 Ebd., S. 25 f. 26 Ders., An Epilogue, S. 310. 27 Ebd., S. 308 ff. 28 Walter Berns, Voting Studies, in: Storing (Hg.), Essays, S. 1–62, hier S. 38 u. S. 41. 29 Aristoteles, Nik. Ethik 1140b25–30.
political things«, wie sie jeder gewöhnliche »Mann aus Missouri« aufweise, nur um anschließend zu argumentieren, dass eigentlich nur »everyone who counts politically« in der Lage sei zu erkennen, »which is politically the highest«, denn dies erfordere die Fähigkeit, sich » Höherem« zuzuwenden, »just as for common sense ›the world‹ is a whole by being overarched by heaven of which one cannot aware except by ›looking up‹«.30 Nicht nur empörten sich Wolin und Schaar über die esoterische Sprache, mit der Strauss sein Common-Sense-Verständnis darlegt; sie stellten zudem infrage, ob es sinnvoll sei, von einem Gemeinsinn zu sprechen, wenn der Personenkreis, dem Strauss einen solchen Sinn zugesteht, offenkundig sehr stark eingegrenzt wird.31 Auf diesen Vorwurf reagierte Strauss jedoch nur mit der lapidaren und reichlich brüsken Bemerkung, dass »I have nothing to say to people who find it illegitimate that I look for common sense among intelligent and informed citizens rather than among unintelligent and uninformed ones.«32 Aber was versteht Strauss nun genau unter dem Begriff des Gemeinsinns? Wenn Strauss von Common Sense spricht, ist dieser Ausdruck in etwa gleichbedeutend mit dem, was er, in Anlehnung an den phronesis-Begriff bei Aristoteles, als »Klugheit« bzw. »praktische Weisheit« bezeichnet.33 Diese beziehe ihre intellektuelle Stärke allein aus der Erfahrung und sei daher stets durch Ideologien, d. h. »falsche theoretische Meinungen« vom »Ganzen«, ge30 Strauss, An Epilogue, S. 315 u. 318. 31 Schaar u. Wolin, Essays, S. 146 f.
fährdet. Sie benötige daher den Beistand der »praktischen«, d. h. vor allem der politischen Wissenschaft; eine solche »Verteidigung« aber sei »notwendig theoretischer Art«. Wenngleich Strauss reichlich vage versichert, dass die Theorie trotzdem keineswegs »das Fundament der Klugheit« bilden dürfe,34 so lässt er doch an vielen Stellen seines Werkes durchblicken, dass seines
32 Leo Strauss, Replies to Schaar and Wolin, in: American Political Science Review, Jg. 57 (1963) H. 1, S. 151–160, hier S. 154.
Erachtens der Philosoph die »politischen Dinge« lediglich aus der Perspektive der »enlightened citizen or statesmen«, besser noch: mit den Augen jener klassisch gebildeten »gentlemen« betrachten sollte, die als einzige in der praktischen Politik der Philosophie gegenüber aufgeschlossen seien.35 Dennoch
33 Vgl. dazu auch Thomas Gutschker, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 10. 34 Strauss, An Epilogue, S. 309 f.
stellt sich damit immer noch die Frage, wie sich die Fokussierung auf einen (wenn auch »aufgeklärten«) Common Sense als Maßstab dafür, was politisch relevant sei, mit dem Streben des politischen Philosophen »nach etwas absolut Würdigerem, als es die menschlichen Dinge sind – nämlich der unveränderlichen Wahrheit« – verträgt.36 Die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Meinung ist eines der ewigen Probleme der politischen Philosophie; allerdings waren sich jene Den-
35 Ders., The City and Man, S. 37; ders., What is Political Philosophy, S. 27 u. 89.
ker, die im Amerika der Nachkriegszeit bei ihren Bemühungen um die Re-
36 Ders., Naturrecht, S. 155.
die griechische Antike rekurrierten, darin einig, dass Platons These, nur die
konstruktion eines zugleich agonalen und kommunitären Politikbegriffs auf
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philosophisch geschulten »Wahrheits-«, nicht aber die »Meinungsliebenden« könnten »das Gerechte« erkennen, und seine daraus erwachsende Abwertung der doxa gegenüber der episteme bzw. der gnosis, also der echten Erkenntnis der einen Wahrheit,37 keine Basis für eine moderne Theorie des Politischen bilden konnte, sondern im Gegenteil eine zutiefst unpolitische Tradition des Nachdenkens über politische Urteilskraft begründet hatte.38 Während z. B. Hannah Arendt, Strauss’ zeitweilige Kollegin und Gegenspielerin in Chicago, darauf beharrte, dass es in einem auf dem »Faktum der Pluralität« gegründeten Raum des Politischen »nur Perspektivisches«, niemals aber objektivierbares Wissen vom Guten geben kann, und von dieser These ausgehend einen an Kants Theorie des Geschmacksurteils angelehnten pluralistischen CommonSense-Begriff – im Sinne der »imaginativen Fähigkeit«, gegnerische und exkludierte Standpunkte angemessen zu reflektieren und in die Meinungsbildung einzubeziehen – prägte,39 nahm Strauss die politischen Implikationen von Platons Ideenlehre sehr ernst: ihm zufolge sollte es die Aufgabe des Philosophen sein, »to transcend the authoritative opinions as such in the direction of what is no longer opinion but knowledge«, und zwar: ein Wissen von der »Wahrheit«, die aber nur »in einem, kann man sagen, durch Meinungen geleiteten Aufsteigen« zu erreichen sei.40 Wenngleich sich Strauss mit Sokrates darüber im Klaren ist, dass ein solches Streben stets nur in eine konkretere Einsicht in die Grenzen des Wissens, eine »knowledge of ignorance«, mündet und dass es im politischen Raum kein »knowledge of the whole but only knowledge of parts« gäbe, so will er doch den Anspruch nicht aufgeben, vermittels des »Prinzips der Klugheit« zu einer objektiven Erkenntnis der einzelnen Teile des »Ganzen« zu gelangen – und somit am Ende auch zur Erkenntnis der »Idee des Guten« selbst.41 Strauss leugnet also keineswegs die politische Bedeutung der Meinung – diese ist aber nur instrumenteller Art: Meinungen können nur als Ausgangspunkt auf dem Weg zur richtigen Deutung des »gegliederten Ganzen« dienen, da jede Meinung Widerspruch provoziere, wodurch sie »über sich hinausweist […] in Richtung der einen wahren Gerechtigkeitsanschauung« –
37 Platon, Politeia 479d–e; Timaios 51c–52d. 38 Vgl. Sheldon Wolin, Politics and Vision. Continuity and Innovation in Western Political Thought, Boston 1960, S. 58 ff. sowie Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 327–370. 39 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 14; dies., Some Questions of Moral Philosophy, in: dies., Responsibility and Judgment, New York 2003, S. 49–146, hier S. 140; dies., Denktagebuch, 1950 bis 1973, hg. v. Ursula Ludz, München 2002, S. 375.
allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sich unter den Streitenden »ein Philosoph erhebt.«42 Am Ende ist es angesichts der »insufficiency of this partial material« also an dem Philosophen – als unparteiischem »Schlichter« –, die unaufgeklärte Meinung der Höhlenbewohner zu »korrigieren« und solche Fragen zu stellen, »that are never raised in the political arena«. Diese Fragen 43
allein sind es, die über ein »prä-philosophisches politisches Wissen« hinaus
40 Strauss, The City and Man, S. 20; ders., Naturrecht, S. 128. 41 Ders., The City and Man, S. 20 u. S. 29. 42 Ders., Naturrecht, S. 128 f.
auf einen »ungeschriebenen Nomos« und somit auf die Grundprinzipien der »besten« (im Gegensatz zu einer bloß »legitimen«) Regierungsordnung verweisen, in dem nicht das »Angestammte« oder das »nur aus Konvention Gute«,
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43 Ders., The City and Man, S. 28 f.; ders. What is Political Philosophy, S. 80 f.
sondern die Frage nach dem »von Natur aus Guten« das politische Denken und Handeln anleiten würde.44 Der gewöhnliche Common Sense ist deshalb allenfalls das Rohmaterial, an dem sich der Philosoph orientieren kann, um zu universellen Einsichten zu gelangen. DER COMMON-SENSE-BEGRIFF UND DIE »KRISE DES GETEILTEN STRAUSS« Und dennoch bildete der positive Bezug auf den Common Sense zur Abgrenzung einer an dem Ideal der antiken Prudentia orientierten Denkweise vom »Relativismus« der modernen Sozialwissenschaft nicht nur für Strauss selbst, sondern auch für seine Schüler ein grundlegendes Element ihrer radikalen Modernekritik. Allan Bloom polemisierte Mitte der 1980er Jahre in seinem millionenfach verkauften Bestseller »The Closing of the American Mind« – einem gegen den Niedergang klassisch-humanistischer Bildung und die Gleichheitspostulate der 68er gerichteten Manifest, das ihn zum weitaus bekanntesten »straussianischen« Ideenhistoriker werden ließ – u. a. gegen die »moderne Psychologie«. Denn diese (hier bemüht Bloom ein von Strauss zur Charakterisierung des Geisteszustandes der Moderne geprägtes Höhlengleichnis, welches das von Platon noch radikalisiert) lasse die Kinder in einem von Ideologien vernebelten »Tiefkeller« verharren, der sich noch unter jener »Höhle oder der Welt des Common Sense« befindet, welche erst den »richtigen Ausgangspunkt für ihren Aufstieg zur Weisheit« bilden würde.45 Und der emeritierte HarvardProfessor Harvey Mansfield verteidigt die Relevanz des erfahrungsbasierten Common-Sense-Wissens über die natürlichen Unterschiede der Geschlechter gegen den seines Erachtens absurden Konstruktivismus der gender studies.46 Doch gibt es auch Unterschiede bei der Verwendung des Common-SenseBegriffs, die erst verständlich werden, wenn man sich die allgemeineren Differenzen zwischen den oben bereits erwähnten West- und Ostküsten-Fraktionen der Strauss-Schule vergegenwärtigt. Einer der Hauptstreitpunkte dieses Grundkonflikts betrifft Strauss’ Bemerkungen zum Verhältnis des Philosophen zur politischen Praxis und zur Alltagswelt; ein anderer die Frage, wel44 Ders., Naturrecht, 88 f. u. S. 143 sowie ders.,The City and Man, S. 28.
che Implikationen Strauss’ Modernekritik für die Bewertung der politischen Tradition Amerikas haben könnte. Strauss selbst hat sich zu dieser zweiten Frage zeitlebens nur selten explizit geäußert. Für Verwirrung sorgt nicht zu-
45 Vgl. Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1987, S. 121.
letzt die Einleitung zu »Naturrecht und Geschichte«, wo Strauss den Ein-
46 Vgl. Harvey C. Mansfield, Manliness, New Haven 2006, S. 32.
Ursache der politischen Krise des modernen Amerika, was jedoch die Deu-
druck erweckt, die zeitgenössische »Ablehnung des Naturrechts«, wie es in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung formuliert ist, sei die eigentliche tung provoziert, dass Strauss glaubte, die USA seien auf den Prinzipien der Danny Michelsen — Wahrheit und Gemeinsinn
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klassischen Naturrechtslehre gegründet worden – und nicht auf dem das antike Streben nach »sittliche[r] Tugend und kontemplative[m] Leben« durch eine rationalistische Institutionenethik ersetzenden modernen Naturrecht, wie es im Anschluss an »Machiavellis ›realistische‹ Revolte« von Hobbes und Locke begründet worden sei.47 Dies ist die Position von Harry Jaffa, des wohl bekanntesten West Coast Straussian, der den Versuch unternimmt, Strauss mit seiner Wahlheimat zu versöhnen. Jaffa interpretiert die zwei großen Wendepunkte der amerikanischen Geschichte, die Revolution von 1776 und die von Lincoln eingeleitete Reconstruction, als eine Rückbesinnung auf das klassische Naturrecht, welches sich im Kern von einem einzigen universellen Prinzip: dem der natürlichen Gleichheit der Menschen, herleiten lasse. Mit dieser Deutung wähnt er sich in Übereinstimmung mit seinem Lehrer – was erstaunlich ist, bedenkt man, dass Strauss in der Idee der »konventionellen Gleichheit« gerade die verheerende Innovation des modernen Naturrechts gegenüber dem auf der Vorstellung »natürlicher Ungleichheit« gründenden klassischen Naturrecht sieht.48 Angesichts von Jaffas Interpretation des klassischen Naturrechts ist es jedenfalls kaum verwunderlich, dass dieser in Strauss’ Reflexionen zum Common-Sense-Problem nicht nur einen Schlüssel zum Verständnis von dessen gesamtem Œuvre, sondern auch eine engagierte, geradezu radikalegalitäre Intention zu erkennen meint: »the entire ›Straussian‹ enterprise can be understood as an attempt to restore to political philosophy the authority of such common sense reflections upon experiences available to everyone.«49 Da Jaffa, den Strauss’schen Antikonventionalismus auf die Spitze treibend, offenbar von einer prinzipiellen Übereinstimmung von »Natur« und gesellschaftlich ausgehandelten Gerechtigkeitsgrundsätzen ausgeht, sofern es sich um rationale, d. h. die naturrechtlichen Prinzipien reflektierende Übereinkünfte handelt, meint er geltend machen zu können, dass für politisch so erfahrene Männer wie Jefferson oder Lincoln die Einsicht in das grundlegende naturrechtliche Prinzip der allgemeinen Gleichheit immer schon eine Common-Sense-Wahrheit gewesen sei.50 Common Sense und die »kosmologische« Einsicht in das »Ganze« fallen hier in eins; letztere ist nicht mehr nur den Philosophen vorbehalten, nicht einmal den »gentlemen« im Strauss’schen Sinne. (Zumindest ist es fragwürdig, ob Strauss jemanden wie Lincoln, der keine höhere – erst recht keine klassische – Ausbildung genossen hat, als Gentleman bezeichnet hätte.) Allerdings zeichnet sich Jaffas Werk, wie das seines Lehrers, durch einen Hang zur Zweideutigkeit aus: An anderer Stelle heißt es doch wieder, nur die Philosophen hätten die Fähigkeit, jene »chaotischen« Meinungskonflikte, die doch nur das »geistige Chaos« eines vom modernen Wertrelativismus geprägten Zeitalters reflektiere, durch die »Kanone der Vernunft« aufzulösen.51
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Wissenschaftliche Schulen — Analyse
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47 Strauss, Naturrecht, S. 3 u. S. 184 f. 48 Strauss, Naturrecht, S. 270. 49 Jaffa, Crisis, S. 63. 50 Ders., A New Birth of Freedom. Abraham Lincoln and the Coming of the Civil War, Lanham 2000, S. 81. 51 Ders., Aristotle and the Higher Good, in: New York Times, 01. 07. 2011.
Konsistenter und letztlich konsequenter haben dagegen Ostküsten-Straussianer wie Allan Bloom auf den unvollständigen Charakter des Common Sense, die »virtues and defects of that faculty«, fokussiert, denn letztlich verbleibe ein Mensch, der sich allein mit seinem gesunden Menschenverstand begnügt, doch nur »within his own little world« befangen.52 Neben Bloom hat insbesondere Thomas Pangle Strauss’ Thesen über die Höherwertigkeit des philosophischen Lebens gegenüber der vita activa aufgegriffen und die Notwendigkeit betont, dass die »authentischen Philosophen« ihre Distanz zur Polis wahren, sich gar nicht erst der Illusion hingeben sollten, dass »moral and political virtue can be made philosophic.«53 Wie wir sahen, dürfte dieser Standpunkt der originalen Strauss-Doktrin sehr viel näher kommen; dies gilt auch für die Position der East Coast Straussians zur Amerika-Frage. Vor allem Bloom und Walter Berns haben ihr Unbehagen darüber geäußert, dass die amerikanische Verfassungsordnung und die sie definierenden Gründungsdokumente vom Geist der von Hobbes und Locke entwickelten modernen Naturrechtslehre erfüllt seien: einer im Kern »amoralischen« Lehre, weil sie den Wert der privaten Freiheit verabsolutiere, aber keine substantielle Idee der Gerechtigkeit formuliere, auf deren Basis ein »Unterscheiden zwischen Gut und Böse« möglich wäre. Die einzig wirksame Lösung wäre eine Rückbesinnung auf das, »what ancient wisdom declares to be the primary function of the law: the for52 Allan Bloom, Cosmopolitan Man and the Political Community, in: ders. (mit Harry Jaffa), Shakespeare’s Politics, New York 1964, S. 35–74, hier S. 40 f. (Hervorh. DM). 53 Thomas Pangle, Introduction, in: Leo Strauss, Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago 1983, S. 1–26, hier S. 9 u. S. 14; vgl. auch Drury, Political Ideas, S. 184. 54 Walter Berns, Freedom, Virtue and the First Amendment, Baton Rouge 1957, S. 28, S. 46 f. u. S. 255.
mation of character.«54 Über dieses Heilmittel – die »antike Weisheit« als Quelle einer universellen Idee des Guten – besteht innerhalb der Strauss-Schule völlige Einigkeit. Im Rahmen der die Relevanz dieses Postulats begründenden epistemologischen Skizzen scheint das Common-Sense-Wissen aber letztlich nur von marginaler Bedeutung zu sein. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass die dennoch auffallend häufige Bezugnahme auf diese Art von Wissen primär forschungsstrategisch motiviert war – möglicherweise sollte ein Anknüpfen an die in der amerikanischen Geistesgeschichte immerhin tief verwurzelte Kontrastierung von Common Sense und »Ideologie« die Nostalgie- und Elitismus-Vorwürfe, welche sich zwangsläufig gegen eine Rückkehr zur Weisheit der Alten formieren würden, zerstreuen helfen. Die widersprüchliche Prominenz des Begriffs in Strauss’ Werken mag jedenfalls dazu beitragen, Drurys Verdacht vom exoterischen Strauss weiter anzuheizen.
Danny Michelsen, geb. 1988, ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er hat in Göttingen und Berlin Politikwissenschaft und Germanistik studiert und schreibt derzeit an einer Dissertation über das politische Denken Sheldon Wolins.
Danny Michelsen — Wahrheit und Gemeinsinn
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EINE DEUTSCHE LEGENDE DIE FREIBURGER SCHULE UND DER ORDOLIBERALISMUS ΞΞ Ralf Ptak Wirtschaftswunder und Soziale Marktwirtschaft – der wirtschaftliche Aufstieg Westdeutschlands in den fünfziger und sechziger Jahren gilt als größter Erfolg der bundesrepublikanischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dabei handelt es sich aber um mehr als nur um die Geschichte einer erfolgreichen ökonomischen Wachstumsphase – mit durchschnittlich über acht Prozent Wachstum in den fünfziger Jahren und über vier Prozent durchschnittlichem Wachstum in der folgenden Dekade –, die zur Vollbeschäftigung führte und eine umfassende Arbeitsmigration nötig werden ließ. Es geht hier vielmehr um das Selbstverständnis und Selbstbild der Bundesrepublik, denn der früh einsetzende ökonomische Erfolg des Landes bildete eine Art Ersatzidentität für den durch Krieg und schwerste Verbrechen beschädigten Nationalstolz. Diese Identität stiftete nach innen Zufriedenheit und Stolz und sorgte nach außen für internationale Anerkennung. Tatsächlich definiert sich Deutschland bis heute durch seine großen ökonomischen Erfolge und das vermeintlich diesen zugrunde liegende spezifische Programm, das meist als »Soziale Marktwirtschaft« bezeichnet wird. Für diese Erfolgsgeschichte und ihre Deutung gibt es eine Erzählung, die gewissermaßen den Rang einer Staatsräson besitzt. Aber wer sind die »Helden« dieser Erzählung? Auf welcher politischen und ökonomischen Grundlage haben sie gehandelt? Das ist der Beginn der wohlfeilen Legende, nach der ein Kreis charakterstarker, unerschrockener Männer – Wirtschaftswissenschaftler und Juristen – aus den Lehren von Weimar und Nationalsozialismus Konsequenzen zog und einen neuen Liberalismus schuf, der später die geistige Grundlage der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik werden sollte. Dieser Kreis kluger Köpfe, der – so die Erzählung – gegen die nationalsozialistische Staatswirtschaft opponierte, teilweise gar im Widerstand organisiert war und nach 1945 wiederum mutig dem planwirtschaftlichen Zeitgeist von links entgegentrat, hatte die Idee einer Wirtschaftsordnung entwickelt, die gleichermaßen ökonomisch effizient und dem Menschen gerecht sei. Die Devise war: keine Extreme und keine Experimente, stattdessen sollte ein dritter Weg zwischen dem passiven Laissez-faire-Grundsatz des frühen Wirtschaftsliberalismus und den planwirtschaftlichen Abgründen der Zentralverwaltungswirtschaft beschritten werden. Unter dem Label der Sozialen Marktwirtschaft wurde diese Idee dann zu einer Art wirtschaftspolitischem
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INDES, 2014–3, S. 70–77, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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Grundgesetz der Bundesrepublik, zu dem sich heute Politiker praktisch aller Parteien bekennen, obwohl sie jeweils etwas anderes darunter verstehen. Soweit der Legende erster Teil. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Kreis um die Protagonisten des deutschen Neoliberalismus, die sich seit Ende der zwanziger Jahre formierten und ab den fünfziger Jahren unter der Bezeichnung Ordoliberalismus firmierten. Insofern geht es bei der Geschichte weniger um einen zielgerichteten Weg aufrechter Liberaler als vielmehr um einen Prozess schmerzhafter Anpassung an eine veränderte politische und ökonomische Welt, immer von dem Geist beseelt, das marktwirtschaftliche Paradigma weitestgehend zu erhalten und die Einflüsse der Demokratie auf wirtschaftliche Prozesse möglichst zu beschränken. AUSGANGSPUNKT: GROSSE DEPRESSION UND DIE KRISE DER WEIMARER REPUBLIK Vor dem Hintergrund der Großen Depression seit Ende der 1920er Jahre, die selbst zeitgenössische Ökonomen in dieser Wucht überraschte,1 vollzog sich endgültig ein Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftspolitik, der sich bereits in den Jahren davor angedeutet hatte. Der einflussreiche zeitgenössische Ökonom und Soziologe Emil Lederer schrieb 1932: »Der Kapitalismus bewältigt nicht mehr die ihm von der Entwicklung gestellten Aufgaben. […] Damit ist der Augenblick nahegerückt, in dem eine planmäßige Ordnung der gesellschaftlichen Produktivkräfte unvermeidbar wird. Eine solche ist heute – als Aufgabe – durchaus lösbar.«2 Die Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 bildete also nicht nur den sozialökonomischen Hintergrund des politischen Zerfalls der Weimarer Republik, son1
Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 115 ff.
dern sie beendete auch den seit der Klassik herrschenden Marktoptimismus in der Ökonomie. Insofern ist von einer »Epochenbedeutung der Weltwirtschaftskrise«3 zu sprechen, in deren Gefolge die politische Gestaltung und Intervention in den Markt zur allgemeinen Richtschnur fast aller kapitalisti-
2 Emil Lederer, Die Weltwirtschaftskrise – eine Krise des Kapitalismus. Ursachen und Auswege, in: ders., Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910–1940, Göttingen 1979, S. 229. 3 Knut Borchardt, Wachstum und Wechsellagen 1914–1970, in: Hermann Aubin u. Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 710.
schen Staaten wurde, die sich in der Wirtschaftspolitik ab 1936 vornehmlich auf Keynes’ »General Theory« stützten. Die Entstehung des Neoliberalismus ist insofern auch eine Gegenreaktion auf den global aufblühenden Keynesianismus, der in den westlichen Industrienationen vor allem als sozialdemokratische Reformpolitik Verbreitung fand. Die Antwort der liberalen Kritiker orientierte sich an Altbekanntem. Auf das offensichtliche Scheitern des Wirtschaftsliberalismus reagierte der neue Liberalismus mit einer erweiterten Neuauflage der exogenen (neo)klassischen Krisenerklärung, nach der allein äußere Einflussfaktoren – und nicht der Marktmechanismus selbst – für die Krise verantwortlich seien. Statt Ralf Ptak — Eine deutsche Legende
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Marktversagen wurde die These vom Staats- und Politikversagen ins Zentrum der Analyse gerückt, die zur Kernaussage des Programms werden sollte. Das zeigt sich in besonderer Weise bei den ordoliberalen Protagonisten am Ende der Weimarer Republik. Zwei scharfe Angriffe auf die Weimarer Republik durch Texte von Walter Eucken und Alexander Rüstow gelten als maßgebliche Gründungsakte des deutschen Neoliberalismus.4 So führte Eucken die Weltwirtschaftskrise in einem 1932 erschienenen Aufsatz maßgeblich auf den Einfluss der »chaotischen Kräfte der Masse« in Staat und Gesellschaft zurück.5 Dieser Einfluss habe, so die Argumentation von Rüstow, den Interventionsstaat heraufbeschworen und damit die Kräfte des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zum Erliegen gebracht. Verantwortlich für die Erlahmung der Wirtschaft und die Massenarbeitslosigkeit sei die Entwicklung zu einem Staat, der zur »Beute« von »gierigen Interessenhaufen« geworden sei.6 Auch Alfred Müller-Armack, später Staatssekretär von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, sah im »interventionistische[n] Parteienstaat« der Weimarer Republik die eigentliche Ursache des Verfalls der gesellschaftlichen Ordnung.7 Als Lösung favorisierten die neoliberalen Protagonisten in Deutschland – wohlgemerkt: 1932, vor dem Hintergrund des Aufstiegs der NSDAP – einen »starken Staat«, der mit großer Machtfülle ausgestattet einem übergeordneten Gesamtinteresse Geltung verschaffen sollte, um so den Einfluss der Parteien und Gewerkschaften zurückzudrängen. Rüstow erwog gar die Außerkraftsetzung der gerade erst geschaffenen Demokratie, indem er in Anlehnung an den führenden Staatsrechtler im Nationalsozialismus, Carl Schmitt, »eine befristete Diktatur« empfahl, »sozusagen eine Diktatur mit Bewährungsfrist.«8 Zweck dieses »starken Staates« sollte es sein, den Einflussbereich des Parlaments durch eine Trennung der beiden Sphären Staat und Wirtschaft massiv zu begrenzen und so wirtschaftspolitische Eingriffe zur Beeinflussung der Marktprozesse und ihrer Ergebnisse zu unterbinden. Sieht man einmal von der offenen Sympathie für ein (befristetes) diktatorisches Element ab, hat diese Krisenanalyse bis in die Gegenwart Gültigkeit für die deutschen Neoliberalen.9 Die Kritik am ausufernden und vermeintlich fehllenkenden Interventionsstaat ist eine Grundfigur ihrer Ideologie, die eng mit der Kritik an der parlamentarischen Demokratie verknüpft ist. ORDOLIBERALISMUS UND FREIBURGER SCHULE ALS WISSENSCHAFTLICHE STRÖMUNG Es ist sinnvoll, den ursprünglichen Ordoliberalismus in drei Richtungen einzuteilen, da er eher als weite Strömung denn als geschlossene Gruppierung
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4 Vgl. Ralf Ptak, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004, S. 33 ff. 5 Walter Eucken, Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus; in: Weltwirtschaftliches Archiv, H. 2/1932, S. 312. 6 Alexander Rüstow, Interessenpolitik oder Staatspolitik, in: Der deutsche Volkswirt, H. 6/1932, S. 171. 7 Alfred Müller-Armack, Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932, S. 197. 8 Alexander Rüstow, Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie. Dokumentation des Vortrages und der Diskussion von 1929 an der »Deutschen Hochschule für Politik«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, H. 1/1959, S. 91. 9 Vgl. z. B. die Vorbemerkung der Schriftleitung des ORDO, dem Theorieorgan des Ordoliberalismus, zum Wiederabdruck des Aufsatzes von Walter Eucken von 1932 (vgl. Eucken, Staatliche Strukturwandlungen), in: ORDO, Jg. 48 (1997), S. 3 f.
zu fassen ist: das wirtschaftswissenschaftliche Zentrum der Freiburger Schule um Walter Eucken, den soziologischen Flügel um die in die Türkei emigrierten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke und die Gruppe der Praktiker mit Ludwig Erhard und dem späteren FAZ-Herausgeber Erich Welter sowie Alfred Müller-Armack, der sowohl der zweiten wie der dritten Richtung zugerechnet werden kann. Über Friedrich A. von Hayek, den Gründer der Mont Pèlerin Society – einer Art wirtschaftsliberaler Internationale – und Nobelpreisträger für Wirtschaft 1974, bestand stets eine enge Verbindung zum angelsächsischen Neoliberalismus. Nachdem zu Beginn der dreißiger Jahre erste Problemstellungen des neuen Liberalismus aus einer staatstheoretischen, demokratiekritischen und kulturpessimistischen Perspektive benannt waren, entwickelte sich der deutsche Ordoliberalismus zwischen der Mitte der dreißiger Jahre und dem Ende des Krieges allmählich zu einer wirtschaftswissenschaftlichen Richtung, die sich das Ziel setzte, allgemeingültige Ordnungsgrundsätze für eine Wirtschaftspolitik in der freien Marktwirtschaft zu formulieren – durchaus mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Der Kreis um Eucken wurde zum Ausgangspunkt und theoretischen Rückgrat des deutschen Ordoliberalismus. Zum engeren Personenkreis der Freiburger Schule gehörten neben Walter Eucken als intellektuellem Kopf vor allem Franz Böhm (der akademische Lehrer von Kurt Biedenkopf) und Leonhard Miksch sowie Friedrich A. Lutz, Hans Gestrich, Bernhard Pfister, Fritz W. Meyer, Karl F. Maier, K. Paul Hensel und Constantin von Dietze. Im Fokus der Freiburger Analyse stand das Problem der Wirtschaftsordnung und damit die Frage nach den institutionellen Bedingungen wirtschaftlichen Handelns. Trotz des Anspruchs, eine allgemeine Ordnungstheorie zu entwerfen, konnte aus Freiburger Sicht allein die Marktwirtschaft eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung sein. Somit beschränkten sich die Freiburger Reformvorschläge auf die Schaffung eines institutionellen Rahmens marktwirtschaftlichen Handelns. Alternativen, die sich auf die Planung oder Steuerung des Wirtschaftsprozesses stützen, waren allenfalls theoretisch möglich und mussten aus Freiburger Sicht immer in fremdbestimmten Zwangssystemen enden, selbst wenn sie demokratisch legitimiert waren. Die Kritik am alten, klassischen Wirtschaftsliberalismus blieb eng begrenzt. Zwar kritisierten die Freiburger den Laissez-faire-Grundsatz der Klassik, aber an der selbstregulierenden Wirkung des Marktes bestanden aus ihrer Sicht keine Zweifel. Die Freiburger entwickelten als Konsequenz das streng normative Modell einer – zugespitzt formuliert – staatlich organisierten Marktwirtschaft, die mit starken Institutionen und einer rigiden Rahmensetzung den Wettbewerb Ralf Ptak — Eine deutsche Legende
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durchsetzen und sichern soll. Die Marktwirtschaft werde so, wie Miksch es formulierte, zu einer »staatlichen Veranstaltung«.10 Damit rückte der Staat in den Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Konzeption der Freiburger Schule – ein Staat, der stark sein sollte, um Wettbewerbsverhalten am Markt zu erzwingen (z. B. zur Durchsetzung individueller Lohnfindung unter Ausschluss von Gewerkschaften), und schwach, um Marktergebnisse nicht politisch korrigieren zu können (z. B. in der Sozialpolitik). Die wirtschaftspolitischen Eingriffe des Staates waren allerdings an bestimmte Kriterien gebunden. Zum ersten mussten sie Teil einer ganzheitlichen Ordnungspolitik sein, d. h. die Interdependenz der Ordnungen (Wirtschaft, Politik, Soziales, Kultur) beachten. Daraus leitete die Freiburger Schule die Notwendigkeit einer eigenständigen Wirtschaftsverfassung ab, die das Marktprinzip als durchgängige Norm der Teilordnungen vorgab. Zum zweiten musste der »liberale Interventionismus« (Rüstow) dem Prinzip der Marktkonformität11 folgen, was bedeutet, dass die Interventionen die freie Bildung des Gleichgewichtspreises nicht behindern durften und damit die Freiheit der Märkte unangetastet ließen. Eucken sagte: »Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein.«12 DIE ERFOLGE DER ORDOLIBERALEN UND WAS DAVON ÜBRIG BLEIBT Während die Freiburger in den deißiger Jahren die Grundlagen einer Theorie der Wettbewerbsordnung entwickelten, arbeiteten Alfred Müller-Armack und die Exilanten Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke am Programm einer »widergelagerten Gesellschaftspolitik«13 zur Stabilisierung der Marktwirtschaft. Obwohl in dieser Entstehungsphase nur wenige unmittelbare, personelle Verbindungen zwischen den verschiedenen Strängen des Ordo-
10 Leonhard Miksch, Wettbewerb als Aufgabe. Grundsätze einer Wettbewerbsordnung, Stuttgart 1937, S. 9.
liberalismus bestanden, gelang es den Kreisen um Eucken, Röpke und Müller-Armack doch, sich und ihre Ideen nach 1945 als eine weitgehend homogene Richtung zu präsentieren. Tatsächlich hat der deutsche Ordoliberalismus das erste relativ geschlossene marktwirtschaftliche Programm des Neoliberalismus vorgelegt. Unter den Bedingungen von Not und Mangel in der Nachkriegszeit, dem Fehlen wirtschaftspolitischer Alternativen durch die weitgehende Gleichschaltungspolitik der NSDAP in den Wirtschaftswissenschaften und der Duldung durch die US-amerikanische Besatzungsmacht führte die relative Geschlossenheit des Programms dazu, dass der Ordoliberalismus nach 1945 in Westdeutschland maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der wirtschaftlichen Nachkriegsordnung erlangen konnte.14 Mit Ludwig Erhard wurde ein dem Ordoliberalismus nahestehender Politiker Wirtschaftsminister, in dessen Umfeld
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11 Ursprünglich geprägt durch Wilhelm Röpke, Staatsinterventionismus, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Jena 1929, S. 861–882. 12 Walter Eucken, Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, in: ORDO, Jg. 2 (1949), S. 1–99, hier S. 93. 13 Wilhelm Röpke, Civitas Humana, Erlenbach-Zürich 1946, S. 85. 14 Vgl. Ralf Ptak, a. a. O., S. 133 ff.
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die führenden Köpfe des deutschen Neoliberalismus die neu entstehende wirtschaftspolitische Beratung, vor allem im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums, dominierten. So gilt Leonhard Miksch als Schöpfer des Leitsätzegesetzes von 1948, mit dem die Preisverordnungen und Kontingentierungen der unmittelbaren Nachkriegszeit weitgehend aufgehoben wurden; Franz Böhm war als führender Wirtschaftspolitiker der CDU die treibende Kraft der Formulierung und Durchsetzung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957; Wilhelm Röpke wurde einflussreicher wirtschaftspolitischer Berater von Erhard und Adenauer und stützte mit seinen Gutachten öffentlich ebenso den marktwirtschaftlichen Kurs der Regierung wie auch Alexander Rüstow, der als Vorsitzender der »Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft« vorstand, einer propagandistischen Lobbyinstitution der Ordoliberalen, die bis heute existiert. Kurzum: Entgegen der diffusen antikapitalistischen Nachkriegsstimmung und einem internationalen Trend zur Planung und Steuerung der Wirtschaftsprozesse etablierte sich damit unter den spezifischen Bedingungen Westdeutschlands eine marktwirtschaftliche Ordnung. Die Ordoliberalen hatten ihr marktwirtschaftliches Programm allerdings mit einer Reihe Versprechen verknüpft. So sollte mittelfristig eine vollständige Wettbewerbsordnung ohne die Existenz wirtschaftlicher Macht etabliert werden. Dieser Antimonopolismus war ebenso ein zentrales Versprechen wie der aktive Interventionsstaat und die Beachtung der sozialen Frage, allerdings unter dem Vorbehalt, dass daraus kein Sozialstaat erwachsen dürfe. Denn aus ordoliberaler Perspektive galt und gilt eine funktionsfähige Wettbewerbsordnung als die beste Form der Sozialpolitik. Tatsächlich entwickelte sich die wirtschafts- und sozialpolitische Realität aber anders. Die Bundesrepublik wurde seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einem modernen Sozialstaat. Auch die wirtschaftlichen Machtverhältnisse wurden keineswegs dezentralisiert, sondern etablierten sich ähnlich wie in den anderen entwickelten Industriestaaten als konzentrierte Marktmacht oligopolistischer Unternehmen. Damit war das Ideal eines perfekten Wettbewerbs in der Praxis zerplatzt. Zudem erwies sich die Verteidigung eines starken Staates zur Durchsetzung der Wettbewerbsordnung als zweifelhafte Strategie, die insbesondere von den angelsächsischen Kollegen kritisiert wurde; zum einen, weil das darin erhaltene autoritäre Element zur Durchsetzung marktkonformen Verhaltens kaum mit einem liberalen Freiheitsversprechen vereinbar war, und zum anderen, weil eine »veranstaltete« Marktwirtschaft auch den Boden für andere Formen des organisierten Wirtschaftens bereiten konnte.
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15 Eduard Heimann, Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen 1963, S. 171.
An diesen Widersprüchlichkeiten sind der originäre Ordoliberalismus und die Freiburger Schule letztlich zerbrochen. Ihr Verdienst ist die zumindest teilweise erfolgte Abkehr von klassischen wirtschaftsliberalen Dogmen. »Die
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Sebastian Dullien u. Ulrike Guérot, The long Shadow of Ordoliberalism: Germany’s Approach to the Euro Crises, in: Policy Brief, ECFR/49, February 2012, online einsehbar unter www.ecfr.eu/content/entry/the_ long_shadow_of_ordoliberalism_ germanys_approach_to_the_euro_ crisis [eingesehen am 20. 07. 2014].
neoliberale Theorie«, so Eduard Heimann, »hat eine liberale Wirtschaftspolitik prinzipiell möglich gemacht, indem sie marktkonforme Eingriffe […] von den nicht-marktkonformen Eingriffen unterscheidet.«15 Bei aller Schwierigkeit und bisweilen Unsinnigkeit, beide Ebenen auseinanderzuhalten, bleibt doch die Anerkennung der Notwendigkeit staatlicher Eingriffe, um Marktversagen zu korrigieren. Auch die Betonung der Interdependenz des Designs der Institutionen mit den wirtschaftlichen Prozessen selbst, die vornehmlich durch die Freiburger Schule und hier vor allem durch Eucken formuliert wurde, war ein wichtiger Beitrag zur modernen Institutionenökonomik. Was ist aus heutiger Sicht geblieben? Auf institutioneller Ebene wenig, denn die Freiburger Schule existiert schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Geblieben ist das Walter-Eucken-Institut, das als gemeinnützige Forschungseinrichtung im Umfeld der Freiburger Universität agiert. Das Institut ist Teil eines Netzwerks, das unter der Bezeichnung »Jenaer Allianz« das wissenschaftliche Erbe der Freiburger und des Ordoliberalismus propagiert und besonders im Feld der wirtschaftspolitischen Beratung respektive bei marktwirtschaftlichen Reformkampagnen präsent ist. Dabei ist das spezifische Profil der deutschen Ordnungstheorie zunehmend dem Wettbewerbs- und Marktverständnis des angelsächsischen Neoliberalismus gewichen. Aber trotz seiner organisatorisch-institutionellen Begrenztheit ist der ordoliberale Ansatz nicht zuletzt durch die Legendenbildung der Nachkriegszeit und die jahrzehntelange personelle Präsenz seiner Protagonisten in wichtigen wirtschaftspolitischen Beratungsgremien und Behörden bei den deutschen Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und Medien weit verbreitet. Das hat sich gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 gezeigt. Nach dem vorläufigen Scheitern der marktradikalen Deregulierung konnte sich das ordoliberale Denken als gemäßigte marktwirtschaftliche Variante in den Krisendebatten etablieren und wichtigen Einfluss auf die deutsche Krisenpolitik unter Kanzlerin Merkel erlangen.16 Sie selbst sorgte dafür, dass der
PD Dr. Ralf Ptak, geb. 1960, ist Volkswirt und Sozialökonom sowie Privatdozent für ökonomische Bildung an der Universität Köln. Er arbeitet als wirtschaftswissenschaftlicher Referent des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt der Nordkirche, Hamburg.
ordoliberale Grundsatz der Marktkonformität zur Leitlinie der europäischen Krisenpolitik und damit ganz im Sinne Walter Euckens zum konstituierenden Prinzip europäischer Wirtschaftspolitik wurde. Das Ergebnis dieser Politik – wirtschaftliche Depression und ein soziales Desaster vornehmlich in den südeuropäischen Krisenländern – wird sich allerdings vor der Geschichte erst noch beweisen müssen.
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»WEITSICHT UND NAIVITÄT« EIN STUDENTISCHER BLICK AUF DIE AMBIVALENZ DER FRANKFURTER SCHULE ΞΞ Hannes Keune / Julian Schenke
»Dem Markt entgeht keine Theorie mehr: eine jede wird als mögliche unter den konkurrierenden Meinungen ausgeboten, alle zur Wahl gestellt, alle geschluckt.«1 Viele tausend Seiten sind über die »Frankfurter Schule« und die kritischen Theoretiker um Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse geschrieben worden. Leider schlägt die Regel die Ausnahme: Die meisten Abhandlungen tun dem Denken ihrer Repräsentanten Gewalt an. Wälzer wie »Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule« von Clemens Albrecht und anderen,2 so viel Richtiges sie im Einzelnen auch enthalten mögen, sagen wesentlich mehr über das Bedürfnis einer Gesellschaft aus, nach der in Auschwitz kulminierenden Barbarei inmitten der Zivilisation zur Normalität nationaler Selbstbeweihräucherung zurückzukehren und – das gilt für den akademischen Betrieb – sich endlich wieder in der Sicherheit wissenschaftlicher Rationalität wiegen zu können.3 Kritische Theorie war nie antiakademisch, und doch zeichnet sie die Reflexion auf gesellschaftliche Erfahrung, auch und gerade auf das unmittelbare individuelle Leiden der Theoretiker selbst, als notwendiges Moment
1 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 16.
der eigenen Begriffsbildung aus. Die Bedeutung des außerakademischen Impulses – d. h. der Erfahrung der desillusionierenden Realität, des Mitfühlens mit dem vom objektiven Gang der Dinge produzierten individuellen Leiden und der von vielen als metaphysischer Unsinn denunzierten messianischen Hoffnung auf die doch noch eintretende Befreiung – ist es, was die Differenz der kritischen Theorie zu allen anderen Ansätzen, Sozialforschung zu betreiben, ausmacht. Jürgen Habermas ist nur der erste und wichtigste der Akademiker, die die kritische Theorie um ihr Movens erleichterten: die Erfahrung gesellschaftlicher Destruktivität im »Zeitalter der Extreme«.4 DIE HISTORISCHE ERFAHRUNG DER KRITISCHEN THEORIE: MISSGLÜCKTE BEFREIUNG UND AUSCHWITZ Es hätte so einfach sein können. Karl Marx’ und Friedrich Engels’ Kritik an den liberal-kapitalistischen Verkehrsformen des bürgerlichen 19. Jahrhunderts
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INDES, 2014–3, S. 78–86, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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2 Vgl. Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 2000. 3 Vgl. Detlev Claussen, Reflexion und Erinnerung. Zur Regeneration der authentischen Kritischen Theorie, in: ders., Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Frankfurt a. M. 2000, S. 12–29. 4 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2003.
und den ihnen entspringenden notwendig verkehrten Bewusstseinsformen sollte die Arbeiterklasse anleiten, die von der kapitalistischen Moderne gemachten Versprechungen auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzufordern und einen Verein der Freien einzurichten. Doch die Revolution blieb wider alle marxistischen Hoffnungen aus. Leo Löwenthals Ausspruch, dass nicht er die Arbeiterklasse, sondern das Proletariat ihn und die Revolution verraten habe, bringt die enttäuschten Sehnsüchte des Kreises um Horkheimer in den 1920ern trefflich auf den Punkt. Eine revolutionäre Theorie, die sich gegen die Verflachungen des sozialdemokratischen Revisionismus wie auch gegen die »sozialistische Ideologie« der Sowjets richten sollte, musste Antworten geben, die das Massenabschlachten des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der Revolution erklärten: Warum bleibt die proletarische Revolution aus, warum weisen Klasseninteresse und Klassenbewusstsein, objektive Notwendigkeit der Überwindung überkommener Verhältnisse und subjektives Erfahren gesellschaftlicher Realität so weit auseinander, dass die Proleten nicht nur keine Revolution machen, sondern sich ihre Jugend5 den sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929 zunehmend formierenden Nationalsozialisten zuwandte? Die jungen Marxisten verbanden mit größter Emphase das Marx’sche »Kapital« mit dem philosophischen Erbe und dem Begriffsinstrumentarium Kants, Hegels, Nietzsches und – wenn zunächst auch argwöhnisch – mit der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds, um die Irrationalität der sozialen Umwälzungen während des Faschisierungsprozesses erklären zu können.6 Die kritische Theorie, ein sklavensprachlicher Code für »Marxismus«, den Horkheimer in »Traditionelle und kritische Theorie« gegen den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und den Parteimarxismus einführte, war in den 1930ern eine Theorie der Befreiung, ihr Programm die Reformulierung von Marx auf der Höhe der Zeit. Die Gesellschaft war nicht mehr die, die Marx noch vor Augen gehabt hatte: Die Transformation des 5 Vgl. Peter Brückner, Psychologie und Geschichte. Vorlesungen im »Club Voltaire« 1980/81, Berlin 1982, S. 92.
bürgerlich-liberalen in einen monopolistischen Kapitalismus hatte auch im Ideologischen Veränderungen hervorgerufen. Mit der faktischen Abschaffung von freiem Markt und Zirkulation durch den Spätkapitalismus verschwindet, so die These des Instituts für Sozialforschung, auch das bürgerliche Indivi-
6 Vgl. ebd., S. 10–15 sowie S. 93–99. 7
Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie [1932], in: ders. (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1988, S. 48–69, hier S. 57. 8 Ebd., S. 59.
duum – der Mensch verkomme immer mehr zur bloßen und damit manipulierbaren gesellschaftlichen Funktion. Dass die Revolution ausblieb, obwohl die objektiven Bedingungen eigentlich »reif« gewesen waren, konnte nur noch eine mit materialistischer Kritik vermittelte Psychologie als »Hilfswissenschaft der Geschichte«7 erklären. Warum? Weil »das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewußtsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist«8, so Horkheimer. Die Hannes Keune / Julian Schenke — »Weitsicht und Naivität«
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Empfänglichkeit der Massen für parteikommunistische und faschistische Versprechungen, beides Ersatzreligionen in einer nur schlecht säkularisierten Welt, offenbarte eindrücklich die Grenzen marxistischer Ideologiekritik. Die, die nach Marx dazu auserkoren waren, Revolution zu machen, waren wesentlich faszinierter von den Mythen und Versprechungen totalitärer Agitation als von der vagen messianischen Hoffnung auf die Verwirklichung der authentischen kommunistischen Utopie, an der Horkheimer noch festhielt. 1937 erinnerte er in »Traditionelle und kritische Theorie« an die utopische Vision einer freien Gesellschaft und entlarvte treffend die Reinheit wissenschaftlicher Objektivität als Ausdruck einer indirekten akademischen Parteinahme für den Status Quo, einer kalten bürgerlichen Indifferenz dem menschlichen Leiden gegenüber. Dabei ist es dieses zur Kritik gesteigerte Mitleid, das bis heute die offene Opposition der kritischen Theorie zum akademischen Normalvollzug ausmacht. Der kritische Theoretiker ist, so Horkheimer, allein der Wahrheit und der Menschlichkeit verpflichtet, nicht der abstrakten Wissenschaftlichkeit und nicht dem Proletariat, auch wenn Horkheimer die Rolle des Intellektuellen noch »im politischen Kampf«9 verortete. Bis in die späten 1930er blieb die kritische Theorie eine revolutionäre Theorie der Befreiung. Der Kampf des Theoretikers galt der Einrichtung einer freien Welt. Die Weitsicht des Instituts für Sozialforschung ist dabei beeindruckend: Die Seismologen des gesellschaftlichen Erdbebens von Krise und Faschisierung erahnten früh das heraufziehende Unheil. Noch war die Katastrophe, noch war Auschwitz nicht geschehen, und doch sind insbesondere in den Schriften Horkheimers schon der Begriff der instrumentellen Vernunft und eine sozialpsychologische Analyse massenfeindlicher Massenbewegungen angelegt.10 Insofern ist der Horkheimer der 1930er zu Recht als ein Theoretiker eines »Zwischen«11, einer »unausgetragenen Spannung«12 von Revolution und Resignation bezeichnet worden. Er erinnert, so Wolfram Stender, an einen Kulturbürger, der sich vor lauter Naivität in Zeiten des Untergangs »seine Utopie vom befriedeten Kulturweltbürgertum nicht zerstören lassen will«13, und doch schon ahnt, dass die Welt, der die eigenen Ideen entspringen, zum Untergang verdammt ist. Auschwitz, das Grauen inmitten der Zivilisation, exekutierte endgültig den Untergang der bürgerlichen Welt. Die Frage nach der Revolutionierung des falschen Ganzen musste zwangsläufig der Reflexion auf die
9 Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie [1937], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216, hier S. 197. 10 Vgl. Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung [1936], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–88. 11 Wolfram Stender, Kritik und Vernunft. Studien zu Horkheimer, Habermas und Freud. Lüneburg 1996, S. 81.
Erfahrung der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden weichen. Wie konnte es sein, dass die »Kulturnation« Deutschland zum rational geplanten und durchgeführten Massenmord an wehrlosen und unschuldigen Menschen fähig war? Die Aporie, welche die Autoren sich
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12 Benhabib, zit. nach ebd., S. 81. 13
Ebd., S. 54.
vergegenwärtigten, war, dass das Programm der Aufklärung die »Entzauberung der Welt«14 sei, doch »die vollends aufgeklärte Erde […] im Zeichen triumphalen Unheils«15 erstrahlte. Die beiden wesensverwandten Abhandlungen Adornos und Horkheimers, die »Dialektik der Aufklärung« und die »Eclipse of Reason«, sind die radikalsten Versuche, das Unbegreifliche begrifflich nachzuvollziehen. Ihnen geht es um die gesellschaftliche Genese der destruktiven Potenziale der abendländischen Zivilisation, um die Aporie der Selbstzerstörung der Aufklärung. Aufklärung selbst wird zum Gegenstand der Kritik – ohne freilich Aufklärung preiszugeben. Die Autoren sind sich darüber im Klaren, dass allein die Selbstbesinnung des Denkens über die Grenzen der Aufklärung Auskunft geben kann, wie es bereits in der Vorrede der »Dialektik« gegen jedes »Missverstehenwollen« festgehalten wird.16 Schon in der alles neuere Denken prägenden Urform abendländischer Vernunft ist demnach die Ablösung der Rationalität vom Begriff des allgemein Menschlichen angelegt. In der spätkapitalistischen Gesellschaft schmilzt Aufklärung in blinder Eigendynamik zu einer selbst14 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 2010, S. 19. 15 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], in: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, S. 10–290, hier S. 25.
zweckhaften instrumentellen Vernunft herab. Der Nationalsozialismus ist Horkheimer zufolge »Lakai der mechanisierten Zivilisation«, die die unterdrückten menschlichen Triebe »nach einem höchst rationalen Plan« manipuliert – eine »satanische Synthese von Vernunft und Natur«17. Es sind Freuds kulturtheoretische Schriften, die an dieser Stelle für die kritische Theorie urbar gemacht werden. Zivilisation gelingt nur durch die Unterdrückung der menschlichen Natur, ihrer aggressiven wie sexuellen Triebelemente.18 Zwar hat die abendländische Zivilisation einen ungeheuren gesellschaft-
16
Ebd., S. 17 ff.
17 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft [1967], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1991, S. 130 ff. 18 Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, London 1955, S. 419–506. 19
20
Horkheimer u. Adorno, S. 267.
Hobsbawm, Zeitalter der Extreme.
21 Horkheimer u. Adorno, S. 13.
lichen Fortschritt hervorgebracht, das Versprechen der Moderne auf ein Leben ohne Angst jedoch nicht einhalten können. In der Unterdrückung des eigenen wie des fremden Körpers schlägt die Irrationalität rationaler Herrschaft zurück, in Auschwitz »kommt die unsublimierte und doch verdrängte Rebellion der verpönten Natur«19 auf barbarischste Weise zu sich selbst. Auschwitz ist »hausgemacht«, nicht einfach ein unerklärlicher Ausfall des Betriebssystems. Kritische Theorie nach Auschwitz ist dementsprechend Reflexion auf die bereits geschehene Katastrophe, eine Rückkehr zu den revolutionären Schriften der 1930er und damit zur »Normalität« vor Auschwitz ist nicht möglich, was die Aktivisten der Studentenrevolte um das Jahr 1968 schmerzlich erfahren mussten. Kritische Theorie nach der Katastrophe – und das ist das Resultat der schonungslosen Reflexion auf gesellschaftliche Erfahrung im »kurzen Jahrhundert«20 – verlangt »Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen«21. Hannes Keune / Julian Schenke — »Weitsicht und Naivität«
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EINE SOZIOLOGISCHE SCHULE UNTER ANDEREN ODER: DIE AKADEMISIERUNG DER KRITISCHEN THEORIE IM ZEITALTER ZERSTÖRTER ERFAHRUNG So sehr sich Horkheimer und Adorno nach ihrer Rückkehr aus dem USamerikanischen Exil nach Frankfurt in ihrer (publizistischen) Tätigkeit auch für den Aufbau einer demokratisch-rechtsstaatlichen Bundesrepublik und eine aufgeklärte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einsetzten, war ihnen doch immer bewusst, dass gesellschaftliche Destruktivität auch nach Auschwitz fortbesteht. Die »Frankfurter« zu intellektuellen Gründungsvätern der ersten stabilen Demokratie auf deutschem Boden zu verklären22, muss in Anbetracht des tatsächlichen Wirkens Adornos in der Bundesrepublik lächerlich anmuten. Das ständige Reden vom »Strick« im »Hause des Henkers«23rief – entgegen aller Behauptungen über Adornos maßgeblichen Einfluss auf das intellektuelle Klima der Bundesrepublik – massive antiintellektualistische Widerstände hervor. Es blieb einigen wenigen Partisanen vorbehalten, auch nach Adornos Tod die grundsätzliche Frage zu thematisieren, wie nach Auschwitz Denken überhaupt noch möglich sei, während sich die überwiegende Mehrheit der Deutschen vom SDS bis zur Stahlhelm- CDU in unterschiedlichen Modi der Vergangenheitsbewältigung übte. Wenn von kritischer Theorie nach Adorno und Horkheimer gesprochen wird, dann ist meist Jürgen Habermas gemeint. Nicht von ungefähr zeigt das Cover des oben angesprochenen Bandes über die »Frankfurter Schule« neben den zentralen Theoretikern der ersten Generation auch Habermas, den vermeintlich legitimen Erben der kritischen Theorie. Bei Habermas geht aber gerade das verloren, was kritische Theorie ausmacht: der außerakademische Impuls. So beeindruckend das der Formulierung einer positiven Zivilisationstheorie gewidmete Lebenswerk auch ist, Habermas erledigt doch den Kern der kritischen Theorie. Er will Aufklärung und bürgerliche Moderne vor ihrer Selbstzerstörung retten, und schweigt sich in seiner Theoriebildung doch über Auschwitz aus. Kein Wort findet sich bei ihm über das Verhältnis von Naturbeherrschung und Selbstverleugnung, über das vom objektiven Gang der Dinge hervorgerufene individuelle Leiden, das im Kern der kritischen Theorie über die Destruktivität des 20. Jahrhunderts steht. Damit geht der kritische 22 Vgl. Albrecht u. a. 23 Theodor W. Adorno, Aufarbeitung der Vergangenheit [1959], in: Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1977, S. 555–572, hier S. 555.
Impuls Nietzsches und Freuds verloren, den Adorno und Horkheimer benötigt hatten, um die Grenzen der Aufklärung im Angesicht der Katastrophen des short century begreifen zu können. Der Begriff der Erfahrungslosigkeit bedeutet bezogen auf Habermas zwar nicht, dass man diesem die bis in die 1980er Jahre übliche deutsche Schuld- und Erinnerungsabwehr vorzuwerfen Hannes Keune / Julian Schenke — »Weitsicht und Naivität«
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hätte. Im Gegenteil: »Habermas größte politische Tat bleibt seine Intervention im Historikerstreit, als er dem selbstgewissen Teutonismus am Ende der alten Bundesrepublik die Leviten las.«24 In seiner Funktion als öffentlicher Intellektueller erhob er immer wieder Einspruch gegen die deutschtümelnde Vergangenheitbewältigung und hoffte, mit seinem auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments sich stützenden Verfassungspatriotismus die Durchsetzung bürgerlich-rechtsstaatlicher Demokratie auch in den Köpfen seiner Mitbürger verankern zu können. Dennoch: Habermas übersieht – wenn auch mit besten Intentionen – den oben skizzierten Zusammenhang von Rationalität und Destruktivität in der abendländischen Zivilisationsgeschichte. »Darin liegt […] eine wesentliche Differenz seiner Theorie zur Kritischen Theorie […], lange vor der Ausarbeitung der Theorie des Kommunikativen Handelns«25 – die im übrigen Horkheimer selbst schon erkannte.26 Zwar kennt auch die Habermas’sche Theorie den Begriff der instrumentellen Vernunft, nur vergisst sie dabei, dass Rationalität nur um die Verinnerlichung von Herrschaft und Zwang erkauft ist – Habermas kann so die Ursachen gesellschaftlich produzierter Destruktivität nicht mehr fassen. Es ist Detlev Claussen zuzustimmen, wenn er Habermas vorwirft: »Kritik ist in der Theorie von Jürgen Habermas verwissenschaftlicht, man könnte sogar sagen rationalisiert und entzaubert.«27 Wo Habermas’ Lehrer noch die Grenzen der Aufklärung durch die Selbstbesinnung des seiner eigenen Unzulänglichkeit bewussten Denkens erkannt hatten, ohne aber selbst das aller Rationalität spottende Grauen anders als mit den Mitteln der Vernunft erklären zu können, fällt Habermas in einen idealistischen Begriff von Aufklärung zurück. Dies ist die Entzauberung »der Frankfurter«, die selbst wieder den Prozess der »Dialektik der Aufklärung« vollzieht, welchen Habermas’ Lehrer in der Mitte des »kurzen Jahrhunderts« erkannt hatten. Vom Bann der Erfahrungslosigkeit hat sich auch die Studentenbewegung um das Jahr 1968 nicht befreien können. Sie knüpfte völlig unbekümmert an die revolutionären Schriften aus den 1930ern an. Die so implizit vollzogene Restauration von Normalität – Auschwitz als »Betriebsunfall« – ist Ausdruck einer Unfähigkeit, das Unbegreifliche zu begreifen. Dies trifft den Konservativen genauso wie den radikalen Linken – universaler Erfahrungsverlust als Ausdruck einer Gesellschaft, die die eigenen destruktiven Poten-
24 Detlev Claussen, Weltoffen, verständlich, unbestechlich, in: die tageszeitung, 15. 06. 2014, online einsehbar unter URL: http://www.taz.de/!140298/ [eingesehen am 22. 08. 14]. 25
Stender, S. 131.
26
Vgl. ebd.
ziale verdrängt. Jedoch täte man dem Denken Adornos und Horkheimers Unrecht, bezöge man sich in selbstgefälliger Manier allein auf dessen Produkte aus der Mitte des »kurzen Jahrhunderts«. Auch die Gesellschaft, die Adorno eine
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27 Claussen, Reflexion und Erinnerung, S. 25 f.
»verwaltete« schimpfte, ist in den historischen Transformationen seit den 1970ern untergangen. Eine kritische Theorie der Gegenwart hätte gerade die globale Wiederkehr von ethnos und Religion am Ende des »kurzen Jahrhunderts« zu reflektieren. Mit den Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte wandelt sich auch der Modus der Verarbeitung der gesellschaftlichen Destruktivität. In Deutschland ist Auschwitz spätestens mit dem rot-grünen »Aufstand der Anständigen« zum negativen Gründungsmythos der neuen Bundesrepublik geworden. Gegenwärtige Auseinandersetzungen mit kritischer Theorie sind verräterisch: Die kritische Theorie sei Ausdruck eines pessimistisch gestimmten Denkens der katastrophalen 1940er Jahre. Sehr wohl habe die »Frankfurter Schule« Bedeutendes für die Demokratisierung Deutschlands geleistet,28 im wiedervereinten Land geläuterter Demokraten aber sei eine negative »Bewusstseinsphilosophie« nicht mehr angebracht. Die pseudo-aufgeklärte Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit ermöglicht den deutschen »Verantwortungsweltmeistern« nicht nur eine Rückkehr zu nationaler Normalität, sondern verunmöglicht eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von gesellschaftlicher Destruktivität in der Gegenwart. Theorie hat ihren Zeitkern, und Denken muss die Wahrheit auch unter 28 So sah es beispielsweise der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in einer Rede anlässlich einer Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, vgl. Wolfgang Thierse, 27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages – Ansprache des Bundestagspräsidenten. Bulletin 05–99, 1999, online einsehbar unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Bulletin/1990–1999/1999/05–99_Thierse.html [eingesehen am 22. 08. 14]. 29 Detlev Claussen, Rassismus als Rationalisierung von Gewalt, in: ders., Aspekte der Alltagsreligion, S. 130–153, hier S. 148. 30 Ders., Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 20. 31 Claussen, Reflexion und Erinnerung, S. 21.
veränderten gesellschaftlichen Bedingungen dem objektiven Gang der Dinge immer wieder aufs Neue abtrotzen, ohne dabei Altes allzu schnell über Bord zu werfen. Heute leben wir in einer vereinheitlichten Welt, die keinen Begriff mehr von sich selbst hat. Was heißt schon »Globalisierung«? Die bürgerliche Gesellschaft und ihre »aufgeklärten« Bewusstseinsformen sind untergegangen, von der demokratischen Moderne sind allein die gesellschaftlichen Integrationsmechanismen der Erwerbsarbeit, des Parlamentarismus und des Rechtsstaats übrig. Sie erodieren in Folge der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und man weiß, dass die »gesellschaftlich gemilderten Formen des Arbeitszwangs in der freien Lohnarbeit«29 und die relative Sicherheit bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit prinzipiell »jederzeit kündbar« sind. Es ist soziale Angst, die die Massen in die Arme des »modernen Konformismus«30 treibt. Mit dem Verlegenheitsbegriff der »Alltagsreligion« versucht Detlev Claussen daran anzuknüpfen und zu beschreiben, wie Reste zersplitterter Erfahrung, d. h. verstümmelter Aufklärung, Bruchstücke von Weltanschauungen und Religionen subjektseitig zu einem neuen Massenglauben verschmelzen, an den niemand so recht glaubt.31 Erklärt ist damit (noch) nicht viel, auch der kritische Theoretiker schwebt nicht über der begriffslosen »Postmoderne«, auf deren Boden er mit beiden Füßen steht. An dieser Bewusstlosigkeit müsste kritisches Denken heute ansetzen. Hannes Keune / Julian Schenke — »Weitsicht und Naivität«
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TRADITION OHNE SCHULE? Die Begriffe der kritischen Theorie stehen in einem Kraftfeld, welches das durch die objektiven Verhältnisse gegebene Bedeutungsspektrum ebenso einbezieht wie die subjektive Erfahrungsfähigkeit, durch welche hindurch diese Begriffe mit Leben gefüllt werden. Wenn man so will, ist dieser dialektische Zugang das methodologische Kondensat, das »Schule« machen könnte – wenngleich eine solche Methode ohne konkreten Gegenstand weder anwendbar noch vermittelbar ist. »Ideologie« bedeutet im 19. Jahrhundert etwas anderes als in Zeiten des »Posthistoire« nach dem Ende der Blockkonfrontation. Der kritischen Theorie geht es nicht um eine Aneinanderreihung von Verbaldefinitionen, sondern um Begriffsarbeit am konkreten Gegenstand. Kritische Theorie schreit nach »Empirie«; wer ihr metaphysische Begriffsakrobatik vorwirft, sei auf die umfangreichen empirischen Studien der »Frankfurter« verwiesen. Dass kritische Theorie allerdings keine wissenschaftliche »Schule« ist, deren Versatzstücke man eklektizistisch zur Beschreibung dieser und jener gesellschaftlicher Phänomene zusammensetzt, haben wir hoffentlich deutlich machen können. Eine solche Akademisierung rationalisiert kritische Theorie – und Entzauberung ist das Programm reflexionsloser Aufklärung. Kritische Theorie ist als philosophisches Denken Erbe des utopischen Impulses der alten Glaubenssysteme. Im kategorischen Imperativ Adornos, »Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«,32 versteckt sich die Hoffnung auf eine Welt ohne Angst – auf einen gesellschaftlichen Zustand, den ein versoffener Nachtarbeiter einst Kommunismus nannte. Aufrichtiges Mitleid mit allem Kreatürlichen ist der außerakademische Impuls kritischer Theorie. Insofern ist Denken – da sind sich akademischer Betrieb und Adorno ausnahmsweise einig – unwissenschaftlich. Eine »Regeneration der authentischen Kritischen Theorie« wird 33
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wohl nicht mit der Universität rechnen können. Mit einem Kopf voller »metaphysischer Spinnereien« lässt sich im Wissenschaftsbetrieb nur schlecht Karriere machen. Hannes Keune, geb. 1991, studiert im Bachelor Politik und Soziologie und ist Studentische Hilfskraft am Institut für Demokratieforschung. Darüber hinaus organisiert er im Rahmen der studentischen Selbstverwaltung Seminare und Vorträge über psychoanalytische Sozialpsychologie und kritische Theorie. Julian Schenke, geb. 1988, arbeitet ebenfalls als Studentische Hilfskraft am Institut für Demokratie forschung. Er studiert im Master Geschlechter forschung und Philosophie.
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32 Adorno, Negative Dialektik, S. 358. 33 Vgl. ders., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 2003, S. 138 f. 34 Claussen, Reflexion und Erinnerung, S. 12.
DER MEISTER, DIE METHODE UND DIE POLITIK THEODOR SCHIEDER UND SEINE HISTORIKERSCHULE ΞΞ Christoph Nonn
Die Institution des universitären Lehrstuhls wird nicht selten spöttisch verglichen mit der des mittelalterlichen Feudalwesens, oder auch mit dem Klientelwesen der Antike. Lehrstuhlinhaber bieten als Patrone Schutz und Gefälligkeiten für ihre Klientel, von der dafür Dienst und Treue erwartet werden. Zu diesen Treuediensten gehörte und gehört so manches. Vom Korrigieren der beim akademischen Lehrer geschriebenen Abschlussarbeiten über die Tätigkeit als Ghostwriter von Texten, die unter dem Namen des Chefs publiziert werden, bis hin zum Staubsaugen im Chefbüro liegt hier ein weites Feld. Dieses Schutz- und Treueverhältnis hat offensichtlich wirtschaftliche Aspekte. Nach Pierre Bourdieu dient es aber vor allem sozialen und politischen Zielen. Bourdieu sieht in den Lehrstühlen und den um sie gruppierten wissenschaftlichen Schulen Instrumente zur Reproduktion universitärer Machtstrukturen und des immer gleichen Wissenskanons.1 Die von Lehrstuhlinhabern gebildeten Schulen müssten sich demnach nicht nur durch wissenschaftlich-methodische, sondern auch durch politische Homogenität auszeichnen. Doch tun sie das wirklich? Theodor Schieder gilt in der deutschen Geschichtswissenschaft als Paradebeispiel für einen Lehrstuhlinhaber, dem die Bildung einer außerordentlich erfolgreichen Schule gelungen ist. Ein Großteil der Historiker, die seit den 1970er Jahren der »Zunft« die Richtung vorgaben, stand in engstem Kontakt mit ihm. Unter anderem durchliefen wesentliche Mitbegründer der »Historischen Sozialwissenschaft« wie Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Mommsen und Helmut Berding ihre gesamte Qualifizierungsphase an Schieders Kölner Lehrstuhl. Martin Broszat war einer seiner ersten Doktoranden, Lothar Gall sein langjähriger Assistent und Habilitand. Auch Thomas Nipperdey wurde von Schieder stark gefördert und beeinflusst. Legt man Bourdieus Kriterien an, könnte man freilich wohl dennoch nicht davon ausgehen, dass Theodor Schieder als akademischer Lehrer schulbildend wirkte. Dafür sind die Unterschiede zu offensichtlich, die allein zwi1 Pierre Bourdieu, Homo Academicus, Frankfurt a. M. 1988, S. 178–181.
schen den prominentesten seiner Habilitanden wie Wehler und Gall besonders in politischer Hinsicht bestehen. Andererseits verstanden sich diese wie
INDES, 2014–3, S. 87–94, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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die meisten, die ihre Ausbildung als Historiker am Kölner Lehrstuhl von Theodor Schieder absolvierten, durchaus als Teil einer »Schieder-Schule«, einer »auf Schieder eingeschworenen Gemeinschaft«, wie Gall und Wehler im Einklang mit anderen in der Rückschau formulierten.2 Als ihr ehemaliger Chef 1976 emeritiert wurde, verständigten sich seine Schüler untereinander darüber, ob einer von ihnen seinen Lehrstuhl übernehmen könne. Aber auch von außen sah man sie als Gruppe, als Gemeinschaft an: So wurden die »Schiederianer« aus dem Kölner Historischen Seminar dazu aufgefordert, sich gerade nicht auf die Professur ihres Lehrers zu bewerben. Die meisten von Schieders noch lebenden Doktoranden und Habilitanden verbindet bis heute ein »Wir-Gefühl«. Von dem vor dreißig Jahren verstorbenen Betreuer ihrer Qualifikationsarbeiten sprechen sie zum Teil immer noch als dem »Meister« – und zwar ganz ohne Ironie. Man kann dieses »Wir-Gefühl« als bloßen Herdeninstinkt abtun. Wissenschaftliche Schulen wie jene Schieders wären dann nichts anderes als reine Netzwerke zur Karriereoptimierung, nachträglich verbrämt durch invented traditions. Sie hätten keine andere Funktion als die des Aufbaus »sozialer Kompetenzen« – wie in der euphemistischen Begrifflichkeit von heute das bezeichnet wird, was früher einmal Vetternwirtschaft genannt wurde. Aber es ist vielleicht doch etwas zu einfach, das Wesen von wissenschaftlichen Schulen auf machiavellistisches Karriere- und Machtstreben zu reduzieren. Wenn es den Schieder-Schülern nur um Karriere gegangen wäre, hätten sie sich politisch zweifellos mehr angepasst, als es viele von ihnen vor der Berufung auf eine Professur taten. Stattdessen eckte etwa ein Hans-Ulrich Wehler im konservativen Klima des Kölner Historischen Seminars der 1950er und 1960er Jahre immer wieder an. Wiederholt gefährdete er damit sein berufliches Fortkommen – und zwar nicht nur nach eigenem Bekunden, sondern auch nach dem Ausweis zeitgenössischer Quellen. Auch Wolfgang Mommsen hielt mit seinen linken politischen Überzeugungen nicht hinter dem Berg und erregte damit den Unmut des konservativen Establishments am Kölner Seminar. Und von Schieders Doktoranden vertraten viele andere, wie Hans-Josef Steinberg, Irmgard Wilharm und Dieter Düding, ebenfalls linke Ansichten. Die eingeschriebenen sozialdemokratischen Parteimitglieder Helmut Berding, Gerhard Brunn und Otto Dann wurden von ihrem »Meister« jahrelang als Assistenten und Mitarbeiter beschäftigt, obwohl der wie die große Mehrheit seiner Kölner Professorenkollegen ein in der Wolle gefärbter Konservativer war. Denn das war Schieder. 1908 als Spross einer traditionsreichen Familie von Bildungsbürgern geboren, deren nationaler Liberalismus nach der
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2 Gespräche mit Hans-Ulrich Wehler und Lothar Gall am 11.03. und 04. 05. 2011. Diesem Essay liegt meine 2013 veröffentlichte Biographie über Schieder zugrunde, auf die für detaillierte Quellenangaben verwiesen sei: Christoph Nonn, Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013.
Revolution von 1918 sauer geworden und zu Konservatismus geronnen war, hatte er sich schon als Student während der späten Weimarer Republik im Umfeld der »konservativen Revolution« bewegt. 1930 gehörte er zeitweise der Volkskonservativen Vereinigung an, einer Abspaltung von den Deutschnationalen, die Schieder am liebsten mit der DVP zu einer großen bürgerlichen Partei der rechten Mitte fusioniert gesehen hätte. Eine Zusammenarbeit mit der NSDAP lehnte er dagegen während der frühen 1930er Jahre auch in seiner studentischen Verbindung ab. Nach 1933 näherte Schieder sich dann dem Nationalsozialismus Schritt für Schritt an, bis hin zu weitgehender Identifikation. Dieser langsamen Nationalsozialisierung folgte in den 1950er Jahren ein ebenso schrittweiser Prozess der inneren Entnazifizierung. Die machte aus ihm schließlich wieder einen Konservativen, diesmal mit enger Bindung an die CDU, wenn auch ohne Parteibuch. Zur sozialdemokratischen Partei verharrte Schieder hingegen zeitlebens in großer Distanz. Und der Studentenbewegung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre stand er erst recht mit völligem Unverständnis gegenüber. Im Verhalten gegenüber seinen Doktoranden, die teilweise mit den protestierenden Studenten und größtenteils mit den Sozialdemokraten sympathisierten, schlug sich das aber nicht nieder. In Theodor Schieders Oberseminar wurden nicht nur die Lieder dessen gesungen, dessen Brot man aß. Als dort ein prominenter Kölner Sozialdemokrat sein Dissertationsprojekt vorstellte und (nach der Erinnerung eines Teilnehmers) geradezu »fertiggemacht wurde«, griff Schieder zugunsten des Angegriffenen ein.3 Seine zahlreichen Funktionen im Wissenschaftsbetrieb vererbte er zwar vorzugsweise an Historiker wie Lothar Gall und Thomas Nipperdey, die seinen politischen Überzeugungen nahestanden. Politisch Andersdenkende nahm Schieder aber ebenso, ja in noch größerer Zahl, in seine Schule auf und förderte sie. Dabei spielten möglicherweise auch Erfahrungen aus der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation eine Rolle. Schieder hatte genau genommen zwei Doktorväter: einen heimlichen und einen formellen. Der formelle war Karl Alexander von Müller, bayerischer Landeshistoriker und seit 1933 unter den etablierten Geschichtsordinarien der engagierteste Werber für eine Nationalsozialisierung der Zunft. Über Müller ist gerade eine Biographie von Matthias Berg erschienen, der als erster alle verfügbaren Quellen ausgewertet 3 Gespräch mit Hans Hecker am 09. 12. 2009. 4 Matthias Berg, Karl Alexander von Müller. Historiker für den National sozialismus, Göttingen 2014.
hat.4 Berg zeigt, dass dieser NS-Paradefunktionär unter seinen Doktoranden keineswegs nur stramme Nationalsozialisten hatte. Zu Müllers Schülern gehörten vielmehr auch überzeugte liberale Protestanten wie Fritz Wagner und fundamentalistische Katholiken wie der spätere bayerische Kultusminister Alois Hundhammer, die in deutlicher Distanz zum Nationalsozialismus Christoph Nonn — Der Meister, die Methode und die Politik
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standen – wie zunächst auch noch Theodor Schieder, als dieser 1933 von Müller promoviert wurde. Schieders heimlicher Doktorvater war Hermann Oncken. Oncken war es, den Schieder in den ersten Jahren seines Studiums in München vor allem hörte, und dem er – nach dessen Berufung auf eine Professur an der FriedrichWilhelms-Universität – auch nach Berlin folgte. Weil er aus privaten Gründen nicht in der Hauptstadt bleiben konnte, vielleicht auch mit Onckens schroffer und sarkastischer Art nicht zurechtkam, ging er dann nach München zurück und orientierte sich auf Müller, bei dem er zunächst gar keine Veranstaltungen gehört hatte. Doch es war Hermann Oncken, der Schieder methodisch, thematisch und stilistisch wesentlich stärker beeinflusst hat. Auch Oncken war für Schüler verschiedenster Ausrichtung offen, ja noch offener als Müller: Zu seinen Schülern zählten so gegensätzliche Figuren wie der partikularistische Katholik Franz Schnabel, der Nationalkonservative Gerhard Ritter und die Marxisten Wolfgang Hallgarten und Michael Freund. Hermann Oncken war für Theodor Schieder in wissenschaftlicher Hinsicht außerordentlich prägend, während eine persönliche Beziehung nie wirklich zustande kam. Zu Karl Alexander von Müller war das Verhältnis genau umgekehrt. Die fast schon familiär enge Beziehung, die zwischen Müller und Schieder entstand, hat dieser dann auch mit den eigenen Doktoranden unterhalten, als er selbst Ordinarius in Köln geworden war. In Schieders eigenem Oberseminar dort herrschte ein ebenso harscher Umgangston wie in den Lehrveranstaltungen Hermann Onckens, die er als Student besucht hatte. Dieser Ton wurde freilich durch engen sozialen Zusammenhalt am Kölner Lehrstuhl gemildert. Schieder und seine Frau luden Assistenten und Mitarbeiter regelmäßig zu sich nach Hause ein. Auch bei Mommsens und Galls trafen sich die Lehrstuhlangehörigen zum Feiern. Schieders Tochter, die in Köln studierte und mit vielen der Doktoranden ihres Vaters bekannt oder befreundet war, veranstaltete öfter zwanglose Partys im Keller ihres Elternhauses, wenn die Eltern nicht anwesend waren. Ihre Mutter unterstützte das gelegentlich gezielt, indem sie für sich selbst und den Vater Konzert- oder Theaterkarten besorgte oder einen Besuch bei Verwandten mit Übernachtung organisierte. Als die klassische »Frau an seiner Seite« bemühte Eva Schieder sich auch sonst fürsorglich um die Schüler ihres Mannes: Sie übernahm nicht nur die Hauptlast bei den regelmäßigen Einladungen des gesamten Lehrstuhls in ihr Haus, sondern lud ebenso einzelne Mitarbeiter mit ihren Frauen zum Abendessen ein. Als die Waschmaschine von Renate und Hans-Ulrich Wehler den Geist aufgab, wusch Eva Schieder sogar wochenlang die Wäsche von deren vielköpfiger Familie.
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Mit Waschmaschinen konnte Theodor Schieder zwar nicht umgehen. Er nahm aber auch selbst regen Anteil am Privatleben seiner Schüler. Deren Ehepartner wollte er kennenlernen. Trotz einer immer spürbar bleibenden Distanz interessierte er sich »fürsorglich« für ihr Familienleben und ihren Gesundheitszustand. Als Hans-Ulrich Wehler nach seinem gescheiterten ersten Habilitationsversuch 1964/65 in eine depressive Stimmung verfiel, lud Schieder ihn wiederholt zum Essen ein, besuchte ihn zu Hause und redete ihm zu, in psychotherapeutische Behandlung zu gehen. Einem anderen Doktoranden, den mitten im Staatsexamen der plötzliche Tod einer nahen Angehörigen seelisch schwer mitnahm, vermittelte Schieder »auf sehr einfühlsame Art« die Adresse eines Arztes. Lothar Gall bauten Schieder und seine Frau in langen Gesprächen wieder auf, nachdem dessen Ehe in die Brüche gegangen war.5 Es mochte ein extremer und vielleicht durch besondere kulturelle Traditionen erklärbarer Fall sein, wenn der Koreaner Tae-Young Lee Schieder mitteilte, er habe sein Bild neben das des eigenen Vaters gestellt, und ihm für seine »väterliche Liebe« dankte.6 Aber auch Lothar Gall, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg getötet wurde, betonte aus der Rückschau, Theodor Schieder habe ihn »oft väterlich an die Hand genommen in meinem Leben«. Schieder habe 5 Wolfgang J. Mommsen, »Die Jungen wollen ganz unbefangen die alte Generation in die Pfanne hauen.«, in: Rüdiger Hohls/ Konrad H. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, München 2000, S. 191–217, hier S. 204 (»fürsorglich«); Gespräche mit Leo Haupts am 05. 04. 2011, mit Wolfgang Schieder am 19. 01. 2010, mit Hans Ulrich Wehler am 11. 03. 2011 und mit Dieter Düding (»einfühlsame Art«) am 09. 03. 2011. 6 Lee an Schieder, 09. 12. 1972 und 23. 10. 1980, Bundesarchiv (BArch) N 1188/382. 7
Gespräch mit Lothar Gall am 04. 05. 2011.
8 Lothar Gall, »Aber das sehen Sie mir nach, wenn ich die Rollen des Historikers und die des Staatsanwalts auch heute noch als die am stärksten auseinanderliegenden ansehe.« in: Hohls u. Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen, S. 300–318, hier S. 309.
zwar emotional »immer auf Distanz« geachtet. Er sei aber doch eine »väterliche Autorität« gewesen, »eine Art Vaterfigur für Mommsen wie für mich«.7 Eine »väterliche Rolle« spielte Schieder nicht zuletzt als »Protektor«8 im Hinblick auf den beruflichen Werdegang seiner Schüler. Da viele von ihnen in den 1960er und 1970er Jahren auf Lehrstühle berufen wurden, wird ihrem »Meister« gemeinhin ein großer Einfluss darauf nachgesagt. Damit ist zwar noch nicht unbedingt etwas über den tatsächlichen Erfolg von diesem Engagement Schieders gesagt, der nur allzu leicht vorausgesetzt wird. Konkret belegen lässt sich ein entscheidender Einfluss bei Berufungen seiner Schüler schon deshalb kaum, weil die Rolle persönlicher Interventionen sich nicht in den Akten von Berufungsverfahren niederschlägt und die Interventionen selbst zunehmend telefonisch stattfanden. Dokumentiert sind auch einige Fälle, in denen Schieders Engagement für seine Schüler nicht das erwünschte Resultat erzielte. Dass von diesen viele in den 1960er und 1970er Jahren früher oder später auf universitären Lehrstühlen landeten, dürfte nicht zuletzt Folge eines kontingenten Faktors gewesen sein, nämlich der Hochschulexpansion dieser Jahrzehnte. Die Schüler hatten aber jedenfalls den Eindruck, dass Schieder sich für sie nicht nur persönlich interessierte, sondern auch engagierte. Peter Alter bekam als sein letzter Assistent in Köln während der 1970er Jahre wiederholt mit, dass sein Chef am Telefon die Besetzung historischer Lehrstühle Christoph Nonn — Der Meister, die Methode und die Politik
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diskutierte – meist mit Werner Conze.9 Schieder und Conze, so auch HansUlrich Wehlers Eindruck, »kümmerten sich um ihre Leute.«10 Unter Schieders Mitarbeitern und Habilitanden herrschte die Überzeugung, dass der »Meister« sich für sie nach Kräften engagierte – ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung: »Er ließ niemanden deswegen fallen, weil er anderer Meinung war.«11 Obwohl es sich dabei um ein ausgesprochen heikles Thema handelt, gestanden einige Schüler Schieders später freimütig ein, dieser habe ihre eigene Berufung durch seine persönlichen Kontakte gefördert – oder deuteten es zumindest an.12 Tatsächlich setzte Schieder sich sehr für die Karriere seiner Schüler ein, ob im akademischen Bereich oder in anderen Berufsfeldern. Seine grundsätzliche Einstellung dazu wird paradigmatisch deutlich in einem Schreiben an Wolfgang Mommsen, mit dem Schieder einen anderen seiner Schüler für eine Stelle an dem von Mommsen geleiteten Deutschen Historischen Institut in London empfahl. In schon komisch wirkender gezierter Inkonsequenz heißt es darin: »Ich möchte mich gar nicht weiter in die Sache einmischen, aber Herr […] ist nun mal ein Schüler von mir, um dessen Zukunft mich zu kümmern ich mich verpflichtet fühle.«13 Die materiellen Resultate dieser Bemühungen sind nicht zu quantifizieren. Dazu bedürfte es eines umfassenden Projekts zur Genealogie der deutschen Historikerzunft nach 1970, das die Pionierstudie von Wolfgang Weber über die »Priester der Clio« fortführen würde.14 Und der Durchführung eines solchen Projektes stünden wohl nicht allein gewaltige datenschutzrechtliche und Quellenprobleme im Weg. Gleichwohl ist das Netz sozialer Beziehungen, das Vorbedingung der Bemühungen Theodor Schieders um die Karrieren seiner Schüler war, und das durch diese Bemühungen noch enger geknüpft wurde, deutlich erkennbar. Persönliche Verbundenheit war der Kitt der »SchiederSchule«. Sie erwuchs aus in jahrelanger Gemeinsamkeit erwachsener Vertrautheit – nicht aber aus einer gemeinsamen politischen Basis. Denn diese bestand zwischen Schieder und der Mehrheit seiner Schüler nicht. Während der »Meister« zeitlebens daran festhielt, dass eine Nation vor allem eine Vergangenheit brauche, mit der sie sich im positiven Sinn identifizieren könne, emanzipierten sich seine Doktoranden und Habilitanden seit den 1960er Jahren von dieser Vorstellung. Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Mommsen, Helmut Berding und andere rückten den Nationalsozialismus in den Mittelpunkt ihres und zunehmend auch des deutschen Geschichtsverständnisses. Darin vermochte Schieder, der an der Suche nach einer »brauchbaren« nationalen Tradition im Sinn der borussischen Geschichtsschreibung festhielt, ihnen nie zu folgen. Auch die Fokussierung der »Historischen
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9 Gespräch mit Peter Alter am 05. 04. 2011. 10 Hans-Ulrich Wehler, Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Cornelius Torp und Manfred Hettling, München 2006, S. 58; ebd. S. 66: Beide hätten »nicht ohne Stolz gesagt: Wir haben so viel gute Leute ausgebildet, wir werden es schon schaffen, die Stellen im abendlichen Telefonat zu besetzen.« 11 Mommsen, »Die Jungen«, S. 194; ähnlich Wehler, Kampfsituation, S. 58. 12 Gespräche mit Peter Alter am 05. 04. 2011 und mit Helmut Berding am 18. 04. 2011. HansUlrich Wehler wich der Frage im Gespräch am 11. 03. 2011 aus und antwortete, Schieder habe Peter Scheibert, Kurt Kluxen und Josef Engel zu Lehrstühlen verholfen. Ernst Nolte schrieb an Schieder am 22. 09. 1977, er habe seine Lehrstühle in Marburg und Berlin »letzten Endes nur auf Kredit erhalten, wobei jedesmal Ihr Wort die entscheidende Bedeutung hatte.«, BArch N 1188/670. 13 Schieder an Mommsen, 28. 03. 1979, BArch N 1188/121. 14 Wolfgang Weber, Priester der Clio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt a. M. 1984.
Sozialwissenschaft« auf das Phänomen sozialer Ungleichheit lehnte er stets ab – aus wissenschaftsstrategisch motivierten Vorbehalten gegenüber deduktiver Orientierung an soziologischen Modellen, aber vor allem auch aus politischen Gründen. Denn in der Konzentration auf soziale Ungleichheit sah er den Ausdruck eines Denkens in Kategorien des historischen Materialismus, und damit des Marxismus. Die Gemeinsamkeit, das einigende Band der »Schieder-Schule«, lag vielmehr im methodischen Bereich. Zwar traten Hans-Ulrich Wehler und Wolfgang Mommsen seit den frühen 1970er Jahren als Repräsentanten der »Historischen Sozialwissenschaft« mit dem Anspruch auf, eine völlig neue Art von Geschichte zu schreiben. Die Generation ihres Doktorvaters Schieder praktiziere stattdessen nur einen antiquierten »Historismus«. Worin der Unterschied bestand, umschrieben die jüngeren Protagonisten der »Historischen Sozialwissenschaft« meist eher vage. Danach erschien der »Historismus« geprägt durch die theorieferne, personen- und politikgeschichtlich fokussierte »Erzählung«. Die »Historische Sozialwissenschaft« galt ihren Vertretern hingegen als analytisch und an Theorien wie Methoden der Soziologie orientiert. Dabei taten sie weitgehend so, als ob es ein Nachdenken über Objektivitätsprobleme, Kritik an biographischen Darstellungen, analytische Historiographie und Strukturgeschichte vorher nicht gegeben hätte.15 Das war freilich blanker Unsinn. Und ihr Doktorvater Theodor Schieder hatte bereits in den 1950er und 1960er Jahren für die Verbindung einer Geschichte der Politik mit jener der Gesellschaft plädiert. Wenn er dabei stets auf dem Vorrang der politischen Geschichte beharrte und eine quantifizierende Sozialgeschichte im engeren Sinn ablehnte, dann unterschied ihn das selbst von seinen Schülern Mommsen und Wehler ganz und gar nicht. Wolfgang Mommsen pries zwar quantifizierende Methoden, aber er praktizierte sie nicht. In Hans-Ulrich Wehlers Publikationen wimmelte es zwar von Zahlen, aber nur in Form von Pünktchengliederungen, von endlosen numerisch untergliederten Aufzählungen und von Statistikschnipseln, die zur Unterstützung eines Arguments mehr oder weniger willkürlich ausgewählt wurden. Die Unterschiede zwischen Wehlers Abhandlungen und Schieders essayis15 Wolfgang Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971 (seine Antrittsvorlesung); Hans-Ulrich Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973; ungewöhnlich knapp und klar auch: ders., Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973, S. 11.
tisch argumentierenden Texten liegen hauptsächlich im Stil der Darstellung. Tatsächlich sind die weitgehenden methodischen Parallelen zwischen der historiographischen Praxis führender Vertreter der »Historischen Sozialwissenschaft« einerseits, des von ihnen als »Historisten« angegriffenen Schieder andererseits kaum zu übersehen. Wolfgang Mommsen und Hans-Ulrich Wehler schrieben wie ihr Doktorvater eine analytische Strukturgeschichte des Politischen. Wenn Schieder sich etwas mehr für Ideen, seine Schüler Christoph Nonn — Der Meister, die Methode und die Politik
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etwas mehr für gesellschaftliche Gruppen interessierten, waren das graduelle Differenzen. Auch bei Mommsen und Wehler spielten, angefangen bei »Bismarck und der Imperialismus«, Personen als Akteure stets eine wichtige Rolle. Was das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Soziologie anging, lagen Theodor Schieder und seine Meisterschüler nicht wesentlich auseinander. Schieder wie Mommsen verwahrten sich entschieden dagegen, die Geschichte als »Hilfswissenschaft der Soziologie« zu behandeln, die »bestenfalls noch die Rolle eines Steinbruchs von Informationen« für die Sozialwissenschaften spielen könne. Beide betonten die Notwendigkeit eigenständiger historischer Forschung insbesondere für die Herstellung »kritischer Distanz« zur Gegenwart. Und beide argumentierten, dass dies von einer sich historisierenden Soziologie bereits zunehmend anerkannt werde.16 Hans-Ulrich Wehler hob das ebenfalls hervor.17 Schieders 1971 veröffentlichten Aufsatz über die »Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode« druckte Wehler in einem von ihm herausgegebenen Sammelband über »Geschichte und Soziologie« ein Jahr später erneut ab. Im Nachhinein gestand er offen zu, Sozialgeschichte genauso definiert zu haben wie Schieder.18 Jürgen Kocka, der anders als Wehler und Mommsen in Berlin bei Gerhard A. Ritter akademisch sozialisiert worden war, tat das zwar nicht. Er musste
16 Mommsen, Geschichts wissenschaft, S. 37; Theodor Schieder, Grundfragen der Geschichte, in: Die Weltgeschichte. Der Weg der Menschheit zu der einen Welt. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Freiburg 1971, S. 22 u. S. 24.
allerdings feststellen, dass angesichts des Einflusses von Schieders Kölner Schule die in der »Historischen Sozialwissenschaft« allseits betonte Theorieorientierung doch öfter eher – Theorie blieb. In einem Rückblick auf die ersten Jahre des publizistischen Flaggschiffs der neuen Richtung schrieb er bezeichnenderweise, »im Programm und teilweise wohl auch [!] in der Praxis von Geschichte und Gesellschaft war und ist theorieorientierte Geschichtswissenschaft besonders vertreten.«19 Letzten Endes war das hochtrabende Programm der »Historischen Sozialwissenschaft« für die Schieder-Schüler Wehler und Mommsen kaum mehr als ein Instrument der akademischen Profilierung. Angesichts der politischen Differenzen zwischen Schülern und »Meister« sind die methodischen Parallelen umso bemerkenswerter. Und das gilt auch umgekehrt.
Prof. Dr. Christoph Nonn, geboren 1964, ist Professor für Neueste Geschichte an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Letzte größere Publikation: Theodor Schieder – ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013.
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17 Wehler, Geschichte als historische Sozialwissenschaft, S. 9–44. 18 Wehler, Kampfsituation, S. 125. 19 Jürgen Kocka, Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation, in: Ders., Geschichte und Aufklärung, Göttingen 1989, S. 8–20, hier v. a. S. 12; vgl. Bettina Hitzer u. Thomas Welskopp, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Die Bielefelder Sozialgeschichte, Bielefeld 2010, S. 13–32, hier v. a. S. 20–22.
INTERVIEW
»EIN HOHES MASS AN EXPERIMENTIERBEREITSCHAFT« DIE BIELEFELDER SCHULE UND DIE GÜNSTIGE GELEGENHEIT DER SIEBZIGER JAHRE ΞΞ Interview mit Jürgen Kocka
Am Wochenende ist Hans-Ulrich Wehler gestorben, neben Ihnen einer der Gründerväter der Bielefelder Schule. Wehler hat oft bemerkt, was für ein Glück es eigentlich sei, dass Sie beide viele forschungspragmatische Auffassungen geteilt haben. Würden Sie sagen, dass dieses Bündnis, diese Kernallianz mit Herrn Wehler, eines der Fundamente der Bielefelder Schule war? Es kam mehreres zusammen. Zum einen lag im Reformklima der sechziger Jahre eine Veränderung des Denkens über Geschichte in der Luft. Die Stichworte lauteten: Aufstieg der Sozialgeschichte, Traditionskritik, Plädoyer für eine engagierte Geschichtswissenschaft »jenseits des Historismus«. Zum anderen gab es neue Universitäten. Bielefeld war eine solche und erlaubte es, neue Ideen tatkräftig zu praktizieren – das Ganze in einem Klima der Kritikfreundlichkeit, geringer Hierarchisierung und fehlender Versäulung zwischen den Fächern und Teilfächern. Schließlich war da die Person Hans-Ulrich Wehlers, der als Angehöriger der »Generation 45« und beeinflusst durch Studien in den USA der 50er Jahre nach seinem Studium bei Theodor Schieder entscheidend
zum Programm einer neuartigen, als »historische Sozialwissenschaft« verstandenen Geschichtswissenschaft beitrug. 1971 fing Wehler in Bielefeld an, ich kam 1973 hinzu, bald auch Reinhart Koselleck, der von Heidelberg aus schon länger am Aufbau der Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft beteiligt war. Andere wurden berufen wie Hans-Jürgen Puhle und Peter Lundgreen, später Sidney Pollard und Klaus Tenfelde, wissenschaftliche Mitarbeiter wie Heinz Reif, Josef Moser und Heidrun Homburg prägten mit, sehr früh auch hoch motivierte Doktorandinnen und Doktoranden, wie Claudia Huerkamp,
INDES, 2014–3, S. 95–108, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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Ute Frevert und Gunilla Budde, Christiane Eisenberg, Karl Ditt und Michael Prinz. So entstand eine Gruppe mit einigen Gemeinsamkeiten. In dieser Konstellation hat in der Tat die sehr enge Zusammenarbeit und bald auch enge Freundschaft zwischen Wehler und mir eine Rolle gespielt. Aber man muss es strukturell einbetten. Es handelte sich um eine spezifische Konstellation mit bestimmten Chancen, die dann allerdings auch wahrgenommen wurden. Der Name »Bielefelder Schule« für diesen Gruppenzusammenhang stammt aus den USA, es handelt sich hierbei also um eine Fremdzuschreibung. Können Sie sich noch an die Anfänge erinnern, als das losging, dass von einer Schule gesprochen wurde, die sich in Bielefeld formierte? Mitte der siebziger Jahre, in etwa. Ich weiß aber, dass wir das in Bielefeld eher mit spitzen Fingern angefasst und als nicht besonders treffende Beschreibung betrachtet haben. Aber es war dennoch etwas dran. Die sehr programmatische Absetzung von gewissen, zugespitzt dargestellten Traditionen des eigenen Faches war Teil des Selbstetablierungsprozesses einer Richtung. Wir versuchten, uns von einer Geschichtswissenschaft zu lösen, die eher die Geschichte der Staaten und der Politik betont hatte, während wir nun die Geschichte der Gesellschaft und soziale Ungleichheit in den Mittelpunkt rückten; von einer Geschichtswissenschaft, die sehr an Ereignissen und Handlungen und deren Abfolge interessiert gewesen war, während wir nun stärker auf Strukturen und Prozesse oder Verhältnisse und Entwicklungen eingingen, wobei es sich nie um ein schlichtes Entweder-Oder handelte. In Ergänzung des historischen Verstehens der traditionellen Geschichtswissenschaft forderten und praktizierten wir theorieorientierte analytische Verfahren, wobei Anregungen aus den systematischen Sozialwissenschaften eine Rolle spielten und Interdisziplinarität groß geschrieben wurde. Und wir distanzierten uns von einer Geschichtswissenschaft, die sich in den vorangehenden Jahren doch sehr stark – gebrannte Kinder scheuen das Feuer – auf die fachwissenschaftliche Eigenorientierung konzentriert hatte, während wir für eine engagierte Geschichtswissenschaft eintraten, die gleichzeitig, wie wir damals sagten und ich immer noch sagen würde, ihre emanzipatorischen Funktionen ernstnehmen und zur Aufklärung ihrer Gesellschaft beitragen sollte. Insgesamt: Absetzung durch Zuspitzung. Von daher war es nicht völlig falsch, von einer Schule zu sprechen. Obwohl Schule mehr Homogenität unterstellt, als in Wirklichkeit da war. Was Sie gerade beschrieben haben, hört sich nach einem ziemlich klaren Programm, zumindest aber einer recht klaren Stoßrichtung an. Das würde dann
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freilich nahelegen, dass man sich, ob die Gruppe nun zur Selbstbeschreibung den Begriff der Schule gewählt hätte oder nicht, auch wissenschaftlich und über persönliche Freundschaften hinaus eng verbunden fühlte. Einerseits ja. Andererseits war das, was ich eben beschrieben habe, eine Bewegung hin zu einer stärker sozialgeschichtlich, stärker analytisch argumentierenden, stärker engagierten Geschichtswissenschaft, die nicht nur in Bielefeld passierte. Zum Beispiel war das auch in Berlin ein sehr starker Diskussionsstrang. Hans Rosenberg, der zu einer Art Gründervater für diese Art von Sozialgeschichte in Deutschland wurde, hatte in Berlin 1949/50 als Gastprofessor unterrichtet und Leute wie Gerhard A. Ritter, bei dem ich studierte, geprägt, lange bevor es »Bielefeld« gab. Zudem mochte man sich zwar einig sein in der Favorisierung solcher Grundsätze, wie ich sie gerade genannt habe, konnte sich im Übrigen aber dennoch sehr unterscheiden. Reinhart Koselleck zum Beispiel, gehörte er zur Bielefelder Schule? In bezug auf die Theorieorientierung der Bielefelder Geschichtswissenschaft stammten sehr viele Anregungen und Beiträge von Koselleck, der von der Philosophie her kam und über die Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens von Geschichte – auf dem Weg zu einer neuen Historik – prinzipiell und theoretisch viel reflektierte und publizierte. Aber was die enge Verbindung zu sozialwissenschaftlichen Theorien als Mittel der eigenen Geschichtsschreibung angeht, so war das viel mehr eine Sache von anderen. In den politischen Ansichten waren wir auch nicht identisch. Es bestand eine Mischung aus einer grundsätzlichen Orientierung, die wir teilten, die wir auch dezidiert in der Öffentlichkeit und intern vertraten und viel diskutierten, und einem doch relativ hohen Maß an Heterogenität. Es gab auch interne Konkurrenz. Wie würden Sie, bei aller Schwammigkeit des Begriffs und aller Individualität der einzelnen Wissenschaftler, die Bielefelder Schule dann eingrenzen? Denn es fällt ja in der Tat auf, dass etwa von Wehler selbst im Zusammenhang mit der Bielefelder Schule eine ganze Reihe von Namen genannt werden, die er als »Gesinnungsgenossen« bezeichnet und die nicht in Bielefeld gelehrt haben. Wo würden Sie also, wenn Sie trotz aller Vorbehalte und Relativierungen den Begriff der »Bielefelder Schule« annehmen, personell die Grenze ziehen? Im Prinzip handelte es sich um eine Richtung, die darauf aus war, sich zu verallgemeinern, und nicht die Absicht hatte, sich abzugrenzen. Von daher zeigte sie große Neigung, auch außerhalb der eigenen kleinen Gruppe in Bielefeld Kollegen und Kolleginnen, Studierende, Nachwuchs und Partner in den Medien zu finden, welche die eigenen Überzeugungen teilten. Auch jetzt habe ich kein Interesse, Grenzen zu ziehen. Es ist wichtiger, zu sehen, dass es Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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sehr bald eine eigene wissenschaftliche Reihe gegeben hat, die »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«, die Wehler und ich, aber immer auch ein Dritter und zeitweise auch ein Vierter von außerhalb Bielefelds herausgegeben haben. Dann gab es seit 1975 die Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«, da waren eine ganze Reihe Bielefelder und eine ganze Reihe NichtBielefelder dabei. Das waren zwei Institutionalisierungsschritte, die man gar nicht überschätzen kann. Vielleicht kann man erst dann von einer Schule sprechen, wenn gewisse Elemente der Selbstinstitutionalisierung sichtbar sind. Hinzu kamen Curricula, für die wir uns einsetzten und die wir auch etablieren konnten in Bielefeld, Promotionsordnungen, Lehrveranstaltungen bestimmter Art, die immer so angelegt waren, dass auch Elemente der benachbarten systematischen Nachbarwissenschaften einbezogen wurden. Das strahlte aus. Da waren dann einige mehr und andere weniger dabei: eine sehr fluide Konstellation, deren Grenzen in der Tat schwer zu ziehen sind. Ich denke, dass viererlei diese sogenannte Bielefelder Schule auszeichnete. Erstens hohe Wertschätzung für Kritik. Kritik war eine ungeheuer wichtige Kategorie und zwar Kritik im Sinne der Traditionskritik im Fach, aber auch der Gesellschaftskritik – wir befinden uns in den siebziger Jahren – in Bezug auf die eigenen Verhältnisse. Zweitens ein hohes Maß an Theorieorientierung. Dadurch unterschied sich das, was in Bielefeld passierte, doch von den meisten anderen geschichtswissenschaftlichen Seminaren: Theorie im Sinne von Metatheorie à la Koselleck über die Bedingungen und Möglichkeiten von Geschichte, aber auch Theorie im Sinne der Orientierung an Theorieangeboten der systematischen Nachbarwissenschaften. Drittens ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft in dieser relativ offenen Situation einer sich etablierenden neuen Reformuniversität. Veränderung war normal, es handelte sich nicht um die Durchsetzung eines festen Programmes. Später ist uns eine neue Orthodoxie vorgeworfen worden,seitens der Alltagshistoriker in den achtziger Jahren, die sich an Bielefeld rieben. Aber orthodox war da wenig, vielmehr wurde sehr viel ausprobiert. Viertens die bereits erwähnte Historismuskritik und Hinwendung zur Sozialgeschichte. Das alles, so denke ich, definierte die Stimmung, den Geist, die Praxis. Und in gewisser Weise war es eine Schule, weil zunehmend auch junge Leute dazukamen, und weil Bielefeld sehr schnell zu einem Ort wurde, an den fortgeschrittene Studenten aus anderen Universitätsorten, Regionen und Ländern kamen, interessiert daran, mit uns zu arbeiten. Wenn man von Schule spricht, muss man, denke ich, über diese Dimension sprechen. Wie weit gelingt es, ein Gebäude von Ideen und Praktiken weiterzureichen an eine – Generation ist zu hoch gegriffen – nächste Altersgruppe?
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Wissenschaftliche Schulen — Interview
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Ist es somit ein Zufall, dass von »Bielefelder Schule« die Rede ist und nicht von »Bochumer Schule« oder »Berliner Schule«? Nein, zufällig ist es nicht. Aber es ist doch wie so häufig ein Begriff, der nicht nur beschreibt, sondern der auch konstruiert. In einer Weise, die uns nun freilich nicht unlieb war. Das hohe Interesse, das uns als Einzelnen oder einer Zeitschrift wie »Geschichte und Gesellschaft« im Ausland entgegengebracht wurde – und es war meistens ein Interesse mit viel Wertschätzung –, hat uns sehr geholfen. Es kommt hinzu, dass zu unserer geschichtswissenschaftlichen Traditionskritik auch die Auseinandersetzung mit der Frage gehörte, warum dieses Land in der Krise der Zwischenkriegszeit in so radikaler Weise in eine faschistische Diktatur umgekippt war. Sie umfasste einerseits die Analyse der Bedingungen, die für diesen Umschlag mitentscheidend gewesen waren. Und andererseits das Bemühen, als Wissenschaftler und natürlich auch als Bürger mitzuhelfen, dass solche oder ähnliche Dinge in Deutschland nicht mehr Realität werden würden. Auch daraus erklärt sich das große Interesse außerhalb Deutschlands für unsere Arbeit, besonders bei den exilierten Wissenschaftlern in den USA , mit denen wir viel zu tun hatten, z. B. mit Hans Rosenberg, Felix Gilbert, Fritz Stern und Georg Iggers. Letzterer hat durch seine Beschreibungen dessen, was in der europäischen und vor allem deutschen Geschichtswissenschaft vor sich ging, sehr geholfen, unser Profil in der Wahrnehmung anderer zu schärfen. Hängt die starke Publikationstätigkeit und mediale Präsenz der Bielefelder Schule auch damit zusammen, dass Bielefeld als Forschungsuniversität konzipiert worden war und Professoren in jedem zweiten Semester ein Forschungssemester nehmen konnten? Das hat nicht lange gehalten. Das war ein Plan am Anfang, der bald unter dem Druck zunehmender Studentenzahlen zurückgeschnitten wurde, obwohl wir weiterhin relativ einfach, häufiger als Kollegen an anderen Universitäten, Forschungssemester erhalten haben. Bielefeld hat von Anfang an die Idee der Interdisziplinarität sehr stark betont. Die Kooperation mit den Soziologen und Rechtswissenschaftlern, aber auch mit Literaturwissenschaftlern war sehr wichtig. Es gab z. B. früh Kontakte mit Niklas Luhmann und Dieter Grimm. Oder mit dem Wissenschaftssoziologen Peter Weingart und interessanten Literaturwissenschaftlern wie Wilhelm Voßkamp. Interdisziplinarität war das Programm der Bielefelder Universität und dafür besaß sie auch ein Zentrum: das »Zentrum für interdisziplinäre Forschung« (ZiF). Und dieses ZiF, das erste Institute for Advanced Study in Deutschland (lange vor dem nachher viel berühmteren Berliner Wissenschaftskolleg) hat uns Ressourcen Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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zur Verfügung gestellt, für Konferenzen etwa oder große Forschungsgruppen, die ein Jahr lang zusammenkamen. Es war ein Transmissionsriemen, ein Forum mit Verstärkungskraft. Insofern ist diese Universität Bielefeld schon ein eigenständiger Faktor gewesen, der miterklärt, warum das, was wir jetzt als Bielefelder Schule beschreiben, dort geschah und nicht woanders. Rektor Grotemeyer war ein großartiger Rektor und hat uns sehr unterstützt. Wir haben aus dieser gemeinsamen Orientierung heraus dann den in der Bundesrepublik ersten geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereich beantragt und bewilligt bekommen, über die Geschichte des europäischen Bürgertums im Vergleich, Mitte der achtziger Jahre. Dieser Sonderforschungsbereich verband die Sozial- und Kulturgeschichte, er stand in der Tradition der Bielefelder Sozialgeschichte, wenn auch Anregungen von anderen Orten, an denen ebenfalls das Bürgertum erforscht wurde, aufgenommen wurden. Hat dieses Postulat der Interdisziplinarität langfristig funktioniert? Es war jedenfalls mehr als ein Lippenbekenntnis. Das hängt auch mit der relativen Überschaubarkeit der Stadt Bielefeld und ihrer Universität zusammen, zudem mit der fehlenden Versäulung an den jungen Lehrstühlen, auch innerhalb der Fakultät für Geschichte. Es gab viele Diskussionen zwischen Frühneuzeitlern, Mediävisten und Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts. Durch Puhle und Liehr kam Lateinamerika hinzu, obwohl die globale Dimension im Vergleich zu heute unterentwickelt blieb. Diese ständigen Gespräche und kleineren gemeinsamen Unternehmungen mit Kollegen – es waren meistens Männer – aus den benachbarten Fakultäten waren damals kennzeichnend für Bielefeld. Kommen wir einmal zu der von Ihnen betonten Offenheit und Interdisziplinarität. Wir pflegen in Göttingen ja auch ganz bewusst einen methodischen und theoretischen Eklektizismus, der eine an alle Fragestellungen gleichermaßen anzulegende Generaltheorie ablehnt, überhaupt jeden methodischen Dogmatismus, und sich aus dem Theorienarsenal ganz flexibel bedient. »Theorien als stützendes Geländer statt als einengendes Korsett«, wie es Franz Walter seinen Studierenden stets einbläut und ganz ähnlich ja auch Wehler postuliert hat. Jetzt sagten Sie, eines der drei Kernelemente der Bielefelder Schule sei ein hohes Maß an Theorieorientierung. Wie geht das zusammen? Wir haben früh versucht, den Studierenden Folgendes mitzuteilen: Die Quellen können nicht selbst sprechen. Ihr müsst schon gute Fragen an sie stellen. Dafür braucht es Begriffe, Hypothesen, Theorien in einem nicht sehr elaborierten Sinn. Mein Beispiel war immer meine eigene Erfahrung. Ich habe
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eine Dissertation über das Management und die inneren Verhältnisse in den Siemens-Unternehmen zwischen 1847 und 1914 geschrieben. Ich wäre ertrunken in der Fülle der Archivalien, der Geschäftsbriefe, der Listen und Korrespondenzen, wenn ich nicht mit einem klar definierten Bürokratiebegriff, dem Weber’schen, gearbeitet hätte. Der hat mir erlaubt, bestimmte Fragen zu stellen, dann das Material zu ordnen und am Ende auch Interpretationen zu liefern. In diesem Sinne war die Orientierung an Theorie, an explizierter Begrifflichkeit, ganz zentral. Gleichzeitig waren wir nicht festgelegt auf die eine oder andere Richtung. Marx hat eine große Rolle in der Anfangszeit der Bielefelder Sozialgeschichte gespielt, sein Klassenbegriff etwa. Und dann hat sich das Gebirge der Begriffe und Schriften von Max Weber immer mehr in den Vordergrund geschoben, weil es praktisch anwendbar, kritisch benutzbar war. Anderes kam hinzu. Die »Kognitive Dissonanz« war ein Begriff, mit dem wir irgendwann arbeiteten, Modernisierungstheorien spielten eine Rolle, Theorien sozialen Protests. Da waren wir nicht festgelegt. Aber wir waren sehr darauf angewiesen, so etwas zu finden, um es dann nicht einfach zu übernehmen, sondern es unserer historischen Forschung selektiv anzuverwandeln. Das war eine sehr explizit analytische Herangehensweise an die Geschichte, wodurch wir uns von vielen anderen unterschieden. Die strikt erzählende Geschichte oder die nachvollziehende Geschichtsschreibung, die waren unsere Sache nicht, sondern eine analytisch orientierte, theorieorientierte Geschichte. Theorie war im Übrigen auch wichtig – Reinhart Koselleck und später Jörn Rüsen boten dazu sehr viel – in Bezug auf die Diskussion: Was tun wir da eigentlich als Historiker? Was sind denn die gesellschaftlichen, politischen, intellektuellen, kulturellen Bedingungen der Möglichkeit unserer Existenz als Historiker? Was leistet Geschichtswissenschaft für sich selbst, aber auch für das kollektive Verständnis der Kultur, in der man sich befindet, für kollektive Selbstaufklärung, Identitätsbildung und ähnliches? Wenn man jetzt einige Dissertationen aus dieser Zeit liest, dann ist man ein bisschen irritiert darüber, wie dick der Theorieteil am Anfang war. Dann fragt man sich: Ist das Verhältnis eigentlich noch angemessen zwischen dem theoretischen Aufwand und dem, was dann an Ergebnissen herauskam? Denn die Theorie sollte ja doch primär Mittel sein und nicht Selbstzweck. Insgesamt aber, denke ich, wurde viel geleistet. Das hat sich nicht auf Dauer gehalten und ist bald auch durch die kulturalistische oder mikrohistorische Orientierung der Geschichtswissenschaft seit den achtziger Jahren attackiert worden, nicht nur von Traditionalisten, sondern auch von einer neuen Altersgruppe von stärker kulturhistorisch, alltagshistorisch oder mikrohistorisch orientierten Historikern. Deren Richtung gewann auch in Bielefeld selbst an Boden. Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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Es ist in der Tat auffällig, dass Weber und Marx in den meisten Publikationen die theoretischen Hauptbezugspunkte bildeten. Zum Beispiel in dem Band »Sozialgeschichte«, der bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist, wo Sie die beiden diskutieren und dabei teilweise die Marx’sche Geschichtsphilosophie gegen die Angriffe von Weber verteidigen, aber am Ende auch sagen, man sollte Theorien so verwenden, dass sie andere Erklärungen einbeziehen und inkorporieren. Da haben wir wieder den Eklektizismus, der die Dogmatismus-Vorwürfe, die Sie gerade ansprachen, in der Tat unsinnig erscheinen lässt. Wir betrieben immer eine Abgrenzung nach zwei Seiten. Wir wollten nicht traditionelle Geschichtswissenschaft, wie wir sie verstanden: erzählend, historisierend, begriffsskeptisch. Auf der anderen Seite war es die Zeit des Kalten Krieges und der dogmatische Marxismus spielte in den siebziger Jahren eine viel größere Rolle als heute. Auch das wollten wir nicht. Ich habe etwa in dem Buch »Klassengesellschaft im Krieg« die Marx’sche Klassentheorie oder Teile davon in einer Weberianischen Art und Weise benutzt – idealtypisch und damit kritisierbar, nicht auf marxistisch-leninistische Weise, wie es in der DDR geschah und auch hier und da in der Bundesrepublik, in Marburg zum Beispiel. Hinzu kommt, dass wir relativ jung waren. Ich bin Jahrgang 1941, das heißt, ich habe im Alter von 32 Jahren die Professur in Bielefeld übernommen. Wehler war zehn Jahre älter, also auch noch verhältnismäßig jung. Es war eine Zeit, in der die Gesellschaftskritik einen großen Stellenwert besaß, die 68er-Bewegung lag noch nicht weit zurück. Gleichzeitig gab es aber auch ein hohes Maß an Zukunftsoptimismus, verbunden mit modernisierungstheoretischen Annahmen, dass es möglich sein würde, auch in Deutschland alte Rückständigkeiten zu überwinden und eine neuere, bessere, demokratischere Welt hervorzubringen. Damit verband sich häufig eine gewisse Emphase, verbanden sich Leidenschaften. Bei einigen weniger, bei anderen mehr. Dies hing mit dem Zeitgeist zusammen. Insofern ist diese Bielefelder Schule, soweit es sie denn gab, auch ein Produkt der sechziger, siebziger Jahre. Sie hat sich allerdings, finde ich jedenfalls, dann so entwickelt und etabliert, dass sie über die Zeit ihrer eigenen Entstehung hinausgewirkt hat, subkutan teilweise bis heute in vielen einzelnen Punkten, wenn auch nicht mehr so sehr als einzelne Richtung, aber doch als Einfluss innerhalb von verschiedenen Arbeitsgebieten. Und natürlich auch durch sehr große Werke, wie die grandiose fünfbändige Gesellschaftsgeschichte von Hans-Ulrich Wehler. Kommen wir noch einmal zurück zur Anatomie der Gruppe in Bielefeld. Wie funktionierte die Nachwuchsrekrutierung? Es gab das legendenumwobene
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Freitagskolloquium, das den Ruf hatte, es gehe dort sehr hart und kompetitiv zur Sache. In den Seminaren war es offenbar ähnlich. Hat diese Atmosphäre junge Nachwuchswissenschaftler angezogen? Es war eine sehr unprofessorale, in gewisser Hinsicht auch hemdsärmelige Atmosphäre. Es wurde nicht viel Wert auf Titel gelegt, Kritik dagegen wurde groß geschrieben, nicht zuletzt intern. Dazu passte auch der hypersachliche Bau der Bielefelder Universität, der sich architektonisch von allem Traditionellen abwendet. In unserem Freitagskolloquium, das Wehler und ich von 1973 bis 1988 gemeinsam geleitet haben, wurde sehr kritisch diskutiert. Wir haben da den Jüngeren, die dort als Doktoranten oder Post-Doktoranten ihre Arbeiten vorstellten, aber auch den auswärtigen Gästen, eine Menge zugemutet. Aber ich hoffe und bin eigentlich der Meinung, dass das eine Kritik war, die zwar manchmal verletzt und manche entfremdet hat, die aber doch oft überging in Verständigungsprozesse und sogar Freundschaften. Kritik muss nicht unbedingt trennen, sondern kann gerade in der Wissenschaft auch verbinden. Diese eminente Bedeutung, die der Kritik beigemessen wurde– nicht nur nach außen, nicht nur gegenüber den Traditionen des eigenen Faches und bestimmten sozialen Verhältnissen, der Obrigkeit oder überflüssiger Ungleichheit, sondern auch im Inneren der eigenen Diskurse –, das war kennzeichnend für Bielefeld und imponierte vielen Jüngeren, die von anderen Universitäten kamen. Sie haben vorhin mit Blick auf die Institutionalisierung von wissenschaftlichen Schulen über die verschiedenen Veröffentlichungen, die Zeitschrift und Publikationsreihen gesprochen. Würden Sie sagen, dass die Kolloquien auch ein wesentlicher Bestandteil in der Herausbildung einer gemeinsamen Identität waren? Absolut. Vielleicht hätte ich das sogar schon vorher sagen sollen. Zumal es von diesen Kolloquien mehrere nebeneinander gab, die auch ganz unterschiedlich waren. Es gab das Kolloquium von Wehler und mir. Es gab Frühneuzeit-, Mittelalter- und Althistorikerkolloquien und andere, bisweilen auch die Abteilungen übergreifend. Koselleck hielt ein Kolloquium bei sich zu Hause ab, ein sehr informelles, im Überschneidungsbereich von Geschichte und Philosophie. Man erzählte sich, dass manchmal die Tür abgeschlossen wurde – wer kam, der sollte bleiben und nicht vorzeitig gehen, auch wollte man nicht von außen gestört werden. Es gab also eine ganze Reihe von Kolloquien, in ihnen wurde das Fundament dieses diskursiven, die wissenschaftlichen Teilbereiche übergreifenden Betriebes gelegt. Natürlich, da waren auch die Angriffe auf »die Bielefelder« und ebenso ihre Anerkennung von außen, die Fremdwahrnehmung und Kategorisierung als besonders und Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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zusammengehörig: ein wichtiger Punkt für die Entstehung von Richtungen und Schulen. Das alles war für mich in hohem Maß anregend, aufregend, es war eine sehr gute und produktive Zeit, ich möchte sie nicht missen. Jetzt ist natürlich der Tod von Hans-Ulrich Wehler eine tiefe Zäsur. Ich will es einmal so sagen: Man mag Zweifel haben, ob es eine Bielefelder Schule gab. Aber soweit es eine gab, war Hans-Ulrich Wehler das Haupt. Er war ein ungeheuer produktiver Wissenschaftler, er trieb an, gab Beispiel, produzierte Neues. Er besaß viel gelehrte Substanz und verstand es, so zu formulieren, dass er in die Öffentlichkeit hineinwirkte. Für die Entwicklung der Ideen und einzelnen Themengebiete waren viele verantwortlich. Aber Wehler war in dieser Gruppe der Älteste, abgesehen von Koselleck. Und wenn die Beobachter über die Bielefelder Schule schreiben, dann taucht bis heute nur eine kleine Zahl von Namen auf, aber sehr oft Wehler, und das ist nicht zufällig. Sie begründeten die Entstehung der Bielefelder Schule auch mit dem geringen Alter ihrer Protagonisten. Sie waren jung, waren dynamisch, übten viel Kritik an den bestehenden Ansätzen, wie man sie ja häufig als Heranwachsender empfindet. Aber Wehler und sie wurden mit der Zeit natürlich älter, junge Leute rückten nach, vermochten aber die Lücken nicht vollständig zu füllen und die Koryphäen nicht zu verdrängen. Insofern gab es keinen richtigen Generationswechsel. Und bei den Alten ist die Dynamik irgendwann raus, das Neue ist nicht mehr neu. Ist das eigentlich ein Problem für Schulen allgemein oder für die Bielefelder Schule im Speziellen gewesen, dass es diese Kontinuität der Führungspersonen gab? Wie würden Sie das beschreiben? Ich denke, dass Konstellationen dieser Art sehr personenabhängig sind und mit diesen Personen auch wieder erodieren, vergehen, verblassen. Aber nicht völlig! Es gibt Zeitschriften, die überdauern; es gibt Erinnerungen, die eine Rolle spielen; es gibt Prägungen, die durch die Lehre oder die Argumentation entstehen und sich anverwandeln an neue Situationen. Die Konstellationen verschwinden, es gibt ein Sich-Anpassen an neue Situationen, auch ein Verblassen des Faszinosums, eine gewisse Routinisierung, eine Relativierung durch Neues, das entsteht und erneut fasziniert. Das ist, denke ich, das Normale. So ist das auch mit der »Bielefelder Schule«, die es nicht mehr gibt, jedenfalls nicht in der Weise, wie wir das jetzt beschrieben haben. Ich habe häufiger über die Berlin-Bielefelder Richtung der Sozialgeschichte gesprochen. Hans Rosenberg, den ich schon nannte und der gerade für die Bielefelder eine riesige Rolle spielte und unser erster und lange Zeit einziger Ehrendoktor war, hat nach 1945 zeitweise an der FU gelehrt. Und wenn Sie
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nachsehen, wo die meisten aus dem Umfeld der Bielefelder Schule herkamen, dann waren viele in Berlin ausgebildet worden. Puhle, Kaelble, Karin Hausen, Klaus Tenfelde und andere haben alle in den sechziger, siebziger Jahren in Berlin und später in Münster bei Gerhard A. Ritter studiert, der mehr Sozialhistoriker ausgebildet hat als irgendein anderer. Auch ich bin über die Zwischenstation Münster aus Berlin nach Bielefeld gekommen. Das soll keine Herabstufung der Bielefelder Sozialgeschichte sein, die war schon etwas Besonderes, aber ihre Wirkungsgeschichte ist translokal – und im Grunde auch ihre Entstehungsgeschichte. Zum Glück! Gerhard A. Ritter taucht auch in den Darstellungen über die Bielefelder Schule tatsächlich immer als Lehrerfigur der Bielefelder Schulhäupter auf. Obwohl er vom Jahrgang eigentlich sehr nah dran ist an Hans-Ulrich Wehler, sehr viel näher als Sie. Trotzdem gilt er nicht als Vertreter dieser Richtung. Wie kommt das eigentlich? Einerseits blieben wir alle Ritter sehr verbunden. Ritter wurde nach Hans Rosenberg der zweite Ehrendoktor unserer Fakultät in Bielefeld, und es hat nie eine Entfremdung oder wirkliche Auseinanderentwicklung gegeben. Aber Ritter war und ist ein anderes Temperament. Er war nicht so zuspitzend wie es Wehler war. Er vermittelte sehr viel mehr, er lehrte u. a. Sozialgeschichte, aber gleichzeitig wurde er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands. Das zeigt seine breite Akzeptanz. Dazu wären wir nie gewählt worden in den siebziger Jahren, schon gar nicht Wehler. Der verkörperte die Kraft der Zuspitzung mehr als jeder andere, auch mehr als ich, vor allem aber sehr viel mehr als Ritter. Der Glaube daran, dass auch ein einseitig formuliertes Argument, besonders dann, wenn es in der Öffentlichkeit die Gegenargumente gibt, durch das Spiel und das Widerspiel der Konkurrenz der Argumente etwas Gutes bewirkt, zur Wahrheit führt und dem Allgemeinwohl nützt – dieser Glaube an das agonale Prinzip war kennzeichnend für Wehler. Die meisten von uns und sicherlich die meisten Ritter-Schüler, und Ritter selbst, würden sagen: Also nun mal vorsichtig, Proportionen sind wichtig, meistens haben es Historiker mit Grautönen anstatt mit Schwarz-Weiß-Färbungen zu tun. Ist das überhaupt eine wichtige Voraussetzung für Schulengründungen? Inneren Zusammenhalt zu erzeugen durch Abgrenzung nach außen? Ja, und dazu hat Wehler entscheidend beigetragen. Aber gleichzeitig kommt es eben auch darauf an, Neues von außen aufzunehmen und sich gegenüber Dritten an den anderen Universitäten und in den Medien so zu verhalten, dass man nicht nur wahrgenommen, sondern auch ernst genommen und akzeptiert wird. Wir haben in Bielefeld bei all den Neuansätzen, auf die ich Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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auch jetzt mit großer Genugtuung zurückblicke, die Grundregeln der Profession sehr ernst genommen. Bielefeld war ein Ort sehr harter empirischer, quellengestützter Arbeit. Das zweite Buch, die Habilitation, gehörte dazu. Es kam auch vor, dass Leute nicht akzeptiert wurden mit ihrer Habilitation und auf der Strecke blieben. Es gab eine sehr starke Orientierung an Leistung und bestimmten Grundprinzipien der Geschichtswissenschaft. Das war in der einen oder anderen radikalalternativen Szene der Bundesrepublik anders, wo ähnliche, oder radikalere, Träume geträumt wurden, aber die harte Arbeit ihrer Realisierung schon unter Bürgerlichkeitsverdacht gestellt wurde. Die Bielefelder Schule, soweit es sie gab, hatte etwas stark Bürgerliches an sich. Auch dies lässt sich exemplarisch an Wehler zeigen. Er war ein Mann, der mit seiner Lebensführung sehr verankert gewesen ist in seiner Familie, der nicht das geworden wäre, was er geworden ist, ohne seine Frau Renate. Das alles erklärt vielleicht, warum diese Bielefelder Richtung auch von Personen und Gruppen sehr ernst genommen wurde, die sich politisch ganz anders orientierten oder die sich gar nicht besonders politisch engagierten, aber im Fach eine große Rolle spielten. Von daher: Die Abgrenzung nach außen ist ein wichtiges Element der Schulenbildung, aber diese Selbstabgrenzung muss balanciert sein durch Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, wenn die jeweilige Richtung nicht zu einer Sekte oder einer rasch verwelkenden Blume werden soll. Passagen in einem Interviewband von Manfred Hettling und Cornelius Torp mit Wehler erzeugten bei uns den Eindruck, dass doch ursprünglich neue, bereichernde und anregende Ansätze im Laufe der Zeit zur Verfestigung neigen. Über mehrere Seiten ging es um die Frage, ob man die Sozialgeschichte anreichern sollte durch Ansätze aus der Kulturgeschichte. Wehler lehnte das rigoros ab. Ist das eine zwangsläufige Entwicklung von Schulen, dass sie in ihrer Frühzeit Verfestigungen aufbrechen, zu denen sie später ihrerseits wiederum selbst neigen? Das ist Wehler 2006. Das würden damals schon viele von uns nicht mitformuliert haben. Ich denke, dass diese zuspitzende Entgegensetzung von Sozialgeschichte und Kulturgeschichte problematisch war. Die historische Bürgertumsforschung, die wir betrieben haben seit den achtziger Jahren und an der ich mich stark beteiligte, war ja im Kern eine neue Verbindung von Sozial-und Kulturgeschichte. Eine Verfestigung sehe ich insgesamt nicht. Vielleicht muss man vielmehr umgekehrt fragen: Was ist denn überhaupt jetzt noch das Gemeinsame dieser Leute aus der »Bielefelder Schule?« Da würde ich auf eine bestimmte Haltung zur Kritik, eine bestimmte Orientierung an Theorie und auf das Interesse am Experimentellem verweisen. Und dann
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noch auf die Bereitschaft, das eigene Geschäft als Historiker als Teil einer größeren gesellschaftlichen Verantwortung zu begreifen. Sie haben gesagt: Die Bielefelder Schule gibt es in Bielefeld eigentlich gar nicht mehr. Die Bielefelder Schule wirkt noch weiter, aber in Bielefeld gibt es die eigentlich nicht mehr. Wann würden Sie das Ende der Bielefelder Schule in Bielefeld verorten? Und warum? Ich will das präzisieren: Elemente davon sind weiterhin da. Wir haben weiterhin in Bielefeld einen – vielleicht den einzigen – Platz, wo eine Graduiertenschule existiert, die von Historikern und Soziologen gemeinsam betrieben wird. Unter den Historikern ist Thomas Welskopp eine wichtige Person, er ist ein Sozialhistoriker, der sich sehr kritisch gegenüber manchen Dingen geäußert hat, die wir in unserer Generation sozialhistorisch gemacht haben, der gleichzeitig aber weiterhin auf diesem Gebiet tätig ist. Also es gibt schon weiterhin Elemente der Kontinuität. Doch ist die Konstellation nicht mehr da, die ich vorhin für die siebziger und achtziger Jahre beschrieben habe. Laut Wehler muss man für eine Schulengründung drei bis vier Leute an der Universität haben, ein paar Doktoranden und ein paar wissenschaftliche Mitarbeiter, die sich davon begeistert zeigen. Dann müsse man sich mit diesen in den Wettbewerb begeben. D. h. man braucht eine kritische Masse, drei, vier Professoren plus deren wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden. Ist es das? Eine kritische Menge, aber nicht zu groß, ja, das war die Chance in Bielefeld. Das wäre beispielsweise in einem Betrieb wie Berlin, wo unheimlich viel zur gleichen Zeit passiert, wo die Interessen sich vervielfältigen und diffundieren, gar nicht in dieser Weise möglich gewesen. Wehler sprach immer von der ostwestfälischen Steppe, mit Bielefeld als Oase. Da ist etwas dran. Man muss das nicht so polemisch oder ironisch formulieren, aber man hatte tatsächlich viel miteinander zu tun. Dies war ein vor-digitales Zeitalter. Man traf sich sehr viel mehr als in einer Großstadt wie Berlin. So eine kleine, kritische Masse ist wichtig, wenn es so etwas wie eine Schule geben soll, aber sie muss sich – noch einmal – vor der Verfestigung hüten. Sie muss, wenn sie ausstrahlen und erfolgreich sein will, gleichzeitig offen sein. Das ist uns gelungen. Eine abschließende Frage noch. Welche Rolle spielt denn eigentlich der Faktor »Charisma«? Das persönliche Element, das traditionell dem Lehrer-Schüler-Verhältnis innewohnen konnte, war ungemein wichtig. In den letzten Jahrzehnten ist Interview mit Jürgen Kocka — »Ein hohes Maß an Experimentierbereitschaft«
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das medial hergestellte Bild einer Richtung, einer Institution, einer Forschung, eines Forschers in der Öffentlichkeit immer wichtiger geworden, parallel zu der Bedeutungszunahme der Medien. Da war Wehler natürlich bis zu seinem Tod eine ganz wichtige Figur, die mit großem Talent nicht nur als Fachwissenschaftler, sondern auch als Intellektueller wirkte: leidenschaftlich, mit der Bereitschaft zum Engagement, dem Willen zu kämpfen. Im persönlichen Umgang konnte Wehler begeistern, besaß er charismatische Ausstrahlung (wenn er wollte). Wahrscheinlich sind wissenschaftliche Schulen auch deswegen nicht auf Dauer zu stellen, weil ihre Bedeutung auch von solchen sehr personengebundenen Dingen abhängt – wenn ihre Institutionalisierung ihnen auch für eine Weile ermöglicht, über die ursprüngliche personelle Konstellation hinaus zu wirken. Das Interview führten Danny Michelsen und Matthias Micus
Prof. Dr. Jürgen Kocka war von 1973 bis 1988 Professor für Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld und von 1988 bis 2009 für die Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin. Von 2001 bis 2007 leitete er als Präsident das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und war von 1998 bis 2009 Direktor am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas. Seit 2009 ist er Permanent Fellow am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg ›Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive‹ an der Humboldt-Universität zu Berlin und Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
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PERSPEKTIVEN
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PORTRAIT
TOD IM HERBST 1939 AUFSTIEG UND SCHEITERN DER SOZIALDEMOKRA TISCHEN GENERATION SCHEIDEMANN UND WELS ΞΞ Franz Walter
Ein hoffnungsloses, tief deprimierendes Ende. Im Herbst 1939, vor 75 Jahren also, starben Otto Wels und Philipp Scheidemann, die neben Friedrich Ebert entscheidenden Anführer der deutschen Sozialdemokratie aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als sie vierzig Jahre alt waren – Scheidemann 1905, Wels acht Jahre später – herrschte in der Welt des proletarischen Sozialismus noch praller Optimismus. Im Jahr ihres Todes war dies alles zerstört. Und die Barbarei des Krieges und des Genozids stand noch bevor. Oft wird in biographischen Abhandlungen die Metapher bemüht, dass sich in Lebensläufen der porträtierten Einzelnen eine ganze Epoche, Bewegung oder Idee spiegle. Das ist nicht selten übertrieben. Aber in den Lebensgeschichten von Scheidemann und Wels finden wir tatsächlich allen Glanz und alles Elend des demokratischen Sozialismus in Deutschland, die großen Hoffnungen des Aufstiegs, das Scheitern der Internationalität und der Friedenspolitik, die Ernüchterung in der Gouvernementalität, die Spaltung des Sozialismus, die neue Erfahrung der Entfremdung aufgestiegener sozialdemokratischer Funktionäre von den sozial zurückgelassenen Arbeitergruppen, schließlich die Katastrophe: der Sieg der faschistischen Massenbewegungen, die Liquidierung des sozialdemokratischen Organisationskosmos und die Zerschlagung der parlamentarischen Republik; Verfolgung, Leiden, Flucht, Gefühle der Hoffungslosigkeit und des Scheiterns, Tod in der Emigration. Philipp Scheidemann kam 1865 zur Welt, Otto Wels wurde im Jahr 1873 geboren. Trotz der Differenz wird man sie, alles in allem, der gleichen Generation zuordnen können.1 Die Jahre der Illegalität unter dem Sozialistengesetz wird Scheidemann bewusster wahrgenommen haben als Wels. Doch prägend wurden für beide die goldenen 20–25 Jahre danach, als die Sozialdemokraten bei Wahlen an Zuspruch enorm gewannen, ihre Organisationen
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INDES, 2014–3, S. 110–124, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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1 Hierzu Bernd Braun, Die »Generation Ebert«, in: Klaus Schönhoven u. Bernd Braun (Hg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 69–86. Für Braun sind das die Geburtsjahrgänge 1861–1884.
an Mitgliedern wuchsen, an Mobilisierungskraft stetig zulegten. Gesellschaftliches und ökonomisches Wachstum, Fortschritt, Expansion, schließlich Sieg – vor diesem Erfahrungshintergrund und gestützt auf die zukunftsgewissen programmatischen Deutungen ihrer Theoretiker wurden Wels und Scheidemann groß. Der Ältere fühlte sich besonders auf dem Feld der Rhetorik, der Schriftstellerei, des Zeitungskommentars und des parlamentarischen Auftritts wohl. Der Jüngere lebte seine Neigungen mehr auf dem Terrain der Organisation, der straffen Führung und des innerparteilichen Regimes aus. Diese beiden Typen – der Redner und der Organisator – machten das Sozialdemokratische schlechthin aus in seiner klassischen Ära, den Jahrzehnten des Kaiserreichs, aber auch noch in der Zeit der Weimarer Republik, wenngleich der oratorische Glanz im Lauf der 1920er Jahre allmählich verkümmerte. DER CICERO DER ARBEITERBEWEGUNG Denn in diesem Jahrzehnt war der Stern von Philipp Scheidemann verblasst, wodurch der SPD der letzte große Rhetor und Volkstribun verloren ging. Scheidemanns Aufstieg aus den sprichwörtlich kleinen Verhältnissen an die politische Spitze des Deutschen Reichs war gewissermaßen paradigmatisch für die anfängliche Emanzipationsgeschichte des handwerklich geprägten Sozialismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Schon die männlichen Vorfahren hatten ein Handwerk gelernt; sein Vater war ein in der Stadt Kassel hoch angesehener Tapezierer und Polsterer. Diese Tradition setzte sich über den Sohn fort; während die künftige Familientradition des Sozialismus in der Familie Scheidemann erst mit Philipp begann.2 Die »Generation Schei2 Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten. Bd. 1, Dresden 1928, S. 12. 3 Siehe auch Bernd Braun. Die Reichskanzler der Weimarer Republik. Von Scheidemann bis Schleicher, Stuttgart 2013, S. 47. 4 Hierzu Klaus Tenfelde, Historische Milieus – Erblichkeit und Konkurrenz, in: Manfred Hettling u. Paul Nolte (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland, München 1996, S. 247–268, hier S. 258. 5 Hierzu und insgesamt für diesen Beitrag Helmut Schmersal, Philipp Scheidemann 1865–1939. Ein vergessener Sozialdemokrat, Frankfurt a. M. 1999, S. 22 ff.
demann« wuchs noch nicht mit der Geburt in ein ausgebautes sozialistisches Milieu hinein;3 sie konstituierte die Solidargemeinschaft erst, um Zugehörigkeiten und Bindungen fortan »vererben«4 zu können. Und ganz überwiegend waren es Handwerker mit Berufsstolz und autodidaktischem Ehrgeiz, nicht etwa die neue Klasse der Fabrikarbeiter, welche die Initiative ergriffen und die Fäden der Organisation in den Händen hielten. Scheidemann gehörte mit 14 Jahren zum Nachwuchs dieser eher vorindustriellen Arbeiteraristokratie. Er absolvierte eine Schriftsetzerlehre, ging dann auf Wanderschaft, fand mit 24 Jahren eine feste Anstellung als Chefdrucker in der Akademischen Buchhandlung in Marburg, wo er wissenschaftliche Werke sämtlicher Fachrichtungen der örtlichen Universität setzte.5 Es hieß, er sei in jenen Jahren der bestbezahlte Schriftsetzer in der Region Hessen-Nassau gewesen. Mit 18 Jahren war er, noch während des Sozialistengesetzes also, der Sozialdemokratie beigetreten, verbreitete heimlich Flugschriften. Seine Schreib- und Vortragsbegabung fiel rasch auf, so dass er bald einige Redaktionsposten Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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sozialdemokratischer Tageszeitungen angeboten bekam, auch als Kandidat für den Reichstag nominiert wurde. Sozialdemokraten der Kaiserreichsjahre mussten, durchaus im Unterschied zur Gegenwart, mobile und flexible Figuren sein. Die Familie Scheidemann wechselte aufgrund der Parteitätigkeit Philipps binnen weniger Jahre mehrere Male den Wohnort, zog von Kassel nach Gießen, von dort nach Nürnberg, um über Offenbach wieder in Kassel zu landen. Scheidemanns Wahlkreis seit 1903 lag im Westen des Reichs, in Solingen. Und 1911 ging es schließlich nach Berlin, wo er zum hauptamtlichen Sekretär des zentralen Parteivorstandes avancierte. Hier allerdings war er fehlbesetzt. Scheidemann war nicht dafür geschaffen, Tag für Tag am Schreibtisch zu hocken, um akkurat Akten zu studieren. Bürotätigkeiten dieser Art betrachtete er abschätzig als »Kleinkram, der mich nicht interessierte«6. Ordnung in die zu administrierenden Angelegenheiten zu bringen, gelang ihm nicht. In Scheidemanns Büro herrschte das pure Chaos, während Friedrich Ebert – zu dem sich mehr und mehr eine Rivalität aufbaute – die Apparatstrukturen souverän unter Kontrolle hatte. Das verschaffte Ebert zeitlebens den machtpolitischen Ausschlag in den entscheidenden Momenten der sozialdemokratischen Geschichte. Dabei war Scheidemann außerhalb der Partei der ungleich bekanntere Politiker. Seine parlamentarische Karriere begann im Jahr 1903 und endete unfreiwillig Anfang 1933. Das Parlament bot ihm die Bühne für seine herausragende Fähigkeit: die Rede. Als »sozialdemokratischer Cicero«7 charakterisierte ihn Jahrzehnte später ein kundiger Historiker. In den letzten Jahren seines Lebens verzichtete der große Tribun August Bebel immer öfter auf den parlamentarischen Aufritt zugunsten von Scheidemann, den er auch sonst kräftig protegierte. Scheidemann konnte zu fast jedem Thema extemporierend Stellung beziehen, reagierte schlagfertig auf Zwischenrufe, blamierte seine Kontrahenten durch flotte ironische Repliken. Unentwegt schoss er Pointen ab.8 Er sprach in Bildern, mied jede Abstraktion. Seine Reden wirkten nicht
6 Scheidemann, Memoiren, Bd. 1, S. 101.
apodiktisch, auch nicht übermäßig sarkastisch, sondern trotz allen Spotts eher heiter und humorvoll. Eine Probe davon hatte er bereits in seiner Jungfernrede vor dem Reichstagsplenum abgegeben, als er, der Abgeordnete mit dem Wahlkreis Solingen, den bedrohlichen Grad der Gewässerverschmutzung im Bergischen Land drastisch karikierte: »Die Wupper ist tatsächlich so schwarz, dass, wenn sie einen Nationalliberalen darin untertauchen, sie ihn als Zentrumsmann wieder herausziehen können.«9 Darüber konnten auch Abgeordnete diesseits der Linken schmunzeln. Da Scheidemann in solchen Momenten stets die Lacher auf seiner Seite hatte, begann er indessen seine Bedeutung zu überschätzen. Der Esprit ging
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7 Wilhelm Ribhegge, Diese Hand mußte nicht verdorren, in: Die Zeit, 10. 02. 1989. 8 Auch Christian Gellinek, Philipp Scheidemann. Eine biographische Skizze, Köln 1994, S. 21 f. 9 Online einsehbar unter http:// www.reichstagsprotokolle.de/ Blatt_k11_bsb00002807_00781. html [eingesehen am 05. 08. 2014].
dann in Koketterie über. Harry Graf Kessler beschrieb ihn in seinem Tagebuch als »aufgeblasen wie ein Pfau«10. In der Tat: Scheidemann glänzte im Parlament, dann auf Parteitagen, auf Kundgebungen. In theoretischen Fragen war er gleichgültig, auch ein wenig opportunistisch. Rosa Luxemburg war ihm unsympathisch, wegen ihrer Radikalität; doch fürchtete der Autodidakt ebenfalls ihre Intellektualität, die ihn verlegen und unsicher machte. Scheidemann hatte durchaus einen wachen Instinkt für Stimmungen. Man schob ihn gerne nach vorne, wenn die Massen einen wortmächtigen »Anwalt des kleinen Mannes« verlangten. Er war weit wortgewandter als Friedrich Ebert, aber eben doch auch oberflächlicher, unsystematischer, zu sehr Gefangener des Augenblicks, Getriebener seiner eigenen Eitelkeit. Scheidemann heischte ruhelos nach Beifall; Ebert sicherte sich kühl und überlegt Einfluss. Als die Sozialdemokraten 1912 bei den Reichstagswahlen zur stärksten Partei in Deutschland wurden, reklamierten sie für sich auch einen Sitz im Reichstagspräsidium.11 Als fast selbstverständlich galt, dass für ein solches Amt neben August Bebel nur Scheidemann in Frage kommen konnte, der dann als erster Sozialdemokratz in der deutschen Geschichte die Funktion des Vizepräsidenten im nationalen Parlament bekleiden durfte. Aber Scheidemann blieb nie lange in Stellungen der politischen Macht. Da er sich aus Parteiräson weigerte, den üblichen Hofgang des Präsidiums beim Kaiser mitzumachen, musste er auf Druck der Konservativen nach einem Monat die Position bereits wieder räumen. Dafür festigte sich, nach dem Tode von Bebel im August 1913, immerhin seine Rolle als profiliertester sozialdemokratischer Parlamentarier, da er nun mit Ebert gemeinsam den Vorsitz der Fraktion zugesprochen bekam. ANGEKOMMEN? KAISERLICHER MEHRHEITSSOZIALDEMOKRAT IM BURGFRIEDEN Die große Stunde des Philipp Scheidemann schlug im Krieg. Im August 1914 stand er sogleich vorne, als es um die Bewilligung der Kriegskredite und den Burgfrieden zwischen Arbeiterbewegung, Bürgertum und Staat ging. Auch er hielt den »Geist von 1914« für eine Zäsur, in der Geschichte insgesamt, 10 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt a. M. 1996, S. 144. 11
Braun, S. 56.
12 Vgl. Carl E. Schorske, Die Große Spaltung. Die deutsche Sozialdemokratie 1905–1917, Berlin 1981, S. 369 ff.
in der Arbeiterbewegung im Besonderen. Die Sozialisten sollten umlernen, sich neu orientieren, weg von den alten Formeln einer starren und sterilen Oppositionsagitation.12 Hier zogen Ebert und Scheidemann an einem Strang. Für sie änderte sich wirklich der politische Alltag. Die Herrschenden in Preußen-Deutschland, die bis in den Sommer 1914 Sozialdemokraten kaum mit einem formalen Gruß oder anderen Zeichen schlichtester Höflichkeit begegneten, bemühten sich nun um die »vernünftigen Roten«. Man brauchte die Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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Industriearbeiter, daher umwarb man ihre politischen Anführer, nahm sie in die vielen Kommissionen auf, die der Ausnahmezustand des Krieges schuf. Scheidemann erinnerte sich an mehrere tausend Konferenzen, an denen er in diesen vier Jahren teilgenommen habe. Er verkehrte mit Reichskanzlern, er tauschte sich mit Generälen aus, er unterredete sich mit Zensoren, er beriet Ernährungskommissare, er kooperierte mit kaiserlichen Ministern und sprach sich mit Großindustriellen ab.13 Als kaiserlicher Sozialdemokrat nahmen die Granden der Monarchie ihn mit auf Spritztouren an die Front, wo er die Kampfmoral der Soldaten stützen und stärken sollte. Zum Ende des Wilhelminismus rückte er dann als erster Sozialdemokrat in das (letzte) kaiserliche Kabinett ein.14 Kurzum: Scheidemann schien dazuzugehören. Er genoss es sichtlich. Der Drucker aus den kleinen Verhältnissen verkehrte in den Kreisen von Großunternehmern und Aristokratie. Er hatte es geschafft. Und war das nicht im Letzten das eigentliche Ziel der Sozialdemokratie: gleichberechtigte Mitwirkung? Darum ging es doch, nicht um verbalradikale Phantastereien oder verblendete Orthodoxien weltfremder Theoretiker. So dachte Scheidemann, so sah es – eher stärker noch als dieser – auch Friedrich Ebert.15 Beide empfanden es als abwegig, in der Zeit des Krieges gegen die Diktatur des Militärs anzugehen, energisch auf die Überwindung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen zu pochen, zielstrebig an der Durchsetzung einer parlamentarischen Republik zu wirken.16 Immerhin, Scheidemann kamen im Laufe der Kriegsjahre erhebliche Zweifel am vorgegebenen Verteidigungscharakter der deutschen Kriegsführung. Er forderte daher bald einen Frieden
13 Golo Mann, Philipp Scheidemann. Gedenkrede gehalten am 26. Juli 1965, im Auftrag der Stadt Kassel gesetzt und gedruckt o. S.
ohne Annexionen, was fortan in der Öffentlichkeit »Scheidemann-Frieden« hieß. Damit zog er, der als Zielscheibe zunehmender Empörung innerhalb der neuen Linken bereits fungierte, den Hass der politischen Rechten auf sich, die ihn – wie ein halbes Jahrhundert später dann im Zuge der neuen Ostpolitik auch Willy Brandt – als »Verzichtspolitiker« schmähten. Darauf konterte er Mitte Mai 1917 im Reichstag brillant, hier zeigte er seine ganze rhetorische, auch dialektische Wucht:17 »Was soll das heißen und auf was verzichten wir überhaupt? Wir verzichten auf die Fortsetzung des Krieges; wir verzichten auf hunderttausende Tote und hunderttausende Krüppel; wir verzichten auf tägliche Lasten von hundert Millionen; wir verzichten auf die weitere Verwüstung Europas; wir verzichten aber auf kein Stück deutsches Land und kein Stück deutschen Gutes; wir verzichten auf das, was wir gar nicht besitzen; wir verzichten auf die Illusion, daß der Krieg einen Gewinn bringen wird, der uns nicht zusteht, für den wir weitere furchtbare Opfer bringen müßten und den wir doch nicht erreichen würden; wir verzichten darauf,
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14 Lothar Machtan, Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers. Eine Biographie, Berlin 2013, S. 457 ff. 15 Auch schon Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Hamburg 1991, S. 14. 16 Hierzu Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf: Die Deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 320 f. 17 Online einsehbar unter http://www.swr.de/swr2/ wissen/archivradio/archivradio-1917-rede-scheidemann/-/ id=2847740/did=13056082/ nid=2847740/1yxo9bo/index. html [eingesehen am 05. 08. 2014].
andere Völker zu vergewaltigen und zu unterdrücken; wir verzichten aber nicht darauf, daß das deutsche Volk als ein freies Volk aus diesem entsetzlichen Krieg hervorgeht. Das nennen die Alldeutschen einen ›Verzichtsfrieden‹. Worauf wir verzichten das sind die Alldeutschen und ihre dummen Schwätzereien.«18 ÄRGER MIT SPARTAKUS UND VERSAILLES Die Gabe der Rede besaß Scheidemann unzweifelhaft in hohem Maße. Auch sog er Stimmungen auf, spürte die Erwartungen der Massen, zu denen er sprach. Daher war er es, nicht Friedrich Ebert, der zur Mittagszeit des 9. November 1918 von seiner Wassersuppe abließ, um vom Balkon des Reichstages, ohne Vorbereitung und Absprache mit seinen Parteigenossen, die Republik auszurufen,19 weshalb er von seinem Mitvorsitzenden in der Partei, eben Ebert, wütend abgekanzelt wurde.20 Doch noch mussten die beiden es miteinander aushalten. Eberts Ambition zielte auf das Reichspräsidialamt, dessen außerordentliche Machtbefugnisse Scheidemann Anfang 1919 komplett verkannte. Scheidemann erhielt die Ministerpräsidentenschaft, fungierte also als Chef des Kabinetts, den man nach seiner Abdankung mit dem Titel des Reichskanzlers bedachte. Lange währte die Amtszeit Scheidemanns nicht. Es waren unglückliche vier Monate, in denen er die politische Verantwortung trug. »Eine Revolution, aus dem Zusammenbruch erwachsen«, so schon Sigmund Neumann, »wird an dieser Geburtsstunde immer schwer zu tragen haben. Sie wird kaum kraftvoll, symboltragend, traditionsschöpfend werden können.«21 Der Krieg war für Deutschland verloren, die Soldaten mussten zurückgeholt und in das Alltagsleben reintegriert werden. Als besonders 18 Zit. bei Golo Mann, Philipp Scheidemann, o. S.
unerträglich empfand Scheidemann die Unordentlichkeiten der Revolution,
19 Nachzuhören unter http://www.youtube.com/ watch?v=0rRulypbmHo [eingesehen am 05. 08. 2014].
Mannes, richteten. Die täglichen Demonstrationen von links waren Schei-
die Wut, die nun ausgerechnet Arbeiter gegen ihn, den Cicero des kleinen
20 Vgl. Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 310–313. 21 Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart 1965, S. 31. 22 Hierzu die frischen Erinnerungen an jene Tage von Philipp Scheidemann, Der Zusammenbruch, Berlin 1921, S. 214–219, 230, 232 u. 236 ff.
demann ein Gräuel.22 Ständig knatterten Maschinengewehre, fortwährend hörte man den Donner von Explosionen. Und vor seinem Amtszimmer in der Wilhelmsstraße zogen regelmäßig Spartakisten vorbei, die ihn lauthals als »Arbeiterverräter«, »Lumpen« und »Büttel der Bourgeoisie« beschimpften. In den frühen Monaten des Jahres 1919 waren die »Krakeeler« von links, die dauerparlierenden Revolutionsräte das Hauptärgernis für Scheidemann. Nichts davon konnte er verstehen, erst recht nicht für irgendwie nützlich halten. Für ihn bestanden die protestierenden Gruppen allein aus arbeitsscheuem Gesindel, aufgewiegelt von üblen Demagogen, denen es mit ihren Räteeinrichtungen lediglich darum ging, sich materielle Vorteile zu verschaffen und das eigene Umfeld mit gut dotierten Posten auszustatten. Die Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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zielstrebigen Bürgerkriegsvorbereitungen von rechts nahm Scheidemann anfangs hingegen kaum wahr. Vor allem bedrückte ihn der Versailler Vertrag. Hier zeigte sich die zwiespältige Wirkung des rhetorischen Talents von Scheidemann. Mit dem Furor seiner rednerischen Leidenschaft kam er sich auf dem Feld der klugen machtpolitischen Schachzüge immer wieder selbst in die Quere. Als sich Mitte Mai 1919 der Reichstag zu einer Sondersitzung über den Vertrag von Versailles in der Aula der Berliner Universität versammelte, kündigte er mit dem ihm eigenen Pathos an, dass jede Hand verdorren müsse, die sich dem Diktat beugen würde, dass daher eine Unterzeichnung des Vertrages »unannehmbar« sei.23 Der Applaus, der daraufhin ertönte, war frenetisch. Zugleich war in diesem Moment seine große Karriere final zu Ende. Ebert und andere Sozialdemokraten in der politischen Führung, die sich nicht durch kategorisch zugespitzte Deklarationen fixieren und auf diese Weise ihren Spielraum verengen ließen, schickten sich bald hinreichend wendig in die außen- und militärpolitischen Zwänge, gaben mithin den Widerstand gegen die Vertragsratifizierung auf.24 Scheidemann hatte sich im Rausch der Rede und stürmischer Akklamationen diese Option selbst verbaut, trat am 20. Juni 1919 zurück, begab sich erschöpft und entnervt für Wochen zur Erholung in die Schweizer Berge, gefüllt mit tiefem Groll gegen Friedrich Ebert. In den verbleibenden Jahren der Republik hielt sich Scheidemann mit seiner Kritik an Ebert noch zurück, auch noch in seinen bereits 1928 erschienen Memoiren.25 In der Emigration aber legte er sich keine Zügel mehr an, als er mit seiner Partei und Ebert unerbittlich abrechnete. Ebert habe die Partei »in der stärksten Weise beeinflusst und terrorisiert«, ja letztlich »zugrunde gerichtet«.26 In seiner Zeit als Reichspräsident »wäre viel durchzusetzen gewesen, das später nicht mehr erreicht werden konnte. Die Republik hat unendlich viel versäumt und gerade in den kritischen Kinderjahren wurden Konzessionen bedenklichster Art gemacht.«27 Über die eigenen Anteile an den politischen Unterlassungen und Fehlern in jener Sattelzeit der Republik schwieg sich Scheidemann indes aus. Vermutlich ist dergleichen auch nicht von einem Zeitzeugen zu erwarten, der am Ende seines Lebens in der Fremde, einsam und isoliert, eine auch so schon schwer zu ertragende traurige Bilanz zu ziehen sich genötigt sah. UNGLÜCKLICHE EPISODE ALS OBERBÜRGERMEISTER IN KASSEL In der Weimarer Republik gab es Reichskanzler, die nach ihrer Demission später ein weiteres Mal an die Spitze des Kabinetts gelangten, so Hermann Müller und Wilhelm Marx. Andere, wie Gustav Bauer, Joseph Wirth und
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23 Online einsehbar unter http://novertis.com/wpress/ wp-content/uploads/2013/11/ Rede-von-Scheidemannzum-Versailler-Vertrag.pdf [eingesehen am 05. 08. 2014]. 24 Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Berlin 1984, S. 220. 25 Darin hatte er ihn als »gescheiten« und »energischen Politiker« bezeichnet. Siehe Scheidemann, Memoiren, Bd. 2, S. 358. 26 Philipp Scheidemann, Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil, Lüneburg 2002, S. 107 27 Ebd., S. 112.
Gustav Stresemann, übernahmen nach ihrer Kanzlerschaft die Führung von Ministerien. Bedarf an der weiteren Beschäftigung Scheidemann in der Reichsrepublik existierte demgegenüber augenscheinlich nicht. 1920 kehrte Scheidemann dorthin zurück, wo für ihn alles angefangen hatte, nach Kassel, wo er jetzt – eigentlich für zwölf Jahre – zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Doch auch diesmal schied Scheidemann frühzeitig aus dem Amt; auch in seiner Heimatstadt agierte er als Kommunalpolitiker ohne Fortune, mehr noch: ohne elementares Interesse und ausgewiesene Kompetenz.28 Die Verwaltungsarbeit lag ihm partout nicht. Er reiste einfach lieber, als sich im örtlichen Rathaus Akten abzuarbeiten und Routinevorgänge auszuhalten. Was in Kassel in diesen frühen 1920er Jahren vorankam, besorgten andere; seine Sache war es nicht, sich um Friedhöfe, Badeanstalten, Entbindungsheime intensiv zu kümmern. Das düpierte auch seine lokalen Parteifreunde, denen es schwerfiel, ihren Oberbürgermeister gegen die zunehmend aggressiven Angriffe zu verteidigen. Diese Attacken allerdings fielen maßlos aus; und sie hatten kaum etwas mit der kommunalpolitischen Laxheit Scheidemanns zu tun. Er zog stärker als jeder andere Sozialdemokrat, nicht zuletzt aufgrund seiner chronisch spöttischen Pointen in öffentlichen Reden, den schieren Hass auf sich. Der radikalen Linken war er der Konterrevolutionär und Noske-Freund. Und der bürgerlichen Rechten galt er als niederträchtiger »Novemberverbrecher«. Wieder und wieder schmähten sie ihn als »Hochverräter«, der im Grunde an die Wand gestellt und erschossen gehörte. Die unversöhnliche Gegnerschaft zu Scheidemann reichte weit zurück. Auf der konservativ-deutschnationalen Seite der Gesellschaft wurde ihm, wie sich nun zeigte, niemals verziehen, dass er in einer Reichstagsrede im Oktober 1908 die Parlamentarier von recht höhnisch belehrte, »nicht etwa von mir annehmen, ich setze ein besonderes Vertrauen in ein Königswort. Ich kenne die preußische Geschichte gut genug, um zu wissen, dass der Wortbruch sozusagen zu den erhabensten Traditionen des in Preußen regierenden Hauses gehörte.«29 Auch die vier Jahre des Weltkriegs, als Scheidemann zum sozialdemokratischen Kooperationspartner des monarchischen Deutschland schlechthin wurde, rehabilitierten 28 Hierzu und im folgenden Thomas Baum, Phillip Scheidemanns Wahl zum Oberbürgermeister von Kassel, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte, Bd. 105 (2000), S. 221–235. 29 Zit. in: Scheidemann, Memoiren, Bd. 1, S. 156.
ihn also nicht. Sein Haus in Kassel wurde mit Invektiven beschmiert, auf der Straße war zu jeder Zeit mit Beschimpfungen zu rechnen; Drohbriefe hätte er in Körben sammeln können. Pfingsten 1922 machten dann zwei Männer der extremen Rechten ernst. Sie lauerten ihn bei einem Waldspaziergang mit seiner Tochter auf, bespritzten ihn mit Blausäure. Scheidemann überlebte wohl nur, weil er die beiden Attentäter mit ungezielten Schüssen aus seiner Pistole, die er aus guten Gründen Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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immer bei sich führte, in Panik versetzte und in die Flucht jagte – was allerdings für die deutschnationale Presse im Nachgang willkommener Anlass war, eifrig seine Inhaftierung wegen versuchten Todschlags anzumahnen. Es war ein »Unglück« für Scheidemann, schrieb dessen Parteifreund, der spätere preußische Innenminister Albert Grzesinski, im Rückblick, »daß er Oberbürgermeister seiner Heimatstadt wurde.«30 Gewiss, der gelernte Buchdrucker verdiente gut – umgerechnet auf heutiges Niveau waren es einschließlich des Wohnungsgeldes gut 100.000 Euro – in diesen für viele Deutsche ökonomisch so schwierigen Jahren. Mit sechzig Jahren hatte er bereits Anrecht auf eine stattliche Pension. Doch das schürte den Zorn und Neid der Feinde der Sozialdemokratie noch mehr. Scheidemann nahmen sie als Beispiel dafür, dass es den Sozialdemokraten im demokratischen Staat lediglich zu den »Futterkrippen« üppiger Besoldung zog, wo sie als öffentlich alimentierte »Bonzen« ein behagliches Leben auf Kosten des darbenden deutschen Volkes zu führen pflegten. Nur gut fünf Jahren hielt Scheidemann die Kommunalpolitik in seiner nordhessischen Heimat aus. Dann siedelte er wieder nach Berlin, wo er auch während der Oberbürgermeisterschaft und bis 1933 als Reichstagsabgeordneter wirkte, wenngleich seit Mitte der 1920er Jahre ohne Bedeutung und Einfluss. Im Grunde war er fast schon vergessen, als die Nationalsozialisten am 30. Januar binnen weniger Woche die ganze Macht okkupierten. Nur: Die Nazis hatten ihn keineswegs aus ihrem Gedächtnis getilgt. Der Neue Vorwärts fand es noch 1939 verblüffend, fast unverständlich, mit welcher »tierischen Wut« die deutsche Rechte Scheidemann vor und nach 1933 verfolgte.31 Schon in der Nacht vom 1. auf den 2. März musste er Hals über Kopf aus Deutschland fliehen, wohnte kärglich erst in Prag, dann bis zu seinem Tod in Kopenhagen.32 Die Nazis bürgerten ihn aus, entzogen ihm, natürlich, die Pension.33 Sie nahmen seine Verwandten in Geiselhaft, quälten die älteste Tochter und seinen Schwiegersohn so lange, bis beide Anfang Mai den Suizid dem Nazi-Terror vorzogen. Philipp Scheidemann hatte in den letzten Jahren die »kummervolle Einsamkeit des Exils« (Golo Mann) zu ertragen, bis er am 29. November 1939 starb. Doch auch dann ging das Drama des Philipp Scheidemann und der (gespaltenen) Arbeiterbewegung in Deutschland weiter. Als seine Urne Anfang der 1950er Jahre nach Deutschland überführt werden konnte, ließ sich sein zu Lebzeiten erklärter Wunsch, neben seiner 1926 verstorbenen Ehefrau bestattet zu werden, nicht erfüllen. Denn das Grab seiner Frau befand sich auf dem Friedhof in Stahnsdorf bei Berlin, auf dem Terrain der DDR. Dort aber, im Herrschaftsbereich der SED, war nicht einmal die Asche des »rechten Sozialdemokraten« erwünscht.34
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30 Zit. bei Baum, S. 234 31 O.V., Das Gedächtnis Philipp Scheidemanns, in: Neuer Vorwärts, Ausgabe 338/1939, S. 3 32 Gellinek, Philipp Scheidemann, S. 69 ff. 33 W. Wilfried Schumacher, Ein deutscher Emigrant. Philipp Scheidemann (Kassel 1865–1939), in: Stadtarchiv Kassel, Signatur: S 1 Nr. 605/1. 34 Siehe Gellinek, Philipp Scheidemann, S. 73 f.
OTTO WELS – TAPFER ODER UNTERWÜRFIG? Otto Wels war gut sechs Wochen vor Scheidemann gestorben, auch er im Exil, allerdings in Frankreich. Groß war die Gruppe nicht, die ihm das letzte Geleit auf dem Pariser Vorortfriedhof gab. Wäre er 1932 gestorben, hätten zweifelsohne hundertausende von sozialdemokratischen Anhängern den Leichenzug begleitet und ihn öffentlich betrauert. Seit 1919 war Wels der sozialdemokratische Parteiführer. Zwar teilten in jenen Jahren noch zwei oder gar drei Sozialdemokraten den Parteivorsitz, aber niemand stellte zwischen 1919 und 1933 den Vorrang von Wels je in Frage. Keiner traute sich, dem kräftigen und für seine cholerischen Ausbrüche berüchtigten Mann, der jeden Widerspruch niederschrie, ernsthaft in die Parade zu fahren. Seine »unverhohlene Schroffheit« und »Barschheit, ja Grobheit war gefürchtet«35, erinnerte sich der damalige Organisator der Propaganda-Abteilung beim SPD-Parteivorstand, Fritz Heine. Wels war, wie später Herbert Wehner, laut, brüllend, autoritär, dabei gerissen, voller Misstrauen, gleichwohl gegenüber alten, ihm treu ergebenen Freunden loyal, in seiner Anhänglichkeit zuweilen gar sentimental.36 Und auch das hatten Wels wie Wehner gemein: Sie konnten sich auf eine schlagkräftige Gruppe von erfahrenen Bezirkssekretären verlassen, die mit harter Disziplin und rüden Methoden umsetzten, was ihre Chefs erwarteten. Der Unterschied zwischen beiden: Wehner hatte einen ausgeprägten Sinn für die politische Macht; er drängte mit aller Energie in das Zentrum der Entscheidungen, unbeirrbar im Ziel, beweglich, elastisch, ja: prinzipienlos, was die Alltagstaktik anging. Er konnte Freunden und Gegnern schmeicheln; er konnte sie aber ebenso gut – dies war allein eine Frage von Situation und Opportunität – brutal demütigen, kalt fertigmachen, geradezu vernichten. Wels war, wie die übrigen Sozialdemokraten seiner Generation, von einer solchen finsteren machtpolitischen Entschlossenheit weit entfernt. Dennoch zirkulierte während der 1920er und 1930er Jahre in SPD-Kreisen, gleichviel welchen Parteiflügels, allenthalben die Sentenz von der »Diktatur Wels«. Natürlich war das übertrieben. Sicher konnte auch Wels seine Partei nicht einfach nach Belieben von oben dirigieren und kujonieren. Aber als sonderlich diskursiv darf man sich den Führungsstil des SPD-Chefs gewiss 35 Fritz Heine, Otto Wels zum Gedächtnis, in: SPD-Pressedienst, 12. 09. 1963, S. 6. 36 Hierzu und insgesamt zu Wels vgl. Hans J.L. Adolph, Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894–1939, S. 4 ff.
ebenfalls nicht vorstellen. Nach 1945 fiel die Erinnerung der Sozialdemokraten an Otto Wels meist recht freundlich aus. Mit jedem Jahrzehnt, das verstrich, wusste man zwar weniger über seine Biographie und politische Rolle. Aber prägend war und blieb bis heute seine – wie es in fast allen Abhandlungen zum Tag der Abstimmung über das Hitlersche »Ermächtigungsgesetz« hieß und heißt – »mutige Rede« am 23. März in der Kroll-Oper, in der sich die noch nicht inhaftierten Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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oder emigrierten Abgeordneten des nationalen Parlaments versammelten, da das Reichstagsgebäude nach dem Brand im Februar für Verhandlungen im Plenum nicht mehr zur Verfügung stand. Natürlich gehörte erhebliche Courage dazu, um an diesem Tag inmitten der enthemmten und brutalisierten Nazi-Horden überhaupt aufzutreten, zumal Otto Wels, der sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik in einem aufreibenden, meist unglücklich verlaufenden Dauerwahlkampf befand, gesundheitlich schwer angeschlagen war. Zwei Monate hatte er wegen heftiger Herz-Kreislauf-Attacken im Krankenhaus verbracht.37 Die Machtübernahme der Braunen am 30. Januar erlebte er im schweizerischen Ascona, bei einem Kuraufenthalt. Er kehrte, keineswegs vollständig genesen, nach Deutschland zurück, mied aber bereits seit dem 20. Februar 1933 sein Wohnhaus, aus Furcht, von SA oder Gestapo in Gefängniskeller oder Konzentrationslager verschleppt zu werden. Einige jüngere Reichstagsabgeordnete boten ihm an, am Tag der Abstimmung über das »Ermächtigungsgesetz«, an seiner statt die ablehnende Haltung der Sozialdemokraten zu begründen. Aber das ließ Wels nicht zu. Schließlich trug er die Verantwortung für die Partei. Allein der Zugang zur Kroll-Oper glich einem bedrückenden Spießrutenlauf, da man sich durch das Spalier grölender SA-Männer den Weg zur Reichstagssitzung bahnen musste.38 Im Plenarsaal tummelten sich ebenfalls etliche höhnisch feixende Uniformierte mit Nazi-Emblemen.39 Wels war kreidebleich, als er um 18.16 Uhr ans Rednerpult trat und im Laufe seines Vortrags die in bundesdeutschen Zeiten in der SPD von Schumacher bis Gabriel unzähligemal repetierten Sätze sprach: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. […] Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich
37 Helga Gottschlich, Otto Wels. Politischer Selbstmord, in: Helmut Bock (Hg.), Sturz ins Dritte Reich. Historische Miniaturen und Porträts 1933/35, Leipzig u. a. 1985, S. 165–171. 38 Roland Hiemann, »Auf jede Gefahr hin werde ich es tun!« – Otto Wels’ KrolloperRede am 23. März 1933, in: Felix Butzlaff u. Franz Walter (Hg.), Mythen, Ikonen, Märtyrer, Berlin 2013, S. 59–67, hier: S 64.
zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.«40 Indes, die Rede bestand nicht nur aus diesen unmissverständlichen Bekenntnissen. Auffällig war, wie vorsichtig, defensiv, mitunter gar um Einvernehmlichkeit bemüht sie an anderen Stellen ausfiel. Über die konfiszierten Mandate der Kommunisten verlor Wels kein Wort. Stattdessen ging er eingangs seiner Rede nahezu beflissen auf Übereinstimmungen zwischen Sozialdemokraten und dem »Herrn Reichskanzler« in der Frage der Außenpolitik ein, äußerte Verständnis dafür, dass die neue Reichsregierung Adolf Hitlers sich »gegen rohe Ausschreitungen der Polemik schützen« möge. In der sozialdemokratischen Emigration sollte sich bezeichnenderweise in den folgenden Jahren gerade an diesen Passagen heftige Kritik entzünden.41 Der bei der Reichstagssitzung anwesende britische Botschafter, Sir Horace Rumbold, äußerte sich verblüfft über den »unterwürfigen Ton«, den ihm Wels
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39 Heinrich-August Winkler, Die Ehre der deutschen Republik. Zum 8. Jahrestag der Rede von Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz, Bonn 2013, S. 22 f. 40 Online einsehbar unter http://www.spd.de/linkableblob/5698/data/geschichte_rede_ otto_wels.pdf; nachzuhören unter http://www.fes.de/archiv/ adsd_neu/inhalt/downloads/img/ weimar/ton/wels333.wav [beides eingesehen am 05. 08. 2014]. 41 Siehe etwa Christian Hanke, Selbstverwaltung und Sozialismus. Carl Herz, ein Sozialdemokrat, Hamburg 2006, S. 315.
anzuschlagen schien.42 Jüngst bezeichnete auch der Politologe Siegfried Heimann, Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD, die Ausführungen von Wels als »ein Zeugnis der Hilflosigkeit«.43 Zeitgenössisch kommentierte die Frankfurter Zeitung in einem in Bezug auf Wels durchaus empathisch gehaltenden Kommentar: »Man findet den ganzen Jammer heraus, der heute diese wohlmeinende, aber nicht vom Glück verfolgte Partei befallen hat.«44 PARTEI DER ANSTÄNDIGEN UND GLÜCKLOSEN Diese Beobachtung traf es. Im 23. März bündelten sich Stolz und Ohnmacht der Partei, Tapferkeit und Furcht, Größe und Untergang. Die Sozialdemokraten der »Generation Wels« waren weit entfernt von der Amoralität, der entfesselten Niedertracht, der bestialischen Brutalität der Nazis und großer Teile der politischen Rechten in Deutschland – aber sie hatten ihr auch nichts entgegenzusetzen außer das Pathos der Rede und die Treue ihrer Mitglieder. In den historischen Momenten, als Strukturen brachen, Emotionen wirbelten, als Macht und Gewalt sich eng und explosiv miteinander verknüpften, reichte die sozialdemokratische Gutwilligkeit nicht aus. Am 23. März 1933 zeigte sich die SPD im Ganzen noch einmal als anständige politische Kraft. Gerade deshalb bereitete es den Nationalsozialisten keine Mühe, sie hinwegzufegen, ihre Existenz zu zerstören, ihre Funktionäre zu verfolgen, einzuschüchtern, zu foltern, viele zu töten. Als die Sozialdemokratie sich in den 1860er Jahren konstituiert und bald ausgebreitet hatte, zog sie etliche fleißige, am gesellschaftlichen Fortkommen interessierte Arbeiter an. Anfangs blitzten in der neuen Arbeiterbewegung auch Charakteristika der Bohème auf, der intellektuellen Zirkel, der radikalen Agitationsrhetorik. Das war die Zeit von Marx, Lassalle, Engels, Liebknecht, 42 Siehe Iring Fetscher, Zivilcourage eines aufrechten Demokratie, in: Otto Wels/ders., Rede zur Begründung der Ablehnung des »Ermächtigungsgesetzes« durch die Sozialdemokratische Fraktion in der Reichstagssitzung vom 23. März 1933 in der Berliner Krolloper, Hamburg 1993, S. 35. 43 Siegfried Heimann, »… die Ehre nicht«, in: Berliner Stimme, 15. 03. 2008, S. 11.
auch noch von Bebel. Dann aber folgte die Ära der Organisatoren, nun kam die Zeit der Administratoren, der Eberts und Wels, tüchtige Handwerker – Wels hatte den Beruf des Tapezierers erlernt – die vor der Parteikarriere meist eine gewerkschaftliche Funktion in ihrem Berufsverband übernahmen. Denn sie hatten sich mit zäher Beharrlichkeit Kenntnisse zur sozialen Gesetzgebung angeeignet, zogen Abend für Abend referierend und beratend durch Arbeiterkneipen und sozialistische Zusammenkünfte, gewannen so das Vertrauen ihrer Kollegen. Zunächst hielten sie sich für gute Marxisten, neigten eher dem linken oder orthodoxen Flügel zu als der Gruppe der Revisionisten, die ihnen einfach zu individualistisch, zu unberechenbar, eben
44 Hierzu Franz Walter, Die SPD. Biographie einer Partei, Reinbek 2009, S. 91.
organisationswidrig schienen. Am Parteimarxismus, wie sie ihn sich autodidaktisch über einfach verfasste Bildungsbroschüren angeeignet hatten, gefiel Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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ihnen der Wissenschaftsanspruch, die Lehre vom historischen Fortschritt und des naturnotwendigen Erfolgs des Sozialismus und der sozialistischen Produktionsweise. Die reklamierten Gesetzmäßigkeiten entbanden sie von den Grübeleien über präzise Pläne und Techniken für die Zukunftsgesellschaft. Hierüber wurde in der Sozialdemokratie des Kaiserreichs nie nachgedacht. Die Generation Scheidemann/Ebert/Wels war politisch erwachsen geworden, als die Wirtschaft boomte, Monarchie und Kaiserthron schwer fortzudenken waren, die Sozialdemokraten zugleich ebenso wuchsen und gediehen. An Kriegen musste niemand von ihnen als Soldat teilnehmen. In den 44 Jahren Friedenszeit zwischen 1870 und 1914 betrieben sie mit stetem Erfolg ihre kontinuierliche Organisationspraxis. Gewiss, die Gegenwart war verbesserungswürdig, das war schließlich Ausgangslage und Humus ihres sozialpolitischen Engagements. Aber die Gegenwart war nicht so unerträglich wie noch in den Zeiten des Frühkapitalismus. Der Klassenkonflikt drängte jetzt nicht (mehr) zur revolutionären Aktion, zu militanten Angriffen auf die Zitadellen von Kapital und Staat. Ein hauptamtlicher Posten bei den Ortskrankenkassen markierte Terrain und Ziel dieser Generation, nicht die Barrikade oder der subversive Untergrund. Sozialdemokraten organisierten und hielten Ansprachen, bereiteten sich akribisch auf Reichstagswahlen vor und stellten im Laufe der Jahre eine wachsende Zahl von Parlamentariern. Das alles perfektionierten sie mit der Zeit. Aber der Macht blieben sie weit entrückt, ohne dass sie darunter qualvoll litten. Es trieb Scheidemann und Wels nicht ins Zentrum politischer Entscheidungen. Sie hatten auch so viel erreicht, gerade weil man in Opposition stand, das Frondieren jedoch auch nicht übertrieb, keine Risiken wie etwa die von der Parteilinken postulierten Massenstreiks einging. Sollte der politische Kampf um die Macht das Erreichte gefährden können, dann hatte man sich besser nicht auf solche unkalkulierbaren Abenteuer einzulassen. Als dann während des Ersten Weltkriegs Ebert und Scheidemann konsultativ in alle wichtigen Gremien der Kriegsführung einbezogen wurden, schien sich der sozialdemokratische Kurs für sie vollauf bestätigt zu haben. Die Herrschenden brauchten die Sozialdemokraten, nahmen die Repräsentanten der Partei in ihre Abstimmungsrunden auf. Wels war nicht dabei. Doch nutzte er nun den Raum in der Partei, den Scheidemann und Ebert, die offiziellen Parteivorsitzenden, während der Kriegsjahre aufgrund ihrer zeitaufwändigen fraktionell-semigouvernementalen Aktivitäten freigaben. Schon im Weltkrieg zog Otto Wels die Parteiadministration zunehmend an sich, bis er 1919 – neben dem späteren Reichskanzler Hermann Müller, der nicht selten als Adressat seiner Brülltiraden herhalten musste – auch offiziell zum Vorsitzenden der Partei aufstieg.
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AMTS- UND MACHTSCHEUE GENOSSEN Und Otto Wels blieb Zeit seines Lebens der Mann der Partei.45 Selbst wenn Sozialdemokraten nun, nach Konstituierung der Republik, an der Reichsregierung beteiligt waren, gar den Kanzler stellten, ließ er keinen Zweifel aufkommen, dass der Primat bei der Parteiorganisation lag, nicht bei einem sozialdemokratisch geführten Kabinett. Über Wels verlängerte sich die binnenzentrierte Oppositionsmentalität der Kaiserreichsozialdemokraten hinein in die Weimarer SPD, hinterließ beträchtliche Spuren bekanntlich noch in der bundesdeutschen Partei nach 1945. Erst kam die Lindenstraße, der Sitz des Parteivorstandes, dann die Wilhelmstraße, das Regierungszentrum; die Priorität lag bei Otto Wels, dann erst folgten Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller. So lautete das sozialdemokratische Ranking der Weimarer Jahre. Otto Wels hatte in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal ein öffentliches Amt übernommen, für gerade sechs Wochen im November/ Dezember 1918.46 Wie Scheidemann so bewies auch er dabei keine glückliche Hand. Als Stadtkommandant von Berlin geriet Wels in eine Auseinandersetzung mit Matrosen von der Volksmarinedivision, die eigentlich zum Schutz der neuen Regierung nach Berlin beordert worden war. Wels, wahrlich kein geschickter Mediator, bekam den bald blutig verlaufenden Konflikt nicht in den Griff, wurde von Ebert infolgedessen kühl fallengelassen und trat nach Weihnachten 1918 zurück. Die von ihm mitverursachten »Weihnachtskämpfe« um Schloss und Marstall verschärften den Riss in der Arbeiterbewegung, trugen auch zur Restabilisierung der alten militärischen Mächte bei. Als im März 1920 der hochumstrittene sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske zur Demission gedrängt wurde, forderte die Reichstagsfraktion der MSPD Otto Wels einstimmig dazu auf, dessen Nachfolge anzutreten. Wels weigerte sich, wie stets seit 1919, strikt, dieses oder ein anderes staatliches Amt auszufüllen. Die SPD verzichtete – als auch Otto Braun abwinkte – daraufhin, noch Personalansprüche auf das Reichswehrministerium, eine zentrale Bastion der Macht im Staat, anzumelden. So war die WelsSPD. Sie konzentrierte sich ganz und gar auf sich selbst. Die Organisation 45 Werner Blumenberg, Kämpfer für die Freiheit, Berlin 1977, S. 134 ff. 46 Susanne Miller, Primat der Partei, in: Die Zeit, 02. 07. 1971. 47 Friedrich Stampfer, Die Vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik, Hamburg 1947, S. 176.
war wohl straff, das Parteileben gewiss diszipliniert geordnet, Kundgebungen und Aufmärsche zeigten sich mustergültig formiert. Aber das berührte die Außenwelt wenig. Das Sozialdemokratische genügte sich, strahlte nicht aus, verschob keine Konstellationen und Kräfteverhältnisse. Die Kontaktarmut war typisch für die Wels-SPD. Denn ihr Vorsitzender, so der damalige Chefredakteur des Parteiorgans Vorwärts, Friedrich Stampfer, in seinen Erinnerungen, »fühlte sich nur stark, wo er sich zu Hause fühlte, in der Partei, im Kreise der Arbeiter, von denen er einer war«47. Je härter die Schläge Franz Walter — Tod im Herbst 1939
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zum Ende der Weimarer Republik auf die Sozialdemokratie niederprasselten, desto verunsicherter und trotziger verharrten die Sozialdemokraten der Generation Wels in den Routinen einer für sie erfolgreicheren Zeit, sperrten sich geradezu misstrauisch gegen neue, unorthodoxe Vorschläge zur Taktik und Strategie, blieben allein auf den Zusammenhalt des eigenen Kosmos fixiert. Dazu wurde die reale Ohnmacht kompensiert durch radikale Rhetorik, auch dies also das bereits im 19. Jahrhundert erlernte Muster. Auf dem Magdeburger Parteitag 1929 schmetterte Wels die Parole, dass die Sozialdemokratie bei ernsthaften Gefahren für den Bestand der Demokratie, durch die Feinde von rechts und links, bereit sei, die »Diktatur zu handhaben«48. Bis zum Ende der Republik labten sich die Sozialdemokraten in der Fläche des Reichs an dieser Kraftmeierei, die Mitglieder und Funktionäre zur Formel verdichteten: »Wenn Diktatur, dann wir!«. Als sich dann doch die Feinde von weit rechts an die Installation der Diktatur machten, waren Sozialdemokraten zu ihrer »guten« Diktatur als Antwort auf den nationalsozialistischen Schlag natürlich nicht in der Lage. Joachim Fest hatte vor Jahren aufgeschrieben, was ihm Sebastian Haffner einmal dazu sagte: »Die Linke habe vier Generationen lang ein wildes Kampfgeschrei angestimmt. ›Als Hitler auftrat, war es plötzlich aus damit.‹ Der Führer der NSDAP hat aller Welt offenbar gemacht, daß die Rhetorik von den ›Völkersignalen‹ und dem ›Letzten Gefecht‹, das Europa bis dahin in Angst und Schrecken versetzt hatte, nur ein ›Maulheldentum‹ war, das ›schon von Marx herkam‹. Für Hitler sei die ganze Weltrevolution nicht mehr als ein ›mittleres Polizeiproblem‹ gewesen. ›Ein bißchen kläglich für die Revolutionäre, denken sie nicht?‹, schloß er.«49 Otto Wels und Philipp Scheidemann starben, als Nazi-Deutschland 1939 seinen barbarischen Krieg entfesselte.
Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.
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48 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Magdeburg, 29.-31. März, Berlin 1929, S. 14. Carl von Ossietzky machten den Delegierten danach den Vorwurf: »Keiner entlarvte das als die großmäulige Phrase eines wattierten Jahrmarktsathleten.«, in: Carl von Ossietzky: … als Gast Herr Dr. Paul Levi, in: Die Weltbühne, H. 23/1929, S. 844. 49 Joachim Fest, Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde, Reinbek 2004, S. 34.
ANALYSE
CARL SCHMITT UND DIE GEMÜTLICHKEIT DES JUSTE MILIEU EIN ASYMMETRISCHER SINN-KRIEG1 ΞΞ Wilfried von Bredow
Wer heute juste milieu sagt, meint die falsche Mitte. Jene, aus seiner Sicht, fettträge herrschende Meinung und machtgesicherte Erkenntnisfaulheit, die nur dann hellwach blitzschnell reagiert, wenn es darum geht, Außenseiter abzuwehren und die Zugänge zu öffentlichem Wirken und Resonanz vor ihnen dicht zu machen. Es verteidigt seine Deutungs-Vormachtstellung mit allen Tricks der Machterhaltung. Wer heute juste milieu sagt, ist draußen, nicht drinnen. Deshalb der in der Regel deutlich erkennbare emotionale Überschuss an Groll, Verachtung und Hass. Denn dieses politische und deutungs-soziologische Etikett bezeichnet nicht nur etwas Mächtiges und Falsches. Wer es verwendet, erhebt zugleich auch seinerseits den Anspruch auf die richtige Mitte, auf ein juste juste milieu sozusagen. Diese Drehung gibt dem Begriff eine schillernde Aura und macht ihn, wenn man behutsam vorgeht, zum Beispiel interessant für Untersuchungen von ideenpolitischen Auseinandersetzungen über den »vornehmste[n] Imperativ des Intellektuellen … Erkenne die Lage!«2. Beginnen wir mit einem kleinen begriffsanalytischen Rückblick: Der Terminus juste milieu ist, mit positiver Bedeutung, in einer bestimmten historischen Konstellation entstanden, nämlich in Frankreich unter dem 1 Der Text geht auf einen Vortrag vor dem »Portal Ideengeschichte« an der PhilippsUniversität Marburg zurück. 2 Günter Maschke, Der Tod des Carl Schmitt, Wien 2012, S. 9.
»Bürgerkönig« Louis Philippe. Die Julirevolution 1830 hatte wieder einmal einen revolutionären Aufschwung samt anschließender Enttäuschung gebracht. Jetzt sollte Ruhe herrschen. Die »richtige Mitte« setzte sich nun gleichermaßen von aufmüpfigen Linken und nostalgischen Konservativen ab. Juste milieu als Netzwerk institutionell-politischer Macht.
INDES, 2014–3, S. 125–135, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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Selbstverständlich hatte der Begriff des juste milieu von Anfang an nicht nur programmatischen, sondern vor allem auch propagandistischen Charakter. Und während die Freunde und Apologeten des juste milieu noch damit beschäftigt waren, für ihren Mittelweg Reklame zu machen, schäumten schon die Wellen der Kritik von links und rechts hoch auf und machten dabei aus der positiv gemeinten Selbstbeschreibung des gewinnerpichten französischen Bürgertums ein Schmähwort nach dem Motto: In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.3 Nimmt man juste milieu als analytisches Konzept, darf man sich nicht einbilden, es sei einfach zu handhaben. Es hat sich längst aus der historischen Konstellation des frühen 19. Jahrhunderts befreit und bezieht sich nicht nur wie damals auf politische Institutionen, sondern auch auf Perzeptionen und Sinn-Herrschaft im intellektuellen Diskurs. Im Grunde kann man mindestens vier verschiedene Versionen dieses Konzepts unterscheiden: • den apologetischen und optimistischen Propagandabegriff à la Louis Philippe; • die Kritik an derlei Optimismus und Selbststilisierung, was dazu führt, dass juste milieu mit negativer Bedeutung aufgeladen wird; • die Übertragung dieser Kritik einer »falschen« und nur als richtig posierenden politischen Mitte auf ganz unterschiedliche soziale Konstellationen und Lebensbereiche, nicht zuletzt in das Feld der intellektuellen Auseinandersetzungen und Sinndeutungen: Die okkupierte Mitte ist bodenlos, morsch und nicht nur selbst unkreativ, sondern auch allem Kreativen gegenüber feindlich eingestellt; • das uneingestandene Selbstbild der Kritiker an der »falschen Mitte« – sie selbst, die sich als underdogs verstehen, gehören eigentlich dahin, und würde ihnen das gelingen, dann gäbe es endlich eine »richtige« Mitte (die man aber um Himmels willen nicht so nennen würde). Diese sehr knapp gehaltenen Vorbemerkungen zum Terminus juste milieu müssen noch ergänzt werden durch komplementäre Überlegungen zur Rolle des stigmatisierten Außenseiters in intellektuellen Auseinandersetzungen um die Deutung der allgemeinen Lage. Auch diese Rolle ist doppelbödig. Der Kritiker, der doch seinem Selbstverständnis nach über die richtigen Einsichten verfügt und in die richtige Mitte gehört, fühlt sich gerade deswegen vom juste milieu als Außenseiter stigmatisiert und ausgegrenzt. Wie reagiert man darauf? Wenn man kämpferischer Natur ist und den Anspruch aufs Rechthaben nicht aufgeben will, dann bietet es sich an, zunächst einmal und in aller Stille die eigene Rolle als Außenseiter zu glorifizieren.4
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3 Diesen Sinnspruch von Friedrich von Logau (1604–1655) hat Alexander Kluge 1974 leicht verändert als Titel eines Films verwendet. 4 Kritik am juste milieu und Glorifizierung der eigenen Rolle als Außenseiter ergänzen sich optimal. Denn der Außenseiter behält demonstrativ seine intellektuelle und moralische Distanz zum Gegenstand der Kritik.
Wilfried von Bredow — Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu
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Das hilft auch, um intellektuell zu überwintern. Diesem ersten Schritt folgt, wenn die Zeit dafür gekommen scheint, ein zweiter: Das Außenseitertum organisiert sich in kleineren, dann größeren Gruppen, bildet ein eigenes mediales Netzwerk, eine Gegenöffentlichkeit, ein eigenes Milieu. Je effektiver das gelingt, desto gründlicher kann auf die herrschende Meinung eingewirkt werden. Etwa indem ihre Vertreter zu gereizten Reaktionen provoziert werden, ihre Ausgrenzungsmacht offenkundiger und damit mit sich abnutzender Legitimation einsetzen und die Außenseiter mit mehr oder weniger öffentlich wahrnehmbarem Aufwand in die Schranken weisen. Im Erfolgsfall wird die Kritik in der Tat dadurch eingeschüchtert und vielleicht gar zum Verstummen gebracht. Anderenfalls gibt es eine weitere Drehung dieses Prozesses, in dessen Verlauf sich die Gegensätzlichkeiten zwischen der herrschenden Meinung und den Außenseiter-Kritikern verschärfen, aber auch abschleifen können. Dann werden die Außenseiter durch die Attacken auf sie sichtbarer. Ihre Argumente erwecken wachsende Neugier. Das soll an dieser Stelle genügen, um den Ausgangspunkt für die folgenden Reflexionen zu verdeutlichen. Es geht um den Ideenkampf zwischen einer von ihren Gegnern als juste milieu wahrgenommenen herrschenden Ideenkoalition und einer (sit venia verbio!) Außenseitertruppe, die im Laufe der Auseinandersetzungen selbst Züge eines juste milieu ausbildet, das nicht nur bestimmte Ideen, Normen und Werte teilt, sondern darüber hinaus durch einen bestimmten intellektuellen Habitus geprägt wird. Konkreter: Ich möchte anhand einiger Sonderlichkeiten der schiefen Präsenz Carl Schmitts im intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland zeigen, wie eine nach 1945 zunächst weitgehend verbannte und als intellektuell verdorben charakterisierte »Deutung der Lage« über die (1) Selbststilisierung ihres zentralen Protagonisten als (ungerecht) unterdrückt, (2) die Organisation einer kleinen, indes wachsenden Gegenöffentlichkeit mit heftigen Attacken auf das Geflecht der herrschenden Meinungen und (3) ein im Selbstverständnis der Beteiligten breiter werdendes eigenes juste juste milieu schrittweise sogar eine Art asymmetrisches ideenpolitisches Patt erreicht. Der intellektuelle Krieg geht zwar weiter. Nur ist er sozusagen Routine geworden. DIE EIGENE FRAGWÜRDIGKEIT ALS GESTALT Über der Biografie von Carl Schmitt liegt seit 1933 ein tiefer Schatten. Schmitts Kritik an der Weimarer Republik wurde seinerzeit nur als besonders scharf und besonders scharfsinnig wahrgenommen. Seit der Auflösung der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Machtergreifung5 gilt Schmitt als »Kronjurist« des polykratisch-totalitären Regimes, von welchem
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5 Hier klingen die Titel der beiden wichtigen Studien von Karl Dietrich Bracher von 1955 und 1960 an.
Makel ihn auch sein »Sturz in der Ämterhierarchie« infolge der Angriffe des Schwarzen Korps (Organ der SS) Ende 1936 nicht befreien kann. Dieser Sturz wird zum Kernereignis für die öffentlich gemachte (und vielleicht auch vor sich selbst unverblümte) Selbstwahrnehmung Schmitts nach 1945. Wie eine Reihe anderer prominenter Intellektueller6 – gar nicht so viele, wenn man darüber nachdenkt – wurde Schmitt in der Vorgeschichte und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erst einmal ausgegrenzt und fungierte als negativer Bezugspunkt für die Aufarbeitung der Vergangenheit.7 Dabei ging es gar nicht einmal hauptsächlich um die Person, vielmehr um seine Demokratie- und Liberalismus-Kritik sowie um seine auf Machiavelli (den er nicht mochte) und Hobbes zurückgehenden Überlegungen zur Theorie der Politik. All dem sollte der Zugang in den intellektuellen Aufbau-Diskurs der Bundesrepublik verwehrt bleiben. Schmitt fand sich damit überhaupt nicht ab und begann schon 1945 damit, das neue, amerikageprägte 6 Immer wieder, mit mal auf-, mal abschwellender Intensität und, übers Ganze gesehen, nicht gerade Resonanz-einschränkender Wirkung für die Betroffenen, stößt man auch auf die Namen Ernst Jünger, Martin Heidegger, Arnold Gehlen und Gottfried Benn. Dieses heterogene Fünfergespann stellte die schwarzen Leuchttürme dar für die Nachkriegs-Auseinandersetzung mit dem ja sehr viel breiteren und nicht nur auf eine einzige Erklärung zurückzuführenden (und nicht nur in Deutschland zu beobachtenden) Phänomen der Attraktivität von Faschismus und Nationalsozialismus für Intellektuelle. Vgl. die kluge Bemerkung von Henning Ritter, Notizhefte, Berlin 2011, S. 410 f.
juste milieu zu bekämpfen. Als wichtigste veröffentlichte Quelle zur Dokumentation dieses Kampfes kann neben der schon 1950 veröffentlichten kleinen (in Teilen sehr anrührenden) Schrift »Ex captivitate salus« und neben den Briefen vor allem auch das »Glossarium« gelten – tagebuchartige Aufzeichnungen, von denen die ersten drei Bände (aus den Jahren 1947 bis 1951) 1991 publiziert und vom Herausgeber Eberhard Frhr. von Medem kundig und sympathetisch kommentiert wurden. Die öffentliche Aufnahme dieser Publikation war, gelinde gesagt, eisig. Dies sei kein Buch der Wahrheitssuche im Geiste milder Humanität und Weltzugewandtheit, sondern ein Buch des Menschenhasses und des Zorns, hat Nicolaus Sombart seinerzeit in der Zeit geschrieben (17. 01. 1992), und weiter »… ein Protokoll der Täuschung und der Selbsttäuschung: das Plädoyer eines Besiegten, der seine Niederlage nicht anerkennt«. Das trifft haargenau und zielt dennoch daneben. Richtig aber ist auf jeden Fall, dass Schmitt seine »Niederlage« nicht anerkannte, sie auch
7 Nähere Einzelheiten zum »Aufstieg und Fall« Schmitts kann man der sehr instruktiven Studie von Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, entnehmen. 8 Eine Kostprobe: »So viele Dummköpfe ich kennengelernt habe, in Deutschland wenigstens war keiner unter ihnen, der nicht den Wunsch und den Ehrgeiz gehabt hätte, Professor zu werden« (14. 07. 1948).
nicht anerkennen wollte. Sie bestand für ihn in seiner Ausschaltung aus dem akademischen Leben und der Diskriminierung seiner Gedanken und Theorien durch die »Kriegsgewinnler«, von denen nicht wenige ja auch jede Menge Dreck am Stecken hatten. »Von der Schuld des anderen leben ist die niedrigste Art, auf Kosten des anderen zu leben«, so werden seine Feinde geschmäht (16. 11. 1947). Das »Glossarium« enthält sehr unterschiedliche Passagen, unter anderem enorm viel alt-europäische Gelehrsamkeit, ein paar vergnügliche Sottisen,8 mehr oder weniger geglückte Anmerkungen zum Zeitgeschehen, peinlich zu lesende antisemitische und emigranten-feindliche Ausfälle, aber vor allem Wilfried von Bredow — Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu
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jene von Sombart ahnungsvoll, aber dann doch etwas zu platt als »Täuschung und Selbsttäuschung« bezeichnete Anstrengung der Selbststilisierung als Außenseiter, der »seit 1936 Schweres erlebt« hat und »mehrmals von dem Leviathan verschlungen« wurde. Eine längere Passage vom 1. Juli 1948 kann illustrieren, wie Schmitts Selbststilisierungs-Tentakel arbeiten: »Die Jagd, deren Wild ich seit Jahren bin, hat mich etwas ermüdet. Doch bin ich noch im Stande, Recht und Unrecht zu unterscheiden, noch im Stande, meine Jäger begrifflich zu klassifizieren. Der arge Betrug des ersten Eheversuchs;9 hat er eine Parallele mit der Selbsttäuschung, die in der Zusammenarbeit mit Frank10 enthalten war? Oder war der Betrug nur eine Begleiterscheinung eines geheimen Willens zur Selbsttäuschung? Zum Billigspielen? Zur Unfähigkeit, andere zu täuschen und zu enttäuschen? Zur Wehrlosigkeit gegen die Überrollung durch dreiste Inanspruchnahme? War ich zu schwach, um den Mut zu haben, andere zu enttäuschen? Das falsche Mitleid mit dem durchschauten Betrüger? Das entsetzliche Mitleid mit dem erfolglosen Angebot?« So viel fragendes Eindringen in die eigene Charakterlandschaft ist selten bei Carl Schmitt. Immerhin findet sich im »Glossarium« unter dem Datum des 16. April 1949 auch noch die Selbstmahnung: »Hüte Dich vor dem bitteren Trank der Genugtuung über ungerechte Verfolgung.« Ja, soll man wohl, zumal wenn man als Wild für seine Jäger noch ein paar Haken zu schlagen in der Hinterhand hat. Sehr wirksam geworden ist in der Nachkriegszeit auch die schon in den Kriegsjahren eingeübte Parallelisierung des eigenen Lebens im NS-Regime mit einer Gestalt aus einer Geschichte Herman Melvilles, nämlich dem Kapitän Benito Cereno, der von meuternden Sklaven als Geisel genommen und gezwungen wird, weiterhin für das Schiff Verantwortung zu tragen und es zu einem ihm von den Meuternden vorgegebenen Ziel zu führen. Das ist freilich alles Humbug und nicht sehr überzeugendes Maskenspiel. Auch Selbstmitleid ist im Spiel, bekanntlich ein effizientes Gleitmittel für jede Art von Verdrängung.11 So also sieht sich Carl Schmitt nach dem Untergang des Dritten Reiches: »Diffamiert, diskriminiert, demontiert, contaminiert, unterprivilegiert nach allen Seiten« (06. 04. 1948). Wie kann man unter diesen Bedingungen weiterleben? Im »Gesang des 60-jährigen« vom 8. Juli 1948 fragt sich Schmitt: »Soll ich problemlos werden und Pflanzen und Tiere beneiden … Im Glück der Mücke, die nach innen hüpft?« Das nun ist sowas von einer rhetorischen Frage!
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9 Was es damit auf sich hat – siehe Mehring, S. 58 ff. 10 Zur Erinnerung: Hans Frank (1900–1946) war der Organisator der Gleichschaltung der Justiz in Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. 11 Vgl. auch Christian Linder, Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land, Berlin 2008, S. 371.
AUS DER SICHERHEIT DES SCHWEIGENMÜSSENS »Gespräche in der Sicherheit des Schweigens« hat Dirk van Laak seine hervorragende Studie über Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik genannt.12 Er beschreibt darin, wie eine »wichtige Unterströmung der bundesdeutschen Geschichte« langsam breiter geworden ist, wenn auch in den 1950er Jahren eher noch verborgen hinter einer hohen Ausgrenzungsmauer. »Schon die Nennung von Schmitts Namen konnte in den 50er Jahren provozieren; sie wurde zu einem polarisierenden Versatzstück innerhalb politischer Auseinandersetzungen der frühen Bundesrepublik«13, schreibt er und verfehlt nicht, etliche sprachlich recht robuste Beispiele für 12 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993. 13
Ebd., S. 150.
14
Zu beidem gab es nicht einmal den Ansatz einer machtpolitischen Alternative. Und das war auch gut so.
15 Und ebenso, versteht sich, gegen entsprechende Organisationen des im Ost-WestKonflikt, Phase: Kalter Krieg, als Bedrohung empfundenen »System-Gegners«. 16
Diesen Begriff verwendet Jacob Taubes (Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987) zur Kennzeichnung der intellektuellen Wirkung Schmitts seit den späten 1960er Jahren. 17 Ein sehr detailreiches und instruktives Werk, wie schon gesagt. Indes wird mir bei der Lektüre solcher Biografien von Geisteswissenschaftlern (im weitesten Sinne des Wortes), von denen es ja im Englischen seit Langem sehr viele und seit Neuestem auch im Deutschen mehr und mehr gibt (z. B. über Max Weber, um nur ein Beispiel zu nennen), immer ein wenig pelzig im Mund. Man erfährt doch (zu) vieles, was man eigentlich gar nicht wissen wollen sollte.
die Ausgrenzung Schmitts und nicht zuletzt seiner Freund-Feind-Unterscheidung zur Kennzeichnung des Politischen anzuführen. Es geht ja in den ersten fünfzehn bis zwanzig Jahren der Bundesrepublik Deutschland um nicht mehr und nicht weniger als die Etablierung einer neuen, einer demokratie-kompatiblen politischen Kultur gegen die gar nicht so wenigen Restbestände des NS-affinen politischen Denkens – und, ja nun: teilweise auch mit diesen Restbeständen. Das war nun wirklich ein gigantisches ideenpolitisches Projekt, dem die politische Konstellation von Okkupation und anschließender Westintegration14 zwar mächtig half, dessen Erfolg jedoch keineswegs garantiert war. »Demokratieexport«, haben wir jüngst immer wieder beobachten können, funktioniert nur in den wenigsten Fällen, und auch damals gab es diesbezüglich jede Menge Befürchtungen. Kein Wunder also, dass sich die Ausgrenzungs-Bemühungen im politischen Diskurs nicht nur gegen NS-Nachfolge-Organisationen richteten,15 sondern auch gegen ein als quasi dämonisch gebrandmarktes, weil nationalsozialistisch infiziertes politisches Denken, also auch gegen das von Carl Schmitt. Das Schweigenmüssen inspirierte Schmitt zu heftigen und, wenn dieser Ausdruck einmal erlaubt ist, intellektuell unappetitlichen Attacken auf die Exponenten dieser neuen politischen Kultur, zu larmoyant-trotzigen Selbststilisierungen als unverstanden und zu Unrecht gejagt. Aber im Übrigen auch zu einer Reihe von Weiterentwicklungen seines politischen Denkens, die später, als die neue politische Kultur der Bundesrepublik einigermaßen etabliert war, das sich in diesem Etablierungsprozess herausbildende ideenpolitische Gerüst der Bundesrepublik mit einer Reihe »gegenstrebiger Fügungen«16 ausgestattet haben – zu dessen Nutzen. Was nun jenen zweiten Schritt betrifft, der auf die individuelle Selbststilisierung und auf das erzwungene Zurückweichen erfolgt, also die Arbeit an gruppen-interner Kommunikation und Netzwerkbildung, so mag an dieser Stelle der Hinweis auf van Laaks Buch und die Biografie Reinhard Mehrings17 Wilfried von Bredow — Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu
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genügen. Außerdem gibt es neuerdings eine geschickte Auswahl aus den umfangreichen Briefwechseln Schmitts mit Journalisten, Publizisten und Verlegern, die diese Netzwerkbildung dokumentiert und viele Beispiele für die stilistische Liebenswürdigkeit Schmitts liefert18 – letztere gehört ja zu den Grundelementen beim Prozess der Erweiterung kleinerer Zirkel in eigene Milieus. Der in geistiger Hinsicht und auch physisch erstaunlich vitale Schmitt findet sich recht bald im Zentrum von teils altbekannten, teils aber auch neuen deutschen und ausländischen (vor allem spanischen) akademischen Freunden und Verehrern, die genau dies tun: einen Kreis um ihn bilden: die Schmittianer. Van Laak spricht hier einmal von einer »Szene um Schmitt«19, die sich, und das ist doch bemerkenswert, seit den späten 1940er Jahren bis heute immer gegen oft drückenden Gegenwind zu behaupten hatte. Aber während viele andere im Nationalsozialismus prominente Akademiker, selbst die, welche nach 1945 noch irgendwie und manchmal gar nicht erfolglos Anschluss an die neue politische Kultur suchten, heute entweder vergessen (Ernst Rudolf Huber) oder ins ideengeschichtliche Archiv verbracht (Hans Freyer) sind, hat Schmitt seine Stigmatisierung als böser Phönix bis heute behalten. Nur beeinträchtigte das die Rezeption seiner Ideen und Theorien kaum. Es gibt sogar, mit den von Piet Tommissen zwischen 1988 und 2003 herausgegebenen acht Bänden »Schmittiana«, eine Art gehobenen »Plettenberger Boten«20 für die Szene! GEFÄHRLICHES DENKEN? BÖSER KLASSIKER? Gefährlich, labil und amoralisch – mit solchen Adjektiven wurde Schmitt nach 1945 in vielen akademischen Schriften belegt. Die damaligen zentralen »Schulen« der Politikwissenschaft in Berlin, Freiburg und München waren sich einig in härtester Zurückweisung des Schmitt’schen politischen Denkens.21 Die harte Abgrenzungslinie weichte dann allerdings seit der Mitte der 1960er Jahre zunehmend auf, der Bannfluch des mainstreams der Disziplin gegen Schmitt machte ihn für die nachfolgende Generation erst richtig interessant. Standfeste Liberale (wie etwa Rolf Schroers) rezipierten Schmitt und viele Linke sowieso. Über Walter Benjamin gab es ja sogar eine kleine (und ziemlich wackelige) ideenhistorische Brücke zur »Kritischen Theorie«, die jedoch von Seiten der Frankfurter Schule rasch wieder gesperrt wurde.22 In einem Vorwort von Michael Stolleis zu Jan-Werner Müllers 2003 in Amerika und 2007 in Deutschland erschienener Studie zur Rezeption Schmitts in Europa findet sich der treffliche Satz: »Wer klare Feindbilder hat, kann mit Schmitt etwas anfangen«23. Kritisch ist das gemeint; aber die ironische Seite dieser Erkenntnis lässt sich auch nicht unterdrücken – dass nämlich, wer
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18 Kai Burkhardt, Carl Schmitt und die Öffentlichkeit. Briefwechsel mit Journalisten, Publizisten und Verlegern aus den Jahren 1923 bis 1983, Berlin 2013. 19
Van Laak, S. 231.
20 Nicht respektlos gemeint, weder gegenüber Arno Schmidt noch gegenüber Carl Schmitt. Oder nur ein bisschen. 21 Linder inszeniert (in »Der Bahnhof von Finnentrop«) eine virtuelle Spruchkammersitzung, in der die Ankläger und die Verteidiger Schmitts – mit Originalzitaten – zu Worte kommen. Das liest sich zuweilen ein bisschen unheimlich. 22 Von den vielen Geschichten, die an dieser Stelle nicht weiter erwähnt werden, gehört neben Schmitts Katholizismus und seinem eigentümlich üblen Antisemitismus auch die Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule vor und nach den Kulturumbrüchen Ende der 1960er Jahre dazu. Vgl. dazu Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999. 23 Michael Stolleis im Vorwort zu Jan-Werner Müller, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa, Darmstadt 2007, S. 7.
Schmitt als den Feind designiert, ja schon auf dem Boden der Schmitt’schen Begrifflichkeit des Politischen steht. Auch Müller hat ein klares Feindbild: »Diese [Schmitts] Geisteshaltung verträgt sich nicht mit den Abstraktionen von Liberalismus und Universalismus und auch nicht mit den Ideen von Fortschritt und einer immer weiter ausgreifenden Befreiung des einzelnen, sich zusehends als autonom verstehenden Menschen … Unablässig sucht sie liberalen universalistischen Ansprüchen im Namen der Machtpolitik und des Konkreten die Maske vermeintlicher Heuchelei vom Gesicht zu reißen.«24 Von einem solchen Feindbild käme man allenfalls wieder weg, wenn man Schmitt sozusagen ungerührt, weder apologetisch noch anklägerisch entgegentritt (was Stolleis im Übrigen dem Duktus von Müllers Buch zubilligt; zu Unrecht, wie man an der oben zitierten Passage erkennen kann: apologetisch nein, anklägerisch durchaus). Stolleis plädiert, was andere in anderen Zusammenhängen von ganz anderen Sachverhalten fordern, für eine Historisierung des Schmitt’schen Denkens. Historisierung bedeutet ja fast immer: Auskühlung, Überweisung an die Spezialisten, Archivierung, Diskursausstieg. Fast immer. Es gibt aber auch Ausnahmen, die trotz ihrer Historisierung, die ja wirklich mit der Zeit unabwendbar ist, frisch und munter bleiben. Dazu findet sich in Stolleis’ Vorwort auch ein Hinweis. Er schreibt: »Wenn ein Klassiker sich dadurch ausweist, dass seine Texte immer erneut debattiert und in wechselnden Zusammenhängen gedeutet werden, dann ist Schmitt ein Klassiker geworden. Der von ihm erworbene Nachruhm wächst immer noch.« Letzteres trifft zu, und die Umschreibung des Begriffs Klassiker kann man auch akzeptieren. Wenn Stolleis mit seiner Diagnose tatsächlich recht behält, dann wäre Schmitt aus der doppelten Einkreisung seiner »Szene« (innen) und seiner Feinde (außen) »ins Freie« entkommen. Da habe ich meine Zweifel. Innerhalb der Schmitt-Szene hat vor allem der unglückliche Bernard Willms immer mal wieder dazu angesetzt, Carl Schmitt als »den jüngsten Klassiker des politischen Denkens« auszurufen.25 Die unterschiedlichen Sichtweisen auf Carl Schmitt färben auch die Vorstellung darüber ein, mit was für einer Art Klassiker wir es hier zu tun haben. Willms denkt an Hobbes, Stol24 Müller, S. 26. 25
Etwa in dem Band Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Vorträge und Diskussionsbeiträge des 28. Sonderseminars 1986 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1988, S. 577 ff.
leis eher an jemanden wie den Marquis de Sade (metaphorisch gesprochen). Schmitt als böser Klassiker? CARL, DER KAMPF GEHT WEITER Am 7. April 1985 starb Carl Schmitt. Eine Welle von Nachrufen, Rückbesinnungen und ideenpolitischen Standortbestimmungen seines Denkens war die Folge. 1985 ist das Jahr, in dem das Ende des Ost-West-Konflikts eingeläutet Wilfried von Bredow — Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu
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wurde. Das ahnten damals nur ganz wenige. Weil vorher gerade durch die Friedensbewegungen in Westeuropa die nuklear akzentuierte Sicherheitspolitik des Westens bis weit ins Bürgertum hinein fragwürdig geworden zu sein schien, waren 1985 Aktionen zum Festklopfen der »westlichen Identität« gefragt. Das färbte indirekt auch auf die Beschäftigung mit Carl Schmitt ab – sein Tod wurde zum Anlass genommen, sein Denken noch einmal zu ostrakisieren.26 Diesen Vorgang hat mit nicht unbeträchtlicher Aggressivität Günter Maschke (1987, 2012) protokolliert. Er zitiert noch einmal u. a. Christian Graf von Krockow, der Schmitt einen »Zuhälter der Gewalt« nennt. Er analysiert die Rückblickstexte von Autoren wie Kurt Sontheimer, Theo Rasehorn oder Dolf Sternberger, also von einigen der typischen Befestiger des demokratiepolitischen Gerüsts der Bundesrepublik, Vertreter des juste milieu politischen Denkens. Und er fertigt sie, die ihrerseits nicht zimperlich mit Schmitt umgehen, ziemlich rüde ab. Diesem Blick auf die Bundesrepublik folgen Ausführungen zu Nachrufen auf Schmitt in anderen Ländern, vor allem Spanien und Italien, wo Schmitt, wie Maschke betont, auf insgesamt angemessenere Weise gewürdigt worden sei. Darüber braucht man sich nicht groß zu wundern, auch wenn im Ausland die Furcht vor einem antidemokratischen Rückfall der Bundesrepublik Deutschland durchaus wach geblieben ist.27 Maschke unternimmt es darüber hinaus, die Ideen Schmitts in einem rechten Antiimperialismus aufgehen zu lassen, was zwar eine wichtige Facette des Schmitt’schen Denkens aktualisiert und ausbaut, zugleich aber die Konfliktlinien zwischen der politischen Mitte Deutschlands mit ihrer transatlantischen Loyalität und den durch solche programmatischen Äußerungen eher gelockerten Zusammenhalt des Gegenlagers vertieft. Wer, schreibt Stolleis im Vorwort zu Müllers Studie von 2007, »mit Besorgnis beobachtet, welche antiliberalen, antidemokratischen und fundamentalistischen Bewegungen sich in einer krisengeschüttelten und nach Basisethik suchenden Welt ausbreiten«28, müsse, so deute ich seinen Appell, weiterhin daran interessiert sein, das Schmitt’sche Denken zu entzaubern. Maschke und andere setzen dem entgegen, dass niemand anders als Carl Schmitt die »uns seit ca. 1750 lebensnotwendig gewordene[n] Illusionen«29 entzaubert hat. Hat er? Lebensnotwendig? Basisethik? Entzauberung? So viele Fragezeichen. Auch wenn sich die Wissenschaft inzwischen mit großer Verve der Person und des Denkens von Carl Schmitt angenommen hat und Studie um Studie über ihn und alle möglichen Aspekte seiner Texte erscheinen, kann man doch eigentlich nicht behaupten, dass der Prozess der Historisierung Schmitts eingesetzt habe, obwohl genau das ja zu allermeist die Folge von
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26 Das Bild vom Vorgang des Scherbengerichts passt wirklich gar nicht schlecht zur hier beschriebenen Situation. 27 Das konnte man im Zusammenhang mit dem Prozess der Vereinigung Deutschlands nach dem Ende des Ost-WestKonflikts vielfach spüren. 28
Stolleis, S. 8.
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Maschke, S. 48.
solchen Raupe-Nimmersatt-ähnlichen Aktivitäten sein soll. Vielleicht gehört Schmitt wirklich schon zu den Klassikern des politischen Denkens, die man ja auch dadurch definieren kann, dass eine Historisierung ihrer zwiespältigen Anziehungskraft nichts anhaben kann. Der Kampf geht weiter. GEMÜTLICHKEIT Und wieso Gemütlichkeit? Sie findet sich doch wohl eigentlich nirgends. Die Behauptung einer angestrebten und eingenommenen Mitte verlangt permanente Rundum-Wachsamkeit30, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens muss behauptet und befestigt werden, was dieser Ort sein soll, nämlich das Epizentrum politischer und deutungspolitischer Macht. Dazu braucht es gewissermaßen Instrumentarien zur Überwachung der sozialen Tektonik, um zu verhindern, dass einem die Mitte einfach unter dem Hintern wegwandert. Und zweitens braucht man Instrumente zur Abwehr all derjenigen, die als Außenseiter in die Mitte hineindrängen. Keine Sicherheit, keine Gemütlichkeit. Dann aber doch wieder: Gemütlichkeit als eine Art Gruppendynamik. Als verbindendes Element des Einklangs der politischen Perzeptionen und der sich daraus herleitenden Einfärbung der öffentlichen Verlautbarungen, seien es nun politische Stellungnahmen oder akademische Studien, aus denen alles, was nicht ins eigene Raster passt, herausgefiltert wird. Von außen betrachtet muss sich hier doch der Anschein eines Interessen- und Zitierkartells ergeben, das in aller Gemütsruhe in die eigene Erkenntnistasche wirtschaftet. Gemütliches juste milieu eben. Aber auch auf der anderen Seite bildet sich, gewissermaßen als repos des guerriers, eine Art Gemütlichkeit, manchmal jedenfalls. Sie ist das Produkt 30 Ein Beispiel für solche Rundum-Wachsamkeit ist etwa der Text von Jürgen Habermas, Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Frankfurt a. M. 1995, mit dem Versuch, Carl Schmitt ganz an den Rand der deutschen Geistesgeschichte zu drängen.
aus dem Selbstverständnis als Träger einer auratischen Legitimität und den gruppeninternen Ritualen zur Abgrenzung vom bekämpften juste milieu. So mischen sich auf eigentümliche Weise Bitterkeit und Genugtuung, Hass und Resignation, politisches Denken und Denkverbote, Erkenntnisoffenheit und Verbohrtheit, Interessen und Werte, manifeste und latente Intentionen. Wie nennt man nochmal die Verklammerung von Vorstellung und Verneinung als dynamischen Prozess? Genau: Wenn schon Gemütlichkeit, dann eine dialektische. Prof. Dr. Wilfried von Bredow, geb. 1944, war bis 2009 Professor für Internationale Beziehungen an der Philipps-Universität Marburg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre zählen die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands, der Ost-West-Konflikt und die Außenpolitik Kanadas. Im Frühjahr 2014 erschien sein Buch »Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen« im Theiss-Verlag.
Wilfried von Bredow — Carl Schmitt und die Gemütlichkeit des Juste Milieu
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KONZEPT
DIE KEHRSEITE DER METHODISCHEN MEDAILLE EIN PLÄDOYER FÜR DIE ERWEITERUNG DER SOZIALWISSENSCHAFTLICHEN UNTERSCHEIDUNGSSYSTEMATIK ΞΞ Samuel Salzborn
In der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre hat es sich seit einigen Jahren etabliert, die Methoden und damit die jeweiligen Erkenntnisinteressen in qualitative und quantitative Ansätze zu unterscheiden. Abhängig vom erkenntnistheoretischen Blickwinkel des Forschenden wird entweder stärker die Differenz oder die Einheit der methodischen Ansätze hervorgehoben, was im forschungspraktischen Ergebnis entweder zu einer strikten Trennung in der Anwendung der Ansätze führt oder zu einer Integration unterschiedlicher Methoden, oft unter den Schlagwörtern »Methodentriangulation« oder »Methodenmix« zusammengefasst.1 Die Unterscheidung zwischen quantitativen Methoden auf der einen und qualitativen Methoden auf der anderen Seite ist dabei so selbstverständlich geworden, dass zwar das Ausfechten der Vor- und Nachteile der einen oder der anderen Herangehensweise biswei-
1 Vgl. Uwe Flick, Triangulation. Eine Einführung, Wiesbaden 2004; Udo Kelle, Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte, Wiesbaden 2007.
len fast zu einem methodischen Glaubenskrieg anwächst, allerdings die mit der Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Ansätzen vollzogene duale Systematisierung selbst nicht in Frage gestellt wird. Dies soll im folgenden Beitrag vorgenommen werden, weil sich – so die These – stillschweigend und aufgrund nicht hinreichender methodologischer (Selbst-)Reflexion ein unhinterfragter Scheinkonsens etabliert hat, der aus einer logischen Trias der methodologischen Möglichkeiten ein Duo gemacht hat.2 Das hier formulierte und zur Diskussion gestellte Argument lautet, dass wir es bei der Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Methoden tatsächlich nur mit zwei Spielarten ein und derselben methodologischen Medaille zu tun haben. Man könnte sagen, dass quantitative und qualitative Ansätze gemeinsam eine – nämlich die empirische – Seite der methodologischen
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INDES, 2014–3, S. 136–145, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X
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2 Der Vorschlag von Udo Kuckartz (Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren, Wiesbaden i. E.), der ebenfalls für eine methodologische Trias plädiert, aber dabei die Mixed Methods als das Dritte begreift, zielt in eine genuin andere Richtung, weil die epistemologische Logik des methodologischen Dualismus beibehalten wird, da Kuckartz nur aus quantitativen und qualitativen Methoden »mischt«, deren Logik – so mein Argument – aber gar nicht grundsätzlich gegensätzlich ist.
Medaille bilden, während deren Kehrseite – die theoretische – in der Methodendiskussion oft vergessen oder sogar ignoriert wird. In Erinnerung an die drei pointierten erkenntnistheoretischen Differenzierungen von Jürgen Habermas3 zeigt sich in der heutigen methodischen Differenzierung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden erkenntnistheoretisch eine markante Leerstelle. Waren es bei Habermas noch gleichermaßen theoretisch wie empirisch ausgerichtete Ansätze, die die sozialwissenschaftliche und philosophische Pluralität des Erkenntnisinteresses dokumentierten, so beschneidet das Quali-Quanti-Paradigma die Methodenvielfalt unnötiger- und unsinnigerweise um die theoretische Erkenntnisdimension. Quantitative und qualitative Methoden verbindet ungeachtet aller Differenzen die Grundannahme, empirische Methoden zu sein. Will man eine der genuinen Stärken der Politikwissenschaft als Teil der Sozialwissenschaften nicht über Bord werfen oder das Fach in seiner methodischen Dimension zu einer Hilfswissenschaft degradieren, muss man folgerichtig ein theoretisches Erkenntnisinteresse auch mit Blick auf die methodologische Umsetzung reflektieren. Der Annahme, sozialwissenschaftliche Methoden seien durch die Differenzierung in quantitative und qualitative Ansätze hinreichend und vor allem abschließend unterschieden, ist jedenfalls ein kategorialer Denkfehler eingeschrieben, der als Methode nur begreift, was vom Primat der Empirie ausgeht – und nicht von dem der Theorie. Versucht man es schematisch (und damit freilich immer fälschlich vergröbernd, aber um den Versuch der Verdeutlichung bemüht) zu fassen, dann zeigen sich die Differenzen zwischen einer empirischen und einer theoretischen Methodologie im jeweiligen Theoriebegriff: Im empirischen, vor allem quantitativen Sinn wird jede Abstraktion als Theorie begriffen, die eine allgemeine Gesetzmäßigkeit formuliert (wozu auch die sogenannten Theorien »mittlerer Reichweite« zählen). Im theoretischen Sinn kann als Theorie aber nur gelten, was generalisierende Aussagen über makrostrukturelle Fragen einer Gesellschaft oder einer politischen Ordnung in einem konkreten Raum-Zeit-Kontext ermöglicht.4 Ist in dem einen Fall das Verständnis von Theorie das von einer getesteten Hypothese, ist es im anderen Fall das von einem makrostrukturel3 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968.
len Versuch, gesellschaftliche bzw. politische Ordnung als solche zu verstehen.
4 Vgl. Oliver Hidalgo u. Frauke Höntzsch u. Samuel Salzborn, Politische Ideengeschichte als Theorie der Politikwissenschaft, in: Politisches Denken, Jahrbuch 2012, S. 175–200.
kann (deshalb ist die Differenzierung ja auch nur eine systematische). Jede
In dieser methodologischen Differenzierung steht außer Frage, dass in jeder Methode das eine nicht ohne das andere existieren und funktionieren Theoriebildung basiert auf (historischer, statistischer usw.) Empirie und keine gesellschaftliche oder politische Wirklichkeit kann ohne theoretische Annahmen empirisch erforscht werden: Samuel Salzborn — Die Kehrseite der methodischen Medaille
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»Theorie und Methode sind aufeinander angewiesen. Eine Theorie ohne methodische Überprüfung und Erweiterung bleibt nutzlos, eine Methode ohne Theorie, welche die Entscheidung über den sinnvollen Einsatz von Methoden lenkt, bleibt steril.«5 Dieser Hinweis darauf, dass zwischen Theorie und Empirie ein Wechselverhältnis besteht, und die Frage danach, was zuerst da war, können ohne Zweifel philosophische Debatten beflügeln. Sozialwissenschaftlich folgt hieraus allerdings kein wesentlicher Erkenntnisgewinn, da der Blick auf das Wesentliche verstellt wird. Denn: Methodologisch betrachtet geht es nicht um die Frage der Genese oder der Reflexivität von Theorie und Empirie, sondern ganz im Gegenteil um die Prämissensetzung als normativen Akt, die durch die Einräumung eines Primates für das eine, die Theorie, oder für das andere, die Empirie, vorgenommen wird. Eine durch eine Dreigliederung vollzogene methodologische Neuordnung der Sozialwissenschaften, die an die erkenntnistheoretischen Überlegungen von Habermas anschließt,6 fokussiert auf eine systematische Justierung des Verhältnisses von Theorie und Empirie. Dabei werden Grunddimensionen der großen sozialwissenschaftlichen Methodendebatten (Werturteilsdiskussion, Methodenstreit in der Weimarer Staatsrechtslehre und Positivismusstreit)7 mit Blick auf deren Verhältnis von Geschichte und Gegenwart im Kontext der Reflexivität von Subjekt(en) und Objekt(en) der Forschung vergegenständlicht, ohne dabei die kategoriale Dimension des Verhältnisses von Wahrheit, Viabilität und/oder Kontingenz sowie von Kritik und Selbstkritik außen vor zu lassen. Wichtig ist diesbezüglich, dass es in dem hier formulierten Diskussionsvorschlag um keine konkrete Methode geht, sondern um die abstrakte methodologische Grundfrage der Systematisierung aller sozialwissenschaftlichen Methoden in ein Raster mit einer dualen oder einer trialen Logik. Das Argu-
5 Klaus von Beyme, Die politischen Theorien der Gegenwart. Eine Einführung, München 1986, S. 73. 6 Dabei werden dessen gesellschaftstheoretische Implikationen allerdings nicht übernommen.
ment ist demzufolge ein generalisierendes und kein konkretes.8 Der dominanten dualen Logik, nach der alle sozialwissenschaftlichen Methoden mit der Unterscheidung in quantitative oder qualitative Methoden als vollständig erfasst gelten, wird eine triale Logik entgegengestellt. Erst die Unterscheidung zwischen quantitativen, qualitativen und theoretischen Ansätzen ist demnach dazu in der Lage, die Optionen sozialwissenschaftlicher Methodologie vollständig zu erfassen. Für die erkenntnistheoretische Überzeugungskraft des Arguments ist es dabei freilich unerheblich, wie viele und auch welche konkreten Arbeitstechniken und Instrumente den methodologischen Systematisierungsoptionen jeweils als Einzelmethoden zugeordnet werden können. Wesentlich ist aber zu betonen, dass alle drei methodologischen Ansätze in
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7 Vgl. hierzu ausführlich Samuel Salzborn, Sozialwissenschaften zur Einführung, Hamburg 2013. 8 Ähnlich ging John R. Searle (Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969) mit Blick auf seine Sprachphilosophie vor: Sein Anliegen war nicht die Nachvollziehbarkeit des Arguments für eine konkrete Sprache, sondern die generelle Gültigkeit für jede Sprache.
allen Teilbereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung angewandt werden (können). DIE EMPIRISCHE SEITE DER METHODOLOGISCHEN MEDAILLE – IN ZWEI VARIANTEN Sowohl bei quantitativ-empirischen als auch bei qualitativ-empirischen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Forschung ist offensichtlich, dass das erkenntnistheoretische Primat empirischer Provenienz ist, dass also der Schlüssel sozialwissenschaftlicher Erkenntnisfähigkeit in der Empirie gesehen und damit dem Sein eine Dominanz gegenüber dem Sollen eingeräumt wird. Bei der Frage, wie das Sein sozialwissenschaftlich erforschbar ist, wird der Blick in der quantitativen Logik primär auf soziale Akteurinnen und Akteure gerichtet, also auf Individuen, deren Vor- und Einstellungen zum zentralen Objekt der Forschung gemacht werden.9 Gesellschaft und soziale wie politische Ordnung werden in 9 Vgl. Andreas Diekmann, Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Reinbek 2009; Helmut Kromrey, Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung, Opladen 1998; Steffen M. Kühnel u. Dagmar Krebs, Statistik für die Sozialwissenschaften. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Reinbek 2010; Rainer Schnell u. a., Methoden der empirischen Sozialforschung, München 2011. 10 Vgl. James S. Coleman, Foundations of social theory, Cambridge 1990. 11 Vgl. Ralf Bohnsack, Rekon struktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 2003; Ralf Bohnsack u. a. (Hg.), Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Ein Wörterbuch, Opladen 2003; Uwe Flick, Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften, Reinbek 1996; Uwe Flick u. a. (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 2012; Siegfried Lamnek, Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch, Weinheim 2005; Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung, Weinheim 2011.
einer Beziehung zwischen Mikro- und Makrodimension wahrgenommen, in der der forschungsleitende Blick auf die Mikroebene gerichtet ist, allerdings nicht, um über die Mikro-, sondern um über die Makro-Ebene Aussagen treffen zu können. Insofern ist der Gegenstand quantitativer Forschung in den Sozialwissenschaften zuallererst das Individuum, die zu treffenden Aussagen und die gewonnenen Erkenntnisse beziehen sich aber auf die Makroebene – also auf die Gesellschaft, die politische Kultur oder das politische System.10 Das Ziel quantitativer Forschung besteht darin, soziale Sachverhalte systematisch zu messen und dabei Hypothesen über soziale und politische Zusammenhänge zu testen, die Erklärungen für soziale Korrelationen und/oder Kausalitäten liefern sollen. Das Vorgehen ist in aller Regel standardisiert und – mit gewissen Reliabilitäts- und Validitätseinschränkungen – grundsätzlich wiederholbar. Die Messeinheit, in der soziale Ordnungen sowohl erfasst als auch begriffen werden, ist die Zahl, also eine mathematische Größe, die auch einer mathematischen und damit letztlich computergestützten Auswertung zugänglich sein soll. Die statistische Normierung quantitativer Forschung macht es möglich, dass unter Heranziehung einer hohen Fallzahl aufgrund der nicht-reaktiven Beziehung zum Forschungsgegenstand eine Isolierbarkeit von Variablen besteht. Die auf diesem Weg – mittels eines statistisch-mathematischen Vorgehens bei Ausblendung individueller Besonderheiten – gewonnenen Erkenntnisse unterliegen prinzipiell der Annahme, generalisierbar zu sein. Die qualitative Logik sozialwissenschaftlicher Forschung ist in ihrer erkenntnistheoretischen Grundausrichtung ebenfalls empirisch orientiert, d. h. sie betrachtet auch vorrangig Akteurinnen und Akteure sozialen Handelns.11 Ihr signifikanter Unterschied zur quantitativen Logik besteht allerdings zum Samuel Salzborn — Die Kehrseite der methodischen Medaille
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einen darin, nicht nur gegenwärtige Wirklichkeit in den Blick nehmen zu können, sondern auch Vergangenheit(en) als soziale Prozesse erforschen zu können. Zum anderen sieht sie in der Analyseeinheit des Akteurs nicht einen Signifikanten für die Struktur, sondern dieser steht für sich selbst. Dies bedeutet, dass die Analyseeinheit und die Aussageeinheit qualitativer Forschungslogik (die Akteurinnen und Akteure) identisch sind. Folgerichtig zielt der Blick qualitativer Forschung primär auf die Mikro- und die MesoEbene und in der Regel nicht auf die Makro-Ebene, weil der methodische Zugang zu dieser der Grundannahme einer sozial-personalen Identität (im Unterscheid zu einer Repräsentation bei der quantitativen Logik) widerspräche. Das Ziel qualitativer Forschung ist insofern denn auch nicht das Erklären der Gründe, aus denen heraus soziales Handeln erfolgt, sondern das Verstehen von subjektivem Sinn, den die Akteure ihrem Handeln zuschreiben, wobei dieser oftmals zur Generierung von Hypothesen genutzt wird. Das systematische Vorgehen ist im Regelfall flexibel und offen und insofern nicht duplizierbar. Dieser Aspekt der Nicht-Wiederholbarkeit qualitativer Forschung, der oft Gegenstand von Quali-Quanti-Debatten über die Frage der Reliabilität wird, ist dabei kategorisch betrachtet ein deutliches Indiz für die wechselseitige Abhängigkeit von quantitativer und qualitativer Logik, da beide im Unterschied zu der oft betonten Gegensätzlichkeit in ihren jeweiligen Primaten von Standardisierung und Subjektivität doch faktisch stets ergänzenden – und nicht konkurrierenden – Charakter haben.12 Die Fallzahl qualitativer Forschung ist konsequenterweise immer gering und die Variablen bleiben damit kontextgebunden, da der methodische Zugang in aller Regel reaktiv und damit im doppelten Sinn – sowohl aus der Perspektive des Forschenden als auch jener des Beforschten – subjektiv ist. Eine Generalisierung von Aussagen ist, auch wenn sie forschungspraktisch durchaus vorgenommen wird, methodologisch betrachtet nicht möglich, da der Fokus auf den Einzelfall gerichtet bleibt, was zwar durch Typenbildung und Vergleich eine grundsätzliche Regelhaftigkeit erkennbar werden lassen kann, aber eine Verifikation oder Falsifikation der Regelhaftigkeit selbst unmöglich macht, weil auch die selbstreflexiven Stan12 Vgl. Gary Goertz u. James Mahoney, A Tale of Two Cultures. Qualitative and Quantitative Research in the Social Sciences, Princeton 2012; Christian Seipel u. Peter Rieker, Integrative Sozialforschung. Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung, Weinheim 2003; Bettina Westle (Hg.), Methoden der Politikwissenschaft, Baden-Baden 2009.
dards mit dem Ziel der Sichtbarmachung des jeweiligen Vorgehens nicht die Entscheidung über die Sinnhaftigkeit selbst ersetzen können. DIE THEORETISCHE KEHRSEITE DER METHODOLOGISCHEN MEDAILLE In der theoretischen Logik der sozialwissenschaftlichen Forschung ist der Primat der Erkenntnis die Theorie. In ihr wird dem Sollen ein Vorrang vor dem Sein eingeräumt, wobei der methodologische Blick auf gesellschaftliche und Samuel Salzborn — Die Kehrseite der methodischen Medaille
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politische Strukturen und damit auf die Makro-Ebene gerichtet ist.13 Es werden strukturelle Aspekte von Politik und Gesellschaft analysiert, die gleichzeitig auch im Zentrum der formulierten Erkenntnisse und Annahmen stehen. Damit zeigt sich, dass qualitative und theoretische Ansätze beide jeweils eine identische Analyse- und Interpretationseinheit haben – die qualitativen Ansätze die Akteurinnen/Akteure und die theoretischen Ansätze die Strukturen – während quantitative Ansätze genuin mit der Herausforderung konfrontiert sind, von der Akteursebene als Analyseeinheit auf die Strukturebene als Interpretationseinheit schließen zu müssen. Theoretische Ansätze versuchen dabei ebenso wie qualitative Ansätze, Aspekte von Vergesellschaftung zu verstehen (und nur nachrangig in ihren statistischen Beziehungen zu erklären), allerdings fokussieren sie – im Unterschied zu qualitativen Ansätzen – nicht auf den subjektiven, sondern (ähnlich den quantitativen Ansätzen) auf den objektiven Sinn als Erkenntnisanspruch, womit es nicht um den durch die Akteure subjektiv zugeschriebenen Sinn geht, sondern um die Ergründung gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit als Totalität, die auch außerhalb von subjektiven Deutungen existiert. Hypothesen werden in theoretischen Methoden bestätigt und/oder verworfen, nehmen dabei aber in Differenz zu den beiden empirischen Methodologien einen signifikant geringeren Stellenwert ein. Denn in der theoretischen Logik besteht ein deutlich geringeres Interesse daran, überhaupt Hypothesen zu formulieren, die im Sinne der empirischen Methodologie getestet werden könnten, da ihr Aussagegehalt in dieser Frage generell konträr zur empirischen Logik steht. Die Richtigkeit oder Falschheit von objektiven politischen und gesellschaftlichen Strukturen ist eben nicht auf der Akteursebene nachprüfbar, da diese Annahme ein implizites oder explizites Bewusstsein bei den Akteurinnen und Akteuren über die sie prägenden gesellschaftlichen und/oder politischen Strukturen voraussetzen würde, die in den meisten theoretischen Überlegungen verworfen wird. Schließlich gilt das Individuum als erkenntnisfähig, aber »selbst verschuldet«14 nicht-aufgeklärt. Insofern besteht die Basis des theoretischen Blicks der Methodologie in der Annahme, dass die Entscheidung darüber, was als Fakt gelten kann, von der Theorie bestimmt wird – was nicht heißt, dass diese Entscheidungen in einem philosophischen Sinn wirklich wahr sein müssen, sie müssen aber theoretisch begründet werden und, was fast noch wichtiger ist, sie müssen überhaupt aktiv getroffen werden. Diese sind zwar erheblich für den Bestand oder den Zerfall politischer Ordnungen, aber es ist für die Beurteilung unerheblich, ob sie wahr oder falsch sind. Außen vor bleibt dabei wie gesagt kategorisch die philosophische Frage, ob der Mensch überhaupt dazu in der Lage sein kann, die Wahrheit zu erkennen.
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13 Vgl. Raymond Geuss, Philosophy and real politics, Princeton 2008; John G. Gunnell, Between philosophy and politics. The alienation of political theory, Amherst 1986; John G. Gunnell, Political theory and social science. Cutting against the grain, New York 2011; David Leopold u. Marc Stears (Hg.), Political theory. Methods and approaches, Oxford 2008; Sven-Uwe Schmitz u. Klaus Schubert, Einführung in die Politische Theorie und Methodenlehre, Opladen 2006; Andrew Vincent, The nature of political theory, Oxford 2007. 14 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Darmstadt 1975, S. 53.
Folgerichtig ergibt sich daraus auch, dass die Messeinheit des theoretischen Ansatzes Dokumente sind, womit jede Art von menschlichen Produktionen gemeint sein kann, also gleichermaßen Zahlen wie Texte, Bilder usw.15 Im Vorgehen ist der theoretische Ansatz offen und flexibel, wobei die Kategorie der Fallzahl für theoretische Ansätze aus den bereits skizzierten Gründen der grundsätzlichen Strukturorientierung und der Hypothesenneutralität unsinnig ist, da es keine Fälle, sondern nur den einen Fall (die politische bzw. gesellschaftliche Struktur) gibt. Sollen Aussagen über gesellschaftliche und politische Strukturen getroffen werden, dann müssen, umgekehrt formuliert, alle verfügbaren Dokumente in diesen Reflexionsprozess einbezogen werden, gibt es grundsätzlich keine Quelle und kein Material, das nicht Bestandteil der Argumentation werden kann. Die Variablen sind in der theoretischen Forschung kontextgebunden und nicht standardisierbar, der Einfluss auf den beforschten Gegenstand ist in der Regel nicht-reaktiv. Im Konsens mit dem empirisch-quantitativen Ansatz zielt auch die theoretische Logik auf eine Generalisierung von Aussagen, allerdings nicht durch die Ausblendung individueller Besonderheiten durch statistische Verfahren, sondern durch den Versuch der Integration aller Besonderheiten in eine Gesellschafts- bzw. Politiktheorie, die eben alle Einzelfälle mit zu umfassen in der Lage ist.
15 Vgl. Thomas Krumm u. a., Ausgewählte wissenschaftstheoretische Grundlagen und Grundfragen, in: Bettina Westle (Hg.), Methoden der Politikwissenschaft, Baden-Baden 2009, S. 49–113.
METHODENINTEGRATION NICHT TROTZ, SONDERN WEGEN METHODOLOGISCHER DIFFERENZEN Methodologiedebatten, deren Ziel in einer Integration von unterschiedlichen Methoden besteht, fokussieren oft darauf, die Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Methoden zu betonen, um hierdurch eine Ergänzung und damit Anschlussfähigkeit zu ermöglichen.16 Me-
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Vgl. Seipel u. Rieker.
17 Vgl. Barry Cooper u. a., Challenging the QualitativeQuantitative Divide. Explorations in Case-focused Causal Analysis, London 2012; Christian Erzberger, Zahlen und Wörter. Die Verbindung quantitativer und qualitativer Daten und Methoden im Forschungsprozess, Weinheim 1998; Udo Kelle, Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte, Wiesbaden 2008. 18
Vgl. Goertz u. Mahoney.
thodische Stärken der einen sollen die Schwächen einer anderen Herangehensweise ausgleichen.17 Aufgrund der skizzierten systematischen Differenzen in einer trialen Logik sozialwissenschaftlicher Methodologie scheint es aber ganz im Gegenteil deutlich sinnvoller, eine methodische Integration gerade nicht aufgrund von Gemeinsamkeiten, sondern aufgrund von methodologischen Differenzen zu begründen:18 Denn nur die Differenz zeigt die Stärken der jeweiligen Methoden (und auch ihre Schwächen). Das Potenzial zur Integration nicht trotz, sondern wegen dieser Differenzen liegt im normativen Modus der Kritik. Die Kritik stellt das vermittelnde Moment zwischen quantitativen, qualitativen und theoretischen Ansätzen dar. Warum? Alle drei Methodologien haben kritisches Potenzial als sozialwissenschaftliche Methodologien, was gerade wegen ihrer skizzierten Widersprüche eine methodologische Integration ermöglicht. Samuel Salzborn — Die Kehrseite der methodischen Medaille
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Denn in den Begriff der Kritik ist eine normative Distanzierungsfähigkeit zur Affirmation eingelassen, Kritik umfasst immer das bewusste oder unbewusste Potenzial des Widerspruches, also der Infragestellung politisch, gesellschaftlich oder wissenschaftlich dominierender Deutungsmuster, wobei Kritik einen Ermöglichungsraum von Freiheit schafft. Der sozialhistorische Prozess der Aufklärung hat den Menschen in die Fähigkeit versetzt, sich Dank des cartesianischen Subjektverständnisses aus der Rolle eines passiven Objekts von Geschichte zu deren Akteur zu machen. Die Perspektive hat sich entsprechend dergestalt umgedreht, dass aus der Emanzipation von metaphysischen und übernatürlichen Heilsversprechen das Potenzial dafür entstehen konnte, dem Subjekt mit dem Versprechen der Freiheit auch eine politische Praxis zu geben. Für den Modus der Kritik ist zentral, dass dieser Prozess ein dialektischer war, dass die Emanzipation zum Subjekt auch das Potenzial der Selbstüberhöhung in sich trug, da sich aus dem Abschwören des Glaubens an eine übermenschliche Instanz der Glaube an die menschliche Allmacht generierte. Der Glaube an Gott wurde im Prozess der Aufklärung von einem Glauben an Natur und Technik abgelöst, der nun allenthalben natürliche Kräfte wirken sah, wo faktisch gesellschaftliche und kulturelle Phänomene dominierten. Dieser Aberglaube an die Natur hat ideengeschichtlich auch eine menschliche Phantasie bestärkt, die durch monotheistische Religionen stets limitiert worden war: der Wunsch nach menschlicher Allmacht, nach vollständiger Natur- und Technikbeherrschung, nach Kontrolle von Leben und Sterben, nach Überwachung von Abweichung, nach narzisstisch ungezügelter Größe und Stärke. Die Kehrseite eines Postulats der Infragestellung von Religion war somit ein neuer Glaube: der an Natur und Technik. Die dialektische Ambivalenz des Subjektwerdungsprozesses in der Aufklärung schreibt in den Begriff der Kritik die Notwendigkeit der Selbstkritikfähigkeit ein, sofern das Potenzial der Vernunft nicht in eine »instrumentelle Vernunft«19 zerrinnen soll. Horkheimer verstand hierunter eine kalte, technische, verdinglichte Form von Rationalität, die sich lediglich an einer rein formalisierten Distanz zum Nichtsubjektiven misst, nicht aber an einer Relationalität der eigenen Sterblichkeit – und damit der menschlichen Fehlbarkeit. Wer politische Urteile fällt, ganz gleich, in welcher Form, hypostasiert insofern prinzipiell drei Varianten von Artikulationsfähigkeit: eine mythologische, die das Versprechen der Aufklärung nicht realisieren kann oder will, eine instrumentelle, die das Versprechen der Aufklärung selbst als eine Inthronisierung des Glaubens an den allmächtigen Menschen konterkariert und eine selbstkritische, die aufgrund ihrer Einsicht in den menschlichen Subjektcharakter dazu in die Lage versetzt ist, die eigene Sterblichkeit und
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Perspektiven — Konzept
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19 Max Horkheimer, Eclipse of Reason, New York 1947.
damit Fehlbarkeit des subjektiven Denkens einräumen zu können und zu akzeptieren. Letztere Variante der Artikulation folgt dem Modus der Kritik, die beiden erst genannten tendieren – aus ganz unterschiedlichen Richtungen – jeweils zu dem der Affirmation. Kritik unterscheidet sich grundsätzlich von einer rein affektiven Hingabe an eine Emotion, ein Gefühl, kurzum eine unreflektierte und nicht an den Maßgaben der Rationalität gemessene Meinung, die sich für Fakten nicht interessiert, sondern die eigene Weltsicht über jede Form von Faktizität stellt. In ihrer mythologischen Form wird demgegenüber der Glaube an ein Weltbild beschworen, in dem jede Form des aus der Wirklichkeit resultierenden Widerspruchs für unwahr gehalten wird, weil sie dem eigenen Glaubensbild widerspricht. In ihrer instrumentellen Form aber wird sie zur raunenden Meinung, zu einem Trugbild, in dem die Fakten gemäß der eigenen Vorstellungen geändert und entstellt werden sollen. Die Welt wird hier gemäß ihrer Meinungen neu geformt. Eine grandiose Überhöhung des Subjektes als Folge der gottlos gewordenen Aufklärung, das sich seiner eigenen Sterblichkeit, Marginalität und Banalität nicht mehr bewusst sein will, versucht all dies durch die Anpassung der Wirklichkeit an sein Weltbild zu unterdrücken. Kritik, so viel kann festgehalten werden, unterscheidet sich insofern doppelt von der Affirmation, in seiner Distanz zum Mythos und in seiner Distanz zum Instrumentellen. Bezogen auf die hier vorgeschlagene Dreiteilung in der erkenntnistheoretischen Systematik der sozialwissenschaftlichen Methodologie zeigt die referenzielle Bezugnahme auf den Modus der Kritik, dass allen methodologischen Grundannahmen das Potenzial zur Kritikfähigkeit ebenso inhärent ist wie das zur unkritischen Affirmation. Schließlich fußen alle drei auf denselben ambivalenten sozialhistorischen Prozessen. Dies zu reflektieren sollte Kern sozialwissenschaftlicher Erkenntnistheorie sein – die sich insofern neben den Stärken ihrer Methodologie auch ihrer Schwächen bewusst sein muss. Denn nur eine Integration methodologischer Konzepte ermöglicht es, das ambivalente Kritikpotenzial jeder Methode als solches kompensierbar zu machen, da gerade der Akt der Methodenintegration auf der Basis von Widersprüchen (und eben nicht: ihrer scheinbareren Bereinigung) eine selbstProf. Dr. Samuel Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der GeorgAugust-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Gesellschaftstheorie, Politische Kulturund Demokratieforschung.
kritische Erkenntnis über politische und soziale Wirklichkeit ermöglicht, die die ihr zugrunde liegenden Interessen nicht negiert, sondern reflektiert. Die Voraussetzung einer solchen methodologischen Revision ist aber freilich der Abschied vom Glauben an die methodologische Dualität, die sozialwissenschaftliche Erkenntnisprozesse um ihre gleichermaßen zentrale Dimension ihrer theoretischen Methodologie beraubt. Samuel Salzborn — Die Kehrseite der methodischen Medaille
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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: David Bebnowski, Felix Butzlaff, Dr. des. Lars Geiges, Roland Hiemann, Julia Kiegeland, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Danny Michelsen. Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Dr. Matthias Micus. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 60,– D / € 61,70 A / SFr 84,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 36,90 D / € 38,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 16,95 D / € 17,50 A / SFr 23,50. Inst.-Preis € 120,– D / € 123,40 A / SFr 169,80. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen.
BEBILDERUNG Born in a small town in Russia, in 1990, Lora Zombie was set on becoming an artist a very early age. The self-taught painter first gained recognition in the late 2000s as her work circulated online, reaching millions of people through blogs, new outlets, and social media. She is now a top seller on the urban art scene and is gaining the attention of the art world at large. In recent years, Lora has taken the gallery scene by storm with exhibitions in Los Angeles, Toronto, New York and Russia – bringing in the interest of collectors and fans worldwide. With a unique commentary on pop culture and keen eye for beauty, Zombie’s raw and grungy trademark style is unmistakable. Her gorgeous use of overlapping, bursting colors incorporates a natural vivacity to her work, bringing life to her pink-haired punk characters. Zombie’s style reflects her personality; effervescent, keen and upbeat. Between her natural talent for effortlessly depicting the human form, fantastic sense of color and incorporation of humor into her work, it is no surprise that in a few short years she has gained such a massive global following.
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