Wissenschaft und Planung [Reprint 2020 ed.] 9783110876864, 9783110050257


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German Pages 252 Year 1965

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Wissenschaft und Planung [Reprint 2020 ed.]
 9783110876864, 9783110050257

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UNIVERSITÄTSTAGE 1965 VERÖFFENTLICHUNG DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

WISSENSCHAFT U N D

WALTER

DE

GRUYTER

PLANUNG

& CO.

/

BERLIN

VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG . J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER • KARL J. T R Ü B N E R • VEIT & COMP.

19 6 5

Mit 17 Abbildungen im Text

Archiv-Nr. 3601651

©

1965 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Gutttentag, Verlagsbuchhandlung * Georg Reimer * Karl J. Trübner * Veit & Comp. Berlin 30, Genthiner Straße 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Paul Funk, Berlin 30

Inhaltsverzeichnis ERNST BLOCH (Prof. Dr. phil., Gastprofessor für Philosophie, Universität Tübingen): Antizipierte Realität — wie geschieht und was leistet utopisches Denken?

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SONTHEIMER (Prof. Dr. phil., Wissenschaft von der Politik, Freie Universität Berlin): Voraussage als Ziel und Problem moderner Sozialwissenschaft . . . .

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(Prof. Dr. phil., Vergleichende Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg): Erfordernisse künftiger Schulbildung und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung

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(Prof. Dr.-Ing., Direktor des Instituts für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung, Technische Hochschule Karlsruhe): Grundsätzliche Überlegungen zur Kybernetik

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(Prof. Dr. rer. pol., Betriebswirtschaftslehre, Verkehrswirtschaft, Freie Universität Berlin): Das Problem der Automation

81

KURT

GOTTFRIED

HAUSMANN

K A R L STEINBUCH

B E R N H A R D BELLINGER

ERWIN

K. S C H E U C H (Prof. Dr. rer. pol., Besondere Soziologie, Universität Köln): Die Problematik der Freizeit in der Massengesellschaft 104 E D D I N G (Prof. Dr. phil., Bildungsökonomie, Technische Universität Berlin; Leiter der Abteilung Ökonomie im Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellsdiaft): Perspektiven künftiger Organisation des Lehrens und Lernens . . . . 128

FRIEDRICH

(Prof. Dr. med., Sozialhygiene, Freie Universität Berlin): Quantitative Probleme der Bevölkerungsexpansion 139

L U D W I G VON M A N G E R - K O E N I G

(em. Prof. Dr. phil., Dr. med. h. c., Allgemeine logie und Genetik, Freie Universität Berlin; Wissenschaftlidies glied des Max-Planck-Instituts für vergleichende Erbbiologie Erbpathologie): Die qualitative Bevölkerungsbewegung: Erbgesundheitspflege — wendigkeiten und Möglichkeiten einer Planung

H A N S NACHTSHEIM

BioMitund Not158

(Prof. Dr. iur., Dr. rer. pol., Internationales Recht, Allgemeine Rechtslehre, Freie Universität Berlin): Formen und Grenzen internationaler Planung 175

WILHELM

WENGLER

KARL C. THALHEIM (Prof. Dr. rer. pol., Volkswirtschaftslehre, Freie Universität Berlin): Obernationale Zusammenschlüsse in ihrer wirtsdiaftspolitischen Problematik 187 GERT VON EYNERN (Prof. Dr. rer. pol., Dipl.-Volksw., Wissenschaft von der Politik mit besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftslehre, Freie Universität Berlin): Tendenzen wirtschaftlicher und politischer Annäherung von Ost und West 200 FRITZ EGGELING (Prof. für Städtebau und Siedlungswesen, Technische Universität Berlin): Planung in unserer räumlichen Umwelt — Die Ordnung von Stadt und Land 216 HANS PETER IPSEN (Prof. Dr. iur., öffentliches Recht und Staatslehre, Universität Hamburg): Planung in Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung 231

Antizipierte Realität — Wie geschieht und was leistet utopisches Denken? Von E r n s t

Bloch

Antizipierte Realität, wie geschieht und was leistet utopisches Denken — Ein weites Feld, das vielleicht nicht nur einen Blick aus der Gegenwart in die Zukunft braucht, sondern auch einen schwierigeren aus der Zukunft auf die Gegenwart und in die Vergangenheit, die neu verstanden werden müßte, in dem Sinne, als es nicht nur Vergangenheit gibt, sondern das sehr reale Paradox von Zukunft in der Vergangenheit. Planung ist sehr alt, Städteplanung z. B. ist schon griechisch — Aristoteles zitiert einen athenischen Ardiitekten, der Wohn- und Arbeitsgebiete trennen wollte — und erst redit die Renaissance war planungsfreudig. Im Gegensatz zum extremen Liberalismus der Manchester-Ökonomie, die zwar den Unternehmer emanzipiert hat mit all seinen progressiven Zügen und all seinen Schatten, aber dafür in der Art des Warenumlaufs, in Produktion und Distribution, nur das individuelle laissez-faire, laissez-aller kennt. So gibt es also Zukunft in der Vergangenheit: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsere Enkel fechten's besser aus" ist ein Lied der Bauern nach der Schlacht bei Frankenhausen 1525 gewesen: so kann Zukunft geradezu ein Vermächtnis darstellen. Der Mensch ist per se ipsum ein reflektierend antizipierendes Wesen, was nur merkwürdigerweise erst sehr spät beachtet wird. Ich möchte aber beginnen mit dem, was allem Planen zugrunde liegt: das sind Hunger, Mangel und Nicht-Haben. Wir sind als Menschen Mangelwesen par excellence. Wir haben eine nur uns eigene Lebensnot, die uns Nacktgeborenen angestammt ist, und die die Tiere trotz ihres angstvoll unglücklichen Daseins in dieser Weise nicht kennen, weil sie viel besser ausgerüstet sind. Sie haben ihre natürlichen Schutz- und Angriffsorgane, sie haben vor allen Dingen ihre Instinkte: kurz, sie müssen sich sozusagen nicht den Kopf zerbrechen. Wir dagegen sind leiblich unfertig, nackt, schlecht ausgerüstet, unsere Waffen sind die Zähne, die Fingernägel, vielleidit noch die Faust. — Also wie können wir bestehen? Wieso wir da sind, ist eine eigentümliche und merkwürdige 5

Sache. Es war nicht leicht zu bestehen in den zahllosen Gefahren durch die Unbilden des uns Umgebenden, der ungeschwächten Wildnis und gar noch in den Unbilden, die wir uns selbst in Potenz geschaffen haben in Form von Kriegen u. a. — Dafür haben wir ein Gehirn, das sich sehen lassen kann im Vergleich mit den Tieren, und eine schon früh beginnende, wenn auch nidit reflektierte, notwendige Planung, um Vorsorge zu treffen für den völlig ungesicherten nächsten Tag. Arbeit hat die Menschen erst gebildet, wie Engels sagt, durch Arbeit sind sie aus dem Tierreich herausgetreten und haben Werkzeuge erfunden, alles zur Befriedigung der Bedürfnisse, neugesetzter Bedürfnisse, die durch ihre Befriedigung überhaupt erst erwacht sind. „Der Mensch ist das Umwege machende Tier", sagte Simmel, und auf diesem Umweg hat er gefunden, was auf dem geraden Wege nicht wäre. Mutationen im Lauf von Hunderttausenden von Jahren bei tierischen Arten stehen gegenüber 6—8000 Jthre menschlicher Geschichte mit wechselnden Staatsformen, Kultur- und Lebensformen, immer anderen Horizonten, verschlossenen und neu geöffneten, zahllosen Perspektiven. Die Tiere tragen ihren Kopf wie ein Schloß vorgehängt, ihr Lebenslauf ist auf unzählige Generationen hinaus vorbestimmt. Gewiß gibt es die Biber, die ohne zu überlegen, aus dem Instinkt heraus, kunstvolle Nester bauen: immer dieselben; gewiß gibt es das geradezu feudal gegliederte Ameisenleben: aber, wie Chesterton sagt, noch nie sah man in diesen Hügeln Alleen, geschmückt mit den Statuen berühmter Ameisen, und eine Geschichte der Kühe in 15 Bänden wäre zwar möglich, aber vermutlich eine recht langweilige Lektüre. Das alles ist mehr als bekannt, doch es folgt daraus für unseren Fall allerhand: Der auch uns triebhaft gebliebene Hunger reflektiert sich menschlich als Sehnsucht, die nur bei uns vorkommt, als mehr oder minder genau ausmalendes Hoffen und schließlich, da dieses alleine nicht satt macht, als ein Wollen, das mehr ist als Wünschen, ein tätiges Wollen, um das so Vorgestellte auch befriedigend zu erreichen. Der arbeitende Wille zur Bedürfnisbefriedigung objektiviert sich als Planung mit immer bewußterer, rationalisierterer Kalkulation der Mittel zum Zweck, — der zu erzeugenden Mittel zu einem gleichfalls noch in der Zukunft liegenden, durch die Erreichung oft sich selber zum Besseren, oft aber auch zum Schlechteren verändernden Zweck. Dieses Zweckdenken selbst hat eine ungeheure Geschichte, in deren Verlauf wir so weit gekommen sind, daß jeder Mensch ungefähr weiß, was er jetzt und was er nachher will, aber nicht, was er überhaupt will. Also der Zweck selbst steht in Perspektive, hat ein verdämmerndes Selbst an sich, wenn radikal gefragt wird, es gibt hier ein Ultraviolett des Wohin und vor allen Dingen des Wozu-Denn-Das-Alles; wenn die Sättigung eingetreten ist, hält sie weiter in Trab, weil sie ja

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nicht bleibt, weil immer wieder Hunger entsteht oder weil in unserer Konsumgesellschaft die Industrie durch Reklame Bedürfnisse erzeugt, von denen der Mensch vorher gar nicht gewußt hat, daß er sie hat. Aber indem sie befriedigt werden können, die Befriedigung Profit abwirft, gibt es also angeheizte Bedürfnisse in der Konsumgesellschaft, die auf diese Weise sich auf den Füßen hält. Der Plan setzt nun den Arbeitsvorgang, und der Arbeitsvorgang selber bringt erst das eigentlich Menschliche der Bedürfnisbefriedigung ganz in Gang. Hier erst ist der Mensch geschaffen worden als der, den wir kennen: das Bedürfnis treibt zu einem werkhaften Verhalten, und dieses setzt nun erst die volle Teleologie des Arbeitsprozesses mit immer reicher experimentierenden Antizipationen, Modellbildungen etc. Der Arbeitsvorgang wird danach gemessen, wie weit er tauglich ist, um das Vorgehabte zu erreichen oder gar zu überbieten zum Zweck eines menschlichen und beherbergenden Hausbaues auf dem, aus dem und in dem Rohstoff des Sterns Erde, mit dem Umbau des Sterns Erde zu einer besseren, uns gemäßeren Erde. Auf der bisherigen Strecke des Arbeitsprozesses stieg mit der Entwicklung solcher Produktivkräfte ebenso die Selbstentfremdung der Arbeitenden, wie die Verdinglichimg, schließlich das zu Ware-Werden aller Menschen und Verhältnisse wuchs. Dieses ist der trübere Rest und mehr als der Rest, der geblieben ist, und der sich trotz aller Rationalisierung — vielleicht z. T. auch wegen einer abstrakten Rationalisierung — immer neu erzeugt, so, daß Klassengesellschaft entstanden ist. Sie beginnt mit dem Ackerbau, betrieben durch Kriegssklaven, und teilt die Menschen in zwei Gruppen, in Unternehmer und Unternommene — ein Ausdruck von Brecht. Das macht die Klassengesellschaft notwendig aus. Ein Vorwurf läßt sich davon nicht ableiten, das mußte geschehen — zunächst — und war ungeheuer produktiv: industrielle Revolution, rasende Entfesselung der Produktivkräfte. Aber immer wurde über dem Produkt das Produzierende vergessen oder das Produzierende gezwungen, sich auf die Mittel zur bloßen, wenn auch konsumhaft nützlich erweiterbaren Reproduktion seiner Arbeitskraft tunlichst zu beschränken — Reproduktion der Arbeitskraft sehr weit gefaßt, circenses, das Vergnügen, inbegriffen, und immer neue Opiate zur Abschaffung unserer zwei wesentlichsten Merkmale, die in der Sehnsucht gesetzt sind, nämlich Unzufriedenheit und Hoffnung. Der Teleologie des Arbeitsvorgangs sind, wie jeder Wohltat, keine Grenzen gesetzt. Gerade die — radikal — durchdachte Teleologie, als Tendenziorsdiixag — die von vornherein setzt, daß es Menschen sind, die das machen, was f ü r Menschen gemacht wird —, also Humanmedizin und (um auch theologischen Begriffen heutzutage einen Platz zu geben) Humansoteriologie des Arbeitsprozesses mit dem Reich der Frei-

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heit als einer Invariante seiner Richtung, macht die hier einschlägige Antizipation in ihren Etappen erst konkret und, statt abirrend, in ihrem Inhalt erst möglicherweise substantiell. Das Grundanliegen unserer Zeit ist derart, das Verhältnis der Menschen zu ihrer endlich eigenen Zukunft auf den Begriff zu bringen, das ist auf eine eingriffsmächtige Erkenntnis, eine Laboratoriumsarbeit des Gedankens an einer Theorie-Praxis mit zugleich dauerndem Oszillieren zwischen Theorie und Praxis. Eine eingriffsmächcige Erkenntnis, die sich endlich auch versteht — um auf Gegenwärtiges zu kommen — auf die Einsicht in das Problem einer ideologischen Koexistenz, die möglich ist zwischen Halbheiten; hier ist etwas, was dort nicht ist, dort ist etwas, was hier nicht ist. Das erfordert eine ideologische Koexistenz, zu der die technische Automatisierung ohnehin, ob man will oder nicht, Wege ebnet. Es gibt den merkwürdigen Begriff der Epoche, d. h. banal ausgedrückt: wir sitzen alle im gleichen Boot. Epoche ist eine Einheit, die sich durchhält. Der Kapitalismus, der Feudalismus, die Antike, das sind auch schon Epochen gewesen, in denen sich der differenzierende Prozeß etwas sammelt und ein Einverständnis möglich ist bis zum Kopfeinschlagen. Es ist eine Begegnung da. Ein Haifisch und ein Elefant können sich nicht begegnen und keinen Krieg führen. Aber schon was im selben Wasser lebt, hat eine — ob es will oder nicht — Einheit, in der Krieg oder Verstehen möglich ist, und es ist, wie Rosa Luxemburg sagt: „Es gibt keine Demokratie ohne Sozialismus, es gibt keinen Sozialismus ohne Demokratie." Hier sind schon andere substantielle Einheiten als die bloß formal erscheinenden von Epochen. Das eben ist ideologische Koexistenz, sie hat ihre Probleme, und es ist nicht mit Verbeugungen oder Verschweigungen oder Zuckerwasser oder Hinterhältigkeit getan. Wenn wir weiterleben wollen, ist das reflektierte, reflektiert-antizipierte Verhältnis der heutigen Menschen zu ihrer sogar nahen Zukunft, nicht nur zu der ferneren, unsere Aufgabe. Daß wir heute in einer Stärke und mit einem Prozentgehalt wie sicher nie zuvor in einem Vorher uns befinden, mit einem Zwang, vorwegzunehmen und auszumalen, mit einer solchen Offenheit von Karriere und deshalb auch Lähmung durch diese große Offenheit, wie es in glücklicheren, aber auch unglücklicheren Zeiten nie der Fall war, das macht es für Menschen, die Antizipierendes in sich tragen, zu einem ganz außerordentlichen Vergnügen und zur Auszeichnung, in dieser Epoche zu leben, und wir werden von späteren Geschlechtern beneidet werden, daß wir das hatten — vielleicht auch bemitleidet, in einem dialektischen Akt. Es ist ein Merkmal, das Marx, sonst auf den bloßen Kopf ante rem schlecht zu sprechen, wieder mit Unterscheidung vom Tierreich — aber nicht nur vom Tierreich,. sondern, wie ich meine, von allen früheren 8

Geschlechtern — hervorhebt: „Was von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. A m Ende des Prozesses kommt ein Resultat heraus, das zu Beginn schon in der Vorstellung des Arbeiters, also ideell, vorhanden war." Wir finden also bei den dialektischen Materialisten das unumgänglich notwendige Wort „ideell", wir sehen den Menschen noch nicht vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern wir finden den Kopf als das notwendige Prius, als das Vorher. Kraft der Vor-stellung gibt es also ein Protendiertes, nicht nur Intendiertes, auf diese Weise Antizipiertes, und das macht erst den letzten menschlichen Topos aus bei all dem, nämlich den Topos des Utopischen, den nur die Menschen bewohnen, in dem sie, bei Strafe des Untergangs, sich anzusiedeln haben. Er bedeutet: ein überlegtes Verhältnis zur Zukunft, rationalisierte Hoffnungsinhalte, docta spes. Das Utopische mit all seinen freilich so sehr verschiedenen Graden, mit seinen Gefahren, mit seinen Bedenklichkeiten, ist mit dem Wachsen des Menschlichen selbst ein Wachsendes, und utopisches Bewußtsein ist wissenschaftlich zu halten trotz aller Fragwürdigkeit und allen noch so sehr verschiedenen Qualitäten, deren hauptsächliche die abstrakte und konkrete Utopie sind. Das Utopische selbst ist das Charakteristikum des Menschen. Es ist die Frage, ob es in der Welt, in die wir gesetzt sind, in der von uns unabhängigen Außenwelt ein Korrelat zu unserem Utopikum gibt, das wir im Kopf haben. In einer geschlossenen, in einer fertigen Welt ist jedes Utopikum heimatlos. D a gibt es nur Warten auf Godot, da gibt es nur das Absurde, das uns antwortet, oder das gänzlich Disparate, so disparat, daß es uns nicht einmal die kalte Schulter zeigt, denn es hat gar keine Schulter und gar keine Kälte — das sind alles schon Vermenschlichungen. In dieser Welt ist der Mensch schlechthin eine Anomalie, eine unbegreifliche, heimatlose Wesenheit, ein Ausbruch, man weiß nicht woher und wohin, ein esoterischer strenger Karneval, der vorbeigeht, dem nichts entspricht, wenn die Welt kein Korrelat zu unserem Antizipieren und Planen besitzt. Verändern setzt ein Veränderbares voraus, in der Silbe „bares" ist Mögliches gemeint, Erhofftes, Erleidbares, wie man will, auch Negatives. N u n ist Möglichkeit die am geringsten bedachte Kategorie in der gesamten philosophischen Kategorientafel, geleugnet von den meisten Philosophen. Bei Diodoros hebt es an: „Es ist nichts möglich, denn alles Mögliche muß wirklich werden, und wenn es nicht wirklich wird, war es auch nicht möglich, also ist das Mögliche aufgehoben in dem Wirklichen." Das geht weiter bei Kant, auch er ist erstaunlicherweise schlecht darauf zu sprechen, wie auch Hegel, und dies wegen jenes ordo sempiternus verum, in dem alles, was geschehen kann schon geschehen ist oder so geplant

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ist, als ob es auch schon wirklich wäre; eine Auffassung, die theologisch fundiert ist in der Annahme einer Vorsehung, die alles ohnehin schon weiß und gar keinen Platz hat für etwas anderes als das Notwendige. Hier kommt Möglichkeit als objektiv-reale nicht vor, obwohl sie eine Kategorie jeder Versicherungsgesellschaft ist. Die objektiv reale Möglichkeit umgibt die vorhandene Wirklichkeit wie ein unendlich größeres Meer mit Realisierbarkeiten darin, die sozusagen auf unsere Faust warten. Das Utopikum ist also dem Menschen als verändern-wollendem Wesen gesetzt, dem Welt gegeben ist als die Potentialität, als das große Suvdpei ôv, das der Möglichkeit nach Seiende. Im Menschen ist Utopisches möglich, weil er das einzige Wesen ist, das Zukunft nicht als falsche hat, nicht als eine, die aus dem bloßen Nachher dauernder Wiederholungen besteht, sondern weil er Zukunft als echtes Noch-Nicht und als ein veritables, wenn auch durchaus vermitteltes Neues haben kann. Die große Sphäre des Noch-Nicht ist etwas anders als das Nicht, das Nicht-Haben ist in seiner nächsten Stufe, und ist auch etwas anderes als das Nichts, das ein Resultat ist — es ging schief aus, die Sache ist ungelungen. Noch-Nicht ist das, was in der Schwebe ist, was noch nicht verwirklicht, aber damit nicht aus der Welt ist. In der Welt ist die Kategorie des Noch-Nicht möglich als in einer, in der Entwerfbares, Veränderbares noch geschehen kann, als einer selber noch offenen, unfertigen, prozeßhaften, dadurch fragmentarischen, kurz, als einer Welt mit einem über sie hinausgehenden Horizont. Das Noch-Nicht, das als eine Spaltung von Subjekt und Objekt merkbar ist, erscheint in zwei Formen: psychologisch und kosmologisch. Noch-Nicht psychologisch ist das Noch-Nicht-Bewußte, ein Zustand, in dem alle Menschen leben, bewohnt bis zum Äußersten und unentdeckt bis vor kurzem wie die Antarktis, zugedeckt durch das Nicht-MehrBewußte oder, um es mit dem Un-Begriff zu bezeichnen, das Unbewußte. Das ist aber etwas gänzlich Verschiedenes. Das Nicht-MehrBewußte, auf das man erst spät aufmerksam geworden ist, durch Freud und die Psychoanalyse großartig und bewunderungswürdig notiert, ist das, was einmal bewußt war, und dann vergessen oder verdrängt wurde, in den Keller des Bewußtseins herabsank, sich nur noch in Träumen, Nachtträumen, vor allem in typischen Symbolen der Traumdeutung äußert, in einer Mondscheinlandschaft, wohin die Sonne des Bewußtseins nicht mehr scheint. Das andere aber ist nicht herabgesunkenes Bewußtes, sondern ist Vor-Bewußtes im strengen Sinn, nämlich ein in uns Dämmerndes, eine Dämmerung nach vorwärts, keine nadi rückwärts, ein Aurorisches, das aufsteigt und eine OberSchwelle ausmacht auf der Höhe des Bewußtseins, sich deshalb uns auch nicht in Nachtträumen äußert. Es äußert sich vielmehr in Tagträumen, die mit Wunsch träumen sehr weit zusammenfallen, mit Ausmalungen und 10

Vorstellungen meist privater Art, banalen Inhalts, mit falscher Zukunft, die viele Leute schon haben und die man selbst auch schon gehabt haben mag, die aber verloren ist. Das, was wir schon tausendmal gemacht haben, ist unechte Zukunft. Zur echten Zukunft gehört als wesentliches Charakteristikum das Novum, des So-Noch-Nicht-Gewesenen. Das sind die schöpferischen Wach träume, emergierend in großen politischen, ökonomischen Konzeptionen, in künstlerischen, philosophischen und wissenschaftlichen Schöpfungen, sich ausgestaltend in einer mehr oder minder aurorisch-antizipierenden Aufdämmerung. Es gibt einen besonders großen Prozentsatz dieses Nodi-NichtBewußten in drei Gestalten: a) in der Jugend, die überfüllt ist mit Wachträumen, im Ausmalen des eigenen Lebens mit vielen Bildern; b) in Wendezeiten von einer Gesellschaft zur anderen, man denke an die gesellschaftlichen Jugendzeiten wie Renaissance, die Zeit vor der Französischen Revolution, den deutschen Sturm und Drang, die Zeit vor 48 und unsere Zeit, die voll ist von Noch-Nicht: das Alte will nicht vergehen, das Neue will nicht werden, etwas ist im Schwange; c) in künstlerischer, wissenschaftlicher und philosophischer Produktivität. Dante drückt es in dem sehr süperben Verb aus: „Das Wasser, das ich fasse, hat man noch nie befahren." Das ist der Grenzbegriff von Novum in Produktivität. Dies alles aber ist einsam, leer, Privatvergnügen, wenn dem NochNicht-Bawußten nicht ein Noch-Nicht-Gewordenes objektiv gegenübersteht. Dieses Noch-Nicht-Gewordene ist das Korrelat des Noch-NichtBewußten. Wenn und so oft aber das Noch-Nicht-Bewußte in seinen Akten und Inhalten etwas taugt, ist es eine mentale Repräsentation, also eine seelische Stellvertretung für Noch-Nicht-Gewordenes draußen. Dies Noch-Nicht-Gewordene ist das, was eben in den äußeren Verhältnissen im Schwange ist, Zukunft, die sich erst bildet (Leibniz, Hegel, Marx). Wo das fehlt in den äußeren Verhältnissen, wo also die Reife der Bedingungen fehlt und die Tendenz noch zu schwach ist, haben wir die zu früh gekommenen Genies, vor allem die politischen Genies, wie z. B. Thomas Münzer, die Quäker mit ihren humanen und philanthropischen Träumen u. a. Hier stimmte es außen nicht, es gab keine Antwort, es war keine Gnade dabei, wenn das Noch-Nicht-Bewußte der Intention keine objektiv-reale Tendenz zu seinem Verbündeten hat, in der impliziert ist eine Latenz des sich gerade objektiv erst Bildenden. Das Noch-Nicht-Bewußte muß sich in gleicher, mindestens verwandter Schwimmrichtung befinden, in einer das bisher Gegebene objektiv selber überholenden, sonst haben wir nur privat bleibende Wunschträume. Oder es entstehen über das Private hinaus die bloß abstrakten Utopien sozialer und anderer Weltverbesserung; sie entstanden so freilich 11

auch als große, als sonderlich ehrwürdige Vorläufer eines wissenschaftlich werdenden — immer noch nicht gewordenen — Sozialismus bei Th. Morus, Campanella, dann, schon mit Bezug auf industrielle Gesellschaft, bei Fourier, Owen, Saint Simon; und als erste technische Utopie in der „Nova Atlantis" Francis Bacons. Gemeinsam ist den abstraktsozialen Utopien die Überholung der vorhandenen Gesellschaft durch eine überwiegend im Kopf ausgemalte, auskonstruierte — eben ohne konkreten Bezug der subjektiv-utopischen Intention auf den Fahrplan, auf die Reife der Bedingungen, auf die objektiv-utopische TendenzLatenz, auf reale Möglichkeit in Wirklichkeit selber. Erst mit letzterem Bezug entsteht statt abstrakter konkrete Utopie. Konkrete Utopie stellt also kein Paradox dar, sondern bezeichnet den Einklang mit der Tendenz und Latenz, wo aber die Tendenz führt und relativ erfüllt wird und dialektisch sich durchsetzt. Das ist also der Fundus und das Fundament des Utopischen, das höchsten Rang hat und, bei Strafe des Untergangs, genaues Nachdenken mit Gewissen und mit Eingedenken verdient und die ganze Generalstabsarbeit von Planung philosophisch führt. Hier finden wir nun eine Trennung, die sehr wichtig ist und die jeder erlebt, die große Entwertungen des Utopischen möglich macht und auch einen etwas strapaziösen Heroismus im Gefolge zu haben scheint. Zwei Dinge fallen nicht zusammen: die Nah-Antizipation und die Fern-Antizipation. NahAntizipation ist, daß das Erwünschte von uns auch noch erfahren werden kann. Die Fernziele der Hoffnung sollen gar nicht so weit gesteckt sein, sonst geschieht, daß Menschen fragen können: was geht mich das an?, oder daß Unmenschlichkeiten entstehen. Der nahe Vorgriff hat seinen Rang darin, daß er keine Lebenden bewußt verheizt für später Geborene. 1907, nach der ersten russischen Revolution, der mißlungenen, als die Kerker sich gefüllt hatten und die Galgen etwas zu tun bekamen, erschien ein Roman von Artzibaschew, „Sanin", in dem eine nachdenkliche Frage gestellt ist: „Wozu soll ich mich aufhängen lassen, damit die Arbeiter des 32. Jahrhunderts keinen Mangel an Nahrung und Geschlechtsgenüssen haben?" Sanin kehrt sich epikureisch ab f ü r sich selbst. Die Gefahr dabei ist, daß die Utopie krauchend-evolutionistisch wird, daß sie sich entspannt, daß sie sich, wie einmal Benjamin sich ausdrückte, n u r noch auf eine „stufenweise Verbesserung der Gefängnisbetten" richtet. Das bedeutet keine edite Zukunft. Das andere nun ist das Antizipierende schlechthin, das das „Reich der Freiheit" politisch-soziologisch im Sinn hat und, wie man fälschlich sagt, die säkularisierte Form der Freiheit der Kinder Gottes. Populär gesagt: der fern-antizipierende Vorgriff hat es mit dem sogenannten Himmelreich auf Erden zu tun. Das hat alle sozialen Bewegungen erfüllt, alle Ketzerbewegungen, in dem Sinne allerdings, daß wir es selbst 12

noch erleben: „Noch heute wirst- du mit mir im Paradiese sein!" Iii diesem Satz von Jesus am Kreuz zu dem Schacher steckt, daß wir alle lebenden Leibes ins Paradies eintreten werden. Philosophisch dagegen hat der fern-antizipierende Vorgriff es mit dem utopischen Totum selber zu tun, ohne dessen Gewissen wie Eingedenken immer wieder bloßer Praktizismus — von der Hand in den Mund leben — hervortritt. Ohne dieses Totum kann, revolutionär-politisch gesprochen, nicht einmal ein Bergarbeiterstreik in Siebenbürgen geführt werden, wenn nicht noch etwas darüber ist, was über 5 Pfennig hinausgeht. Ohne dieses Totum sind keine großen Weltveränderungen, auch nicht die nicht-revolutionären, hervorgerufen worden. Man muß in so großen Angelegenheiten über das Ziel hinausschießen können, um es zu treffen. Audi kann gerade die Abweichung, gar der Verrat am rechten Weg durch den totalen Orientierungspunkt — im Sozialismus: Herstellung des Reichs der Freiheit — am schärfsten erkannt, gemessen werden. Es zeigt sich hier nun aber auch das Problem der anderen Seite; bei allem utopischen Totum droht gleich wieder die Gefahr des Verheiztwerdens, eine Karikatur des Totums, eine bis jetzt nicht abgeriegelte oder verriegelte Möglichkeit zur Unmenschlichkeit, indem nicht mehr an den Menschen gedacht wird. Hier ist also die Schwierigkeit bei beiden Formen der Antizipation bezeichnet, die Verführung, die beide haben, und die Unabdinglichkeit beider — ein Grundproblem in der Antizipation, in der Planung; Planung überhaupt. Nah-Planung gibt es nicht ohne Fern-Planung, es hilft nur, beide in einer so gütigen wie weisen Montage von Etappe und Ziel zu vereinen: einer Montage von Liberalität — ohne schlechtes ,von der Hand in den Mund leben' — und die Invarianz der Richtung und ihres allemal kritischen Maßes, also eines utopischen Totums ohne alle lebenvernichtende, gerade auch Utopie vernichtende Totalität. Wie kann dieses in Verbindung kommen, nicht durch Festlegung des Ziels selbst, wodurch Terror erzeugt wird und das Totum als erreicht dargestellt wird? Es ist die Frage, wie weit dieser Gedanke von Noch-Nicht aus NichtBewußtem und Nicht-Gewordenem und die Kategorie objektiv-realer Möglichkeit ihre Eintrittsstelle in die einzelnen Wissenschaften haben. Die Tagung hier wird in diesem Punkt notwendig weiterführen, diesen sehr dialektischen Motor des Noch-Nicht in den Wissenschaften zu zeigen und endlich ihn arbeiten zu lassen, also in der Psychoanalyse, in der Psychologie, in der allzu positivistisch und stromlos gewordenen Soziologie, — ich spreche, da die Zeiten sich wenden —, in der Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie, in den verschütteten Problemen der Naturphilosophie, in der endlich die Kategorie Qualität in der Natur wieder gegen Formalismus und Quantifizierung älterer Art zur Geltung 13

kommt, im Problem einer Teleologie in den Naturvorgängen endlich: das liegt alles in dem Horizont von Noch-Nicht. Ohne utopischen Begriff, so scheint es durchaus, gewinnt gerade die Wissenschaft keine Planung ihres wirklichen Wohin und Wozu, und die dauernd vorausgesetzte, ja implizierte Teleologie der Planung gewinnt keine Wissenschaft. Das also ungefähr wäre das, was als Problemtafel im Rohstoff hier aufzurichten wäre. Träume, Nachtträume, verschieden von Tagträumen — Wunschträumen am Tage —, Tagträume eröffnen ein riesiges Reich von Noch-Nicht, in verschiedener Verantwortung, medizinisch, sozial, technisch, geographisch, künstlerisch, religiös, Wunschlandschaften in Malerei, in Dichtung, Oper, und die vielen Religionsinhalte, die alle gefüllt sind mit Erwartung von etwas nicht Vorhandenem und mit dem Gewissen des Eingedenkens, wie es in einem Psalm heißt: „Meine Rechte soll verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem." Alle unsere Träume und Antizipationen von möglicher Realität werden gewiß nicht in ein Planungsbüro verwiesen — gerade die wichtigsten nicht, und darunter auch jener nächste nicht, der Freiheit, Muße, schließlich terra incognita der Freiheit heißt. Wie oft stehen dann nur circenses als einzige bis jetzt gebliebene Auskunft, oft als Ausdruck des nackten ideologischen Betrugs oder aber der bloßen übertünchten Langeweile, Melancholie, hereingeschickt vom Nihilismus. Dennoch ist der Prozeß um einen Sinn unserer Welt bis jetzt zwar gewiß nicht, am wenigsten sogar, gewonnen, aber auch noch nicht, durchaus nicht verloren. Hier steht die Welt als Experiment vor Augen, als höchst laborierendes Laboratorium ihrer ausstehenden Sinnfindungen selber. In einem frühen Buch „Geist der Utopie" habe ich vor sehr langer Zeit den Satz geschrieben: „So ist der Marxismus in der Lage, eine Kritik der reinen Vernunft zu sein, zu der die Kritik der praktischen Vernunft noch nicht geschrieben worden ist." Die Kritik der reinen Vernunft ist die Darstellung des naturwissenschaftlichen Determinismus, also der Newtonschen Welt, die hier philosophisch reflektiert wird: wie ist sie erkenntnistheoretisch möglich? Da gibt es einen schmalen Ausweg, in dem Ideen des Unbedingten vorkommen, die in der Welt nicht enthalten sind und auch nicht wissenschaftlich gedacht werden können, aber Postulate sind und Antizipationen sind; die ihren Wert haben nicht im Sinn des Erkanntwerdens, aber im Sinn der Forderung des Moralischen, das vorangeht, damit überhaupt recht gelebt werden kann. D. h. damit es Freiheit gibt, und Kant fügt nun traditionell hinzu: Gott und Unsterblichkeit. Aber halten wir uns an die Freiheit. Und es gibt den Satz von Kant in den „Träumen eines Geistersehers", wo der vorsichtige, penible, pünktliche, grundehrliche Kauz sagt: „ D i e . . . Waage ist doch nicht ganz unpartheyisch und ein Arm 14

derselben, welcher die Aufschrift führt, , H o f f n u n g und Zukunft' macht, daß Gründe und Argumente, wenn sie in die ihm angehörige Waagschale fallen, an sich schwerer wiegende Gründe und Argumente auf der anderen Waagschale in die Höhe ziehen. Dies ( — schließt Kant —) ist die einzige Unrichtigkeit, die mir bewußt ist in meinem Denken, die ich nicht beheben kann, aber auch wohl nie beheben will." Also dieses ist Inhalt von praktischer Vernunft, in Verbindung mit der reinen Vernunft, also der Lehre des Determinismus zu setzen. Die Hauptsache wäre, Einheit zwischen Nah- und Fernzielen herzustellen, humane Einheit herzustellen, eine Realität, die zwei Forderungen entspricht: Sozialismus und Demokratie, die ohnehin sich nahe beistehen könnten, per definitionem, wenn es so weit wäre, daß der Sozialismus anfinge zu beginnen. Aber nicht nur das: sondern auch das, was im Christentum einmal bedacht oder gemeint war, ohne das Pfäffische, ohne die Herrschaftsideologie und die Duckmäuserideologie, die von der Verwaltung des Christentums her durch die herrschende Klasse hier eingedrungen sind — es bleibt ein Rest, und dieser ist dem demokratisch-sozialistischen Humanismus nicht so außerordentlich fremd, er geht in die Tiefe der Sache hinein. Vergessen wir nie den Satz, mit dem Marx seine Doktor-Dissertation schloß — er war noch ein reiner Idealist — : „Prometheus ist der vornehmste Heilige im philosophischen Kalender".

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Voraussage als Ziel und Problem moderner Sozialwissenschaft: Von K u r t

Sontheimer

Es gilt in der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation unserer Tage als besonders fein und progressiv, die Zukunft in den Blick der Wissenschaft zu bannen, Realitäten zu antizipieren, Wissenschaft und Planung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Während für die primitiveren individuellen Bedürfnisse der Zukunftsforschung die überkommenen Methoden der Astrologie, der Handlesekunst und Weissagerei auch im Zeitalter des Atoms nach wie vor ihre von vielen geschätzten Dienste tun, während der Zukunftsroman als literarische Gattung der science-fiction den Lesekonsum auf das nachhaltigste bestimmt, ist im Raum der Wissenschaft selber eine Art Fieber nach der Zukunft ausgebrochen. „Futurologen" zeigen uns „Wege ins neue Jahrtausend", entwerfen „Modelle für eine neue Welt", halten ein „Plädoyer pour l'avenir", lehren uns den „Griff nach der Zukunft", stecken „Möglichkeiten und Grenzen einer Zukunftsforschung" 1 ab. Die verschiedenartigsten Bestrebungen überkreuzen sich dabei und erschweren die Analyse des Materials. Manche, darunter nicht wenige Naturwissenschaftler, verstehen unter Zukunftsforschung vor allem Friedensstrategie, d. h. die Suche nach den Bedingungen und Garantien eines Friedens, der wenigstens insoweit Friede ist, daß die menschheitszerstörende Vernichtungskraft atomarer Waffen sidi nicht auszuwirken vermag. Andere verquicken mit ihrer Betonung der Zukunftsforschung ein recht offenkundiges Bedürfnis nach „Planifikation". Sie wollen der vielgeschmähten Idee der Planung, des vorsorgenden Gestaltens, zumindest in Deutschland wieder größeres Ansehen verschaffen. Was aber kann es überhaupt bedeuten, die Zukunft erforschen zu wollen? Sollen Wissenschaftler zu Propheten, wissenschaftliche Monographien zu Büchern der Weissagung werden? Die moderne Bewegung in Richtung auf eine Zukunftsforschung glaubt sich deutlidi von den bislang üblichen Mitteln der Zukunftsdeutung abzuheben. Sie versteht sich von wissenschaftlichen Prämissen her, und ihre Sorge um die Zukunft gilt der Entwicklung einer Welt, die durch die Entdeckungen und Leistungen von Wissenschaft und Technik geprägt ist und Tag für Tag intensiver durch sie geprägt wird. 2 16

Die Zukunft zu erforschen, den Gang der Dinge zumindest in bestimmten Bereichen voraussagen zu wollen, ist positiv erklärbar als ein Versuch des Menschen unserer Zeit, seine gesteigerte Verantwortlichkeit maximal zu gebrauchen. Menschliches Handeln greift stets in die Zukunft hinein; es wird bestimmt von Entscheidungen, die Folgen für die weitere Zukunft haben. J e klarer unser Bild von der Zukunft ist, je objektiver uns ihre Vorstellung gelingt, desto zielbewußter und verantwortlicher können wir handeln. Der Vorausblick in die Zukunft wird erstrebt, um richtiger handeln zu können. „ N o u s voulons prévoir pour agir". 3 Die ernsthaft betriebene Zukunftsforschung will mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden die Zukunft in ihren Blick fassen. Sie gewinnt dadurch Einsichten, die als verläßlichere Orientierung für soziales Handeln dienen können. I. Voraussagen ernsthafter Natur, gewonnen aus der Kombination von geschichtlicher Erfahrung und visionärem Weitblick, hat es im Laufe der Menschheitsgeschichte mannigfach gegeben. Wenn manche solcher Ausblicke in die Zukunft sich durch die Geschichte bestätigt fanden, so ist doch das Feld der historischen Prognostik weit eher die Trümmerstätte nicht eingetroffener Voraussagen. Am gründlichsten hat sich vielleicht der große C o n d o r c e t geirrt, der fünf Jahre vor Ausbruch der französischen Revolution, deren Opfer er selbst wurde, schrieb: „Es ist sehr wahrscheinlich, daß wir in Zukunft weniger große Veränderungen und weniger große Revolutionen zu verzeichnen haben werden als in der Vergangenheit!" 4 Der Fortschritt der Aufklärung, den er allenthalben in Europa wahrzunehmen glaubte, schien Condorcet Garant genug dafür, daß Kriege und Revolutionen künftig nicht mehr dieselbe Rolle spielen würden wie bisher. Quelle illusion! Welche Gewähr haben wir, daß die Futurologen von heute sich nicht ebenso gründlich irren wie die Prognostiker von einst, und wer möchte uns anraten, ihren Spekulationen gläubiger zu vertrauen? Hören wir uns an, was sie selbst vorzubringen wissen: Es handle sich heute nicht mehr um intuitive, auf subjektiver Erfahrung und Phantasie beruhende Spekulationen wie ehedem, es gehe um wissenschaftlich gesicherte Vorhersagen. Wissenschaft und Vorhersage gehörten zusammen. Tatsächlich ist die Vorhersage (Prédiction) ein konstituierendes Element des modernen Wissenschaftsbegriffes: Wenn es das Ziel der Wissenschaft ist, Gesetzmäßigkeiten im Bereich der organischen und anorganischen N a t u r aufzufinden, zu formulieren

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Universitätstage 1965

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und anzuwenden, dann ist die Vorhersage tatsächlich nichts anderes als die Anwendung solcher Gesetze auf die Zukunft. Sind sie universal gültig, so müssen dieselben Ursachen in der Zukunft dieselben Wirkungen hervorrufen wie in der Vergangenheit. Gelingt es also den Wissenschaften vom Menschen, Gesetze menschlichen und sozialen Verhaltens von ähnlicher Stringenz und Universalität zu formulieren, wie den Naturwissenschaften in bezug auf die Natur, so muß es ihnen auch möglich sein, künftige Reaktionen von sozialen Gruppen vorauszusagen, daß heißt Geschichte vorauszubestimmen. Es ist verständlich, daß viele Sozialwissenschaftler, die nur einen Wissenschaftsbegriff — den naturwissenschaftlichen — anerkennen, und einen qualitativen Unterschied zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften andererseits nicht zu sehen imstande sind, ihre Disziplinen für beängstigend unterentwickelt halten: zu faszinierend und greifbar ist der die Welt verändernde Erfolg von Naturwissenschaft und Technik. Wie einst Sisyphos sind diese „social scientists" bemüht, die Voraussetzungen für vergleichbare Erfolge der Sozialwissenschaften zu schaffen, doch der Erfolg läßt noch auf sich warten; man ist dem schon früh verheißenen Ziel nicht greifbar nähergerückt. A u g u s t e C o m t e , der große Lehrer des Positivismus und missionarische Begründer der modernen Soziologie, hat das Leitmotiv der Voraussage bereits an der Wiege der Sozialwissenschaft angeschlagen. Comte hat an der prinzipiellen Identität von Natur- und Sozialwissenschaft nicht den geringsten Zweifel gelassen. Ihm war es eine bare Selbstverständlichkeit, daß Vorhersage das eigentliche Ziel der Wissenschaft sei ¡„Vorhersicht ist das Ziel jeder Wissenschaft. Die Beobachtung der Phänomene führt zur Formulierung von Gesetzen und mit ihrer Hilfe können wir die Aufeinanderfolge der Geschehnisse voraussagen." Manche Sozialwissenschaftler stehen noch heute, wie schon seinerzeit Comte, im Banne der Astronomie. So wie es den Astronomen möglich war, die Veränderungen im Laufe der Gestirne exakt vorauszusagen, so sollte es mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode auch den Soziologen möglich sein, die sozialen Wandlungen der Zukunft vorherzubestimmen. „Es ist dem menschlichen Geiste völlig gemäß", so lesen wir bei Comte, „daß seine Beobachtung der Vergangenheit ihm die Bewegung der Zukunft in der Politik enthüllt, ganz wie es im Bereich der Astronomie, Physik, Chemie und Physiologie geschieht." Ja, es sei das eigentliche Ziel einer polirischen Wissenschaft, eine solche Bestimmung der Zukunft nach dem Vorbild der anderen positiven Wissenschaften vorzunehmen5. 18

II.

Uber hundert Jahre nach Comte ist die positivistische Sozialwissenschaft noch immer prinzipiell davon überzeugt, daß die Voraussage ein notwendiger Bestandteil ihrer Wissenschaft ist, ja, daß sie das eigentliche Kriterium für die Höhe der Wissenschaft darstellt, aber die Erwartungen in diesem Punkte sind bescheidener geworden, die Hoffnungen gedämpfter, das Bewußtsein der in der Natur der Sache begründeten Schwierigkeiten sozial-wissenschaftlicher Voraussagen geschärfter. Zwei Reaktionen sind m. E. typisch für die heutige Lage: Entweder man schraubt die wissenschaftlichen Ansprüche zurück und behauptet mit dem amerikanischen Wirtschaftshistoriker C h a r l e s A. B e a r d e , daß es keine SoziiXwissenschaft im gültigen Sinne des Begriffs „Wissenschaft" geben könne, denn gäbe es eine solche, so müßte sie uns wie die Astronomie voraussagen können, was in den vor uns liegenden Jahren geschehen wird — oder aber man dreht den Spieß um und prüft eingehend, ob denn die Naturwissenschaft selber diesem astronomischen Ideal genauer Vorhersehbarkeit genügt und in der Lage ist, universale und ad infinitum gültige Gesetzmäßigkeiten zu finden. Zeigt es sich, daß der Vergleich mit der Astronomie untypisch für den Gesamtbereich naturwissenschaftlicher Forschung ist, dann ist die Lage der Sozialwissenschaften alles andere als hoffnungslos. Der unter einem offensichtlichen Minderwertigkeitskomplex leidenden positivistischen Sozialwissenschaft kommt dabei zustatten, daß der Wissenschaftsbegriff in der Naturwissenschaft jüngster Prägung nicht mehr jene Eindeutigkeit besitzt, die ihm immer zugeschrieben wurde und die viele Sozialwissenschaftler noch naiv unterstellen. Ein Teil der neueren wissenschaftlichen Literatur über den Wissenschaftscharakter der Sozialwissenschaften hat demzufolge einen auffallend beschwichtigenden, ja tröstenden Charakter. Die Mängel der Sozialwissenschaft, die in Punkto Exaktheit ihrer Aussagen gewissermaßen dafür bestraft wird, daß sie es mit Menschen zu tun hat, werden zwar im Vergleich nicht aufgewogen aber doch gemildert durch beruhigende Meldungen über die Begrenztheit auch der Naturwissenschaften, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Fähigkeit, allgemein gültige Gesetze zu formulieren, wie vor allem im Blick auf ihre Kraft, exakte Voraussagen des tatsächlichen Geschehens zu formulieren. So versichert E r n e s t N a g e l in seinem bedeutsamen Werk über „The Structure of Science"7, daß auch im Bereich physischer Forschung die Möglichkeit der Voraussage begrenzt sei. Nur aufgrund der Isoliertheit des Sonnensystems sei die Astronomie überhaupt zu langfristigen exakten Voraussagen befähigt. In anderen Forschungsbereichen der Naturwissenschaften könne von langfristigen Voraussagen nicht die Rede sein, und vielfach fehle auch die 19 2*

genaue Kenntnis der Ausgangsbedingungen, um mit Hilfe der bestehenden Theorien präzise Voraussagen machen zu können. So könnte man zum Beispiel kaum voraussagen, wohin ein Blatt, das von einem Baum fällt, innerhalb von zehn Minuten durch den Wind getragen werde. Nun, derlei Tröstungen vermögen den grundsätzlichen Unterschied zwischen einer Wissenschaft von der Natur und einer Wissenschaft vom Menschen zwar geschickt zu verschleiern, aber nicht im Ernst zu beseitigen8. Welches Interesse haben wir denn, im voraus zu erfahren, wohin ein Blatt geweht wird? Geht es aber um die Berechnung der Kraft, die nötig ist, um eine Rakete in einer bestimmten Entfernung ins Ziel zu bringen, so hat die Möglichkeit der Berechenbarkeit und Steuerung von mechanischen Abläufen durch die Wissenschaft ein völlig anderes Gesicht und Gewicht. Und darauf kommt es doch zweifellos an! Die Fähigkeit der Sozialwissenschaft, Voraussagen über künftiges Verhalten zu machen, beruht angeblich auf der Chance, universale Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens zu entdecken. Das Operationsfeld für diese Forschung ist die Geschichte. Da aber empirische Untersuchungen, wie das moderne Verständnis von Sozialwissenschaft sie fordert, nur in der Gegenwart möglich sind, oder allenfalls für jenen winzigen Zeitraum der Menschheitsgeschichte verfügbar, seitdem es empirische Sozialforschung gibt — da überdies diese Forschungsmethoden auch in ihrer räumlich-geographischen Anwendung noch immer außerordentlich beschränkt sind, sodaß zu dem chronologischen Provinzialismus ein topologischer noch hinzutritt, — ist die Hoffnung, universale soziologische oder anthropologische Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, äußerst gering. Das scheint wenig zu schrecken, obwohl man um des großen Zieles willen von all dem abstrahieren muß, was den Menschen zur konkreten Existenz formt, von seiner Umwelt, seiner Geschichte, den Zwecken, die seine Handlungen bestimmen und so fort. Soziologie als Gesetzeswissenschaft zeichnet sich darum, sofern es sie gibt, durch zwei Merkmale aus: Sie erhebt Trivialitäten, jedermann einsichtige Allgemeinheiten in den Rang wissenschaftlicher „Gesetze", oder sie flüchtet sich in Abstraktionen, die für das Verständnis konkreter sozialer Sachverhalte so gut wie nichts besagen, in ihrem sprachlichen Gewand hingegen das Air höchster, wenn auch sterilisierter, Wissenschaftlichkeit atmen. Der Amerikaner H a r t hat z. B. ein Gesetz der kulturellen Akzeleration formuliert, demzufolge seit Bestehen der Menschheit die Kraft und Möglichkeit des Menschen, seine Zwecke durchzuführen, biblisch gesprochen: sich die Erde Untertan zu machen, in beschleunigtem Rhythmus gewachsen ist. Oder T a 1 c o 11 P a r s o n s hat als erstes von vier Verhaltensgesetzen formuliert: Ein 20

Handlungsprözeß wird sich in seiner Richtung und Kraft nicht ändern, sofern er nicht von Gegenkräften aufgehalten oder vernachlässigt wird. Es ist, wie diese Beispiele zu erkennen geben, wohl wenig fruditbar, mit derartigen, zu Gesetzesformeln erhobenen und abstrakt formulierten Quasi-Selbstverständlichkeiten eine echte Wissenschaft des Sozialen aufbauen zu wollen, die der Naturwissenschaft neidlos an die Seite treten könnte. Schon M a x W e b e r , von vielen Positivisten fälschlich zu ihrem Ahnherrn erkoren, hat in seiner Wissenschaftslehre deutlich gemacht, daß in den Kulturwissenschaften der Grundsatz der umfassenden Generalisierung nur begrenzt einen Sinn haben könne, ganz im Gegensatz zur Naturwissenschaft. J e umfassender man eine Gesetzmäßigkeit im sozialen Bereich formuliere, desto inhaltsleerer sei sie, und desto unbrauchbarer für das Verständnis des wirklichen Geschehens. Max Weber hat deshalb nicht Gesetze, sondern Idealtypen menschlichen Handelns und sozialer Institutionen zu formulieren versucht. Seine Methode war die des Erklärens durch Verstehen. Dennoch hält sich unter den modernen Sozialwissenschaftlern, vor allem seit man in Soziologie und Politikwissenschaft der „behavioral persuasion" (H. Eulau)® erlegen ist, hartnäckig die Überzeugung, es sei ihre Aufgabe „to discover the laws of human behavior which can serve as a basis for accurate prediction and control" 1 0 . Die Verbindung von Voraussage mit Kontrolle ist symptomatisch. Kontrolle ist die lenkende Beeinflussung und Beherrschung des sozialen Objekts. Die wissenschaftlich begründeten Möglichkeiten, auf Menschen einzuwirken, ihr Verhalten zu beeinflussen, sie in bestimmter Weise zu konditionieren, sind durch die Entwicklung der modernen Humanwissenschaften und -techniken in der Tat gestiegen. Mit ihnen wachsen die Chancen psychischer Manipulation und Konditionierung der Massen, und Voraussagen mögen in dem Grade effektiver werden, in dem es gelingt, den Menschen psychisch zu kontrollieren. Der beängstigende Traum von einer Wissenschaft des Sozialen, die es an Erfolg, Präzision und Wirkungskraft mit der Naturwissenschaft aufnehmen könnte, ist von A l d o u s H u x l e y in seiner Utopie der „Brave New World" zu Ende geträumt worden. Eine solche Auffassung von Sozialwissenschaft, ließe sie sich praktizieren und ließen die Menschen sie zu, würde in die Errichtung einer immensen sozialen Planungs -und Konditionierungsapparatur münden, die skrupellos einzusetzen selbst bewußt totalitären Systemen noch schwer fiele. Wer als Sozialwissenschaftler die Voraussage in Verbindung mit der Kontrolle zum allgemeinen, intensiv anzustrebenden Ziel erhebt, arbeitet, vielleicht ohne es zu wollen, an der Zerstörung der Freiheit. Paradoxerweise kommt der Impuls der meisten modernen Sozialwissenschaftler, es den Naturwissenschaften gleichzutun, aus eben den

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Folgen, welche die •wissenschaftlich-technische Revolution für die Gesellschaft gezeitigt hat. Die Idee des cultural lag, des bedrohlichen Unterschiedes zwischen einer hochentwickelten technischen Kultur und einer ihr ungenügend angepaßten sozialen Kultur, hat zu der Forderung geführt, im moralischen und sozialen-institutionellen Bereich müsse sich dieselbe Macht und Wirksamkeit der Wissenschaft entfalten wie in der technischen Welt. Die bewegte Klage über das Auseinanderklaffen von tedinischen-wissenschaftlidier Sphäre und sozialem Bewußtsein erklärt wenigstens zu einem Teil das krampfhafte Bemühen vieler Sozialwissenschaftler, aus ihrer Disziplin eine Wissenschaft, eine true science ohne Fehl und Tadel zu entwickeln. Die cultural-lag-Theorie wird im Atomzeitalter mit dem beschwörenden Postulat verbunden, nur greifbare Fortschritte der Sozialwissenschaften im Sinne ihrer Verwissenschaftlichung könnten die Menschheit vor der Katastrophe bewahren. Zur erfolgreichen Bewältigung der technischen Probleme müßte die ebenso erfolgreiche Bewältigung der sozialen Probleme hinzutreten, wenn die Welt nicht im Chaos enden wolle. Das ist im Kern richtig, die Frage ist nur, ob es einer Sozialwissenschaft, die sich als empirische versteht und dem Prinzip der Wertfreiheit huldigt, gegeben sein kann, moralische Probleme zu lösen, es sei denn sie betreibt massives „social engineering". Wer die Wissenschaftlichkeit der Sozialwissenschaft an denselben Kriterien messen will wie die Naturwissenschaften, geht falsche Wege. Der „cultural lag" ist durch „Ver-Naturwissenschaftlichung" der Sozialwissenschaften nidit zu überwinden. Die Hoffnung, exakte Voraussagen, wenn auch vorerst nur begrenzter Art machen zu können, ist trügerisch. Die radikale Antwort des bekannten positivistischen Wissenschaftstheoretikers K a r l P o p p e r ist klar und überzeugend: Der Lauf der Geschidite wird durch die ständige Vermehrung menschlichen Wissens entscheidend beeinflußt. Da es aber unmöglich ist, durch rationale Methoden das Wachstum und den Gehalt unseres künftigen Wissens vorauszusagen, ist die Geschichte prinzipiell nicht vorhersehbar11. Von einer ganz anderen philosohischen Position kommt der Naturrechtler L e o S t r a u s s zum gleidien Ergebnis: Jene Wissenschaft, so schreibt er, der man nachsagt, daß sie durch „prediction" den Zufall ausschalten könne, werde selbst zum Refugium des Zufalls. Das Schicksal des Menschen sei heute nämlich mehr denn je abhängig von Wissenschaft und Technik, den Entdeckungen und Erfindungen, die sie machen. Doch handle es sich hierbei um Ereignisse, deren genaues in Erscheinung-Treten überhaupt nicht voraussagbar sei12. Die Unvorhersehbarkeit neuer Entwicklungen wäre somit geradezu ein Signum des wissenschaftlichen Zeitalters. 22

III. Heißt dies nun, daß Voraussage gar kein sinnvolles, erstrebenswertes Ziel der Sozialwissenschaft sein kann? Es wird nötig zu differenzieren: Eine exakte Vorausberechnung menschlicher Aktionen und konkreter Ereignisse in der Zukunft ist ausgeschlossen, und zwar nicht nur weil die Faktoren, die menschliches Handeln bedingen, viel zu komplex sind, zu reich an Variablen, um korrekt in eine wissenschaftliche Vorausberechnung eingesetzt werden zu können, sondern weil Menschen im Gegensatz zu Stoffen die Eigenschaft haben, auf Voraussagen zu reagieren. Sie tun es entweder dadurch, daß sie, sich negativ verhaltend, ihr Eintreffen zu verhindern suchen und die Prognose durch ihre AntiAktion ins Unrecht setzen, oder aber, daß sie an die Voraussage glauben, ihren Willen aktivieren, um ihr Recht zu geben, und sie eben dadurch erfüllen (self-fulfillung prophecy). Wenn es der Sinn von Voraussagen der Zukunft sein soll, unser Handeln zu beeinflussen, und wir in Rechnung stellen, daß Zukunftsvorstellungen der verschiedensten Qualität menschlichen Handelns ohnehin prägen, dann ist es ebenso unerläßlich, von der naiven Vorstellung exakter wissenschaftlicher Voraussagekraft im sozialen Bereich Abstand zu nehmen, wie andererseits geboten, die Zukunftsbilder, nach denen wir wohl oder übel unser Handeln ausrichten, möglichst realitätsnah zu gewinnen. Es liegt auf der Hand, daß die Gewinnung eines realitätsnahen Bildes der Zukunft nur mit Hilfe der Wissenschaft erreicht werden kann, wenn auch nicht — wie dargetan — durch bloßes Sich-Verlassen auf die Automatik der sogenannten Wissenschaftlichen Methode. Die Treffsicherheit einer wissenschaftlichen Voraussage über die gesellschaftliche Entwicklung ist um so größer, je geringer Umfang und Intensität gesellschaftlichen Wandels sind. Fänden keinerlei soziale Veränderungen statt, so würde schon die präzise Analyse der Gegenwartslage ausreichen, um die Zukunft für einen begrenzten Zeitraum zu bestimmen, denn alle Bedingungen blieben sich gleich. Daraus ergibt sich, daß es leichter ist, einigermaßen zutreffende Voraussagen über die kommende Entwicklung in einer relativ statischen Gesellschaftsordnung zu geben als in der dynamischen Gesellschaft der Moderne. Die dynamische Gesellschaft unserer Epoche ist charakterisiert durch die schnellen Wandlungsprozesse, die sie durchmacht, sie ist geradezu definiert durch das Prinzip rapider Wandlung, als deren Hauptursache die Technologie gilt13. Die zu vollziehende Anpassung an diese Dynamik ist es, die das Bedürfnis nach Voraussagen so zwingend gemacht hat. Wir müssen heute an die Gesellschaft von morgen denken. Gewiß würde es ein 23

Morgen geben, auch wenn wir es nicht mit den Mitteln intellektueller Disziplin in den Blick zu nehmen suchten, aber es darf dem Menschen nicht gleichgültig sein, wie das Morgen aussieht. Seine Verantwortung für die Gegenwart impliziert die Verantwortung für die Zukunft. Die Voraussage im sozialen Bereich kann also auch der Intention nach nicht die Vorherbestimmung dessen sein, was eintreffen wird, damit man sich fatalistisch in das Vorherbestimmte füge; sie ist ein Mittel zur verantwortlichen Bewältigung der Zukunft. Sie erfaßt als Prognose die langfristigen Trends der gesellschaftlidien Entwicklung und fügt sich in sie alternative, politisch zu wägende und zu bestimmende Handlungsentwürfe ein. Die soziale Utopie als motivierender Aktionsgrund wird korrigiert durch die vorausschauende Kenntnis der Bedingungen des Möglichen. In den statischen Gesellschaftsordnungen der vorindustriellen Ära konnte man aus der Vergangenheit, dem Überkommenen lernen, sich auf das Kommende einzurichten. Das Verständnis der Geschichte und der Natur des Menschen machte weise für die Zukunft. Die dynamische Gesellschaft hat sich den Sicherungen und Traditionen der Geschichte entrissen. Sie ist ahistorischer als frühere Ordnungen. Der „Antihistorismus des gegenwärtigen Zeitalters" 14 ist u. a. eine Folge des Aufkommens futuristischer Haltungen, des modernen Bewußtseins, sich um der Zukunft willen von der Vergangenheit befreien zu sollen. Allerdings sind es keine großen Zukunftsentwürfe mehr, keine optimistischen Prognosen für eine bessere Welt wie bei Marx und dem bürgerlichen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts, keine pessimistisch resignierten Ausblicke wie bei' Toqueville und Jacob Burckhardt. Jene Zukunftsdeutungen sind charakteristisch für ein Zeitalter des Übergangs. In der Zeit solchen Umbrudis, des Ubergangs von der vorindustriellen Epoche zur Ära der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation ist durch K a r l M a r x ein Typus wissenschaftlicher Voraussage geschaffen worden, der die Zukunft der Gesellschaft einem unaufhaltsamen, eindeutig determinierten geschichtlichen Prozeß unterwarf. Alles Handeln der Beteiligten, sei es der Bourgoisie oder des Proletariats, war begriffen als bloße Emanation ihrer geschichtlichen Bestimmung. Die Marxsche Voraussage war die kühnste und folgenreichste, die wir kennen, aber wir wissen, daß entscheidende Stationen der von Marx wissenschaftlich vorausbestimmten historischen Entwicklung nicht erreicht worden sind, d. h. daß wesentliche seiner Voraussagen falsch waren. Karl Marx wäre an analytischer und visionärer Kraft allein T o c q u e v i l l e an die Seite zu stellen, dessen allgemeiner gehaltene Prognose vom unaufhaltsamen Fortschreiten der Demokratisierung, von der immer vollkommeneren Durchsetzung der „égalité des conditions" zweifellos eingetroffen ist. Der liberale französische Aristokrat unter24

scheidet sich von Marx durch seinen Pessimismus, aber auch durch' das Vertrauen in die Möglichkeit des Menschen, langfristigen Entwicklungen angemessen zu begegnen, indem er sie erkennt. Tocqueville will uns befähigen, das Unvermeidliche zu erkennen, um das Vermeidliche im Unvermeidlichen zu sehen. E r will den unaufhaltsamen historischen Prozeß der Egalisierung entschärfen zugunsten der Freiheit, die durch ihn tödlich bedroht ist und die es zu retten gilt. Die wissenschaftlich unterstützte Prognostik unserer Tage ist ganz anderer Natur. Sie hat nicht mehr den großen Atem der Entwürfe von Toqueville oder Marx. Eine Gesellschaft im Ubergang gebiert Utopien und Ideologien, Konzeptionen der verschiedenen sozialen Gruppen für die künftige Gestaltung der Gesellschaft. Eine durch das Prinzip fortschreitenden Wandels charakterisierte Gesellschaft, die alle sozialen Gruppen in ihren Sog reißt und alles den gleichen technologischen Bedingungen unterwirft, erfährt an sich selbst das Ausrinnen der Ideologien und Utopien, weil diese keine sozial fixierten Ansatzpunkte mehr finden. Stattdessen fordert sie eine Anpassungsbereitschaft an die Zukunft, nichts Geringeres als die Fähigkeit, sich der Veränderung als solcher anzupassen. Die sozialen Verhältnisse sind nidit mehr klar strukturiert, sondern in dauernder Bewegung. Orientierungspunkte für das Handeln können deshalb nicht mehr in erster Linie aus der Vergangenheit, der Geschichte, den fixierten sozialen Konfigurationen entnommen werden. Noch bestehende Utopien werden in die Zange wissenschaftlich begründeter Skepsis genommen. Eine Haltung wird nötig, die in Richtung auf die Zukunft offen ist; das Bild der Zukunft kann jedodi nur mehr ein wissenschaftlich kontrolliertes sein. „Sich an eine solche Gesellschaft anzupassen, bedeutet — sich an der Zukunft orientieren, um rechtzeitig die Änderungen zu erspüren, denen sie ausgesetzt sein wird, um schließlich kraft solchen Wissens sich ihnen anpassen zu können"! 1 5 IV. Es gibt heute grundsätzlich zwei Formen, diese Anpassung an die Zukunft zu vollziehen: einmal mit Hilfe der Planung, zum anderen auf dem Weg über die Voraussage. Planung ist etwas anderes als Voraussage: In ihr wird, ausgehend von der Analyse der gegebenen Bedingungen, eine für konkret erachtete Zukunftsmöglichkeit durch einen Willensakt bestimmt und als Ziel des Handelns proklamiert. Der bürokratische Medianismus der Planung hat dann dafür Sorge zu tragen, daß das gesteckte soziale Ziel erreicht werden kann. Moderne Planung muß in ihren Zielen von den wissenschaftlich ermittelten Möglichkeiten ihrer Realisierung bestimmt sein. Sie läßt sich in dem 25

Maße perfektionieren, in dem es gelingt, sidi auch die Menschen gefügig zu machen, d. h. sie als möglichst fixe Plandaten einzusetzen. Nach diesem Prinzip verfahren die Wirtschaftspläne der sozialistischen Länder. Sie setzen voraus, daß die allmächtige Planungsmaschinerie sich totalitär auf alle am Produktionsprozeß beteiligten Menschen erstreckt und den Spielraum individueller Freiheit einengt, ja überhaupt negiert. In Ländern mit einer freiheitlichen Verfassung kann und darf Planung nicht diesen freiheitszerstörenden Charakter annehmen: nicht nur wegen des dort vielfach praktizierten Modells einer relativ freien Marktwirtschaft im Gegensatz zur zentral gesteuerten verwalteten Wirtschaft, sondern wegen der den Individuen grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte. Die Grundsätze der vielgerühmten Planification französischen Musters zielen ab auf Koordination von freiheitlicher Individualplanung mit einem in großen Zügen festgelegten Generalplan. Die modernen Machtmittel des Staates sollen so eingesetzt werden, daß die staatlichen Interventionen der Erreichung des Planzieles dienen, ohne indes den Freiheitsbereich der Gruppen und Individuen auszuhöhlen. Die freien Gesellschaften scheuen und verabscheuen die totalitäre Planung als ein geeignetes Mittel, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Sie sind überdies durch die offenkundigen Mißerfolge totalitärer Planung belehrt worden, daß audi die perfekte, mit allen staatlichen Machtmitteln ausgestattete Planung eine gradlinige Progression in die Zukunft nicht zu sichern vermag. Besonders augenfällig sind die Unberechenbarkeiten im politischen Bereich, die sich unmittelbar auf die Planung auswirken. Zumindest von außen gesehen ist die Geschichte der sozialistischen Länder weitaus stärkeren Peripetien ausgesetzt als die Institutionen der westlichen Demokratien. Da sich das Instrument totaler Planung von Wirtschaft und Gesellschaft als inhuman und teilweise impraktikabel erwiesen hat, sind die freien Gesellschaften darauf angewiesen, ziemlich flexible Pläne zu entwerfen, vor allem aber, sich des Instruments der sozialen Voraussage zu bedienen. Voraussage hat hier nicht mehr den einfältigen Sinn, künftige Ereignisse exakt vorherbestimmen zu wollen. Sie wird zu einem Mittel der Politik, die zwischen rational konstruierten und wissenschaftlich begründeten Zukunfts-Alternativen entscheiden muß. Aufgrund der ihr unterbreiteten Darstellung von „futuriblen" 16 , den möglichen Entwicklungen im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bereich, soll sie angemessene Entscheidungen für die Zukunft treffen können. Der in der wissenschaftlichen Literatur verwendete Begriff der „Voraussage" (prediction) ist für das in diesem Zusammenhang heute zu Leistende und vor allem im Blick auf die gegebenen Möglichkeiten 26

der Wissenschaft irreführend. Er entstammt der Wissenschaftstheorie des Positivismus, die, wie eingangs dargelegt, den wissenschaftlichen Charakter der Sozialwissenschaft daran messen möchte, ob und wie gut es dieser gelingt, aufgrund einer Reihe von unumstößlichen Gesetzen über menschliches Verhalten genaue Voraussagen über künftiges Verhalten zu machen. Die kümmerliche Ausbeute dieser Bemühungen und vor allem der zunehmende Abstraktionsgrad der formulierten sozialwissenschaftlichen Hypothesen hätten eigentlich' Grund genug sein müssen, den ins Utopische verzerrten Wissenschaftsbegriff zu revidieren und ihn den realen Möglichkeiten und Erfordernissen einer Wissenschaft vom Menschen anzupassen. Was erreicht werden kann, ist nämlich nicht ein präzises Wissen der Zukunft, dessen Genauigkeit der wissenschaftlichen Exaktheit von Gegenwartsanalysen oder retrospektiven, also historischen Studien vergleichbar wäre, sondern eine intellektuelle Konstruktion der Zukunft unter entsprechender Einsetzung wissenschaftlicher Daten. B e r t r a n d d e J o u v e n e l , dem wir einen großartigen Traktat über die Probleme der Zukunftsforschung verdanken, hat seinen diesbezüglichen Reflexionen und Analysen den Titel: »L'art de la conjecture« gegeben.17 Damit ist zweierlei gesagt: 1. es handelt sich nicht um exakte Voraussagen, sondern um Mutmaßungen. 2. diese Konjekturen sind uns nicht als Alternativen der Zukunft von vornherein gegeben, und es bliebe uns nur noch, die wahrscheinlichste oder die wünschenswerteste dieser Möglichkeiten auszuwählen, sondern sie müssen von uns erst konstruiert, denkend entwickelt werden. Dieses Konstruieren, als intellektuelles Verfahren vergleichbar der Bildung eines Idealtypus im Sinne Max Webers, ist, wie Jouvenel ausdrücklich betont, ein Kunstwerk. Zwar jehen in ein solches hypothetisches Zukunftsmodell alle Kausalbeziehungen ein, die in dem gesuchten Zusammenhang eine Rolle spielen können, aber welche Bedeutung sie im einzelnen haben, wie die Faktoren einander zugeordnet, welche zusätzlichen Bedingungsfaktoren als ins Spiel kommend supponiert werden, das ist allein eine kombinatorische und divinatorische Leistung des menschlichen Geistes, kein Werk von Rechenmaschinen, die nur den Charakter von Hilfsmitteln habén können. Zukunftsforschung bedarf darum, dringender noch als die übliche wissenschaftliche Forschung, der Kritik, um nicht in pure Spekulation zu entarten. Solche Kritik ist aber n u r möglich, wenn die Konstruktion des Modells durchsichtig, seine Prämissen klar und seine Denkschritte erkennbar sind. Jouvenel macht auf einen weiteren wesentlichen Punkt aufmerksam. Die intellektuelle Bemühung um die Zukunft kann die futura, die künftigen Dinge nicht mit Sicherheit ergreifen, sie kann nur Möglichkeiten der Zukunft in den Blick fassen. Doch diese Möglichkeiten sind 27

begrenzt. Es kann sich verständlicherweise jeweils nur um die von der Gegenwart her als plausibel, denk- und realisierbar erscheinenden Möglichkeiten handeln. Zukunftsforschung im Sinne Jouvenels gilt also allein den künftigen Entwicklungen, die uns vom Gesichtspunkt der Gegenwart als die tatsächlich möglichen erscheinen, den sogenannten „futuriblen". Bemühungen dieser Art haben also sowohl einen zeitlidi fixierten Ausgangspunkt wie einen Endpunkt. Beispiele f ü r diese Art terminierter Zukunftsforschung bietet das internationale wissenschaftliche Unternehmen der „futuribles" unter Leitung Jouvenels in reicher Auswahl. Ich nenne einige Titel: „Die politischen Institutionen Frankreichs im Jahre 1970", „Die europäische Landwirtschaft im Jahre 1970", „Der westliche Mensdi im Jahre 1970"18 etc. Es ist unumgänglich, kurzfristige und langfristige Voraussagen, Voraussagen f ü r einen eng umgrenzten sozialen Bereich und solche umfassenderer N a t u r voneinander zu unterscheiden. Die Schwierigkeiten langfristiger und große soziale Bereiche umfassender Zukunftsforschungen liegt darin, daß man das Gesetz des Wandels als Antriebsmoment der modernen Gesellschaft stets mit einkalkulieren muß, die Zukunft sich also nicht einfach als verlängerte Gegenwart konstruieren darf. Die moderne Gesellschaft ist dank der wissenschaftlich-technischen Mittel, über die sie verfügt, wie eine Pandorabüchse von Wirkungen. Politik wird in ihr erst recht zu einer Kunst, das Mögliche zu tun. Politische Entscheidungen werden von einem bestimmten Zukunftsbild her motiviert. Ist es darum, zumal im Bereich weittragender politischer Entscheidungen nicht geboten, die entsdieidungsmotivierende Zukunftsperspektive des Politikers so genau wie nur möglich zu fixieren? Von den deutschen Parlamenten werden in diesen Monaten z. B. großzügige Maßnahmen zur Behebung des Bildungsnotstandes erwartet. Der Notstand ist proklamiert worden, nicht weil er jetzt schon krass existierte, sondern weil unter Beibehaltung der gegenwärtigen Bildungspolitik das deutsche Volk in einer vorausschaubaren Zukunft angeblich nicht mehr in der Lage sein wird, den intellektuellen Anforderungen einer hochentwickelten Industriegesellschaft zu genügen. Eine vorausgesagte Katastrophe f ü r die Z u k u n f t wird so zu einem akut empfundenen Notstand f ü r die Gegenwart. Unsere gegenwärtige Diskussion über die Notstandssituation unserer Bildungs- und Forschungsinstitutionen ist die Folge einer wissenschaftlich unterstützten Zukunftsprojektion. Die Entscheidungen der Gegenwart durch ein möglichst angenähertes Bild der Zukunft zu beeinflussen bzw. zu korrigieren, das ist der einleuchtende Sinn von Zukunftsforsthung. An den fatalen Versäumnissen der Vergangenheit, am Städtebau etwa oder im Bereich 28

des Verkehrs wird deutlich, daß Zukunftsforschung der angedeuteten Art eine dringende Notwendigkeit unserer Zeit ist, wenn rechtzeitig richtige Entscheidungen gefällt werden sollen.

V. Die Fähigkeit, Voraussagen zu machen, ist innerhalb der Sozialwissensdiaften unterschiedlich entwickelt.19 Am besten steht es in der Nationalökonomie, weniger gut im Bereich der Soziologie, wenn auch mit gewissen Ausnahmen, so vor allem in der Demographie. Am schlechtesten ist es in der Politischen Wissenschaft bestellt, vor allem deshalb, weil die politische Mutmaßung die bei weitem diffizilste ist. Die zu bewundernde Fähigkeit der Nationalökonomie, kurzfristige Voraussagen über die künftige Entwicklung der Wirtschaft oder bestimmter Wirtschaftszweige zu machen, hat wissenschaftliche und in der Natur der Sache liegende Gründe. Die enge Verbindung, welche die heutige Nationalökonomie mit der Statistik und ganz allgemein mit der Mathematik eingegangen ist, hat es erlaubt, Voraussagen zu präzisieren. Zwar ist die Mathematik entgegen mancher naiven Annahme kein Zaubermittel zur Erzeugung von Voraussagen, sondern nur ein Mittel, Voraussagen in eine meßbare Form zu bringen, aber in Verbindung mit der Tatsache, daß es sich im Bereich des wirtschaftlichen Verhaltens um Vorgänge von einer relativen Kontinuität handelt, die statistisch weitgehend erfaßbar sind, ist die Chance, zutreffende Voraussagen aufzustellen, größer als in anderen sozialen Bereidien. Das wirtschaftliche Verhalten der Individuen wechselt nicht sprunghaft; die Infrastrukturen der Wirtschaft: Rohstoffe, Betriebe, Arbeitskraft sind für kurze Zeiträume einigermaßen konstant. Wie vorsichtig die Nationalökonomen dennoch zu Werke gehen, zeigt der erste, Anfang dieses Jahres vorgelegte Bericht des neugebildeten Sachverständigengremiums für die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik, das sich ängstlich hütete, die wirtschaftliche Entwicklung für mehr als ein halbes Jahr im voraus zu bestimmen. Sobald jedoch die Wirtschaftswissenschaft aufgerufen ist, längere Voraussagen, etwa für einen Zeitraum von zehn oder zwanzig Jahren vorzulegen, sieht auch sie sich außerordentlichen Schwierigkeiten gegenüber. Denn dann muß sie die soziale und möglicherweise auch die politische Entwicklung mit einbeziehen. Dennoch hat es auch in diesem Bereich bahnbrechende Bemühungen gegeben, an hervorragendster Stelle durch C o l i n C l a r k , der 1942 ein mit Recht berühmt gewordenes Buch mit dem Titel vorlegte: „The Economy of 1960". Clark hat mit seiner minutiös errechneten Voraussage des stetigen Anwachsens 29

der sogenannten, tertiären Produktionsfaktoren eine wissenschaftliche Großtat der Vorausschau vollbracht. Die langfristige Yorherbestimmung des sozialen Strukturwandels ist natürlich von ebenso großer Wichtigkeit wie die ökonomische, aber aufgrund der bestehenden Interdependenzen nodi schwieriger. Von sozialen Voraussagen müßten wir es beispielsweise abhängig machen, wie wir heute die neuen Universitäten bauen, welche Struktur wir ihnen geben, welcher Standort für sie am angemessensten ist. Von Voraussagen über die soziale Entwicklung müßten wir vernünftigerweise ausgehen, wenn wir einschneidende sozialpolitische Maßnahmen treffen, oder wenn wir unser Strafrecht und unseren Strafvollzug gründlich reformieren wollen. Soziale Voraussagen sollten eine Rolle spielen, wenn wir neue Städte anlegen oder die alten erweitern. Das ist ein ebenso notwendiges wie schwieriges Geschäft, beständig in Gefahr, sich durch bloße Spekulationen zu gefährden. Noch problematischer indessen ist die Voraussage im Bereich der Politik, denn entgegen Marx können wir ja nicht davon ausgehen, daß bestimmte Infrastrukturen und wirtschaftlich-soziale Verhältnisse automatisch dieselbe politische Konstellation hervorrufen. J o u v e n e l belegt dies durch ein instruktives Beispiel: Die große Wirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre war in den USA mindestens ebenso verheerend wie in Deutschland. Sie verlangte gebieterisch nach einer anderen Politik als der akademischen Präsident Hoovers oder Reichskanzler Brünings. Und dennoch: welch ein gravierender welthistorisch, folgenreicher Unterschied trennt einen Hitler von F. D. Roosevelt! 20 So ist die politische Voraussage notwendig prekär. Sie verlangt nidit nur die Analyse der sozialen Entwicklung sondern nichts geringeres als »la prévision des idées« (Jouvenel). 21 Die Chance der Voraussagbarkeit im politischen Bereidi ist verständlicherweise umso größer, je regulärer, institutionalisierter die Politik eines Landes ist, je mehr die sogenannten Spielregeln politischen Verhaltens von allen Beteiligten respektiert werden. Das Schicksal der Demokratie in Deutschland ist darum beispielsweise sehr viel schwerer vorherzubestimmen als für Großbritannien. »Gouverner c'est prévoir«: Voraussdiauendes Planen ist eine Regierungsaufgabe. Das war es schon immer, aber eine Gesellschaft, die sich dem Prinzip eines sich zunehmend beschleunigenden Wandels verschrieben hat, bedarf, wenn sie nicht blindlings in die Zukunft taumeln will, der Mutmaßungen (»conjectures«), um ihre Entscheidungen für die Zukunft klug und verantwortlich zu treffen. Konjekturen sind nicht Prophezeiungen, sondern von wissenschaftlich ermittelten Tatsachen ausgehende Konstruktionen, welche eine mögliche Zukunft mit Phantasie und intellektueller Redlichkeit vorausdenken. 30

VI. Den Sozialwissenschaften wächst hier eine bedeutsame Aufgabe zu. Sie zu ignorieren, wäre unverantwortlich. Die Menschen handeln immer aufgrund einer gewissen Vorausschau der Dinge. Ihrem Handeln wahrscheinlichere, realitätsnähere und auch sinnvolle Wege in die Zukunft vorzuführen, kann nicht völlig unnütz sein. Die politische Entscheidung, so sagt Arnold Bergstraesser, der in der Politischen Wissenschaft Deutschlands als einziger dem Problem des Vorausdenkens der politischen Entscheidung besondere Beachtung geschenkt hat, ist „angewiesen auf Diagnose, Prognose und Entwurf". Wissenschaftliche Prognose ist für Bergstraesser die auf der Diagnose und auf der Geschichte basierende Analyse jener „im historischen Prozeß gefällten Entscheidungen, die bis zu einem gewissen Grade auch die Zukunft bedingen". Der Entwurf schließlich ist das Handlungskonzept des Politikers, der unter Berücksichtigung der prognostisch ermittelten fortwirkenden Konstellationen der Zukunft seinen gestaltenden Willen aufprägt. 22 Wenn wir den bezeichnenden Unterschied zwischen „scientific prediction" und „conjecture sur l'avenir" deutlich genug markieren, dann geraten wir mit unseren Erwartungen hinsichtlich der Zukunftsforschung nicht ins Utopische oder Vermessene. Es handelt sich weniger um das Voraussagen als um das Vonusdenken der Zukunft. Die engstirnige positivistische Sozialwissenschaft wird von ihren Prämissen her einer gesellschaftlich belangvollen Voraussage vergeblich nachjagen oder im social engineering ihre letzte Zuflucht suchen. Selbst die Spieltheorie, dieses neueste Instrument zur Erlernung kalkulierten rationalen Handelns, kann uns nur begrenzt helfen, denn die Rationalität menschlicher Entscheidungen, auf der das Spiel basiert, kann nicht verbürgt werden. Die Abstraktion von aller Geschichte, der die neuen Verfahren kalkulierter Strategie erliegen, und die auch die modernen Sozialwissenschaften charakterisiert, ist kein wirklicher Gewinn, sondern ein Substanzverlust der Wissenschaft, der auch die Fähigkeit zum Vorausdenken in Mitleidenschaft zieht. Die junge, eben sich erst abzeichnende futuristische Bewegung in den Sozialwissenschaften wird umso fruchtbarer sein, je tiefer ihr Verständnis der historischen Lage und des geschichtlichen Entfaltungsprozesses unserer Gesellschaft ist. Zwischen der interessenbedingten und unverantwortlichen Spekulation des Ideologen oder des Charlatans und der unbilligen Erwartung einer exakten wissenschaftlichen Voraussage, gibt es einen Spielraum, der ein verantwortliches Vorausdenken der Zukunft erlaubt. Daran ist kein Zweifel mehr möglich. Wir stehen in diesen Bemühungen ganz am Anfang, und allzu großer Optimismus ist nicht berechtigt, aber zynischer Pessimismus sollte das Unternehmen 31

nicht zerstören. „Ich w ü r d e gern zugeben", bekennt J o u v e n e l , „daß das U n t e r n e h m e n Wahnsinn ist, w e n n es vermeidbar wäre." 2 3 H ü t e n wir uns allerdings davor, der Zukunftsforschung dadurch z u ihrem Erfolg verhelfen zu wollen, daß wir m i t den Mitteln moderner Planung, unterstützt durch die Zwangsgewalt einer staatlichen Planungsbürokratie zu erreichen versuchen, was wir als künftige Realität antizipieren. D i e wissenschaftlich unterstützte „Mutmaßung über die Zuk u n f t " m u ß im Dienste menschlicher Freiheit stehen. D i e Sozialwissenschaften sind h e u t e aufgerufen, eine gesellschaftlich n o t w e n d i g e neue Funktion zu erfüllen. Sie sollten es wagen, trotz jenes resignierten Ausspruches des Dichters P a u l V a l é r y : »L'imprévu des événements est la loi la plus certaine et la plus constante du monde!« 2 4

Anmerkungen: 1

Vgl. die Titel der Reihe von Rob. Jungk im Desdi-Verlag, München, „Wege ins neue Jahrtausend 1964, b) J . M e y n a u d : A propos des Spéculations sur l'avenir. Rev. Franç. de Science Politique X I I I (1963) Nr. 3 S. 666 ff. mit zahlreichen einschlägigen Literaturhinweisen und schließlich O. K. F l e c h t h e i m , Möglichkeiten und Grenzen einer Zukunftsforschung, Deutsche Rundschau Jg. 89, Dez. 1963.

2

Charakteristisch für diese Bemühungen ist in Deutschland vor allem die Publizistik Robert J u n g k s , der sich für das Ideal einer alle nationalen Grenzen sprengenden, sich gegenseitig und auch interdisziplinär befruchtenden Wissenschaft einsetzt.

3

Bertrand de J o u v e n e l : L'Art de la Conjecture, Collection »futuribles«, Monaco 1964. S. 144. Dieser Hinweis, neben anderen, findet sich bei J o u v e n e l , a.a.O. S. 83. Aug. C o m t e , Plan des travaux scientifiques nécessaires pour réorganiser la société, Nachweis bei Jouvenel S. 141. Ganz ähnlich folgende Stelle aus Comtes berühmter „Rede über den Geist des Positivismus", deutsche Ausgabe von I. Fetscher, Hamburg 1956: „So besteht der wahre positive Geist vor allem darin zu sehen, um vorauszusehen, zu erforschen was ist, um daraus aufgrund des allgemeinen Lehrsatzes von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze — das zu erschließen, was sein wird." S. 35.

4 5

6

Charles A. B e a r d , The Nature of the Social Sciences, N . York 1934, S. 29. Das Urteil Beards ist charakteristisch für den historisch gebildeten Sozialwissenschaftler. Eine Art Gegenstück zu ihm sind die Schriften George Lundbergs, welche die Wissenschaftlichkeit der Sozial Wissenschaften im Sinne der Naturwissenschaften nachhaltig unterstreichen. Sie haben einer nuancierteren, weniger emphatischen Literatur Platz gemacht, repräsentiert z. B. durch das sehr ausführliche und bemühte Werk von W. P. M c E w e n , The Problem of Social-Scientific Knowledge, Bedminster Press New Jersey, 1963.

7

Ernest N a g e l , The Structure of Science, London 1961.

32

8

Eine sehr intelligente, abgewogene Darstellung der Probleme sozialwissenschaftlicher Forschung gibt der Australier Quentin G i b s o n : The Logic of Social Enquiry, London 1960.

9

Heinz E u 1 a u : The behaviorial persuasion in politics, Random House, N e w York 1963.

10

E. M. K i r k p a t r i c k , The impact of the behavioral approach on traditional political science, in Austin Ranney, ed.: Essays on the behavioral study of politics, Univ. of Illinois Press 1962, S. 25.

11

Karl P o p p e r : The poverty of historicism, 2. Aufl., London 1960, S. I X bis X I . Leo S t r a u s s , Epilogue, in H . S t o r i n g , ed.: Essays on the Scientific Study of Politics, N e w York 1962, S. 313.

12

13

Vgl. u. a. Ridiard F. B e h r e n d t : Dynamische Gesellschaft, Stuttgart 1963.

14

Vgl. meinen Aufsatz: Der Antihistorismus des gegenwärtigen Zeitalters, in Neue Rundschau, J g . 75 (1964) H . 4.

15

Michel M a s s e n e t : Introduction a une Sociologie de la Prevision, Bulletin S E D E I S , Paris, vom 20. Juni 1963, Reihe »Futuribles« N r . 60, S. 9. Aus Massenets Beitrag habe ich auch verschiedene Gesichtspunkte der vorausgehenden Darlegung bezogen.

10

Der Terminus, geprägt von dem spanischen Jesuiten Molina durch die K o m bination von futurum und possibile, ist von Bertrand de Jouvenel für ein wissenschaftliches und intellektuelles Unternehmen aufgegriffen worden, das mit Phantasie und Mut die vielfältigen Probleme der Voraussage wissenschaftlich diskutiert und Voraussage als Instrument moderner Politik tauglich zu machen versucht. Die vielfältigen Arbeiten erscheinen jeweils als Teil des Bulletins S E D E I S und haben innerhalb von drei Jahren eine Zahl von nahezu 100 Publikationen erreicht.

17

Jouvenel,

18

»Futuribles« N r . 2, 18, 17.

a.a.O.

19

D a z u sehr ausführlich, mit einem kritischen Überblick über Leistungen und Methoden der Zukunftsforschung in den verschiedenen Wissenschaften — Jouvenel, a.a.O.

20

Jouvenel,

21

»Futuribles« N r . 68.

22

Arnold B e r g s t r a e s s e r , Geschichtliches Bewußtsein und politische Entscheidung, Festschrift für H . Rothfels, Göttingen 1963, S. 9-38.

a.a.O. S. 138.

23

J o u v e n e l , a.a.O., S. 346.

24

Aus »Regards sur le monde actuel et autres essais«, Paris 1945. Vgl. auch die Studie von M a s s e n e t , L a Critique de la Prevision en Sciences Sociales, »Futuribles« N r . 66.

3 Universitätstage 1965

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Erfordernisse künftiger Schulbildung und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung Von G o t t f r i e d

Hausmann

Das Leitmotiv der Berliner Universitätstage: „Wissenschaft und Planung" gibt der Frage nadi den Erfordernissen künftiger Schulbildung und den Möglichkeiten ihrer Verwirklichung einen besonderen Akzent. Es legt Überlegungen darüber nahe, wie sich Erziehungswissenschaft und Bildungsplanung zueinander verhalten. Der Begriff des Planens ist der Pädagogik als terminus technicus seit langem geläufig. Er tritt in Ausdrücken wie „Lehrplan" und „Bildungsplan" hervor und meint dann ein geordnetes Insgesamt, einen Kanon verbindlicher Aufgaben. Hierbei sind die Nuancen des Sprachgebrauchs zu beachten. Beim Lehrplan steht mehr der Stoff, beim Bildungsplan mehr der Sinngehalt im Blickfeld. Der Lehrplan erschien als Gegenstand der pädagogischen Theorie erstmals 1873 bei F. W. Dörpfeld. In den 20er Jahren gehörte die Ablösung von Stoffplänen durch Bildungspläne zum Programm der Reformpädagogik. Aus der Theorie des Lehrplans wurde eine Theorie der Bildungsinhalte, so z. B. 1928 bei E. Weniger. Zu Beginn dieser Epoche hatte sidi der Schwerpunkt des Planens aber schon vom Gefüge der Lehre auf die innere Organisation des Schullebens verlagert. Mit dem Ausdruck Plan wurden jetzt vor allem Programme von Versuchsschulen mit besonderem pädagogischen Gepräge bezeichnet. Diese Pläne blieben eng mit dem Namen ihrer Urheber und den Orten ihrer ersten Verwirklichung verknüpft. So der Daltonplan der Helen Pankhurst (1922), der Winnetkaplan Carlton Washburns (1916), der Jenaplan Peter Petersens (1927). Seit dem 2. Weltkrieg rückten schließlich Planungen, die das gesamte Bildungswesen betreffen, in den Vordergrund. Träger des Planens sind seither in der Regel nicht mehr einzelne Pädagogen sondern Expertengruppen. Sie entwerfen Pläne, die das Gefüge des Bildungswesens, seine horizontale und vertikale Gliederung nach Altersstufen und Schultypen bzw. -züge zum Gegenstand haben. Das Verfahren solcher Strukturplanung hat eine lange Tradition. Schon das Revolutionsprogramm Condorcets von 1792 und der Hum34

boldt-Süvernsche Reformplan von 1809/16 sind Beispiele dafür. In der Gegenwart wurde es bestimmend für alle Reformprojekte in Europa: Der englische Education Act von 1944 geht auf die Tätigkeit einer Royal Commission zurück, die französische Schulreform wurde durch die Commission Langevin-Wallon vorbereitet. Ähnlich wurde der durchgreifende Umbau des schwedischen Schulwesens durch Planungsteams vorbereitet. In der Bundesrepublik entstanden auf diese Weise während der letzten Jahre etwa acht bis zehn solcher Entwürfe. Die bekanntesten und gewichtigsten sind wohl: der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1959 und der Bremer Plan der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände von 1960/62. Diese Formen der Bildungsplanung entsprechen aber noch nicht der besonderen Fragestellung, die neuerdings immer dringlicher wird: sie berücksichtigen zwar die Bildungsbedürfnisse der Gegenwart, die uns augenblicklich auf den Nägeln brennen, rechnen aber noch kaum mit den Erfordernissen zukünftiger Schulbildung. Wohl eignet ihnen der jeder Erziehung innewohnende Bezug auf die künftige Mündigkeit der heranwachsenden Generation; es fehlt ihnen aber der Bezug auf den Wandlungsprozeß des sozialkulturellen Lebens und die daraus folgenden Bildungsbedürfnisse. Sie übersehen noch, daß an der Zeit ist, zu berücksichtigen, daß auch im Bildungswesen die Zukunft jetzt schon beginnt. Den bisherigen Planungen fehlt ferner noch weitgehend der Charakter des Operativen. Sie bieten ein stationäres Strukturbild des Bildungswesens dar, fragen aber nicht nach den Schritten seiner Verwirklichung; es kennzeichnet sie, daß allenfalls anhangweise davon die Rede ist, wie zu prozedieren sei. Die Strukturplanung blieb wesentlich zweidimensional, weil sie versäumt hat, die zeitliche Komponente einzubeziehen und sich von vornherein prozessual zu verstehen. Die Folgen dieses Mangels haben sich z. B. beim Rahmenplan sehr bald herausgestellt. Kurz nachdem er 1959 vorgelegt worden war, hat der Schulausschuß des Deutschen Städtetages 1960 ein Planspiel durchgeführt, um festzustellen, zu welchen Konsequenzen seine Realisierung führen würden. Dabei wurden sofort schwerwiegende Schwächen der Strukturplanung offensichtlich. Daraufhin hat dann die Ständige Konferenz der Kultusminister 1963 eine Bedarfsfeststellung für das Schulwesen ausarbeiten lassen, die bis zum Jahr 1970 reicht. Dieses Dokument kann als Planungsinstrument im Sinne der gegenwärtigen Fragestellung gelten. Freilich bietet es weder einen Struktur- noch einen Operativplan und beschränkt sich darauf, alternative Möglichkeiten statistisch durchzurechnen. Die Kulturautonomie der Länder ließ wohl nicht zu, anders vorzugehen. Damit waren aber die Voraussetzungen für das bisher letzte Ereignis in der Bundesrepublik auf diesem Gebiet

3*

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beigebracht, nämlich für die Vorlage von Schulentwicklungsplänen durch einzelne Bundesländer (wie z. B. Bayern). Aber auch diese Entwicklungspläne sind bisher insofern ein eventum post festum geblieben, als sie noch von vorgegebenen Strukturvorstellungen ausgehen, anstatt sie pari passu zu entfalten. In unserer Epoche des beschleunigten Wandels aller gesellschaftlichen Verhältnisse dürfte gerade diese Art des Planens auch für das Bildungswesen das tauglichste Verfahren der Wahl sein. Sie ist uns noch wenig vertraut, wird indes im Ausland, vor allem im angloamerikanisdien Einflußbereich, schon fachmännisch gehandhabt. Für die Effektivität dieses sogenannten educational planning ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Als wichtigste Leistung aus jüngster Zeit ist die Planung der higher education in England zu nennen, die in dem imponierenden Robins-Report ihren Niederschlag gefunden hat. Besonders lehrreich ist die operative Planungsweise, die bei der Schulreform in Schweden angewandt wird. Nach einer gründlichen Vorplanung begann der beabsichtigte Strukturwandel in aufeinanderfolgenden Stufen. Während der ersten Reformphasen liefen die Planungen für die jeweils folgenden Etappen weiter, so daß ständig neue Erfahrungen und Gesichtspunkte berücksichtigt werden konnten. Das Prinzip der langfristigen Planung ist im Bildungswesen der hochindustrialisierten Länder bisher sonst noch kaum zum Ansatz gekommen. Dagegen wurde es beim Aufbau des Bildungswesens in den Entwicklungsländern von Anfang an praktiziert. So hat die UNESCO in Zusammenarbeit mit den Behörden der zuständigen Mitgliedstaaten seit 1959 auf großen Regionalkonferenzen für die Entwicklungsländer Richtpläne entworfen: in Karachi für Asien, in Addis Abeba für Afrika und in Santiago de Chile für Lateinamerika. Dabei wurden von vornherein Prioritäten festgestellt, Nah- und Fernziele unterschieden, Realisationsschritte angegeben und fortgesetzte Revisionen vorgesehen. Im Unterschied zu herkömmlichen Formen des Planens ist für dieses Vorgehen die Kalkulation in Zeitstufen konstitutiv. Es gehört seit dem Beginn der Industrialisierung zu den Verfahrensweisen der rationalisierten Produktion. Da es in großem Maßstab zum erstenmal bei den Fünfjahresplänen beim Aufbau der Planwirtschaft in der Sowjetunion praktiziert wurde, haftete ihm lange Zeit ein Beigeschmack an, der es ideologieverdächtig erscheinen ließ. Das Verfahren langfristigen Planens ist jedoch als solches weltanschauungsunabhängig und wertneutral und kann als Instrument der rationellen Organisation in der modernen Gesellschaft nicht entbehrt werden. Nun erstreckt sich zwar jede langfristige Planung in die Zukunft hinein. Wenn im gegenwärtigen Zusammenhang aber nach den Erfordernissen künftiger Schulbildung und den Möglichkeiten ihrer Ver36

wirklichung gefragt werden soll, ist eine besondere Weise langfristigen Planens ins Spiel zu bringen: eine solche nämlich, die gleichsam von der Zukunft her den Ausbau des Bildungs wesens entwirft. Dafür reicht es nicht aus, von den Bildungsbedürfnissen des gegenwärtigen Zustandes auszugehen. Vielmehr muß der Gesichtspunkt leitend werden, daß die demnächst in die Schule eintretende Generation für die Lebensbedingungen auszustatten ist, die sie am Ende ihrer Schullaufbahn vorfinden wird. Dadurch, daß die künftigen Verhältnisse von vornherein als maßgebende Faktoren berücksichtigt werden, erhält die Bildungsplanung prospektiven Charakter. Sie reicht als langfristige Planung nicht nur in die Zukunft hinein, sondern "wird auch zum Vorgriff auf die Zukunft. Hier stellt sich die Frage, ob ein solcher Vorgriff möglich ist, und wie er bewerkstelligt werden kann. Es gibt die prophetische Verkündigung, und es gibt die Utopie als Vorgriff der Zukunft. Realistische Planung darf sich aber weder auf prophetische noch auf utopistische Grundlagen stützen. Sie bedarf prognostischer Daten, denen ein möglichst hoher Grad an Wahrscheinlichkeit zukommt. Dazu kann sie sich anamnestischer und diagnostischer Methoden bedienen, die die Erkenntnis irreversibler Prozesse, signifikanter Trends, divergierender und konvergierender Tendenzen, aber auch alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufscheinen lassen, Unsicherheitsfaktoren fixieren und mit Vorbehalten rechnen. Für das Gebiet des Bildungswesens gab es bisher eine so verfahrende Planung nur in unzulänglichen Ansätzen. Aus vielerlei Gründen, die hier zu erörtern zu weit führen würde, ist vor allem die dafür zuständige Erziehungswissenschaft noch nicht gerüstet gewesen. Wohl war der Pädagogik nicht verborgen geblieben, daß aller Erziehung ein Zukunftsbezug wesentlich ist. Während Rousseau dessen Berücksichtigung für unstatthaft hielt — er stritt dem Erzieher das Recht ab, die Kindheit des Zöglings einer ungewissen Zukunft zu opfern — warnte Schleiermächer lediglich vor Verführungen bei der Vorwegnahme. Die pädagogische Kategorie der Vorwegnahme blieb bis in die jüngste Vergangenheit bildungstheoretisch eingeengt. Noch bei Weniger und Flitner wurde die Vorwegnahme pädagogisch nur in Gestalt des „Bildungsideals", nicht jedoch in Form der „rationalen Konstruktion der Zukunft" anerkannt. Die beschleunigt vor sich gehenden Änderungen der Verhältnisse in der modernen Gesellschaft nötigen die Pädagogik zu einer entschiede-^ nen Revision ihrer Einstellung dem Künftigen gegenüber. In der Zeit Schleiermachers waren die Umstände des Lebens noch so beständig, daß wenig Anlaß zu der Annahme bestand, die Welt, in welche die Jugend dereinst aus der Schule einzutreten habe, werden sich von der ihrer

37

Eltern und Lehrer merklich unterscheiden. Eine derartige Annahme ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts nidit mehr berechtigt. Niemand dürfte bezweifeln, daß -die jetzt heranwachsende Generation ihr weiteres Leben auf andere als die heute gegebenen Umstände einstellen muß. Dieser Sachverhalt mußte dem Zukunftsaspekt und der Kategorie der Vorwegnahme in der pädagogischen Reflexion einen höheren Stellenwert und ein größeres spezifisches Gewicht verleihen. Der Zeitpunkt, zu dem der fällige Wechsel der Sichtweise vollzogen wurde, ist ziemlich genau datierbar. Er fällt in die Jahre 1957/58. Ein Aufsatz von Wolfgang Klafki, der 1958 in der von Herman Nohl herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung" erschien, bewegt sich unverkennbar auf die Kippschwelle der Betrachtung zu. Er untersucht die Stellung der Erziehung im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwarr und Zukunft und kommt zu dem Ergebnis, daß im Sinne einer eigenständigen Pädagogik eine Integration dessen versucht werden müsse, was sich in der geschichtlichen Abfolge bisher als pädagogischer Traditionalismus, Aktualismus und Utopismus gezeigt habe. Dabei plädiert Klafki dafür, bei der Auswahl des Bildungsgutes neben dem in der Vergangenheit aufgesammelten und angereicherten Kulturgut und den Bildungsbedürfnissen der Gegenwart stärker als das bisher der Fall war die unutopistisch vermutbare Zukunftsaufgaben des Zöglings zu berücksichtigen. Nach Klafkis Auffassung soll jedoch „die dialektische Aufhebung der drei Momente Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Strukturzusammenhang... von einer dynamisch verstandenen Gegenwart aus" gegliedert werden. Im gleichen Jahr 1958 wurde erstmals auch die weitergehende These begründet, wonach für die Gliederung der Zeitbezüge im pädagogischen Strukturzusammenhang der Zukunftsaspekt bestimmend sein sollte. Sie wurde von Friedrich Schneider, dem deutschen Nestor der vergleichenden Erziehungswissenschaft in einem Beitrag der Internationalen Zeitschrift für Erziehungswissenschaft unter dem Titel „Prospektive Pädagogik" vorgelegt. Schneider machte darauf aufmerksam, daß vor kurzem an verschiedenen Stellen unabhängig voneinander der Begriff des Prospektiven in der pädagogischen Diskussion aufgetreten sei. Er zitierte die französische Zeitschrift „Educateur", in der vom Erzieher „une attitude d'esprit prospectif" gefordert wurde, und wies auf die „Revue des deux Mondes" hin, wo ein Artikel zur „Reforme et liberté de l'enseignement" gleichfalls zu einer prospektiven Einstellung aufrief. In diesem Zusammenhang verdient erwähnt zu werden, daß der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen in seinem Gutachten über die Hauptschule 1964 ausdrücklich den bisherigen Mangel an vorausblickender Planung bedauert hat. Dem steht im angloamerikanischen Bereich ein educational planning gegen38

über, bei dem Erziehung sdion seit geraumer Zeit als „education in a changing world" verstanden wird. "Was hat es nun mit der Erziehung in der fortgesetzt sich verwandelnden Welt auf sich? Welche Erfordernisse ergeben sidi aus den Veränderungen innerhalb der sozialen und kulturellen Verhältnisse für die Schulbildung der nächsten heranwachsenden Generation? Die Voraussetzungen des in Frage stehenden Wandlungsgesdiehens entstanden in der Zeit der Aufklärung und der französischen Revolution. Sie wurden wirksam in der industriellen Revolution und in der Zunahme der rationalen Organisation auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Die handlichen Formeln für die Richtung der Vorgänge sind bekannt; sie heißen: von der ständischen zur egalitären, von der stabilen zur mobilen, von der statischen zur dynamischen Gesellschaft. Der langsam anhebende Wandel setzte sich, wie schon Jakob Burckhardt bemerkt hat, am Ausgang des 19. Jahrhunderts in „beschleunigten Prozessen" fort. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde vollends deutlich, daß eine neue Entwicklungsphase begonnen hatte. Inzwischen war gleichsam eine Kippschwelle überschritten worden, und zwar insofern als neuartige Formen der industriellen Produktion und der rationalen Organisation nicht mehr als hervorstechende Einzelerscheinungen im Blickfeld auftraten, sondern für die gesamte Situation bestimmend geworden waren. Was vorher als Ausnahme gegolten hatte, war unversehens zur Regel geworden. So z. B. die serielle Massenproduktion von Gebrauchsgütern aus Kunststoffen und die Regulation des gesellschaftlichen Lebens mit Hilfe bürokratisch durchrationalisierter Großorganisationen. Damit waren Apparaturen zur Herrschaft gekommen, die, miteinander verzahnt, in einem „sekundären System" — wie es Freyer genannt hat — autonom wurden, sich als Superstrukturen über die gewachsenen Sozialgebilde stülpten und modifizierend auf sie einwirkten. Diese Vorgänge veränderten nicht zuletzt auch die Voraussetzungen für die Erziehung. Unter dem Einfluß des sekundären Systems werden vor allem primäre Intimgruppen, wie die Familie, in hohem Maße isoliert. Die früher übliche Großfamilie wird — zumal in den Großstädten — von der Kleinfamilie abgelöst. Dadurch vermindert sich die Erziehungspotenz in der modernen Familie. Die Großeltern sind aus dem Wohnverband ausgeschieden; der Vater geht seinem Beruf außer Hauses nach; es gibt weniger Geschwister. Das Geschäft der Erziehung, das in der Großfamilie auf eine Vielzahl korrespondierender Rollen verteilt war, fällt fast ausschließlich der Mutter zu, die damit überfordert wird. Wo auch sie berufstätig ist, wird die Erziehung überhaupt nur noch rudimentär wahrgenommen. Das heißt aber, daß Kindheit und Jugend erzieherisch weitgehend freigesetzt sind. Der in dieser Richtung ver39

laufende Prozeß ist noch keineswegs abgeschlossen. Daher wird die Zahl der im pädagogischen Niemandsland der modernen Familie Heranwachsender auf unabsehbare Zeit anwachsen. Als institutionalisierter Auffangsraum f ü r die aus der Familienerziehung freigesetzte junge Generation bietet sich in der heutigen Gesellschaft zuvörderst die Schule an. Ihr werden damit zusätzlich gerade die erzieherischen Leistungen zugemutet, deren Erfüllung durch die Familie bisher zu den selbstverständlichen Voraussetzungen ihres besonderen gesellschaftlichen Aufträges zählten. Da der beschriebene Prozeß der Veränderungen im Bedingungszusammenhang der Erziehung wahrscheinlich irreversibel ist, erhebt sich die Frage, ob und wie die Schule auszubauen wäre, um als subsidiäres Äquivalent f ü r das pädagogische Defizit der reduzierten Primärgruppen wirksam werden zu können. Der Vorschlag, das Schulleben in Analogie zur Familie einzurichten, also etwa die Klassenräume — wie es Peter Petersen im Jenaplan der 20er Jahre vorgeschlagen hat — in Schulwohnstuben zu verwandeln, verkennt, daß die Schule ihren Aufgaben aus zwingenden Gründen künftig nur in der Gestalt eines rationell durchorganisierten Großbetriebes gerecht werden kann. Die Frage lautet daher: wie lassen sich in dem Großbetrieb Schule ausreichend Spielräume einplanen, so daß subsidiäre erzieherische Funktionen und freie Initiative Gelegenheit haben, sich ungestört zu entfalten. Neben der um sich greifenden Verinselung der Primärgruppen und dem damit einhergehenden Schwund ihrer erzieherischen Kräfte, verlangen die fortschreitenden Änderungen in der gesellschaftlichen Erwerbsstruktur bei der prospektiven Planung des Schulwesens besonders berücksichtigt zu werden. Worum es hierbei geht, läßt sich an Hand soziologischer Befunde verdeutlichen. Die Soziologie unterscheidet bekanntlich drei Bereiche beruflicher Tätigkeit. Zum ersten Sektor gehören die Berufe der Primärproduktion in Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei; zum zweiten Sektor die Berufe der Sekundärproduktion in Gewerbe und Industrie, zum dritten Sektor gehören die Dienstleistungsberufe. Ein summarischer Uberblick ergibt folgendes Bild vom Strukturwandel: U m 1800 waren von je 100 Menschen 80 in der Primärproduktion, 10 in der Sekundärproduktion und 10 in Dienstleistungsberufen tätig. Heute hat sich das Verhältnis geradezu umgekehrt. In den USA, wo die Entwicklung am weitesten fortgeschritten ist, wird die Verteilungsformel mit den Zahlen 6 : 34 : 60 fixiert. Während in den sogenannten Entwicklungsländern noch Relation 80 : 10 : 10 bzw. 70 : 10 : 20 (so z. B. in Indien) vorherrscht, hält die Bundesrepublik 1960 bei einem Stand von 15 : 49 : 37. Da abzusehen ist, daß sich die hochindustrialisierten Staaten während der nächsten Jahrzehnte der heute in den USA erreichten Proportion annähern 40

werden, erscheint eine prospektive Planung im Schulwesen nicht nur möglich, sondern sogar dringend erforderlich. Dabei genügt es keineswegs, eine quantitative Berechnung des wahrscheinlichen Bedarfs vorzunehmen und der Planung zugrunde zu legen. Es gilt vielmehr vor allem darauf zu achten, daß von vornherein auch die sich im gleichen Zeitmaß ändernden qualitativen Bildungsvoraussetzungen für das Leben in der künftigen Gesellschaft und für die berufliche Tätigkeit in den verschiedenen Sektoren berücksichtigt werden. Denn es ist sicher, daß die 10 Farmer, die künftig anstelle der früheren 80 Bauern noch mit landwirtschaftlicher Produktion befaßt sind, eine erheblich anspruchsvollere allgemeine und berufliche Bildung erhalten müssen als sie dem Nachwuchs für den Agrarsektor vor hundert, fünfzig oder auch nur zehn Jahren zuteil wurde. Sie müssen nicht nur technisch versiert sein und etwas von chemischer Düngung verstehen, sondern auch betriebswirtschaftlich planen und marktwirtschaftlich kalkulieren können. Für ihre agronomische Berufsbildung wird eine Allgemeinbildung Voraussetzung sein, die etwa dem Realschülabschluß entspricht. Ensprechendes wird für den Facharbeiter in der Industrie und die Mehrzahl der Dienstleistungsberufe gelten. Die Veränderungen in der Erwerbsstruktur werden also nicht lediglich einen neuen Verteilungsschlüssel für das berufliche Bildungswesen, sondern zugleich eine gesteigerte Allgemeinbildung für einen höheren Prozentsatz der Jugendlichen nötig machen. Auch der Anteil derer, die einer gymnasialen Bildung bedürfen, wird bedeutend anwachsen. Die voraussichtliche Entwicklung kann wieder durch amerikanische Schätzungen belegt werden. In den USA entfielen 1900 auf einen Ingenieur 255 Facharbeiter, 1950 waren es noch 80, 1970 werden es wahrscheinlich nur noch 20 sein. Vorausschätzbare Proportions- und Niveauverschiebungen dieser Art bieten kaum Handhaben, die Erfordernisse künftiger Schulbildung auch schon im stofflichen Detail festzulegen. Didaktische Antizipationen werden daher mehr auf Funktionsziele (im Sinne Wagenscheins) und auf die Artikulation kategorialer Strukturen abzustellen sein. Das gilt vor allem für die Bereiche der berufsfachlichen Bildung. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes mögen folgende Angaben dienen: „Etwa 80 °/o der heutigen Produkte der Radio Corporation of America bestehen aus Artikeln, die es vor 10 Jahren noch nicht gegeben hat" und: „schätzungsweise 60 der Einnahmen der größten chemischen Unternehmung der USA werden im Jahre 1975 von Produkten erzielt werden, die gegenwärtig noch nicht auf dem Markt sind". Hinter solchen Daten stehen wissenschaftliche und technische Errungenschaften, die nicht im voraus lehrbar sind. Im Vorgriff geplant werden kann hingegen eine moderne Allgemeinbildung, deren Weite und Niveau die nötige Disponibilität für die Meisterung neuartiger Aufgaben gewährleistet. So41

mit erweist sich die Anhebung der Allgemeinbildung über die grundlegende Elementarbildung hinaus als eines der wichtigsten Erfordernisse beim Ausbau des künftigen Schulwesens. Im Unterschied zu den bisher üblichen Bestrebungen in dieser Richtung wird das allgemeine Schulwesen so einzurichten sein, daß es für alle Jugendlichen eine über die Elementarstufen hinausgehende Allgemeinbildung oberschulmäßigen Zuschnitts vorsieht. Eine solche beruflich noch nicht spezialisierte „secondary education for all" ist aber nur realisierbar, wenn die Jugendlichen der Schule bis mindestens zum Abschluß des 16. Lebensjahres zur Verfügung stehen. Diesem pädagogischen Programm, das sich bildungspolitisdi in der Forderung nach einer entsprechenden Verlängerung der allgemeinen Schulpflichtzeit ausdrückt, kommt die Entwicklung der industriellen Arbeitswelt insofern entgegen, als sie in zunehmendem Maße Jugendliche unter 18 Jahren von beruflicher Tätigkeit ausschließt. In der automatisierten Fabrik und im modernen Großbetrieb fällt der Jugendliche als Arbeitskraft weitgehend aus. Die Bedienung und Wartung empfindlicher Automaten setzt technologische Spezialkenntnisse und berufliche Arbeitshaltungen voraus, für die der Jugendliche noch nicht reif ist. Seine Beschäftigung am Fließband, im Akkord und in Nachtschichten ist durch Maßnahmen des Betriebsschutzes oder durch Jugendschutzgesetze verboten. Wie aus der Familie wird der Jugendliche dadurch auch aus der Berufswelt mehr und mehr freigesetzt. Zur Berufstätigkeit nicht zugelassen, von keiner Seite mehr sozial verbindlich beansprucht, würde die Jugend künftig vollends dem Sog der Massenmedien, der Freizeitindustrie und der übrigen konkurrierenden Reizfelder des modernen Lebens ausgeliefert sein, wenn nicht rechtzeitig durch eine entsprechende Erweiterung des Schulwesens Auffangstätten bereitgestellt werden, an denen ihr eine Fülle angemessener Leistungen abverlangt, aber auch Spielraum zu freier Eigentätigkeit geboten wird. Der Umstand, daß der Eintritt in den Beruf generell auf einen Zeitpunkt nach dem 18. Lebensjahr verschoben werden muß, wird den Ausbau der allgemeinbildenden Pflichtschule bis zum 10. Schuljahr und darüber hinaus auch der schulgebundenen Berufsbildung begünstigen. Er bringt aber zugleich erzieherische Aufgaben mit sich, auf deren Lösung die Schule sich bisher noch kaum eingestellt hat. Die Aufgaben werden aber in dem Maße an Dringlichkeit zunehmen, in dem der Urbanisierungsprozeß fortschreitet, der einen immer höheren Prozentsatz der Bevölkerung in die Großstädte und die Ballungsräume der Industrie zieht und mit seinen Begleiterscheinungen — Zersiedlung der Natur, Motorisierung des Verkehrs, Andrang der Massenmedien, Steigerung der sekundären Bedürfnisse — auch auf die ländlichen Gebiete übergreift. 42

Im Hinblick auf diese Entwicklungen sind von der Schule Vorkehrungen zu treffen, die den Gefahren der seelischen Erosion zuvorkommen. Dazu wird die Schule Orientierungs- und Ubungsfelder vorzusehen haben, die den Jugendlichen Gelegenheiten bieten, sich mit den höchst komplexen technischen und organisatorischen Apparaturen des modernen Daseins vertraut zu machen, sie kritisch zu prüfen und im Umgang mit ihnen ihre „Selbstkraft" (Pestalozzi) zu behaupten. Die pädagogischen Aufgaben, die sich aus den sozialkulturellen Veränderungen ergeben, können aber nicht allein durdi die Aufnahme systemanaloger Organisations- und Funktionsformen in das Schulleben gelöst werden; sie machen vielmehr auch eine durchgreifende Revision des didaktischen Konzepts für das gesamte Bildungswesen dringlich. Die Gewißheit, daß die künftige Welt in noch höherem Grade als die gegenwärtige durch die Technik und Wissenschaft bestimmt sein wird, nötigt dazu, bei aller Bildungsarbeit das Moment des Rationalen prinzipiell stärker zu berücksichtigen. Da die Schule die heranwachsende Generation nicht unmittelbar mit dem Gesamtbestand der explosiv zunehmenden und immer unübersehbarer werdenden Erkenntnisse konfrontieren kann, ergibt sich die in diesem Ausmaß neuartige Aufgabe, ein dem jeweiligen Stand der Wissenschaft gemäßes Wirklichkeitsverständnis zu vermitteln, das gleichermaßen begrifflich sauber und im wesentlichen vollständig ist. Dabei wird es darauf ankommen, aus dem schier unüberschaubar gewordenen Bestand wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis das Bildungsbedeutsame hervorzuheben und in einem Lehrgefüge zusammenschließen, das beim Hinzutreten neuer Errungenschaften jeweils wieder bis zum Elementaren hinab entsprechend durdizustufen ist. Diese didaktische Zubereitung wird zu den wichtigsten Erfordernissen künftiger Schulbildung gehören. Um zureichende Ergebnisse zeitigen zu können, wird sie so wissenschaftlich wie möglich zu betreiben sein. Eine Didaktik, die diese Aufgabe zu lösen vermöchte, gibt es bisher erst im Entwurf und in einzelnen fragmentarischen Ansätzen. Zu den Voraussetzungen, mit denen künftig die Sdiule zu rechnen hat, gehört schließlich noch, daß sich im Zusammenhang mit den Veränderungen des gesamten sozialkulturellen Lebens auch, die kindliche und jugendliche Entwicklung strukturell gewandelt hat. Eine Phasenverschiebung ist manifest geworden, deren Rückwirkung auf die Schule erst noch festgestellt werden muß. Schon seit geraumer Zeit setzt bei einem wachsenden Anteil der Jugendlichen die biologische Reifung ein bis zwei Jahre früher ein. Da die somatische Akzeleration jedoch mit einer Verlangsamung der seelisch-geistigen Reifung einhergeht, ergibt sich im ganzen eine Verlängerung der Entwicklungsjahre. Die längere 43

Dauer der Jugendzeit ist ein weiterer Grund, den Schulabschluß künftig auf einen späteren als den bisher üblichen Zeitpunkt zu verlagern. Damit zeichnet sich für den gesamten Nachwuchs der Gesellschaft die Möglichkeit einer zunächst in ihrem stufenmäßigen Ablauf gleichen Schullaufbahn ab. Diese beginnt — wenn nicht schon mit einer schulkindergartenartigen Vorstufe — mit einer Primarstufe, die bei uns seit den 20er Jahren als „Grundschule" bezeichnet wird. Sie hat den Charakter einer Schule für die reife Kindheit und die Aufgabe, allen Schülern eine elementare Bildung zukommen zu lassen. Für die Zeit des Überganges von der reifen Kindheit zur eigentlichen Jugend stellen sich schwierige Sonderprobleme, die schulorganisatorisch unterschiedliche Lösungen zulassen. Die Mehrzahl der ausländischen Schulsysteme ordnet sie der Stufe für die reife Kindheit zu. Der Eigenart dieser Phase wird erst konsequent entsprochen werden können, wenn mit der Verlängerung der allgemeinen Schulpflichtigkeit bis zum Abschluß des 16. Lebensjahres die Möglichkeit geschaffen ist, allen Jugendlichen etwa vom 12. Lebensjahr ab eine weiterführende Allgemeinbildung oberschulmäßigen Zuschnitts zuteil werden zu lassen. Es kommt daher bei der prospektiven Bildungsplanung entscheidend darauf an, zunächst diese Schulstufe programmatisch prägnant zu konzipieren, die künftig damit rechnen kann, daß ihr alle Schüler während der ganzen Pubertätszeit bis in die Adoleszenzphase hinein zur Verfügung stehen werden. Die Möglichkeit, auch den Plan der bisherigen Volksschuloberstufe so zu verändern, daß er eine vollständige Sekundarbildung zu gewährleisten gestattet, bedeutet aber nichts weniger, als daß die Anforderungen der Endstufe dieses Schultyps erhöht und damit dem Anspruchsniveau der anderen Schultypen für die gleiche Entwicklungsphase angenähert werden können. Damit würde sich die Chance einer stärkeren Vereinheitlichung der auf die Grundschule folgenden Schulstufen und die Aussicht auf eine größere Flexibilität für die Binnendifferenzierung des allgemeinbildenden Schulwesens im ganzen ergeben. Alle herkömmlichen Sekundarschultypen werden neben einem zunehmenden Grundbestand an Bildungssubstanz die Aufgabe gemeinsam haben, durch eine angemessene Gestaltung des Schullebens und der schulischen Arbeit pädagogisch einer Jugend gerecht zu werden, deren persönliche Reifung und deren sozialer Status weitgehend durch gleichartige Bedingungen bestimmt werden. Als beste Lösung bietet sich eine für alle Jugendlichen gemeinsame Schulform an. Sie würde an die Stelle der verschiedenen Schultypen auf der Sekundarstufe zu treten haben, in denen sich noch das Schema der ständischen Gesellschaftsordnung erhalten hat. Die anzustrebende Gesamtschule für das Jugendalter wird derart auszubauen sein, daß sie, ähnlich wie die Grundschule für die reife Kindheit, den erziehe44

rischer Notwendigkeiten entspricht, die sich aus der Situation der Pubertierenden in der modernen Gesellschaft f ü r die Sekundarstufe des Schulwesens ergeben. In ihr wird der Vorrang der übergreifenden Erfordernisse schulischer Bildung vor allen partikulären Interessen gesichert werden können. Sie wird aber auch durch Maßnahmen der inneren Differenzierung den individuellen Bildungsbedürfnissen genauer zu entsprechen in der Lage sein als die grobschlächtige Typisierung der herkömmlichen Sekundarschularten. Die Gesamtschule f ü r das Jugendalter wird ein O r t sein müssen, an dem die junge Generation, solange sie von der verantwortlichen Mitarbeit in der Gesellschaft der Erwachsenen ausgeschlossen ist, Aufgaben vorfindet, die ihrem Selbständigkeitsdrang Rechnung tragen. Dies sollten Aufgaben sein, die sie geistig beanspruchen, ihre Begabungen herausfordern und mit denen sie sich unmittelbar identifizieren kann. Dadurch wird die Jugendschule den Gefahren der seelischen Erosion und eines einseitig triebhaften Pubertierens, die den Heranreifenden in der modernen Welt drohen, zuvorkommen und die Voraussetzungen sichern f ü r die Art geistigen Wachstums, die H . Roth als „Kulturpubertät" gekennzeichnet hat. In seiner heutigen Verfassung ist das Bildungswesen auf der Sekundarstufe noch weit davon entfernt, allen Jugendlichen die Chance zu solcher Förderung zu bieten. Zumal in der Bundesrepublik weist das Schulsystem hier erhebliche Mängel und große Lücken auf. Bisher haben nur die Schüler der gymnasialen Oberschulen Gelegenheit, die entscheidenden Jahre der Reifezeit ihrer allgemeinen menschlichen Bildung zu widmen. Da unsere Gymnasien aber nicht nach dem Förderungs-, sondern nach dem Ausleseprinzip verfahren, gelangt nicht einmal die Hälfte ihrer Schüler zu einem befriedigenden Ziel. Überdies besucht nur ein vergleichsweise erschreckend niedriger Anteil der Jugendlichen bis zur Berufsreife Vollzeitschulen. Während in den USA noch 7 0 % , in Frankreich 2 8 % der 17- bis 18 jährigen in solchen Schulen allgemeinen Unterricht erhalten, sind es bei uns knapp 16%. Dieses statistische Datum macht deutlich, daß schon eine auf die derzeitigen Bildungsbedürfnisse abgestellte Planung eine beträchtliche Ausweitung unseres Sekundarschulwesens vorzusehen hätte. Die Dringlichkeit einer solchen Ausweitung wird vollends evident, wenn bei prospektiver Planung die Erfordernisse künftiger Schulbildung einbezogen werden. Erst aus jüngster Zeit hat eine bisher von der Bildungsplanung wenig berücksichtigte Argumentationsform durchschlagende Beweismittel dafür bereitgestellt, daß der angedeutete Ausbau des Bildungswesens unverzüglich eingeleitet werden muß, wenn die Gesellschaft der Zukunft vor perniziösen Krisen bewahrt bleiben soll. Von einer Seite, von der solche Überraschung am wenigsten jerwartet wurde, kam 45

schließlich die zwingendste Begründung für den Ausbau des Bildungswesens. Die wirtschaftswissenschaftliche Forschung sah sich nämlich auf Grund faktorenanalytischer Kalkulation nicht nur zu dem Zugeständnis genötigt, daß eine Vermehrfachung des Kapitalaufwandes für Bildungszwecke unabweisbar werde; die junge Disziplin der Bildungsökonomie gelangte vielmehr sogar zu der Einsicht, daß Investitionen im Bildungswesen auf lange Sicht volkswirtschaftlich die sicherste und rentabelste Kapitalanlage darstellen. Hierbei handelt es sich übrigens um eine Erkenntnis, die bei uns während der Frühphase der industriellen Revolution um 1840 schon als sdiulpolitisches Argument benutzt worden ist, und zwar von einem Unternehmer: Friedrich Harkort. Die sozialökonomische Betrachtung des Bildungswesens führte aber auch zu Befunden, die auf die professionelle Pädagogik zunächst schokkierend wirken mußten, weil sie sorgsam gehegte Idealvorstellungen vom Wesen schulischer Erziehung bedrohten. Es läßt sich nicht bestreiten, daß in jedem modernen Gemeinwesen das Schulwesen das größte aller von der Gesellschaft zu unterhaltenden Unternehmen ist. Ebenso wenig kann jedodi auf die Dauer übersehen werden, daß das Schulsystem, wirtschaftlich beurteilt, das mit Abstand am wenigsten rationell organisierte Großunternehmen ist. Die herbe Kritik, die vollends nach dem spektakulären Sputnikschock in den USA an den Leistungen des Schulsystems geübt wurde, gipfelte in der Feststellung, das technische Zeitalter habe vor der Schultüre haltgemacht und die Schule sei bis heute ein vorindustriell verfaßter Betrieb geblieben. Wenn dabei auch Tabubarrieren zu übersteigen waren, mußte die Pädagogik sich entschließen, die Vorwürfe der Organisationsexperten sachlich zu respektieren. Bisher nur zögernd angesetzte Versuche, die Mittel der Technik pädagogisch zu benutzen und den Schulbetrieb organisatorisch rationeller zu organisieren wurden häufiger durchgeführt und in zunehmendem Maße auf breiterer Basis ausgebaut. Es ist damit zu rechnen, daß es im Schulwesen nicht mit solchen vereinzelten und teilweisen Rationalisierungsmaßnahmen sein Bewenden haben wird. Vielmehr ist jetzt schon gewiß, daß dem Gesichtspunkt der Rationalisierung für das Bildungssystem im Ganzen eine prinzipielle Bedeutung zuerkannt werden muß. Am pädagogischen Horizont zeichnen sidi sdion jetzt die Umrisse schulischer Großbetriebe ab. Sie erscheinen der Mehrzahl aller am Erziehungswesen mit Sorge Interessierten heute noch als Schreckgebilde. Die Schule als perfekt funktionierende „Bildungsfabrik" ist gewiß keine verlockende Zielvorstellung. Es deutet aber alles darauf hin, daß die Erfordernisse künftiger Schulbildung nur erfüllt werden können, wenn es gelingt, große Systeme rationell zu organisieren. 46

Die ersten langfristigen Planungen für das Bildungswesen haben ergeben, daß die bisher als Norm geltende vollausgebaute Schule mit je einem Klassenraum für jeden Schülerjahrgang schon heute nicht mehr dem ökonomischen Prinzip des optimalen Nutzwertes auf weite Sicht entspricht. Es ist anzunehmen, daß bildungsökonomische Argumente künftig nicht nur die Finanzierung von Zwergschulen, sondern auch vollausgebauter Systeme in herkömmlicher Größenordnung weitgehend ausschließen werden. Damit wird die Frage akut, welche pädagogischen Probleme der in den nächsten Jahrzehnten zu erwartende Übergang zur Großschulorganisation mit sich bringt und wie sie positiv zu lösen sind. Hier empfiehlt sidi das neuerdings auf vielen Gebieten erprobte Verfahren des Planspiels. Einer der pädagogisch wichtigsten Leitgedanken dürfte dabei sein, festzustellen, wie durch Rationalisierungsmaßnahmen, zu denen u. a. auch die Einbeziehung der geeigneten technischen Hilfsmittel und die Beschäftigung von Hilfskräften gehört, der Sdiulbetrieb derart geregelt werden kann, daß für Lehrer und Schüler gleichermaßen ein Höchstmaß von Spielraum zur freien Verfügung und zur Entfaltung eigener Initiative gewährleistet ist. Bei Schulsystemen in der heute üblichen Größe sind derartige Maßnahmen schon aus wirtschaftlichen Erwägungen nicht angebracht; in größeren Betrieben können sie jedoch dazu dienen, die Lehrer von allen das Erziehungsgeschäft einengenden Funktionen zu entlasten und ihre pädagogische Potenz freizusetzen. Durch Planspiele wären im konkreten Fall die günstigsten Möglichkeiten der Zusammenfassung kleiner Schulen zu größeren Systemen ausfindig zu machen. Dabei können Richtsätze zu Grunde gelegt werden, die aus anderen Ortes gemachten Erfahrungen gewonnen werden. So wäre etwa als Arbeitshypothese die Empfehlung James B. Conants für die amerikanische Comprehensive High School zu berücksichtigen, nach der die Möglichkeiten zur organisatorischen Differenzierung des Unterrichtsbetriebs in optimaler Weise nur in solchen Systemen gegeben sind, die auf der Endstufe noch rund 100 Schüler, also nach deutschen Maßstäben mindestens drei Parallelklassen umfassen. Unter solchen Voraussetzungen können mehr und bessere Gelegenheiten geschaffen werden, die es gestatten, alle Schüler nach Begabungsrichtungen und Interessenschwerpunkten zu gruppieren und jeweils ihrem Reifeund Leistungsstand entsprechend zu fördern. Mit der Aussicht, daß der Ausbau des Schulwesens in diese Richtung zielen wird, müssen vor allem die Architekten, die Siedlungs- und Verkehrsplaner rechtzeitig befaßt werden. Das gilt nicht nur für die großen Städte und Ballungsräume der Industrie, sondern ist von mindestens gleicher Bedeutung für die abgelegenen und dünn bewohnten ländlichen Gebiete. 47

In den Flächenstaaten der Bundesrepublik ist in den letzten Jahren die Zusammenfassung der Oberstufen kleinerer Volksschulen zu Mittelpunktsschulen in Gang gekommen. In der Regel werden solche zentralen Oberbausysteme aber nach Richtsätzen geplant, die für die vollausgebaute Volksschule herkömmlicher A r t gelten, d. h. die Projekte sehen f ü r die Endstufe jeweils eine 8. bzw. 9. Jahrgangsklasse vor. Allenfalls wird im Hinblick auf die zu erwartende Umgestaltung der Volksschuloberstufe zur Hauptschule im Sinne des Deutschen Ausschusses f ü r das Erziehungs- und Bildungswesen f ü r einen späteren Bauabschnitt noch mit einer 10. Klasse gerechnet. Um den Erfordernissen künftiger Schulbildung in den ländlichen Gebieten genügen zu können, wären diese regionalen Mittelpunktsysteme jedoch vorsorglich so zu entwerfen, daß sie etappenweise zu Gesamtschulen ausgebaut werden können, die eine Differenzierung der Begabungsförderung bis zu gymnasialen Bildungszielen möglich machen. Geschieht das nicht, so stellt sich vielleicht schon nach zehn Jahren heraus, daß die heute noch als avantgardistisch geltenden Mittelpunktsschulprojekte heillos veraltet sind. Für die in Stadt und Land nach den angedeuteten Gesichtspunkten zu errichtenden Gesamtschulen werden an Stelle der starren Fächerkataloge, die zu den Merkmalen der herkömmlichen Schulformen auf der Sekundärschule gehören, didaktische Programme zu entwickeln sein, die eine Vielzahl typischer Varianten anbieten, darüber hinaus aber auch Bedürfnissen der individuellen Schwerpunktbildung gerecht zu werden gestatten. Dies setzt einen Kanon der Bildungsaufgaben voraus, der so angelegt ist, daß er durch unterschiedliche funktionale Artikulation ohne Strukturverlust aktualisiert werden kann. So lassen sich etwa neben einem Grundbestand verbindlicher Kernfächer Kurse vorsehen, die hauptsächlich der Orientierung dienen oder der Übung gewidmet sind, während Wahlfächer Gelegenheiten bieten, Ansatzstellen der individuellen Profilierung und Integration zu finden. Die Kernfächer und Wahlfächer wären dann als Brennpunkte eines elliptisch strukturierten Bildungsgeschehens zu verstehen, denen gegenüber die Orientierungs- und Übungsfächer als Felder ergänzender und unterstützender Leistungen zu gelten hätten. Ist dort die intensive Anstrengung hochqualifizierter Lehrer unabdingbar, so kann hier bei entsprechender Programmierung das meiste der fachmännischen Routine pädagogischer Hilfskräfte anvertraut werden. Die Vorteile, die eine derartige Akzentuierung der Bildungsaufgaben bietet, liegen auf der Hand: Die Delegation der subsidiären Funktionen an ein Team methodisch geschulter Assistenzkräfte und Junioren wäre eine Rationalisierungsmaßnahme, die dem Unterricht in den Schwerpunktbereichen insofern zugute kommt, als sie den voll48

qualifizierten Lehrer instand setzt, sidi seinem eigentlichen Erziehungsund Bildungsauftrag mit der gehörigen Umsicht, Muße und Intensität zu widmen. Eine weitere Möglichkeit der „Effektivisierung durch Rationalisierung", die sich erst im Großbetrieb von Gesamtschulen bietet, stellt die „Diversifizierung der Sozialformen" bei der Organisation des Unterrichts dar. Dabei gilt es, die Gelegenheiten wahrzunehmen, in denen es vorteilhaft ist, sämtliche Schüler der gleichen Reifestufe in Großklassen gemeinsam zu unterrichten oder stiller Einzelarbeit nachgehen zu lassen. Dadurch würden Lehrerstunden für intensive Arbeit mit kleinen Schülergruppen gewonnen. Es wäre durchaus denkbar, daß in einer Gesamtschule mit Großklassenunterricht, Kleingruppenarbeit und Individualbetätigung sich die Organisation von Klassen in der herkömmlichen Größenordnung als seltener Sonderfall erweisen könnte. Bei uns ist die Kombination solcher Organisationsformen des Unterrichts noch kaum versucht worden. Erfahrungen aus dem angelsächsischen Schulwesen deuten jedoch daraufhin, daß sie für das Schulwesen der Zukunft zum Mittel der Wahl werden könnte. Auch in diesem Zusammenhang sind von vornherein neben den schulinternen organisatorischen Voraussetzungen auch die äußeren Realisationsbedingungen mitzuerwägen. Sie reichen von der baulichen Raumverteilung bis zur technischen und instrumentalen Ausstattung, begreifen aber ebenso, wie schon früher angedeutet wurde, Vorentscheidungen mit ein, die die Siedlungs- und Landsdiaftsplanung betreffen. Wenn heute Städteplaner Wohnviertel entwerfen, die etwa dem Einzugsgebiet einer im herkömmlichen Sinn vollausgebauten Volksschule entsprechen, wird dadurch der Aufbau einer Gesamtschule zu einem schwierig zu lösenden Problem. Derartige Vorentscheidungen legen heute schon Überlegungen nahe, ob gegenüber dem pädagogischen Ungedanken des Schulhochhauses nicht der Gedanke von Schulparken am Stadtrand die bessere Alternative abgibt. Heute bietet Schweden schon ein lehrreiches Beispiel dafür, wie beim Ausbau des Bildungswesens die Erfordernisse künftiger Schulbildung in langfristigen prospektiven Planungen berücksichtigt werden können. Das Beispiel der schwedischen Schulreform läßt aber auch deutlich erkennen, daß die entscheidenden Prämissen solcher Planung nur mit Hilfe der einschlägigen Wissenschaften bestimmbar sind. Abschließend soll daher noch von der in diesem Zusammenhang wichtigsten Wissenschaft, der Pädagogik, kurz die Rede sein. Dabei ist zu fragen, ob die Erziehungswissenschaft überhaupt schon hinreichend gerüstet ist, um ihrer Schlüsselstellung entsprechende Leistungen beisteuern zu können. Diese Frage kann nur mit einem entschiedenen Nein beantwortet werden. Mithin gehörte die Vervollkommnung der 4 Universitfitstage 1965

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Erziehungswissenschaft selbst zu den dringlichsten Aufgaben, die gelöst werden müssen, wenn es darum geht, die Erfordernisse künftiger Schulbildung vorauszuerkennen und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung kritisch zu prüfen. Wie andere Disziplinen ist auch die Pädagogik in der gegenwärtigen Situation genötigt, sich in ihrem Aufgabengebiet, dem Erziehungs- und Bildungswesen, mit Fragen der Zukunftsplanung zu befassen. Dabei gerät sie in arge Verlegenheit; denn sie ist dafür im Unterschied zu verwandten Disziplinen denkbar schlecht vorbereitet. Seit Dilthey sie vor 80 Jahren eine „rückständige Wissenschaft" und eine „Anomalie in der gegenwärtigen Lage der Wissenschaft" gescholten hat, ist sie zwar — sowohl kategorial als auch methodisch — erheblich fortgeschritten; „innerhalb der gegenwärtigen Wissenschaften der Gesellschaft" hat sich jedoch an ihrer Stellung als „Aschenbrödel", wie Dilthey sie nannte, bis in die jüngste Vergangenheit sehr wenig geändert. In ihrem Selbstverständnis rechnet sie sich heute (nach Flitner) ihrer „methodischen Struktur" nach zum Typus der „hermeneutisch-pragmatischen" Wissenschaften vom Menschen. Diltheys Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl für Pädagogik, F. Paulsen, hat von den „Berufswissenschaften" festgestellt, daß sie an der Universität je durch eigene Fakultäten repräsentiert gewesen seien: so die Theologie, die Jurisprudenz, die Medizin. Daß die Pädagogik in diesem Kreise fehlt, rührt — nach der Deutung W. Flitners — daher, daß der Beruf des Pädagogen als selbständiges öffentliches Amt erst nach der französischen Revolution entstanden und in mehreren Schüben ausgebaut worden ist. Die Pädagogik erhob sich gleichzeitig — zuerst bei Herbart und Schleiermacher, dann von neuem Ansatz aus ab Dilthey — zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin. Unter der fortdauernden Suprematie der Philosophie konnte sie sidi jedoch in der Universität bis heute nur notdürftig etablieren. Die „realistische Wendung in der pädagogischen Forschung" ist vorerst noch weitgehend Postulat geblieben (H. Roth 1962), ihre Differenzierung kam bis heute über erste Ansätze nur wenig hinaus (Geißler 1964). Solange aber die Erziehungswissenschaft nicht hinreichend, d. h. etwa so wie die Medizin, disziplinar differenziert ist und dadurch zu arbeitsteiliger Kooperation fähig wird, fehlt die wissenschaftliche Instanz, die sich mit begründetem Anspruch anheischig machen kann, in der zukünftigen Welt, die — nach C. F. Weizsäckers Worten — eine technisch-wissenschaftliche Welt sein wird, die Erfordernisse der Schulbildung und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung festzustellen. Das bedeutet aber: Sicherung und Ausbau der Bildungsforschung gehören selber zu den unabdingbaren Erfordernissen und Realisationsfaktoren künftiger Schulbildung. 50

Diese These ist keineswegs neuartig. Programmatisch gefaßt läßt sie sich schon in einer Schrift „für Studierende" nachweisen, die der Leipziger Privatdozent Karl Heinrich Milhäuser „Über Philologie, Alterthumswissenschaft und Alterthumsstruktur" 1837 erscheinen ließ. Darin heißt es auf S. 77: „Die Pädagogik aber möchten wir zu einer jener zusammengesetzten praktischen Wissenschaften, zu einer besonderen Facultät (wie die Medizin) machen, welche alle diejenigen Doctrinen und Studien lehrte und zu ihrer praktischen Anwendung Anleitung zu geben hätte, welche für jede (!) Art von Pädagogen zu wissen und zu üben nöthig sind, damit er seinen Zweck erfülle; also alles, was je nach den Anforderungen des Zeitgeistes zur vollständigen Paideia im alten Sinne gehört. Wenn nun gegenwärtig %wei Hauptrichtungen des Gesamtlebens der gebildeten Menschheit thatsädilich bestehen, Intelligenz und Industrie (Humanismus und Realismus), so ist es klar, daß die classische Bildung — gewöhnlich auch die philologische genannt — Vorbereitung und Erziehung für die erste der beiden ist. Wie aber die intellectuelle Pädagogik für jede der beiden Richtungen besonders einzurichten sei, damit sie den gegenwärtigen Beziehungen sowohl, die sie über sich haben, als ihren besonderen Anforderungen entspreche, diese wichtige Zeitfrage, würde vor das Forum dieser Facultät gehören, deren Lösung auch den Streit über Humanismus und Realismus der Gymnasialbildung schlichtet." Da die Pädagogik seinerzeit nicht — wie die Medizin — zu einer „zusammengesetzten praktischen Wissenschaft" entwickelt wurde, sondern im wesentlichen beschränkt blieb auf eine normative Theorie der formalen Bildung, wurden viele ihrer Aufgaben von fremden Disziplinen — z. T. sogar fast ausschließlich — wahrgenommen. So hat — um nur ein Beispiel zu herauszugreifen — der Jurist, Nationalökonom und Soziologe Lorenz v. Stein 1868 den ersten und bis heute einzigen Entwurf einer Strukturtheorie des gesamten Bildungswesens beigesteuert, allerdings im Zusammenhang einer Verwaltungslehre. Trotz eines nachdrücklichen Hinweises von Spranger auf Lorenz v. Stein hat sich die Erziehungswissenschaft der Strukturtheorie des Bildungswesens als einer eigenen Disziplin bisher eher nur beiläufig und zögernd angenommen. Ihr Ausbau zu einer „einheimischen" Disziplin der Erziehungswissenschaft hat im letzten Jahrzehnt begonnen. Ihn kräftig zu fördern dürfte zu den vorrangigen Desideraten gehören, die erfüllt werden müssen, wo es darum geht, die Erfordernisse künftiger Schulbildung zu erkennen und die Möglichkeiten ihrer Verwirklichung festzustellen. Zu den langfristigen Entwicklungsaufgaben, die mit besonderem Nachdruck gefördert werden müssen, um die Voraussetzungen für die 51 4*

Realisation prospektiver Planungen für das Bildungswesen zu sichern, gehört demnach zweifellos der Ausbau erziehungswissenschaftlicher Forschung. Es gibt Anzeichen, die in dieser Hinsicht zu einiger Hoffnung berechtigen, zumal in Berlin, wo jetzt das Institut für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft besteht, wo das Pädagogische Zentrum seine Arbeit aufgenommen hat, wo die Universitäten zusätzlich neue Lehrstühle für Erziehungswissenschaft eingerichtet haben. Es wird weiterer Anstrengungen bedürfen, den Nachholbedarf der Erziehungsforschung zu befriedigen, wenn anders zureichende Voraussetzungen für eine Modernisierung der Lehrerbildung und vorausschauende Planungen im Bildungswesen geschaffen werden sollen. Sonst könnte es in den nächsten Jahrzehnten noch zu den „Schulkrächen" kommen, die Jacob Burckhardt für das 20. Jahrhundert vorhergesagt .hat. Die „mächtige Steigerung des Erziehungsberufes in der modernen Gesellschaft", die Dilthey in seinen pädagogischen Vorlesungen schon vor rund 80 Jahren hier in Berlin angekündigt hat, zwingt heute zu einer prospektiven Planung, die alle Möglichkeiten der Rationalisierung wahrnimmt, um die Spielräume der Freiheit zu sichern, ohne die das Geschäft der Erziehung nicht wirksam in Gang gehalten werden kann. Dabei kommt viel darauf an, daß die Planer sich des Beistandes der Wissenschaft versichern: nüchtern und imbefangen, aber auch mit der rechten, durch Selbstkritik gezügelten Kühnheit.

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Grundsätzliche Überlegungen zur Kybernetik Von K a r l

Steinbuch

Einleitung Der Versuch, die Kybernetik nach übergeordneten Grundsätzen zu analysieren, ist aus verschiedenen Gründen sehr problematisch: Erstens besteht keinerlei Konsens über solche Grundsätze. Der Spielraum unterschiedlicher Prinzipien ist sehr weit: er reicht von dunkler Mystik bis hin zur Identifizierung der Kybernetik mit aktuellen politischen Meinungen. Deshalb ist das folgende nichts anderes als die Ansicht eines Einzelnen. Zweitens betreffen viele Fragen und Aussagen der Kybernetik das Spannungsfeld der ideologischen Auseinandersetzung. Wie kann man in diesem Spannungsfeld unbefangen argumentieren, ohne politisch verdächtigt zu werden? Wir wissen ja, wie sehr unser Denken von Stereotypen beherrscht wird. Man kann hier kaum eine von der Norm abweichende Ansicht äußern, ohne „heiligste Güter" zu verletzen und damit als Parteigänger „entlarvt" zu werden. Drittens ist die Darlegung der Grundsätze kybernetischen Denkens deshalb so schwierig, weil bereits der Sprachgebrauch eine prinzipielle Entscheidung voraussetzt. Wenn beispielsweise ein Mensch eine Zahlenreihe abliest und addiert, und danach ein Automat „dasselbe" leistet, darf dann diese scheinbar „gleiche" Funktion mit demselben Terminus bezeichnet werden, oder handelt es sich hier um etwas total anderes, was auch mit einem anderen Terminus bezeichnet werden muß? Bevor jedoch über die — offensichtlich problematischen — Grundsätze diskutiert werden kann, sei versucht, den Begriff „Kybernetik" etwas zu präzisieren. Hierbei wird keine randscharfe Definition angestrebt, es sollen nur einige Schwerpunkte angegeben werden. Eine allgemein anerkannte Definition existiert für Kybernetik ebensowenig wie für Mathematik oder Philosophie. Die folgenden Darlegungen sollen zunächst eine kurze Erklärung der Kybernetik ergeben, die wohl allgemein anerkannt werden kann, auf die problematisdieren Fragen soll später eingegangen werden. 53

1. Was ist

Kybernetik?

Das Wort „Kybernetik" ist schon alt: Piaton verwandte „kybernetiki" im Sinne von Steuerkunde. Es ist auch erwähnenswert, daß das französische Verb „gouverner" und das englische „to govern", also „regieren" wortgeschichtlich mit Kybernetik zusammenhängen. Was wir heute als „Kybernetik" bezeichnen, ist im wesentlichen aus drei technischen Wurzeln herausgewachsen, nämlich der Regelungslehre, der Nachrichtenübertragungstechnik samt Informationstheorie, und der Nachrichtenverarbeitungstechnik. Diese drei Wurzeln sollen durch typische Vorgänge anschaulich gemacht werden.

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