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German Pages 636 Year 2014
Johannes Feichtinger Wissenschaft als reflexives Projekt
Johannes Feichtinger (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte als Politik- und Kulturgeschichte, Geschichte Zentraleuropas, postkoloniale Theorie, Gedächtnis und Erinnerung.
Johannes Feichtinger
Wissenschaft als reflexives Projekt Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (Wien), des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 3 – Wissenschaft und Forschung sowie der Stadt Wien, Magistratsabteilung 7 (Kultur und Wissenschaft)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
V ORWORT
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1. E INLEITUNG 1.1 Forschungsstand und wissenschaftshistorische Perspektive 1.1.1 Erinnerungsschichten 1.1.2 Methoden 1.2 Historische Grundfragen 1.2.1 Das österreichische Staats- und Reichsproblem 1.2.2 Die Wissenschaft als Schauplatz der Politik 1.2.3 Wissenschaftswandel – Objektivistische und subjektivistische Orientierungen 1.3 Materialien – Das Prinzip Kelsen, das Prinzip Freud
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2. 2.1 2.2 2.3 2.4
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B EGRIFFE UND K ONZEPTE Zentral- versus Mitteleuropa Zentraleuropa und der neue Raumbegriff Zentraleuropa als Raum-Zeit-Union Die Erfindung des Nationalen und seine identitätsstiftende Praxis in Österreich 2.5 Die Herausforderung des Heterogenen: Kultur, Identität und Ethnizität reconsidered 2.6 Plurikulturalität als Konzept und als Lebensform 2.7 Politik, Kultur und Wissenschaftsgeschichte
3. W ISSENSCHAFTSWANDEL 3.1 Österreichische Staatsphilosophie 3.1.1 Bernard Bolzano 3.1.2 Johann Friedrich Herbart 3.1.3 Robert Zimmermann. Zwischen Bolzano und Herbart 3.1.4 Leibniz’ Monadologie. Auffassungsunterschiede zwischen Herbart und Bolzano 3.1.5 Kant. Der Stein des Anstoßes 3.1.6 Zur Kritik der Metaphysik des welterschaffenden Ich 3.1.7 Zimmermanns Wende 3.2 Von der Staatsphilosophie zum Positivismus 3.2.1 Die Thunsche Unterrichtsreform 3.2.2 Thun und die Philosophie 3.2.3 Rudolf Eitelberger. Ein Vorkämpfer für die Philosophie 3.2.4 Der Herbartianismus als Staatsphilosophie 3.3 Der Antikantianismus in Österreich. Eine Invention of Tradition?
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3.4 Der Positivismus in Österreich 3.4.1 Rivalisierende Akteure in der Aneignung des Positivismus 3.4.2 Die Vermittler 3.5 Sigmund Freud und die Überwindung des Herbartianismus 3.6 Zwischenresümee 3.7 Verfechter einer reflexiv-positivistischen Wissenschaftsauffassung 3.7.1 Alois Riegl. Der Wegbereiter 3.7.2 Ludwig Wittgenstein: Zwischen Einheit und Vielfalt. Ein Anwalt der Relativierung? 3.7.3 Spann versus Neurath. Oder: Absolut-engagierte kontra autonom-engagierte Wissenschaft
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4. I DENTITÄT ALS W ISSENSCHAFT I A. Hans Kelsen: Das reine Recht und die Wissenschaft als Freund der Demokratie 4.1 Familienähnlichkeiten auf dem Weg zur relativen Autonomie 4.2 Kritik und Gegenkritik 4.3 Die Reine Rechtslehre im Überblick 4.3.1 Rechtsfragen: Der grundlegende Gegensatz von Sein und Sollen 4.3.2 Wider den Methodensynkretismus 4.3.3 Staatsfragen: Die Verwerfung des Dualismus von Staat und Recht 4.4 Die Staatslehre Georg Jellineks 4.4.1 Der Jellineksche Staatsbegriff 4.4.2 Jellineks Vorläufer 4.5 Der Staatswillensbegriff als Zentrum der Auseinandersetzung 4.5.1 Carl Friedrich von Gerbers Staatswillensbegriff 4.5.2 Georg Jellineks Staatswillensbegriff 4.5.3 Hans Kelsen: Der Staatswille als normative Konstruktion 4.5.4 Kant. Oder: Die Renaissance der Aufklärung 4.6 Die These von der vollständigen Identität von Staat und Recht 4.6.1 Vorbild Neukantianismus 4.6.2 Der habsburgische Vielvölkerstaat als Movens für Kelsens Identitätstheorie 4.7 Eine Staatstheorie jenseits der Macht 4.7.1 Die neue Art Einheit zu stiften 4.7.2 Wege zur Autonomisierung der Jurisprudenz 4.8 Wissenschaft als Machtkritik 4.8.1 Der substanzlose Staat 4.8.2 Machtkritik durch Sprachkritik. Die Verabschiedung des Substanzbegriffs in Wien um 1900 4.9 Wahlverwandtschaften: Mach – Freud – Kelsen 4.9.1 Ernst Mach und die Physik ohne Kraft 4.9.2 Sigmund Freud und die Seelenlehre ohne Seele
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4.9.3 Das wesenhaft Soziale und Kelsens Kritik an der zeitgenössischen Sozialpsychologie 4.9.4 Vorbild Freud? 4.9.5 Hans Kelsen und die Staatslehre ohne Staat B. Staatsrechtsdiskurse in Habsburg-Zentraleuropa 4.10 Der Rechtsstaat ohne Staatsrecht 4.11 Die Josephinische Staatslehre 4.12 Der Vormärz. Franz von Zeiller & Co. 4.13 Die Situation der Staatsrechtswissenschaft um 1850 4.14 Verkümmerte Verfassungslehre. Oder: Der administrative Stil in der Staats(rechts)lehre 4.15 Die Staatsrechtslehre zwischen normativer und empiristischer Ausrichtung 4.15.1 Josef Ulbrich 4.15.2 Friedrich Tezner 4.15.3 Ludwig Gumplowicz 4.15.4 Resümee C. Das Prinzip Kelsen. Oder: Die Jurisprudenz als Wissenschaft für die Demokratie 4.16 Funktionen statt Substanzen 4.17 Die normative Theorie zur faktischen Demokratie 4.18 Die Jurisprudenz als Wächter 4.19 Der juristische Demokratiebegriff 4.20 Demokratie als Identität versus Demokratie als Differenz 4.21 Das Ideal der Demokratie verblaßt 4.22 Die Verteidigung der Demokratie durch die Wissenschaft 4.23 Die wehrlose Staatsform 4.24 Wissenschaft als Analyse 4.25 Wissenschaft als Therapie 5. I DENTITÄT ALS WISSENSCHAFT II A. Sigmund Freud und der Mann Moses 5.1 Identität durch Tradition, Andersheit durch Kultur 5.1.1 Die Mosaische Unterscheidung 5.1.2 Zur Entzifferung einer Gedächtnisspur 5.2 Sigmund Freuds Mann Moses. Diagnose, Therapie und Kritik 5.2.1 Diagnose 5.2.2 Therapie 5.2.3 Kritik 5.3 Erzählhandlung und Analyse 5.3.1 Zurückhaltung 5.3.2 Der ägyptische Ursprung des Monotheismus 5.3.3 Der Mann Moses. Das Kernstück jüdischer Identität 5.3.4 Die paulinische Wende
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5.4 Ich-Analyse – Kultur-Analyse – Religions-Analyse 5.5 Die Macht der Tradition 5.5.1 Die verschlungenen Wege in der Überlieferung: Tradition und traumatische Neurose 5.5.2 Latenz. Oder: Das bewahrende Vergessen 5.5.3 Das neue Traditionsmodell 5.5.4 War Freud ein Psycho-Lamarckist? B. Freud im Kontext 5.6 Sigmund Freud. Der Authentizitätskritiker 5.7 Wilhelm Schmidt und Oswald Menghin als Widersacher Sigmund Freuds 5.7.1 Zur katholischen Rassenlehre 5.7.2 Seelenverschiedenheit durch Volk und Kultur 5.7.3 Schmidts Essenz: Rasseverschiedenheiten, aber doch nicht so ganz 5.8 Sigmund Freud. Alternative Wege der Selbstvergewisserung 5.9 Zwischenresümee 5.10 Antisemitismus 5.10.1 Die Erste Republik Österreich: christlich – deutsch – antisemitisch 5.10.2 Akademischer Antisemitismus 5.10.3 Assimilation und Antisemitismus 5.11 Kultur als das angebliche Wesen jüdischen Volkstums 5.11.1 Oswald Menghin 5.11.2 Emmerich Czermak 5.11.3 Die Vereinnahmung des Zionismus durch Antisemiten 5.12 Resümee 5.13 Sigmund Freud. Oder: Die Zukunft einer Illusion 5.14 Resümee postcolonial 5.15 Die Logik des Außenseiters. Zur Aufhebung der Unterscheidung im Zeichen des Synkretismus 5.16 Der lange Schatten C. Gedächtnis, Erinnerung und Tradition. Wandlungen eines Paradigmas 5.17 Maurice Halbwachs. Oder: Das Gedächtnis in the group und nicht of the group 5.17.1 Halbwachs’ Innovation vor dem Hintergrund zeitgenössischer Gedächtniskonzepte 5.17.2 Halbwachs und Freud 5.17.3 Viae Regiae zu Gedächtnis, Erinnerung und Tradition 5.18 Halbwachs und das kulturelle Gedächtnis 5.19 Resümee
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6. S CHLUSS 6.1 Die Beglaubigungs- und Anregungsfunktion der Identitätswissenschaften 6.2 Europa und der methodologische Nationalismus 6.3 Europa und seine Werte 6.4 ‚Nation‘ Europa? 6.5 Globaleuropa 6.6 Gedächtnis- und Erinnerungsorte 6.7 Reflexive Erinnerungsprojekte 6.8 Identität – eine Kategorie des Handelns, nicht des Seins 7. 7.1 7.2 7.3 7.4
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Q UELLEN -, L ITERATUR- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS Verwendete Archive und Bibliotheken Lexika, Enzyklopädien und Handbücher Quellenschriften Sekundärliteratur 7.4.1 Theorie 7.4.2 Wissenschaftswandel 7.4.3 Identität als Wissenschaft I: Kelsen und die Rechtslehre 7.4.4 Identität als Wissenschaft II: Sigmund Freud und Der Mann Moses 7.4.5 Europa – Zentraleuropa – Österreich 7.5 Abbildungsverzeichnis
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8. P ERSONENREGISTER
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Vorwort
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert vollzog sich im Feld der Wissenschaften ein rasanter Wandel. Ihre Modernisierung fand vor dem Hintergrund massiver sozialer, ökonomischer und politischer Umwälzungen statt, wobei dem Prozess der Nationalisierung eine besondere Bedeutung zukam: Wissenschaftliche Professionalisierung und Nationalisierung stellten zwei ineinandergreifende Entwicklungen dar. Verglichen mit anderen modernen Nationalstaaten gestaltete sich das Verhältnis von nationaler Politik und moderner Wissenschaft in der späten Habsburgermonarchie und in der Ersten Republik Österreich, deren Wissenschaftsgeschichte im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, allerdings wesentlich komplexer und ambivalenter: Zum einen vereinte das Habsburgerreich unterschiedliche Nationalitäten, deren Lebenswelten zumindest in den Städten zumeist plurikulturell verfasst waren. Zum anderen war die sich ausdifferenzierende Wissenschaftslandschaft Zentraleuropas nicht mit einem, sondern mit zwei unterschiedlichen Nationskonzepten konfrontiert: mit dem Modell der Sprach- bzw. Kulturnation einerseits; und dem für den Gesamtstaat angestrebten Ideal der Staatsnation anderseits. Von diesen besonderen politischen und soziokulturellen Konstellationen tief geprägt, hatte sich das moderne Wissenschaftsfeld schließlich, am Ende des untersuchten Zeitraums, noch im Nationalstaat der Ersten Republik einzurichten. Auch in Österreich verstärkten sich mit dem Aufstieg des nationalen Konzepts zur Leitfigur politischer Einheit die Verflechtungen von Wissenschaft und Politik, die den Akteuren beider Felder neue Chancen, Etablierungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffneten. Während sich die Wissenschaften bald als scheinbar unabkömmliche Produzenten neuer zweckmäßiger Wissensformen und -inhalte etablierten, konnte die Politik durch deren Aneignung ihr Regulierungswissen erweitern und ihr Handeln auf neue Weise legitimieren. Jedes Bündnis dieser Art konnte die Entwicklung der Wissenschaften sowohl begünstigen als auch beeinträchtigen. Im plurikulturell geprägten Staatsgefüge der Habsburgermonarchie waren insbesondere die Humanwissenschaften nicht vor dem besonderen Risiko gefeit, zwischen den Angeboten staatlich integrativer und desintegrativer Politiken zerrieben zu werden.
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Die spezifische Herausforderung vonseiten miteinander konkurrierender nationaler Politiken sowie die zahlreicheren Möglichkeiten der Wissenschaft für Allianzen oder deren Zurückweisung prägten die Entwicklung und Struktur des zentraleuropäischen Wissenschaftsfeldes zwischen 1848 und 1938 nachhaltig. Im Besonderen waren hiervon individuelle Berufslaufbahnen und disziplinäre Entwicklungen ebenso bestimmt wie der Autonomisierungsprozess der Wissenschaften im Allgemeinen. Autonomisierung bedeutete für Österreich keineswegs Einübung in völlige politische Enthaltsamkeit bzw. Rückzug in den Elfenbeinturm. Somit agierten hier die modernen Wissenschaften nicht politisch ‚voraussetzungsloser‘, d.h. unabhängiger als in anderen Ländern; auffallend ist aber, dass mancher bedeutende Wissenschaftler* dieses Raumes für sich eine besondere Form von Autonomie entdeckte: Das vielfältigere, zugleich aber umso widersprüchlichere Angebot vonseiten der Politik hatte nicht wenigen Akteuren im Wissenschaftsfeld die Unhaltbarkeit der Idee von der reinen, kulturell unberührten Wissenschaft klarer als in anderen Kontexten vor Augen geführt. Darin erblickten sie einen Anreiz, sich auf signifikante Art und Weise ein Stück Unabhängigkeit zu sichern anstatt ‚der besten aller möglichen‘ Allianzen mit der Politik oder dem Ideal völliger Unabhängigkeit von der Politik nachzujagen. Sonach wies man das Entweder-oder von Allianz und Elfenbeinturm zurück und machte diese Weigerung – diese Art von Autonomie – zum Ausgangspunkt von wissenschaftlicher Theoriebildung. Das Handeln dieser Wissenschaftler manifestierte sich in oft als spezifisch ‚österreichisch‘ bezeichneten Ansätzen, in denen die ambivalente Beziehungsgeschichte von Wissenschaft, Politik und Kultur weder ignoriert noch als notwendiges Übel akzeptiert, sondern als Herausforderung angenommen wurde. Während sich in Deutschland Historiker, Sprach- und Literaturwissenschaftler, Philosophen, Juristen u.a. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch unverfänglicher für die Ausbildung der nationalen Identität einsetzen konnten, war ein solcher Schritt in Österreich aufgrund seiner plurikulturellen Verfasstheit stets mit ambivalenten Wirkungen verknüpft: Stellten sich Wissenschaftler nämlich in den Dienst der zentralstaatlichintegrativen Staatsnationsidee, so hemmten sie zwar zentrifugale kulturnationale Kräfte, stärkten aber zugleich eine weitgehend autokratische Herrschaftsform. Unterwarfen sie sich der Sprach- bzw. Kulturnationsidee, so traten sie zwar für ‚demokratischere‘ Ideale ein; mit dem damit verbundenen Anspruch auf eine Einheit von Sprache, Volk und Territorium verschärften sie im ‚vermischten‘ Vielvölkerstaat aber zwangsläufig Prozesse sozialer Inund Exklusion. So wirkte das Nationalprinzip in der Habsburgermonarchie sowohl in seiner staats- als auch in seiner sprach- oder kulturnationalen
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Soweit in dieser Arbeit personenbezogene Bezeichnungen in maskuliner Form angeführt sind, so beziehen sie sich, sofern historisch zutreffend, auf Frauen und Männer in gleicher Weise.
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Ausprägung letztlich repressiv. Seine konflikthemmende, d.h. demokratische Wirkmacht war dadurch gebrochen. Diese prekäre Situation, mit nationaler Politik umzugehen, führte – idealtypisch gesprochen – zu unterschiedlichen Handlungsweisen der Wissenschaftler: Manche sollten eines dieser Nationalkonzepte affirmativ als Mittel der Selbstaufwertung nutzen, andere wiederum – unter ihnen u.a. Juristen, Psychologen und ‚Kulturwissenschaftler‘ – sollten sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Kultur in ihren fachspezifischen Analysen reflexiv auseinandersetzen. Dank der letzteren Handlungsform wurden signifikante heuristische Haltungen wie der Objektivismus, der anderswo abgesunken war, bewahrt und kulturnational-subjektivistische Strömungen in objektivistische Bahnen gelenkt. Unter diesen Voraussetzungen konnten in forschungspraktischer Hinsicht alternative Modelle zu einer mit der nationalen Idee eng verflochtenen Wissenschaft entwickelt werden. In diesem Buch wird diese Art von reflexiver Wissenschaft anhand ihrer Wegbereiter und wichtigsten Vertreter aus den Kultur-, Sozial- und Rechtswissenschaften neu erinnert und auf ihre Rolle in Bezug auf die Herausbildung relativ autonomer Wissenschaftstraditionen unter den spezifischen kulturellen Verhältnissen Zentraleuropas überprüft. Kurz gefasst lässt sich in Anlehnung an Jürgen Habermas sagen, dass für das Wissenschaftsfeld Zentraleuropas zwei unterschiedliche Akteurstypen prägend wurden: der reflexivanregende und der politisch-beglaubigende Wissenschaftler. Während dieser direkt oder indirekt Allianzen mit der Politik schloss, um durch sein Wirken im Sinne der jeweiligen Nationalidee seine Stellung zu verbessern, wahrte jener ein Stück Abstand. Diese „relative Autonomie“ (Pierre Bourdieu) war notwendig, um durch die Analyse der herrschenden Verhältnisse Vorschläge dafür zu liefern, wie in heterogenen Räumen (wie der Habsburgermonarchie) auf vernünftige Art und Weise Einheit bzw. Identität erzeugt werden konnte. Im 20. Jahrhundert wählte der Wiener Jurist Hans Kelsen den Begriff der „Hypostasierung“, um jene (politischen wie wissenschaftlichen) Handlungen kritisch distanziert zu analysieren, in denen die Wissenschaften abstrakte Begriffe wie Staat, Volk und Nation – „Gedankendinge“ – vergegenständlichten, d.h. auf Substanzen reduzierten oder zu Subjekten überhöhten. Solche Begriffshypostasierung zeugte von einem essenzialistischen Verständnis von Kollektiven, demzufolge Volk, Nation und Staat als ‚natürliche Organismen‘ mit unverwechselbarem Körper und Willen vorgestellt wurden. Diese Anthropomorphisierung des Abstrakten vereinfachte zwar kollektive Identitätsstiftungsvorgänge, produzierte aber zugleich auch das Zerrbild eines ‚wesensverschiedenen‘ Anderen. Da die Herdersche Devise: ein Staat, ein Volk, ein Nationalcharakter in Österreich mit der Wirklichkeit nationaler und kultureller Vielfalt innerhalb eines Staates kollidierte, musste die Introduzierung solch simplifizierender Identitätsvorstellungen zu Konflikten führen, zugleich aber auch den Bedarf an komplexeren Identitätsentwürfen für so manchen umso dringlicher erscheinen lassen. Kelsen war al-
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lerdings nur ein Vertreter jenes spezifischen Segments der Wissenschaften, das solche Vorgänge analysierte und auf reflexiv-anregende Weise in neue Formen wissenschaftlichen Handelns übersetzte, durch die sich die Wissenschaft als ausgleichender und demokratisierender Akteur profilieren konnte, ohne aber – so sei hinzugefügt – das Autonomieideal preiszugeben. In diesem Sinne entzogen sich Kelsen und weitere Vertreter verschiedener Disziplinen wie Alois Riegl, Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und Otto Neurath der Alternative ‚autonom‘ versus ‚engagiert‘. Sie zeigten stattdessen, dass Wissenschaftler mit Commitment handeln konnten, ohne die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes zu verletzen und dabei Autonomie einzubüßen. Diese ‚autonom-engagierte‘ Handlungsoption bot einen Ausweg aus jener Frontstellung, die sich in der plurikulturellen Monarchie etablierte und in der ‚multikulturellen‘ Republik Österreich noch weiter zuspitzte: zwischen Elfenbeinturm (absoluter Autonomie) und der politisch agierenden Wissenschaft (Heteronomie). Ausgehend von theoretischen Überlegungen des Kultursoziologen Pierre Bourdieu wird dieser ‚dritte‘ Weg, den die oben erwähnten Wissenschaftler auf exemplarische Weise beschritten, aus diachroner und synchroner Perspektive näher bestimmt. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis meiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte Zentraleuropas als einer Kulturund Politikgeschichte. Ich konnte mich ihr am intensivsten und produktivsten am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte (IKT) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften widmen. Die Grundlagen hierfür wurden allerdings in zwei vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderten Projekten am Grazer Institut für Geschichte gelegt: dem von Dieter Binder geleiteten Forschungsprojekt Austrian Refugee Scholars 1933–1945 und im Grazer FWF-Spezialforschungsbereich Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900 (Sprecher: Moritz Csáky). Das in diesen Projekten erarbeitete Wissen konnte ich während meines Research Fellowships am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien und langer Archivaufenthalte in England (u.a. am Wittgenstein-Archive, Cambridge) und den USA vertiefen. Die Hinführung auf die für bedeutende österreichische Wissenschaftler signifikante Option des ‚autonom-engagierten‘ Wissenschaftshandelns verdanke ich wesentlich der Wiener Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller, die mich während der Verschriftlichung der Arbeit unermüdlich mit wertvollen Hinweisen, Vorschlägen und als erste kritische Leserin unterstützte. Weiters bin ich Bernadette Harrant für die genaue Korrektur und Sabine Krammer für die sorgfältige Layoutierung des Buches sehr dankbar. Schließlich will ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, seinem Direktor Michael Rössner ebenso wie den mit mir kooperierenden Historikern, Kulturwissenschaftlern und Sozialanthropologen der Universitäten Wien und Graz, der Akademie und anderer ausländischer Hochschulen für viele Anregungen und Kritik Danke sagen. Besonders danken möchte ich aber Moritz Csáky, der mich in meinem wissenschaftlichen Tun von Anfang an
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unterstützte und förderte. Die Arbeit an diesem Buch wurde durch seine vielfältigen Impulse besonders belebt und entscheidend geprägt. In der hier vorliegenden Kulturgeschichte des Wandels und der relativen Autonomisierung der Wissenschaften in Österreich zwischen 1848 und 1938 wird das ‚autonom-engagierte‘ Agieren einer besonderen Gruppe von Wissenschaftlern vergegenwärtigt. Die Darstellung erinnert den von diesen Akteuren umfassend und verantwortungsvoll reflektierten Aspekt der Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Kultur und schafft Zugriff auf jene durch Nationalisierungsprozesse weitgehend verschütteten historischen Modelle, nach denen Wissenschaftler die Verteidigung der wissenschaftlichen Autonomie explizit mit integrativen identitäts- und demokratiepolitischen Zielsetzungen verknüpften. Hans Kelsen, der ‚Architekt‘ der österreichischen Verfassung, war nur einer von jenen, die der Wissenschaft eine Haltung abverlangten, die Bertolt Brecht bald darauf auch von der Kunst einfordern sollte: Sie „ist ein autonomer bezirk“, notierte er im Jahr 1940, „wenn auch unter keinen umständen ein autarker“.* Wien, Juli 2010
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Bertolt BRECHT, Arbeitsjournal. Erster Band. 1938 bis 1942, hg. von Werner Hecht, Frankfurt am Main 1993 (st 2215), S. 125 [Eintrag vom „24.8.40“].
1. Einleitung
1.1 F ORSCHUNGSSTAND UND WISSENSCHAFTSHISTORISCHE
P ERSPEKTIVE
1.1.1 Erinnerungsschichten Die Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte (‚intellectual history‘) Zentraleuropas sind im Wesentlichen von zwei Tendenzen gekennzeichnet: zum einen von einer Wien-Zentrierung, zum anderen von zwei Narrativen, in denen das Verhältnis von Wissenschaft, Kultur und Politik unterschiedlich bewertet wird. In einer älteren Fin de Siècle-Wien-Erzählung wurde die Wissenschaft als einer der kulturellen ‚Meilensteine‘ der ‚Wiener Moderne‘ dargestellt. In jüngerer Zeit wird die historische Wissenschaftsentwicklung in Österreich auch vermehrt mit dem Aufstieg totalitärer Strömungen kritisch in Verbindung gebracht. Die historische Aufarbeitung Wiens um 1900 zeigte zunächst die idealisierende Tendenz, die Haupt- und Residenzstadt der Habsburgermonarchie als ‚das kulturelle Zentrum Europas‘ und als Schauplatz einzigartiger schöpferischer ‚Aufbrüche‘ zu erinnern. Die „Monumente des Aufbruchs“, die in Ausstellungen wie „Traum und Wirklichkeit“ (1985) neu gezeigt wurden, waren die seinerzeitigen Heroen der Kultur: „Schönberg, Freud, Wittgenstein, Musil – […] große Namen, die als Beispiele für große Veränderungen stehen“.1 Diese Darstellungsform lieferte die Vorlagen für das zum Klischee erstarrte, oftmals verklärende Bild der kreativen Metropole – ‚Fin-de-Siècle Vienna‘.
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Robert WAISSENBERGER, Vorwort, in: Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930. 93. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1985, S. 10–11, hier S. 10. Weitere Ausstellungen zur Thematik fanden in Hamburg (1981), Venedig (1984), New York (1986) und Paris (1986) statt. Die erste Ausstellung unter dem Titel Wien um 1900, veranstaltet vom Kulturamt der Stadt Wien, wurde von 5. Juni bis 30. August 1964 in der Wiener Secession, dem Künstlerhaus und dem Historischen Museum der Stadt Wien (heute: Wien Museum) gezeigt. Vgl. Wien um 1900. Ausstellung, veranstaltet vom Kulturamt der Stadt Wien. 5. Juni – 30. August 1964, Wien 1964.
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Dieser Tendenz zur hagiografischen Musealisierung kultureller Juwele entzogen sich eine Reihe Maßstab setzender Arbeiten, deren Autoren – Schorske, Johnston, Janik und Toulmin (um nur einige anzuführen) – das „kreative Milieu“2 Wiens um 1900 historisch-kritisch kontextualisierten und neu bewerteten. Diese Werke zeugen tendenziell von zwei unterschiedlichen Zugangsweisen – einer enzyklopädischen und einer analytischen. Während William M. Johnston „die geistigen Reichtümer, die uns die Österreicher hinterlassen haben“, aus kritischer Distanz zu „inventarisieren“ suchte,3 legte Carl Schorske in seiner bestechenden Synthese Wien – Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle (1982)4 eine elaborierte Theorie vor: Die revoltierende Jugend habe aufgrund der Versäumnisse und Auswüchse in der altliberalen Ära (nationale Identitätsverletzungen, soziale Verelendung und moralische Versumpfung) das Vertrauen in die Werte der Väter verloren. Mit der Autorität der väterlichen Kultur sei aber auch das rational-liberale Wertesystem gestürzt worden. Der ‚neue Ton in der Politik‘, den der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910) angab, habe manche der studierenden Söhne in den Tempel jenes radikal elitären Ästhetizismus gedrängt, der von den Vätern nach dem Ideal aristokratischer Stil- und Wertvorstellungen errichtet worden wäre. In ihm hätten die Söhne das rationale Wunschbild ihrer liberalen Väter mit philosophisch-wissenschaftlichen und ästhetischen Konzepten des l’art pour l’art vertauscht. Die erwähnten Überblicksdarstellungen verbindet die Zurückführung der „kulturellen Leistungen ‚Kakaniens‘“ auf „bestimmte charakteristische Merkmale […], die den sozialen, politischen und ethischen Kontext ihrer Entstehung bezeugen und erhellen.“5 In Wittgensteins Wien verdichten sich diese Merkmale ‚Kakaniens‘ (Robert Musil) nicht nur in der Haupt- und Residenzstadt, sondern auch in dem zentralen Werk des titelgebenden Helden – im Tractatus logico-philosophicus (1921/29).6 Neue Akzente setzte Gotthart Wunberg, der 1981 zentrale Texte der Wiener Moderne zwischen 1890 und 1910 wieder veröffentlichte: Der Tübinger Literaturwissenschaftler wertete das Moment der „zahllosen Verflechtungen“ in der Kultur Wiens
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Emil BRIX, Allan JANIK (Hg.), Kreatives Milieu. Wien um 1900, München 1993. William M. JOHNSTON, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938, Wien–Köln–Weimar 31992, S. 23 [Original: DERS., The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848–1938, Berkeley–Los Angeles–London 1972]. Carl SCHORSKE, Wien – Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München– Zürich 1994 [Original: DERS., Fin-de-Siècle Vienna – Politics and Culture, New York 1980; erste deutsche Ausgabe, Frankfurt am Main 1982]. Allan JANIK, Stephen TOULMIN, Wittgensteins Wien, Wien 1998, S. 14 [Original: DIES., Wittgenstein’s Vienna, New York 1973; erste deutsche Ausgabe, München–Wien 1984]. Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung erschien im Jahr 1921 in der letzten Nummer von Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. 1929 wurde die englische Übersetzung der Abhandlung unter dem Titel Tractatus LogicoPhilosophicus in Cambridge als Doktorarbeit akzeptiert.
E INLEITUNG
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um 1900 auf.7 Später wurden auch die Verschränkungen zwischen der ‚repräsentativen‘ und einer ‚populären‘ Kultur – das andere Wien um 1900, nämlich das der Vorstädte – neu in das Bild von der Wiener Moderne gerückt.8 Aufgrund dieser Verschiebungen wurde das Kapitel von der ungeheuren Kreativität jener vermeintlichen „Wiener l’art pour l’art-Bewegung“ danach nur noch vereinzelt aufgeschlagen.9 Dieses Narrativ – Wissenschaft als Teil der Wien-Kultur um 1900 – zeigte auch die Tendenz, die ‚Alten Meister‘ im Lichte ihrer ‚ethnischen‘ Herkunft zu betrachten. Hatten Schorske, Johnston, Janik und Toulmin diesem Aspekt noch keinen Stellenwert zuerkannt, so argumentiert der Historiker Steven Beller, dass „viele, vielleicht die meisten der bekanntesten Vertreter der Wiener Kultur des Fin de siècle […] jüdischer Abstammung waren“.10 In der jüngeren Historiografie werden essenzialisierende Topoi dieser Art11 wie ‚Volk‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Kultur‘ ebenso kritisch hinterfragt wie der durch die Metapher der ‚Meilensteine‘ symbolisierte Vernunftfortschritt.12 Die Erkenntnisperspektive verlagert sich insbesondere mit einer Neubewertung der Beziehungsgeschichte von Wissenschaft, Kultur und Politik. Jüngeren Ansätzen zufolge wird Wissenschaft als Kultur verstanden, in welcher in Aushandlung mit der Politik in der Vergangenheit Wertvorstellungen erzeugt, verstärkt und/oder transformiert wurden. Der Berliner Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger spricht von „Wissensregimen“,13
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Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, hg. von Gotthart Wunberg unter Mitarbeit von J. Braakenburg, Stuttgart 1981 (Universalbibliothek 7742). Vgl. Wolfgang MADERTHANER, Lutz MUSNER, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt–New York 1999. So wurde die „Wiener l’art pour l’art-Bewegung“ im Anschluss an Schorske durchaus kritisch auch als eine Art des Umgangs mit einer ‚verletzten Identität‘ interpretiert. Vgl. Michael POLLAK, Wien 1900. Eine verletzte Identität, Konstanz 1997, S. 23, S. 27 [Original: DERS., Vienne 1900. Une identité blessée, Paris 1992]. Steven BELLER, Wien und die Juden 1867–1938, Wien–Köln–Weimar 1993 (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek 23), S. 12 [Original: DERS., Vienna and the Jews 1867–1938. A Cultural History, Cambridge [u.a.] 1989]. Vgl. die heftige Kritik Ernst H. Gombrichs in seinem Essay: Zum Wiener Kunstleben um 1900, in: DERS., Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung, hg. von Emil Brix und Frederick Baker, Wien 1997 (Passagen Forum), S. 31–54 [Original: Occasions 1 (1997)]. Vgl. Michael HERZFELD, Essentialism, in: Alan BARNARD, Jonathan SPENCER (eds.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, London 2004, S. 188–190. Vgl. Mitchell G. ASH, Von Vielschichtigkeiten und Verschränkungen. ‚Kulturen der Wissenschaft – Wissenschaften in der Kultur‘, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S. 91–105, hier S. 93–99. Der Wiener Wissenschaftshistoriker Ash nennt drei neue Ansätze zu einer für die Wissenschaftsgeschichte tauglichen Kulturbetrachtung: „Diskursanalyse, Symbolische Artefakte (Bilder und Texte), Kulturen der Wissenschaftspraxis“. Hans-Jörg RHEINBERGER, Staffan MÜLLER-WILLE, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt am Main 2009, S. 18.
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deren Analyse sich auf das Wissen – konstruktive Hervorbringungen sowie die destruktiven Seiten der Wissenschafts- und Kulturgeschichte, insbesondere die Geschichte biopolitischer, anthropologisch-medizinischer Konzepte zur ‚Rassenhygiene‘ oder Eugenik/Euthanasie – bezieht, seine politische Funktion aber miteinbezieht. Auch wenn, was Österreich betrifft, der Anteil der Wissenschaft am Aufstieg des Nationalsozialismus in weiten Teilen nach wie vor einer vertieften Analyse und Neubewertung harrt, so wurden doch mit der Rekonstruktion der verbrecherischen Verstrickung der ‚Ostforschung‘, der ‚Volksgeschichte‘ und anderer Bereiche erste, wesentliche Schritte und Akzente gesetzt.14 In den Jahrzehnten nach 1945 wurde die ‚Wissenschaftskultur‘ Österreichs nach einer Zeit des Verdrängens, Verschweigens und Vergessens der Involvierung in den Nationalsozialismus vor allem unter zwei konträren Perspektiven erinnert: zunächst unter dem Vorzeichen einer hagiografischen Huldigung der kulturstiftenden ‚österreichischen‘ bzw. Wiener Helden, mit der sich das neue Österreichbewusstsein ein Stück weit vertiefen ließ;15 in jüngerer Zeit unter dem Blickwinkel der Täter und Opfer des Nationalsozialismus bzw. der Mitschuld der Wissenschaft am Genozid. 14
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Vgl. u.a. Friedrich STADLER (Hg.), Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre. Internationales Symposium 5.–6. Juni 2003, Wien–New York 2004. Mitchell G. ASH (Hg.), Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus und danach. Stand der Forschung und Projekte in Österreich. Elektronische Ressource, Wien 2003. Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, hg. von Ingo Haar und Michael Fahlbusch, München 2008. Gerhard BAADER, Veronika HOFER, Thomas MAYER (Hg.), Eugenik in Österreich. Biopolitische Strukturen von 1900 bis 1945, Wien 2008. Gudrun EXNER, Josef KYTIR, Alexander PINWINKLER, Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918–1938), Personen, Institutionen, Diskurse, Wien–Köln–Weimar 2004. Weiters akzentsetzend in Bezug auf bestimmte Institutionen u.a. Mitchell G. ASH, Wolfram NIESS, Ramon PILS (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Wien 2010. Gernot HEISS [u. a.] (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, Wien 1988. Albert MÜLLER, Dynamische Adaptierung und „Selbstbehauptung“. Die Universität Wien in der NS-Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 4(1997), S. 592–617. Alois KERNBAUER, „Eine Universität für die Provinzen im Südosten des Reichs“. Die Karl-Franzens-Universität Graz und ihr Lehrund Forschungsauftrag, in: Danubiana Carpathica. Jahrbuch für Geschichte und Kultur in den deutschen Siedlungsgebieten Südosteuropas 48 (2007), S. 113– 141. Herbert MATIS, Zwischen Anpassung und Widerstand. Die Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1938–1945, Wien 1997. In diesem Zusammenhang wurden die ‚Marksteine‘ der Vernunft in Wissenschaft, Kunst und Literatur gewürdigt. Mitunter wurden auch Sonderwege, welche spezifische Disziplinen im 19. Jahrhundert nahmen, unter dem Schlagwort einer ‚Wiener‘ oder ‚österreichischen‘ Schule aufgezeigt. Die verschiedenen wissenschaftlichen ‚Meilensteine‘ wurden vor allem im Zeichen spezifischer soziokultureller Verhältnisse (Kreativität als eine Art Sublimierung von sozialer Ausgrenzung) oder unter dem Vorzeichen wegweisender kommunaler Politik (‚Rotes Wien‘) analysiert.
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Zuletzt wurde allerdings auch versucht, die konstruktiven und destruktiven Seiten der ‚Wissenschaftskultur‘ dieses Raumes aufeinander zu beziehen. Der Grazer FWF-Spezialforschungsbereich Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900 (1994–2004) setzte sich das Ziel, die (erste) Moderne nicht nur im Spiegel der Bewertung vergangenen Handelns, sondern auch aus der Perspektive der sozialen Herausforderungen der „Zweiten Moderne“ (Ulrich Beck) zu betrachten. Vor dem Hintergrund der „Pluralitäten“ Zentraleuropas (Moritz Csáky) wurden die Zusammenhänge von kreativen und krisenhaften Prozessen historisch rekonstruiert und der Blick auf „individuelle und kollektive Verunsicherungen, Identitätskrisen und Konflikte“ geschärft.16 An diese Zielsetzung wird in der vorliegenden Arbeit angeknüpft, der Akzent jedoch verlagert und ein Stück weit zugespitzt. Ziel ist es, die Beziehung von moderner Wissenschaft und Politik aus ahistorischen, politischen Bewertungen herauszulösen, um diese selbst zum wissenschaftlichen Gegenstand zu machen, kurz: sie in der historiografischen Analyse mitzureflektieren. In diesem Zusammenhang schlägt Mitchell G. Ash vor, das Ineinandergreifen beider (Wissenschaft und Politik) aus der Perspektive wechselseitiger „Ressourcenmobilisierung“ zu betrachten.17 Sie seien sonach nicht als wesensverschiedene, kausal aufeinander einwirkende, sondern als ineinander verschlungene Aktionsfelder, als „Ressourcen füreinander“, zu begreifen. Die Innovation dieses Zugriffs ist durch den Begriff der „Selbstinvolvierung“ markiert, der impliziert, dass die Rede von einer angeblich vereinnahmenden Politik sowie einer missbrauchten Wissenschaft aufgegeben und perspektivisch erweitert wird. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass Wissenschaftler „nicht nur als Opfer der jeweiligen Verhältnisse, sondern […] als bewußt, zuweilen recht selbstbewußt handelnde Subjekte“, die für
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Vgl. Moritz CSÁKY [u.a.], Einleitung, in: DERS., Astrid KURY, Ulrich TRAGATSCHNIG (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck [u.a.] 2004 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 4), S. 7–9, hier S. 7, und vgl. DERS. [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne, in: DERS. [u.a.] (Hg.), Kultur – Identität – Differenz, S. 13–43. Vgl. Mitchell G. ASH, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Rüdiger vom BRUCH, Brigitte KADERAS (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51, hier S. 32–36, bzw. S. 50f. Weiterführend vgl. DERS., Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom BRUCH, Uta GERHARDT, Aleksandra PAWLICZEK (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006 (Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 1), S. 29–37, und DERS., Wissenschaft(en) und Öffentlichkeit(en) als Ressourcen füreinander, in: Sybilla NIKOLOW, Arne SCHIRRMACHER (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main–New York 2007, S. 349–362.
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sich auch politische Ressourcen mobilisieren, verstanden werden können.18 Lässt man sonach die Denkfiguren der „Vereinnahmung“, der „Indienstnahme“ oder des „Missbrauchs“ – der Wissenschaft durch die Politik oder der Politik durch die Wissenschaft – hinter sich, so bietet sich die Möglichkeit, zumindest einen (wissenschaftlichen) Moment lang auf Anklage zu verzichten. Aus dieser Perspektive lässt sich nämlich nicht nur die Analyse vertiefen, sondern auch der Horizont des historisch Rekonstruier- und Erinnerbaren erweitern. Durch das von Ash erarbeitete Konzept der variierenden „Ressourcen“, die ein politisches System dem jeweiligen wissenschaftlichen Feld und seinen Akteuren bzw. umgekehrt die Wissenschaft der Politik anbietet, können verstellte historische Handlungsoptionen neu sichtbar gemacht werden. Im Hinblick auf die Geschichte der Wissenschaft im ‚Kontext‘ der österreichischen Staatlichkeiten, in denen Politik und Wissenschaften in einem wesentlich komplexeren Verhältnis zueinander standen als in den klassisch nationalstaatlichen Gefügen, bedeutet dies zunächst, dass Handlungsweisen in den Wissenschaften neu untersucht und bewertet werden müssen. Dazu ist es notwendig, den wirkmächtigen Topos von Wien um 1900 ein Stück weit zu dekonstruieren, um durch jüngere konstruktive Ansätze der Wissenschaftshistoriografie, die das Ineinandergreifen von Wissenschaft und Politik in den Blick nehmen, ein neues Bild der zentraleuropäischen Wissenschaftskultur(en) zu zeichnen. 1.1.2 Methoden Zusammenfassende Werke zu einer allgemeinen, disziplinenübergreifenden Methodik der Wissenschaftsgeschichtsschreibung sind rar.19 In einer der wenigen aktuellen Überblicke über Methoden bzw. Ansichten der Wissenschaftsgeschichte verweist der Herausgeber – der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner – darauf, dass in der Wissenschaftsgeschichte die Tendenz zur Rekonstruktion „großer Männer“ und „großer Theorien“ wesentlich stärker ausgeprägt war und länger andauerte als in anderen Teilbereichen der Historiografie.20 Unlängst monierte Philipp Sarasin, ein anderer
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ASH, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, S. 33. Der Wiener Historiker Helmuth Grössing verweist in seinem Aufsatz „Was ist Wissenschaftsgeschichte?“ auf methodische Zugänge zu derselben, „die in die Wissenschaftstheorie einschlagen.“ In dieser Arbeit stellt er eine Auswahl theoretischer Zugriffe vor (Thomas S. Kuhn, Erhard Oeser und Volker Bialas). Methodische Zugänge werden als solche nicht weiter ausgeführt. Vgl. Helmuth GRÖSSING, Was ist Wissenschaftsgeschichte?, in: DERS. (Hg.), Themen der Wissenschaftsgeschichte, Wien–München 1999, S. 7–19, hier S. 12. Michael HAGNER, Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, in: DERS. (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 7–39, hier S. 9–11. Vgl. u.a. Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaft im Gehäuse: Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49, hier S. 38: „Die neuere histori-
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profilierter Vertreter neuerer Methoden in der Wissenschaftsgeschichte, dass in der Historiografie der Geisteswissenschaften die zahlreichen ‚Wenden‘ der letzten Jahrzehnte mit noch größerer Verzögerung und Zurückhaltung rezipiert worden seien als beispielsweise in der Geschichte der Medizin21 und – so wäre zu ergänzen – in der Geschichte der Geschichtswissenschaft. Davon legen u.a. mehrteilige Reihen und verschiedenste Topseller Zeugnis ab.22 Mit den jüngst diskutierten Zugängen der Historiografiegeschichte23 korrespondieren auch die neueren Methoden der Wissenschaftsgeschichte, mit denen veraltete Zugänge überwunden werden können; so z.B. die Trennung wissenschafts-‚interner‘ und -‚externer‘ Ereignisse, Strukturen und Prozesse bzw. die Dichotomie von „Theorie und Praxis [...], Objektivität und Subjektivität, Entdeckung und Rechtfertigung, Struktur und Kontingenz“, die Hagner zufolge „keineswegs so inkommensurabel“ wären, „wie es lange behauptet wurde“.24 Um diese dichotome Illusion zu vermeiden, sei es zeitgemäß, Wissenschaft(en) als Kultur(en) zu begreifen.25
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sche Forschung achtet zunehmend auch auf avancierte Ansätze einer von der allgemeinen Geschichtswissenschaft immer noch institutionell wie methodologisch relativ abgeschotteten Fachdisziplin Wissenschaftsgeschichte.“ Vgl. Philipp SARASIN [Rezension]: Jan ECKEL, Thomas ETZEMÜLLER, Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, in: hsozkult.geschichte.hu-berlin.de [Zugriff: 31.10.2008]. Vgl. z.B. die vierbändige Reihe Erinnerung, Geschichte, Identität (stw 1402– stw 1405) – Band 1: Jürgen STRAUB (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt am Main 1998, 22000. Band 2: Jörn RÜSEN, Jürgen STRAUB (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt am Main 1998, 22001. Band 3: Aleida ASSMANN, Heidrun FRIESE (Hg.), Identitäten, Frankfurt am Main 1998, 21999. Band 4: Jörn RÜSEN, Michael GOTTLOB, Achim MITTAG (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen, Frankfurt am Main 1998, 22003. Christoph CONRAD, Martina KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994. Reinhart KOSELLECK, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003 (stw 1656). Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main– New York 2002. Jan ECKEL, Thomas ETZEMÜLLER, Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007. Angeführt werden: Konstruktivismus, Wissenschaftssoziologie, Systemtheorie, Feldanalyse, Institutionengeschichte, Gedächtnis- bzw. Erinnerungsgeschichte, Geschlechtergeschichte, Diskursanalyse, Narratologie, postkoloniale und transnationale Geschichte, Vergleich und Transfer, Kontroversengeschichte, Generationen in der Geschichte, Körpergeschichte, Geschichte der narrativen wie nichtnarrativen Repräsentationsformen bzw. -medien u.v.m. Der Sammelband von Eckel und Etzemüller nimmt auf Konstruktivismus, Systemtheorie, postkoloniale Zugriffe usw. nicht Bezug. Vgl. ECKEL, ETZEMÜLLER, Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, 2007. HAGNER, Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 19. Vgl. ebenda, S. 23–28, und Lorraine DASTON, Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität, in: Otto Gerhard OEXLE (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität?,
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Aus dieser Perspektive hat die Berliner Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston in einer Vielzahl von Arbeiten z.B. den Aufstieg des Ideals wissenschaftlicher Objektivität nachgezeichnet und die Techniken aufgedeckt, mittels derer die Vorstellung einer „aperspectival objectivity“ konstruiert wurde. Objektivität sei kein „trans-historical given“-Konzept; vielmehr habe die Aussparung der Involviertheit von Subjekten eine Geschichte.26 Die Auffassung, dass die Wissenschaften ein voraussetzungsloses Abbild objektiver Tatsachen liefern könnten, war schon um 1900 durch eine „Revolution der Denkart“ zusehends unhaltbar geworden. An die zentralen Akteure dieser Neubewertung der Rolle des erkennenden Subjekts und seines Objektivitätsanspruchs – Max Weber (1864–1920), Georg Simmel (1858–1918) und Ernst Cassirer (1874–1945) – erinnerte unlängst der Göttinger Historiker Otto Gerhard Oexle.27 Diese „wissenschaftliche Reflexionselite“28 teilte im Wesentlichen den Standpunkt, dass der Objektivitätsbegriff an sich den Anschein erwecken konnte, dass subjektive „Wertinteressen“ in der „rein empirisch-wissenschaftlichen Arbeit“ keine Rolle spielten.29 Im Jahr 1892 zeigte Georg Simmel für die historischen Wissenschaften, dass sich Erkenntnis nicht der „bloßen Reproduction“ dessen, „was wirklich war“, sondern vielmehr einem subjektiven Akt verdankt, der „das Singuläre
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Göttingen 1998 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 6), S. 9–39, hier S. 26–36 [auch abgedruckt in: HAGNER (Hg.), Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 137–158]. Vgl. Lorraine DASTON, Objectivity and the Escape from Perspective, in: Social Studies of Science 22, 4(1992), S. 597–618, hier S. 598. DIES., Peter GALISON, Objektivität, Frankfurt am Main 2007. DIES., Objektivität und die Flucht aus der Perspektive, in: DIES., Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität, Frankfurt am Main 22003, S. 127–155. Bemerkenswert ist, dass noch Leopold von Ranke die Möglichkeit objektiver historischer Erkenntnis, nämlich zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen“ (1824), metaphysisch-transzendental und nicht positivistisch begründete. Vgl. Otto Gerhard OEXLE, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116), S. 29f. Otto Gerhard OEXLE, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte, in: DERS. (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität?, Göttingen 1998 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 6), S. 99– 151, hier S. 139f., und vgl. DERS., Auf dem Weg zu einer Historischen Kulturwissenschaft, in: Christoph KÖNIG, Eberhard LÄMMERT (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt am Main 1999, S. 105–123. Gangolf HÜBINGER, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006, S. 233. Max WEBER, Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (Original 1917), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 71988 (UTB 1492), S. 489–540, hier S. 512.
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zu einem Sinne zusammenfaßt“.30 Der „Wert der ,Objektivität‘“ sei daher aus geschichtsphilosophischer Perspektive „nicht an den für sich seienden Bestand des ‚Objekts‘ gebunden“.31 Vielmehr seien Standortgebundenheit und Objektivität als „komplementäre Kategorien“ und die Involvierung des Subjekts als Voraussetzung aufzufassen, um objektives historisches Wissen zu gewinnen.32 In diesem Sinne argumentierte auch Ernst Cassirer, dass sich Objektivität nicht hinreichend durch die Auslöschung anthropomorpher Spuren definieren ließe. Den Maßstab hierfür bilde vielmehr die Strenge in der „Organisation der Erfahrung“, der logischen Stringenz des Verhältnisses von „Teilerfahrung“ und „Gesamtsystem“.33 Der Wert des „wissenschaftlichen Experiments“ bestünde nicht in der Wiedergabe „hier und jetzt gegebener Wahrnehmungstatsachen“, sondern darin, „daß es die Einzeldaten unter einen bestimmten Gesichtspunkt der Beurteilung rückt und ihnen damit eine Bedeutung gibt, die sie im einfachen sinnlichen Erleben als solchem nicht besitzen“.34 Max Weber nahm mit seinem Objektivitätsbegriff das soziokulturelle Moment im Akt der Erkenntnis in den Blick, und er erweiterte die Frage nach den subjektiven Regeln der Produktion von Wahrheit um die kulturhistorische Dimension: Wandelten sich die „Kulturprobleme“, so habe auch die Wissenschaft „ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln“.35 Auch wenn die Wissenschaft in Sollensfragen keine Antwort zu geben möge, so hätten doch „Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche ‚Objektivität‘“ laut Weber „keinerlei innere Verwandtschaft.“36 Diese Position des Heidelberger Soziologen macht deutlich, dass eine Wissenschaftsgeschichte, die sich als Kulturgeschichte der Objektivität versteht, an ihre Grenzen stößt, sobald sie die politische Dimension außer Acht lässt. In seinem berühmten Objektivitätsaufsatz (1904) vertrat Weber den Standpunkt, dass die „Qualität eines Vorgangs als ‚sozial-ökonomische‘ Erscheinung“ nicht etwas sei, „was ihm als solchen ‚objektiv‘ anhaftet“, sondern dass seine wissenschaftliche Analyse notwendig perspektivisch – durch die „Richtung unseres Erkenntnisinteresses“ geprägt – sei, in der Art, „wie sie sich aus der spezifischen Kulturbedeutung ergibt“, die dem Handeln zu-
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Georg SIMMEL, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntniskritische Studie, München–Leipzig 41922, S. 74f., und DERS., Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 21905 (Original 1892), S. 41. SIMMEL, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 41922, S. 75. OEXLE, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft, S. 131–133. Ernst CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Hamburg 2000 (Gesammelte Werke 6) (Original 1910), S. 300. Ebenda, S. 302. Max WEBER, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (Original 1904), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 146–214, hier S. 206, S. 213f. Ebenda, S. 157.
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grunde läge. Der Begriff der „Kultur“ sei aber ein „Wertbegriff“. Weber bezweifelte nicht, dass Objektivität im sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess von Wertideen abhängt, „die ihr allein Erkenntniswert verleihen“, und dass die „objektive Gültigkeit alles Erfahrungswissens“ darauf – „und nur darauf“ – beruhte, „daß die gegebene Wirklichkeit nach Kategorien geordnet wird, welche in einem spezifischen Sinn subjektiv […] und an der Voraussetzung des Wertes derjenigen Wahrheit gebunden sind, die das Erfahrungswissen allein uns zu geben vermag.“ Wem diese Wahrheit nicht wertvoll sei, so Weber – und der „Glaube an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit“ sei „Produkt bestimmter Kulturen und nichts Naturgegebenes“ –, „dem haben wir mit den Mitteln unserer Wissenschaft nichts zu sagen.“37 Zwar bekämpfte Weber die Vermischung von „wissenschaftlicher Erörterung der Tatsachen und wertender Raisonnements“, er betonte aber ausdrücklich die Schwierigkeit der „Scheidung“ sowie den Umstand, dass er und andere immer wieder dagegen verstoßen hätten.38 Letztlich lässt sich Webers Ringen um die „Wertfreiheit“ der Wissenschaft als sinnfälliger Ausdruck jener um 1900 virulent werdenden Problematik der Grenzziehung zwischen Politik und Wissenschaft, einer erlaubten Politisierung der Wissenschaften sowie des Strukturwandels im akademischen Selbstverständnis deuten, die sich in den nachfolgenden Jahrzehnten noch verschärfen sollten. Probleme dieser Art hatten aber nicht nur die Zeitgenossen zu bewältigen; mit ihnen ist auch zunehmend jene neuere Wissenschaftsgeschichte konfrontiert, die sich die Erforschung historischer Wissenschaftskulturen als Geschichte spezifischer politischer Kulturen zum Ziel setzt. Aus dem Umstand, dass es verschiedene Wissenschaftskulturen gibt, resultiert, dass verschiedene Möglichkeiten der Interaktion bzw. der „Ressourcenkonstellation“39 unterscheidbar sind. Damit ist aber auch die Wahrnehmung sozialer Verantwortung durch die Wissenschaftler – das Verhalten im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie – integral verknüpft. Diesem Gesichtspunkt wird in jüngerer Zeit besondere Aufmerksamkeit zuteil.40 In dieser Arbeit wird – ausgehend von den hier vorgestellten Ansätzen – zur methodisch präziseren Erfassung und Handhabbarkeit der spezifischen Verschränkung von Wissenschaft und Politik auf ein Modell des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) zurückgegriffen, das An-
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Ebenda, S. 161, S. 175, S. 213. WEBER, Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 497. Der Ressourcenbegriff stellt – wie erwähnt – ein Mittel dar, über das die verkürzende Vorstellung, dass sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik über das Begriffspaar Abhängigkeit versus Unabhängigkeit hinlänglich beschreiben ließe, implizit zurückgewiesen wird. Vgl. ASH, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, S. 32–36. Vgl. zuletzt Mitchell G. ASH, Wissenschaft und Verantwortung. Zur Historisierung einer diskursiven Formation, in: Rainer Christoph SCHWINGES (Hg.), Universität im öffentlichen Raum, Basel 2008 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 10), S. 311–344.
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haltspunkte für die Annäherung an dieses schwierige Verhältnis liefert. Vor diesem erweiterten theoretischen Horizont soll die Perspektive auf die Habsburgermonarchie – im Besonderen auf die cisleithanische Reichshälfte – bzw. die Republik Österreich beschränkt und auf die Spezifika des historischen Wissenschaftshandelns dieses Raums hingeführt werden: auf die Handlungsspielräume wissenschaftlicher Akteure, das soziale Verantwortungsbewusstsein sowie auf die Problematik von Autonomie und Heteronomie – Aspekte, die sowohl aus diachroner Verlaufs- als auch aus vergleichend-synchroner Perspektive beleuchtet werden. Was den methodischen Zugriff auf die ineinandergreifenden Felder von Wissenschaft und Politik betrifft, so ist es in Bezug auf den hier analysierten Raum sinnvoll, mit Bourdieu jene Wege wissenschaftlichen Handelns zu erkunden, auf denen Akteure der Wissenschaften als Intellektuelle sozial agierten. Als Intellektueller handelt Bourdieu zufolge jemand, der seine Autorität in einem ‚autonomen‘, etwa wissenschaftlichen oder künstlerischen Feld erwirbt, um sie im Namen universeller Wertvorstellungen für Interventionen in das politische Feld einzusetzen. Dieses intellektuelle Engagement findet aber im Rahmen der Spielregeln des Wissenschaftsfeldes statt. Bourdieus implizites Ziel ist es, die Autonomie der Wissenschaft zu erhöhen, d.h. die Wissenschaft vor Übergriffen der Politik zu schützen.41 Zum Verständnis dieser Handlungsform bedarf es weiterer klärender Worte zur „Feldtheorie“42 und zur „Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt“. Mit Hilfe letzterer Figur demonstriert Bourdieu seinen Ansatz der „relativen Autonomie“.43 Diese Denkfigur liefert zentrale Anhaltspunkte zur Analyse jenes Wissenschaftshandelns, das in dieser Arbeit im Hinblick auf Zentraleuropa für das 19. und 20. Jahrhundert exemplarisch untersucht wird. 1.1.2.1 Das Wissenschaftsfeld Der Wissenschafts- und Kultursoziologe Bourdieu begreift Wissenschaft und Politik als verschiedene, mehr oder weniger ausdifferenzierte Handlungsfelder. Das Wissenschaftsfeld stellt sich für ihn – wie jedes andere (z.B. das der Politik oder das der Kunst) – als ein Raum dar, der seine Struktur durch Positionen erhält, deren Eigenschaften von ihrer ‚Anordnung‘ in eben diesem Raum geprägt sind. Sein wesentlichstes Merkmal ist das der
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Vgl. Pierre BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, Konstanz 1998, S. 16–31, und DERS., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 2001 (stw 1539), S. 209–214, S. 523–535 [Original: DERS., Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992]. Vgl. Pierre BOURDIEU, Über einige Eigenschaften von Feldern, in: DERS., Soziologische Fragen, Frankfurt am Main 1997 (es NF 872), S. 107–114. Pierre BOURDIEU, Der Korporativismus des Universellen. Die Rolle des Intellektuellen in der modernen Welt, in: DERS., Die Intellektuellen und die Macht, hg. von Irene Dölling, Hamburg 1991, S. 41–65. Zu den „spezifischen Eigenschaften wissenschaftlicher Felder“ vgl. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 26–31.
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Autonomie. In der Ausbildung autonomer Felder manifestiert sich für Bourdieu der historische Ausdifferenzierungsprozess. Die Autonomisierung der Felder – im Besonderen der Wissenschaft – erfordert aber Engagement, ihre Autonomie verbleibt sonach immer eine relative. So wie jedes andere weist auch das Wissenschaftsfeld eine jeweils spezifische soziale ‚Eigengesetzlichkeit‘ auf.44 Die „ungeschriebenen moralischen Gesetze“, die – will man Teil des Feldes werden oder bleiben – in der Wissenschaft zu wahren sind, seien Objektivität, Uneigennützigkeit und Universalität. Die Besonderheit des wissenschaftlichen Feldes, so expliziert Bourdieu, bestehe in „jener Einigkeit der Konkurrenten über die Grundsätze der Bewahrheitung von ‚Realität‘, über gemeinsame Methoden der Bestätigung von Thesen und Hypothesen, kurz: über den stillschweigenden, untrennbar politischen und kognitiven Vertrag, der die Arbeit der Objektivierung begründet und beherrscht.“45 Durch Achtung dieser normativen Vorgaben im Erkenntnisprozess werde eine spezifisch wissenschaftliche Autorität angehäuft,46 dank der sich Wissenschaft u.a. von der Politik, welche die Wirklichkeit interessensgebunden wahrnehme und sich auf ein Verwirklichen-Wollen von Wertvorstellungen beziehe, unterscheide. Werde das Wissenschaftsfeld als eine Welt für sich aufgefasst, die sich den sozialen Zwängen zwar nicht vollends zu entziehen vermöge, dennoch aber ihre Autonomie verteidige, so erübrige sich die Annahme einer ‚scheinbaren Alternative‘ zwischen der ‚reinen‘ und einer ‚dienstfertigen‘ Wissenschaft. Bourdieu zufolge sind durch das Wissenschaftsfeld zwar äußere Zwänge vermittelt, das sichtbarste Zeichen seiner Autonomie bleibt allerdings die Fähigkeit, diese Anforderungen von außen zurückzuweisen: Je größer die Autonomie der Wissenschaft sei, umso mehr sei sie keinen anderen Anforderungen der Wahrheitsfindung als dem Wettbewerb und der Kritik unterworfen.47 Die Konkurrenten im Wissenschaftsfeld seien sich über diese Verfahren der Wahrheitsfindung zwar grundsätzlich einig; der Wettbewerb könne aber dennoch durch externe Zwänge, d.h. durch jene Akteure, die Bourdieu zynisch als heteronom bezeichnet, verzerrt werden: Je heteronomer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler handelten, umso schiefer sei der Wettbewerb; je autonomer, umso mehr sei es der Wissenschaft vorbe-
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Vgl. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 16–31. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 29. Vgl. Pierre BOURDIEU, Forschen und Handeln, in: DERS., Forschen und Handeln. Recherche et Action. Vorträge am Frankreich-Zentrum der AlbertLudwigs-Universität Freiburg (1989–2000), hg. von Joseph Jurt, Freiburg 2004, S. 93–101, hier S. 96. Vgl. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 18f. Auf die starken Ähnlichkeiten von Bourdieus Konzeption einer rationalen Wissenschaftspraxis mit jener von Karl Popper verweist Gerhard FRÖHLICH, Kontrolle durch Konkurrenz und Kritik? Das wissenschaftliche Feld bei Pierre Bourdieu, in: Boike REHBEIN, Gernot SAALMANN, Hermann SCHWENGEL (Hg.), Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Konstanz 2003, S. 117–129, hier S. 123.
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halten, sich als unabhängige Institution zu profilieren. Das Ausmaß der Autonomie, die er als Wert gegen heteronome Fremdbestimmung verteidigt, ist für Bourdieu sonach nicht nur von den ökonomischen Verhältnissen, sondern auch von einer zentralen Befähigung bestimmt: von der Sanktionierung heteronomer Tendenzen sowie von der Durchsetzungsfähigkeit dieser Sanktionen.48 Auf der Grundlage dieser „eroberten Autonomie“ häufe der Wissenschaftler eine spezifische Autorität an, kraft der er auch von Seiten der Politik anerkannt werde und daher politisch wirken könne, „wohlgemerkt ohne dabei zum Politiker zu werden.“49 Bourdieus Konzept vom Wissenschaftsfeld erlangt vor allem vor dem Hintergrund jenes Prozesses Bedeutung, der sich je nach länderspezifischer politischer Ordnung und Wissenschaftskultur unterschiedlich akzentuierte und zur Ausbildung spezifischer Wissenschaftsfelder führte. Auf diesen wechselvollen Autonomisierungsprozess wird im Anschluss ein Schlaglicht mit Bezug auf Deutschland geworfen.50 Unter Autonomisierung wird der lang währende, tendenzielle Auflösungsprozess der Allianzen der Wissenschaften mit Instanzen anderer Art (Kirche, Mäzene, Staat usw.), denen sie verpflichtet waren, verstanden. Dieser Vorgang verschärfte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend, und er war vornehmlich mit zwei miteinander korrelierenden Entwicklungen verknüpft: zum einen mit der Ausbildung des Berufsakademikertypus, zum anderen mit der Ausdifferenzierung des Wissenschaftsfeldes in verschiedene Disziplinen. Manche Berufsakademiker verhielten sich allerdings zur erreichten Autonomie der Wissenschaften im Zuge des Wandels der Vorstellungen vom Sinn und Zweck der Wissenschaft ambivalent. Innerhalb der verbeamteten Intelligenz des Wilhelminischen Kaiserreichs zeigten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zwei signifikante Verhaltensformen: Der eine Typus, der sich dem Ethos von Bildung und ‚reiner‘ Wissenschaft verpflichtet sah, verteidigte die Zweckfreiheit und Autonomie der Wissenschaft. Seine manifesten Abdrücke wirken noch heute in der Universitätsstruktur und im Habitus vieler Hochschullehrer nach. Am anderen Ende der Skala positionierte sich der ‚politisierende Professorentyp‘, der ‚politische Professor‘ oder ‚Gelehrtenpolitiker‘,51 mit dessen verstärktem Auftreten die Vorstellung zweckfreier und autonomer Wissenschaft brüchig wurde. Dieser Typus erblickte das „Endziel der echten Wissenschaft“ oftmals darin, subjektive „Werturteile abzugeben“.52 Unter den 48 49 50 51
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Vgl. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 26–31. Ebenda, S. 64. Tendenziell liegen Analogien zu ‚Österreich‘ vor, Spezifika in Bezug auf die Nationalisierungsproblematik werden weiter unten näher erörtert. Vgl. Kurt TÖPNER, Gelehrte Politiker und politisierende Gelehrte. Die Revolution von 1918 im Urteil deutscher Hochschullehrer, Göttingen–Zürich–Frankfurt 1970 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Geistesgeschichte. 5), S. 12. Fritz STERN, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 178 [Original: DERS., The Politics of Cultural Despair, Berkeley 1961]. Stern referiert hier den nationalen
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politischen Professoren sind wiederum zwei Typen zu verzeichnen: Während die einen die herrschende Staatspolitik anzweifelten, handelten andere als Handlanger nationaler (bzw. imperialer) Mobilisierung und Machtsicherung.53 Unter solchen Vorzeichen erschien die Absicht, „Tatsachen zu konstatieren“, als das „Endziel der falschen Wissenschaft“ und der Anspruch auf Objektivität als „unwahr“.54 Dieser Typus, der sich selbst als wissenschaftlich und politisch aktiv verstand, verschärfte zunehmend den Druck auf jene Vertreter autonomer Wissenschaft, die statt subjektivistischer „Kathederprophetie“55 intellektuell rechtschaffene Analysen der Politik vornahmen. Das Humboldtsche Modell, das Autonomie durch soziale Abschließung verhieß, war um 1900 brüchig geworden, das Bild davon war bald zum Mythos erstarrt:56 Während Wilhelm von Humboldt (1767–1835) die Wissenschaften noch vor staatlichen Interventionen verteidigt hatte, schlüpfte der Staat in der so genannten Ära Althoff (1882–1907) verstärkt in eine Schützer- und Verfügerrolle.57 Im Zeichen nationaler und imperialer Machtpolitik wurde die Verbindung von Lehre und Forschung schrittweise aufgeweicht. Mit dem Auftauchen eines neuen professoralen Typs – des ‚Experten‘ – veränderte sich auch die Art der Lehre:58 Alsbald wurde eine spezielle ‚Ausbildung‘ der wachsenden Zahl von Studierenden für zweckmäßiger erachtet als die Vermittlung sittli-
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Standpunkt des deutschen Schriftstellers und Modernitätskritikers Julius Langbehn (1851–1907). Vgl. HÜBINGER, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit, 2006, und Rüdiger vom BRUCH, Kulturstaat – Sinndeutung von oben?, in: DERS., Friedrich Wilhelm GRAF, Gangolf HÜBINGER (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 1: Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 63–101. STERN, Kulturpessimismus als politische Gefahr, S. 178. Max WEBER, Wissenschaft als Beruf (Original 1917/1919), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 71988 (UTB 1492), S. 582–613, hier S. 612f. Vgl. Rüdiger vom BRUCH, Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810–1945, in: Mitchell G. ASH (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien–Köln–Weimar 1999, S. 29–57, und Rainer Christoph SCHWINGES (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001. Vgl. Rüdiger vom BRUCH, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftssystem und Nationalstaat im Deutschen Kaiserreich, in: Karl Heinrich KAUFHOLD, Bernd SÖSEMANN (Hg.), Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung in Preussen. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preussens vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998, S. 73–89, hier S. 74–76. Bernhard vom BROCKE (Hg.), Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das System Althoff in historischer Perspektive, Hildesheim 1991. Hans-Christof KRAUS, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert, München 2008 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 82), S. 27, S. 29, S. 72. Vgl. Marita BAUMGARTEN, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997.
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cher Individualbildung durch Wissenschaft. Die ‚angewandte‘ Forschung wanderte u.a. in „Expertenuniversitäten“ ab,59 Disziplinen, die sich als Sprachrohr der Nation und des Machtstaates begriffen, schwächten die Autonomie der Wissenschaft: „Innerlich ebenso wie äußerlich“, schrieb Max Weber, sei „die alte Universitätsverfassung fiktiv geworden.“60 Im Zuge der institutionellen Veränderungen und des Wandels akademischer Selbstverständnisse wurden die Katheder vermehrt zur Verkündigung politischer Wertvorstellungen zweckentfremdet. Zwar blieb die ‚reine‘ Wissenschaft noch das latent wirkende Ideal, zusehends erwiesen sich aber Verpolitisierung und Ökonomisierung der Wissenschaft als manifeste Tatsachen. Während die einen im Sinne der Staatsmacht handelten, saßen andere Wissenschaftler – gefangen im „Mythos Humboldt“ – der Illusion auf, die ‚reine‘ Wissenschaft durch Verteidigung vergangener Ideale vor Übergriffen der Politik bewahren zu können. Die Verfechter solcher Ideale, die Fritz Ringer als „Mandarine“ bezeichnete, vergrößerten die Distanz der Wissenschaften zur Politik; sie gaben sich vielfach in einer Art Selbstbespiegelung mit zahnloser Wehklage über den Kulturverfall zufrieden. Ringer zufolge waren diese Professoren, deren elitäre Rolle sich der wachsenden Autonomie der Wissenschaft verdankt hatte, für die Schwächung der kritischen Vernunft und der intellektuellen Auseinandersetzung mit politischen Alternativen mitverantwortlich. Die Verteidiger der ‚reinen‘ Wissenschaft hätten sonach einem Antiintellektualismus Vorschub geleistet, durch den die „deutschen Mandarine“ schließlich zum „Niedergang“ bzw. Untergang im Nationalsozialismus verurteilt gewesen wären.61 Dieses Schicksal traf aber auch jene intellektuell verantwortungsvoller agierenden Professoren, die der Universität, einer „Führerin des Zeitgeistes“, vorgeworfen hatten, sich in nationalpolitische Projekte verstrickt zu haben sowie vor der Aufgabe, für Demokratie und Republik aufzutreten, zurückgewichen zu sein und dadurch den Einfluss auf die öffentliche Meinung verspielt zu haben. Der Jurist und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch (1878–1949) hatte als Angehöriger des so genannten ‚Weimarer Kreises‘ verfassungstreuer Hochschullehrer die Universität als Ort intellektuellen Handelns neu bewertet: Sie habe weder „nationalpolitische Kraftzelle“ noch „Führerschule“, sondern „Erkenntnis- und Lehranstalt“ zu sein; dies aber
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Vgl. Margit SZÖLLÖSI-JANZE, Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik, in: BRUCH, KADERAS (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, S. 60–74, und Jonathan HARWOOD, Forschertypen im Wandel 1880–1930, in: Ebenda, S. 162–168. WEBER, Wissenschaft als Beruf, S. 585. Vgl. Fritz K. RINGER, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, S. 385–394 [Original: DERS., The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890–1933, Cambridge, Mass. 1969].
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nicht im Dienste der „Gesinnungspflege“, und doch – wie er im Nachsatz im Sinne von Max Weber schrieb – „nicht ohne Wirkung auf die Gesinnung.“62 1.1.2.2 Der Intellektuelle als Akteur mit Verantwortung Um als Intellektueller – für Bourdieu ein „paradoxes Wesen“ – agieren zu können, müsse der Wissenschaftler zwei Voraussetzungen erfüllen: Einerseits müsse er sich in einer „intellektuell autonomen“, d.h. von religiösen, politischen, ökonomischen und anderen Mächten unabhängigen Welt bewähren. Anderseits dürfe er aber vor Interventionen in politische Aktionen außerhalb des wissenschaftlichen Feldes nicht zurückschrecken. Der intellektuell handelnde Wissenschaftler vereint in sich nach Bourdieu diese beiden Pole – Autonomie und Engagement – in einer paradoxen Synthese. Diese Diagnose stellte er auf der Grundlage seiner Untersuchungen zur „Genese des Intellektuellen“:63 Als um 1900 verschiedene Felder geistiger Tätigkeit ein relativ hohes Maß an Autonomie erreichten, hätten deren autonomsten Akteure erkannt, dass zur Wahrung ihrer Autonomie die bloße Zurückweisung politischer Übergriffe nicht zureichte. Hierfür habe es auch eines Engagements bedurft. Interventionen dieser Art beruhten aber auf einer Autorität, die von nirgendwo anders herrührte als von innerhalb des intellektuellen Feldes – beruflich erworbenem, spezifischem Sachverstand. Unter zentraleuropäischen Wissenschaftlern konnte für ein derartiges Sich-Engagieren – wie zu zeigen sein wird – das Motiv politischer Verantwortung handlungsleitend werden. Was Bourdieu und seine Schüler u.a. für Frankreich analysierten,64 wurde jüngst auch für Deutschland gezeigt: „Die Berufung auf die Verantwortung vor der Geschichte“, schreibt Gangolf Hübinger, „zieht sich seit Fichte und Schleiermacher über die Generation der 1848er als roter Faden durch das Engagement der Gelehrten-Intellektuellen, bis hin zum Wächteramt, das die Frankfurter Schule um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den 1960er-Jahren über die politische Kultur der Bundesrepublik und den geschichtspolitischen Umgang mit der nationalsozialistischen Herrschaft beanspruchte.“65 Zuletzt erinnerte Mitchell G. Ash in seiner Diskursgeschichte von „Wissenschaft und Verantwortung“ allerdings daran, dass vor 1945 die
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Vgl. Gustav RADBRUCH, Drittes Referat, in: Die Deutschen Universitäten und der heutige Staat. Referate erstattet auf der Weimarer Tagung deutscher Hochschullehrer am 23. und 24. April 1926 von Wilhelm Kahl, Friedrich Meinecke, Gustav Radbruch, Tübingen 1926 (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 44), S. 32–37, hier S. 33f. Vgl. BOURDIEU, Der Korporativismus des Universellen, S. 42–45. Vgl. vor allem Christophe CHARLE, Naissance des ‚Intellectuels‘ (1880– 1900), Paris 1990. DERS., Fin de Siècle. Culture et Politique, Paris 1998. DERS., Intellectuals in Europe in the Second Half of the Nineteenth Century. Elements of a Comparison, in: Hartmut KAELBLE (ed.), The European Way. European Societies during the Nineteenth and Twentieth Centuries, New York– Oxford 2004, S. 186–204. HÜBINGER, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit, S. 237f.
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auf Humboldt zurückgehende Denkfigur von der Freiheit der Wissenschaft noch nicht explizit mit der Verwendung des Wortes „Verantwortung“ verbunden wurde. Seit dem 19. Jahrhundert dominierte vielmehr die Rede von der Freiheit (bzw. Autonomie) statt jener von der Verantwortung der Wissenschaft. So habe Max Weber die Verantwortung für die Folgen eigenen Handelns noch der Politik zugewiesen, als „eine, wenn nicht sogar ‚die‘ Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaftsfreiheit.“66 Die Figur, in der sich verantwortungsbewusstes Wissenschaftshandeln typologisch verdichtet, wird im Allgemeinen als ‚der Intellektuelle‘ bezeichnet. Dieser Typus, der als autonomer Akteur in politischen Auseinandersetzungen das Wort ergreift, tauchte als solcher zunächst in den 1890erJahren in Frankreich auf. Um das Bild vom Intellektuellen zu schärfen, sind folgende Spezifizierungen angebracht: Der Intellektuelle – von Émile Zola (1840–1902) bis Jürgen Habermas –, der wohl im Zuge der Dreyfus-Affäre seine Geburtsstunde erlebte, agiert außerhalb seines beruflichen Zuständigkeitsbereichs kraft der Autorität, die er in seinem autonomen Feld anhäuft. Dieser Typus unterscheidet sich von jener Gruppe, die als ‚Intelligenz‘ bezeichnet wird und zumindest zwei Ausformungen zeigt: Zum einen repräsentiert der Begriff jene vor- oder spätmoderne Schicht, der in einer statischen sozialen Ordnung das Privileg zuerkannt wurde, anderen durch Predigt, Lehre und Bekenntnis eine scholastische Interpretation der Welt vorzugeben. Diese Funktion monopolisierten häufig Kirche und Parteien.67 Zum anderen bezeichnet der Intelligenzbegriff aber auch jene Gruppe von beruflich geistig Tätigen, die zwar ihre Expertisen veröffentlichen, sich bezüglich politischer Vorgänge allerdings weitgehend für nicht zuständig erklären. Der Typus des modernen Intellektuellen rekrutiert sich aus einer sich ständig erweiternden, sozial freischwebenden Schicht. Er agiert auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Autorität und setzt diese gegebenenfalls politisch ein. Der moderne Intellektuelle ist kein Wissenschaftspopularisator. In der Vergangenheit wurde er verschieden gedeutet: Friedrich Meinecke (1862–1954) unternahm 1922 den Versuch, den deutschen „Gelehrtenpolitiker“ anhand idealtypischer Vertreter (Vischer, Schmoller, Weber) nach Epochen, Wissenschaftsverständnis und politischer Haltung zu bestimmen.68 Joseph A. Schumpeter (1883–1950) zeichnete in seiner Studie Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (1946) eine Skizze zur „Soziologie der Intellektuellen“, in der er ihren Wert als „Störungsfaktor“ hervorhob. Der österreichisch-amerikanische Ökonom mit Hang zu Soziologie und Politikwissenschaft untersuchte nicht die Motive dieser Haltung, sondern das intellektuelle Agieren als solches. Die Handhabung des „gesprochenen 66 67 68
Vgl. ASH, Wissenschaft und Verantwortung, S. 317 und S. 343. Vgl. Karl MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 81995 (Original 1929), S. 7–13. Vgl. Friedrich MEINECKE, Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: Historische Zeitschrift 125 (1922), S. 248–283.
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und geschriebenen Wortes“ in der Öffentlichkeit und „außerhalb ihrer beruflichen Zuständigkeit“ war für ihn ein wesentliches Kennzeichen der Intellektuellen. Was sie von anderen, die genauso agierten, daher unterscheide, sei „das Fehlen einer direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge“, das sich durch das „Fehlen jener Kenntnisse aus erster Hand“ ergäbe, wie sie nur die tatsächliche Erfahrung geben könne.69 Schumpeter lieferte den Anknüpfungspunkt für M. Rainer Lepsius, der den „Beruf des Intellektuellen“ zuletzt mit dem Schlagwort der „Kritik“ definierte. Demnach wäre nicht jeder Angehörige der Intelligenzberufe ein Intellektueller. Intellektuell agiere jemand nur solange, wie er die Chance zur „inkompetenten“ Kritik, d.h. außerhalb seines professionellen Zuständigkeitsbereichs, ergreife.70 Von diesen Intellektuellentypen – dem politischen Professor bzw. dem ‚inkompetenten‘ Kritiker – wird in dieser Arbeit nicht die Rede sein. Zu dem hier nachzuzeichnenden Wissenschaftlertypus soll vielmehr jenes Konzept des Intellektuellen hinführen, das – wie erwähnt – Pierre Bourdieu lieferte: Als Intellektueller ist sonach jener Wissenschaftler zu begreifen, der seine im Wissenschaftsfeld erworbene spezifische Kompetenz kraft seiner wissenschaftlichen Autorität im Zeichen universeller Wertvorstellungen und öffentlicher ‚Wohlfahrt‘ politisch investiert, ohne aber zum Politiker zu werden. Daher definiert Bourdieu das Wissenschaftsfeld nicht als absolut, sondern nur als relativ autonom. Denn: Verharre die Wissenschaft in absoluter Autonomie, so könne sie nicht über ihre Feldgrenzen hinweg wirken. Verleihe sie aber politischen Absichten ungebrochen Ausdruck (Heteronomie), so verspiele sie ihre Autorität und Autonomie. Die Wissenschaft könne allein durch Anhäufung wissenschaftlicher Autorität ihre relativ autonome Stellung bewahren und erweitern sowie in zunehmender Unabhängigkeit – mit „Kompetenz und Autorität“ – auf die „Welt irdischer Zwecke“ wirken.71 Kurz: Je weitreichender die wissenschaftliche Autonomie sei, umso größer sei auch die Chance auf Anerkennung durch feldexterne Instanzen, d.h. auf Autorität, Definitions- und soziale Handlungsmacht.72 Hierin zeige sich ihre „Brechungsstärke“.73 Die Stärkung der Autonomie der Wissenschaft – einer zentralen Errungenschaft der Moderne – verbleibt sonach ein wesentlicher Anspruch intellektuellen Engagements. Relativ autonom agiert nach Bourdieu also jener Wissenschaftlertyp, der sich den Spielregeln des Wissenschaftsfeldes unterwirft, auf Engagement im Zeichen seiner spezifischen Kompetenz aber nicht verzichtet.74 Der Wissenschaftler bzw. die Wis69
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Joseph A. SCHUMPETER, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 235–251, hier S. 236–238 [Original: DERS., Capitalism, Socialism and Democracy, New York 1942]. M. Rainer LEPSIUS, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: DERS., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 270–285, hier S. 281–284. BOURDIEU, Der Korporativismus des Universellen, S. 43. Vgl. ebenda, S. 42. BOURDIEU, Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 19. Vgl. BOURDIEU, Die Regeln der Kunst, S. 209–214, S. 523–535.
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senschaftlerin, der/die danach handelt, fällt für Bourdieu daher in eine ‚Spezies‘, die er als die der Intellektuellen begreift. Lässt sich der historische Zugang vom Ansatz des relativ autonomen Wissenschaftsfeldes und der Bourdieuschen Figur des Intellektuellen leiten, was zuletzt verstärkt passierte,75 so wird neben den beiden großen Handlungsoptionen – ‚Gelehrtenpolitik‘ versus ‚Elfenbeinturm‘ – eine dritte Option wissenschaftlichen Agierens sichtbar, die in dieser Arbeit für jene Wissenschaftsbereiche untersucht wird, die mit ihr ein demokratisches, konfliktverminderndes Anliegen verfolgten. Diese Haltung manifestiert sich in dem, was in diesem Buch als ‚dritter Weg‘ bezeichnet und skizziert wird. 1.1.2.3 Das Prinzip des dritten Wegs. Oder: Die autonom-engagierte Wissenschaft Mit den Begriffen ‚Autonomie‘ und ‚Heteronomie‘ definierte Bourdieu Abhängigkeitsverhältnisse zu den Feldern der Politik und Ökonomie. Diese Terminologie wird gebraucht, um individuelle Handlungsstrategien der Akteure im Feld der Wissenschaft präziser zu eruieren. Autonome und Heteronome verfolgten unterschiedliche Ziele: Schwebte dem ‚Mandarin‘, der ‚über‘ der Politik stand, das Ideal der Verteidigung der ‚freien Wissenschaft‘ vor, so konnten sich andere durch ‚Selbstinvolvierung‘ in politische Projekte verstricken. Neben diesen tendenziellen Haltungen zeichnete sich aber ein ‚dritter Weg‘ ab, der am Beispiel des Handelns österreichischer Wissenschaftler aufgezeigt werden soll. Der Begriff des ‚dritten Wegs‘ – so wie er hier verwendet wird – markiert ein Handlungsmuster im Feld der Wissenschaften, das die dualistische Perspektive von Autonomie versus Heteronomie überschreitet. Wissenschaftler, die diesen Weg beschritten, reflektierten den Umgang mit der immer nur „relativen Autonomie“ (Pierre Bourdieu) des wissenschaftlichen Feldes. Diese Handlungsform, für die mir die Wiener Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller die Augen geöffnet hat, lässt sich auch mit dem Schlagwort ‚autonom-engagiert‘ beschreiben. Sich der Verflechtungen beider Felder bewusst, trennten ‚autonom-engagierte‘ Wissenschaftler scharf zwischen Wissenschaft und Politik. Sie investierten ihr wissenschaftliches Know-how aber in Arbeiten, die von unverkennbarer politischer Relevanz waren. Somit verknüpften sie ihre Theorien, in denen soziokulturelle Konflikte mitreflektiert und Ansätze zu ihrer Minderung unterbreitet wurden, zwar mit einem politischen (delegitimierenden) Anspruch, verletzten dabei
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Vgl. u.a. Kirill ABROSIMOV, Die Genese des Intellektuellen im Prozess der Kommunikation. Friedrich Melchior Grimms ‚Correspondance littéraire‘, Voltaire und die Affäre Calas, in: Geschichte und Gesellschaft 2, 33(2007), S. 163– 197. Zu weiteren neueren Ansätzen der Intellektuellengeschichte vgl. François BEILECKE, Katja MARMETSCHKE (Hg.), Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel 2005. Zur Geschichte des Intellektuellen vgl. Christophe CHARLE, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 22001.
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aber die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes nicht. Diese Handlungsform besaß den Vorzug, sich vor einer dezidiert politisch agierenden Wissenschaft verschließen zu können, ohne dadurch aber als Wissenschaftler den Anspruch auf sozial verantwortliches Agieren preiszugeben. Von Wissenschaftlern, die diesen ‚dritten Weg‘ in Zentraleuropa verfolgten, wird im vorliegenden Buch berichtet. Schon um das Jahr 1900 hatten ‚autonom-engagierte‘ Wissenschaftler erkannt, dass eine Wissenschaft, die Autonomie mit Autarkie verwechselte, zusehends an nämlicher verlor. Sonach reichte es nicht, die Wissenschaft als Beruf mit Sachverstand auszuüben. Der Wissenschaftler musste sich zeitweise vielmehr in der Rolle eines „spezialisierten Intellektuellen“ (Foucault) bewähren, in der er sowohl vom Typus des „Gelehrtenpolitikers“ (Meinecke) als auch von dem des Intellektuellen als „Störungsfaktor“ (Schumpeter bzw. Lepsius) abwich. Als „spezialisierte Intellektuelle“ übten ‚autonomengagierte‘ Wissenschaftler ‚kompetente‘ Kritik, und als „Sachwalter des Universellen“ (Bourdieu) überschritten sie partikulare Zuständigkeiten. Ihre Intervention genügte zweierlei Anforderungen, nämlich der Universalität ethisch-politischer Ansprüche und einer Beschränkung auf die Problemfelder ihrer jeweils spezifischen Kompetenz.76 Von den anderen Intellektuellentypen unterschieden sich ‚autonom-engagierte‘ Wissenschaftler im Besonderen darin, dass sie nicht auf eine ‚Störung‘ normaler politischer Abläufe abzielten, sondern vielmehr auf eine zielgerichtete Intervention mittels neuer im Wissenschaftsfeld entwickelter Konzepte. Auf diese Art und Weise erweiterten sie die Autonomie der Wissenschaft, ohne aber auf Interventionen in außerakademische Sphären zu verzichten; nicht im Zeichen der Legitimation, sondern in dem Sinne, in dem Pierre Bourdieu von „scholarship with commitment“77 sprach. Tertium datur! 1.1.2.4 Autonomie wozu? Oder: Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander Unter Autonomisierung wird – wie hier gezeigt wurde – der Prozess der tendenziellen Ablösung bzw. Abgrenzung einer zum Beruf werdenden Wissenschaft von Kirche, Staat, Mäzenen usw. verstanden. Mit dieser Ablösung, die sich weitgehend im 19. Jahrhundert vollzog, wurde die Wissenschaft als ein relativ autonomes soziales Feld konstituiert. Der Autonomiebegriff repräsentiert jedoch keinen Wert an sich, im Sinne des Bourdieuschen Ansatzes bezeichnet er vielmehr ein „Verhältnis“, und zwar eines der „Auseinandersetzung“, ein „Brechungsverhältnis“: Wissenschaft ist auf „vielfältige Weise“ in „ökonomischen, politischen und sozialen Machtkonstellationen“ situiert.78 Ihre relative Autonomie zeigt sich in der Zielsetzung,
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Vgl. BOURDIEU, Der Korporativismus des Universellen, S. 61, S. 64. BOURDIEU, Forschen und Handeln, S. 100. Zum Begriff der „relativen Autonomie“ im Sinne Bourdieus: Elisabeth NEMETH, Erkämpfte Eigenständigkeit. Strukturen der Wissenschaft, in: Mitbe-
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sich durch Zurückweisung äußerer Anforderungen und Zwänge, die auf das Wissenschaftsfeld wirken, größeren Spielraum zu erobern. Zu diesem Zweck verfeinerten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Spielregeln der Wahrheitsfindung. Mit der Autonomisierung konnten aber auch noch andere Ziele verbunden sein, worauf hier schlaglichtartig verwiesen wird: Sie lässt sich auf eine Art und Weise begreifen, die Mitchell G. Ash mit seinem Konzept „Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander“ beschreibt – ein Ansatz, der sowohl aus synchroner als auch aus diachroner Perspektive ein aufschlussreiches Analyseinstrument darstellt: Wird – so der Wiener Wissenschaftshistoriker – unter Politik nicht nur staatliches, sondern auch universitäres und disziplinäres Handeln verstanden und unter Wissenschaft nicht nur abstrakte Theorie, sondern auch institutionelles und forschungspraktisches Agieren sowie „rhetorische Überzeugungsarbeit“, so verweist dieses Konzept auf zweierlei: einerseits auf Allianzen zwischen den beiden Akteuren, d.h. auf „wechselseitige Ressourcenmobilisierung“, anderseits aber auch auf ein vielleicht nicht notwendig kausales, wohl aber ein „Ermöglichungsverhältnis“ zueinander im Zuge von Wandlungsprozessen beider (Politik und Wissenschaft) im historischen Verlauf.79 Dieser neue Zugriff gibt der Autonomieproblematik eine besondere Wendung: Ash zufolge seien Autonomie und die Verflechtung von Wissenschaften und Politik keineswegs miteinander inkompatibel. Denn: Insbesondere jene Wissenschaft, der von autoritärer Hand Autonomie zugesichert werde, könne einem politischen Regime noch effektiver dienen. Hier verweist der Wiener Historiker auf eine Haltung, die für die sich „selbstmobilisierenden“ Wissenschaftler in der Zeit des Nationalsozialismus signifikant war. In Bezug auf diese Trennung der Arbeitsbereiche zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels spricht er von einer „sinnvollen Arbeitsteilung.“80
1.2 H ISTORISCHE G RUNDFRAGEN Die Ausbildung moderner Wissenschaftslandschaften fand unter spezifischen politisch-weltanschaulichen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen statt.81 Veränderungen in diesem Wechselverhältnis führten häufig zu Wandlungsprozessen in den Wissenschaften.82 Die zum Topos erstarr-
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stimmung. Zeitschrift für Demokratisierung der Arbeitswelt 30, 6(2001), S. 8– 12, hier S. 11. Vgl. ASH, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert – was hatten sie miteinander zu tun?, S. 20–26, S. 36. ASH, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, S. 50. Vgl. BRUCH, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftssystem und Nationalstaat im Deutschen Kaiserreich, S. 89. Vgl. Mitchell G. ASH, Wissenschaftswandel in Zeiten politischer Umwälzungen: Entwicklungen, Verwicklungen, Abwicklungen, in: Internationale Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin 3 (1995), S. 1–21, hier S. 3. DERS., Wissenschaftswandlungen in politi-
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te Ansicht von der ‚voraussetzungslosen Wissenschaft‘, die am Wissenschaftsschauplatz Österreich in den Jahrzehnten nach 1945 weit verbreitet war, ist längst überholt.83 So wie in Deutschland manifestierte sich die Verflechtung von Wissenschaft und Politik auch in der Habsburgermonarchie deutlich im Handlungsfeld der Nationalisierung. In Österreich konnten sich die Wissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings auf vielfältigere Art politisch verstricken: Sie konnten sich entweder mit der dynastisch fundierten Idee der ‚Staatsnation‘84 oder mit der Vorstellung der ‚Kulturnation‘ verbünden.85 Die Letztere war weitgehend in den aufstrebenden, unterschiedlich-nationalen bürgerlichen Schichten verankert.86 Im 20. Jahrhundert sollten die Wissenschaften in der Republik Österreich mit einem weiteren staatlich realisierten Nationskonzept – dem Nationalstaat – umzugehen haben. Das Ziel der Selbstinvolvierung in nationale Politik lag häufig in der Lukrierung neuer Ressourcen für die Wissenschaften. Von der Verwicklung der Historiografie in die nationale Politik zeugt nicht zuletzt der um 1850 in Österreich verwendete Begriff „Nationalgeschichte“: Diese konnte einerseits als eine Geschichte des „territorial und politisch zusammengehörenden […] österreichischen Gesammtstaates und Gesammtvolkes“ – dynastisch, vaterländisch, staatsnational – oder anderseits als die Geschichte „irgend einer racenmäßig ausgezeichneten Gruppe aus den vielzüngigen und vielfarbigen Stämmen des Menschengeschlech-
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schen Umbruchszeiten – 1933, 1945 und 1990 im Vergleich, in: Acta Historical Leopoldina 39 (2004), S. 75–95. DERS., Wissenschaftswandel und politische Ereignisgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1: Historischer Kontext, wissenssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 2000, S. 215–246, hier besonders S. 244–246. Vgl. Johannes FEICHTINGER, Heidemarie UHL, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften nach 1945. Eine Gelehrtengesellschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: Margarethe GRANDNER, Gernot HEISS, Oliver RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945–1955, Innsbruck–Wien–Bozen 2005 (Querschnitte 19), S. 313–337. Im 19. Jahrhundert manifestierte sich das offizielle Nationsverständnis im Konzept der österreichischen ‚Staatsnation‘, die politisch aufgefasst wurde. Seine Verfechter wiesen zwar die Vorstellung eines sprachlich-ethnografischen Nationalcharakters emphatisch zurück, nahmen aber nicht notwendig von der Idee der ‚natürlichen‘ Vorherrschaft der deutschen Nationalität Abstand. Dieser Nationsbegriff findet beredten Ausdruck u.a. durch Joseph Alexander von HELFERT, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, Prag 1853. Zum Begriff der ‚Kulturnation‘ vgl. Gerald STOURZH, Vom Reich zur Republik. Studien zum Österreichbewußtsein im 20. Jahrhundert, Wien 1990, S. 7– 24, hier S. 19–24. Die Unterscheidung zwischen Staats- und Kulturnation als analytische Begriffe traf zunächst der deutsche Historiker Friedrich MEINECKE in seiner Monographie: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München–Berlin 21911 (Original 1908), hier u.a. S. 1–20.
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tes“ – sprach- bzw. kulturnational – erforscht und als Mittel zur Stiftung unterschiedlicher kollektiver Identitätsentwürfe verwendet werden.87 Die Allianz mit einem dieser politischen Nationskonzepte war in einem Staat, in dem sich das Staatsvolk aus der Summe der verschiedenen Völker zusammensetzte, riskanter als anderswo: Während im deutschen Kaiserreich eine mit der Politik kohabitierende Wissenschaft die nationalen Integrationsbemühungen verstärkte,88 konnte sich eine solche Verwicklung in der national zerklüfteten Habsburgermonarchie als höchst prekär erweisen. In ihr bezog sich Politik auf das zentralstaatliche Handeln sowie auf ein Handeln der Königreiche, Länder und Provinzen. In den dynastisch vereinten Territorien hatte der ständische Adel seine Verwaltungsautonomie jahrhundertelang erfolgreich verteidigt. Mit dem Auftreten neuer, nationaler Aktivisten am Schauplatz der Politik, die in den „Culturverschiedenheiten“89 ein Surrogat für noch nicht erfüllte nationalpolitische Ansprüche entdeckten, verdoppelte sich der ‚nationale‘ Aktivismus. Während die einen durch Staatsnations-, Vaterlands- und Dynastiekunde die ‚Vaterlandsliebe‘ zu verstärken suchten, verbreiteten andere die Vorstellung der Sprach- bzw. Kulturnation. Sie verhieß zwar eine demokratischere Zukunft, infolge der destruktiven Vorgänge, die mit dem Sprachnationalismus verbunden waren, konnte diese Verheißung aber kaum eingelöst werden. Im Sinne Bourdieus handelten Wissenschaftler, die sich mit den politischen Verfechtern der Staats- oder der Kulturnation verbündeten, heteronom: Stellten sie sich auf die Seite der Staatsnation, so agierten sie zwar in Bezug auf den Gesamtstaat integrativ. Auf ihnen lastete aber der Verdacht, ein System zu stützen, das auf keinen weitergehenden demokratischnationalen Ausgleich abzielte. Anderseits mochte eine Wissenschaft, die sich mit der Kulturnationsidee verbündete, zwar innerhalb der Nationalitäten integrativ und demokratisierend wirken, auf die national verschachtelte Staatlichkeit und auf das Zusammenleben im Vielvölkerreich übte ein solches Bündnis letztlich aber hochgradig desintegrative Wirkungen aus. In Österreich sollten die Wandlungsprozesse in den Wissenschaften erheblich von diesen spezifischen nationalpolitischen Konstellationen beeinflusst werden. In dem sich zusehends professionalisierenden System konnten selbstbewusst handelnde Wissenschaftler die Ressourcen der Politik für sich nutzen. Umgekehrt wussten aber auch die Politiker – waren sie staatsoder kulturnational orientiert oder im Nationalstaat tätig – die Wissenschaften und ihre Ressourcen für ihre jeweiligen Zwecke zu verwenden. Wissenschaft und Politik bildeten sonach „Ressourcen füreinander“ (Ash). Unter akteursorientierter Perspektive wird sich zeigen, dass im Zuge der Berufs-
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HELFERT, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, S. 1f. Vgl. BRUCH, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftssystem und Nationalstaat im Deutschen Kaiserreich, S. 81–89. Joseph von EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, Leipzig 41859, S. 11.
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werdung der Wissenschaften nicht notwendig autonom gehandelt wurde, autonome Wissenschaft aber auch nicht zwangsläufig zur völligen Abstinenz von Politik gezwungen war. Diese Sachverhalte lassen sich von den Anfängen der Ausbildung einer modernen Wissenschaftslandschaft nach 1848 über die Zeit der Jahrhundertwende bis zur Ersten Republik nachverfolgen. Um der Problematik der relativen Autonomie und der sich ständig verändernden Vernetzungen der beiden Handlungsfelder (Politik und Wissenschaft) auf den Grund zu gehen, ist es sinnvoll, zunächst den Hintergrund – das „österreichische Staats- und Reichsproblem“ (Joseph Redlich) – zu beleuchten. 1.2.1 Das österreichische Staats- und Reichsproblem Österreich90 widerstrebte dem, was seit 1789 als ‚Nation‘ begriffen wurde. Im habsburgischen Vielvölkerstaat stellte das Staatsvolk (bzw. die Staatsnation) die Summe der verschiedenen „Volksstämme“,91 „Volkstümlichkeiten“ oder „Nationalitäten“ (wie man später meistens sagte) dar, die untereinander aber weder durch „tiefe psychische Beziehungen“ noch durch das „elektrisch durchströmende Fluidum der Sprache“ verbunden waren.92 Die staatliche Kohärenz verdankte sich vielmehr dem dynastischen Herrschaftswillen des ‚Hauses Habsburg‘93, Verträgen und einem „Pragmatismus des Zusammenlebens“94 der verschiedenen Völker, welche diese Dynastie durch An-
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In dieser Arbeit wird der Begriff Österreich zur Bezeichnung des Kaisertums, der nach 1867 im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (d.i. Cisleithanien) bzw. der Republik (seit 1918/19) verwendet. „Volksstamm“, „Volkstümlichkeit“ und „Nationalität“ sind Begriffe, die zur Bezeichnung der verschiedenen Völker der Monarchie im sprachlich-kulturellen (d.h. auch ethnischen) Sinne verwendet wurden. Im Kontext der „Gleichberechtigung der Volksstämme“ bot ihr Gebrauch ständig Anlässe für juristische Kontroversen. „Volksstamm“ und „Nationalität“ sind Zentralbegriffe des Artikels 19 des Staatsgrundgesetzes (StGG, 21.12.1867). Die „Gleichberechtigung der Volksstämme“ war die zentrale Herausforderung, ein Schlachtruf und strategisches Mittel in der Zeit der Verfassungsgesetzgebung vor 1867. Danach war sie ein Verfassungsgrundsatz und verbürgtes Recht in Österreich. Der Volks- oder Nationsbegriff wurde verstärkt im Sinne von „Staatsvolk“ bzw. „Staatsnation“ verwendet. Vgl. Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, Wien 1985, S. 19, S. 21–23, S. 240–248. Adolph FISCHHOF, Oesterreich und die Bürgschaften seines Bestandes. Politische Studie, Wien 1869, S. 67. Vgl. EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, S. 85, S. 90, und Joseph REDLICH, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches, 2 Bände. Band 1: Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861, Leipzig 1920, S. 20. Moritz CSÁKY, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien–Köln–Weimar 1996, S. 169.
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sammlung verschiedener Königreiche und Länder unter seiner Herrschaft in einer Monarchie vereint hatte. Trotz der straffen Zentralisierungspolitik Josephs II. blieb die Monarchie sprachlich-kulturell und national vielstimmig. Der Oxforder Historiker Robert Evans charakterisierte diesen raffiniert ausbalancierten Staatsverband als „eine zaghaft zentripetale Agglutination verwirrend heterogener Elemente“.95 In den 1860er-Jahren wurde der Zentralstaat, der seit 1851/52 wieder absolutistisch-bürokratisch regiert wurde, im Schatten verlorener Kriege (1859 und 1866) und innerer Schwächen sukzessive in einen zentralistisch gefärbten Verfassungsstaat verwandelt. Im Zuge des so genannten ‚Ausgleichs‘ (1867) wurden die staatsrechtlichen Verhältnisse zwischen Österreich und Ungarn neu geklärt. Das Kaisertum Österreich wurde in eine Doppelmonarchie – die österreichisch-ungarische Monarchie – verwandelt.96 Die beiden Reichshälften waren in ihren inneren Angelegenheiten völlig unabhängig voneinander und von unterschiedlicher Konstitution:97 Inoffiziell als Österreich bezeichnet, vereinte die cisleithanische Reichshälfte (benannt nach dem Grenzfluss Leitha) relativ zentral verwaltet „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ (so der offizielle Name), d.h. neben der späteren Republik auch die böhmischen Länder, Galizien, die Bukowina, Krain, das Küstenland (Triest) und Südtirol. Cisleithanien blieb auf der Grundlage der „Dezemberverfassung“98 ein ‚Nationalitätenstaat‘. In der transleithanischen Reichshälfte entwickelte sich Ungarn zwischen 1867 und 1918 zusehends zu einem ‚Nationalstaat‘, in dem die Vielzahl nationaler Gruppen
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Robert J. W. EVANS, Das Werden der Habsburgermonarchie 1550–1700. Gesellschaft, Kultur, Institutionen, Wien [u.a.] 1986, S. 313. Hegel sprach in Bezug auf die Monarchie von einem „Aggregat von vielen Staatsorganisationen“, einem Kaisertum, nicht einem Königtum, „das seine engere Verbindung mit Deutschland durch die kaiserliche Würde aufgegeben und sich der vielen Besitzungen und Rechte in Deutschland und in den Niederlanden entschlagen“ habe und nun „eine politische Macht für sich“ wäre. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 2 1989 (Werke 12) (stw 612) (Original 1837), S. 536. Vgl. Johannes FEICHTINGER, Die Habsburgermonarchie 1278–1918, in: Karl KASER, Christian PROMITZER (Hg.), Enzyklopädie des Europäischen Ostens. Band 3: Vormoderne multiethnische Reiche, Klagenfurt 2011 (in redaktioneller Bearbeitung). Bezeichnete der Begriff ‚Cisleithanien‘ den nicht-ungarischen Teil der Habsburgermonarchie, so hieß die ungarische Reichshälfte nach dem ‚Ausgleich‘ (1867) ‚Transleithanien‘. Vgl. Gerald STOURZH, Die österreichische Dezemberverfassung von 1867, in: DERS., Wege zur Grundrechtsdemokratie. Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates, Wien–Köln 1989 (Studien zu Politik und Verwaltung 29), S. 239–258. DERS., Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 75–80. Arthur SCHLEGELMILCH, Die österreichische ‚Dezemberverfassung‘ von 1867 als Kompromiß- und Stabilitätssystem, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse [der Österreichischen Akademie der Wissenschaften] 137, 2(2002), S. 67–77.
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bald von einer massiven Magyarisierungswelle überrollt wurde.99 Während Ungarn dem Königreich Kroatien und Slawonien durch den ungarischkroatischen Ausgleich (1868) verwaltungsmäßige sowie judikative Autonomie gewährte, wurde den Slawen Cisleithaniens (insbesondere den Böhmen) das so genannte ‚Staatsrecht‘ verwehrt. Bezugnehmend auf den österreichisch-ungarischen Ausgleich sprach František (Franz) Palacký (1798– 1876), der ‚Anwalt‘ der Slawen, von einer „zweifachen Zentralisation“.100 Die Kremsierer Kreisverfassung (1848/49), nach der den nationalen Kreisen Autonomie zugekommen wäre, hatte das Entwurfsstadium nicht überlebt.101 Mit der erwähnten ‚Dezemberverfassung‘ (1867), den so genannten „Staatsgrundgesetzen“ für „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, wurde allerdings das hehre Kremsierer Prinzip, die „Gleichberechtigung“ der „Volksstämme des Staates“, anerkannt.102 In der dualistischen Ära (1867–1918) sollte dieser Verfassungsgrundsatz aber ständig Konflikte heraufbeschwören. Seine umfassende Umsetzung wurde durch zwei Momente gravierend beeinträchtigt: einerseits durch den bald überschäumenden Nationalismus, dem zufolge die „Volksstämme“ aufgrund der kollektivrechtlichen Auslegung des Gleichberechtigungspostulates ein Mittel zur Ausweitung ihrer Ansprüche auf Vorherrschaft über schwächere Stämme erblickten; anderseits durch eine „Schaukelpolitik“103 der Zentralverwaltung, die z.B. in Galizien Versuche der Polonisierung der Ruthenen
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Vgl. Benno GAMMERL, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogentität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 189), S. 47–62. Tofik M. ISLAMOV, From Natio Hungarica to Hungarian Nation, in: Richard L. RUDOLPH, David F. GOOD (eds.), Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union, New York 1992, S. 159–183. Géza JESZENSZKY, Hungary through World War I and the End of the Dual Monarchy, in: A History of Hungary, ed. by Peter F. Sugar, Péter Hanák, Tibor Frank, Bloomington–Indianapolis 1994, S. 267–294, hier S. 274f. Franz PALACKÝ, Oesterreichs Staatsidee, Prag 1866 (Original 1865), S. 50. Vgl. FRANZ JOSEPH [u.a.], Auflösung des zu Kremsier tagenden Reichstages und Oktroyierung einer Verfassung für ‚das einige und untheilbare Kaiserthum Österreich‘, Flugschrift, 4. März 1849, K.K. Hof- u. Staats-Dr., in: http://edocs. ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2006/5153 [Zugriff: 31.10.2008], und Ernst HANISCH, Peter URBANITSCH, Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, hg. von Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch. Band VIII, 1, Wien 2006, S. 15–111, hier S. 31–34. Vgl. Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867, und Gerald STOURZH, Die Gleichberechtigung der Volksstämme als Verfassungsprinzip 1848–1918, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Die Völker des Reiches, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band III, 2, Wien 1980, S. 975–1206. Edmund Bernatzik an Georg Jellinek, 8.6.1898, in: Nachlass Georg Jellinek (Bundesarchiv Koblenz, 1136/2). Dieser Brief ist zitiert nach Peter GOLLER, Österreichische Staatsrechtswissenschaft um 1900. Aus Briefen Edmund Bernatziks an Georg Jellinek (1891–1903), in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51 (2004), S. 203–249, hier S. 231.
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(Ukrainer), Juden und Deutschen zuließ.104 So schürte die strategische Bevorzugung mancher „Volksstämme“ den Konflikt zusätzlich. In den nächsten Jahrzehnten verursachten Bestrebungen zur Verringerung der ‚Machtstellung‘ der deutschen Österreicher in vornehmlich slawischsprachigen Provinzen Cisleithaniens Staatskrisen von großer Tragweite. Zwei Beispiele seien angeführt: Der Versuch, in der Mittelschule von Cilli (Celje) slowenischsprachige Klassen einzurichten, trug 1895 zum Zerfall der Koalitionsregierung des Ministerpräsidenten Alfred Windischgrätz (1851–1927) (‚Cillier Schulstreit‘) bei. Die Verordnung des Ministerpräsidenten Kasimir Badeni (1846–1909), im inneren Amtsverkehr Böhmens nicht – wie bisher – allein die deutsche, sondern auch die tschechische Sprache zu gebrauchen, rief 1897 Krawalle in Wien, Prag, Graz und in anderen Städten Cisleithaniens hervor (‚Badeni-Krise‘). In seinem letzten halben Jahrhundert stand das Habsburgerreich im Spannungsfeld von vermehrt nationalen Ansprüchen und von Versuchen ihrer Zurückweisung. Der Aufstieg des sprach- bzw. kulturnationalen Prinzips hatte ein massives „Staats- und Reichsproblem“105 hervorgerufen: Im Habsburgerreich verteilten sich die Nationalitäten nicht auf die gleiche Anzahl an Provinzen. Die sprachlichen Mehrheitsverhältnisse divergierten oftmals von Ort zu Ort, mitunter waren die verschiedenen Sprachgruppen unauflösbar ineinander verzahnt. Sobald in diesem „bunteste[n] Völkergemisch“ […], das Europa aufzuweisen“ hatte,106 nationalistische Aktivisten Territorium und Nationalität aufeinander abzustimmen versuchten, wurden Machtfragen berührt. Keine Nationalität bildete eine territoriale Einheit für sich: „Die Länder zerreissen die Nationen“, schrieb Karl Renner 1918, „kein Wunder, dass die Nationen die Länder zerreissen wollen.“107 Jeder Versuch einer Nationalität, sich an einem Ort über einen schwächeren „Volksstamm“ Hegemonie zu verschaffen, konnte andernorts eine Umkehrung der Machtverhältnisse provozieren. So seufzte ständig eine Gruppe unter dem latenten oder manifesten Assimilations- bzw. Dissimilationsdruck der anderen.108
104 Vgl. Harald BINDER, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 29), S. 320–336. 105 Vgl. REDLICH, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem, 1920, und Gary B. COHEN, Nationalist Politics and the Dynamics of State and Civil Society in the Habsburg Monarchy, 1867–1914, in: Central European History 50 (2007), S. 241–278. 106 Friedrich UMLAUFT, Einleitung, in: DERS., Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch mit besonderer Rücksicht auf die politische und Kultur-Geschichte für Leser aller Stände, Wien–Pest 1876, S. 2. 107 Karl RENNER, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Oesterreich, Erster Teil: Nation und Staat, Leipzig–Wien 1918, S. 72. 108 Den Umstand, dass in der Habsburgermonarchie nicht nur Deutsche und Magyaren, sondern jede Nationalität ihrer Vormachtstellung gegenüber den jeweils Anderen im ‚eigenen‘ Territorium Ausdruck verlieh, bezeichnet der Wiener
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Die damit verbundenen Konflikte nutzten die deutschen Aktivisten wiederum als ein Argument, die „Verfassungskämpfe“ durch ein Machtwort zu beenden, d.h. durch Zementierung der unumstößlichen deutschen Vorherrschaft unter Wahrung des vermeintlich „deutschen Grundcharakters des Staats“.109 Auch der Verfassungsgrundsatz der Gleichberechtigung der „landesüblichen Sprachen“ in Schule, Amt und öffentlichem Leben schürte paradoxerweise den Nationalitätenkonflikt. Als landesüblich wurden folgende Sprachen eingestuft: das Deutsche, das ‚Böhmische‘, das Italienische, das Kroatische, das Polnische, das Rumänische, das Ruthenische und das Slowenische; zugleich wurde den Friulanern, Ladinern, Slowaken (in Mähren), Serben (in Dalmatien), Magyaren (in der Bukowina) und weiteren kleineren „Volksstämmen“ dieser Sprachenstatus nicht zuerkannt. Auch den Juden wurde er u.a. mit dem Argument verwehrt, dass sie als Religionsgemeinschaft angesehen würden und das Jiddische weniger eine Sprache als vielmehr ein ‚Dialekt lokalen Charakters‘ wäre.110 Wurde der Begriff der Landesüblichkeit wie in Böhmen, wo mehrere „Volksstämme“ wohnten, auf ein Königreich bezogen, so war in jeder Mittelschule in überwiegend deutschsprachigen Städten auch die tschechische Sprache zu unterrichten, während unter regionaler Auslegung den bald hunderttausenden Tschechen in Wien der tschechischsprachige Schulunterricht verwehrt wurde. Diese widersinnigen Ansprüche, zu denen der Artikel 19 des „Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ Anlass gab, schufen einen latenten, sich ständig neu entzündenden Konfliktherd. Die erbitterten Machtkämpfe, die von Aktivisten zwischen den Nationalitäten Cisleithaniens angeheizt wurden, erfuhren weiteren Antrieb durch die so genannten ‚Konationalen‘, über die Österreich in den angrenzenden Staaten, die sich national definierten (Deutschland und Italien), in erheblicher Zahl verfügte. Sie verliehen einem latenten und manifesten Irredentismus Auftrieb. Im Inneren schürte die Vereinigung Deutschlands das deutschnationale Feuer weiter. Da unter diesem Vorzeichen die Sprachverwendung als nationale Manifestation verstanden wurde, wurden die deutschsprachigen und mitunter sogar kaisertreuen Österreicher zunehmend als ‚die Deutschen‘
Slawist Stefan Simonek mit dem Begriff der „Mikro- oder Binnenkolonialismen“. Vgl. DERS., Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Literaturtheorie aus slawistischer Sicht, in: Johannes FEICHTINGER, Ursula PRUTSCH, Moritz CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck [u.a.] 2003 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 2), S. 129–139, hier S. 131. 109 A[lfred] FISCHEL, Nationalitäten, in: Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes, hg. von Ernst Mischler, Josef Ulbrich. Band 3, Wien 21907, S. 676–702, hier S. 699. 110 Vgl. hierzu Gerald STOURZH, Galten die Juden als Nationalität Altösterreichs? Ein Beitrag zur Geschichte des cisleithanischen Nationalitätenrechts, in: DERS., Wege zur Grundrechtsdemokratie, S. 75–80.
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apostrophiert.111 Das Spektrum ‚nationaler‘ Schattierung war jedoch breiter; es umfasste Anschlusswillige sowie linientreue Österreicher: „Aber wenn wir gute Deutsche waren“, versicherte der deutschliberale Altphilologe Theodor Gomperz (1832–1912), „so wollten wir darum keine schlechten Oesterreicher sein.“112 Im Äußeren verstärkte vor allem der italienische Irredentismus die zentrifugalen Kräfte in den noch im Reichsverband verbliebenen italienischsprachigen Territorien. Andere multinationale Staaten (wie z.B. die USA oder Kanada) vermissten solche ‚Konationale‘ weitgehend.113 Anfang des 20. Jahrhunderts konnten einige Nationalitäten schließlich nationale Ausgleiche (‚Mährischer Ausgleich‘ 1905, ‚Ausgleich der Bukowina‘ 1910, ‚Galizischer Ausgleich‘ 1914) erzielen, die aus rückblickender Perspektive aber als ambivalent zu bewerten sind: Zwar wurde den verschiedenen Völkern eine Art nationale Autonomie gewährt, zu Recht verweist der Wiener Historiker Gerald Stourzh aber darauf, dass der modellhafte ‚Mährische Ausgleich‘ durch die Organisation von Schule und Amt auf sprachlich-ethnischer Basis die verhängnisvolle Tendenz der „Ethnisierung der österreichischen Politik“ besaß.114 Das im Jahr 1867 gewährte „unverletzliche Recht“ aller „Volksstämme des Staates“ „auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“ war zweifelsohne ein vorbildlicher Verfassungsgrundsatz, allerdings von zwiespältiger Wirkung: Der Artikel 19 anerkannte die staatsbürgerlichen Individualrechte. Im Unterschied zum Kremsierer Verfassungsentwurf, dem zufolge die völlige Autonomie der „Stämme“ innerhalb national abgezirkelter Territorien (Kreisverfassung) vorgesehen war, wurde den „Volksstämmen“
111 Vgl. CSÁKY, Ideologie der Operette, S. 182f. Zu dem, was unter dem Begriff „Deutscher“ verstanden wurde, vgl. ebenda, S. 180–187. Ernst BRUCKMÜLLER, Das Neue deutsche Kaiserreich und die nationale Identität der DeutschÖsterreicher. Die Attraktivität Deutschlands für Österreich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Revue d’Allemagne et des Pays de Langue Allemande 24, 4(1992), S. 507–520. DERS., Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien–Köln–Graz 21996 (Studien zu Politik und Verwaltung 4). 112 Theodor GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, Stuttgart–Leipzig 1905, S. 19. 113 Vgl. Peter STACHEL, Nikola ORNIG, Bernd WEILER, Die Habsburgermonarchie, die USA und Kanada als multinationale Staaten. Eine vergleichende Untersuchung, in: CSÁKY, KURY, TRAGATSCHNIG (Hg.), Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, S. 63–100. 114 Gerald STOURZH, The Multinational Empire Revisited. Reflections on Late Imperial Austria, in: Austrian History Yearbook 23 (1992), S. 1–22, hier S. 18. Vgl. auch DERS., Ethnic Attribution in Late Imperial Austria. Good Intentions, Evil Consequences, in: Ritchie ROBERTSON, Edward TIMMS (eds.), The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective, Edinburgh 1994 (Austrian Studies 5), S. 67–83, hier S. 72–78. DERS., Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 74, S. 189–240. GAMMERL, Untertanen, Staatsbürger und Andere, S. 90– 97. Tara ZAHRA, Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands 1900–1948, Ithaca–London 2008, S. 32–39.
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dieses Kollektivrecht nicht gewährt.115 Im juristischen Sinne verblieben sie daher soziale Gruppen, die keineswegs über den Status einer ‚Rechtspersönlichkeit‘ verfügten. Dennoch leiteten nationale Akteure vom Artikel 19 bald auch eine Art Kollektivrecht ab, das nicht nur – so wie von den liberalen Verfassungsvätern vorgesehen – das Individuum, sondern auch den „Volksstamm“ als solchen schützte.116 Diese Auslegungspraxis des „unverletzlichen Rechts auf Wahrung und Pflege“ von Nationalität und Sprache hielt die Judikatur und Verwaltung Cisleithaniens angesichts der Tatsache, dass „die […] Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohn[t]en, sondern sich in vielen Gegenden gegenseitig“ durchdrangen,117 so der Geograf Friedrich Umlauft, und zwar „nicht etwa in abgrenzbaren Sprachinseln, sondern je innerhalb der Mauern derselben Gemeinde“ (wie Karl Renner schrieb),118 ein halbes Jahrhundert lang auf Trab. Anzunehmen ist, dass aufgrund der nationalen Verschachtelung der „Volksstämme“ innerhalb der verschiedenen Verwaltungsdistrikte nationale Abgrenzungsversuche und die Durchsetzung nationalpolitischer Ansprüche eine umso größere Herausforderung darstellten. Über die mit nationaler Selbstvergewisserung verbundene Dynamik der Selbstaufwertung durch Abwertung anderer, auf die noch zurückzukommen sein wird, gibt das Konzept der „self-authentication“ Aufschluss:119 „Überall der Kampf um Gleichberechtigung, ehe diese erreicht ist“, vermerkte der ungarische Staatsmann und Schriftsteller Joseph von Eötvös (1813–1871) in weiser Voraussicht; „überall das Streben nach Herrschaft, wie man nicht mehr gegen Unterdrückung zu klagen hat.“120
115 Vgl. STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 74, S. 189–200. 116 Vgl. Robert KANN, Die Habsburgermonarchie und das Problem des übernationalen Staates, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Verwaltung und Rechtswesen, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band II, Wien 1975, S. 1–56, hier S. 47–51. 117 UMLAUFT, Einleitung, S. 2. 118 RENNER, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 75. 119 Das Konzept der „self-authentication“ wird näher ausgeführt von Birgit SCHAEBLER, Civilizing Others. Global Modernity and the Local Boundaries (French/German, Ottoman, and Arab) of Savagery, in: DIES., Leif STENBERG (eds.), Globalization and the Muslim World. Culture, Religion, and Modernity, New York 2004, S. 3–29. Vgl. auch Michelle WOLKOMIR, Emotion Work, Commitment, and the Authentication of the Self. The Case of Gay and Ex-Gay Christian Support Groups, in: Journal of Contemporary Ethnography 30 (2001), S. 305–334. Den Hinweis auf dieses Konzept verdanke ich dem Wiener Sozialanthropologen und wissenschaftlichen Kooperationspartner Johann Heiss. Vgl. DERS., Orientalismus, Eurozentrismus, Exotismus. Historische Perspektiven zu gegenwärtigen Trennlinien, in: Birgit SAUER, Sabine STRASSER (Hg.), Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus, Wien 2008, S. 221–236, und die Begriffsklärung in der Fußnote 164 in diesem Kapitel. 120 Joseph von EÖTVÖS, Ueber die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Oesterreich, Wien 21851, S. 19.
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Vorgänge dieser Art, die in der ‚plurikulturellen‘ Monarchie von der Zentralverwaltung noch mehr oder minder gezügelt werden konnten, sollten in der ‚multikulturellen‘ Republik schließlich völlig aus dem Ruder laufen: In Österreich, das als deutsches Land definiert wurde, lebten weiterhin in großer Zahl Tschechen, Slowaken, Slowenen, Ungarn, Kroaten sowie Juden und andere neu konstruierte nationale ‚Minderheiten‘. Sie genossen zwar offiziellen Schutz,121 der in der sozialen Praxis nationaler Selbstvergewisserung aber das, was er versprach, nicht hielt. Darauf reagierten Vertreter der Wissenschaften dieser Zeit verschieden: Sigmund Freud, der damals international wohl renommierteste österreichische Wissenschaftler, hatte Vorgänge dieser destruktiven Art vor Augen, als er in analytischer Haltung zeigte, dass durch „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung […] den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert“122 werde. Von anderen, zu dieser Zeit viel maßgeblicheren Vertretern der Wissenschaft in Österreich wurden solche Prozesse weniger analysiert, als vielmehr aktiv forciert. So bezogen sich z.B. Volkstumstheoretiker wieder auf das Staatsgrundgesetz, um durch ihre kollektivrechtliche Auslegung des Artikels 19 die nationale Substanz der ‚Volksgruppen‘ zu wahren und diese vor ‚Verunreinigung‘, z.B. durch Assimilierung, zu schützen.123 Ein namhafter Verfechter solcher Ideen war der Wiener Rechtshistoriker Karl Gottfried Hugelmann (1879–1959), der den Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ juristisch zu begründen versuchte.124 Andere österreichische ‚Volkstumsforscher‘ versuchten es über das Vehikel einer angeblich ethnischen Differenz125 oder – wie zu zeigen sein wird – über den Steigbügel der Kulturverschiedenheit. Während in diesen Jahrzehnten verstärkter Einheitssuche auf der Grundlage nationaler Homogenität die einen (wie z.B. Freud) solche 121 Vgl. Hanns HAAS, Die österreichische Regierung und die Minderheitenschutzbestimmungen von Saint Germain, in: integratio. Die Volksgruppen in Österreich 11–12 (1979), S. 23–40. Erwin VIEFHAUS, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1960. Gudrun HENTGES, ‚Brücken für unser Land in einem neuen Europa‘? Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich, in: Christoph BUTTERWEGGE, Gudrun HENTGES (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. Dritte, aktualisierte und überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2006, S. 179–222. 122 Sigmund FREUD, Das Unbehagen in der Kultur (Original 1930), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV. Nachdruck der Ausgabe von London 1942, hg. v. Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 419–506, hier S. 474. 123 Vgl. HENTGES, Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich, S. 179–222. 124 Vgl. Michael FAHLBUSCH, Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft, in: Handbuch der völkischen Wissenschaften, S. 688–697, hier S. 693. 125 Vgl. Alexander PINWINKLER, ‚Bevölkerungssoziologie‘ und Ethnizität: Historisch-demografische Minderheitenforschung in Österreich, ca. 1918–1938, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57, 2(2009), S. 101–133.
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Prozesse analysierten und nach Auswegen suchten, spielte ein anderer Teil der Wissenschaft das Spiel der Politik, deren Handlanger er als normativer Konzeptgeber war und blieb. Diese unterschiedlichen Handlungsformen im Bereich der Wissenschaft werden in diesem Buch analysiert. 1.2.2 Die Wissenschaft als Schauplatz der Politik Zur Mitte des 19. Jahrhunderts versah sich die neoabsolutistische Herrschaftspraxis mit dem Mandat der „Neugestaltung“ Österreichs.126 Im Zuge dieser Modernisierung, der zufolge das Kaisertum in einen bürokratischen Zentral- und Einheitsstaat verwandelt werden sollte, reformierte der strukturkonservative böhmische Aristokrat und devote Katholik Leo Graf von Thun-Hohenstein (1811–1888) als Unterrichts- und Cultusminister (1849– 1860) grundlegend das österreichische Schul- und Universitätssystem, das in Hinkunft „zweckmäßig organisiert“ sein sollte.127 Inwieweit Thun mit der Modernisierung der österreichischen Bildungs- und Universitätslandschaft ein politisches und (bzw. oder) wissenschaftliches Anliegen verfolgte,128 wird noch zu erkunden sein. Als Vorbild fungierte jedenfalls das Humboldtsche Modell. De jure anerkannte der Minister das Prinzip der „Freiheit von Lehre und Forschung“, de facto wurde die strikte Trennung von Wissenschaft und Politik aber nicht vollzogen. Die Universitäten sowie die 1847 in Wien gegründete Kaiserliche Akademie der Wissenschaften blieben weitgehend der Aufsicht des Zentralstaates unterstellt. Dass das „neugeformte staatliche Leben“ und „das Leben der Wissenschaft“ einander als „staatlich nothwendige Lebensform“ berührten, bezeugte nicht zuletzt der angesehene Wiener Anatom Joseph Hyrtl (1810–1894) in seiner „Eröffnungsrede der 32. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte“ in Wien am 16. September 1856: Der Mediziner würdigte „die Vereinigung aller wissenschaftlichen Interessen unter einer selbständigen obersten Leitung“ und die Bereitwilligkeit aller Regierungsorgane, aufzubieten, was dem Aufschwung der Wissenschaft Vorschub leisten konnte.129 Allerdings unterließ es Hyrtl in seiner Rede, einen anderen Aspekt anzusprechen, der darin bestand, dass die relative Autonomie der Wissenschaft – durch Freiheit der Forschung und Lehre, Aufhebung des Studienzwangs und Etablierung neuer Institute und
126 Carl Freiherr von CZOERNIG, Österreichs Neugestaltung 1848–1858, Stuttgart–Augsburg 1858, und vgl. Waltraud HEINDL, Staat, Gesellschaft und Verwaltung im Neoabsolutismus, in: Christian BRÜNNER [u.a.] (Hg.), Kultur der Demokratie. Festschrift für Manfried Welan zum 65. Geburtstag, Wien– Köln–Graz 2002 (Studien zu Politik und Verwaltung 80), S. 97–111. 127 FISCHEL, Nationalitäten, S. 686. 128 Vgl. Karl Heinz GRUBER, Higher Education and the State in Austria. An historical and institutional approach, in: European Journal of Eduction 17, 3(1982), S. 259–270, hier S. 261f. 129 Josef HYRTL, Einst und Jetzt der Naturwissenschaft in Oesterreich. Eröffnungsrede der 32. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Wien, am 16. September 1856, Wien 1856, S. 5–10.
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Disziplinen – insofern ein integraler Bestandteil einer auf ‚Zweckmäßigkeit‘ orientierten Universitätsreform war, als die staatliche Politik massives Interesse hatte, sich mit Hilfe der Wissenschaft Herrschaftswissen anzueignen, die ‚Volksgesundheit‘ zu verbessern, die Wirtschaftskraft zu erhöhen und neue Technologien zu erfinden. Wohl allein zu diesem Zweck gewährte sie der Wissenschaft ein Stück Unabhängigkeit. Demungeachtet hatte die Thunsche Universitätsreform zu institutionellen Verbesserungen geführt und zugleich auch den Auftakt gegeben zu einer verstärkt positivistischen Ausrichtung der Wissenschaften sowie zur „vollen Uebereinstimmung“ der österreichischen mit den deutschen Universitäten: „In der Jetztzeit“ – so der Grazer Jurist Ernst Mischler (1857–1912) in den 1890er-Jahren – „ist die Verwandtschaft der österr. Universitäten mit den deutschen eine außerordentlich enge.“130 Thun hatte zahlreiche deutsche Professoren nach Österreich berufen.131 Die verstärkte Hinwendung zu Deutschland konnte in den ‚weltanschaulichen‘ Kultur- bzw. Geisteswissenschaften ambivalent wirken: Während die Orientierung auf ein deutsches System im Wissenschaftsfeld der Philosophie – namentlich das von Johann Friedrich Herbart (1776–1841) – um 1850 integrativ wirkte, konnte sie in anderen Disziplinen ‚österreichische‘ Traditionen verunsichern: So wurde z.B. die Aufarbeitung der österreichischen Geschichte bald vom Aspekt des verblichenen deutsch-römischen Reiches dominiert, was unter der zunehmend nationalen Sichtweise zu ihrem Aufgehen in einer deutschen Geschichte führte. Vor diesem Hintergrund wurden auch die „Monumenta Austriaca“ – ein Corpus mittelalterlicher Quellen – den „Monumenta Germaniae Historica“ einverleibt.132 Die Wissenschaften und ihre universitären Schauplätze stellten im späten Kaisertum Österreich und in der österreichisch-ungarischen Monarchie (seit 1867) zentrale Austragungsorte nationaler Machtkämpfe dar. Die Universitäten bildeten dabei sowohl Vehikel zur Durchsetzung zentralstaatlichstaatsnationaler Vorhaben als auch partikularistischer kulturnationaler Ansprüche: Bald waren sie das Werkzeug bürokratischer Zentralisierung, bald Schrittmacher deutsch- und/oder andersnationaler Manifestation.133 Im Vormärz hatten deutschsprachige Anwärter für Verwaltungs- und Priesterberufe an der Universität Olmütz (Olomouc) noch die böhmische Sprache
130 Ernst MISCHLER, Universitäten. Allgemeine Universitätsverfassung, in: Oesterreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesammten österreichischen öffentlichen Rechtes, hg. von Ernst Mischler, Josef Ulbrich. Band 2, Wien 1897, S. 1367–1385. 131 Vgl. Walter HÖFLECHNER, Humboldt in Europa?, in: SCHWINGES (Hg.), Humboldt International, S. 263–269, hier S. 268. 132 Vgl. CSÁKY, Ideologie der Operette, S. 184f. 133 Vgl. Friedrich GOTTAS, Universitäten, Wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts, in: Richard G. PLASCHKA, Horst HASELSTEINER, Anna M. DRABEK (Hg.), Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus österreichischer und ungarischer Sicht, Wien 1997, S. 43–61.
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studieren können.134 Jan Nepomuk Norbert Hromádko (1783–1850) hatte im Herbst 1843 auch an der Wiener Universität „seine regelmäßigen Vorlesungen über böhmische Sprache“ und außerordentliche Vorlesungen ‚Ueber Sprachkunde der Slaven‘ an der k.k. med. chirurgischen Josefsakademie und am k.k. politechnischen Institut abzuhalten begonnen.135 In den 1850erJahren bestand für Vorlesungen zur Vermittlung der slawischen Sprachen für ‚alle Hörer‘ jedoch kein Anlass mehr,136 da die deutsche Sprache unter neoabsolutistischen Verhältnissen sukzessive zur ‚ordentlichen Unterrichtssprache‘ aufgewertet wurde.137 Darin zeigt sich das, was Ludwig Gumplowicz (1838– 1909) und Robert Kann (1906–1981) als die „deutsche Vorherrschaft“, die sich mit der neuen, verstärkt zentralistisch-bürokratischen Herrschaftspraxis unauffällig eingeschlichen habe,138 bzw. als „straffe Germanisation“ bezeichneten.139 Die Machtasymmetrien zwischen den nationalen Gruppen manifestierten sich im Zentralstaat u.a. in der universitären Sprachverwendung.140 In der Zeit des wieder auflebenden Absolutismus wurde „rücksichtlich der höheren von Thun zweckmäßig organisierten Bildung“ vermehrt in deutscher Spra-
134 Vgl. Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst 293 (8.12.1847), S. 1164. 135 Sonntags-Blätter für heimathliche Interessen 45 (5.11.1843) [Beilage], S. 1083. Diese Hinweise verdanke ich meiner Kollegin, der Wiener Slawistin Gertraud Marinelli-König. 136 Im Zeitraum von 1848–1852/53 wurde in Krakau, Lemberg und Prag in verschiedenen Fächern, wie z.B. in Medizin, Theologie und in Sprache und Literatur, noch in polnischer, ukrainischer bzw. böhmischer Sprache unterrichtet. Vgl. Jan SURMAN, Supranational? Die cisleithanischen Universitäten im Spannungsfeld zwischen „republique des lettres“ und „republique des nations“, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 4 (2008) [Themenschwerpunkt: Migration], S. 213–224. In Graz wurden an der Chirurgisch-Medizinischen Lehranstalt zumindest bis 1850 etliche Vorlesungen auf Slowenisch gehalten. Vgl. OeStA/HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium für Cultus und Unterricht, Kart. 886, Personalakte Rzehaczek, Z. 8529/813, 17.10.1850. Diesen Hinweis verdanke ich dem österreichischpolnischen Historiker Jan Surman. 137 Vgl. Jan SURMAN, Habsburgische Sprachenverwirrung? Die Sprachenfrage an der Universitäten der späten Habsburgermonarchie, in: Tagungsbericht des 25. Österreichischen Historikertags in St. Pölten 2008, Wien 2010 [im Erscheinen]. 138 Robert A. KANN, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. Band 1: Das Reich und die Völker, Graz–Köln 21964, S. 87–108, hier S. 91, und REDLICH, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem, S. 161–168. 139 Ludwig GUMPLOWICZ, Das Recht der Nationalitäten und Sprachen in Österreich-Ungarn, Innsbruck 1879, S. 110. 140 Zur Frage der Sprachverwendung an den Universitäten im Allgemeinen vgl. Gustav OTRUBA, Die Universitäten in der Hochschulorganisation der DonauMonarchie. Nationale Erziehungsstätten im Vielvölkerreich 1850–1914, in: Karsten BAHNSON (Hg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975 (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im neunzehnten Jahrhundert 12), S. 75–155, hier S. 96–100.
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che unterrichtet.141 Diese wurde 1853 in Ungarn und in Galizien (Krakau, Lemberg) zur offiziellen Unterrichtssprache erklärt; in Böhmen stellte die Verwendung des Tschechischen als Vorlesungssprache die Ausnahme dar.142 Da das Ministerium der Ansicht war, „daß die nichtdeutschen Sprachen mit Ausnahme der italienischen kein vollkommen geeignetes Mittel für die Unterweisung in den Wissenschaften“ darstellten, wurde die polnische und tschechische Sprache in der Zeit des zentralistisch-bürokratischen Absolutismus als Vorlesungssprache weitgehend zurückgedrängt,143 um danach wieder aufgewertet zu werden: In Bezug auf Ungarn bestätigte das so genannte ‚Oktoberdiplom‘ (1860) die ungarische Sprache als Unterrichtssprache. Seit den späten 1860er-Jahren wurde die galizische Universität in Krakau vollständig polonisiert, nachdem sie seit 1861 utraquistisch geführt worden war. In Lemberg wurden zunächst Lehrkanzeln in ruthenischer Sprache errichtet. Anfang der 1870er-Jahre wurde auf utraquistische Art und Weise in polnisch und ruthenisch unterrichtet. Zur Jahrhundertwende stellte die Verwendung des Ruthenischen als Unterrichtssprache nur noch die Ausnahme dar.144 Auch an der Universität in Prag nahm die Zahl der tschechischsprachigen Vorlesungen kontinuierlich zu. Zunächst wurden an der Prager Technischen Hochschule ordentliche Professuren mit tschechischer Unterrichtssprache geschaffen, bevor diese Institution schon 1869 – 13 Jahre vor der Universität – in eine „k.k. böhmische“ und in eine „k.k. deutsche“ aufgeteilt wurde. An der Brünner Technischen Hochschule wurde zunächst zweisprachig unterrichtet, ab 1873 deutschsprachig.145 An der Universität
141 FISCHEL, Nationalitäten, S. 686. 142 Vgl. SURMAN, Habsburgische Sprachenverwirrung? [im Erscheinen], und DERS., Figurationen der Akademia. Galizische Universitäten zwischen Imperialismus und multiplem Nationalismus, in: Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, hg. vom Doktoratskolleg Galizien, Innsbruck [u.a.], S. 15–35, hier S. 16–20. 143 FISCHEL, Nationalitäten, S. 686. Vgl. Peter URBANITSCH, Die Deutschen in Österreich. Statistisch-deskriptiver Überblick, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Die Völker des Reiches, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band III, 2, Wien 1980, S. 33–153, hier S. 94–103. So gab es 1857 in Krakau, Lemberg und Prag 30 lateinische, 239 deutsch-, aber nur 11 polnisch-, 2 ruthenisch- und 8 tschechischsprachige Vorlesungen. 144 Vgl. SURMAN, Habsburgische Sprachenverwirrung? [im Erscheinen]. DERS., Figurationen der Akademia, S. 24–28. Harald BINDER, Der nationale Konflikt um die Universität Lemberg, in: DERS., KŘIVOHLAVÁ, VELEK (Hg.), Místo národních jazyků ve výchově, školství a vědě v habsburgské monarchii 1867–1918, S. 183–215. 145 In Brünn wurde 1899 neben der zunächst zweisprachigen (k.k. Technische Lehranstalt – c.k. Technické Učilištê), dann ‚deutschen‘ Technischen Hochschule eine ‚tschechischsprachige‘ errichtet. Vgl. Jiří MALÍŘ, Otázka založení druhé české univerzity a její nacionální a politická instrumentalizace [The Issue of the Establishment of the Second Czech University and its National and Political Instrumentation], in: Harald BINDER, Barbora KŘIVOHLAVÁ, Luboš VELEK (Hg.), Místo národních jazyků ve výchově, školství a vědě v habsburgské monarchii 1867–1918 [The Position of national Languages in the Edu-
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Czernowitz, die anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Zugehörigkeit der Bukowina zur Habsburgermonarchie im Jahr 1875 von Kaiser Franz Josef errichtet worden war, wurde bis zum Zerfall der Monarchie vornehmlich in deutscher Sprache gelehrt.146 In Ungarn durfte – wie erwähnt – seit den 1860er-Jahren auf Ungarisch unterrichtet werden. 1872 wurde in Klausenburg eine Universität mit ausschließlich ungarischer Unterrichtssprache gegründet,147 1874 in Zagreb eine kroatischsprachige Universität eröffnet. In Innsbruck fanden juristische Vorträge und Prüfungen in italienischer Sprache statt, und auch in Graz und Wien (bis 1877) wurde auf Italienisch geprüft. Cisleithanien verfügte im Jahr 1875 über sieben Universitäten, nämlich über fünf vornehmlich deutschsprachige (Wien, Czernowitz, Graz, Innsbruck und Prag, die Letztere vermehrt auch tschechischsprachig) und zwei polnischsprachige Universitäten (Krakau und Lemberg).148 Während unter Minister Thun die Schaffung übergreifender Wissenschaftsstandards mit einer Zentralisation durch die verordnete Verwendung der deutschen Sprache verknüpft war, slawischsprachige Professoren aber vereinzelt berufen worden waren, führte die Nationalisierung der Hochschulen seit den 1860er-Jahren sukzessive zur Ausbildung ‚kulturnationaler Wissenschaftssysteme‘149 in der Monarchie: Ab 1861 stellten Berufungen cisleithanischer Professoren nach Ungarn die Ausnahme dar. Die Besetzung von Professuren wurde aber auch in Österreich zusehends von der nationalen Herkunft und von den Sprachkenntnissen der Anwärter abhängig gemacht. Trotz (oder wegen) der Nationalisierungsprozesse bildeten die Universitäten vermehrt Schauplätze politischer Konflikte, welche sich zunehmend vom Wiener Zentrum auf die Provinzstandorte verlagerten. Mit der Nationalisierung der Wissenschaft waren auch noch weitere Probleme verbunden, auf die hier nur schlaglichtartig verwiesen werden kann: Die Abkehr von der lingua franca der Wissenschaft verminderte zwangsläufig die Verbreitung wissenschaftlicher Resultate; der Aufbau neuer nationalsprachlicher terminologischer Systeme stiftete oftmals Verwirrung, und die sprachpolitisch motivierten Versetzungen mancher ‚deutscher‘ Professoren wurden zu Vorboten jener unheilvollen Hochzeit nationaler Selbstvergewisserung, in
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cation, the Educational System and Science of the Habsburg Monarchy, 1867– 1918], Praha 2003 (Práce z dějin vědy 11), S. 247–273, hier 253. Vgl. Hannelore BURGER, Das Problem der Unterrichtssprache an der Universität Czernowitz, in: Ilona SLAWINSKI und Joseph P. STRELKA (Hg.), Glanz und Elend der Peripherie. 120 Jahre Universität Czernowitz, Bern [u.a.] 1998, S. 65–81. An der orthodoxen Fakultät wurde auf Ukrainisch unterrichtet, ebenso gab es einen Lehrstuhl für ukrainische Sprache und Literatur. Vgl. SURMAN, Habsburgische Sprachenverwirrung? [im Erscheinen]. Die Universität Olmütz (Olmouc) wurde 1860 von Kaiser Franz Josef zur Gänze aufgelöst. Vgl. SURMAN, Supranational? Die cisleithanischen Universitäten im Spannungsfeld zwischen „republique des lettres“ und „republique des nations“, S. 213–224.
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der sich auch an den Universitäten das ‚unverletzliche Recht‘ jedes „Volksstammes“ auf Wahrung seiner Sprache zur Pflicht verkehrte, deren Verletzung zuweilen mit der Abberufung von Professoren geahndet wurde. Die zentralere politische Rolle, die den Slawen Cisleithaniens nach dem Machtwechsel des Jahres 1879, d.h. dem Antritt der konservativen, auf nationalen Ausgleich bedachten Regierung Eduard Taaffes (1879–1893) zuerkannt wurde,150 manifestierte sich in der Teilung der Prager Universität (1882) in eine deutsch- und eine tschechischsprachige.151 Allerdings wurden in Cisleithanien trotz tschechischer, slowenischer, ruthenischer und italienischer Anstrengungen keine weiteren ‚nationalen‘ Universitäten errichtet. Diese Nationalitäten mussten sich mit einzelnen Vorlesungen in ihrer jeweiligen Sprache abfinden: Für Slowenen gab es solche zwischen 1851 und 1854 und nach 1871 eine Zeit lang in Graz; für Italiener, wie erwähnt, in Innsbruck; für Böhmen und Mährer vor 1882 in Prag; für Ruthenen in Lemberg und für eben diese und Rumänen an der theologischen (griechischorthodoxen) Fakultät der Universität Czernowitz.152 Um 1900 verfügten allein die Deutschen, Polen und Tschechen über Universitäten. Zwar bekundeten Krone und Administration ihren Willen, Ansprüche anderer Nationalitäten auf eine Universität zu erfüllen; jedoch bewerteten die jeweiligen nationalen Oppositionen das geringfügigste Zugeständnis als Unterwanderung der herrschenden Machtstrukturen, welche mitunter auch gewaltsam verteidigt wurden.153 Darin manifestierte sich an den Universitäten nationales Selbstbewusstsein, sodass sie als seine Träger politisch-medial umkämpft blieben. In Zeitschriften wurde z.B. die „Unterwühlung“ der „ältesten Stätten deutscher Hochschulbildung“ (gemeint war Prag) durch den „czechischen Mob“ und die unzureichende Alimentierung der „deutschen Universitäten“ in Österreich bekämpft,154 und an den Universitäten selbst war auch in Österreich der Typus des ‚politischen Profes-
150 Vgl. HANISCH, URBANITSCH, Die Prägung der politischen Öffentlichkeit durch die politischen Strömungen, S. 69–72. 151 Vgl. Hans LEMBERG (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, und Harald BICHLMEIER, Zur sprachlichen Situation und der Sprachenpolitik der Habsburgermonarchie in den böhmischen Kronländern zwischen 1848 und 1914, in: Gun-Britt KOHLER, Rainer GRÜBEL, Hans Henning HAHN (Hg.), Habsburg und die Slavia, Frankfurt am Main [u.a.] 2008, S. 117–148, hier S. 138f. 152 Vgl. Helmut SLAPNICKA, Die Rechtsstellung der Universitäten im alten Österreich von den Reformen Leo Thuns bis zum Ende der Monarchie, in: Peter WÖRSTER, Dorothee M. GOEZE (Mitarb.) (Hg.), Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Zwischen Kirche, Staat und Nation – Sozialgeschichte und politische Entwicklungen, München 2008, S. 195–207, hier S. 206. 153 Vgl. Hannelore BURGER, Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im Österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, Wien 1995 (Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 26), S. 182–188. 154 Ludo Moritz HARTMANN, Der Niedergang der deutsch-österreichischen Universitäten, in: Die Nation 19, 43(1902), hier S. 678.
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sors‘, der den Katheder zur Verkündigung nationalpolitischer Ansichten zweckentfremdete, zugegen.155 Insbesondere für die ‚Kulturwissenschaften‘ stellte das Handlungsfeld zwischen den Vorstellungen einer dynastisch-‚bewahrenden‘ Staatsnation und einer ‚emanzipativen‘ Kulturnation eine ständige Herausforderung dar. Da sich in dem Zauberwort der kulturellen ‚Wurzeln‘ das Anrecht manifestierte, einer bestimmten Kultur- oder Sprachnation anzugehören,156 war es naheliegend, dass sich nationale Identitätsstiftungsprozesse zunehmend auch auf dem Schauplatz der Wissenschaft abspielten. In der Tat verwendeten sowohl ‚Staats‘- als auch ‚Sprachnationale‘ die Kultur als ein Vehikel, um ihr jeweiliges Ziel zu erreichen: Während die namhaftesten Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler die Völker-, Landschafts- und Kulturenvielfalt Österreich-Ungarns im vierundzwanzigbändigen ‚Kronprinzenwerk‘157 „in Wort und Bild“ porträtierten, um dem Ideal der Staatsnation zum Vorrecht zu verhelfen, führten die Verfechter der Sprachnation „Culturverschiedenheiten“ als Vehikel nationaler Identitätsfindung ins Treffen. Sprach František (Franz) Palacký (1798–1876) im Jahr 1866 noch von „natürlichen Unterschieden“,158 die den verschiedenen Nationalitäten zunehmend bewusst geworden wären, so zeigten Historiker zuletzt, dass vielmehr „harte Arbeit“ investiert worden war, um eine verbindende ‚Kultur als Kommunikationsraum‘ aufzuspalten und die verschiedenen sozialen Schichten und Konfessionen Österreichs sprachnational voneinander abzugrenzen.159 Der weitere Verlauf der Geschichte zeigte, dass Vertreter der jungen, professionalisierten Wissenschaft diese Abgrenzungsaufgabe mit besonderem Ehrgeiz erfüllten und sich als Erwecker eines nationalen Selbstgefühls profilierten. Das Werk des deutschen Kunsthistorikers Georg Dehio (1850– 1932), auf das weiter unten Bezug genommen wird, legt z.B. beredt Zeugnis
155 Vgl. u.a. Robert LUFT, ,Politische Professoren‘ in Böhmen 1861–1914, in: Hans LEMBERG [u.a.] (Hg.), Bildungsgeschichte, Bevölkerungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte in den Böhmischen Ländern und in Europa. Festschrift für Jan Havránek zum 60. Geburtstag, Wien 1988 (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 14), S. 286–306. 156 Vgl. Ernest GELLNER, Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999, S. 125 [Original: DERS., Nationalism, London 1997]. 157 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Auf Anregung und unter Mitwirkung Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf. 24 Bände (deutsch und ungarisch), Wien 1886–1902. 158 PALACKÝ, Oesterreichs Staatsidee, S. 13. 159 Vgl. Pieter M. JUDSON, Constructing Nationalities in East Central Europe. Introduction, in: DERS., Marsha L. ROZENBLIT (Hg.), Constructing Nationalities in East Central Europe, New York–Oxford 2005 (Austrian and Habsburg Studies 6), S. 1–18. DERS., Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Imperial Austria, Cambridge, Mass.–London 2006. Nancy M. WINGFIELD (ed.), Creating the ‚Other‘. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York–Oxford 2003 (Austrian and Habsburg Studies 5).
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davon ab,160 dass sich die moderne ‚Kulturwissenschaft‘ tief in das politische Vorhaben des ‚nation-building‘ verstrickte: insbesondere die Historiografie, die als politische, Sozial- und Klassengeschichtsschreibung nationale Meistererzählungen schuf,161 die Staatsrechtswissenschaften und nicht zuletzt auch die Kunst- und Sprachwissenschaften. In der vielsprachigen Habsburgermonarchie stellte nicht zufällig die Sprache einen symbolischen Marker dar, der sich vortrefflich für nationale Abgrenzungen zur Identitätsstiftung verwenden ließ.162 In der Tat entdeckte jeder „Volksstamm“ in der Sprache das Symbol, das seinem Anrecht auf „vollkommene Gleichheit“ (František (Franz) Palacký) und – so sei hinzugefügt – auf Verschiedenheit Ausdruck zu verleihen vermochte. In einem von Vielfalt und kulturellen Differenzen geprägten Reich sollte die dem ‚nation-building‘ des 19. Jahrhunderts immanente Identitätslogik von Inklusion und Exklusion jedoch destruktiv wirken. Das „Nationalitätenprincip“, das für uns rückblickend ein Vorzeichen eines katastrophalen Geschichtsverlaufs darstellt, hatte für Palacký noch den Sinn des Weltlaufs erfüllt: „Je mehr sich das Verwandte anzieht, desto mehr wird das Fremdartige abgestoßen“.163 Das Konfrontiertsein mit der Suche nach nationaler Einheit, so genannten Authentisierungsprozessen,164 sowie das Vorliegen inhomogenerer Aspekte (wie z.B. Vielsprachigkeit, kulturelle Vielfalt und Heterogenität in der Verfassungsstruktur der Königreiche und Länder) konnte in Teilen der ‚Kul-
160 Georg DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst. Band 2, Berlin–Leipzig 21923, S. 3. 161 Vgl. Stefan BERGER, Narrating the Nation. Die Macht der Vergangenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1–2 (2008), S. 7–13. DERS. (ed.), Writing the Nation. A Global Perspective, Basingstoke [u.a.] 2007. DERS. [u.a.] (ed.), Narrating the Nation. Representations in History, Media, and the Arts, Oxford 2008. 162 Vgl. Holm SUNDHAUSSEN, Neue Untersuchungen zum destruktiven Potential von Sprache und zur Überlebensfähigkeit multilingualer Staaten, in: Berliner Osteuropa-Info 17 (2001), S. 7–9. 163 PALACKÝ, Oesterreichs Staatsidee, S. 13. 164 Der Authentizitätsbegriff wird in diesem Buch nicht im Sinne von Authentifizierung, d.h. als Überprüfung bzw. Verifikation der Identität von Individuen oder Objekten verstanden, sondern vielmehr in dem von Authentisierung verwendet. Dieser Begriff bezeichnet Vorgänge, Verfahren und Modi der Selbstbeglaubigung einer Identität, die sich Kollektive zuschreiben. In solchen Authentisierungsvorgängen wird durch Abgrenzung vom Anderen und über Komplexitätsreduktionen, Klassifikationen und Abwertungen ein ‚Ich‘ bzw. ‚Wir‘ konstituiert. Als ein Weg der „self-authentication“ ist der Versuch zu werten, die in Mischungen erhaltenen substanziellen und angeblich ‚reinen‘ Teile (Ursprung, Wurzeln usw.) herauszufiltern, die ein Kollektiv für sich aufgreift, um daraus seine quasi ‚natürliche‘ Herrschaft über andere abzuleiten. An der Aufdeckung der Mechanismen sozialer Authentisierungsprozesse hat vor allem die postkoloniale Theorie großen Anteil. Vgl. u.a. Anil BHATTI, Heterogeneities and Homogeneities. On Culture and Diversity, in: Johannes FEICHTINGER, Gary B. COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, New York–Oxford 2011 (Austrian Studies) [in redaktioneller Bearbeitung].
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turwissenschaft‘ aber auch den wissenschaftlichen Horizont erweitern: So war in Wien, das von jeher ein Schauplatz der Vielsprachigkeit gewesen war, schon Anfang des 19. Jahrhunderts eine multilinguale Zeitschrift veröffentlicht worden: die Fundgruben des Orients (6 Bände, 1809–1818). Dieselbe Idee sei auch mit den Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften verwirklicht worden, erinnerte Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774–1856) in seinem „Vortrag über die Vielsprachigkeit“ (1852), „in welchen ungrische [!], slawische Abhandlungen neben deutschen, italienischen oder lateinischen stehen sollen“, damit die Mitglieder der Akademie „ausser ihrer Muttersprache und der lateinischen noch die ihrer, im Kaiserthume und in der Akademie verbündeten Mitarbeiter“ erlernten.165 Diese verbindende Idee manifestierte sich auch in dem ehrgeizigen Projekt der weltweit ersten Zeitschrift für vergleichende Literatur- und Sprachwissenschaft. Mit den in Klausenburg zwischen 1877 und 1888 verlegten Acta Comparationis Litterarum Universarum, deren Titel in elf Sprachen ausgewiesen und deren Artikel in mehr als 20 Sprachen verfasst waren, ergriff der Herausgeber Hugo Meltzl de Lomnitz (1846–1908) die Chance, die kulturelle Vielfalt nicht sozial-konstruktiv, sondern rational-reflexiv zu verwerten. In diesem Sinne trat Meltzl schon im ersten Jahrgang unter Verweis auf Goethes Begriff der „Weltliteratur“ für die „ausgibige Bearbeitung“ der vergleichenden Fächer ein: „Dass unsere moderne Litteraturgeschichte […] nur eine ancilla historiae politicae, oder gar ancilla nationis“ sei, wüsste „jeder vorurteilsfreie Mann der Wissenschaft“. Dadurch wäre sie „ungeniessbar; mithin für wirklich wissenschaftliche (also weder politisierende, noch philologisierende etc. Zwecke) ganz unbrauchbar.“166 1.2.3 Wissenschaftswandel – Objektivistische und subjektivistische Orientierungen In Anbetracht der hier skizzierten Nationalisierungsproblematik ergaben sich – wie schon erwähnt – für eine sich involvierende Wissenschaft im Wesentlichen zwei alternative Anknüpfungspunkte politischer Verflechtung: einerseits das staatsnationale bzw. gesamtstaatliche-bewahrende und anderseits das kulturnational-emanzipative Prinzip. Jedes dieser beiden Prinzipien korrelierte tendenziell mit einer spezifischen wissenschaftstheoretischen Orientierung. Die eine kann der Tendenz nach vereinfacht als ‚objektivistisch‘, die andere als ‚subjektivistisch‘ bezeichnet werden.167 Der Zweiteren
165 Joseph Freiherr von HAMMER-PURGSTALL, Vortrag über die Vielsprachigkeit. Festvortrag zur feierlichen Eröffnungssitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien 1852, S. 87–100. 166 [Hugo] MELTZL, Vorläufige Aufgaben der vergleichenden Litteratur, in: Összehasonlító Irodalomtörténelmi Lapok – Zeitschrift für vergleichende Litteratur [!] 1 (1877), S. 179–182 hier S. 180. 167 Vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß. Band 2, Stuttgart–Weimar 2004, S. 1054f., bzw. Band 4, S. 128–131.
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zufolge wird dem empirischen Subjekt eine zentrale Erkenntnisrolle zugewiesen, was bedeutet, dass die Subjekte in verschiedener oder in gleicher Weise Wahrheiten erkennen können. Im subjektbezogenen Modus sind raum-zeitliche Kontexte in der wissenschaftlichen Analyse maßgebend. Der Objektivismus als zweite Tendenz manifestiert sich in der Überzeugung, dass Wahrheiten objektiv, d.h. vom erkennenden Subjekt unabhängig vorliegen können. Aus objektbezogener Perspektive werden vornehmlich innere Verhältnisse des Gegenstandes durch formal-klassifikatorische Analysen bestimmt; von kontextverhaften Zugriffen wird weitgehend abgesehen. In der vorliegenden Arbeit repräsentieren die Begriffe Subjektivismus und Objektivismus zwei Ausprägungen einer sich am Spektrum nationaler Politik orientierenden und sich mit ihr verflechtenden Wissenschaft. In Deutschland hatten die ‚subjektivistischen Idealisten‘ im Zeitalter der Befreiungskriege das von Immanuel Kant noch autonom aufgefasste philosophische Subjekt – das ‚Ich‘ – zu einem ‚Wir‘ hypostasiert, welches für die Ausformulierung der deutschen Konzeption von Volk, Nation und Staat konstitutiv wurde.168 Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) zufolge verfügte jedes Volk über eine „Eigentümlichkeit“, durch die ihm „weit hinaus über den Staat“ Bedeutung zukommt.169 Diese „Volkseigentümlichkeit“, die sich in der Verbindung der „Menge zu einem natürlichen […] Ganzen“ manifestiert, ist für ihn das „Ewige“, in dem sich der „Nationalcharakter“ zeigt. Diesen vermisste die „Ausländerei“, sodass eine Nation „kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen“ wollen könne. Jede „Einmischung und Verderbung durch irgendein Fremdes“ musste Fichte zufolge verhindert werden. Die „Ausbildung zum Menschen“ verdankte sich sonach jenen Völkern, die ihre „Eigentümlichkeit beibehalten und dieselbe geehrt wissen wollen“, diese aber auch anderen zugestehen würden, vorausgesetzt, dass jedes „sich selbst gleich bleibt“. Als das zentrale Merkmal der „Volkseigentümlichkeit“ verzeichnete Fichte die ewige Verwendung einer Sprache, der Nationalsprache. Den Staat fasste er als nichts „für sich selbst Seiendes“ auf, sondern als ein Vehikel für den „höheren Zweck“ der Ausbildung eines nationalen ‚Wir-Gefühls‘.170 Der „natürlichste Staat“ wäre sonach, wie es Johann Gottfried Herder (1744–1803) formulierte, „Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter“. Abzulehnen sei „die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Eine[m] Szepter“.171 Die Hypostasierung des ‚Ichs‘ zum nationalen ‚Wir‘ (bzw. eines NichtIch zum Anderen) konnte der künftigen Staatswerdung Deutschlands mäch-
168 Vgl. Stefan REISS, Fichtes ‚Reden an die deutsche Nation‘ oder: Vom Ich zum Wir, Berlin 2006, S. 10–21, S. 103–142. 169 Johann Gottlieb FICHTE, Reden an die deutsche Nation, hg. von Alexander Aichele, Hamburg 2008 (Original 1808), S. 134. 170 Ebenda, S. 62, S. 131f., S. 211, S. 132, S. 223, S. 141. 171 Johann Gottfried HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt am Main 1989 (Werke 6) (Original 1784–1791), S. 369f.
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tigen Auftrieb geben. Auf ein vielsprachiges Reich wie jenes der Habsburger musste dieser ‚subjektivistisch‘-sprachnationale Aufbruch aber desintegrativ wirken. Daher stieß das nationale ‚Wir‘ solcher Art in diesem „Aggregat von vielen Staatsorganisationen“, das Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) despektierlich als „eine politische Macht für sich“ bezeichnete, die für ihn hinter dem „zivilisierten Europa“ weit zurückstand,172 zwangsläufig auf Ablehnung; allerdings nicht nur. Während in Habsburg-Österreich die ‚Staatsnationalen‘ die Vorstellung einer zum ‚Wir‘ überhöhten ‚Ich‘-Figur in einer Zeit, in der in Europa das Schlagwort des ‚Nationalgefühls‘ intellektuell und politisch eine Konjunktur erlebte, vehement zurückwiesen, versprachen sich kulturnationale Aktivisten von der ‚subjektivistischen‘ Auffassung des ‚Wir‘ Auftrieb für ihre jeweilige Sprachnation. Allerdings entdeckten beide Seiten – die Verteidiger des Zentral- und Gesamtstaats wie auch die Wortführer der ‚erwachenden‘ Nationalitäten – in der Wissenschaft ein Mittel, das sie in der Verfolgung ihrer diametral unterschiedlichen Ziele unterstützen konnte. Die Intention einer Wissenschaft, die sich mit der Politik verbündete, war jedenfalls dieselbe, nämlich: sich und ihren Disziplinen am Steigbügel des Nationalen neue Ressourcen zu verschaffen. Trifft diese Annahme zu, so lässt sich der Wissenschaftswandel für Österreich historisch im Sinne der These von Ash als eine nicht linear verlaufende Schwerpunktverschiebung in den Verschränkungen von Wissenschaft und Politik rekonstruieren. Die Schnittstellen bildeten dabei objektivistische und subjektivistische Orientierungen. Der Wandel solchen Ineinandergreifens zeigt sich insbesondere in den ‚Kultur‘und Geisteswissenschaften, die sowohl für das eine als auch für das andere politische Narrativ nutzbar waren. Im Zuge der von Thun unter verwaltungszentralistisch-autoritärem Vorzeichen vollzogenen Universitätsreform war der Objektivismus zur richtungsweisenden Wissenschaftshaltung erklärt worden. In Anbetracht der Revolutionserfahrungen meinte man, der Wissenschaft mit seiner Hilfe den kognitiven Untergrund für ein aufrührerisch-desintegratives Handeln entziehen zu können. Zu Vertretern der neu begründeten universitären Zweigdisziplinen wurden vornehmlich Gelehrte berufen, von denen man sich Hilfe in der Verwirklichung dieses ‚manifesten‘ staatsnational-integrativen Ziels versprach. Aus verlaufsorientierter Perspektive zeigt sich allerdings, dass die objektivistische Auffassung unter veränderten, d.h. wieder liberaleren Verhältnissen in wissenschaftlicher Hinsicht nicht mehr überzeugte, als theoretische Tradition allerdings im Wissenschaftsfeld latent weiterwirkte. Im Folgenden soll das Wissenschaftshandeln im Spannungsfeld zwischen Objektivismus und Subjektivismus kurz anhand zweier Beispiele illustriert werden. Mit der Institutionalisierung der Slawistik an der Universität Wien im Jahr 1849 war ein eminent politischer Zweck verknüpft: Da die relative Mehrheit in Cisleithanien slawisch sprach, konnte dieses Fach sowohl für
172 HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 536.
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den in den 1850er-Jahren autoritär geführten Zentralstaat als auch für die kulturnationale Selbstvergewisserung der slawischen „Volksstämme“ eine Ressource darstellen. Aufgrund dieser Vorzeichen überrascht es nicht, dass in Wien, wo zwei slawistische Lehrstühle errichtet wurden, vornehmlich sprachliche Tiefenstrukturen analysiert und Sprachen klassifiziert wurden, während in Deutschland, England oder Frankreich den slawischen ‚Literaturen‘ schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts großer Stellenwert eingeräumt wurde.173 Dass in Wien Sprachstrukturen untersucht, slawische ‚Literaturen‘, Sagen und Mythen aber tendenziell vernachlässigt wurden, ist ein Indiz dafür, dass sich hier die Slawistik weitgehend das Verbot auferlegte, die Tiefen der slawischen ‚Volksseele‘ zu erkunden: Auf die Lehrstühle waren der Sprachforscher Franc Miklošič (1813–1891) und der „bewährt staatstreue“ slawische Altertumskundler Ján Kollár (1793–1852) berufen worden.174 Mit dem Ableben Kollárs wurde der Lehrstuhl für Slawische Archäologie wieder eingezogen. Miklošič, der seine Stellung wohl seiner „besonnenen Haltung“ als slowenischer Abgeordneter in Kremsier verdankte, die den Innen- und Unterrichtsminister Franz Graf von Stadion (1806–1853) beeindruckt hatte, sollte die Wiener Slawistik mehr als drei Jahrzehnte lang prägen.175 Ihre Anfänge waren von einer ‚objektivistischen‘ Selbstbegrenzung auf formal-klassifikatorische Sprachanalysen unter weitgehender Absehung von kontextbezogenen Zugriffen gekennzeichnet. Diese Ausrichtung kann einerseits als Strategie aufgefasst werden, sich als Wissenschaft einer zu tiefen Involvierung in nationale Selbstvergewisserungsmanöver zu enthalten, anderseits verweist die tendenzielle Vernachlässigung der slawischen ‚Literaturen‘ aber auch auf eine intendierte Ausrichtung dieser Disziplin als Herrschaftsinstrument. So ist es bemerkenswert, dass die Slawistik den staatlichen Auftrag der Klassifizierung slawischer Sprachen erfüllte. Die Zentralverwaltung sah in ihr offenbar ein Mittel zur Vergrößerung ihrer Verfügungsgewalt über die Slawen. Schon im Juli 1849 richtete der neue Innenminister Alexander von Bach (1813–1893) eine Kommission von Gelehrten zur Schaffung einer juridisch-politischen Terminologie der slawi-
173 Vgl. Heinz MIKLAS, Zur Rolle der Wiener akademischen Institutionen in der Geschichte der Slawistik des 19. Jahrhunderts, in: Antonia BERNARD (ed.), Histoire de la Slavistique. Le rôle des Institutions, Paris 2003, S. 17–43, hier S. 34. Josef HAMM, Günther WYTRZENS, Beiträge zur Geschichte der Slawistik in nichtslawischen Ländern, Wien 1985 (Schriften der Balkankommission. Linguistische Abteilung XXX. Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse). Stanislaus HAFNER, Die Wiener Slawistik in der europäischen Wissenschaftsgeschichte, in: Wiener Slawistisches Jahrbuch 45 (1999), S. 41–51. 174 Günther WYTRZENS, Ján Kollár, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1850–1950 (ÖBL). Band 4, Wien, 1969, S. 85. 175 Anton SLODNJAK, Miklosich Franz von, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1850–1950 (ÖBL). Band 6, Wien 1975, S. 281f., und Günther WYTRZENS, Ján Kollár, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1850– 1950 (ÖBL). Band 4, Wien 1969, S. 85.
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schen Sprachen ein, mit deren Vorsitz der Slawist und Schriftsteller Pavel Josef Šafařík (1795–1861) betraut wurde.176 Trotz dieser ‚objektivistischen‘ Ausrichtung glich der Verlauf der Etablierung der Slawistik in Österreich als Wissenschaft allerdings einer Gratwanderung zwischen der Stützung der Staatsnation und jener Bewegung, die Argumente für die sprachnationale Identitätsstiftung suchte und lieferte. Zwar darf die „fachwissenschaftliche Aufbauarbeit“ in der Slawistik nicht unterbewertet werden, zweifelsohne stand die Modernisierung der slawischen Sprachen insbesondere in Österreich aber auch mit den nationalen Aufbauprojekten in Verbindung. So wurde gezeigt, dass die „wissenschaftliche Konsolidierung“ der Slawistik in diesem Raum einen Beitrag „für das Erkennen und für den Aufbau der slawischen Nationalkulturen“ lieferte.177 Davon zeugt u.a. die „historisch-archäologische Orientierung“ der Prager Slawistik.178 Im Zeichen der „Charakterisierung des Nationalgeistes“179 sollten sich auch andere Disziplinen wie z.B. die Germanistik und die Geschichtswissenschaft selbst aufwerten. Hingefügt sei, dass die deutsch- und tschechisch-nationalen Historiografien, die politische Ansprüche ihrer jeweiligen Nationalitäten untermauerten, in Prag allerdings auch auf eine dynastisch-patriotische Variante stießen,180 und dass sich in Wien selbst Na-
176 Vgl. FISCHEL, Nationalitäten, S. 686. 177 Vgl. Stanislaus HAFNER, Der Beitrag der Österreichischen Slawistik für das Erkennen und für den Aufbau der slawischen Nationalkulturen, in: Die Slawischen Sprachen 55 (1997), S. 7–18, hier S. 10, und die Arbeiten von Otto KRONSTEINER, u.a.: DERS., Sprachgeschichte, politische Geschichte und ihre Ideologien, in: Die Slawischen Sprachen 56 (1998), S. 5–15. In Österreich war schon im Vormärz von einer in der Romantik verwurzelten Slawistik nationale Aufbauarbeit verrichtet worden. Vgl. PALACKÝ, Oesterreichs Staatsidee, S. 14. 178 MIKLAS, Zur Rolle der Wiener akademischen Institutionen in der Geschichte der Slawistik des 19. Jahrhunderts, S. 37. 179 August SAUER, Literaturgeschichte und Volkskunde, Prag 1907, S. 15–17. Vgl. Jürgen FOHRMANN, Wilhelm VOSSKAMP (Hg.), Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991. 180 Vgl. Walter HÖFLECHNER, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen auf Forschungsorientierung und Wissenschaftsorganisation, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 149–214, hier S. 168–171. Weiters vgl. Jiří ŠTAIF, The Image of the Other in the Nineteenth Century. Historical Scholarship in the Bohemian Lands, in: WINGFIELD (ed.), Creating the ‚Other‘, S. 81–102. Zur Auseinandersetzung zwischen Vertretern der quellenkritischen Historikerschule Jaroslav Golls (1846–1929) und Anhängern der „nationalen Integrations- und Emanzipationsideologie“ Tomáš Garrigue Masaryks (1850–1937) unter den Historikern um 1900 vgl. Peter DEUTSCHMANN, Der Streit um den Sinn der tschechischen Geschichte und seine Implikationen, in: DERS., Olga PAVLENKO, Volker A. MUNZ (Hg.), Konfliktszenarien um 1900: politisch – sozial – kulturell. Multiethnische Staatsgebilde im Vergleich. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie und das russische Zarenreich um 1900, Wien 2010 [im Erscheinen].
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turwissenschaftler wie z.B. Geografen, Geologen und Meteorologen Verdienste um die Stärkung der staatsnationalen Identität erwarben.181 In den 1850er-Jahren konsolidierte sich die Wiener Slawistik im Spannungsfeld zwischen Staatsverbundenheit und vornehmer nationaler Zurückhaltung. Unter staatlicher Schirmherrschaft etablierte sich in Österreich aber auch die Philosophie als ‚moderne‘ Wissenschaftsdisziplin. Vorhandene objektivistische Ansätze wurden verstärkt. Der politische Auftrag, der dieser neuen Disziplin unter absolutistischen Verhältnissen auferlegt wurde, ist unübersehbar. Trotz der Wandlungen, die sich in den nächsten Jahrzehnten abzeichneten, wirkte die objektivistische Tendenz im philologisch-philosophischen Bereich der Wissenschaft weiter. Der österreichische Philosoph und Mathematiker Karl Siegel (1872–1943) bezeichnete den „Objektivismus“ nicht zuletzt deshalb noch im Jahr 1935 als das „Hauptcharakteristikum der ‚österreichischen‘ Philosophie in ihrer Gesamtentwicklung“.182 Der Objektivismus hatte zwei Väter, nämlich den Prager Logiker Bernard Bolzano (1781–1848) und den deutschen Philosophen Johann Friedrich Herbart (1776–1841). Beide wiesen die idealistische Überhöhung des Subjekts zurück. Während sich Bolzano in seinem System auf Vernunftwahrheiten berief, die er als objektive Tatsachen auffasste, welche keiner Letztbegründung durch das raum-zeitliche Subjekt bedurften, hatte Herbart Wege der Vermittlung des erkennenden Subjekts mit dem zu erkennenden Objekt verfolgt. Was beide Systeme aber für die österreichische Politik verwertbar machte, bestand darin, dass sie sich in der Abgrenzung und Zurückweisung von Johann Gottlieb Fichtes überzogenem Subjektivismus – seiner „Metaphysik des welterschaffenden Ich“183 – trafen. Bolzanos „Herzensjunge“, der spätere Herbartianer Robert Zimmermann (1824–1898), vereinte diese Ansätze, um sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine in Universität und Schule verbreitete ‚Staatsphilosophie‘ zu etablieren. Das in ihr manifeste objektivistische Begriffssystem sollte die Stabilität einer ‚objektiven Staatsnation‘ erhöhen und staatsgefährdende Zentrifugalkräfte ableiten. Zu diesem Zweck erwiderte Zimmermanns System die national-
181 Vgl. Jan SURMAN, Imperial Knowledge? Die Wissenschaften in der späten Habsburger-Monarchie zwischen Kolonialismus, Nationalismus und Imperialismus, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9, 2(2009) [Themenheft: Wissenschaft und Kolonialismus, hg. von Marianne Klemun], S. 119–133, hier S. 125–130. 182 Karl SIEGEL, Philosophie, in: Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgenossen, hg. von Eduard Castle. Dritter Band: 1848–1890, Wien 1935 (Deutsch-österreichische Literaturgeschichte 3), S. 17–48, hier S. 48. 183 Heinrich SCHOLZ, Die Wissenschaftslehre Bolzanos. Eine JahrhundertBetrachtung (1937), in: DERS., Mathesis universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft, hg. von Hans Hermes, Friedrich Kambartel, Joachim Ritter, Basel–Stuttgart 1961, S. 219–267, hier S. 224.
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partikularen, subjektivistisch-relativistischen Herausforderungen mit Universalismus, Formalismus und Wertabsolutismus. Diese das Subjekt unterbewertende, mit demokratischen Zukunftsvisionen unvereinbare und in ‚metaphysische Scheinprobleme‘ verstrickte Systemphilosophie verlor allerdings mit dem anbrechenden Verfassungszeitalter, in dem die Wissenschaft die Ankunft des ‚modernen‘ Positivismus erlebte,184 jede Anziehung. Durch die Aufnahme positivistischer Denkfiguren vornehmlich britischer Herkunft (John Stuart Mill) wurde das erkennende Subjekt aufgewertet und eine strikt objektivistisch verfahrende Wissenschaft zusehends als anachronistisch eingestuft. Mit dieser Aufwertung des erkennenden Subjekts avancierten ‚Erfahrung‘ und ‚Beobachtung‘ (Empirie) zu den entscheidenden Instanzen wissenschaftlicher Letztbegründung. Dieser neue ‚Subjektivismus‘ akzentuierte sich in zwei Spielarten: In der einen wurde das Universelle zugunsten partikularer Auffassungen, die sich in der Vorstellung einer Welt von nationalen Kulturen, Völkern und Klassen manifestierten, zurückgestuft. Unter ‚naiv-positivistischem‘ Vorzeichen wurde daher das partikulare ‚Wir‘ hypertroph überzeichnet. In diesem Modus konnte sich die Wissenschaft als Steigbügelhalter eines kulturnationalen Aktivismus bewähren.185 Hiervon ist aber in den Wissenschaften eine andere Spielart der Aufwertung des Subjekts abzugrenzen, die sich politischer Vereinnahmbarkeit tendenziell entzog. Diese Position im Wissenschaftsfeld wird hier als ‚reflexiv-positivistisch‘ bezeichnet. Mit ihr war zweierlei erreicht: Das Subjekt war als Referenzpunkt letzter wissenschaftlicher Begründung aufgewertet, als Steigbügel partikularer, d.h. nationaler Machtansprüche aber delegitimiert. Der ‚reflexiv-positivistische‘ Standpunkt, der hier weiterverfolgt werden soll, verdankte sich zwei Bezugspunkten: zum einen dem zur Jahrhundertmitte staatlich geförderten Objektivismus, zum anderen der Aufwertung des Subjekts in den Jahrzehnten danach. Beide Strömungen bildeten die Quelle einer neuen, im letzten Jahrhundertviertel akzentuiert auftauchenden Position, die daher auch als ‚subjektivistisch-objektivistisch‘ bezeichnet werden kann. Hervorzuheben ist, dass sich diese von den vorgängigen Orientierungen in einem entscheidenden Punkt unterschied: Die ‚subjektivistischen Objektivisten‘ – so können die Vorreiter dieser neuen Strömung genannt werden – entzogen sich jener politischen Handlangerrolle, in die eine Wissenschaft subjektivistischer (also ‚naiv-positivistischer‘) und objektivisti184 Vgl. Johannes FEICHTINGER, Positivismus und Machtpolitik. Ein wissenschaftliches Programm und dessen Transfer nach Österreich/Zentraleuropa. Zu einem Beispiel von Wissenstransfer, in: Helga MITTERBAUER, Katharina SCHERKE (Hg.), Entgrenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart, Wien 2005 (Studien zur Moderne 22), S. 297–319. 185 Der Wiener Völkerrechtler Alfred Verdross differenzierte zwischen einer „naiven“ und einer „kritischen“ Spielart des Rechtspositivismus. Letzterer rechnete er die Reine Rechtslehre zu. Vgl. Alfred VERDROSS, Völkerrecht. Fünfte, neubearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1964 (Rechts- und Staatswissenschaften 10), S. 18.
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scher Orientierung verfallen war. Zugleich wichen die ‚subjektivistischen Objektivisten‘ aber nicht auf die Seite jener ab, die sich in Anbetracht einer von zwei politischen Seiten belagerten Wissenschaft resignativ in den Elfenbeinturm, der absolute Autonomie zu versprechen schien, zurückzogen. Ihr Anliegen manifestierte sich augenfällig im theoretischen Anspruch, ein Wissenschaftshandeln, das im Zeichen der herrschenden Machtstrukturen stand, zurückzuweisen. Zur Vergrößerung der wissenschaftlichen Autonomie entwickelten sie neue Begriffssysteme, vermittels derer die Subjektivität wissenschaftlicher Erkenntnis objektivierbar gemacht werden sollte. Die ‚subjektivistisch-objektivistische‘ Ausrichtung markierte im Wesentlichen die Haltung jener Wiener „Generation der Jahrhundertwende“, die Jean François Lyotard (1924–1998) in seiner Schrift Das postmoderne Wissen (1979/1999) dafür würdigte, die theoretische Verantwortung der Delegitimierung so weit wie möglich ausgedehnt zu haben.186 Diese Jahrhundertwendegeneration bildete die Vorhut eines intellektuellen Segments, das in der vorliegenden Analyse in den Vordergrund gerückt und mit dem weiter oben ausgeführten Schlagwort ‚autonom-engagiert‘ bezeichnet wird. Diese Wissenschaftselite trat durch ein Handeln hervor, das vor realpolitischer Aktion bewusst zurückwich, jedoch eines nicht preisgab, nämlich den unumstößlichen Anspruch auf soziale bzw. politische Verantwortung. Diese neue Handlungsform wog umso schwerer, als sich mit dem Zerfall der Monarchie im Jahr 1918 auch die Wissenschaft mit der Aufgabe konfrontiert sah, Österreich als ‚deutschen‘ Nationalstaat neu zu erfinden. Als mit der Zerschlagung des Habsburgerreiches die übernationale Ursache für das Ausspielen der objektivistischen Karte verschwunden war, driftete das Wissenschaftsfeld zusehends in den ‚naiv-positivistischen‘ politischen Subjektivismus ab. In diesen Jahren ergriff ein Teil der österreichischen Wissenschaftler die Chance, durch politische Involvierung neue Ressourcen zu mobilisieren. Anerkannte Professoren wie z.B. Oswald Menghin (1888– 1973), Karl Gottfried Hugelmann (1879–1959) und Wilhelm Schmidt (1868–1954) entwickelten vermehrt ‚Theorien‘, deren Aufgabe es war, Österreich in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Politik als einen Staat mit deutschnationaler Identität neu zu begründen. Dabei wandten sie sich mit ihrem Wissenschaftshandeln gegen die jüdische Bevölkerung Österreichs, die nicht als Teil der ‚deutsch-katholischen Volksgemeinschaft‘ aufgefasst werden sollte. Das politisch beglaubigende Handeln dieser staatsoffiziellen Wissenschaftselite konnnte ihr den Weg in höchste akademische Ränge eröffnen und ebnen. Mochte sie selbst von der Autonomie ihres Handelns überzeugt
186 Vgl. Jean François LYOTARD, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 4 1999 (Edition Passagen 7), S. 121f [Original: DERS., La condition postmoderne, Paris 1979]. Einen sehr profunden Überblick über Ansätze eines „postmodernen Denkens über das Wissen“ in Österreich bietet Kristóf Nyíri. Vgl. DERS., Österreich und das Entstehen der Postmoderne, in: DERS., Vernetztes Wissen. Philosophie im Zeitalter des Internets, Wien 2004, S. 15–31.
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gewesen sein, so blieb dieser offensichtliche Einsatz wissenschaftlicher Ressourcen für politische Zwecke nicht unwidersprochen; und zwar von Wissenschaftlern, die solches Ansinnen mit gleicher Vehemenz zurückwiesen wie den illusionären Standpunkt, die Autonomie der Wissenschaft im ‚Elfenbeinturm‘ wahren zu können. Dieses ‚autonom-engagierte‘ intellektuelle Segment wählte – wie weiter oben erwähnt – eine dritte, wenn auch nicht mehrheitsfähige, so doch wegweisende Handlungsoption, die bewusst an jenen ‚subjektivistischen Objektivismus‘ anknüpfte, der sich Jahrzehnte davor konturiert hatte. Sich des Ineinandergreifens von Wissenschaft und Machtpolitik bewusst, verfolgten manche Wissenschaftler sonach den erwähnten ‚dritten Weg‘, auf dem sie das System wissenschaftlicher Spielregeln nicht verletzten, dennoch aber implizit politische Akzente setzten, um jene desintegrativ-destruktiven Prozesse auf dem Wege konstruktiver Theoriebildung zu unterbrechen. Sie intervenierten also nicht durch ein vermeintlich richtiges bzw. zweckmäßiges Wollen, sondern durch die Ausübung der spezifischen Funktion des Wissenschaftsfeldes – nämlich durch Erkennen und Begreifen: Die Wissenschaft sollte ihr Spiel spielen und nicht das der Politik. Zugleich erkannten diese relativ autonomen Akteure aber wohl, dass die Autonomie der Wissenschaften durch Verzicht auf ein aktives sozial und letztlich politisch verantwortungsvolles Handeln nicht zu verteidigen war. So reflektierte der Jurist Hans Kelsen, der genau auf dieser Trennung der Felder beharrte, im Jahr 1934 die mit dem Autonomisierungsprozess der Wissenschaften verknüpften Ambivalenzen: „Wenn die Naturwissenschaft ihre Unabhängigkeit von der Politik so gut wie durchzusetzen vermochte, so darum, weil an diesem Sieg ein noch gewaltigeres soziales Interesse bestand: das Interesse an dem Fortschritt der Technik, den nur eine freie Forschung garantieren kann.“187 Je mehr sich Kelsen, der als „Jurist des Jahrhunderts“ bezeichnet wird,188 der Ambivalenzen der Autonomisierung bewusst wurde, umso mehr erkannte er angesichts des Aufstiegs neuer diktatorischer Systeme, dass die Verteidigung der Autonomie der Wissenschaft nicht mehr zureichte. Mit ihr musste auch ein politisch verantwortungsvolles ‚autonom-engagiertes‘ Handeln verbunden sein, das Bertolt Brecht – wie erwähnt – von der Kunst forderte. Den Auftakt zu diesem ‚autonom-engagierten‘ Wissenschaftshandeln hatte Ernst Mach durch die Verkündung der ‚Unrettbarkeit des Ichs‘ als Substanz gegeben.189 Aus einer ‚reflexiv-positivistischen‘ Perspektive waren
187 Hans KELSEN, Reine Rechtslehre. Einleitung in die Rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig–Wien 1934, S. VII. 188 Horst DREIER, Hans Kelsen (1881–1973), ‚Jurist des Jahrhunderts‘?, in: Helmut HEINRICHS [u.a.] (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 705–732. 189 Vgl. Ernst MACH, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen. Mit einem Vorwort von Gereon Wolters, Darmstadt 1991, S. 20 [Original: DERS., Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886].
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bald Substanzbegriffe jedweder Art (Ich, Kraft, Seele, Staat usw.) ihrer außerwissenschaftlichen Machtzwecke überführt und verworfen worden: Ernst Mach (1838–1916) stellte das ‚Ich‘ als Essenz zur Disposition. Sigmund Freud (1856–1939) zerstörte die wirkmächtige Vorstellung eines autonomen Ich bzw. der Kollektivseele, Hans Kelsen (1881–1973) den vorherrschenden Begriff vom Staat. Sie verbanden diese Demolierungen aber mit konstruktiven wissenschaftlichen Vorschlägen. So wurden Substanzbegriffe wie z.B. das ‚Ich‘ und Ausformungen des ‚Wir‘, die in den Wissenschaften als generelle Prämissen weitgehend anerkannt waren, hinreichend relativiert, um sie in ihrer funktionsbezogenen Bedeutung neu kenntlich zu machen und als Teil neuer, objektivierbarer Beschreibungssysteme anzuerkennen. Mach, der Verfechter einer empirisch-positivistischen Wissenschaftsauffassung, erfand eine „Physik ohne Kraft“, Freud eine „Seelenlehre ohne Seele“ und Kelsen eine „Staatslehre ohne Staat“.190 Durch solche kognitiven Akzentsetzungen parierte eine Wissenschaft, die sich als reflexives Projekt verstand, die subjektivistischen Angriffe auf den Objektivismus, und sie erkundete neue Wege der Vermittlung.
1.3 M ATERIALIEN – D AS P RINZIP K ELSEN , DAS P RINZIP F REUD Im vorliegenden Buch wird dieser ‚dritten‘ Handlungsoption in den Wissenschaften näher nachgegangen: Die Problematik, die hier untersucht wird, zeigt sich deutlich im Werk eines Mediziners und ‚Psychologen‘ sowie eines Professors für Staatsrecht, genauer gesagt, in dem Oeuvre der Vertreter dieser beiden Wissenschaften, die Österreich hervorgebracht hat: Sigmund Freud und Hans Kelsen werden in das Zentrum dieser Abhandlung gerückt. In den kulturhistorischen Arbeiten zur Wiener Moderne wurde ihnen unterschiedliche Aufmerksamkeit geschenkt: Im Unterschied zum Werk Sigmund Freuds, Schlüsselfigur und Aushängeschild Wiens um 1900, stellt Hans Kelsens Schaffen noch immer einen vergleichsweise blinden Fleck in der Kulturgeschichte dar.191 Auch von politikwissenschaftlicher Seite wurde
190 Hans KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Tübingen 1922, S. 208. 191 In Österreich räumt Clemens Jabloner, der Geschäftsführer des Hans KelsenInstituts und Verwaltungsgerichtshofspräsident, in vielen seiner Arbeiten einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf Hans Kelsen großen Stellenwert ein. Vgl. DERS., Kelsen und die Wiener Moderne, in: Gertraud DIEM-WILLE, Ludwig NAGL, Friedrich STADLER (Hg.), Weltanschauungen des Wiener Fin de Siècle 1900/2000. Festgabe für Kurt Rudolf Fischer zum achtzigsten Geburtstag, Frankfurt am Main [u.a.] 2002, S. 61–77. Eine weitere bemerkenswerte Ausnahme stellt die jüngst erschienene Monografie der Wiener Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs dar. Vgl. DIES., Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat. Vorträge in der Wiener Volksbildung. Schriften zu Kritikfähigkeit und Rationalismus, Wien 2007 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-
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der Wiener Jurist lange Zeit unterschätzt,192 zuletzt aber als einer der maßgeblichsten, heute noch anschlussfähigen Demokratietheoretiker, der aus der EU-Verfassungsdebatte kaum noch wegzudenken ist, wiederentdeckt. Beide Autoren sind auf ihre Weise in der Erinnerung präsent, Freud auf der Alltags- bzw. psychoanalytischen und therapeutischen Ebene, Kelsen als Architekt der österreichischen Bundesverfassung. In diesem Buch werden ihre Werke in den Mittelpunkt gerückt, da deren analytisch-reflexive Zugänge zur Identitätsproblematik vor dem Hintergrund der konkreten Herausforderungen einer Kultur, an der das soziale Gefüge zu zerbrechen drohte, signifikant erscheinen. Die Staatsrechtslehre und die Individual- sowie SozioAnalyse bilden daher die zentralen Ausgangspunkte. Der eine, Kelsen, widmete sich der Problematik kollektiver Identität; der andere, Freud, wurde als einflussreichster Erforscher der Geheimnisse individueller Identitätsbildung berühmt, wobei seine Sozialpsychologie allerdings weitgehend unterschätzt wird. Beide grenzten sich scharf von den Verlockungen der Politik ab, jedoch nahmen sie die damit verbundenen Vorgänge als intellektuelle Herausforderung an. In der wissenschaftlichen Sichtung der Identitätsproblematik in Österreich wurden folgende Aspekte hervorgehoben: Wien wurde als ein Ort rekonstruiert, an dem das Ich als ‚Essenz‘ (Substanz) dekonstruiert worden war. Machs These vom ‚unrettbaren Ich‘ hatte um 1900 Konjunktur, und sie spiegelte sich noch in den Jahrzehnten danach in der Rede vom „Wertzerfall“193 (Hermann Broch) wider. In den mit dieser Ich-Dekonstruktion verknüpften „crises de l’identité“ sieht der Pariser Literaturwissenschaftler Jacques Le Rider das besondere Merkmal der Wiener Moderne.194 Auch in diesem Buch bildet der Umgang mit der „verletzten Identität“195 die zentrale Analysekategorie, die Perspektive wird aber auf die Wissenschaften verschoben und erweitert. Drei Umgangsformen mit der beschädigten Identität werden sichtbar: Während die einen das von Broch beschriebe-
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Instituts 29). Zuletzt erschien ein weiterer wichtiger Band, der zu einer ersten umfassenden – von Thomas Olechowski verfassten – Kelsenbiografie hinführen wird: Robert WALTER, Werner OGRIS, Thomas OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit. Ergebnisse einer Internationalen Tagung, veranstaltet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs und dem Hans Kelsen-Institut (19.–21. April 2009), Wien 2009 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32). Vgl. Johannes FEICHTINGER, Sabine MÜLLER, Kelsen im wissenschaftshistorischen Kontext. Das reine Recht und die ‚Freunde der Demokratie‘, in: Tamara EHS (Hg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, Stuttgart–Wien 2009, S. 209–235, hier S. 227–231. Vgl. Hermann BROCH, Der Zerfall der Werte. Diskurse, Exkurse und ein Epilog, in: DERS., Erkennen und Handeln. Essays. Band 2, hg. von Hannah Arendt, Zürich 1955, S. 5–43. Vgl. Jacques LE RIDER, Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, Wien 1990, S. 7f., S. 57, S. 60, S. 65 [Original: DERS., Modernité viennoise et crises de l’identité“, Paris 1990]. POLLAK, Wien 1900. Eine verletzte Identität, 1997.
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ne „Wert-Vakuum“196 durch neue „Surrogatkonzepte“197 auffüllten, kritisierten bzw. verurteilten andere die mit dem Ich-Verlust verknüpften Ersatzhandlungen. Hinzu kommt ein neues, drittes Segment, das sich weder mit einer Kritik des „Wertzerfalls“ noch mit letztlich destruktiven Wiederherstellungsversuchen des verletzten ‚Ich‘- bzw. ‚Wir‘-Gefühls zufrieden gab. Anstatt selbst identitätsstiftend tätig zu werden, versah es sich mit der Aufgabe, die Vorgänge der Hervorbringung von Identität – einer Art „selfauthentication“ – offenzulegen, um in reflexiver Begriffsarbeit neue theoretische Wege – oder vielmehr Auswege, d.h. Umgangsformen mit der „verletzten Identität“ – aufzuzeigen. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass Ernst Mach solch reflexiver ‚Identitätswissenschaft‘ zentrale Impulse gab: Der Wiener PhysikerPhilosoph erklärte – wie erwähnt – das Ich für unrettbar, unterbreitete aber auch einen Vorschlag, was an seiner statt sein soll. Sigmund Freud und Hans Kelsen führten diesen Gedanken weiter und zu Ende. Dass Freud die Psychoanalyse und Kelsen die Reine Rechtslehre entwickelte, wurde von Seiten der jeweiligen Disziplinen hinlänglich untersucht. Hier wird daher die Analyseperspektive verlagert und zu zeigen versucht, dass Teile der Wissenschaft zu einer Zeit, als diese weitgehend dem Zauber des ‚Monobzw. Multikulturalismus‘, genauer: eines ‚Ethnopluralismus‘ erlag, nicht in Denkvorgänge abdrifteten, die – wie der „methodologische Nationalismus“198 – Teil der destruktiven Dynamik nationaler Identitätsfindung waren. Sie entwickelten vielmehr wegweisende Techniken für ein Miteinanderauskommen im Zeichen eines ‚methodologischen Plurikulturalismus‘, der auch gegenwärtig Hilfestellung in der Bewältigung der Herausforderungen von kultureller Vielfalt verspricht. Daher ist es wohl kein Zufall, dass der ‚plurikulturelle‘ Zugriff des 21. Jahrhunderts in einer Tradition steht, die vor 1938 in Wien und anderswo in Zentraleuropa lebendig war. ‚Plurikulturalität‘ zielt darauf ab, einem wissenschaftlichen Kulturverständnis den Weg zu ebnen, das Identität und Differenz „posttraditional“199 begreift: Identitäten werden nicht verfestigt, Differenzen weder geleugnet noch überhöht, sondern anerkannt und sichtbar gemacht. Was der indische Kulturwissenschaftler und Doyen der Postcolonial Studies Anil Bhatti daher unter ‚Plurikulturalität‘ versteht,200 trifft sich in manchem mit dem, was der
196 Hermann BROCH, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, hg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 2001 (Original 1955), S. 34–45. 197 Gotthart WUNBERG, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal Jahrbuch 1 (1993), S. 309–350, hier S. 317. 198 Anthony D. SMITH, Nationalism in the Twentieth Century, Oxford 1979. 199 Jürgen HABERMAS, Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, in: DERS., Zeitdiagnosen. Zwölf Essays. 1980–2001, Frankfurt am Main 2003 (es 2439), S. 105–123. 200 Vgl. Anil BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, in: FEICHTINGER, PRUTSCH, CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial, S. 55–68, hier S. 58. DERS., Aspekte gesellschaftlicher Diversität und Homogenisierung im postkolonialen Kontext, in: Wolfgang MÜLLER-FUNK, Birgit WAGNER (Hg.), Ei-
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deutsche Medienwissenschaftler Uwe Sander als „Bindung der Unverbindlichkeit“ bezeichnet.201 Beide Konzepte zeigen konstruktive Techniken des Aushandelns kultureller Differenzen in der Vergangenheit und für die Gegenwart auf, ohne dass mit diesen das Handeln einem kohärenten Wertesystem kultureller Art unterworfen würde. Um miteinander auszukommen, seien wechselseitige Aneignungsprozesse in spezifischen Handlungszusammenhängen wichtiger als der schwierige Versuch, sich auf ein gemeinsames Verstehen der Welt zu einigen.202 In diesem Sinne entwarf auch Sander sein Konzept: Zielvorgabe sozialer Bindung kann daher kein normatives Modell des sozialen Miteinanders sein, das die Vielfalt der Werte in eine kohärente Ordnung zwängt und mit dem Ziel der „Gemeinschaftlichkeit“ soziale Bindung durch „inhaltlich definierte, kollektiv geteilte und lokal fixierte Normen“ zu erreichen versucht – eine Einheit, „die sich (anscheinend) sichtbar entäußert als sozialkulturelle Homogenität.“203 Dabei würden mit dem Akt der Vereinheitlichung zugleich Prozesse der Ausgrenzung des Unintegrierbaren angestoßen. Diese Erfahrung der ‚Plurikulturalität‘ haben Sigmund Freud und Hans Kelsen wohl als Herausforderung im Wissenschaftsfeld aufgefasst. Sie waren nur zwei jener hellsichtigen Wissenschaftler, die in den Jahrzehnten nach 1900 auf ihre jeweilige Art Identität neu bewerteten – nicht als substanzielle, sondern als funktionale Kategorie des Handelns. Ihr Werk lieferte daher in einem weiteren Feld kritisch-reflexiver Theoriebildung in Österreich exemplarische Markierungspunkte für ein konstruktiv konzeptuelles Wissenschaftshandeln, das der Eliminierung des ‚Fremden‘ entgegentrat. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht in der historischen Analyse und Würdigung jener herrschaftskritischen Theoriebildung, die nicht auf die Seite politischer Heteronomie abwich, deren akademische Vorhut die „crise d’ identité“ der Jahrzehnte um 1900 in Zentraleuropa mittels Vorschreibung essenzialistischer Kollektividentitäten zu überwinden suchte. Letztere sah ihre Aufgabe weniger in der Analyse der Aufspaltung quasinaturalisierter Identitäten als vielmehr in deren Beglaubigung. In diesem Sinne setzten sie substanzialistische Begriffskonstruktionen wie ‚Volksgemeinschaft‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Rasse‘ als soziale Organisationsprinzipien real. Damit leisteten sie aber einer unheilvollen Art der Selbstvergewisserung Vorschub, die – manifest oder latent – in Assimilations- und Dissimilationsdruck, Inklusionen und Exklusionen, in Antisemitismus und Demokratiefeindschaft mündete sowie letztlich der Katastrophe des Nationalsozia-
gene und andere Fremde. Postkoloniale Konflikte im europäischen Kontext, Wien 2005 (Kultur. Wissenschaften 8.4), S. 31–47, hier S. 41. DERS., On Culture and Diversity, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. 201 Uwe SANDER, Die Bindung der Unverbindlichkeit. Mediatisierte Kommunikation in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1998 (es 2042). 202 Vgl. BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 58. 203 SANDER, Die Bindung der Unverbindlichkeit, S. 10.
E INLEITUNG
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lismus den Boden bereitete. Was diesen Akteuren wert war, ohne Zögern, Zaudern und Zucken aufs Spiel zu setzen, verteidigte im Gegenzug ein kritisches und ‚reflexiv-positivistisches‘ Segment des Wissenschaftsfeldes vehement, nämlich die relative Autonomie der Wissenschaft. Diese Gruppe versteckte sich weder hinter dem Schutzschild einer absoluten Autonomie der Wissenschaften, noch übertrat sie die Schwelle der Wissenschaftlichkeit, um als heteronomer Sachwalter der Politik ‚organische‘ Zusammengehörigkeit zu stiften. In diesem Sinne ließen sich die Vertreter ‚autonomengagierter‘ Wissenschaft auch nicht auf das Argument nationaler bzw. ethnisch-kultureller ‚Wesensverschiedenheit‘ als Mittel rechtfertigender Erklärung ein. Sie konzentrierten sich vielmehr darauf, die Funktion solcher Vorstellungen für Vorgänge der Selbstauthentisierung bzw. soziokulturellen Spaltung offenzulegen. Im Hinblick darauf beließen sie es aber nicht bei Begriffskritik; als Wegbereiter reflexiver Selbstbestimmung entwickelten sie neue konfliktmindernde Beschreibungssysteme, so z.B. die Reine Rechtslehre und die Psychoanalyse. Zwei Wege führten Kelsen und Freud vom Standpunkt relativ autonomer Wissenschaftlichkeit zu diesem Ziel: ein institutionell-rechtstechnischer und ein ‚individualpsychologischer‘. Wird unter Demokratie ein Mittel der Konfliktschlichtung, Integration und Kompromissfindung verstanden, so sind beide Wege notwendigerweise aufeinander bezogen zu betrachten. Kelsen sah in der Demokratie eine Institution, die darauf orientiert war, jedem Staatsbürger, unabhängig davon, ob er zu einer Minderheit oder einer Mehrheit zählte, politische Repräsentanz zu sichern. Dafür konnten auch die Wissenschaften Sicherstellungen anbieten: Die Reine Rechtslehre sollte sich als eine Art Wächterinstanz bewähren, die undemokratische Machtakte im Staat, den Kelsen als juristisches Regelwerk definierte, offenlegte; die Psychoanalyse konnte sich als eine Handlungsinstanz begreifen, die dem Subjekt psychologische Wege zur Selbstverfügung aufzeigte. Sie bot ihm eine Hilfestellung zur Bewusstwerdung seiner Abhängigkeiten und zum Schutz vor Aggression und Unterwerfung. Dimensionen dieser Art, die beide Theorien aufweisen, sind heute weitgehend verdeckt. Sie sollen hier freigelegt und vor dem Hintergrund jener Kontexte, in denen solche Konzepte entwickelt wurden, rekonstruiert und neu erinnert werden. Was Freuds und Kelsens Theorien insbesondere kennzeichnet und sie für kulturhistorische Analysen auszeichnet, ist, dass sie prekäre kulturelle und soziale Prozesse der Zeit explizit mitreflektieren. Diese Aspekte in beider Werk wurden ebenso wie der interventionistische Impetus bislang nur wenig gewürdigt. Insbesondere avancierte Kelsens ideologie- und substanzkritische positivistische Theorie, die zuvorderst auf die ‚Verteidigung der Demokratie‘ hinauslief, nach 1945, einer Zeit der naturrechtlichen Renaissance, in der sich die Staatsrechtslehre im „christlichabendländischen Wertgefüge“ substanziell rückversicherte, zum „Sünden-
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bock für die nationalsozialistische Perversion des Rechts.“204 In Zeiten verstärkter kollektiver Differenzwahrnehmung und zunehmend komplexer werdender Identitätspraktiken sind beider Werke wieder von immenser Aktualität. Ihre reflexive Theoriebildung wird allerdings nicht nur aus historischer Perspektive hoch bewertet, sie verspricht auch ein konkretes Surplus für unsere Gegenwart: Wenn sich die ‚Geisteswissenschaften‘ (im weitesten Sinne) heute neu zu profilieren haben und ihr Umgang mit zentralen Herausforderungen unserer Zeit auf dem Prüfstand steht, so sind aus dieser Perspektive auch von solch legendären Köpfen, die vermeintlich ausreichend analysiert wurden, neue Aufschlüsse für das Globaleuropa des 21. Jahrhunderts zu erwarten. Vor diesem erweiterten Hintergrund werden in dem vorliegenden Buch Zusammenhänge offengelegt, die das von Wien um 1900 vorherrschende Bild als „kreatives Milieu“ oder als Ort der „Anarchie der Vorstadt“ in einen neuen Rahmen versetzen. Die Arbeit ist dem „Sozialen und Soziablen“ auf der Spur, von dem Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) als ein Kennzeichen Wiens um 1900 sprach. Die „Psychologie“, die er hervorkehrt, aber wohl auch die Staatsrechtswissenschaft (so sei hinzugefügt), sei nichts anderes „als die systematische Anwendung der sozialen Gaben“, nämlich „Gefühl für den anderen, Aufmerksamkeit auf seine zarteren Regungen und eine gewisse Fähigkeit zur Identifikation.“205 Wird in einer sich als Politik- und Kulturgeschichte begreifenden Wissenschaftsgeschichte das Spezifikum dieses „Wiener Forschungsherds“ analysiert, so stellen Freud, Kelsen und andere dankbare Ansatzpunkte zur angesprochenen Horizonterweiterung zu Wien um 1900 dar. In diesem Sinne verbindet das vorliegende Buch Ernst Mach nicht mit Klimt, Schönberg, Hofmannsthal,206 Schnitzler, Bahr oder anderen Jung-Wiener Autoren, aber auch nicht mit Adler, Bauer oder Herzl, sondern mit Freud und Kelsen bzw. Riegl, Wittgenstein, Neurath und anderen. Aus diesem Blickwinkel wird sichtbar, dass das Wien des Fin de Siècle, der „Kreuzungspunkt aller Völker und Kulturelemente“ der Monarchie, der verschiedene Sprachen, Gewohnheiten und Traditionen versammelte,207 nicht allein eine glänzende Metropole des ‚l’art pour l’art‘ – ein Ort der in Ästhetizismus schwelgenden Phäaken, Musik-, Literatur- und Kunstheroen – war, sondern auch ein Herd reflexiver Wissenschaft, die zur Nationalkultur eine kritische Distanz aufbaute und dabei die Konturen neuer politischer Herausforderungen schärfte. Dieser Zugang kann neues Licht auf das Bild vom schillernden Fin de Siècle werfen. 204 Matthias JESTAEDT, Oliver LEPSIUS, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie. Ausgewählt und herausgegeben von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Tübingen 2006, S. VII–XXIX, hier S. IX. 205 Hugo von HOFMANNSTHAL, Wiener Brief [II], in: DERS., Reden und Aufsätze II 1914–1924 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden), Frankfurt am Main 1979, S. 185–196, hier S. 195f. 206 Vgl. SCHORSKE, Wien – Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, S. 326. 207 Vgl. REDLICH, Das Österreichische Staats- und Reichsproblem, S. 50.
2. Begriffe und Konzepte
Der Blick auf die Wissenschaftsgeschichte wird in vorliegender Arbeit von zwei kulturwissenschaftlichen Konzepten geleitet: von einem differenztheoretisch gedachten, nichtterritorialen Zentraleuropabegriff einerseits, vom Konzept der ‚Plurikulturalität‘ anderseits. Der erste Begriff nimmt Anleihe an Moritz Csákys Verwendung, der ‚Zentraleuropa‘ als ein heuristisches Konzept definiert, das auf die politisch motivierte Begriffsverwendung von ‚Mitteleuropa‘ ebenso antwortet wie auf die epistemologische Einbettung dieses Verwendungszusammenhangs. Unter ‚Plurikulturalität‘ wird in Anlehnung an Anil Bhatti nicht – wie etwa im Projekt des Multikulturalismus – eine bestehende und/oder akzeptierte Diversität der Kulturen verstanden, sondern ein Modus – eine Praxis –, mit Vielfalt umzugehen. Diese Konzepte werden im Folgenden eingeführt, erläutert, mit anderen in- und exkludierenden, hierarchisierenden und klassifizierenden Konzeptionen der Identitätsstiftung (wie z.B. Nation, Ethnizität, Kultur) verglichen und als Ansatzpunkte einer Wissenschaftsgeschichte als Kultur- und Politikgeschichte für Zentraleuropa zugänglich gemacht.
2.1 Z ENTRAL -
VERSUS
M ITTELEUROPA
Dieses Buch handelt von den Wissenschaften in jenem Raum, der als Zentraleuropa bezeichnet wird. In Anlehnung an Moritz Csákys Verwendung des Begriffs bezeichnet Zentraleuropa ein der Braudelschen ‚Méditerranée‘ vergleichbares intellektuelles Konzept, das auf die hier vorhandene ‚Nationalitäten‘-, Sprachen- und Kulturenvielfalt reflexiv Bezug nimmt.1 Zentraleuro-
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Vgl. Moritz CSÁKY, Mitteleuropa/Zentraleuropa – ein komplexes kulturelles System, in: Heinz FASSMANN, Wolfgang MÜLLER-FUNK, Heidemarie UHL (Hg.), Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Göttingen 2009, S. 21–28, hier S. 23–25. DERS., Kultur, Kommunikation und Identität in der Moderne, in: Moderne. Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 1 (2005), S. 108–124, hier S. 110–112. Dazu in konstruktiver Auseinandersetzung Philipp THER, Vom Gegenstand zum Forschungsansatz. Zentraleuropa als kultureller Raum, in: Jo-
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pa wird daher als ein sozialer Raum definiert, der durch Interaktionszusammenhänge, durch die Verwendung analoger Symbole, Zeichen und Muster sowie durch Vorgänge der Abgrenzung voneinander gekennzeichnet ist. Der zentraleuropäische ‚Kommunikationsraum‘2, der von Zeit zu Zeit verengt oder erweitert wurde, ist weiters von so genannten „Pluralitäten“ (Moritz Csáky) bestimmt. Die jahrhundertelang vorherrschende „endogene Pluralität“ (Sprachverwendung, Religion, Verwaltungstraditionen) wurde durch die Aneignung deutscher, französischer, italienischer, spanischer, osmanischer kultureller Codes („exogene Pluralität“) vervollständigt.3 Der aktive Umgang mit dieser Vielfalt im Alltag, Handlungspraktiken – Aneignungs- und Abgrenzungsvorgänge – war in dem Raum, der als Zentraleuropa bezeichnet wird, ein zentraler identitätsprägender Faktor. Seit dem 19. Jahrhundert konzentrierten sich allerdings nationale Aktivisten verstärkt darauf, sich Zusammengehörigkeit (Identität) neu vorzustellen, nämlich über ein bestimmtes Sein, d.h. als essenzielle Kategorie, wie z.B. über ‚substanzielle Gleichartigkeit‘ in Sprache, Abstammung und Kultur. Um diese nationalen Zurichtungsvorgänge des pluralistisch verfassten Raumes zu verdeutlichen, bedarf es eines Zentraleuropabegriffs, der anders definiert wird, als dies Mitteleuropa ist. Mit ihm wird also zu lösen versucht, was Teil des hier erwähnten Problems ist, nämlich der Mitteleuropabegriff in seiner politischen Verwendung selbst. In seinem Buch Mitteleuropa (1915) warb der liberale wilhelminische Politiker Friedrich Naumann (1860–1919) für die deutsche ‚Mission‘, mit der „Völkerunordnung“ in der Mitte von Europa aufzuräumen:4 Es sei als „Kriegsziel“ im Auge zu behalten, durch den Zusammenschluss der „Zentralstaaten“ (Deutsches Reich und österreichisch-ungarische Monarchie) ein „mitteleuropäisches Wirtschaftsvolk“, ein „Volks- und Wirtschaftsgebiet“ und einen „Verteidigungsbund“ zu errichten.5 In seiner Argumentation konnte Naumann auf vorgängige Überlegungen zur Etablierung einer mitteleuropäischen Wirtschaftseinheit unter deutscher Hegemonie (Friedrich List) zurückgreifen. Unter diesen politischen Vorzeichen erlebte die Mitteleuropa-Idee während des Ersten Weltkriegs eine unheimliche Konjunktur,
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hannes FEICHTINGER [u.a.] (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck [u.a.] 2006 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 7), S. 55–63. Moritz CSÁKY, Culture as Space of Communication, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. Moritz CSÁKY, Pluralistische Gemeinschaften. Ihre Spannungen und Qualitäten am Beispiel Zentraleuropas, in: Eve BLAU, Monika PLATZER (Hg.), Mythos Großstadt. Architektur und Stadtbaukunst in Zentraleuropa 1890–1937, München–London–New York 1999, S. 44–56. Jacques LE RIDER, Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes. Essay, Wien 1994, S. 7–21. Friedrich NAUMANN, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 1–32.
B EGRIFFE UND K ONZEPTE
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bevor sie in den ‚Südosteuropa-Plänen‘ des Nationalsozialismus weiterwirkte.6 Auch in Österreich fanden ‚Mitteleuropa-Konzeptionen‘7 Verbreitung: Während der Wiener Geograf Hugo Hassinger (1877–1952) die Vormachtsansprüche der Mittelmächte mit „deutscher Kulturarbeit“ in dem „bestehenden“ und „werdenden, heranreifenden Mitteleuropa“, d.h. in den „unteren Donauländern“ (Serbien, Rumänien, Bulgarien) verwirklicht wissen wollte,8 verteidigte Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) Österreichs Sendung als Ordnungsmacht und Verbindungsstück in Mitteleuropa: „Österreich ist gegen Osten und Süden ein gebendes, gegen Westen und Norden ein empfangendes Land“.9 Der Industrielle Julius Meinl (1869–1944) ergriff später die Initiative zu einer ‚Mitteleuropäischen Friedensbewegung‘, und Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972) verfolgte eine paneuropäische Vision. In der Zeit um 1989 wurde der Mitteleuropabegriff,10 auf dessen politische Funktion Moritz Csáky verweist,11 in eben dieser erweitert verwendet: Mitteleuropa war schon vor und nach der so genannten ‚Wende‘ das Schlagwort, mit dem die Zurückführung des dem Sowjetimperium einverleibten ‚Zwischenraum‘-Europas in seine demokratische Mitte erreicht werden sollte; es war zur Kampfvokabel dissidenter Intellektueller avanciert. Milan Kundera etwa verwendete den Begriff, um die Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs wieder in das ‚westliche Zentrum‘ Europas zurückzuholen. In seiner Abgrenzung Mitteleuropas vom Sowjetimperium, dem „gro-
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Vgl. Carola SACHSE (Hg.), „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen 2010 (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 4), und Klaus THÖRNER, ‚Der ganze Südosten ist unser Hinterland‘. Deutsche Südosteuropapläne von 1840 bis 1945, Freiburg 2008. Vgl. Richard G. PLASCHKA [u.a.] (Hg.), Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1995. Zur Geschichte und Funktion der Mitteleuropaidee vgl. besonders Werner SUPPANZ, Österreichische Geschichtsbilder. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter Republik, Köln–Weimar–Wien 1998 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 34), S. 124–132. Hugo HASSINGER, Das geographische Wesen Mitteleuropas, in: Mitteilungen der k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien 60 (1917), S. 437–493, hier S. 483, S. 487. Hugo von HOFMANNSTHAL, Wir Österreicher und Deutschland, in: DERS., Reden und Aufsätze II 1914–1924, hg. von Rudolf Hirsch, Frankfurt am Main 1979 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden) (Original 1915), S. 390–396, hier S. 394. Vgl. Arnold SUPPAN, Der Begriff ‚Mitteleuropa‘ im Kontext der geopolitischen Veränderungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft 132 (1990), S. 192–213. Vgl. u.a. CSÁKY, Mitteleuropa/Zentraleuropa. Ein komplexes kulturelles System, S. 23f. Die Mitteleuropadebatte war in den 1980er-Jahren auch in Österreich virulent. Mit dem Beitritt Österreichs zur EU (1995) verflachte sie aber zusehends.
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ßen tyrannischen Nachbarn“,12 scheute er daher vor der Verwendung russlandfeindlicher Stereotypen nicht zurück. Auch György Konrád definierte Mitteleuropa als kulturelle Antithese zur geopolitischen Wirklichkeit eines in Blöcke – Ost und West – gespaltenen Europas: „Mitteleuropäer“ sei der, den die Teilung Europas „verletzt, berührt, behindert, beunruhigt und beengt“ habe.13 Das neue „K(undera)-und-K(onrád)-Mitteleuropa“14 – d.h., sich zur Mitte Europas zählen zu dürfen – war in den Reformstaaten jedoch nur vorübergehend attraktiv, bevor zur Jahrtausendwende die MitteleuropaIdee durch das Projekt eines ‚neuen‘, transatlantisch verbündeten Europa verdrängt wurde.
2.2 Z ENTRALEUROPA
UND DER NEUE
R AUMBEGRIFF
Der Zentraleuropabegriff nähert sich der Kategorie Raum von einer anderen – nicht der politisch-strategischen, sondern der kulturwissenschaftlichheuristischen – Seite: Als geschichtlicher Grundbegriff wurde der Raum nach 1945, als sich die Historiografie um eine ‚ambivalenzfreie‘ Tatsachenforschung bemühte, lange Zeit unterbewertet.15 Zuletzt wird der Raumbegriff aber wieder verstärkt aufgegriffen.16 Reinhart Koselleck (1923–2006)
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Milan KUNDERA, Die Tragödie Mitteleuropas, in: Erhard BUSEK, Gerhard WILFINGER (Hg.), Aufbruch nach Mitteleuropa. Rekonstruktion eines versunkenen Kontinents, Wien 1986, S. 133–144, hier S. 143. György KONRÁD, Der Traum von Mitteleuropa, in: BUSEK, WILFINGER (Hg.), Aufbruch nach Mitteleuropa, S. 87–97, hier S. 88. Steffen HÖHNE, Mitteleuropa. Zur konzeptuellen Karriere eines kulturpolitischen Begriffs, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 41, 2(2000), S. 279–294, hier S. 290. Dem Raumbegriff ist kein Eintrag gewidmet in Otto BRUNNER, Werner CONZE, Reinhart KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972– 1997. Vgl. u.a. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Wiederkehr des Raumes, Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue politische Literatur (NPL) 43, 3(1998), S. 374–395. Alfred HEIT, Raum. Zum Erscheinungsbild eines geschichtlichen Grundbegriffs, in: Georg JENAL (Hg.), Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz zu seinem 65. Geburtstag, München 1993, S. 369– 390. Geschichte und Gesellschaft 28, 3(2002) (Themenheft: Mental Maps, hg. von Christoph Conrad). Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 17, 1(2006) (Themenheft: ‚Die Räume der Geschichte‘, hg. von Reinhard Sieder). Michaela OTT, Raum, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. Karlheinz Barck [u.a.]. Band 5, Stuttgart–Weimar 2003, S. 113–148. DIES., Elke UHL (Hg.), Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung, Münster 2005. Arno STROHMEYER, ‚Österreichische‘ Geschichte der Neuzeit als Raumgeschichte, in: DERS., Martin SCHEUTZ (Hg.), Was heißt ‚österreichische‘ Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung, Innsbruck [u.a.] 2008 (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 6), S. 167–197. Moritz CSÁKY, Chris-
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zählt ihn zu den kategorischen „Bedingungen möglicher Geschichte“ und begreift ihn als „historisierbar, weil er sich sozial, ökonomisch und politisch verändert.“17 In wissenschaftlich-heuristischer Verwendung schärft er den Blick für Vorgänge sozialer Verräumlichung.18 Ältere, zukunftsweisende Vorstellungen (Georg Simmel, Henri Lefebvre, Michel Foucault) in Bezug auf die Ausbildung sozialer Handlungsräume werden neu aufgegriffen.19 Zugleich wird die Containerperspektive zugunsten der Idee einer durch Handlungsverläufe geprägten Räumlichkeit aufgegeben. ‚Zeiträume‘ werden – dem Wortsinn nach – als ein Aufeinander-Verwiesen-Sein von Raum und Zeit verstanden. Dieser dynamische Zugang wird hier weiterverfolgt, da er den Horizont auf jene raum-zeitlichen Verschränkungen erweitert, die insbesondere für den Zentraleuropabegriff (wie er hier verwendet wird) konstitutiv sind. Unser Zentraleuropabegriff orientiert sich an dieser neuen nichtwesenhaften, sondern sozial vermittelten Raumvorstellung, in der Verflechtungs- und zeitliche Überlagerungsvorgänge mitreflektiert werden. Zentraleuropa wird daher nicht als statischer, geografischer Raum, sondern als eine dynamische Anordnung vieler, sich von Zeit zu Zeit verengender oder erweiternder sozialer Räume definiert, die – wie im ebenso begriffenen Europa – allein durch Handlungen generiert werden. Aus dieser Perspektive ist das, was hier als Zentraleuropa begriffen wird, weder auf die Habsburgermonarchie einzuschränken noch im Sinne eines „Essenz-Modells“, wie von Jürgen Osterhammel in kritisch-reflexiver Auseinandersetzung erkundet,20 auf einen ‚Wesenszug‘ (wie z.B. das Christliche) reduzierbar. Wird Zentraleuropa nicht geografisch definiert, so trennt es von West und Ost auch keine klare, d.h. verschiebbare Grenze. Dadurch entzieht sich der Zentraleuropa-
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toph LEITGEB (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ‚Spatial Turn‘, Bielefeld 2009. Reinhart KOSELLECK, Raum und Geschichte, in: DERS., Zeitschichten, S. 78–96, hier S. 82. Vgl. Martina LÖW, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001 (stw 1506). Jörg DÖRING, Tristan THIELMANN (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. Georg GLASZE, Annika MATTISSEK (Hg.), Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld 2009. Christian BERNDT, Robert PÜTZ (Hg.), Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007. Rudolf MARESCH, Niels WERBER (Hg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt am Main 2002 (stw 1603). Markus SCHROER, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt am Main 2006 (stw 1761). Vgl. Jörg DÜNNE, Stephan GÜNZEL (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006 (stw 1800). Jürgen OSTERHAMMEL, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern History 2 (2004), S. 157–181, hier S. 166.
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begriff machtpolitischer Verwendung, sein Zweck ist allein ein intellektuellheuristisch-funktionaler. Wird der Raumbegriff als heuristische Kategorie verstanden und anerkannt, dass sich für Individuen oder Gruppen an jedem Ort unterschiedliche Räume auftun können, so zeigt sich insbesondere für Zentraleuropa als „entgrenztem Kommunikationsraum“ (Moritz Csáky), dass sich die Versuche nationaler Identitätsstiftung ständig mit anderen Arten kultureller Identität im Wettstreit befanden. Die Akteure der Nationalisierung hatten hier schwere Arbeit zu verrichten, die Absicherung des nationalen Narrativs durch Schrift, Bilder und Inszenierungen jeder Art inbegriffen. Zentraleuropa leistet daher – als „Raum-Zeit-Union“ (Ernst Bloch) aufgefasst – retrospektiv keineswegs einem nostalgisch verklärten Blick auf den so genannten ‚k.u.k. Völkerfrühling‘ Vorschub.21 Vielmehr benennt unser Zentraleuropabegriff das ihm innewohnende Konfliktpotenzial durch Konkurrenz, Einverleibungs- und Ausschlussversuche. Dadurch schafft er die heuristischen Voraussetzungen dafür, jene sozialen Techniken der Konfliktbewältigung, die in der Vergangenheit u.a. von Wissenschaftlern aufgeboten wurden, durch historische Aufarbeitung wieder für die Gegenwart effektiv zu machen. Der hier verwendete Begriff von Zentraleuropa vermag daher – wie abschließend zu zeigen sein wird – Ansatzpunkte für ein künftiges Globaleuropa zu liefern. Der Zentraleuropabegriff wird im Folgenden durch einen Vergleich mit anderen Konzepten weiter präzisiert.
2.3 Z ENTRALEUROPA ALS R AUM -Z EIT -U NION Der Zentraleuropabegriff bezieht sich mithin auf jene Raumvorstellung, die Ernst Bloch (1885–1977) in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von dem „Kulturraum“-Begriff seiner Zeit entworfen hat. In seiner Schrift Erbschaft dieser Zeit (1935)22 und in seinen Tübinger Vorlesungen (1960/61)23 stellte der deutsche Philosoph ein zukunftsweisendes Raum-Zeit-Modell vor, das eine vielversprechende Analyseperspektive auf komplexe Identitätsgefüge eröffnet.24
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Vgl. Jacques LE RIDER, Der österreichische Begriff von Zentraleuropa. Habsburgischer Mythos der Realität? The 2007 Ingeborg Bachmann Centre Lecture, University of London 2008. Ernst BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935. Ernst BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt am Main 1963 (es 11). Den Hinweis auf Bloch verdanke ich dem indischen Kultur- und Literaturwissenschaftler Anil Bhatti, der dessen raum-zeitliches „Ganzheitskonzept“ zur Analyse von „Aspekten der Grenzziehung“ im Kolonialismus verwendet. Vgl. Anil BHATTI, Aspekte der Grenzziehung; Postkolonial, in: Horst TURK, Brigitte SCHULTZE, Roberto SIMANOWSKI (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998, S. 339–356, hier S. 341–345.
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Der Zeit- bzw. Raumbegriff Ernst Blochs widersetzt sich zweierlei „Fetischen“: einem „Nacheinander an sich“25 und – so könnte man sinngemäß hinzufügen – einem ‚Nebeneinander an sich‘. Damit grenzt er sich von einem als „Geographismus“ verstandenen „Kulturraum“-Begriff ab, und dem, was sich zu ihm komplementär verhält, nämlich von einem „allzu geradlinigen Historismus“26, der Zeitstufen und Abfolgen anstatt von Zeitverflechtungen im Blick hat. Sein Modell der „Raum-Zeit-Union“ zielt darauf ab, dass Zeit und Raum nicht absolut, sondern relativ, d.h. als relationale, ineinandergreifende Kategorien aufzufassen sind. Zeit ist für ihn sonach nur dort, wo etwas geschieht.27 Den statischen Raumbegriff erkennt Bloch unterdessen als ein „untrügliches Kennzeichen reaktionärer Sprache“. Er verwirft die Vorstellung des „Kulturraums“ – vermeintlich „isolierter Strukturen“ – um den übergreifenden, durchgreifenden und ineinandergreifenden Aspekt kultureller Verflechtung aufzuwerten: Was Karl Mannheims soziologische „Strukturen“ in der Zeit geleistet hätten, so lautete seine Kritik, hätten auch die „Kulturkreise“ Oswald Spenglers, „die isolierten Landschaftsgärten jeweiliger Kultur im Raum“, erfüllt: nämlich die Zersprengung der Geschichte.“28 Von diesem Zusammenhang zeugten für Bloch auch Josef Nadlers „raumhistorische Methode“ und „Keyserlings geographische Meditationen“.29 In der so genannten „Kulturkreislehre“, die auch in Österreich eine bedeutende Rolle spielte, wurde die Kultur im Sinne einer „geographisch trennende[n] Raumordnung“,30 als „Einlagerungsraum“31 unveränderbarer „Kulturseelen“32 verstanden. Die „Kulturkreise“ bildeten sonach separate „Großinseln (ohne Kommunikation)“ und wären einem organischen Zyklus des Aufstiegs und Verfalls unterworfen gewesen. Analog zur Statik der „Kulturkreise“ zerfiel nach Spengler aber auch die Geschichte in „Teile, Inseln, Autarkien“,33 durch die kommunikative Austauschprozesse verschüttet worden seien und der historische Ablauf in untereinander unvermittelte „Kul-
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BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, S. 163. Ebenda, S. 171. Vgl. ebenda, S. 176. BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 233. Oswald Spengler (1880–1936) entwarf eine „Morphologie der Weltgeschichte“ auf der Grundlage der Abfolge der „Kulturen“. Vgl. Brigitte FUCHS, ‚Rasse‘, ‚Volk‘, ‚Geschlecht‘. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960, Frankfurt am Main–New York 2003, S. 253f. BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 233. Zu Nadler und Raum vgl. Wolfgang HÖPPNER, Die regionalisierte Nation. Stamm und Landschaft im Konzept von Literaturgeschichtsschreibung bei August Sauer und Josef Nadler, in: András F. BALOGH, Erhard SCHÜTZ (Hg.), Regionalität und Fremde. Literarische Konstellationen, Visionen und Konzepte im deutschsprachigen Mitteleuropa, Berlin 2007, S. 29–50. BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, S. 173. Ebenda. BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 233. BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, S. 174.
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turgärten“, „Kulturseelen“ oder „Kultur-Monaden“ zerbröckelte,34 die sich „wie Sternbilder beziehungslos im ewig transzendenten All“ verorteten: fenster- und verbindungslos.35 In dieser statisch-wesenhaften Raumvorstellung („Geographismus“), die sich einem „geradlinigen Historismus“ (Ausklammerung zeitlicher Verflechtungen) unterwarf, erblickte Bloch den Kern des Übels. Sonach bestand für ihn die Aporie des Historismus in der Verlegenheit, „das riesige außereuropäische historische Material darstellend unterzubringen.“36 Der Historismus habe die vergangenen babylonischen und altägyptischen Kulturen „allzu geradlinig auf Europa hin“ behandelt.37 Da das „unvergangene China, Indien und so fort“ aber nicht an den „Anfang der geschriebenen Geschichte“38 gerückt werden konnten, wären sie von einer im „Geographismus“ verharrenden Wissenschaft als vereinzelte „Kulturräume“ mit interner zyklischer Logik und als „eine Welt für sich“ entworfen worden.39 Durch die Vorstellung solcher undurchlässigen, ‚seelisch‘-geografisch definierten „Kulturräume“ habe sich zwar die Aporie des Historismus bezüglich der Aufnahme „außereuropäischen Materials“ verflüchtigt, jedoch auf Kosten der Verleugnung der Osmosen, „durch den Tod des zusammenhängenden, Länder, Völker und Zeiten verbindenden Geschichtsablaufs selber.“40 Zur Revision dieser in der Zwischenkriegszeit vorherrschenden Vorstellung trat Bloch für eine „neue Kulturgeschichte“ ein, in der die „Raum-Zeit-Union“ – die Zeitenverflechtung sowie die verschiedenen, ineinandergreifenden Schauplätze – in den Vordergrund gerückt und der Vielstimmigkeit im „Multiversum der Kulturen“41 wieder Gehör geschenkt wurde. Das zeitbezogene, nicht-skalare Raumkonzept ist für das Verständnis dessen, was hier als Zentraleuropa definiert wird, in mehrerlei Hinsicht konstitutiv: Erstens schärft es den Blick auf ein essenzialistisches Kulturverständnis, das sich zum Nationalstaat komplementär verhält. Wie noch zu zeigen sein wird, herrschte dieses insbesondere in der Ersten (österreichischen) Republik vor; zuweilen ist es Anfang des 21. Jahrhunderts noch nicht überwunden. Der interaktive Ansatz Blochs gibt zweitens den Blick frei auf verstellte zeitliche und räumliche Verflechtungen, ohne aber das für Zentraleuropa strukturelle Charakteristikum innerer sozio-kultureller Differenzen („Pluralitäten“) auszublenden. Vermeintlich separierte ‚Kulturräume‘ werden entgrenzt, Abgrenzungen nicht als scharfe Trennlinien, sondern als Schnittstellen und Übergänge, die übergreifende Handlungen zulassen, bewertet. Drittens will das raum-zeitliche Konzept die widersprüchliche Viel-
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BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 236f. Ebenda, S. 234. BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, S. 170. Ebenda. Ebenda, S. 171. Ebenda, S. 172. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 176.
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falt nicht auf „unverbundene Zeitstufen“ bzw. „Kulturkreise“ reduzieren, sondern Hilfestellung sein für die Analyse solcher Reduktionsvorgänge. Schließlich verabschiedet eine Historiografie, die dieses Raum-ZeitKonzept aufgreift, die nationalzentrierte Perspektive: Die latent wirkende Tiefenstruktur des Nationalstaats gab lange Zeit das unhinterfragte Modell für das, was der Raum sein konnte, vor. In diesem Sinne hatte der „geradlinige Historismus“, der jede Epoche „unmittelbar zu Gott“ stellte und in den unverbundenen Zeitstufen einen Wert erblickte, die Verinselung der Kulturen verstärkt.42 Durch die Anwendung des raum-zeitlichen Begriffs wird die Wirkmächtigkeit nationalstaatlicher Grenzziehungen in Zentraleuropa keineswegs unterschätzt, jedoch wird mit ihr in der Analyse eine Zentrierung auf die Nation als identitätsstiftende Kategorie vermieden und eine Perspektivenumkehr insinuiert: Wird von Zentraleuropa gesprochen, so wird die Aufmerksamkeit verstärkt wieder auf übergreifende Interaktionsprozesse und diachrone Verschichtungen gezwungen, um das sichtbar zu machen, was in der Vergangenheit von nationalen bzw. nationalstaatlichen Narrativen verdeckt bzw. verleugnet wurde. Der raum-zeitliche Zentraleuropabegriff bezieht sich daher auf jene „connected histories“, von denen u.a. Heimito von Doderers (1896–1966) Phrase von der „polyglotte[n] Bereitwilligkeit der Stadt“ Wien Zeugnis ablegt.43 In Wien und anderen mehrsprachigen Städten der Monarchie färbten die deutschen, ungarischen, romanischen, böhmischen und verschiedenslawischen Töne, die man in der Metropole vernahm, auf die Sprachverwendung im Alltag ab: „Die österreichische Umgangssprache“, schrieb Hugo von Hofmannsthal, sei „sicherlich unter allen deutschen Sprachen die gemengteste, denn sie „war die Sprache der kulturell reichsten und vermischtesten aller Welten“. Die Schattierungen im Sprachschatz zeugten von den „siebzehn sozialen Schichten“ und vom „Wust jener Fremdwörter“, die seit Jahrhunderten die „Allerweltssprache“ in Österreich geformt hätten.44
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Leopold von Ranke schrieb im Jahr 1854: „Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint.“ Vgl. DERS., Aus Werk und Nachlass, hg. von Walther Peter Fuchs und Theodor Schieder. Band 2: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kritische Ausgabe [Erster Vortrag vom 25. September], München–Wien 1971, S. 53–67. Heimito von DODERER, Die Wasserfälle zu Slunj. Roman, München 1971 (Original 1963), S. 324. HOFMANNSTHAL, Unsere Fremdwörter, in: Reden und Aufsätze II 1914– 1924, S. 360–366, hier S. 363–366. Zu Doderer und Hofmannsthal vgl. BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 55.
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In der Tat wies Wien um 1900 einen erheblichen Anteil nicht deutsch(mutter)sprachiger Bewohner auf. Die Reichshaupt- und Residenzstadt hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ungleich stärker ausdifferenziert als andere europäische Großstädte. Um 1900 hatte Wien einen der vergleichsweise höchsten ‚Fremden‘-Anteile, der sich auf mehr als 50% belief. Von seinen Bewohnern waren im Jahr 1880 nur 38%, 1900 nur 46% in Wien geboren worden.45 Die Einwohnerzahl Wiens (inklusive Vororte) hatte sich im Zeitraum von 1850 bis 1910 vervierfacht,46 sodass diese Metropole um die Jahrhundertwende zugleich auch die zweitgrößte tschechische Stadt (nach Prag) war und in ihr nach Warschau und Budapest die drittmeisten Juden Europas lebten. Deutsch wurde hier als Verkehrssprache verwendet, aufgrund der Vielsprachigkeit seiner Bewohner zeigte sich Wien aber von seiner buntesten Seite. Die Stadt war belebt von „slowakischen Rastlbindern, jüdischen Hausierern, slowenischen Maronibratern, schlesischen Leinwandhändlern, italienischen Salamiverkäufern sowie Tiroler Handschukramern […], aber auch von tschechischen Köchinnen, Iglauer Ammen, Bosniaken, ungarischen Husaren und polnischen Ulanen.“47 Das Risiko dieser plurikulturellen Alltagserfahrung bestand in interkulturellem Missverstehen oder vielmehr noch in einem Neben- statt Miteinander: Der Budapester Philosoph Kristóf Nyíri spricht in dem Zusammenhang von „gebrochener Kommunikation“,48 wonach der semantische Ausgleich zwischen den Sprachgruppen aufgrund unterschiedlich gefärbter sozialer, politischer und kultureller Vorstellungswelten zunehmend schwierig verlief. Mit der Differenzerfahrung war jener Stabilitätsverlust verknüpft, den schon Zeitgenossen im Blick hatten, als sie unter den Stadtbewohnern „Unruhe“, „Unzufriedenheit“ oder „Zerrissenheit“ wahrnahmen.49 Dadurch war der Boden für „crises de l’identité“ (Jacques Le Rider) bereitet. Mit der Krise eröffneten sich aber auch Chancen: Zum einen wurde die spezifische Erfahrung von „gebrochener Kommunikation“ und „sprachlicher Inkommensurabilität“ (Kristóf Nyíri) zu verstärkter Sprachreflexion und Sprachkritik genutzt; zum anderen zeugt die „polyglotte Bereitwilligkeit“, die Doderer in Wien vernahm, auch davon, dass im Alltag ein Wissen erarbeitet worden war, um wechselseitige Ignoranz bzw. das latente Konfliktpotenzial auszuagieren:
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Vgl. CSÁKY [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, S. 18. Vgl. Andreas WEIGL, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien, Wien 2000, S. 65f., S. 106–161. Franz X. EDER [u.a.] (Hg.), Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum, Innsbruck [u.a.] 2003 (Querschnitte 12). Heinz FASSMANN, Rainer MÜNZ, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995, besonders S. 13–20. Annemarie STEIDL, Ein attraktiver Anziehungspunkt für Zuwanderer aus ganz Europa. Wanderungsmuster nach Wien, 1740–2010, in: Franz X. EDER, Peter EIGNER, Andreas WEIGL (Hg.), Sozialgeschichte der Stadt Wien 1740–2010, Wien 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. Vgl. NYÍRI, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, S. 28–30. Vgl. dazu CSÁKY [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, S. 15f.
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Kakaniens „elf Völker“ [!], deren „größte Energie […] sich in seinem Gemischtsein“ verbarg, kamen – wie György Konrád schreibt – „irgendwie miteinander aus“ – vielleicht, so Konrád weiter, weil sie einen „Gemeinsamen Mitteleuropäischen Markt“ bildeten und das „gedruckte Wort […] um die Jahrhundertwende ziemlich bunt“ war.50 So erfüllte das geschriebene, aber auch gesprochene Wort trotz „gebrochener Kommunikation“ und mit Unsicherheiten verknüpfter gemischter Sprachverwendung den selben Zweck wie die Sprachen nonverbalen Handelns, so z.B. Architektur und Speisen:51 Sie lieferten – metaphorisch gesprochen – die Partitur, durch die Differenzen ausgeglichen und die Vielfalt orchestriert wurde. Dieser labile ‚Marktplatz‘ Zentraleuropa sollte aber mit der zunehmenden Akzentuierung sprachnationaler Vorstellungen, die schon im Vormärz aufgetaucht waren, zusammenbrechen. Schon zur Zeit der Ausrufung des deutschen Kaiserreichs (1871) wurde dieser vielstimmige Sozialraum als Anachronismus aufgefasst. Herders Idee, dass der „natürlichste Staat“ „also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter“ war und „die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Einen Szepter“52 abzulehnen wäre, wirkte in dem diversifizierten Vielvölkerstaat der Habsburger zwangsläufig desintegrativ, weil hier mit solchen Abgrenzungsbestrebungen der räumlich ineinandergreifenden, aber rivalisierenden Nationalitäten Machteffekte verknüpft waren, die sich in destruktiven Vorgängen nationaler Selbstvergewisserung manifestierten: In Böhmen, Mähren und der Untersteiermark wurden „Sprachgrenzen“ gezogen53 und von den Bewohnern zwei- oder mehrsprachiger Städte, die ungeachtet sprachlicher Differenzen miteinander im Alltag verkehrten, sich untereinander vermählten und sich je nach Situation, Zeit und Ort unterschiedlichen Gruppen zugehörig fühlten, die Identifikation mit einer Nationalkultur abverlangt (wie z.B. in Budweis/ Budejovice).54 In Böhmen und Mähren (wie z.B. in Prag) wurden vermischte ‚communities‘ aufgelöst, um ‚nationale‘ Mehr- und Minderheitsverhältnisse sicherzustellen. Zusehends wurde eine „politics of ethnic survival“ (Gary B. Cohen)55 handlungsleitend, die eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Nationalitäten schuf. Die im Zuge der Nationalisierung eingeführte Figur ‚ethnischer‘ Differenz verwandelte Zentraleuropa in ein ‚Pulverfass‘, dessen Explosion bald nicht verhindert werden konnte.
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KONRÁD, Der Traum von Mitteleuropa, S. 88. Vgl. CSÁKY, Mitteleuropa/Zentraleuropa. Ein komplexes kulturelles System, S. 25. Csáky verweist darauf, dass auf der Wiener Speisekarte noch heute die ungarische Gulaschsuppe, das ‚italienische‘ Wienerschnitzel (Costoletta alla Milanese) und die böhmischen „Powidltatschkerln“ zu finden sind. HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, S. 369f. Vgl. JUDSON, Guardians of the Nation, 2006. Vgl. Jeremy KING, Budweisers into Czechs and Germans: A Local History of Bohemian Politics, 1848–1948, Princeton 2002. Gary B. COHEN, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861– 1914, West Lafayette, Ind. 22006.
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In diesem Zusammenhang ist es allerdings bemerkenswert, dass selbst die nationalen Aktivisten in Zentraleuropa nicht auf jene symbolischen Formen verzichten konnten, die weiten Teilen der Bevölkerung eine Art kulturelle Identität jenseits der nationalen vermittelten. Diese Symbole wurden später aber national vereinnahmt und aufgeladen. Moritz Csáky liefert hierfür zahlreiche Beispiele: So wurde die jüdische Sabbat-Speise ‚Sholet‘ zu einer magyarischen Nationalspeise umcodiert; der ‚transnationale‘ neoklassische Stil zum ungarischen ‚Nationalstil‘ verklärt; Bolzanos Erbauungsrede „Vaterlandsliebe“, in der der Prager Philosoph, Theologe und Mathematiker für eine Koexistenz von Deutschen und Tschechen aufgetreten war, zum Gründungsmanifest der tschechischen Nation verfremdet und Bedřich Smetanas Tondichtung „Die Moldau“, deren melodische Motive auch jenseits der böhmischen Länder beliebt waren, als tschechische ‚Nationalkomposition‘ vereinnahmt. Das völkerverbindende universalistische ‚Doppelkreuz‘, das einst das viele Völker umfassende ungarische Königreich repräsentierte, wurde sogar von zwei unterschiedlichen Nationen zum repräsentativen Symbol erklärt: von der slowakischen und der magyarischen. Csáky hat darauf verwiesen, dass der Anteil von konkurrierenden Codierungen dieser Art in benachbarten, so genannten „Nationalkulturen“ Zentraleuropas signifikant hoch war und ist.56
2.4 D IE E RFINDUNG
DES N ATIONALEN UND SEINE IDENTITÄTSSTIFTENDE P RAXIS IN Ö STERREICH
Jüngst vermerkte die israelische Historikerin Shulamit Volkov, dass in den letzten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts mehr originelle Arbeiten zum Thema der Nation veröffentlicht worden seien als in den vorangegangenen fünfundachtzig.57 Die Originalität dieser Studien, die sich zunächst auf das Nationalstaatsmodell westeuropäischer Ausprägung bezogen, besteht zweifelsohne darin, dass ihnen zufolge die Nation nicht ‚erwachte‘, sondern dass sie im 19. Jahrhundert mit erheblichem Aufwand aus Versatzstücken ‚konstruiert‘58 und ihr im Sinne einer „erfundenen Tradition“59 ein vorgeblich
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Vgl. Moritz CSÁKY, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien–Köln–Weimar 2010, und DERS., Mitteleuropa/Zentraleuropa. Ein komplexes kulturelles System, S. 25–27. Vgl. Shulamit VOLKOV, Minderheiten und der Nationalstaat. Eine postmoderne Perspektive, in: DIES., Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001 (Original 1999), S. 13–31, hier S. 28. Vgl. in einer Auswahl die folgenden neueren deutschsprachigen Titel: Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2 (2008) [Schwerpunktheft: Europäische Nationalgeschichten], S. 3–38. Miroslav HROCH, Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005 (Synthesen.
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natürlicher und unveränderlicher Charakter (‚Essenzialität‘) zugeschrieben wurde. Benedict Anderson entzauberte die Nation als eine „vorgestellte Gemeinschaft“,60 und Ernest Gellner (1925–1995) wies in seiner bekannten Studie Nationalismus und Moderne (1983) mit Scharfblick nach, dass der Nationalismus die Nation, und nicht die Nation den Nationalismus hervorgebracht und lebendig erhalten habe.61 Dass sich die Nation ständig neu vergewissern, also erfinden musste, trifft nicht nur auf die ‚Willensnation‘ zu, die insbesondere der französische Orientalist Ernest Renan (1823–1892) in seinem Vortrag Was ist eine Nation? (1882) vor Augen hatte, sondern auch auf die ‚Kulturnation‘, deren Verfechter ihre unveräußerlichen Merkmale in Abstammung, Sprache und Sitten erblickten. Da ein darauf beruhendes Nationalgefühl in weiten Teilen der Bevölkerung nicht notwendig vorhanden war, musste insbesondere in der Habsburgermonarchie harte intellektuelle Arbeit in die Konstruktion des nationalen Gemeinschaftsgefühls investiert werden.62 Von Wissenschaftlern wurde die nationale Idee verschieden aufgenommen: Während sich die einen einem „methodologischen Nationalismus“ (Anthony D. Smith) unterwarfen,63 ergriffen andere eine distanziertere Position. Zwei Zugänge sind für Letztere markant: Die ‚transnationale‘ Ge-
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Probleme europäischer Geschichte 2). Christian GEULEN, Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, in: Friedrich JAEGER, Jörn RÜSEN (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart–Weimar 2004, S. 439–457. VOLKOV, Minderheiten und der Nationalstaat. Eine postmoderne Perspektive, S. 13–31. Christoph CONRAD, Sebastian CONRAD (Hg.), Die Nation Schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002. Jürgen OSTERHAMMEL, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147). Beate BINDER, Wolfgang KASCHUBA, Peter NIEDERMÜLLER (Hg.), Inszenierungen des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts, Köln–Weimar–Wien 2001 (alltag & kultur 7). Eric HOBSBAWM, Terence RANGER (eds.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Benedict R. ANDERSON, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main 32005 [Original: DERS., Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983], und vgl. Peter L. BERGER, Thomas LUCKMAN, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 202007. Vgl. Ernest GELLNER, Nationalismus und Moderne, Berlin 1991, S. 87 [Original: DERS., Nations and Nationalism, Ithaka, NY 1983, S. 49, S. 55]. Vgl. JUDSON, Guardians of the Nation, 2006. DERS., ROZENBLIT (eds.), Constructing Nationalities in East Central Europe, 2005. WINGFIELD (ed.), Creating the ,Other‘, 2003. SMITH, Nationalism in the Twentieth Century, 1979. Eine Zwischenbilanz zum ,methodologischen Nationalismus‘ zieht Ulrich BECK: Was ist Globalisierung. Irrtümer des Globalismus – Antworten auf Globalisierung, Frankfurt am Main 1998 (Edition Zweite Moderne), S. 115–121.
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schichts-, Kultur- und Sozialwissenschaft versucht einerseits den Blick auf nationsübergreifende Verflechtungsprozesse unter Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure zu schärfen, ohne aber von der Nation als letzter Bewährungsgrundlage abzurücken. Historiker schreiben ihr weiterhin „eine bedeutsame, sogar eine definierende Rolle“ zu.64 Anderseits versetzt ein von Michel Foucault (1926–1984) und den Postcolonial Studies beeinflusster Zugriff das Bild von der Nation wieder in jenen Rahmen zurück, der den Zeitzeugen der ‚nation-building‘-Prozesse bewusst gewesen war, unter modernisierungstheoretischer Perspektive aber zusehends aus den Augen verloren wurde, nämlich die Umrahmung des nationalen Prinzips vom Machtstandpunkt. Im Zuge der sukzessiven Ablöse der Leitbegriffe ‚System‘, ‚Struktur‘ und ‚Gesellschaft‘ durch ‚Kultur‘ („cultural turns“)65 schärfte der postkoloniale Ansatz nicht nur den Blick auf Machtasymmetrien kolonialer Ausprä-
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Kiran Klaus PATEL, Nach der Nationalfixiertheit. Perspektiven einer transnationalen Geschichte, Antrittsvorlesung, 12. Jänner 2004. Humboldt-Universität zu Berlin. Institut für Geschichtswissenschaften, Berlin 2004 (Öffentliche Vorlesungen 128), S. 5. Vgl. auch Gunilla BUDDE, Sebastian CONRAD, Oliver JANZ (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006. Matthias MIDDELL, Transnationalisierung und Globalgeschichte, in: traverse 12, 1(2005) [Schwerpunktheft: Transnationalismus und Migration/Transnationalisme et Migration], S. 19–48. Konrad H. JARAUSCH, Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa. Eine transnationale Herausforderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39 (2004), S. 3–10. Dieter LANGEWIESCHE, Geschichtswissenschaft in der Postmoderne? Ein Postskriptum, in: DERS., Friedrich LENGER (Hg.), Liberalismus und Sozialismus. Gesellschaftsbilder – Zukunftsvisionen – Bildungskonzeptionen, Bonn 2003 (Politikund Gesellschaftsgeschichte 61), S. 28–38. Etienne BALIBAR, We, the people of Europe? Reflections on transnational citizenship, Princeton [N.J.] 2004. Vgl. auch das Internetforum: geschichte-transnational.clio-online.net [Zugriff: 31.10.2008]. Zum ‚postcolonial turn‘ vgl. Doris BACHMANN-MEDICK, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 22007, S. 184–237. Zu den postkolonialen Studien vgl. María DO MAR CASTRO VARELA, Nikita DHAWAN (Hg.), Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005. Monika FLUDERNIK, Hybridity and Postcolonialism, Tübingen 1998. Leela GANDHI, Postcolonial Theory. A Critical Introduction, New York 1998. Robert J. C. YOUNG, Postcolonialism. A very short Introduction, Oxford 2003. Robert J. C. YOUNG, Postcolonialism. An historical Introduction, Oxford 2001. Bill ASHCROFT, Gareth GRIFFITHS, Helen TIFFIN (eds.), Key Concepts in Post-Colonial Studies, London–New York 1998. John C. HAWLEY (ed.), Encyclopedia of Postcolonial Studies, Westport, Conn. 2001. CONRAD, RANDERIA (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, 2002. Dipesh CHAKRABARTY, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton–Oxford 2000. Homi K. BHABHA, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 (Stauffenburg Discussion 5) [Original: The Location of Culture, London–New York 1994]. Dieter RIEMENSCHNEIDER [u.a.] (eds.), Postcolonial Theory. The Emergence of a Critical Discourse. A Selected and Annotated Bibliography. Preface by Homi K. Bhabha, Tübingen 2004. Zur postkolonialen Theorie, angewandt auf das Habsburgerreich vgl. FEICHTINGER, PRUTSCH, CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial, Innsbruck [u.a.] 2003.
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gung, sondern auch für analoge Vorgänge negativer Stereotypisierung, das so genannte „Othering“ (Gayatri C. Spivak), das in kulturell heterogenen Nationalstaaten besonders prekär wirken konnte. Aus postkolonialer Perspektive werden sonach neue, von der jüngeren, westlichen Nationalismusforschung noch wenig aufgegriffene Aspekte sichtbar, so z.B. Machtmechanismen, die insbesondere in Zentraleuropa am ,nation-building‘ massiv Anteil hatten.66 In diesem Zusammenhang wird hier zunächst auf drei noch wenig beachtete Autoren verwiesen, die als Zeitzeugen der Nationalisierungspraxis dem zerstörerischen Charakter des „hochgezüchteten […] Nationalgefühls in den herrschenden Schichten der verschiedenen Länder“67 beredt Ausdruck verliehen. Im Anschluss wird die nationale Identitätsstiftungspraxis in Habsburg-Österreich und der Republik thematisiert. Der französische Historiker, Journalist und Staatsmann Lucien Romier (1885–1944) zeigte, dass nationalpolitische Aktivisten den Nationalstaat mit dem Kolonialismus gekoppelt hätten, um das Nationalgefühl lebendig zu erhalten. Die „sogenannten kolonialen Elemente“ hätten „den Wert der nationalen oder oberherrschaftlichen Elemente [bestimmt] und umgekehrt.“68 Zum einen habe der imperialistische Wettlauf um den „Platz an der Sonne“ das jeweilige nationale ‚Wir-Gefühl‘ verstärkt. Die Rivalität um globale Macht- und Marktanteile habe ihm zudem einen expansiven Stempel aufgedrückt. Zum anderen habe sich der Nationalismus auch aus einem Überlegenheitsgefühl gegenüber den Unterworfenen genährt, das bald in einen „Hochmut der ‚erlesenen Rasse‘“ gekippt wäre. Das Moment der Selbstaufwertung durch Abwertung anderer, das im Kolonialismus verstärkt worden sei, hätte aber auch in den so genannten ‚Zivil‘- oder ‚Kulturnationen‘ weitergewirkt. So sei der „Grundsatz vom ungleichen Wert der menschlichen Rassen“ in den Vereinigten Staaten politisch relevant geworden.69 Zwar sei das Anliegen der „materiellen Zivilisation“, des Marktes, „alle Grenzen zu verwischen und die Völker zu vermischen“, durch die „nationalen und völkischen Gefühle“ untergraben worden, das „hochgezüchtete“ Na-
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Vgl. FEICHTINGER, PRUTSCH, CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial, Innsbruck [u.a.] 2003, bzw. das 7. Arbeitstreffen des Forums Ostmittel- und Südosteuropa (Freiburg/CH) unter dem Titel: Postcolonial Studies und die Osteuropawissenschaften, 25.11.2006, in: hsozkult.geschichte.hu-berlin.de [Zugriff: 31.10.2008]. Lucien ROMIER, Der Mensch von heute, Freiburg im Breisgau 1930, S. 16. ROMIER, Der Mensch von heute, S. 82. Diese These bestätigte zuletzt auch der Berliner Wissenschaftshistoriker Rüdiger vom Bruch, der unterstrich, dass die „Weltpolitik“ unter Wilhelm II. „nach dem Vorspiel kolonialer Erwerbungen durch das Reich nun durch forcierten Flottenbau die nationale Einigung definitiv in imperialistische Expansion überführte.“ BRUCH, Wissenschaftspolitik, Wissenschaftssystem und Nationalstaat im Deutschen Kaiserreich, S. 83. ROMIER, Der Mensch von heute, S. 18. Romier bezieht sich auf das Quotensystem (1924 Act), nach dem Zuwanderer „nach Verhältniszahlen, die je nach Bewertung der völkischen Momente veränderlich“ waren, aufgenommen wurden. Die USA hätten nicht gezögert, den Einwanderer aus dem Mittelmeergebiet einem solchen aus dem skandinavischen Norden an Wert nachzureihen.
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tionalgefühl hätte sich aber „auch dann [nicht verringert], wenn ihre Geschäfte, ihre Arbeit, ihre Handelsbeziehungen eine immer engere Fühlungnahme mit fremden Völkern erheischt“ hätten.70 Kurz: Der Kolonialismus habe den doktrinären Nationalismus angefacht. Dieser habe daher seiner bedurft. Das zentrale Vehikel dieser Art von Vergemeinschaftung erblickte Romier in der „Volkserziehung“ (Schulwesen). Zwei Wiener Wissenschaftler – Josef Laurenz Kunz (1890–1970) und Friedrich Hertz (1878–1964) – bezogen sich in ihren Analysen auf einen weiteren Machtaspekt der Nationalisierung, nämlich auf die innere Abgrenzung einer ‚Wir‘- von einer ‚Ihr-Gruppe‘. So hätten sich nationale Mehrheiten ihrer selbst auf Kosten ‚ethnisch-kultureller‘ Minderheiten versichert. Die Tragik der Letzteren habe darin bestanden, ewig als das unliebsame, aber konstitutive Andere vorgestellt zu werden. So verlangte es das Nationalprinzip. Der Völkerrechtler Kunz,71 ein Weggefährte und Schüler Hans Kelsens, bemerkte die unheilvolle Ironie der Geschichte, „daß gerade der Nationalstaat der größte Gegner der nationalen Minderheiten wird, obwohl beide in derselben Idee, der Erfassung des Volkstums als Wert“, gewurzelt hätten. Und weiter: „Aber jede Nation läßt eben nur die eigene Nation gelten.“ Die Anderen würden zu Minoritäten erklärt, die einer ‚ethnischkulturellen‘ Mehrheit als „Schönheitsfehler“ erschienen und dieser Logik zufolge am besten „chirurgisch“ zu entfernen wären.72 Dass die Nation von „einer energischen Minorität“ – nationalistischen Aktivisten – erfunden worden wäre, vermerkte auch der Soziologe Friedrich Hertz in seiner Schrift Vom Wesen und Werden der Nation (1927), um zu betonen, dass die „nationale Ideologie“ über die Vorstellung „einer blutsmäßigen oder geistigen Abhängigkeit der Gegenwart und aller Zukunft von der Vergangenheit“73 legitimiert worden sei. Was Zentraleuropa betrifft, so wirkte die nationale Idee janusköpfig, nämlich als Motor zur Verminderung sozialer Hierarchisierungen und als ein neues Vehikel der Klassifizierung von Menschen. Josef Laurenz Kunz zeigte, dass der Nationalstaat nicht nur Staatsbürger produzierte, sondern notwendigerweise auch die Anderen: Menschen, denen es verwehrt wurde, sich trotz Staatsbürgerschaft als Teil der mehrheitlichen ‚Wir-Gruppe‘ zu
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Ebenda, S. 16. Vgl. Jörg KAMMERHOFER, Josef L. Kunz, in: Robert WALTER, Clemens JABLONER, Klaus ZELENY (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre, Wien 2008 (Schriftenreihe des Hans KelsenInstituts 30), S. 243–259. Herbert W. BRIGGS, Josef L. Kunz (1890–1970), in: The American Journal of International Law 65, 1(1971), S. 129. Peter GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848–1945), S. 254–257. Josef L. KUNZ, Prolegomena zu einer allgemeinen Theorie des Internationalen Rechts nationaler Minderheiten, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 12 (1932), S. 221–272, hier S. 237. Friedrich HERTZ, Wesen und Wert der Nation, in: Jahrbuch für Soziologie. 1. Ergänzungsband: Nation und Nationalität, Karlsruhe 1927, S. 1–88, S. 3.
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begreifen. Denn: Zugehörigkeit, das ,Wir-Gefühl‘, bedürfe immer eines ‚Ihr-Gefühls‘. Die Nation werde demnach mittels einer dichotomisierenden Semantik konstruiert: Die ‚Wir-Gruppe‘ konstituierte sich vor dem Hintergrund einer imaginierten ‚Ihr-Gruppe‘, die sie – wie sich selbst – als wesensverschieden konstruierte. Hierbei zielte sie aber nicht auf die völlige Verwerfung der Anderen ab, sondern nur auf deren strikte Absonderung, um über sie Macht auszuüben. Viele Nationalstaaten seien zunächst nach diesem Muster gestrickt worden, so der ungarische Sozial- und Kulturanthropologe Peter Niedermüller,74 um viel später ihr freundlicheres – liberaldemokratisches und wohlfahrtsstaatlich-soziales – Gesicht zu zeigen. Zur Vertiefung der Kluft zwischen einem ‚Wir‘ und ‚Ihr‘ hatten sich die nationalistischen Aktivisten u.a. der Begriffe ‚Kultur‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Tradition‘ bedient: So wurden Kulturen als unveränderbare Substanzen („things with mind“75) vorgestellt. Zur Absicherung der Vorstellung völkisch-kultureller Homogenität der Nation introduzierten die nationalistischen Akteure die Denkfigur der ‚ethnischen‘ Differenz.76 Demnach wurde das Wesen der Nation in gleicher Abstammung sowie in den Tiefen der ‚Volksseele‘ (die als ‚Kollektivseele‘ vorgestellt wurde) gesucht und vermeintlich gefunden. Bewahrt wurde es durch die nationale ‚Tradition‘, die auf angeblich ‚authentischen Wurzeln‘ beruhte und dank der jene Kultur, die tiefer verwurzelt war, für sich Vorrechte reklamieren konnte. Kultur stiftete Sinn durch Abgrenzungen von einem „konstitutiven Außen“,77 die mit der Absicherung asymmetrischer Machtverhältnisse mit Hilfe der erwähnten „(self)-authentication“ – der Selbstaufwertung durch Abwertung anderer – verbunden waren. Anzunehmen ist, dass sich solche Abgrenzungsversuche im Zuge des ‚nation-building‘ verstärkten, in Zentraleuropa die Abgrenzung als solche allerdings umso schwieriger wurde, je weniger sich die einander nahestehenden und überlagernden Nationalitäten voneinander unterschieden. So verdeutlicht der „Narzißmus der kleinen Differenzen“, ein Konzept, das Sigmund Freud vor seinem Wiener Hintergrund entwickelte, dass die durch die Nationalisierung bedingte Aufwertung von Unterschieden nicht nur den sozialen Zusammenhalt erhöhte, sondern auch vermehrt Konflikte
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Vgl. Peter NIEDERMÜLLER, Der Mythos des Unterschieds: Vom Multikulturalismus zur Hybridität, in: FEICHTINGER, PRUTSCH, CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial, S. 69–81, hier S. 72–74. Michael HERZFELD, Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society, Oxford 2001, S. 28. Der Historiker Pieter Judson schreibt in Bezug auf Habsburg-Zentraleuropa: „Ethnic differences were therefore largely an effect, not a cause of nationalist activism.“ DERS., The Limits of Nationalist Activism in Imperial Austria: Creating Frontiers in Daily Life, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. Vgl. Stuart HALL, Das Spektakel des ,Anderen‘ (Original 1997), in: DERS., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften. Band 4, Hamburg 2004, S. 108–166, hier S. 119.
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schürte. Bemerkenswert erscheint daher, was Freud diagnostizierte: „Die Intoleranz der Massen äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“78 Von Authentisierungsprozessen dieser Art legt insbesondere die Geschichte der Habsburgermonarchie beredt Zeugnis ab. Da sich in ihr die zahlreichen Nationalitäten nicht auf ebenso viele Provinzen verteilten, nahmen die Nationalisierungsvorgänge oftmals einen prekären Verlauf. So ließen in diesem ineinander verschachtelten Nationalitätenkonglomerat – um wieder mit Freud zu sprechen – kleine Unterschiede „eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung“79 an den mitunter relativ großen nationalen ‚Minderheiten‘ zu. Als im Jahr 1918 die Republik Österreich als Staat der deutschsprachigen Österreicher in der verblichenen Monarchie ausgerufen wurde,80 wiesen er und insbesondere seine Hauptstadt nach wie vor einen erheblichen Anteil nicht deutsch(mutter)sprachiger Bewohner auf.81 In einem Nationalisierungsprozess, der dem im post-1989Osteuropa nicht unähnlich war, sollte der deutsch-christliche Charakter Österreichs in Stadt und Land verfestigt sowie seine Bevölkerung vor ‚Überfremdung‘ durch Hunderttausende vorwiegend Wiener mit tschechischer, slowakischer, polnischer, ungarischer, slowenischer oder kroatischer Muttersprache und durch mehr als zweihunderttausend Juden bewahrt werden. Dass sich der neue Staat zusehends mit dem Schein nationaler Homogenität versah, wirkte sich auch auf das Verhältnis von kultureller Assimilation und Dissimilation aus. Zum einen zeigte die Assimilation verstärkt ihr zwanghaftes Gesicht; der Assimilationsdruck war enorm. Hatten bei der Volkszählung von 1923 noch 111.396 Personen angegeben, eine andere Umgangsprache als Deutsch zu verwenden, waren es 1934 nur noch 56.314 Österreicher. Diese Zahl erscheint umso verblüffender, als im Jahr 1938 noch ca. 800.000 Österreicher (12%) auf eine Herkunft außerhalb der 1918 geschaffenen Republik zurückblickten und eine Million Österreicher einen anderen als einen (in nationalsozialistischer Terminologie) „reinrassig deut-
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Sigmund FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Original 1939), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1932–1939. Nachdruck der Ausgabe von London 1950, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 101–246, hier S. 197. Vgl. auch DERS., Das Unbehagen in der Kultur (Original 1930), in: DERS., Gesammelte Werke XIV. Nachdruck der Ausgabe von London 1942, hg. v. Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 419–506, hier S. 474, und DERS., Massenpsychologie und Ich-Analyse (Original 1921), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIII. Nachdruck der Ausgabe von London 1940, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 73–161, hier S. 110f. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 474. Vgl. Dieter A. BINDER, Ernst BRUCKMÜLLER, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000, Wien–München 2005, S. 101–103. Vgl. Moritz CSÁKY [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, S. 18.
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schen“ kulturellen Hintergrund aufwies.82 Zum anderen erodierte mit den Assimilationsvorgängen aber jenes nicht völlig verdrängbare, aber unterdrückte Andere, das für jede Nation konstitutiv war. Wie zu zeigen sein wird, lieferte die Assimilation der Juden, durch die angeblich der ‚deutsche Volkscharakter‘ ‚verunreinigt‘ wurde, ständig Angriffspunkte für heftige rhetorische Abwehrkämpfe. Die Auffassung von der vermeintlich ‚grundverschiedenen‘ jüdischen Kultur diente manchen nationalistischen ‚intellektuellen‘ Speerspitzen als ein Mittel, sich vom angeblichen ‚Wesen jüdischen Volkstums‘ abzugrenzen. Angesichts dieser hochbewerteten Schimäre, der die Annahme einer reinen, natürlichen und authentischen Kultur, Ethnizität und Rasse zugrunde lag, sollten Vermischungen verhindert werden. Jenen Juden, die sich assimilierten, wurde daher im Zeichen solch verzerrter Vorstellungen bald die Rolle der Zerstörer einer angeblich ‚authentischen‘ Ordnung zugeschrieben. Antisemitische, deutsch-nationale Wortführer traten daher – wie zu zeigen sein wird – verstärkt für eine Dissimilierung (‚Entmischung‘) der Juden ein, um „den Assimilationsjuden“ – sinnverdrehend – zugleich für den Antisemitismus verantwortlich zu machen.83 So konnte auf „eine außenstehende Minderzahl“ – wie Freud analysierte – jene „Feindseligkeit abgeladen werden, die half, ein „Gemeinschaftsgefühl der Massen“ zu erzeugen.84 Als Wissenschaftler traten manche nationalistischen Aktivisten – ihres Zeichens Antisemiten – offen für die ‚Absonderung‘ der Juden auf. Vorgänge dieser Art, die mit dem Wunsch- und Trugbild ‚ethnischkultureller‘ Homogenität im Nationalstaat verknüpft waren, trafen vor allem die österreichischen Juden, aber auch andere nationale Minderheiten: Die zwanghafte Hierarchisierung und Klassifizierung diente der Wahrung der Machtverhältnisse, insbesondere aber des deutschen Charakters des Staates. Die Republik verpflichtete sich zwar völkerrechtlich zu Minderheitenschutz und Toleranz,85 in der sozialen Praxis waren In- und Exklusionsvorgänge aber gang und gäbe. Auch in den anderen Nachfolgestaaten der Monarchie war der Umgang mit Minderheiten nicht weniger prekär, so z.B. in der
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Vgl. Michael JOHN, Dissonant Identities in Interwar-Austria 1918–1937, in: Oral History. Challenges for the 21th century. X. International Oral History Conference. Proceedings. Vol. 1, Rio de Janeiro 1998, S. 26–40, hier S. 28f., S. 38. Oswald MENGHIN, Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934, S. 163. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 474, und vgl. DERS., Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 110f. Hiervon legt für Österreich z.B. der Artikel 66, Absatz 1, und Artikel 67 des Staatsvertrags von Saint-Germain-en-Laye Zeugnis ab, nach dem sich die Republik 1919 „rechtlich und faktisch“ zur Gleichbehandlung aller Staatsbürger verpflichtete ohne Rücksicht auf Rasse, Sprache oder Religion. Zur historischen Perspektive auf den Minderheitenschutz in Österreich vgl. HENTGES, Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Österreich, S. 179–222.
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nunmehr italienischen Stadt Triest (Slowenen) und im polnischen Lemberg (Ruthenen, Juden und andere).86 In Habsburg-Zentraleuropa war schon seit dem 19. Jahrhundert über nationale Selbstvergewisserungsvorgänge, die sich mit der Ausrufung neuer Nationalstaaten zuspitzen sollten, nachgedacht worden: Der Staatstheoretiker Joseph von Eötvös (1813–1871) hatte um 1850 lapidar vermerkt: „Die Grundlage aller nationalen Bestrebungen ist das Gefühl höherer Begabung, ihr Zweck [aber] ist Herrschaft.“87 Diesen mit der Nationalisierung verknüpften Machtzweck erkannte auch der siebenbürgisch-rumänische Jurist und Politiker Aurel C. Popovici (1863–1917) in Bezug auf die gesamte Monarchie, denn, „obwohl in Österreich eine ganz andere Richtung in der Nationalitätenpolitik eingeschlagen wurde, als die in Ungarn verfolgte“, seien „die heutigen Ergebnisse hüben wie drüben wesentlich ganz gleich“.88 Seit der Jahrhundertwende bezeugten auch Intellektuelle deutscher Nationalität, dass der Anspruch auf Übereinstimmung von Nationalität und Territorium unweigerlich mit Unterdrückung, Hierarchisierungen sowie zwanghaften Vereinnahmungen und Ausschlüssen verbunden war. So verlieh u.a. der spätere österreichische Bundeskanzler, Theologe und Prälat Ignaz Seipel (1876–1932) der Sprengkraft der nationalen Idee Ausdruck.89 Im Jahr 1916 unterstrich er, dass in einem Staat, der verschiedene Sprachen, Nationalitäten und Religionen umfasste, eine nationale Abgrenzung „die allerschwierigste“ und auch die „allerungünstigste“ wäre.90 Seipel verstand unter dem „Nationalitätsprinzip“, dass „der Staat seiner Idee nach nichts anderes sei als die politisch unabhängig gewordene Nation und daß darum jede Nation, […] notwendig danach strebe, für sich einen Staat zu bilden“,91 weswegen
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Vgl. Catherine HOREL, Multi- und Plurikulturalismus in urbaner Umwelt. Nationale und soziale Vielfalt in den Städten der Habsburger-Monarchie 1867– 1914, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG) 113, 3–4(2005), S. 349–361, hier S. 351–356. EÖTVÖS, Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Oesterreich, S. 17. Aurel C. POPOVICI, Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich. Politische Studien zur Lösung der nationalen Fragen und staatsrechtlichen Krisen in Österreich-Ungarn, Leipzig 1906, S. 63. Ignaz Seipel definierte die Nation als eine „Schicksalsgemeinschaft“. Er begriff sie als das Produkt einer historischen Entwicklung. Allerdings bezeichnete er auch den Staat als Schicksalsgemeinschaft, nämlich verschiedener Völker, Stämme, Familien und Individuen, die aufgrund eines gemeinsamen Territoriums zu einer dauerhaften politischen Einheit höchster Ordnung zusammengefügt seien. Was Nation und Staat aber unterscheiden würde, sei die Art der Schicksalsgemeinschaft, „nämlich hier Gemeinschaft des politischen Schicksals, dort des kulturellen!“ In diesem Sinne hatte Seipel seinen Nationsbegriff nicht an der Vorstellung physiologischer Verwandtschaft (Rasse) aufgebaut. Vgl. Ignaz SEIPEL, Nation und Staat, Wien–Leipzig 1916, S. 9. SEIPEL, Nation und Staat, S. 14. Ebenda, S. 72. Lapidarer hatte der Schweizer Staatsrechtler Johann Kaspar Bluntschli (1808–1881) dieses Prinzip definiert: „Jede Nation Ein Staat. Jeder Staat Ein nationales Wesen.“ Johann Kaspar BLUNTSCHLI, Lehre vom mo-
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in „Mitteleuropa“ keine Verhältnisse von „friedlicher Dauer“ möglich wären. Denn dazu wären hier die Völker viel zu sehr „ineinandergeschachtelt“. Die territorialen Grenzen deckten sich nicht mit der Verteilung der Sprachgruppen und die „nationale Vielgestaltigkeit“ würde noch durch die „vielfach zerfaserten und zahnartig ineinandergreifenden Ränder der verschiedenen Nationen“ potenziert. Seipel sah die Auswüchse nationaler Authentisierung nach 1918 auf seine Art voraus, als er von der „Aufsaugung“ schwächerer Nationen durch überlegene sprach und von der Neigung „stärkerer Nationen“, die „schwächeren abzustoßen“.92 In der Tat wurde die Zugehörigkeit zu einer angeblich überlegenen Nation – in Österreich z.B. zur deutschen – bald zum schlagenden Argument, um den Anderen, waren es Tschechen, Juden, Ungarn, Italiener, Kroaten oder andere Slawen, das dominierende nationale Narrativ aufzuprägen oder um sich von ihnen abzugrenzen: „Genau wie heute“, schrieb Freud im Mann Moses (1939), „hielt sich auch damals jede Nation für besser als jede andere.“93 Sigmund Freud bezeugte bloß, was Joseph von Eötvös am Nationalprinzip kritisiert hatte, nämlich sich unter dem Vorwand höherer Begabung zur Herrschaft berufen zu fühlen.94 Der Staatsrechtswissenschaftler Edmund Bernatzik (1854– 1919) verknüpfte mit dem Nationalgefühl „unwillkürlich eine Fremdheit, ja Feindschaft zu den übrigen“, um die Schlussfolgerung zu ziehen: „In jeder ihrer selbst bewußt gewordenen Nationalität steckt der Trieb, die übrigen Nationalitäten zu beherrschen.“95 Der Staatsmann und Jurist Karl Renner (1870–1950), der als Architekt des demokratisch-republikanischen Österreich bezeichnet werden kann, bekämpfte in anklagendem Tonfall den „Aberglauben“, dass „der Staat […] in der Geschichte der Welt keine andere Rolle und Zukunft“ habe, „als das Gefäß abzugeben für den Machtwillen je einer Nation und ihrer herrschenden Klassen.“96 Und der Schriftsteller Hermann Bahr (1863–1934) prophezeite: „Der Nationalstaat hat keinen Ausweg als in den Imperialismus.“97 So wie dem österreichisch-englischen Soziologen Friedrich Hertz war diesen Autoren eines nicht verborgen geblieben,
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dernen Staat. 3 Bände. Band 1: Allgemeine Staatslehre, Aalen 1965 (Original 6 1886) [„Die nationale Staatenbildung und das Nationalitätsprincip“], S. 103– 118, hier 107. SEIPEL, Nation und Staat, S. 68, S. 84, S. 73. FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, S. 213. EÖTVÖS, Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Oesterreich, S. 17. Edmund BERNATZIK, Die Ausgestaltung des Nationalgefühls im 19. Jahrhundert. Rechtsstaat und Kulturstaat, Hannover 1912 (Beiträge zur staats- und rechtswissenschaftlichen Fortbildung 6), S. 7. Karl RENNER, Oesterreichs Erneuerung. Politisch-programmatische Aufsätze, Wien 1916, S. 43. Hermann BAHR, Der Österreicher, in: Salzburger Chronik. Wochenblatt für den Bauern-, Gewerbe- und Arbeiterstand, LI (1915) [Weihnachtsbeilage], S. 2.
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nämlich dass das Attribut ‚national‘, wie immer es auch definiert wurde, hauptsächlich einen Standpunkt stärkte: nämlich den der Macht.98
2.5 D IE H ERAUSFORDERUNG DES H ETEROGENEN : K ULTUR , I DENTITÄT UND E THNIZITÄT RECONSIDERED Verstärkt reflektieren die neuen Kulturwissenschaften kritisch darüber, dass die bedeutungskonstituierende Funktion von Kultur insbesondere im Nationalstaat eine machtbezogene war und zum Teil noch ist. Hier verfahren sie selbstreflexiv99 und empirisch-interpretativ.100 Der kulturwissenschaftliche Kulturbegriff leistet sonach zumindest zweierlei: Zum einen überwindet er den kanonisch gefestigten Begriff von Kultur zur Bezeichnung von Kunst und Literatur, Wissenschaft und Religion; zum anderen gibt er mit der Zurückweisung des Versprechens ‚substanzieller Gleichartigkeit‘ durch Kultur einem offenen Kulturverständnis den Vorzug. Er beschreibt – Clifford Geertz zufolge – oszillierende symbolische Ordnungen, „ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, […] mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln“, um danach ihr „Verhalten“ bzw. Handeln auszurichten.101 Die Anläufe zur Neufassung eines Kulturbegriffs, der sich politischer Vereinnahmungen entzieht, waren vielzählig und disziplinenübergreifend:102 Der rezente Kulturbegriff, der von der jüngeren Sozial- und Kulturanthropo-
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Vgl. HERTZ, Wesen und Wert der Nation, S. 27. Vgl. Urte HELDUSER, Thomas SCHWIETRING (Hg.), Kultur und ihre Wissenschaft. Beiträge zu einem reflexiven Verhältnis, Konstanz 2002, S. 7–27. 100 Vgl. Clifford GEERTZ, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 2007 (stw 696) (Original 1973), S. 9: „Den Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich […] zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine […], dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Die Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.“ 101 GEERTZ, Dichte Beschreibung, S. 46, und vgl. DERS., Kulturbegriff und Menschenbild, in: Rebekka HABERMAS, Niels MINKMAR (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie, Berlin 1992 (Original 1973), S. 56–82, hier S. 70, und HALL, Das Spektakel des ‚Anderen‘, S. 119. 102 Einen ausgezeichneten Überblick bietet Dirk BAECKER in seinem Artikel „Kultur“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. Karlheinz Barck [u.a.]. Band 3, Stuttgart–Weimar 2001, S. 510– 556.
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logie wesentliche Impulse erfährt,103 korreliert mit älteren Konzepten von Claude Lévi-Strauss (1908–2009), der Kultur als „Lebensform“ versteht, als Summe aller Prozesse und Fakten, aus denen sich das Alltagsleben zusammensetzt, oder mit dem von Raymond Williams (1921–1988): Kultur als eine ganze umfassende Lebensweise („a whole way of life“).104 Neuerdings wird Kultur als ein dynamischer Prozess aufgefasst, in dem das, was Kultur in der Praxis ein- bzw. ausschließt, ständig mitreflektiert und verhandelt wird. Der Kulturbegriff bezieht sich nicht auf überlieferte ‚Kulturbestände‘, also das, was eine Gruppe hat oder nicht hat, sondern auf das ‚Gemachte‘, mitunter auch nur auf das zur Selbstvergewisserung Inszenierte, daher aber auch Aushandelbare. In diesem Zusammenhang hat sich zur Beschreibung von Kulturen das Konzept der Performanz als produktiv erwiesen.105 Der Kulturbegriff wird heute zumeist im Plural verwendet. Konzepte wie ‚Inter‘- bzw. ‚Transkulturalität‘ unterstreichen die zunehmende „innere […] Differenzierung und Komplexität“ sowie die globale „externe Vernetzung“ der „modernen“ Kulturen.106 In diesem Sinne werden sie auch von Vertretern der Cultural bzw. der Postcolonial Studies begriffen. Stuart Hall konzeptualisiert Kulturen als ein „Gewebe von Gleichheiten und Differenzen“, „das sich der Aufspaltung in starre Gegensätze entzieht.“107 Homi K. Bhabha zufolge sind Kulturen „niemals in sich einheitlich“ und auch nicht „einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen“.108 Auch Edward Said (1935–2003) zufolge sind sie „weit davon entfernt, einheitliche, monolithische oder autonome Gebilde zu sein“. Sie nehmen „tatsächlich mehr ‚Fremdes‘, Andersheiten und Differentes auf, als sie bewußt ausschließen.“109 Und alle Kulturen seien ineinander verstrickt; keine sei „vereinzelt und rein, alle seien hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nichtmonolitisch.“110 Dieser neue, selbstreflexive Zugriff auf Kultur ist hilfreich, soll der Blick auf den komplexen „Kommunikationsraum Zentraleuropa“ (Moritz Csáky) geschärft werden. Dieser wurde zwar von nationalistischen Aktivis-
103 Vgl. Alan BARNARD, Jonathan SPENCER, Culture, in: DIES. (eds.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, S. 136–143. 104 Raymond WILLIAMS, Culture and Society 1780–1950, London 1958, S. 16. 105 Zur kulturwissenschaftlichen Wende des Performanzbegriffs vgl. Uwe WIRTH (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002 (stw 1575). Erika FISCHER-LICHTE, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002 (es 2373). Lutz MUSNER, Heidemarie UHL (Hg.), Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften, Wien 2006. 106 Wolfgang WELSCH, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela SCHNEIDER, Christian W. THOMSEN (Hg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, S. 67–90, hier S. 67 und 71. 107 Stuart HALL, Die Frage des Multikulturalismus (Original 2000), in: DERS., Ideologie, Identität, Repräsentation, S. 188–227, hier S. 196. 108 BHABHA, Die Verortung der Kultur, S. 54. 109 Edward SAID, Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, Frankfurt am Main 1994, S. 51. 110 Ebenda, S. 30.
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ten aufzutrennen versucht, „interkulturelle Praktiken“ blieben aber stets in Rivalität zur nationalen Identität.111 Der Kulturbegriff berührt sonach zentrale Aspekte der Selbstvergewisserung, Identität und Ethnizität, Termini, die wie der Kulturbegriff neu definiert wurden. Die jüngeren Identitätskonzepte nehmen Anleihe an konstruktivistischen Ansätzen und an solchen, die den Subjektbegriff noch zu retten versuchen; essenzialistische Standpunkte werden dabei scharf zurückgewiesen. Jan Assmann hat den Begriff der kollektiven Identität, der hier im Vordergrund steht, näher definiert als das Reflexivwerden eines unbewussten Selbstbildes, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren.112 Identität verspricht Stabilität und verleiht Sicherheit. Die Kehrseite davon ist, dass mit ihr gleichzeitig ein Anderes konstruiert wird, das als Bedrohung begriffen und ausgegrenzt werden kann. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den neuen kulturwissenschaftlich-historischen Verwendungszusammenhang des Identitätsbegriffs, in dem der Anspruch auf tiefe Verwurzelung, Wahrhaftigkeit und Authentizität aufgegeben wird. In der Vergangenheit verständigten sich die Sozialwissenschaften auf einen Identitätsbegriff, der das Dauerhafte im Wandel (lateinisch: identitas) bezeichnete. Dass dieser Identitätsbegriff in einer Zeit zunehmender globaler Migrationen analytische Schärfe verliert, zeigt sich an zwei Merkmalen seiner neuen Verwendung: Zum einen werden Identitäten verstärkt als dynamisch, prozesshaft und veränderbar aufgefasst. In diesem Verständnis ist sowohl der Differenz- als auch der Identitätsbegriff unverfänglich: Beide sind weder biologisch definiert noch tief verwurzelt, wesenhaft und stabil. Sie bilden vielmehr „instabile Identifikationspunkte“, Nahtstellen oder Knoten, die sich innerhalb vernetzter Diskurse, in dialogischer Beziehung zwischen Ähnlichkeit und Differenz unter spezifischen Machtverhältnissen ausbilden.113 In der Verwendung des Identitätsbegriffs werden diese ständig mitreflektiert. Demnach bezeichnet er – anders als in seiner essenzialistischen Verwendung – nicht mehr das Wahrhaftige, das Menschen zeitlos miteinander verbindet, sondern vielmehr das Transitorische und Vorläufige.114 Identitäten sind somit nicht dauerhaft, sie werden ständig revidiert. Zum anderen manifestiert sich in der neuen Verwendungsweise, dass Identitäten in dialogischer Beziehung zwischen Ähnlichkeiten und Differenzen ausgebildet werden. Sie dienen der Abgrenzung.
111 Vgl. Oto LUTHAR, Intercultural practices versus national loyalties in the peripheral multiethnic society of Central Europe at the beginning of twentieth century, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. 112 Vgl. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999 (Beck’sche Reihe 1307), S. 130–133. 113 Stuart HALL, Kulturelle Identität und Diaspora (Original 1990), in: DERS., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften. Band 2, Hamburg 1994, S. 26–43, hier S. 27–29. 114 Vgl. u.a. ASSMANN, FRIESE (Hg.), Identitäten, 21999.
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Identität und Differenz bilden sonach zwei Seiten einer Medaille: Sie sind unauflösbar miteinander verklammert, obwohl – oder vielleicht weil – sie brüchig, transitorisch, vorläufig sind. Identität kann folglich nur über die Beziehung zu einem räumlich und zeitlich „konstitutiven Außen“ konstruiert werden.115 Dass Differenzen die zentrale sinn- bzw. bedeutungsstiftende Rolle im Identitätsbildungsprozess spielen, wurde in den Wissenschaften schon um 1900 erkannt: So notierte z.B. Ernst Mach, dass das Ich („Identität“) „mehr“ durch Differenz zu dem, was es nicht ist – „durch die Umgebung“ –, geprägt sei als „durch die psychische Identität“.116 Dank des Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857–1913) wissen wir, dass wir die Bedeutung von beispielsweise ‚schwarz‘ nicht kennen, weil es etwa eine Essenz des Schwarzseins gäbe, sondern weil wir das Schwarze mit seinem Gegenteil kontrastieren könnten. Bedeutung sei demnach relativ, weil relational.117 Dem Literaturwissenschaftler Michail M. Bachtin (1895–1975) zufolge ist die Anerkennung von Differenzen unablässig, weil sich Bedeutung nur durch Unterscheidungen ergäbe. Sie sei demnach von Grund auf dialogisch.118 Schließlich hat die Sozialanthropologie aufgezeigt, dass Kultur auf der Zuweisung von Bedeutungen innerhalb eines klassifikatorischen Systems basiert. Der Kulturwissenschaftler Stuart Hall verweist in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf den großen Stellenwert, den Differenzen für die Bedeutungskonstituierung besitzen. Die Logik der ‚différance‘ (in Anlehnung an Jacques Derrida) gebietet es, dass „die Bedeutung/Identität jedes Begriffs im Verhältnis zu allen anderen Begriffen im System konstituiert wird, und dass er nur in diesem Verhältnis eine Bedeutung hat.“119 Historisch betrachtet ist es kein Zufall, dass schon Sigmund Freud in seiner Schrift zur modernen Sozialpsychologie Massenpsychologie und IchAnalyse (1921) darauf verwies, dass der ,soziale Trieb‘ nicht mehr als „ursprünglich“ und „unzerlegbar“ aufgefasst werden dürfe, sondern erlernt sei, der bzw. das Andere im Seelenleben des Einzelnen somit in verschiedenen Figuren repräsentiert werden könne, „als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner“.120 So wie das Individuum bedarf auch das Kollektiv des Anderen, das ihm dazu verhilft, sich durch Abgrenzungshandlungen als Gruppe zu konstituieren. Dabei ist es allerdings entscheidend, wie Differenzen –
115 Vgl. Stuart HALL, Wer braucht ‚Identität‘? (Original 1996), in: DERS., Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften. Band 4, S. 167–187, hier S. 171. 116 Ernst MACH, Auszüge aus den Notizbüchern 1871–1910, in: Rudolf HALLER, Friedrich STADLER (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1988, S. 180. 117 Vgl. Ferdinand DE SAUSSURE, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. von Charles Bally, Berlin [u.a.] 32001 (Original 1916). 118 Vgl. Michail BACHTIN, The Dialogic Imagination. Four Essays, ed. by Michael Holquist, Austin–London 101996 (Original 1981). 119 HALL, Die Frage des Multikulturalismus, S. 218. 120 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 73.
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insbesondere im interkulturellen Fall – bewertet werden: als vorläufig und verschiebbar oder als wesenhaft und stabil. In der neuen Auffassung von kultureller Identität, von der hier die Rede ist, existieren kulturelle Identitäten mit und durch, und nicht trotz solcher Differenzen.121 Die Anerkennung eines solch instabilen Identitätsbegriffs ist aber oftmals mit einer schmerzhaften Erfahrung verbunden, sind wir doch aufgefordert, lieb gewonnene Referenzpunkte zu revidieren.122 Stuart Hall spricht in diesem Zusammenhang von den „zersetzenden Einflüssen“ der multikulturellen Frage, denen sich die Kulturen des Westens nur allzu gerne verschlössen. In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion spiegelt sich dieses Problem einmal mehr darin, dass der allgegenwärtige Identitätsdiskurs oftmals gescholten wird, anstatt die mit Migration verknüpfte Erfahrung verunsicherter Identitäten in einer globalisierten Welt ernst zu nehmen. Der amerikanische Soziologe Rogers Brubaker fordert z.B. die Rückkehr zu einer wissenschaftlich reinen Begrifflichkeit; aufgrund seiner inflationären Verwendung erweise sich der Identitätsbegriff als analytisch wertlose Worthülse: „If identity is everywhere, it is nowhere.“123 Seine Schlussfolgerung lautet, dass der Terminus der Identität gänzlich verzichtbar sei, da seine „weiche“, elastische Konzeptualisierung als multipel, fluid, fragmentarisch etc. ihn als analytische Kategorie für „harte“ Identitätspolitik unbrauchbar mache. In ähnlichem Tonfall diagnostizierte der deutsche Historiker Lutz Niethammer eine „unheimliche Hochkonjunktur“ des inhaltsleeren Identitätsbegriffs in den letzten Jahrzehnten und erklärte „kollektive Identität“ sogar zum unnötigen, modischen „Plastikwort“, ohne aber überzeugende Alternativen für den abgeurteilten „identity-talk“ zu liefern.124 Die Argumentationsfronten sind verhärtet. Eine ähnlich wechselvolle Karriere durchlief auch der Ethnizitätsbegriff, der in Zentraleuropa Anfang des 20. Jahrhunderts verstärkt auftauchte. Zunächst diente er wohl als Surrogat für den ‚materialistischen‘ Rassebegriff, von dem sich mancher Intellektuelle bald abgewendet hatte. Allerdings war auch der Ethnizitätsbegriff nicht minder biologistisch aufgeladen. Somit veränderte sich mit seiner Verwendung zwar die begriffliche Hülle, die Vorstellung von der Sache aber nicht notwendig. Im zeitgenössischen Gebrauch
121 Vgl. u.a. Stuart HALL, Paul DU GAY (eds.), Questions of Cultural Identity, Los Angeles [u.a.] 2008. 122 Vgl. HALL, Die Frage des Multikulturalismus, S. 202–215. 123 Rogers BRUBAKER, Frederick COOPER, Jenseits der Identität, in: Rogers BRUBAKER, Ethnizität ohne Gruppen, Hamburg 2007 [Original: DERS., Ethnicity without Groups, Cambridge, Mass.–London 2004], S. 46–95 [Original: DIES., Beyond ‚identity‘, in: Theory and Society 29, 1(2000), S. 1–47, hier S. 1]. 124 Lutz NIETHAMMER (unter Mitarbeit von Axel Doßmann), Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek bei Hamburg 2000, und Hans-Ulrich WEHLERS Niethammer-Kritik in seiner Rezension: Identität. Unheimliche Hochkonjunktur eines ‚Plastikworts‘, in: DERS., Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays, München 2003, S. 147–155.
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des modernen Schlagworts ‚ethnisch‘ schwang nach dieser (ersten) „kulturalistischen Wende“, die sich nach Mark Terkessidis in den 1920er-Jahren vollzog,125 oftmals ein vorschreibender Unterton mit. Der Begriff der ‚ethnischen Gemeinschaften‘ als Bezeichnung vermeintlich wesensverschiedener Gruppen wurde daher nicht nur als etwas aufgefasst, das analytisch erklärt werden sollte, er lieferte (ebenso wie der Kultur- und Volksbegriff) den Sozial- und Geisteswissenschaften vielmehr selbst eine Schablone sozialer Hierarchisierung.126 In dieser „primordialen Codierung“127 fand der Ethnizitätsbegriff u.a. in der Anthropologie lange Zeit Verwendung. Man analysierte weniger die Beweggründe dafür, dass sich ethnisch definierende Gruppen durch Abstammung (Blutsverwandtschaft) und/oder sprachlichkulturelle Traditionen (Sitten, Mythen, Bräuche) miteinander verbunden fühlten, sondern übernahm diese Begriffe der Selbstvergewisserung für gewöhnlich unreflektiert für die wissenschaftliche Analyse und Klassifikation. Demzufolge begriffen manche Aktivisten der Ethnisierung das Ethnische nicht als etwas Konstruiertes, sondern als eine vermeintliche Substanz. In der Anthropologie bildete Fredrik Barths bahnbrechendes Vorwort zu Ethnic Groups and Ethnic Boundaries (1969)128 den Auftakt zu einem Perspektivenwandel, nach dem Ethnizität als eine artifizielle, dynamische, prozessuale Denkkategorie begriffen wird.129 Im Zuge der „ethnischen Erneuerung“130 der letzten Jahrzehnte wird der Begriff der ‚ethnischen Identität‘ wieder als eine Art ‚natürliche‘ Vorausset-
125 Mark TERKESSIDIS, Wir selbst sind die Anderen. Globalisierung, multikulturelle Gesellschaft und Neorassismus, in: Christoph BUTTERWEGGE, Gudrun HENTGES (Hg.), Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik. Zweite, aktualisierte und überarbeitete Auflage, Opladen 2003, S. 231–252, hier S. 232f. DERS., Psychologie des Rassismus, Opladen–Wiesbaden 1998, S. 93–98. 126 Vgl. Samuel SALZBORN, Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt am Main–New York 2005 (Campus Forschung Band 880), S. 38–53. 127 Der deutsche Soziologe Bernhard Giesen verdeutlicht: „Wenn die Unterscheidung zwischen Innen und Außen auf Geschlecht oder Generation, Verwandtschaft oder Herkunft, Ethnizität oder Rasse beruht, dann sprechen wir von primordialen Codierungen.“ Bernhard GIESEN, Codes kollektiver Identität, in: Werner GEPHART, Hans WALDENFELS (Hg.), Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt am Main 1999 (stw 1411), S. 13–43, hier S. 18. 128 Fredrik BARTH (ed.), Ethnic Groups and Ethnic Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, Bergen–Oslo 1969. 129 Vgl. Sergey SOKOLOVSKII, Valery TISHKOV, Ethnicity, in: BARNARD, SPENCER (eds.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, S. 190– 193. Zur jüngeren Diskussion um den Ethnizitätsbegriff vgl. Richard JENKINS, Rethinking Ethnicity, London [u.a.] 22008. BRUBAKER, Ethnizität ohne Gruppen, 2007. Thomas Hylland ERIKSEN, Ethnicity and Nationalism. Anthropological Perspectives, London [u.a.] 22002. 130 Peter BURKE, Sprache und Identität im Italien der Frühen Neuzeit, in: DERS., Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1994, S. 9–29, hier S. 9.
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zung von nationaler Zugehörigkeit verstanden. Wird ein solcher „sense of belonging“ aber als Ausfluss eines „sharings“ von Kultur, Geschichte und Tradition aufgefasst, so übersieht eine Anthropologie, die mit „ethnic identity“ eine „quality of sameness“ verbindet,131 dass sie den Begriff der ‚ethnischen Identität‘ – im Sinne von „Zugehörigkeit zu einem Volk“ bzw. „Artgleichheit“ (Carl Schmitt)132 – wieder als Ressource für unheilvolle politische Absichten verfügbar macht. Das vorschreibende Moment, das dem Ethnizitätsbegriff anhaftet, wird sonach unterbewertet, ethnische Identität in der Analyse auf „shared traditions“, bald aber auf gleiche Abstammung, vielleicht sogar auf ‚Blut und Boden‘ zurückgeführt: „In this way“, so kritisiert der Anthropologe Thomas H. Erikson die Verwendung des Begriffs ‚ethnische Organisation‘, „every ethnic ideology offers a feeling of cultural belongingness and security.“133 Im Hinblick darauf spricht Ulrich Beck von einer „Legende“, die bis heute ihre „blutige Kraft“ bewahrt habe,134 und der Soziologe Sighard Neckel stellt klar: Ethnizität sei ein politisch-bürokratisches Konstrukt, in dem sich Machtansprüche manifestierten. Das Material für Vorgänge politischer Konkurrenzierung lieferten oftmals kulturelle Traditionen.135 Der substanzialistischen Verwendung des Ethnizitätsbegriffs widersetzt sich auch der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Werner Sollors, der von einer „Invention of Ethnicity“136 spricht und diese als ein reduktionistisches Surrogat des modernisierungsinduzierten Verlusts von Sicherheiten begreift. Zugleich wird das in der Vorstellung ‚ethnischer Gemeinschaften‘ mitschwingende Homogenitätsversprechen auch als Anker-
131 Reginald BYRON, Identity, in: BARNARD, SPENCER (eds.), Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, S. 292. 132 Carl SCHMITT, Verfassungslehre, München 1928, S. 227. DERS., Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 31935 (Der deutsche Staat der Gegenwart 1), S. 42–46. 133 Thomas Hylland ERIKSEN, Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology, London–Sterling, Virginia 22001, S. 267. 134 Ulrich BECK, Wie aus Nachbarn Juden werden. Zur politischen Konstruktion des Fremden in der reflexiven Moderne, in: Max MILLER, Hans-Georg SOEFFNER (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main (stw 1243), S. 318–343, hier S. 338. 135 Vgl. Sighard NECKEL, Politische Ethnizität. Das Beispiel der Vereinigten Staaten, in: Birgitta NEDELMANN (Hg.), Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 35), S. 217–236, hier S. 222–223, und DERS., Gefährliche Fremdheiten. Notizen zu Zygmunt Bauman, in: DERS. (Hg.), Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 227–233. 136 Werner SOLLORS (Hg.), The Invention of Ethnicity, New York [u.a.] 1989. Georg ELWERT, Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von WirGruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41, 3(1989), S. 440–464. DERS., Nationalismus, Ethnizität und Nativismus – über die Bildung von Wir-Gruppen, in: DERS., Peter WALDMANN (Hg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken–Fort Lauderdale 1989 (Spektrum 21), S. 21–60.
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punkt eines in die Zukunft projizierten Anspruchs auf Höherwertigkeit, Herrschaft und Wahrung von Macht entlarvt. Auch wenn das Ethnizitätskonzept als intellektuelle Erfindung zu solchen Zwecken verstanden wird, steht dennoch außer Zweifel, dass sich so genannte ‚ethnische‘, d.h. als ethnisch vorgestellte Konflikte in der sozialen Wirklichkeit oftmals blutig äußerten und äußern. Hiervon zeugt die jüngste Vergangenheit. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Ethnizitätsbegriff auch zu einer Kategorie des Widerstandes avancierte. So entkoppelte Stuart Hall den Begriff der „neuen Ethnizitäten“ (als Ausdruck selbstentworfener kollektiver Identität) von seiner rassistischen Verwendung. Unterdrückte soziale Gruppen begreifen sich wieder zunehmend als Ethnien.137 In diesem Kontext fungiert Ethnizität als einer jener Begriffe, die im Kampf um Verteilungsgerechtigkeit und Handlungsermächtigung im Sinne eines „strategischen Essenzialismus“ (Gayatri C. Spivak) als Artikulationsplattform verwendet werden.138
2.6 P LURIKULTURALITÄT ALS K ONZEPT UND ALS L EBENSFORM Der indische Kulturwissenschaftler Anil Bhatti hat zuletzt den Blick auf Kultur als Praxis durch das Konzept der ‚Plurikulturalität‘ weiter geschärft. Aus postkolonialer Perspektive begreift er Kultur performativ, d.h. als Prozess und im Plural.139 Seinem Ansatz zufolge gibt es zwei Kulturauffassungen: eine, nach der Differenz als ein „Konstituens der Kultur“, und eine adversative, nach der sie als ein „Systemwiderspruch“ eingestuft wird.140 Im plurikulturellen Verständnis sind Differenzen konstitutiv, solange sie verschiebbar und aushandelbar sind. Unterschiede werden als kontingent und
137 Vgl. Clifford GEERTZ, The Integrative Revolution. Primordial Sentiments and Civil Politics in the New States, in: DERS., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 2006 (Original 1973) S. 255–310. 138 Gayatri Chakravorty SPIVAK, Outside in the Teaching Machine, New York 1993, S. 4. DIES., Can the subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien 2007. Der neue Ethnizitätsbegriff will „Geschichte, Sprache und Kultur für die Konstruktion von Subjektivität und Identität“ neu anerkennen, ohne aber das Spiel der Verdrängung, Marginalisierung und Unterdrückung anderer weiterzutreiben. In diesem Sinne, schreibt Hall, „sind wir alle ethnisch verortet, unsere ethnischen Identitäten sind für unsere subjektive Auffassung darüber, wer wir sind, entscheidend.“ Vgl. Stuart HALL, Neue Ethnizitäten (Original 1992), in: DERS., Rassismus und kulturelle Identität. Band 2, S. 15–25, hier S. 23, und Sabine MÜLLER, Blackness und Transnationalismus: One plus One? Überlegungen zu einer exemplarischen Herausforderung zeitgenössischer Historiografie, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 17, 4(2006) [Themenheft: ‚Blackness, transnational‘], S. 10–51. 139 Vgl. BHATTI, Aspekte der Grenzziehung; Postkolonial, S. 356. 140 BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 55.
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von den jeweiligen Machtverhältnissen bestimmt begriffen. Sie werden weder als Störung empfunden noch im Sinne einer Wesensverschiedenheit aufgewertet, um den Anderen auf Distanz zu halten. Das Konzept der ‚Plurikulturalität‘, dem diese Arbeit folgt, setzt sich daher scharf von jeder essenzialisierenden Kulturauffassung ab, die sich vor allem in zwei Konzepten manifestiert: zum einen vom ‚Multikulturalismus‘, der Kulturen als monolithische Blöcke begreift, für Vielfalt wirbt, Andersheit aber zu fixieren versucht und unter Umständen mit einer wertbehafteten Hierarchisierung verknüpft; zum anderen von einem ‚Ethnopluralismus‘, der sich auf eine Kultur vermeintlich ethnisch autochthoner und allochthoner Gruppen bezieht. Auch der neu-rechte ‚Ethnopluralismus‘, der mit dem ursprünglich linksliberalen ‚Multikulturalismus‘ manche Vorstellungen teilt, sich von diesem aber auch in vielem unterscheidet, begreift Kultur als Essenz. Durch die Verteidigung kultureller Differenz verschleiert er geschickt seinen rassistischen Charakter: Die Identität anderer Völker wird respektiert, ihnen aber auch die Pflicht zur Differenz auferlegt, nach dem Motto: ‚Jedem Volk das Seine‘. Dieser verdeckte Rassismus, der am Prinzip des ‚separate but equal‘ Anleihe nimmt, arbeitet jenen politischen Akteuren in die Hände, die kulturelle Vielfalt als unhintergehbare Tatsache auffassen, dem Schutz dieser Vielfalt zuliebe aber Vermischungen bekämpfen und die klare ‚ethnische‘ Segregation verteidigen, um zu zeigen, wer Herr im Hause sei. Der ‚Multikulturalismus‘ wird heute von verschiedener Seite verstärkt kritisiert.141 Für die einen impliziert die Anbetung der Vielfalt notwendig einen Kulturrelativismus. Werde nämlich die Einzigartigkeit jeder Gruppe respektiert, könne unter dem Mantel der Kultur auch Unrecht vollzogen werden. Die ‚Sharia‘ ist nur eines der hinlänglich bekannten Argumente hierfür. Von anderer Seite wird der ‚Multikulturalismus‘ kritisiert, weil Mitglieder einer Gruppe, die sich von Traditionen loszusagen versuchen, auf eine Identität zurückgestoßen und zu ethnischer, rassischer und religiöser Solidarität gezwungen würden. Die Multikulturalisten, so die Kritik, verherrlichten im Anderen eine Abschottung, die sie für sich selbst aus universalistischer Perspektive zurückwiesen. Die Identität des Anderen werde von einem erhöhten Standpunkt aus in protektionistischer Haltung wohlwollend respektiert, der Andere als „eine in sich geschlossene ‚authentische‘ Gemeinschaft“ begriffen. Der „multikulturalistische Respekt vor der Besonderheit des Anderen“ sei aber „nichts anderes als die Behauptung der eigenen Überlegenheit“. Slavoj Žižek spricht von einem „Rassismus, der Abstand hält“.142 Dritte sehen im Multikulturalisten aber den Vertreter einer liberalen Haltung mit universellem und nicht mit kulturrelativistischem Anspruch. Aus
141 Vgl. Johannes FEICHTINGER, Gary B. COHEN, Introduction, in: DIES. (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. 142 Slavoj ŽIŽEK, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998, S. 70f.
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dieser Perspektive versteht sich der ‚Multikulturalismus‘ nicht nur als Aufruf zur Toleranz kultureller Verschiedenheit, sondern auch als Auftrag zum kollektiven Schutz von Minoritäten unter Wahrung der individuellen Rechte. Dieses multikulturelle Modell, das in den 1970er-Jahren in Kanada Verbreitung fand, behandelt die Minoritäten als rechtsgleich, schützt sie aber auch als Teilnehmer einer minoritären Kultur. Von Rassismus könne daher keine Rede sein.143 Aus plurikultureller Sicht herrscht kein Zweifel darüber, dass der Andere – die Minorität – im ‚Multikulturalismus‘ anerkannt und geschützt wird. Allerdings erregt diese Position Anstoß, weil sie jede Kultur auf eine jeweils andere Wesenhaftigkeit reduziert, die nicht verloren gehen darf, was umgekehrt heißt, dass die Wahrung der Diversität zur Pflicht wird. Das Nebeneinander isolierter Parallelgesellschaften kann als selbstverständlich aufgefasst werden. Während der ‚Multikulturalismus‘ für das Dynamische im exotisierten Anderen oftmals blind ist, hellt eine pluralistische Auffassung die Prozesshaftigkeit von Kultur auf, und sie entlarvt die vermeintliche Pflicht zur Diversität als politische Intervention in eine fluide soziale Praxis. Die plurikulturelle Sichtweise trifft sich daher mit jener Auffassung von Kultur, in der Andersheit keinen „Systemwiderspruch“, sondern ein „Konstituens der Kultur“ darstellt. So erübrigt sich in ihr auch der Zwang zur Assimilation und Dissimilation. Abgrenzungen, Divergenzen und Widersprüche sind für Kulturen konstitutiv. Unter diesem Blickwinkel entzieht sich der Kulturbegriff allerdings jedweder Gleichsetzung mit einer angeblichen „volklichen Wesenheit“.144 Kultur wird dabei aus synchroner Perspektive per se als ‚hybrid‘ aufgefasst.145 Die Metapher des ‚Palimpsests‘ wird verwendet, um ihre diachronen Überlagerungen und Verschichtungen ineinander zu beschreiben: Kulturen werden historisch-dynamisch gefasst und als „mehrschichtige Ganzheit“146 betrachtet. Die Auffassung, nach der eine Kultur nach der Vielzahl ihrer historischen Schichten, die sie umschließen, zu bemessen sei, wurde für Europa von Victor Hugo (1802–1885) und für Indien von Jawaharlal
143 Diese Position wird im weitesten Sinne (mit Abweichungen) von zeitgenössischen Sozial- und Kulturphilosophen wie z.B. Will Kymlicka, Charles Taylor und Jürgen Habermas vertreten. 144 DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst 2, S. 13. 145 Zur Hybridität vgl. Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, in: Elisabeth BRONFEN, Benjamin MARIUS, Therese STEFFEN (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion 5), S. 1–29. Jan Nederveen PIETERSE, Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural, in: Ulrich BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998 (Edition Zweite Moderne), S. 87–124. 146 BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 86f.
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Nehru (1889–1964) formuliert.147 Anil Bhatti beschreibt den Palimpsestcharakter der Kultur mit dem, was Ernst Bloch unter anderen Vorzeichen als die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnet hat.148 Die als Palimpsest begriffene Kultur widerspricht jener Vorstellung, die einer angeblichen Ursprungsschicht Authentizität und Wahrhaftigkeit zuschreibt. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die Kultur auch nicht mehr als ‚Krone‘ einer originären Wurzel begreifen, aus der sie ihre vermeintliche Authentizität schöpft, um dank der Wurzeltiefe Vorrechte für sich zu reklamieren. Aus plurikultureller Haltung hat sich die Wurzelmetaphorik überlebt, sie wird mit dem Bild des „Rhizoms“149 (Geflechte) vertauscht. Die Abkehr von der Ursprünglichkeit – ein Terminus, der sich mit der Verwendung des Plurikulturalitätsbegriff als obsolet erweist – scheint für viele schmerzhaft zu sein. Wird dieser vermeintliche Verlust aber in Kauf genommen, so könnte eine ‚mondiale Kultur‘ konzeptualisiert werden, welche sich nicht auf die Vorstellung einer ‚Diversität‘ sich voneinander abschottender ‚KulturMonaden‘ zurückzieht, sondern Hybridität und Palimpsesthaftigkeit als Gewinn verbucht – eine Kultur „in progress“, wie Michael Rössner schreibt, „one which has no fixed roots, no center or origin, but consists of multiple – rhizomatic – relations between the various ethnic, linguistic, religious, social groups which cannot be separated other than by force”.150 Was Anil Bhatti als Zukunftsutopie und Haltung begreift und Michael Rössner als vernüftige Konzeptualisierung der Kultur(en) Europas vor-
147 Victor Hugo verglich in seinen Betrachtungen zur Geschichte (1827) „die große europäische Zivilisation“, nämlich „die griechisch-römische“, mit einem „großen Palimpsest“, vor dem, wenn man die erste Schicht beseitigte, die Etrusker, die Iberer und die Kelten zu finden seien. Victor HUGO, Betrachtungen zur Geschichte, in: Paul Michael LÜTZELER (Hg.), Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt am Main 1982, S. 437–449, hier S. 442. Jawaharlal Nehru griff das Bild des Palimpsests auf, um die Diversität Indiens und zugleich seine Einheit in der Vielfalt zu erfassen. Er verglich den Subkontinent mit einem „ancient palimpsest on which layer upon layer of thought and reverie had been inscribed, and yet no succeeding layer had completely hidden or erased what had been written previously. All of these exist together in our conscious or subconscious selves, though we may not be aware of them, and they had gone to build up the complex and mysterious personality of India.“ Jawaharlal NEHRU, The Discovery of India, New Delhi 1997 (Original 1946), S. 59. Vgl. hierzu ausführlich BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 55–68, und DERS., Aspekte gesellschaftlicher Diversität und Homogenisierung im postkolonialen Kontext, S. 40f. 148 BLOCH, Erbschaft dieser Zeit, S. 69–91. BHATTI, Plurikulturalität und Grenzziehungen, S. 294f. DERS., Aspekte gesellschaftlicher Diversität und Homogenisierung im postkolonialen Kontext, S. 40f. DERS., Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 64. 149 Gilles DELEUZE, Félix GUATTARI, Rhizom, Berlin 1977. 150 Michael RÖSSNER, Mestizaje and hybrid culture: Towards a trans-national cultural memory of Europe and the development of cultural theories in Latin America, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung].
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schlägt, korreliert mit dem, was Dževad Karahasan als „dramatisches Kulturmodell“ bezeichnet, das für Zentraleuropa lange Zeit prägend war. Der bosnisch-österreichische Theaterwissenschaftler, Schriftsteller und Dramaturg exemplifiziert dieses Modell am Beispiel der Stadt Sarajewo als einen Modus des Miteinander-Auskommens. In seinem „Tagebuch der Aussiedlung“151 decodiert er dabei die „oppositionelle Spannung“152 zwischen den Kulturen als zentrales Ordnungsprinzip. Im „dramatisch konstituierten Kultursystem“153, wofür die bosnische Hauptstadt jahrhundertelang stand, waren Auseinandersetzungen (in jedem Wortsinn) für die Identität aller konstitutiv. Aufgrund der Differenzen sahen sich die Angehörigen der verschiedenen Kulturen verpflichtet, „zu kohabitieren und Verhaltensformen zu suchen, die dieses gemeinsame Leben erträglich machten, indem sie bei dieser Suche auch Beziehungen aufbauten, die sich mit einem Goetheschen Ausdruck als ‚Toleranz ohne Gleichgültigkeit‘ bezeichnen ließen.“154 Die Angehörigen einer Kultur vergewisserten sich so jeweils im Spiegel der anderen Gruppen, ohne sie sich einzuverleiben (Assimilation) oder sich vor ihnen abzuschotten (Dissimilation). In Sarajewo habe der jahrhundertelange Umgang mit kultureller Vielstimmigkeit, „in der mich der andere ständig bestätigt und in der ich die ständige Bestätigung des anderen bin“,155 dem „Diktat des Subjekts“, d.h. dem absoluten Ich im Sinne Johann Gottlieb Fichtes, ein Ende bereitet.156 Das Ich habe sich unter diesem Vorzeichen hinreichend relativiert. So sei die Sicht des Anderen vielleicht nicht notwendig verstanden, wohl aber respektiert worden. Diese konstitutive „Lebensform“ manifestierte sich für Karahasan in der Kompetenz, Differenzen an den dafür vorgesehenen Orten dialogisch auszuagieren. Das dramatische Kulturmodell, exemplifiziert an Sarajewo, verweist auf eine praktische Umsetzung dessen, was oben als ‚Plurikulturalität‘ definiert wurde: Hier wird ein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht durch die Fiktion „substantieller Gleichartigkeit“ (Carl Schmitt), sondern vielmehr performativ, d.h. durch das dramatische Spiel, ein Handeln und Ausagieren, gestiftet: „Die Čaršija [der Markt] hebt die auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen bestehenden Unterschiede auf“, notiert Karahasan, „denn sie unifiziert sie in dem, was ihnen gemeinsam ist, was allgemeinmenschlich ist – im Geschäftetreiben, […] in der Liebe und im Neid, in der Solidarität.“157 Diese Art von „Bindung der Unver-
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Dževad KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, Klagenfurt–Salzburg 1993. Ebenda, S. 12. Ebenda. Dževad KARAHASAN, Das Ende eines Kulturmodells?, in: DERS., Fragen zum Kalender. Artikel, Essays, Reden, Wien 1999 (Interventionen 1), S. 70–87, hier S. 77. 155 Ebenda, S. 85. 156 Ebenda, S. 84. 157 KARAHASAN, Tagebuch der Aussiedlung, S. 17.
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bindlichkeit“158 erweitert das Habermas’sche Modell der „kommunikativen Vernunft“.159 Zwar war das „Ende eines Kulturmodells“ (Dževad Karahasan) durch den Zerfall Jugoslawiens vorläufig erreicht, angesichts der Herausforderungen einer neuen kulturellen Vielfalt im Globaleuropa des 21. Jahrhunderts könnte dieses als Lebensform aber Alternativen für die nach wie vor wirkmächtige, auf Herder zurückreichende, die Wirklichkeit des Alltags aber keineswegs befriedigend erfassende Vorstellung ‚ein Staat‘, ‚ein Volk‘, ‚ein Nationalcharakter‘ anbieten. So ist es einer ‚intellectual history‘ vorbehalten, wieder Zugriff auf Modelle der Wissenschaft zu schaffen, die durch konstruktiven Umgang mit der Vielfalt sinnvolle Identitätsstiftungspraktiken für plurikulturelle Räume aufzeigten: nämlich aufgrund – und nicht trotz – der für Zentraleuropa charakteristischen und konstitutiven Differenzen.
2.7 P OLITIK , K ULTUR UND W ISSENSCHAFTSGESCHICHTE Die jüngere Wissenschaftsgeschichte verfährt selbstreflexiv: Hatte sie lange Zeit wissenschaftliche ‚Meilensteine‘ inventarisiert, so begreift und analysiert sie vergangenes Wissenschaftshandeln zusehends als integralen Bestandteil soziokultureller Praxis. Zuletzt wurden die schon im 19. Jahrhundert international vernetzten Naturwissenschaften verstärkt ins Blickfeld gerückt und ihr Potential für Nationalisierungsprozesse untersucht.160 Auch der nicht minder bedeutende geisteswissenschaftliche Anteil an der „Erfindung der Nation“ wurde neu beleuchtet.161 Viele Kultur- und Geisteswissenschaftler fanden darin ihre zentrale Berufung. So liefert der deutsche Kunsthistoriker Georg Dehio (1850–1932), auf den in diesem Zusammenhang in jüngerer Zeit noch wenig verwiesen wurde, nur ein Beispiel, das hier kurz erläutert werden soll.162 Dehio verknüpfte das künstlerische Handeln mit der
158 SANDER, Die Bindung der Unverbindlichkeit, 1998. 159 Vgl. Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990 (stw 891) (Original 1962). 160 Vgl. Mitchell G. ASH, Internationalisierung und Entinternationalisierung der Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert – Thesen, in: Manfred LECHNER, Dietmar SEILER (Hg.), zeitgeschichte.at. Österreichischer Zeithistorikertag 1999, Innsbruck [u.a.] 2000, S. 1–12, und JESSEN, VOGEL (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, 2002. 161 Vgl. u.a. Klaus von SEE, Ideologie und Philologie. Aufsätze zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2006 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 44). 162 Vgl. Helmut BÖRSCH-SUPAN, Georg Dehios ‚Geschichte der deutschen Kunst‘ als Dokument deutscher Geschichte, in: Georg Dehio (1850–1932). 100 Jahre Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, München–Berlin 2000, S. 35– 48.
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Stiftung, Wahrung und dem Ausbau kultur- bzw. deutschnationaler Identität und delegitimierte somit die Kunst als „autonome Macht“. Sein Ehrgeiz war es, eine vollständige Dokumentation der deutschen Kunstdenkmäler, die von den „Zuständen der Volksseele“ Zeugnis ablegten, zu erstellen, um „das Verhältnis der Nation zur Kunst in seiner Ganzheit, in seinen Bedingungen wie in seinen Wirkungen, nach der produktiven wie nach der rezeptiven Seite hin historisch zu erfassen“163: „Wir konservieren ein Denkmal nicht, weil wir es für schön halten“, erklärte Dehio grundsätzlich, „sondern weil es ein Stück unseres nationalen Daseins ist.“ Und weiter: „Denkmäler schützen heißt nicht Genuß suchen, sondern Pietät üben.“164 Denn in dem „Stück nationalen Daseins“, so gab der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl (1858– 1905) Dehio wieder, sei „ein unveränderliches Wertkennzeichen“ gefunden.165 In diesem Sinne unterwarf er die zeitgenössische Wissenschaft von ‚der Kultur‘ dem Herrschaftszweck: „Es ist ein seichter Wahn“, schrieb Dehio, der Verfasser der Geschichte der Deutschen Kunst (4 Bände, 1919– 1934), „dass Macht und Kultur in keinem Zusammenhang stünden.“166 Auch Gustav Pauli (1866–1938), der Autor des vierten Bandes, wusste sich mit seinem ‚Vorbild Dehio‘ einig: Die Wissenschaft sollte die Nationswerdung durch die Darstellung der „nationalen Begabung“ in „deutscher Literatur, deutscher Musik, deutscher Baukunst und deutscher Malerei“ unterstützen, indem sie aufzeigte, dass die Kunst ein „Spiegelbild deutschen Volkscharakters“ sei.167 „Mein wahrer Held“, so Dehio über den Gegenstand der Kunstgeschichte, der sich ihm nicht notwendig aus dem „Wesen der Kunst“, erschloss, „ist das deutsche Volk“.168 Ihren Auftrag sah er aber in einer unzweifelhaften Funktion: Durch die Schilderung deutscher Kunst sollte „das kernhafte Wesen deutschen Geistes“ vermittelt werden, um ein Ziel zu erreichen, nämlich: die „Erweckung des Selbstgefühls im deutschen Volke“.169
163 Georg DEHIO, Deutsche Kunstgeschichte und deutsche Geschichte (Original 1908), in: DERS., Kunsthistorische Aufsätze, München–Berlin 1914, S. 63–74, hier S. 68, S. 74, und vgl. Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler: www.dehio.org [Zugriff: 31.10.2008]. 164 DEHIO, Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert, S. 92. 165 Alois RIEGL, Neue Strömungen in der Denkmalpflege, in: Mitteilungen der k.k. Zentral-Kommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale. 3. Folge. Band 4, Wien 1905, Sp. 85–104. Wieder abgedruckt in: Ernst BACHER (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, Wien–Köln–Weimar 1995 (Studien zu Denkmalschutz und Denkmalpflege 15), S. 217–233, hier S. 220. 166 DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst 2, S. 3. 167 Georg DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst. Band 4: Das Neunzehnte Jahrhundert [verfasst] von Gustav Pauli, Berlin–Leipzig 1934, S. 5f. 168 Georg DEHIO, Vorwort, in: DERS., Geschichte der deutschen Kunst. Band 1, Berlin–Leipzig 21921, S. V. 169 DEHIO, Geschichte der deutschen Kunst 4, S. 5f.
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Zur Überwindung dieses „methodologischen Nationalismus“ (Anthony D. Smith), in den sich die Vertreter verschiedener Disziplinen verstrickt hatten und der das Wissenschaftshandeln nachhaltig prägen sollte, wurden zuletzt verschiedene historiografische Ansätze entwickelt. Jeder dieser Ansatzpunkte nimmt das Moment der ‚Verflechtung‘ in den Blick. Seit einem Jahrzehnt wird u.a. die ‚transnationale‘ Geschichtsschreibung, die hier hervorgehoben werden soll, als ein zielführender Weg der Überschreitung der Nationsfigur diskutiert. Unter diesem Gesichtspunkt richtet sich das Erkenntnisinteresse tendenziell auf die Verschränkungsprozesse verschiedener nichtstaatlicher Akteure über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Die ‚transnationale‘ Geschichte fokussiert demnach auf das, „was jenseits (und manchmal auch diesseits) des Nationalen liegt, sich aber durch dieses definiert – sei es, dass es sich daraus speist oder davon abgrenzt, dass es das Nationale erst konstituiert oder dass es sich um wechselseitige und dynamische Konstruktionsprozesse zwischen dem Nationalen und dem Transnationalen handelt.“170 Zwar wird die nationale Raumvorstellung hier auf „transnationale soziale Räume“171 erweitert, die Schnittstellen jener Zonen, in denen es zu intensiven Interaktionen aller Art kommt, verbleiben aber die ‚harten‘ nationalstaatlichen Grenzen. Zweifelsohne ist es ein Verdienst der ‚transnationalen‘ Geschichtsschreibung, den Blick für inter-nationale Verflechtungen geschärft zu haben; der Nationalstaat wird jedoch als Referenzrahmen aus dieser Perspektive nicht in Zweifel gezogen: „Zumindest ein Nationalgefühl“ nähme in ihr die zentrale und definierende Position der ‚transnationalen‘ Geschichte ein.172 Das ‚transnationale‘ Konzept ist für Vergleichsund Transferanalysen von und zwischen den Nationalstaaten, die eine zentrale lebensweltliche Bezugsgröße darstellen können, zweifellos wegweisend. Ist es aber auch für die historische Analyse jener kulturellen Praktiken und Prozesse hilfreich, die sich von vornherein nicht in oder zwischen klassischen Nationalstaaten abspiel(t)en?173 Zweifelhaft ist, ob historiografische
170 PATEL, Nach der Nationalfixiertheit, S. 11, und vgl. BUDDE, CONRAD, JANZ (eds.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, und geschichte-transnational.clio-online.net [Zugriff: 31.10.2008]. Kritischer: Jürgen OSTERHAMMEL, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 3(2001), S. 464–479. 171 Ludger PRIES, Transnationale soziale Räume. Theoretisch-empirische Skizze am Beispiel der Arbeitswanderungen Mexiko–USA, in: BECK (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 55–86 [Original: Zeitschrift für Soziologie 25 (1996), S. 456–472]. DERS. (ed.), New Transnational Social Spaces. International Migration and Transnational Companies in the early twenty-first Century, London [u.a.] 2001. DERS., Integration als Raumentwicklung. Soziale Räume als Identifikationsräume, in: Johannes MÜLLER, Mattias KIEFER (Hg.), Grenzenloses ,Recht auf Freizügigkeit‘? Weltweite Mobilität zwischen Freiheit und Zwang, Stuttgart 2004, S. 1–44. 172 PATEL, Nach der Nationalfixiertheit, S. 11. 173 Sogar die Bundesrepublik Deutschland, vor deren Hintergrund das transnationale Konzept entwickelt und erweitert wurde, habe sich – Koselleck zufolge –
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Konzepte, die auf die Nation als letzte Instanz epistemologischer Bewährung verweisen, zureichen, um Machtstrukturen und Machtprozesse, die u.a. im Habsburgerreich wirkten, offenzulegen. Hiermit würde wohl auf eine Kategorie zurückgegriffen werden, die selbst Teil des Problems war. Daher ist ein spezifischerer Zugang sinnvoll und erstrebenswert. Ansatzpunkte hierfür können die ‚connected‘, ‚shared‘ bzw. ‚entangled history‘174 sowie die ‚histoire croisée‘175 darstellen: Konzepte, die seit mehr als einem Jahrzehnt unter dem Schlagwort der „Verflechtungsgeschichte“ diskutiert werden, aber auch das, was aus postkolonialer Perspektive weiter oben als plurikultureller Zugriff definiert wurde.176 Zum einen vermitteln diese Ansätze der Kulturgeschichtsschreibung neue Impulse; zum anderen koinzidieren sie auch mit jenen neueren wissenschaftshistoriografischen Verfahren, durch die der Aspekt des Handelns im Wissenschaftsfeld im Verhältnis zu anderen Feldern der Umgebung (Politik, Wirtschaft, Kirche) aufgewertet wird. Durch Zugänge dieser Art wird der Blick auf die Handlungspraxis jener Wissenschaftler geschärft, die das nationale Referenzsystem als Rahmen letzter wissenschaftlicher Bewährung transzendierten. In einer Wissenschaftsgeschichte als Kultur- und Politikgeschichte kann daher der nationale Bezugsrahmen dank solcher Ansätze überschritten werden. Sie transzendiert diesen aber nicht im Sinne eines ‚inter‘- oder ‚transnationalen‘ Zugriffs auf die Vergangenheit, sondern im Zeichen der „RaumZeit-Union“ (Ernst Bloch). Eine Historiografie, welche die Plurikulturalität als Lebensform und -praxis ernst nimmt, kann jenem Wissenschaftshandeln auf die Spur kommen, das sich nicht im „methodologischen Nationalismus“ verfing, sondern reflexivere Modelle für den Umgang mit Differenzen in der sozialen Welt entwarf. Hiervon legen u.a. die Theorien Ernst Machs, Sig-
erst nach der Wende 1989, d.h. der Wiedervereinigung und somit der Ausbildung einer österreichischen Staatsnation (seit 1955) und nach Abschluss der Über- bzw. Aussiedlung und Rückkehr der außerhalb der Bundesrepublik lebenden Deutschen nach ‚Deutschland‘ mit einem nationalen Charakter versehen. Vgl. Reinhart KOSELLECK, Deutschland – eine verspätete Nation?, in: DERS., Zeitschichten, S. 359–380, hier S. 368. 174 Vgl. die frühe Verwendung dieses Konzepts durch Sanjay SUBRAHMANYAM, Connected Histories. Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: Modern Asian Studies 31, 3(1997), S. 735–761. DERS., The Fate of Empires: Rethinking Mughals, Ottomans and Habsburgs, in: Huri ISLAMOĞLU, Peter C. PERDUE (eds.), Shared Histories of Modernity. China, India & the Ottoman Empire, London–New York–New Delhi 2009, S. 74– 108. Sebastian CONRAD, Shalini RANDERIA, Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: DIES. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus, S. 9–49. 175 Vgl. Michael WERNER, De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, und DERS., Bénédicte ZIMMERMANN, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, 4(2002), S. 607–636. 176 Vgl. zuletzt Anil BHATTI, Plurikulturalität und Grenzziehungen. Über eine Erzählung von Sa’adat Hasan Manto, in: FEICHTINGER [u.a.], Schauplatz Kultur – Zentraleuropa, S. 289–296.
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mund Freuds und Hans Kelsens Zeugnis ab, die in vorliegender Arbeit unter diesem erweiterten Blickwinkel neu in Erinnerung gerufen werden: So zeigt sich, dass diese Wissenschaftler in einer Zeit, in der andere zunehmend dem Zauber der Nationalisierung erlagen und sich vielfach in den Aufbau ‚organischer Gemeinschaften‘ verstrickten, nicht als Steigbügelhalter trennender Politik, sondern als räsonierende Zerstörer organizistisch-substanzialistischer Vorstellungen auftraten: Mach, Freud, Kelsen und andere werden hier als Wissenschaftler vorgestellt, die in Wien um 1900 jene Analyseobjekte – ‚Ich‘, ‚Staat‘, ‚Nation‘, ‚Volk‘, ‚Kultur‘ und ‚Sprache‘ – neu bewerteten, die sich als Vehikel sozialer Spaltung profiliert hatten: Otto Neurath (1882– 1945) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951) gebrauchten ‚Sprache‘ völlig neu, nämlich als Mittel der Verständigung und Überwindung von „Zerspaltung“ (Neurath). Hierfür fanden sie objektivierbare Begriffe. Hans Kelsen zeigte einen Weg auf, den Staat nicht – wie Georg Jellinek (1851–1911) – als Macht ausübendes Seinsfaktum – beruhend auf ‚Volk‘, ‚Territorium‘ und ‚Herrschaftsgewalt‘ – zu begreifen, sondern juristischformal zu erklären: Definierte man den Staat lediglich formal – als eine kohärente Ordnung juristischer Normen –, so ließe sich auch in einer von Interessensgegensätzen zerklüfteten politischen Ordnung Einheit erzeugen, ohne dass das Wertgefüge einer Gruppe durch das der anderen verletzt würde. Der Wiener Jurist gab die Begriffe ‚Staat‘, ‚Nation‘ und ‚Volk‘ zwar nicht auf, er nahm aber von ihrer Ummantelung mit einer organizistischen Hülle („Staatspersönlichkeit“) Abstand. Kelsen verwendete sie abstrakt, juristisch. Dadurch veränderte er auch das Kriterium für Zugehörigkeit und Ausschluss: Integration bzw. die Chance auf Partizipation bedurften der Überwindung eines substanziellen Identitätsbegriffs, der auf ‚Abstammung‘, ‚Territorium‘ und ‚kultureller Gleichartigkeit‘ beruhte. Kelsens Schlüsselkonzept der Identität von Staat und Recht fand Aufnahme in seiner wegweisenden Demokratietheorie. Sigmund Freud erarbeitete auf ‚individualpsychologischer‘ Ebene eine Theorie, in der er das unrettbar zerfallene Ich nicht als Absolutum, sondern als relative Identität wieder aufrichtete, d.h. seine Abhängigkeiten vom Anderen (‚Es‘, ‚Über-Ich‘, ‚Umwelt‘) bewusst machte. In seiner Sozialpsychologie definierte er den Begriff der ‚Masse‘ neu: nicht – wie in der Psychologie des 19. Jahrhunderts üblich – substanzialistisch, sondern abstrakt, als eine Ansammlung vieler Ichs in libidinöser Bindung. Schließlich formulierte er in einer Zeit, in der die Zuordnung durch ,Abstammung‘, ‚Ethnizität‘, ‚Volkstum‘, ‚Kultur‘ und ‚Rasse‘ zum zentralen Moment ausgrenzender Selbstversicherung avancierte, einen neuen Traditionsbegriff, der sich von den vorherrschenden Konzepten völlig unterschied. Wissenschaftsgeschichte als Kultur- und Politikgeschichte setzt einen Zugriff zur Vergangenheit im Sinne der in diesem Kapitel definierten Begriffe voraus: einen Wissenschaftsbegriff, durch den der „methodologische Nationalismus“ als handlungsleitendes Prinzip in den Wissenschaften sichtbar gemacht werden soll, der sich ihm aber in der Analyse zu entziehen versucht;
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einen Kultur-, Ethnizitäts- und Identitätsbegriff, der aus historiografischer Perspektive nicht verwendet werden darf, um etwas – wie z.B. Wesensverschiedenheiten – zu begründen, sondern durch den – neu gefasst – vergangene prekäre politische Verwendungsweisen ständig reflektiert werden, sowie schließlich einen Zentraleuropabegriff, der den Raum nicht als strategische Setzung, sondern als ein intellektuelles Konzept begreift, über das die Komplexität der kulturellen Vorgänge annäherungsweise zu erfassen versucht wird.
3. Wissenschaftswandel
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog sich in den Wissenschaften ein „Funktions- und Strukturwandel“ großen Maßstabs. Der deutsche Philosoph Herbert Schnädelbach fasste diesen ebenso einschneidenden wie nachhaltigen Transformationsprozess unter dem Schlagwort der „Dynamisierung“ zusammen. Grundlage für diese Entwicklung bildete ein neues wissenschaftliches „Leitmodell“, mit dem das seit Aristoteles und bis Hegel vorherrschende Wissenschaftskonzept der „Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit“ ersetzt wurde: Die statische Systemwissenschaft, die sich auf die zweckfreie Wahrheitsfindung bezogen hatte, wurde vom Ideal einer zunehmend anwendungsbezogenen „Handlungs- und Interaktions“-Wissenschaft überholt.1 Mit diesem Wandel verschob sich auch das Ziel wissenschaftlichen Tuns: Was Systematisierung war, sollte nun Innovation werden. Auch in Österreich ging in diesen Jahrzehnten die Zeit der ‚metaphysischen‘ Systembildungen zu Ende: Die neue „Erfahrungswissenschaft“, die sich Schritt für Schritt zu etablieren begann, begriff sich weniger als ‚reine‘ Wahrheits-, denn als empirische, induktiv vorgehende und sich durch Fortschritte legitimierende „Forschungswissenschaft“. Schon Zeitgenossen nahmen von dieser markanten Veränderung Notiz. Der österreichische Musikwissenschaftler Eduard Hanslick (1825–1904), der die Musikforschung als selbständige Disziplin begründete, notierte knapp und treffend: „Das ‚System‘ macht allmählig der ‚Forschung‘ Platz“.2 Die sukzessive Ablöse der deduktiv verfahrenden Systemwissenschaft durch eine empirisch-induktive Innovationswissenschaft ging mit Veränderungen einher, die Max Weber aus soziologischer Perspektive als Übergang vom Modell „Bildung durch Wissenschaft“ zu „Wissenschaft als Beruf“ beschrieb. Sie vollzogen sich im Zuge der Herausforderungen forcierter Modernisierung, zu deren Bewältigung die neu gestalteten ‚Forschungslandschaften‘ – „ein komplexes Gebilde lokaler, nationaler und internationaler
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Herbert SCHNÄDELBACH, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 61999 (stw 401), S. 88–137, hier S. 118, S. 106f, S. 118f. Eduard HANSLICK, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst, hg. von Dietmar Strauß: Historisch-kritische Ausgabe, Mainz 1990, S. 23 (Original 21858).
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wissenschaftlicher Institutionen“3 – wesentlich beitrugen. Die Modernisierung der Wissenschaft manifestierte sich in miteinander verschränkten Entwicklungen institutioneller, forschungspraktischer und kognitiver Art. Hinzu kommt, dass sie auch als eine nationale Machtressource erkannt wurde: „Jede Nation“, so verkündete der deutsche Physiker und Physiologe Hermann Helmholtz (1821–1894) in seiner Heidelberger Prorektoratsrede des Jahres 1862, wäre daher „nicht nur an der Ausbildung der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung interessirt, sondern ebensogut an der Ausbildung der politischen, juristischen und moralischen Wissenschaften“ und, wie er hinzufügte, ihrer historisch-philologischen Hilfsfächer.4 Mit der Intensivierung der Tatsachenforschung und einer bisher ungekannten Vielzahl objektabhängiger, auf Empirie gestützter Methoden waren die modernen Forschungseinrichtungen gezwungen, sich neu zu organisieren. So wurde die wissenschaftliche Tätigkeit ‚diszipliniert‘. Die Vertreter einzelner Disziplinen repräsentierten sukzessive kleiner werdende Fächer. Um das breite empirische Material aufzubewahren und für Begriffs- und Gesetzesbildung handhabbar zu machen, wurden die Ordnungssysteme (u.a. Kataloge, Lexika, Register, Sammlungen) verbessert. Universitäten, außeruniversitäre Forschungsstätten und individuelle Wissenschaftler profitierten zusehends von der steigenden Bereitschaft, öffentliche Mittel aufzuwenden. Die Wissenschaften stellten sonach bald einen Machtfaktor im Staat dar, der zur „Entwickelung des Nationalreichthums“ beitragen konnte. Die „Männer der Wissenschaft“ bildeten laut Helmholtz „eine Art organisirter Armee, welche zum Besten der ganzen Nation, und meistentheils ja auch in deren Auftrag und auf deren Kosten, die Kenntnisse zu vermehren sucht“. Keine Nation, so versicherte der deutsche Naturforscher, „welche selbständig und einflussreich bleiben will“, dürfe „zurückbleiben.“5 Insbesondere nicht die „deutsche“, wie er in seiner Innsbrucker Eröffnungsrede für die Naturforscherversammlung 1869 hinzufügte, in der die Wissenschaft jenes „grosse Vaterlande“ repräsentierte, das für ihn so weit reichte, „als die deutsche Zunge“ klang.6 Diese Partizipation am Nationalisierungsprozess hielt die Forscher des 19. Jahrhunderts aber nicht vom Ausbau internationaler Netzwerke ab. In den Wissenschaften stellten „Entinternationalisierung“ und
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Mitchell G. ASH, Die Wissenschaften in der Geschichte der Moderne, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 10, 1(1999), S. 105–129. Hermann HELMHOLTZ, Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaft. Akademische Festrede gehalten zu Heidelberg am 22. November 1862 bei Antritt des Prorectorats (Original 1862), in: DERS., Vorträge und Reden. Zugleich dritte Auflage der ‚Populären wissenschaftlichen Vorträge‘ des Verfassers. Band 1, Braunschweig 1884, S. 117–145, hier S. 141f. Ebenda. Hermann HELMHOLTZ, Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft. Eröffnungsrede für die Naturforscherversammlung zu Innsbruck (Original 1869), in: DERS., Vorträge und Reden. Band 1, S. 333–363, hier S. 363.
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„Internationalisierung“ vielmehr ineinandergreifende Vorgänge dar:7 So konnten sich Wissenschaftler in den Jahrzehnten vor 1914 sowohl als Vertreter einer „deutschen Wissenschaft“8 als auch als Angehörige einer zusehends internationaler werdenden ‚scientific community‘ begreifen. Die Anforderungen dieser veränderten Strukturen erfüllte jener „Großbetrieb der Wissenschaft“9, von dem der Theologe Adolf von Harnack (1851–1930) zur Jahrhundertwende sprach. Der bedeutende preußische Wissenschaftsorganisator und Wissenschaftspolitiker bezog sich dabei nicht etwa auf die „Forschungslabors der Industrie“, sondern – wie Mitchell G. Ash zeigt – auf die „Inschriftensammlungen der Philologen“ und die „Quelleneditionen der Historiker“.10 Die voranschreitende Ausdifferenzierung der Wissenschaft manifestierte sich nicht zuletzt in bestimmten Entwicklungen auf kognitiver Ebene: So rückten u.a. die Suche nach Abgrenzungskriterien und die sich zusehends verfeinernden Methoden ihrer Erforschung ins Zentrum der Analysen.11 Durch den Zerfall der alsbald unüberschaubaren Wissensbestände in miteinander unvereinbare, inkommensurable und einander mitunter sogar widersprechende Wissensvorräte relativierte sich allerdings auch die Vorstellung einer einzigen, kohärenten Wahrheit. Der Budapester Philosoph und Historiker Kristóf Nyíri beschrieb diese Wahrnehmung, die um 1900 in einen „Krisendiskurs“ und in ein „Bedürfnis nach ‚Ganzheit‘“ mündete,12 wie folgt: „Der Wahrheit entschlüpft[e] die absolute Geltung“.13 In Deutschland war seit der Jahrhundertmitte der Empirismus zum federführenden Methodenideal avanciert. Zur Zielscheibe dieser „Naturwissenschaftler-Philosophie“14 wurde vor allem die ‚metaphysische‘ Epistemologie des Deutschen Idealismus. Auch in Österreich wurde das System als Mittel und Ziel der Erkenntnis zusehends verabschiedet: Hier wurde der dominierende objektivistische Wissenschaftsbegriff tendenziell zugunsten subjektivistischer Auffassungen revidiert, das erkennende Subjekt aufgewertet und das ‚absolutistische‘ Wahrheitskonzept relativiert. So wie in Deutschland setzte nach 1848 auch im Kaisertum Österreich die Modernisierung einer oftmals noch vorempirischen Wissenschaft verstärkt ein. Hier wurde mit dem Anbruch des liberalen Zeitalters das empiristisch-positivistische Erkenntnismodell, ein ‚naiver‘ Positivismus, implementiert, dessen Verfechter
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Vgl. ASH, Internationalisierung und Entinternationalisierung der Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert, S. 1–12, hier S. 1–5. HELMHOLTZ, Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, S. 363. Adolf HARNACK, Vom Großbetrieb der Wissenschaft, in: Preußische Jahrbücher 119 (1905), S. 193–201. ASH, Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, S. 34. Vgl. SCHNÄDELBACH, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 96–105. Vgl. Jan ECKEL, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 23–33. NYÍRI, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, S. 19. Vgl. SCHNÄDELBACH, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 110.
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sich erst Jahrzehnte später jene Selbstreflexivität erarbeiteten, die der einleitend skizzierten ‚dritten Position‘ im Widerstreit von Autonomie und Engagement sowie von Objektivismus und Subjektivismus den Weg ebnete. Wandlungsprozesse dieser Art erfassten die einzelnen Wissenschaften allerdings weder zum gleichen Zeitpunkt noch im gleichen Ausmaß. In den Kulturwissenschaften, die in dieser Arbeit im Zentrum stehen, verlief er in Phasen, die – so wird gezeigt – mit den politischen Systembrüchen korrelierten. In der Habsburgermonarchie hatte sich die induktiv verfahrende Wissenschaft weniger von den Vorgaben des Deutschen Idealismus abzugrenzen (wie z.B. von der Vorstellung einer unveränderlichen, objektivierbaren und substanziell beschaffenen Wirklichkeit, die vor der Erscheinung lag), als vielmehr von einer spezifischen, das Staatsnarrativ stützenden objektivistischen Wissenschaftslehre: der so genannten ,österreichischen Staatsphilosophie‘, die gemeinhin mit dem Namen Robert Zimmermann und der ‚österreichischen‘ Herbart-Schule in Verbindung gebracht wird. Die Abkehr von dieser speziellen Form von Systemwissenschaft manifestierte sich zunächst in einer vom „empiristischen Standpunkt“ (Franz Brentano) geprägten Wissenschaftsauffassung, deren zunehmender Stellenwert sich u.a. – wenn auch verspätet – in der Berufung Ernst Machs auf den Wiener Lehrstuhl für induktive Wissenschaften (1895) zeigte. Vom Aufstieg der induktiv verfahrenden Erfahrungswissenschaft legt aber auch der Methodenwandel in den jeweiligen Disziplinen Zeugnis ab: In der ‚Kulturanthropologie‘ erwies sich beispielsweise die ‚armchair‘Methode, d.h. das spekulative Vorgehen der Kulturevolutionisten, für das Verständnis der viel diskutierten ‚Urvölker‘ zusehends als unzureichend. Hier waren es vor allem Eduard Glaser (1855–1908) und Alois Musil (1868–1944), die – aus heutiger Perspektive sozusagen ‚klassisch‘ empirisch-induktiv – umfassende Feldforschungsprojekte in Angriff nahmen.15 Denselben Wandel vollzogen auch Soziologen, Staatsrechtslehrer und Ökonomen: Im Bereich der (als Disziplin erst entstehenden) Soziologie begannen Ludwig Gumplowicz (1838–1909), Gustav Ratzenhofer (1842–1904) und Eugen Ehrlich (1862–1922) statt ‚top down‘ nun via ‚bottom up‘ Gesetzmäßigkeiten des sozialen Zusammenlebens zu erkunden. In der Rechtslehre setzten Felix Stoerk (1851–1908) und Friedrich Tezner (1856–1925) neue Akzente, was – vermittelt über die induktive Methode – darauf hinauslief, die juristische Wissenschaft durch Annäherung an eine Staatslehre auch an die Staatswirklichkeit heranzuführen. Diese Auffassung stand zu der als „rein juristisch“ verstandenen, normativen Methode der so genannten ‚Begriffsjurisprudenz‘, der sich in Österreich vor allem der Staatsrechtslehrer
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Vgl. GINGRICH, Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des ‚frontier orientalism‘ in der Spätzeit der k.u.k. Monarchie, S. 279– 288. DERS., Fredrik BARTH, Robert PARKIN, Sydel SILVERMAN, One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology. The Hall Lectures, Chicago 2005, S. 94–110. DERS., Erkundungen. Themen der Ethnologischen Forschung, Wien–Köln–Weimar 1999, S. 121–124.
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Josef Ulbrich verpflichtet fühlte, in offenem Widerspruch. Der apriorische Blick auf die Faktizität wurde zugunsten einer Analyse aufgegeben, in der dem Subjekt ein neuer Stellenwert eingeräumt wurde.16 Dieser Umbruch manifestierte sich nicht nur in Georg Jellineks Variante des Staatsrechtspositivismus (z.B. in seinem System der subjektiven öffentlichen Rechte aus dem Jahr 1892), sondern auch in Carl Mengers (1840–1921) ökonomischer Werttheorie.17 Als Vater der so genannten österreichischen Grenznutzenschule wies er mit seiner „subjektiven Wertlehre“ das Dogma überindividueller, objektiv bestimmbarer Werte von Gütern zurück.18 Stattdessen ging er in seiner Theoriebildung von der Annahme aus, dass das Subjekt aufgrund knapper Mittel gezwungen sei, zwischen Alternativen abzuwägen und eine rationale Entscheidung – die „unentbehrliche Grundlage“19 ökonomischen Verhaltens – zu treffen, um seine individuellen Bedürfnisse so optimal wie möglich zu befriedigen.20 Im Besonderen verfolgte Menger das Ziel, die Mechanismen des Marktes, auf dem sich die Tauschwerte von subjektiven Wertungen ableiteten, aufzudecken. Hierbei argumentierte er zu gleichen Teilen kausal-analytisch und – auf der Grundlage „innerer Erfahrung“ bzw. psychologischer Introspektion – empiristisch.21 Die mächtige Wirkung des Positivismus als zweiter Etappe des hier diskutierten Wissenschaftswandels hatte dem erkennenden und handelnden Subjekt zu neuer Bedeutung verholfen. Wurde dieses in ein nationales ‚Wir‘ überhöht, so konnte die positivistische Wissenschaft eine Ressource national-liberaler Politik darstellen. Dieser Bewegung entgegentretend, begannen Wissenschaftler in einer dritten Etappe mit der Rolle des Subjekts reflexiv umzugehen und metaphysische Wesensbegriffe (‚Ich‘, ‚Seele‘, ‚Staat‘ usw.) aufzulösen. Die in der Einleitung dieses Buches definierte Gruppe der ‚objektivistischen Subjektivisten‘ setzte sich damit von den beiden direkt politi-
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Vgl. Oliver LEPSIUS, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Stanley L. PAULSON, Martin SCHULTE (Hg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 309– 343, hier S. 324f. Vgl. David F. LINDENFELD, The Practical Imagination. The German Sciences of State in the Nineteenth Century, Chicago–London 1997, S. 245–256. Vgl. Karl PRIBRAM, Geschichte des ökonomischen Denkens. Band 1, Frankfurt am Main 1998 (stw 1356), S. 521–545 [Original: DERS., A History of Economic Reasoning, Baltimore, Md. [u.a.] 1983]. Carl MENGER, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre. Erster, Allgemeiner Theil, Wien 1871, S. 51. Vgl. Erich W. STREISSLER, Wirtschaftliche Entscheidungstheorie als Angelpunkt der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.2: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Wirtschaft, Politik und Recht, Wien 2000, S. 79–124, hier S. 89. Erich Streissler zufolge bestand der spezifische Beitrag der „Österreichischen Schule“ in der These, dass „Nationalökonomie“ nichts anderes sei als Entscheidungstheorie. Vgl. PRIBRAM, Geschichte des ökonomischen Denkens. Band 1, S. 526f., S. 541–545.
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sierenden Wissenschaftsauffassungen des 19. Jahrhunderts ab: einerseits von der idealistischen Idee eines welterschaffenden Ich, die den jeweiligen Nationalismen zuarbeitete, anderseits aber auch von dem systematisierenden Wissenschaftskonzept, das „Wahrheiten an sich“ mit normativen Vorstellungen koppelte. Kurz: Sie begaben sich zum herkömmlichen Objektivismus ebenso auf Distanz wie zu einem (von ihrem Standpunkt aus) ‚naiven‘ Positivismus. Im folgenden Kapitel werden Abschnitte der österreichischen Wissenschaftsgeschichte exemplarisch rekonstruiert. Das Bild, das von ihrem Wandel gezeichnet wird, besitzt notgedrungen an der einen oder anderen Stelle lediglich schlaglichtartigen Charakter. Diese skizzenhafte Umrahmung resultiert jedoch aus der Entscheidung, einer verlaufsorientierten Perspektive den Vorrang einzuräumen, um die Transformationsprozesse als solche schärfer konturieren zu können. Der Bogen, der gespannt wird, umfasst nahezu ein Jahrhundert des Wissenschaftshandelns in der Habsburgermonarchie bzw. Österreich. Die Eckpunkte der Analyse bilden die in der Ära der Unterrichtsreform Leo Graf Thuns implementierte ‚Staatsphilosophie‘ und der Wiener Kreis. Innerhalb dieses zeitlichen Rahmens (1848– 1938) wird nicht nur dem Auftauchen einzelner Strömungen (wie dem Positivismus) Raum gewidmet. Auch auf die entscheidenden Wegbereiter der rekonstruierten Entwicklung – u.a. Theodor Gomperz, Franz Brentano und Sigmund Freud – wird neues Licht geworfen. In diesem Zusammenhang stechen weiters Ernst Mach und Alois Riegl hervor: Letzterer setzte mit dem Begriff des „Kunstwollens“ vielleicht den ersten Akzent der Objektivierung subjektivistisch-relativistischer Auffassungen. Eine ähnlich objektivierende Funktion erfüllten auch der Begriff der „Sprachspiele“ und das spezifische Modell der „Enzyklopädie“, weshalb den Verfechtern dieser beiden Konzepte – Wittgenstein und Neurath – ebenfalls besondere Aufmerksamkeit zuteil werden wird. Dennoch handelt es sich in der Folge keineswegs um isolierte Einzelstudien: Orientierung gibt die Suche nach den Charakteristika des Wissenschaftswandels in Österreich, nach der großen Linie im konkreten Tun konkreter Akteure.
3.1 Ö STERREICHISCHE S TAATSPHILOSOPHIE Die offizielle Wissenschaftspolitik zur Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgte in Österreich tendenziell das Ziel, durch eine objektivistische Wissenschaftslehre die habsburgische Staatsnation zu stabilisieren. Der Objektivismus wurde als das „Hauptcharakteristikum der ,österreichischen‘ Philosophie in ihrer Gesamtentwicklung“22 identifiziert. Er war staatspolitisch opportun, weil – wie der Wiener Historiker Peter Stachel schreibt – mit der anhaltenden Überzeugung „von der – den Status des Subjekts unerheblich
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SIEGEL, Unterrichtsreform. Philosophie, S. 48.
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machenden – objektiven Natur der Wahrheit“ im habsburgischen Vielvölkerstaat auch die ‚subjektivistischen‘ Ansprüche der zu integrierenden Nationalitäten zurückgewiesen werden konnten.23 Die Vertreter dieser Art des Philosophierens konnten dabei an die – durch die Kantsche Vernunftkritik nicht völlig verdrängte – Leibniz-Wolffsche Schulphilosophie anknüpfen. Die in ihr akzentuierte Vorstellung von einer universalen, ‚prästabilierten‘ Harmonie ließ sich als Äquivalent zur ‚österreichischen Staatsidee‘ interpretieren und zu legitimierenden Zwecken verwenden. Die entscheidenden Grundlagen der neuen Wissenschaftslehre lieferten zwei Philosophen: der Österreicher (genauer: der Böhme) Bernard Bolzano und der Göttinger Johann Friedrich Herbart. Der Wiener Philosophieprofessor Robert Zimmermann führte beide Systeme zusammen, um der erste Vertreter der objektivistischen ‚Staatssystemphilosophie‘ in Österreich zu werden. Als ‚Herzensjunge‘ Bolzanos brachte Zimmermann deren Botschaft in seiner Prager Antrittsvorlesung (1852) unmissverständlich auf den Punkt: „Die Krankheit unserer Zeit ist die Subjektivität.“24 3.1.1 Bernard Bolzano Der Philosoph Bernard Bolzano (1781–1848) wirkte zeitlebens in Prag und Böhmen. In Österreich wurde er als der Ahnherr einer antisubjektivistischen Wiener Philosophie eingestuft, in Deutschland aber als Antikantianer von österreichischer und katholischer Herkunft unterbewertet.25 Hier wird der „böhmische Leibniz“26, als der Bolzano auch bezeichnet wird, aufgrund seiner reflexiv-subjektkritischen Wissenschaftsphilosophie als Vorreiter jener ‚autonom-engagierten‘ Wissenschaftspraxis behandelt, von der in diesem
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Peter STACHEL, Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 253–296, hier S. 256. Robert ZIMMERMANN, Was erwarten wir von der Philosophie? Ein Vortrag beim Antritt des ordentlichen Lehramts der Philosophie an der Prager Hochschule gehalten am 26. April 1852, Prag 1852, S. 12. Vgl. David S. LUFT, Austrian Intellectual History before the Liberal Era: Grillparzer, Stifter, and Bolzano. Twenty-Fifth Annual Robert A. Kann Memorial Lecture, in: Austrian History Yearbook 41 (2010), S. 1–10, hier S. 8f. Der amerikanische Historiker David S. Luft erarbeitet ein Konzept von einer „Austrian intellectual history“, das auf die komplexe Begrifflichkeit einer „Austrian tradition“ neues Licht wirft. Luft beleuchtet die unterbewertete „Austrian tradition in German culture“ ebenso neu wie die noch unterschätzte „role of Bohemia (and Moravia) in the Austrian tradition“, – Länder, die er neben Österreich als deren Herzstück begreift. Vgl. David S. LUFT, Austrian Intellectual History and Bohemia, in: Austrian History Yearbook 38 (2007), S. 108– 121, hier S. 120. Zur Biografie Bolzanos vgl. Gregor ZEITHAMMER, Biographie Bolzanos, hg. von Gerhard Zwerschke. Band 4, 2, Stuttgart–Bad Cannstatt 1997 (Bernard Bolzano-Gesamtausgabe).
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Buch die Rede ist: In seiner objektivistischen Wissenschaftslehre delegitimierte er das nationalpolitisch vereinnahmte und überhöhte Subjekt, nicht ohne aber als Theologe, Aufklärer und Erbauungsredner an der Prager Universität sowie als „Böhme deutscher Zunge“ politisch für die wesentliche Gleichheit aller Individuen aufzutreten – sei es im Besonderen konkret das deutsche, sei es das tschechische Subjekt –, d.h. auch für die benachteiligten „Böhmen slawischer Zunge“.27 Sein methodologischer Objektivismus basierte auf dem Versuch, die idealistische Ich- und Subjektzentrierung zu überwinden und einen neuen Weg zu finden, um von subjektiven Vorstellungen zu objektiven Wahrheiten vorzudringen bzw. vom urteilenden Subjekt unabhängige ‚Vernunftwahrheiten an sich‘ zu begründen. In dieser Hinsicht habe Bolzano „eine geistesgeschichtliche Wendung von größter Bedeutung“ vollzogen und „in der Epoche einer weitgehenden Vorherrschaft des Idealismus in Deutschland“ ein System konstruiert, „dessen Fundament […] eine Theorie der absoluten Wahrheit“ gewesen sei.28 Das objektivistische Argumentationsverfahren tritt in seiner Wissenschaftslehre (1837)29, die er mit dem signifikanten Untertitel „Darstellung der Logik“ versah, klar hervor. Hier zielte der Logiker, Priester und streitbare Aufklärer (!) auf den Nachweis „objektiver Wahrheiten“ („Wahrheiten an sich“), deren „Beschaffenheit“ zu entschlüsseln Aufgabe der Wissenschaften sei („Fundamentallehre“). „Wahrheiten an sich“ zeigten sich in „jedem beliebigen Satz, der etwas so, wie es ist, aussagt“, wobei es gleichgültig sei, „ob dieser Satz von irgend Jemand wirklich gedacht und ausgesprochen sey oder nicht“ (beispielsweise ein Satz über die Zahl der Blüten eines Baumes im vergangenen Frühling). „Sätze an sich“ seien objektiv, so Bolzanos trickreiche Prämisse. Seien sie wahr, so nannte er sie „Wahrheit an sich“ (WL § 25).30 Einen wahren ‚Satz an sich‘ bezeichnete er als „erkannte Wahrheit“ oder „Erkenntnis“ (WL §§ 17, 26, 36).31 ‚Sätze an sich‘ seien wiederum aus „Vorstellungen an sich“ zusammengesetzt, die er von bloß subjektiven, individuellen Vorstellungen unterschied. „Wahrheiten an sich“ waren für ihn
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Eduard WINTER, Die Sozial- und Ethnoethik Bernard Bolzanos. Humanistischer Patriotismus oder romantischer Nationalismus im vormärzlichen Österreich. Bernard Bolzano contra Friedrich Schlegel. Eine Dokumentation. Wien 1977 (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 316), S. 15. Roger BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, Heidelberg 1966, S. 51. [Bernard BOLZANO], Dr. B. Bolzanos Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtentheils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter. Herausgegeben von mehreren seiner Freunde. 4 Bände, Sulzbach 1837. Bernard BOLZANO, Wissenschaftslehre, hg. von Jan Berg. Band 11.1, Stuttgart–Bad Cannstatt 1985 (Bernard Bolzano-Gesamtausgabe. Reihe 1. Schriften), im Folgenden im Text zitiert als WL. Bolzano unterschied auch zwischen „Sätzen an sich“ und gedachten oder geschriebenen Sätzen (WL § 19).
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objektive, d.h. zeit-, sprach- und subjektunabhängige Tatsachen.32 Für den „katholischen Philosophen“33 Bolzano bedeutete dies, dass „nicht etwas wahr [wäre], weil es Gott so erkennet; sondern im Gegentheile Gott erkennet es so, weil es so ist.“ (WL §§ 1–45, hier § 25) Im österreichischen Vielvölkerstaat, in dem der Sprachnationalismus die staatsnationale Erzählung zusehends herausforderte, konnte ein Objektivismus dieser Art aber zum Zweck politischer Stabilisierung vereinnahmt werden: Wurde das erkennende Subjekt nicht als letzte Instanz der Erkenntnisbegründung anerkannt, so konnte davon eine Staatspolitik profitieren, die aus der Abwertung subjektiver Anschauung die Delegitimierung zentrifugaler Tendenzen ableitete: „Die Wissenschaft […] hat keine Nationalität“, verlautbarte Robert Zimmermann 1850: „[O]b ein wahrer Gedanke in romanischem, deutschem oder slawischem Kopfe entsprungen ist, kann auf Werth und Wahrheit desselben keinen Einfluss haben, sie hat keinen Geburtsschein, sondern ist überall zu Hause.“34 Dieses Argument benutzte auch Michael Josef Fesl (1788–1864), als er den Wissenschaftshonoratioren Wiens seinen Lehrer Bolzano als einen wahren „Staatsphilosophen“ vorstellte.35 Sein vertrauter Schüler hatte die logisch-objektivistische Karte gezückt, um den Machthabern des von sprachnationalen Ansprüchen zunehmend herausgeforderten Vielvölkerstaats Bolzanos System als politisch-intellektuelle Ressource anzuempfehlen: Wenn es nämlich gewiss ist, dass ein Staat, der wie der unsere aus mehreren kräftigst aufstrebenden und ihrer Besonderheit sich bewussten Nationalitäten besteht, sich nur durch das Einheitliche und allgemein Menschheitliche […] zu einem grossen Ganzen fortschreitend inniger zu verbinden vermag: so muss Bern. Bolzano, dessen Grösse gerade in der objectiven Feststellung der Begriffe, in der durchgreifenden Bewältigung jedes blos subjectiven oder psychologischen Standpunctes liegt, für die heilsamste Entwicklung unserer Zustände mit jedem Tag an Wichtigkeit gewinnen.36
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Vgl. Rudolf HALLER, Bemerkungen über Bolzano und die österreichische Philosophie, in: Helmut RUMPLER (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Frühnationalismus und Restauration, Wien–Köln–Graz 2000 (Studien zu Politik und Verwaltung 61), S. 353–369, hier S. 359–362. Vgl. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 37. Robert ZIMMERMANN, Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität. Eine Antrittsvorlesung, Olmütz 1850, S. 13. Anlass war die Überreichung eines „vollständigen Exemplars“ der Schriften Bolzanos, des unbequemen, 1819 aus dem Lehramt entlassenen Aktivisten der katholischen Aufklärung in Böhmen, an die noch junge Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (1849). Michael Josef FESL, [Ohne Titel], Sitzung vom 17. October 1849, in: Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Classe. Band 3, Wien 1849, S. 156f.
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3.1.2 Johann Friedrich Herbart Auch der deutsche Systemphilosoph und Psychologe Johann Friedrich Herbart (1776–1841), der in der Wissenschaftsgeschichte der Monarchie eine zentrale Rolle spielen sollte, hatte für das erkenntnistheoretische Zentralproblem des 19. Jahrhunderts – das Verhältnis von Subjekt und Objekt – nach einem spezifischen Weg der Vermittlung gesucht.37 Da es sich nicht mehr bezweifeln ließ, dass sich jede Erkenntnis einem erkennenden Subjekt verdankte, durfte eine Erkenntnistheorie, die diese Bezeichnung auch verdiente, seines Erachtens auf die Psychologie nicht verzichten. Einem Aufgehen der Philosophie in der Psychologie stand Herbart allerdings ablehnend gegenüber: Er verteidigte die Philosophie als Systemwissenschaft, indem er ihr die Analyse und „Bearbeitung der Begriffe“38 als neu definierte, aber unersetzbare Aufgabe zuwies. Umgekehrt wurde der Aufstieg der Psychologie zur philosophischen Subdisziplin wesentlich von Herbart beeinflusst. Seine „philosophische Psychologie“39 basiert auf der Anerkennung der subjektiven Erfahrung, auf der sich jedoch noch keine Theorie über die Wirklichkeit aufbauen ließe, weil sich „das Erfahrene ohne Voraussetzung des Verborgenen […] nicht denken lässt.“ Die Psychologie musste also zuerst „die Erfahrung überschreiten.“ Sonach ergab sich „eben das, was in allen Wissenschaften zuerst gesucht wird, und zwar eine allgemeine Theorie“40, durch die Verknüpfung von erfahrungsbezogener Psychologie und begriffsanalytischer Metaphysik. Zur Verschränkung des erkennenden Subjekts mit dem zu erkennenden Objekt hatte Herbart das Verfahren philosophischer Begriffsanalysen um psychologische Aspekte erweitert und damit die Tradition der „philosophischen Psychologie“ begründet.41 Sein Werk bot für die sich ausbildenden Subdisziplinen der Psychologie zahlreiche Anknüpfungspunkte, wie u.a. für
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Zur Biografie Herbarts vgl. Georg WEISS, Herbart und seine Schule, München 1928 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen 8, 35). Christoph Clemens LANDERER, Nietzsche, Herbart und die österreichische Geistesgeschichte, Würzburg 2010 [im Erscheinen]. Gerhard MÜSSENER (Hg.), Johann Friedrich Herbart (1776–1841), Baltmannsweiler 2002. Johann Friedrich HERBART, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Textkritisch revidierte Ausgabe mit einer Einleitung, hg. von Wolfhart Henckmann, Hamburg 1993 (Philosophische Bibliothek 453) (Original 1813), S. 29, S. 50. Klaus SACHS-HOMBURG, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert. Ihre Entstehung und Problemgeschichte, Freiburg–München 1993. Johann Friedrich HERBART, Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Theil, hg. von G. Hartenstein. Band 5.1.: Schriften zur Psychologie, Leipzig 1850, S. 220, S. 224. Vgl. Klaus SACHS-HOMBURG, Herbart und die Ursprünge der Philosophischen Psychologie, in: Jürgen JAHNKE, Jochen FAHRENBERG, Reiner STEGIE, Eberhard BAUER (Hg.), Psychologiegeschichte – Beziehungen zu Philosophie und Grenzgebieten, München–Wien 1998 (Passauer Schriften zur Psychologiegeschichte 12), S. 61–70, hier S. 64–66.
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die experimentelle (Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt), die klinische (Theodor Meynert) und die pädagogische Psychologie (Gustav Adolf Lindner) sowie die Völkerpsychologie (Moritz Lazarus).42 Insbesondere in Österreich sollte der Herbartianismus mächtig auf die sich ausdifferenzierenden Wissenschaftsdisziplinen der Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Ästhetik wirken und auf einem anderen Weg – oder Umweg – eine nicht unmaßgebliche Rolle in den Wandlungsprozessen der Wissenschaft spielen. 3.1.3 Robert Zimmermann. Zwischen Bolzano und Herbart Der als Ästhetiker international bekannte Wiener Philosoph Prager Herkunft Robert Zimmermann (1824–1898) verfolgte das Anliegen, die Systeme Bolzanos und Herbarts (in erweiterter Form) zusammenzuführen.43 Die Ergebnisse dieser Anstrengung flossen in das von ihm verfasste und über Jahrzehnte obligatorisch verwendete Schullehrbuch Philosophische Propädeutik für Obergymnasien (1852/53; 21860; 31867) ein. Die Vermittlung der beiden genannten philosophischen Systeme war politisch opportun, lag sie doch, wie bereits von der Rezeption Bolzanos bekannt, nicht zuletzt in staatspolitischem Interesse. Aufgrund so mancher Übereinstimmung bot sich die Zusammenführung der beiden Systeme auch an: Herbart und Bolzano verbanden neben der Berufung auf die „dogmatische Metaphysik“ des vorkantischen Systems von Leibniz, das seine „Herrschaft in Österreich noch nicht verloren hatte“44, noch zwei weitere Aspekte. Zum einen wiesen beide den Deutschen Idealismus in seinen subjektphilosophisch überschwänglichen Ausprägungen scharf zurück: Bolzano berief sich zu diesem Zweck auf die dem subjektiven Erkennen zugrunde liegenden objektiven „Vorstellungen, Sätze und Wahrheiten an sich“,45 Herbart auf eine realistische Metaphysik.46
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Vgl. Andreas HOESCHEN, Lothar SCHNEIDER, Einleitung. Der ideengeschichtliche Ort des Herbartianismus, in: DIES. (Hg.), Herbarts Kultursystem. Perspektiven der Transdisziplinarität im 19. Jahrhundert, Würzburg 2001, S. 9– 22, hier S. 13f., und Gustav JAHODA, A History of Social Psychology, Cambridge [u.a.] 2007, S. 48–70. Zur Biografie Robert Zimmermanns vgl. u.a. Martin SEILER, Kurt Blaukopf und Robert Zimmermann: Spuren altösterreichischer Philosophie im Werk eines Musiksoziologen der Gegenwart, S. 185–194. SIEGEL, Unterrichtsreform. Philosophie, S. 29. Zur Wirkung des „Leibnizerbes“ auf Bolzano und Herbart vgl. Robert MÜHLHER, Ontologie und Monadologie in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Die Österreichische Nationalbibliothek. Festschrift, hg. zum 25-jährigen Dienstjubiläum des Generaldirektors Univ. Prof. Dr. Josef Bick von Dipl. Ing. Dr. Josef Stummvoll, Wien 1948, S. 488–504, hier S. 490–492. Denn: „Gäbe es keine Wahrheiten an sich“, schreibt Bolzano, „so könne es auch keine erkannten oder gedachten Wahrheiten geben.“ (Bolzano an Exner, 9.7.1833, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, hg. mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard Winter, Prag 1935, S. 7–17, hier S. 9.) In seiner Wissenschaftslehre führte er aus: „Eines der sichersten und brauchbarsten
122 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT Zum anderen standen beide dem transzendentalen Idealismus Immanuel
Kants zumindest reserviert gegenüber. Kant (1724–1804) hatte insbesondere in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/87) davor gewarnt, die Subjektivität der Anschauung in einer Theorie des Erkennens zu übersehen. Vom ‚Königsberger Weisen‘ zwar mannigfaltig beeinflusst, grenzten sich aber sowohl Bolzano als auch Herbart von ihm ab. Die Distanzierung beider ist in logisch-inhaltlicher Hinsicht (insbesondere bei Herbart) nicht immer und für jeden nachvollziehbar, wurde und wird aber nach wie vor gerne (insbesondere bei Bolzano) als Beleg für ihren – ebenfalls umstrittenen – Antikantianismus angeführt.47 Während, wie u.a. Klaus Sachs-Homburg argumentiert, Herbart in seiner Kant-Kritik am ‚Ziel Kant‘ völlig vorbeigeschossen habe,48 konzedierte man dem böhmischen „Anti-Kant“ Bolzano, den Subjektivismus Immanuel Kants lediglich überzeichnet zu haben, dies allerdings beträchtlich.49 Subjektivistische Spuren entdeckte der logische Objektivist Bolzano aber nicht nur im „subjektiven Charakter“ der Kantschen Erkenntnistheorie,50 sondern auch in der „psychologisierenden Abwandlung des Kantianis-
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Kennzeichen der Wahrheit“ sei die immer wieder erneute Bestätigung eines Urteiles „so oft wir es prüfen“. Da es sich „immer von Neuem bewährt, d.h. immer von Neuem uns aufdringt: so verdient es wirklich unser Vertrauen“. [BOLZANO, Wissenschaftslehre §§ 1–45 (Bernard Bolzano-Gesamtausgabe), hier § 43 (S. 209)]. Herbart hatte die Philosophie als Begriffswissenschaft mit einer auf Erfahrung (Bewusstsein), Metaphysik und Mathematik (nicht aber auf naturwissenschaftlichen Methoden) beruhenden Psychologie verknüpft. Sigmund Freud zufolge war er daher noch „aprioristischen Konstruktionen“ verhaftet geblieben. Vgl. Sigmund FREUD, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, hg. von Walter Boehlich, Frankfurt am Main 1989, S. 116 [Eintrag „Montag, 15. März“ 1875]. Bolzanos Verhältnis zu Kant wurde unterschiedlich bewertet: Stuften ihn die einen als den bedeutendsten österreichischen Antikantianer ein, so bewerteten ihn andere als einen Philosophen, der „sich wohl mehr als er sich selber eingestand, innerhalb des Denkraumes der Kantianer“ bewegte. Karl VORLÄNDER, Geschichte der Philosophie. Band 3, 1. Teilband: Die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, völlig neu bearbeitet und mit Literaturübersichten versehen von Lutz Geldsetzer, Hamburg 1975, S. 51. Auch der schon erwähnte Karl Siegel verwies auf den wesentlichen Einfluss Immanuel Kants (insbesondere in der Ästhetik) auf Bolzano. Vgl. SIEGEL, Unterrichtsreform. Philosophie, S. 20. Vgl. Klaus SACHS-HOMBURG, Herbarts Kantkritik und die Idee einer philosophischen Psychologie. Vortrag, gehalten am Kongress ‚I confini dell’anima. Filosofia e psicologia da Herbart a Freud‘ in l’Aquila, 11.–14. Mai 1994, in: sammelpunkt.philo.at, S. 1–10, hier S. 1–3 [Zugriff: 01.03.2010]. Vgl. Ernst TOPITSCH, Kant in Österreich, in: Philosophie der Wirklichkeitsnähe. Festschrift zum 80. Geburtstag Robert Reiningers (28. September 1949), Wien 1949, S. 236–253, hier S. 248. Vgl. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 37f., S. 52. Insbesondere hatte Bolzano aber die subjektive Willensfreiheit, die Kant zu einer Voraussetzung für wahrhaft sittliches Handeln erklärt hatte, in seiner Ethik für unzutreffend erachtet. Der Zweck der Philosophie war für Bolzano im We-
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mus“ durch Herbart: Er hätte in seinem „Psychologismus“ lediglich „eine neue, gemilderte Form des kantischen Subjektivismus“ vertreten und sich damit nur unzureichend von Kant abgesetzt.51 Als Bolzano in einem Brief an Franz (Serafin) Exner (1802–1853), der an der Universität Prag (1831– 1848) als ordentlicher Professor für Philosophie wirkte, seine Absicht bekundete, „eine kritische Uebersicht der vornehmsten in Deutschland herrschenden oder seit Kant erschienenen Philosophien zu versuchen“, zählten zu den „kritisch“ darzustellenden Denkern nicht nur Kant, Fichte, Schelling und Hegel, sondern auch Herbart.52 Dennoch schätzte Bolzano den Letzteren unter den hier Genannten am meisten. Die verbindende Schnittstelle bildete, wie oben erwähnt, die Leibnizsche Monadologie, an deren Interpretation sich ihre Wege aber auch in so manchem Punkt wieder trennten.53 Von der Auseinandersetzung Bolzanos mit Herbart zeugen, wenn auch unfreiwillig, zwei Schriften des jungen Robert Zimmermann, in denen er sich – zu diesem Zeitpunkt noch ganz Bolzano-Schüler (und von einer ‚Verbindung‘ beider Systeme weit entfernt) – mit Herbarts Interpretation der Leibnizschen Monadenlehre beschäftigte.54 Die Abhandlung, in der er Leibniz’ und Herbarts „Theorien des wirklichen Geschehens“ verglich, fand Bolzanos Anerkennung wohl auch deshalb, weil sich Zimmermann an dessen Meinung über Herbarts Leibniz-Deutung in einer Weise anlehnte, die fast vermuten lässt, dass der Text unter Anleitung Bolzanos verfasst wurde. Den Namen seines Lehrherrn nannte Zimmermann allerdings nicht, eine Verschleierung, die ebenfalls Bolzanos Zustimmung gefunden habe dürfte.55 Der Herausgeber der Werke Bolzanos, Eduard Winter, legte jedenfalls nahe, sich des Umstands bewusst zu bleiben, dass bei Zimmermann „hinter Leibniz“ in der Regel „Bolzano gegen Herbart“ stünde.56
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sentlichen ein sittlich-vervollkommnender. Sie sei die Wissenschaft „von dem objectiven Zusammenhange aller derjenigen Wahrheiten, in deren letzte Gründe nach Möglichkeit einzudringen, wir uns zu einer Aufgabe machen, um dadurch weiser und besser zu werden.“ Bernard BOLZANO, Was ist Philosophie? Aus dessen handschriftlichen Nachlaß, Wien 1949, S. 30. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 52, S. 68. Vgl. Bolzano an Exner, 19.10.1837, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. 112–113, hier S. 113. Vgl. Robert ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart. Eine Vergleichung ihrer Monadologien, Wien 1849, S. 121–150, hier S. 147–150. Eduard WINTER, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. VII–XX, hier S. XIII. Vgl. Robert ZIMMERMANN, Leibnitz’ Monadologie. Deutsch mit einer Abhandlung über Leibnitz’ und Herbart’s Theorien des wirklichen Geschehens, Wien 1847, und DERS., Leibnitz und Herbart, 1849. Vgl. Edgar MORSCHER, Robert Zimmermann – der Vermittler von Bolzanos Gedankengut? Zerstörung einer Legende, in: Heinrich GANTHALER, Otto NEUMAIER (Hg.), Bolzano und die österreichische Geistesgeschichte, St. Augustin 1997 (Beiträge zur Bolzano-Forschung 6), S. 145–236, hier S. 150–155. WINTER, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. XIX.
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3.1.4 Leibniz’ Monadologie. Auffassungsunterschiede zwischen Herbart und Bolzano Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hatte die Monadologie (1714), die letzte zusammenfassende Darstellung seiner Philosophie, in Wien verfasst und seinem Mäzen Prinz Eugen von Savoyen (1663–1736) gewidmet.57 Robert Zimmermann beschrieb Johann Friedrich Herbart, den Begründer der „philosophischen Psychologie“, als jenen Denker, der „die Monadenlehre gewissermaßen von neuem entdeckt“ hätte, um auf ihr sein Modell der „Vorstellungsmechanik“ zu begründen.58 Jedoch knüpfte auch Bernard Bolzano in entscheidenden Aspekten an Leibniz’ Theorie der Monaden an. Beide legten Leibniz’ System jedoch sehr unterschiedlich aus, was nicht zuletzt zu der oben angesprochenen seltsamen Konstellation führte, dass der junge Zimmermann in der Diskussion um die Qualität der Monade zum verdeckten Sprachrohr Bolzanos wurde. Daneben berichten Zimmermanns Schriften auch von Unterschieden zwischen Herbart und Bolzano, was ihre Beziehung zur Philosophie Kants betrifft. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellen sie in Bezug auf das Verhältnis zwischen Herbart und Bolzano nach wie vor eine zentrale Informationsquelle dar. Leibniz zufolge liegt dem, was sich wahrnehmen lässt, ein wahrhaft Seiendes zugrunde, die so genannten Monaden, einfache, unausgedehnte Substanzen bzw. Wesen. Die Wahrnehmung beziehe sich allerdings ausschließlich auf das Haben gewisser Vorstellungen, die sich aber in jeder Hinsicht vom wirklich Seienden unterschieden.59 Zimmermann zufolge habe Leibniz’ Prämisse einfacher, unteilbarer, durch spezifische Perzeptionen gekennzeichneter Monaden Herbart als Ansatzpunkt für seine Theorie der „Realprincipien“ gedient, die er als „isolirt, getrennt, für sich bestehend, wirkens- und leidenlos, unthätig“60 auffasste. Was für Leibniz eine wirkliche Ursache hatte – das Zusammengefasstwerden mehrerer „Realen“, das wirkliche Geschehen –, hätte für Herbart allerdings bloß einen idealen Grund gehabt, nämlich die Vorstellung.61 Diese Leibniz missverstehende These voneinander isolierter seelischer Realitäten, die nebeneinander existierten „ohne andres gemeinsames Band als die Formen des ihnen äußern zusammenfassenden Denkens“, habe Herbart seiner Vorstellungsmechanik zugrunde gelegt.62
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Gottfried Wilhelm LEIBNIZ, Monadologie. Französisch und Deutsch. Zeitgenössische Übersetzung von Heinrich Köhler. Mit der ‚Lebens-Beschreibung des Herrn von Leibnitz verfaßt von dem Herrn Fontenelle‘, hg. von Dietmar Till, Frankfurt am Main–Leipzig 1996. Robert ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart, S. 4. Vgl. ebenda, S. 61f. ZIMMERMANN, Leibnitz’ Monadologie, S. 121. Vgl. ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart, S. 112–114. ZIMMERMANN, Leibnitz’ Monadologie, S. 121.
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Im Gegensatz zu Herbart habe Bolzano einen „im fortschrittlichen Geiste der Zeit corrigirten Leibnizianismus“ vertreten. Und zwar, weil er sich, so Zimmermann, von zweierlei verabschiedet hätte: Zum einen hätte er vermittelt über Leibniz den „reinen Rationalismus“, der „nur Begriffe kennt“, aufgegeben und sich einem „reinen Empirismus“, der „nur Anschauungen kennt“, angenähert, ohne diesen aber zu übernehmen. Dies sei ihm möglich gewesen, indem er „reine Begriffs-(Vernunft-)“ Wahrheiten und „empirische (auf Anschauungen beruhende, Erfahrungs-) Wahrheiten“ voneinander unterschied, die Qualität empirischer Anschauung aber nicht „in deren Ursprung von außen durch die Sinne“ erblickte.63 Zum anderen wäre für Bolzano die „Fensterlosigkeit“ der Monaden und die Unveränderlichkeit der so genannten „Realen“ als Hypothese unhaltbar geworden. Bolzanos „einfache Substanzen“ wären fähig gewesen, aufeinander einzuwirken, sich einander zu- und unterzuordnen. Leibniz’ Monadenlehre habe Bolzano vielmehr Impulse für seine Theorie des „an sich“ Wahren geliefert, das unabhängig davon existierte, ob diese objektiven Wahrheiten jemals von einem individuellen Verstand erfasst worden wären oder nicht. War die letztgültige Bewährungsgrundlage der Wissenschaft aber die Vernunft und nicht der subjektive Sinneseindruck, so war die Psychologie als Methode – die für Herbart notwendige Erweiterung der Philosophie – für diese nicht nur zweitrangig, sondern wertlos, so Zimmermanns scharfes Resümee. 3.1.5 Kant. Der Stein des Anstoßes Zimmermanns Gegenüberstellung der Systeme von Leibniz und Herbart beruhte, wie gesagt, im Großen und Ganzen auf dem Denken und der Philosophie Bernard Bolzanos.64 Aber auch sein Verhältnis zu Kant, den er des Subjektivismus zieh, spiegelte im Wesentlichen die Auffassungen seines Lehrers wider: „Vergleicht man Kant’s Ansicht mit jener Leibnitz’, so scheint es fast, als habe er den Standpunkt einer einzelnen Leibnitzschen Monade gewählt.“ Während aber in dieser sämtliche Vorstellungen von innen erzeugt würden, habe „das Kant’sche Subjekt blos die Form aus eigenem Fonde“ hinzugefügt und die Materie von außen empfangen: „Wie? [D]arüber hat sich das kritische System nie aussprechen wollen und können.“65 Der Angelpunkt seiner Kritik bestand darin, dass Kant mit der Integ-
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Robert ZIMMERMANN, Philosophie und Philosophen in Oesterreich, in: Oesterreichisch-Ungarische Revue NF 6 (1889), S. 177–198, hier S. 198, S. 193, S. 194. Der Unterschied zwischen elementarem Vernunftbegriff und empirischer Anschauung habe für Bolzano darin bestanden, „daß der einfache Begriff den weitesten, die (gleichfalls einfache) Anschauung den engsten Umfang besitze, jener stets mehr als einen, diese schlechterdings nur einen einzigen Gegenstand umfasse.“ Vgl. MORSCHER, Robert Zimmermann – der Vermittler von Bolzanos Gedankengut?, S. 153ff. ZIMMERMANN, Leibnitz’ Monadologie, S. 78.
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ration des wahrnehmenden Subjekts in seine Theorie der Erkenntnis den Blick auf das wahrhaft Seiende verstellt habe. Kant habe, so Zimmermann aus seiner Bolzanistischen Perspektive, „die ganze Erfahrung für bloße Erscheinung erklärt“ und es verabsäumt, „das Seiende als ein solches zu bestimmen, wie es sein muß“. Die „dem Subjecte äußern, nur durch das ideale Band der prästabilirten Harmonie verbundenen einfachen Monaden“ hätten sich dadurch in ihrer ‚Wesenheit‘ in völlig unerkennbare Dinge verwandelt,66 spitzte Zimmermann seine Kritik zu. Daher wüsste „das Denkende“ vom „wahrhaft Seienden“ eben nichts weiter, als dass es „auf was immer für eine Weise Ursache des in uns angesammelten Erfahrungsstoffes“ sei.67 Die „Kant’sche Behauptung eines die Form aller Erfahrung produzierenden Subjectes“ war dem jungen Zimmermann zufolge verantwortlich für den „Idealismus der intuitiven Anschauungsphilosophie“ und die „Unphilosophie“ des Empirismus.68 Zwar hatte sich auch Herbart in manchem von Kant distanziert,69 seine Kantkritik bewahrte ihn aber nicht davor, von Zimmermann (bzw. Bolzano) ebenfalls als Subjektivist verurteilt zu werden. Vorgeworfen wurde ihm vor allem, dass er sich mit der Untersuchung der „Vorstellungen“ von den „Welt- und Naturerscheinungen“ begnügt habe und eine „wahrhafte reale Erklärung der Kausalzusammenhänge ihrer Entstehung (im Leibnizschen Sinne)“ verabsäumt habe: „Der Mittelpunct der Monadenlehre liegt in der realen Welt der Monaden selbst. […]: während der Mittelpunct der Realtheorie [Herbarts] kein anderer ist, als unser eigenes Ich. Jene schafft die Welt, dieses stellt sie nur vor und mit all den Unvollkommenheiten, die sein beschränkter Standpunct in Mitte derselben ihm aufbürdet.“ Daher wäre Herbart die Qualität der Realien ebenso verborgen geblieben wie die Art ihres Verhältnisses zueinander: „Herbart gelangt daher auf diesem Wege nur wenige Schritte weiter als Kant“.70 Was man von Herbarts „Realenwelt“ wüsste, wären allein Begriffe.
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Ebenda, S. 79f. Auch Hans Kelsen, auf den noch ausführlich zurückzukommen sein wird, kommentierte Leibniz’ Monadenlehre: Den Gedanken einer „prästabilierten Harmonie“, gepaart mit der Sehnsucht nach einem „metaphysischen, auf absolute Wahrheit zielenden System“, interpretierte er als Versuch der Insinuierung einer absoluten Weltanschauung im Bereich der politischen Willensbildung. Für Demokratismus und Parlamentarismus seien die realen Differenzen anzuerkennen und im parlamentarischen Verfahren auszuhandeln. Die Erreichung „absoluter Wahrheit, eines absolut richtigen staatlichen Willens“, stellte für Kelsen ein irreführendes Ziel dar, das für ihn mit den Grundprinzipien liberaler Demokratien unvereinbar war. Hans KELSEN, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 359. ZIMMERMANN, Leibnitz’ Monadologie, S. 78f. Robert ZIMMERMANN, Philosophie und Erfahrung. Eine Antrittsrede. Gehalten am 15. April 1861, Wien 1861, S. 16. Vgl. SACHS-HOMBURG, Herbarts Kantkritik und die Idee einer philosophischen Psychologie, S. 2. ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart. Eine Vergleichung, S. 120.
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Aus seiner Herbart-Kritik Schlüsse ziehend, forderte Zimmermann (auch hier wieder als Sprecher Bolzanos) eine „doppelte Bestimmung“ der Metaphysik: Zum einen müsste die „Form aller Erfahrung“ als „unabweislich gegeben“, also subjektunabhängig anerkannt und das „Denkgesetz der Erfahrung gegenüber in voller Schärfe aufrecht erhalten werden.“ Die „echte Erfahrungsphilosophie“ sei gegenüber der empiristischen „Unphilosophie“, der „Realismus“ gegenüber dem „Idealismus“ zu verteidigen. Zum anderen dürfte die Metaphysik das „wahrhaft Seiende“ nicht aus dem Blick verlieren, um zeigen zu können, auf welche Weise sich aus seinen Qualitäten „allmälig eine gerade so beschaffene Erscheinungswelt herausbilden müsse, wie wir sie eben besitzen.“71 Der Kantanhänger Karl Siegel kommentierte später mit scharfen Worten, was er von der Zimmermannschen Kantkritik hielt: „Und da er [Zimmermann] mit Bolzano und Herbart den wahren Charakter der Kantischen Philosophie“ verkannte, konnte er sich derart „polemisch“ gegen sie wenden.72 3.1.6 Zur Kritik der Metaphysik des welterschaffenden Ich Mochten die Motive der Ablehnung des Deutschen Idealismus divergieren, so blieb doch der idealistische Ich-Begriff ein Angriffspunkt, der Bolzano und Herbart vereinte: Bolzano hatte seine Wissenschaftslehre in kritischer Anlehnung an die Wissenschaftslehre von Johann Gottlieb Fichte (1794) verfasst,73 in der das ‚Ich‘ zum Absolutum aufgewertet worden war. Wissen war für diesen etwas, das ein ‚Ich‘ auf ein ihm gegenüberstehendes ‚Etwas‘ projizierte. Heinrich Scholz brachte den von Bolzano gegen Fichte vorgebrachten Vorwurf auf die treffende Formel „Metaphysik des welterschaffenden Ich“.74 Auch Herbart hatte diesen Ich-Begriff verworfen, allerdings, wie oben ausgeführt, um stattdessen für eine Psychologie als Wissenschaft (1824) zu plädieren. Johann Gottlieb Fichte hatte das Ich in seiner Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794) als das absolute Seinsprinzip definiert, das sich in „Ich“ (Welt) und „Nicht-Ich“ (Individualbewusstsein) spaltete. Herbart zufolge war gerade das „ein sehr grosser Fehler“ gewesen, nämlich „das Ich als Absolutum aufzustellen“. So wäre „einer der grössten Denker, die je gewesen sind“, „zum Urheber einer Schwärmerei“ geworden. Da dieser Irrglaube sich „die sogenannte absolute Identität zum Mittelpuncte erkoren“ habe, konnte er „in einem weiten Kreise die Stelle der Philosophie“ besetzen und aus einem noch viel weiteren Kreise die Philosophie verscheuchen, „weil man über der intellectualen Anschauung nicht den Verstand verlieren
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Ebenda, S. 16f., S. 80f. SIEGEL, Unterrichtsreform. Philosophie, S. 30. Bolzano zufolge war die Logik die ‚ultima ratio‘ der Wissenschaft, für Fichte konnte sie nur über die nicht anschaubare Wirklichkeit Auskunft geben. SCHOLZ, Die Wissenschaftslehre Bolzanos. Eine Jahrhundert-Betrachtung, S. 224.
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wollte.“ Während es schon Kant nicht gelungen sei, den Begriff des Ichs ‚vollkommen richtig‘ zu fassen, hätten seine Schüler darüber hinaus auch noch verkannt, es „mit einem vielfach Bedingten zu thun“ zu haben. Diesem Irrtum habe Fichte „zu entgehen“ gemeint, indem er „alle die gefundenen Bedingungen in das Ich selbst einschloss“ und das reine Ich, das alles NichtIch aus sich hervorbrachte, zum „Princip der Philosophie“ erhob und damit einem weiteren Irrtum aufsaß.75 Herbarts Resümee war scharf: Es war ein gewaltsam erzeugter, und eben so gewaltsam festgehaltener Irrthum des Idealismus, das Ich setze sich ein Nicht-Ich entgegen, – als ob die Dinge ursprünglich mit der Negation des Ich behaftet wären. Auf diese Weise würde nimmer ein Du und ein Er entstehn, – nimmer eine andre Persönlichkeit, ausser der eignen, anerkannt werden. Vielmehr, was innerlich empfunden war, das wird, wo irgend möglich, auf das Aeussere übertragen. Daher bildet sich mit dem Ich zugleich das Du […], welches der Idealismus vergass, und vergessen musste, wenn er nicht aus seinen Träumen geweckt sein wollte.76
Die idealistische Vorstellung eines „reinen Selbstbewusstseins“ oder einer „blossen Ichheit“ war für Herbart unhaltbar geworden. An die Stelle des sich selbst setzenden Ich, das sich ein Nicht-Ich als Objekt erschuf, setzte er ein Ich, das er als „eine niemals vollbrachte und nimmer zu vollbringende Aufgabe“ verstand. Dieses Ich, immer verstrickt in die Aufgabe, der „bodenlosen Ichheit den Boden zu bereiten“, bildete sich in der dynamischen Auseinandersetzung mit den Anderen und der Welt der Objekte.77 Das „geheimnissvolle Ich“78 gab Herbart gerne verloren, da er dafür ein Ich gewann, das sich von seinem idealistischen Vorgänger durch seine konkrete raum-zeitliche Erscheinung abhob. Diese Anstrengungen um einen neuen Ich-Begriff hatten Herbart auf die Spur von Leibniz geführt. Im Abschnitt „Rationale Psychologie. Lehrsätze aus der Metaphysik und Naturphilosophie“ seines Lehrbuchs zur Psychologie (1816) definierte er die Seele als ein „einfaches Wesen“: „nicht bloss ohne Theile, sondern auch ohne irgend eine Vielheit in ihrer Qualität.“ Die Seele ließe sich – im Gegensatz zum Ich – weder räumlich noch zeitlich bestimmen, besäße aber auch „gar keine Anlagen und Vermögen, weder etwas zu empfangen, noch zu produciren.“ Er sah in ihr demnach „keine tabula rasa in dem Sinne, als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten“.79 Das Seelenwesen war für ihn unveränderlich.
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HERBART, Psychologie als Wissenschaft, S. 260, S. 251, S. 272, S. 223, S. 259. Johann Friedrich HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, hg. von Margret Kaiser-El-Safti, Würzburg 2003 (Original 1816), S. 137f. HERBART, Psychologie als Wissenschaft, S. 253, S. 276, S. 284. HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, S. 137f. Ebenda, S. 109.
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Diese Annahme bildete die logische Voraussetzung für seine Theorie, dass sich im Wahrnehmungsprozess ein Verhältnis von „Druck und Gegendruck“ zwischen den einfachen Wesen ergeben könne. Denn: In der einfachen Qualität jedes Wesens werde etwas verändert, sofern sich nicht ein jedes in einer Art Selbsterhaltung dieser Störung widersetze. In diesem Verhältnis von „Störung“ und „Selbsterhaltung“ entfaltete sich nach Herbart die phänomenale Welt in Raum und Zeit: die Vorstellungen. Die Grundlage der Vorstellungsbilder bildete allerdings ein besonderes Reales: das Ich (oder wie Zimmermann schreiben sollte: „unser eigenes Ich“).80 Jedoch nicht alle Vorstellungen wären Teil des Bewusstseins. Gab es welche, die einander widerstrebten, so hemmten sie sich wechselseitig und würden unter die Bewusstseinsschwelle gedrückt. Dieses innovative, dynamische, letztlich aber doch noch bewusstseinspsychologische Modell, das er in seinem Lehrbuch zur Psychologie veröffentlichte, wurde als Herbarts „Vorstellungsmechanik“ bekannt. Freud sollte mit diesem Modell in Berührung kommen, es aber letztlich hinter sich lassen. 3.1.7 Zimmermanns Wende Wie gezeigt, wurde Herbarts System von Bolzano ambivalent rezipiert: Der realistische Ich-Begriff Herbarts erschien Bolzano zwar mit dem von ihm vertretenen Objektivismus verträglicher als die idealistische „Metaphysik des welterschaffenden Ich“, von einer hohen Übereinstimmung ihrer Standpunkte zu sprechen, wäre aber überzogen. Bolzano grenzte sich in mehreren Punkten von Herbarts System ab, insbesondere von seiner Lehre der einfachen Substanzen, von denen „jede der Einwirkung der anderen widerstehen“ könnte, sowie von seinem Vorstellungsbegriff: „[D]as Widerstehen, diese Selbsterhaltung sollen die Vorstellungen sein.“ Bolzano verstand unter den „Vorstellungen an sich“ die einfachsten Bestandteile der „Sätze an sich“. Denn mit der Selbsterhaltung der „einfachen Substanzen“ würde „keine eigentliche Veränderung vorgehen, keine Kräfte wachsen u.s.w.[,] sondern alle Vorstellungen, Empfindungen etc. wären blosse Selbsterhaltung, wodurch der Veränderung widerstanden wird.“ Mit den Worten „Mir ist dies undenkbar“ verwarf Bolzano Herbarts Lehre lapidar.81 Eduard Winter brachte die Differenz zwischen beiden Systemen auf den Punkt: Bolzanos konstruktiver „Synthese der Wahrheiten an sich“ stünden Herbarts „heuristi-
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ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart. Eine Vergleichung, S. 120, und vgl. VORLÄNDER, Die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 44. Bernard BOLZANO, Adversarien (wissenschaftliche Tagebücher) 1828/29, S. 4 [Original: Bolzanos Nachlass, archiviert im Literaturarchiv des Museums der Nationalen Literatur in Prag], hier zitiert nach WINTER, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. XIII.
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sche Analytik als Ordnung der Begriffe“ und seine empirische Psychologie unvereinbar gegenüber.82 Dem deutschen Neokantianer Karl Vorländer (1860–1928) zufolge bestand Herbarts großes Verdienst darin, „das erkennende Subjekt als realitätssetzende Instanz“ kritisch aufgelöst und vom Begriff des Scheins und der Erscheinung, auf die sich der Erkenntnishorizont von Kant und der Idealisten beschränkt habe, auf eine vorauszusetzende „,absolute Position‘ des Seins“ geschlossen zu haben: „Wieviel Schein, soviel Hindeutung aufs Sein.“83 In dieser Einschätzung Herbarts als Überwinder des Idealismus konnte Vorländer zu diesem Zeitpunkt auf einen Vordenker zurückgreifen, von dem man dies zunächst nicht erwartet hätte: auf Robert Zimmermann. Die überraschende Wende von Bolzanos ‚Herzensjungen‘ hatte manifeste Gründe: Er war offensichtlich in eine wissenschaftspolitische Zwickmühle geraten. Zunächst Bolzanos Objektivismus verpflichtet, hatte er Herbarts System als ‚idealistisch‘ bzw. ‚subjektivistisch‘ zurückgewiesen. Als sich aber die (vom Architekten der Unterrichtsreform Franz Serafin Exner vorbereitete) Herrschaft des Herbartianismus in Österreich unaufhaltsam abzeichnete, war Zimmermann gezwungen, die Seiten zu wechseln, wollte er nicht im akademischen Abseits landen. Diese schwankende Standfestigkeit mochte Bolzano vor Augen gehabt haben, als er im Mai 1848 in einem Brief an seinen Schüler Michael Josef Fesl klagte: „Man hat höchstens vielleicht den Götzen gewechselt, nicht aber den Götzendienst selbst verlassen!“84 Zimmermann zog sich aus der Affäre, indem er erneut die subjektivpsychologische Heuristik, die seit Kant die Philosophie beherrscht habe, ins Visier nahm, Herbart aber nun als einen Objektivisten vorstellte: Kant habe „die philosophische Forschung aus dem streng objektiv-mathematischen Gange, welchen Leibnitz einhielt, auf das unsichere Gebiet subjectiven Bewußtseins und psychologischer Betrachtung verwiesen“. Das „individuelle Ich“ konnte sich dadurch zur „Alleinherrschaft“ aufschwingen, während die „objektiv an sich seiende Wahrheit“ als eine „rein idealistische Schöpfung des philosophirenden Subjects“ denunziert worden sei. Als würdiger Nachfolger von Leibniz habe Herbart diese maßlose Schwärmerei in die Schranken gewiesen, nämlich in die „festesten mathematischen“.85 In dieser überraschenden Würdigung betonte Zimmermann weiters, dass Herbart der Metaphysik zudem „den Platz an[gewiesen habe], welcher ihr gebührt, als Ergänzung der Erfahrungswissenschaften, als Grundlegung des Wirklichen, so weit diese durch Bearbeitung von Begriffen geliefert werden
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WINTER, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. XIII, und vgl. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 67. VORLÄNDER, Die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 43. Wissenschaft und Religion im Vormärz. Der Briefwechsel Bernard Bolzano’s mit Michael Josef Fesl 1822–1848, hg. von Eduard Winter [u.a.], Berlin 1965, S. 415f. ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart. Eine Vergleichung, S. 7.
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kann. Dadurch wird ihr Feld abgegrenzt, und weder der Empirie noch träumender Speculation in die Hände geliefert. Die Erfahrung, das Positive einerseits, die Begriffe, das Apriorische anderseits bildeten die Factoren, als deren Product seine Metaphysik hervorging.“86 Was Zimmermann ebenfalls als Herbarts Verdienst anerkannte (vielleicht, weil es auch für Bolzano die Grundlage seiner Theorie abgab), nämlich das „an sich“ Seiende gegenüber der subjektiven Erfahrung aufgewertet zu haben, sollte Ernst Mach (mit Verweis auf Herbart) Jahrzehnte später als haltlose Metaphysik verwerfen.87 In den Augen des Antimetaphysikers Mach war – wie später gezeigt werden wird – die Unterscheidung zwischen dem ‚an sich Seienden‘ und der ‚Erscheinung‘ nicht mehr als eine metaphysische Verdoppelung. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte eine objektivistische Epistemologie in Österreich so mancher jungen, aufstrebenden Wissenschaftsdisziplin den Weg gebahnt. Bolzano war ihr Ahnherr gewesen. Alsbald sollte aber das System Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) den Ton angeben und Franz Serafin Exner als „Apostel“ der Herbartschen Philosophie in Österreich,88 welche zu einer Art ‚Staatsphilosophie‘ aufgewertet wurde, tätig werden. In Anbetracht dessen, dass dem neuen Minister für Cultus und Unterricht Thun jede Philosophie, insbesondere die von Herbart, höchst verdächtig war, ist die große Verbreitung, die Herbarts System in Verbindung mit Bolzanos Lehren in Österreich seit der Jahrhundertmitte erfuhr, erstaunlich und bemerkenswert. Darauf wird weiter unten näher Bezug genommen. In Wien stieg Robert Zimmermann nach seiner ‚Wende‘ zum Statthalter Herbarts auf, in Prag sein Schüler Josef Durdík. Genaueres hierzu wird im nächsten Abschnitt berichtet.
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Ebenda, S. 5. Ernst Mach würdigte Herbart dafür, dass er in seinem Lehrbuch zur Psychologie die Idee der Wesensverschiedenheit von Psychischem und Physischem auf den Prüfstand gestellt hatte. Hier heißt es: „Der Gegensatz zwischen Seele und Materie ist nicht ein solcher in dem Was der Wesen, sondern es ist ein Gegensatz in der Art unserer Auffassung.“ HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, S. 110. Dass Herbart in seinen Ausführungen den Dualismus aber letztlich doch nicht überwand, war für Mach Stein des Anstoßes: Durch die „Voraussetzung der Einfachheit der Seele“ habe sich Herbart seine ganze Psychologie verdorben. Hatte Herbart die Seele als „ein einfaches Wesen“ definiert, das „in die Zeit, und zwar in die ganze Ewigkeit gesetzt“ würde, so sah sich Mach selbst als ein Verbündeter jener, die sich in „neuester Zeit“ mit einer „Psychologie ohne Seele“ anzufreunden begannen. HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, S. 108f., und Ernst MACH, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 51926, S. 12. Salomon FRANKFURTER, Graf Leo Thun-Hohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz. Beiträge zur Geschichte der österreichischen Unterrichtsreform, Wien 1893, S. 71f. Zu Franz Serafin Exner und zur ‚Exner-Dynastie‘ vgl. Deborah R. COEN, Vienna in the Age of Uncertainty. Science, Liberalism, and Private Life, Chicago–London 2007, S. 33–63.
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3.2 V ON DER S TAATSPHILOSOPHIE
ZUM
P OSITIVISMUS
3.2.1 Die Thunsche Unterrichtsreform Zur Jahrhundertmitte zeichneten sich im österreichischen Studien- und Universitätssystem einschneidende Veränderungen ab. Was sich schon im Vormärz angekündigt hatte, aber aufgrund politischer Zaghaftigkeit aufgeschoben worden war, wurde nach 1848 rasch umgesetzt: eine Unterrichtsund Universitätsreform.89 Die Universitätsreform der Jahre 1848/49– 1853/55, die nach dem Vorbild des deutschen Universitätsmodells durchgeführt wurde,90 bewirkte zweifelsohne einen kräftigen Modernisierungsschub. Dem Grazer Historiker Walter Höflechner zufolge waren mit ihr vor allem drei zentrale Innovationen verknüpft: eine generelle Aufwertung der Wissenschaften, die nun als nutzbringend für den Staat verstanden wurden (1), die Verwissenschaftlichung der Universität (2), und das Zugeständnis weitgehender akademischer Selbstrekrutierung (3).91 Hinzuzufügen ist, dass Leo Graf Thun-Hohenstein (1811–1888) mit seinem Reformwerk einen schwierigen Spagat zu schlagen wusste: Die Universität sollte erneuert, aber auch zweckmäßig zugerichtet werden. Sie sollte sich selbst verwalten, ohne aber dem Zugriff von ‚Thron‘ und ‚Altar‘ völlig entzogen zu sein.92 Angesichts solch janusköpfiger Zielsetzungen ist es sinnvoll, Thuns Universitätsre89
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Einen informativen Überblick über die Unterrichts- und Universitätsreform gibt der amerikanische Historiker Gary B. Cohen in dem Kapitel „Education and the Modernization of Austria in the Mid-nineteenth Century“. Vgl. Gary B. COHEN, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848–1918, West Lafayette, Ind. 1996, S. 11–54, hier S. 21–36. Vgl. HÖFLECHNER, Humboldt in Europa?, S. 267–269. Vgl. HÖFLECHNER, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen auf Forschungsorientierung und Wissenschaftsorganisation, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 149– 214, hier S. 159f., und Peter STACHEL, Das österreichische Bildungssystem zwischen 1749 und 1918, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 253–296, hier S. 135–144. Weiterführende Arbeiten zu Thun und zur Unterrichts- und Universitätsreform vgl. Brigitte MAZOHL, Universitätsreform und Bildungspolitik. Die Ära des Ministers Thun-Hohenstein (1849–1860), in: Klaus MÜLLER-SALGET, Sigurd Paul SCHEICHL (Hg.), Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert. Für Werner M. Bauer zum 65. Geburtstag, Innsbruck 2008 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 73), S. 129–149. Peter WOZNIAK, Count Leo Thun. A Conservative Savior of Educational Reform in the Decade of Neoabsolutism, in: Austrian History Yearbook 26 (1995), S. 61–81. Rainer LEITNER, Das Reformwerk von Exner, Bonitz und Thun: Das österreichische Gymnasium in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Kaderschmiede der Wiener Moderne, in: Sonja RINOFNER-KREIDL (Hg.), Zwischen Orientierung und Krise. Zum Umgang mit Wissen in der Moderne, Wien–Köln–Weimar 1998 (Studien zur Moderne 2), S. 17–70. Werner OGRIS, Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein. Festvortrag anläßlich des Rektorstages im Großen Festsaal der Universität Wien am 12. März 1999, Wien 1999 (Wiener Universitätsreden N.F. 8).
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formwerk im Spiegel des wachsamen Verwaltungszentralismus neoabsolutistischer Ausprägung zu betrachten, der offen antiliberale und klerikale Züge aufwies sowie die stillschweigende Vernichtung vieler revolutionärer Errungenschaften zum Ziel hatte. Thun, der auf dem Boden der aufgehobenen 1849er-Verfassung stand, hatte sein Werk somit vor den Angriffen der Verfechter des neuen Absolutismus, die zur staatlich-bürokratischen Universitätsverwaltung zurückkehren wollten, zu verteidigen. Zugleich hatte er aber auch Widerstände anderer zu überwinden: Spätjosephiner waren mit manchen Aspekten seiner Reformpolitik unzufrieden, während diese für liberale Achtundvierziger völlig unzureichend war. Zweifelsohne verfolgte der aristokratisch-konservative Politiker Thun mit der Reform ein zentrales Ziel, das darin bestand, die tendenziell liberal gesinnte Akademikerschaft zu einer konservativ-loyalen Staatselite umzubilden. Sie sollte den Vergleich mit Absolventen deutscher Universitäten nicht scheuen müssen und das Substrat eines neuartigen Verwaltungssystems bilden.93 Während Salomon Friedrich Frankfurter (1856–1941), auf dessen Geschichte der österreichischen Unterrichtsreform (1893)94 die Autoren späterer Arbeiten wiederholt zurückgriffen, seinen Lesern die staatspolitischideologischen Aspekte des Thunschen Reformwerks noch höflich vorenthalten hatte, zeichnete der Wiener Rechtshistoriker Hans Lentze (1909–1970) in den 1950er- und 1960er-Jahren ein realistischeres Bild von der Unterrichts- bzw. Universitätsreform. So sprach er u.a. explizit aus, dass das schon im März 1848 anstelle der Studienhofkommission neu geschaffene „Ministerium des öffentlichen Unterrichts“ (das unter Thun „Ministerium für Cultus und Unterricht“ hieß) das Studienwesen weiter verpolitisiert habe: Die abgeschaffte bzw. ersetzte Studienhofkommission habe (zumindest teilweise) ein ‚voraussetzungsloseres‘ Agieren an den Universitäten zugelassen als das Thunsche Ministerium.95 Bezüglich des Thunschen Reformwerks ist zu berücksichtigen, was u.a. der Grazer Historiker und Priester Karl Eder (1889–1961) bezüglich des ‚Vormärz‘ und des Metternichschen Systems hervorheben sollte: Zu bedenken sei, dass es sich dabei um eine „Latenzperiode des Liberalismus“ ge-
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Zur Biografie und zu den politischen Zielen Thuns vgl. Christoph THIENENADLERFLYCHT, Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen des böhmischen Konservativismus im Kaisertum Österreich, Graz–Wien–Köln 1967 (Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 6), S. 13–38. Vgl. FRANKFURTER, Graf Leo Thun-Hohenstein, Franz Exner und Hermann Bonitz, 1893. Eine Kurzbiografie Frankfurters, eines Mitgliedes des Bundeskulturrates, befindet sich in: Christlich-Ständisch-Autoritär. Mandatare im Ständestaat 1934–1938. Biographisches Handbuch der Mitglieder des Staatsrates, Bundeskulturrates, Bundeswirtschaftsrates und Länderrates sowie des Bundestages, hg. von Gertrude Enderle-Burcel, Wien 1991, S. 77f. Vgl. Hans LENTZE, Graf Thun und die voraussetzungslose Wissenschaft, in: Helmut J. METZLER-ANDELBERG (Hg.), Festschrift. Karl Eder zum siebzigsten Geburtstag, Innsbruck 1959, S. 197–209, hier S. 198.
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handelt habe.96 Im postrevolutionären Jahrzehnt sei der Umstand, dass so manche Lehrende und Studierende der (Wiener) juridischen Fakultät – und somit auch Teile der angehenden Staatsbeamtenschaft – gegenüber liberalen Vorstellungen aufgeschlossen gewesen wären, als riskant bewertet worden. Dass liberale Aktivisten auch im neoabsolutistischen System ihre Stellung in der Staatsverwaltung (Inneres, Justiz) zumindest teilweise zu verteidigen wussten,97 war für den konservativen k.k. Minister des Cultus und Unterrichts Thun offenbar Grund genug, ältere Vorschläge wieder aufzugreifen und das Studiensystem des Vormärz umfassend zu reformieren. Die latent wirkenden liberalistischen Tendenzen sollten aber nicht durch plumpe Zensur, sondern durch „überlegene konservative Geistigkeit“98 überwunden werden, – ein Ziel, das der Minister durch strenge Amtsführung und taktisches Geschick zu erreichen versuchte. Wie sich aber zeigen sollte – vergebens. Trotz ihrer antiliberal-etatistischen Ausrichtung besaß die Thunsche Universitätsreform jedoch zweifelsohne zukunftsweisende Aspekte: In der Allgemeinen Studienordnung vom 13. Oktober 1849 wurde z.B. die allgemeine universitäre Lehr- und Lernfreiheit erlassen, auch wenn Thun damit nicht notwendig das Recht auf eine „voraussetzungslose Wissenschaft“, in der jedwede Beschränkung bzw. Einflussnahme aufgehoben sein sollte, verband.99 Trotz aller Modernisierung sah Thun in der Wissenschaft eine Angelegenheit der Staatspolitik. Autonomie sollte ihr unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit gewährt werden. Sichtbar wurde diese Haltung aber nur ausnahmsweise: Schließlich wäre ‚lediglich‘ zu verhindern (so die euphemistische Übersetzung des Verbots ‚schädlicher Unterrichtung‘), „daß der Lehrstuhl zu Deklamationen gemißbraucht wird“ und „daß die wissenschaftliche Forschung und der Unterricht als unabhängig von der Kontrolle der ewigen Wahrheit, wie sie die christliche Offenbarung lehrt, betrachtet wird.“100
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Karl EDER, Der Liberalismus in Altösterreich. Geisteshaltung, Politik und Kultur, Wien–München 1955 (Wiener Historische Studien 3), S. 78–105, hier S. 78. 97 Vgl. Georg FRANZ, Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 89, und Friedrich ENGEL-JANOSI, Der Wiener juridisch-politische Leseverein, in: Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 4 (1923), S. 58–66. 98 Hans LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein. Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Band 2, 2: Abhandlung, Wien 1962 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 7), S. 88. 99 Vgl. LENTZE, Graf Thun und die voraussetzungslose Wissenschaft, S. 197– 209. 100 Vgl. die von Thun in Auftrag gegebene und mitverfasste Denkschrift von 1853, die vom Innsbrucker Professor für klassische Philologie und Ästhetik Aloys Flir redigiert wurde: ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten über Allerhöchsten Befehl darge-
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Vorgaben dieser Art waren nicht nur politische Rhetorik. So wurde im neuen juridischen Studium, das künftige Staatsdiener zu absolvieren hatten, die Lehr- und Lernfreiheit wieder drastisch reglementiert – nicht trotz, sondern wohl wegen der neuen wissenschaftlichen ‚Voraussetzungslosigkeit‘. Es wurden starre Studienpläne und etwa 20 obligate wöchentliche Vorlesungsstunden eingeführt, deren Besuch durch Anwesenheitskontrolle zu überwachen war. Weiters wurde jenen Wissenschaften, die sich mit dem Staat befassten, eine neue ‚philosophische‘ Ausrichtung verpasst. Während den Studierenden im Vormärz noch die naturrechtliche Auffassung vermittelt worden war, hatte das Jahr 1848 den Reformern die Zweischneidigkeit des Naturrechts unvergesslich vor Augen geführt: Dieses hatte sich zwar als verlässliche Stütze von ‚Thron‘ und ‚Altar‘ bewährt, in seinem Namen wäre aber auch die Revolution entfacht worden. Somit war es als Säule staatlicher Ordnung praktisch unbrauchbar. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Thun den Schwerpunkt der Universitätsreform nicht zufällig auf die Staats- und juridischen Wissenschaften legte.101 Zentraler Stein des Anstoßes war die naturrechtlich ‚infizierte‘ Rechtsphilosophie, die man für die liberale Ausrichtung vieler österreichischer Vormärz-Juristen verantwortlich machte. In der Überzeugung, dass das Naturrecht Mitschuld am revolutionären Aufbegehren trug, lag jedoch eine offenkundige Paradoxie: Hatte das Metternichsche System einer rechtsphilosophischen Orientierung zum Aufstieg verholfen, die der Revolution in die Hände arbeitete? Zur Jahrhundertmitte wurde daher von höchster Stelle eine Änderung verordnet, was die philosophische Grundlegung der Jurisprudenz betraf. In Deutschland hatte die naturrechtliche Tradition schon Anfang des 19. Jahrhunderts zugunsten der Historischen Schule an Bedeutung verloren. Thuns Plan bestand darin, jene Mauern, die nach 1806 zur deutschen Jurisprudenz aufgerichtet worden waren, wieder aufzubrechen, um auf diesem Wege einen Systemwandel herbeizuführen. Der Minister war der Ansicht, „daß die österreichischen Juristen durch das böse Naturrecht so verdorben und revolutionär verseucht [worden] seien, daß nur eine neue juridische Studienordnung unter Ausstoßung des Naturrechtes einen besseren Juristenstand schaffen könne.“102 Diesen Standpunkt teilte der Unterrichtsminister mit manchem seiner Mitstreiter, der im Natur- oder Vernunftrecht eine verheerende Wirkung auf das Unterrichtswesen und auf Staat und Kirche erblickte. Ernst Karl Jarcke (1801–1852) vertrat beispielsweise die Meinung, dass das alte Unterrichtswesen nicht nur einen Aufholbedarf Österreichs im Bereich der Wissen-
stellt vom k.k. Ministerium für Cultus und Unterricht. August 1853, Wien 1853, S. 28. Zur Denkschrift und Flirs Rolle vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 198–217. 101 Vgl. LINDENFELD, The Practical Imagination, S. 167f. 102 Hans LENTZE, Naturrecht und historische Schule in der österreichischen Rechtswissenschaft, in: Wissenschaft und Weltbild. Zeitschrift für Grundfragen der Forschung 23 (1970), S. 38–44, hier S. 42.
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schaften verursacht, sondern auch seine Bevölkerung religiös korrumpiert hätte.103 So wurde das Naturrecht als „incarnirte Auflehnung“ gegen die „Offenbarung“, gegen die „göttliche ‚Setzung‘ der Grundursachen und der Grundbedingungen für die Bewegungsweise der Menschen“ verteufelt:104 „Die Herrschaft des Naturrechts auf den Universitäten“, die „Freiheit des Geistes“ und ein „verseichtigter Kantianismus von Amtswegen“ hätten insbesondere die Staatselite zur Unterwanderung der von Gott gegebenen Ordnung aufgerufen.105 Schließlich hätten die Vorstellung von vermeintlich „angeborenen natürlichen Rechten des Menschen“ und die gefährliche Theorie von der Entstehung des Staates aus einem Vertrag ins Verderben – in die Revolution – geführt.106 Der Minister selbst sprach als ‚anonymer‘ Verfasser in der Denkschrift zur Neugestaltung der Universitäten (1853) in Bezug auf das Vernunftrecht von einer „Häresie auf dem Gebiete des Rechtes […], weil sie ganz regelmäßig von der aller Offenbarung widersprechenden rein subjectiven Annahme ausgeht, daß der Staat und die Ordnung in demselben, das Recht, von den Menschen erfunden und erdacht [worden] sei.“107 Der zentrale Kritikpunkt war, dass sich die vernunftrechtliche Philosophie über die vermeintli103 Vgl. die Denkschrift Ernst Karl Jarckes über das Österreichische Unterrichtswesen vom 7. August 1852, in: Nachlass Thun, Staatsarchiv Litoměřice, Abteilung Děčín [D 171], auszugsweise wiedergegeben durch Taras von BORODAJKEWYCZ, Aus der Frühzeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte, in: Karl OETTINGER, Mohammed RASSEM (Hg.), Festschrift für Hans Sedlmayr [zum 65. Geburtstag], München 1962, S. 321–348, hier S. 345. Sedlmayr sowie Borodajkewycz waren Mitglieder der NSDAP, Letzterer, Schüler Heinrich von Srbiks, sogar ein so genannter ‚Illegaler‘. Borodajkewycz wurde durch den „Fall Borodajkewycz“, d.h. antisemitischer, den Nationalsozialismus verharmlosender Lehre, die zu heftigen Auseinandersetzungen führte, bekannt. Borodajkewycz insinuierte mit seinem Aufsatz über Eitelberger eine auf Sedlmayr reichende Tradition. Letzterer sah sich selbst zweifelsohne „als legitimer Erbe“ der Wiener Schule. Vgl. Hans H. AURENHAMMER, Das Wiener Kunsthistorische Institut nach 1945, in: GRANDNER, HEISS, RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten, S. 174–188, hier S. 186–188, und Christian GERBEL, Zur ‚gesamtdeutschen‘ Geschichtsauffassung, der akademischen Vergangenheitspolitik der Zweiten Republik und dem politischen Ethos der Zeitgeschichte, in: Christian GERBEL [u.a.] (Hg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur ,Gedächtnisgeschichte‘ der Zweiten Republik, Wien 2005 (kultur.wissenschaften 9), S. 86–130, hier S. 113f. 104 Rudolf KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, Wien 1854, S. 464. 105 ANONYM [Joseph Unger], Die Universitaetsfrage in Österreich. Beleuchtet vom Standpunkte der Lehr- und Lernfreiheit, Wien 1853, S. 22, und vgl. hierzu besonders Waltraud HEINDL, Bildung und Recht. Naturrecht und Ausbildung der staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Habsburgermonarchie, in: Thomas ANGERER, Brigitta BADER-ZAAR, Margarethe GRANDNER (Hg.), Geschichte und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag, Wien 1999, S. 183–206, hier S. 202f. 106 ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 80f. 107 Ebenda, S. 76.
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che Tatsache, dass der Staat den Menschen von Gott gegeben wäre, hinwegsetzte und durch die „Apotheose der Vernunft“108 einen „fabelhaften“ Naturzustand angenommen hätte. Dem widersprach aber Thun zufolge „die göttliche Offenbarung“ und „die Geschichte“, die missachtet worden wären. So sei es daher „mindestens ein überflüssiges Unternehmen, den Ursprung von Staat und Recht bloß aus diesen oder jenen Vereinbarungen der Menschen – immer nur ein mehr oder minder verhüllter Contrat social – zu erklären.“109 Insbesondere den Juristen Franz von Zeiller (1751–1828) bezichtigte Thun, „völlig entbehrliche“, weil der Kantschen Philosophie geschuldete Grundsätze in das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) aufgenommen zu haben (wie z.B. jenen angeborener individueller Rechte). Damit hätte er „gefährlichen Irrtümern“ Vorschub geleistet: Statt „aller Rechtsgeschichte“, „statt alles Anknüpfens an die von Gott gegebene Weltordnung“ sei die „österreichische Jurisprudenz“ von der haltlosen Annahme ausgegangen, „daß der Staat eine aus der Willkür der Menschen hervorgegangene Einrichtung sei, deren Zweckmäßigkeit zu Liebe die Menschen ihre angebornen natürlichen Rechte beschränkt hätten!“110 In Anbetracht der angeblich unheilvollen Auswirkungen wurde das Vernunftrecht, dem das juridische Studium im vormärzlichen Österreich noch verpflichtet gewesen war,111 von Thun aus dem Lehrplan gestrichen, nicht zuletzt um jeden „Anstoß gegen die Offenbarung zu verhindern oder zu unterdrücken“.112 Auf einer Sub-Auspiciis-Promotion übte er in Vertretung des Kaisers zugleich heftige Kritik an der „blinden Anbethung des ABGB“: Er sah sich verpflichtet, das Übel des zerstörerischen Radikalismus, dem das juridische Studium vermeintlich Vorschub geleistet hatte, an seiner Wurzel zu bekämpfen, was für ihn bedeutete, jene „Schule [aufzulösen], die das bürgerliche Recht […] als das Produkt der Spekulation des menschlichen Verstandes betrachtete“. Die ihm zutiefst verhasste Rechtsphilosophie sollte nun durch eine Ausbildung ersetzt werden, die das Ziel verfolgte, „die auf höhere sittliche Gesetze gegründete Ordnung“ zu verstehen,113 und dies auf
108 KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, S. 464. 109 ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 76f. 110 Ebenda, S. 81. 111 Vgl. Peter GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848–1945), Frankfurt am Main [u.a.] 1997 (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe 18), S. 61–80. 112 ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 105. 113 Thun hatte noch im Jahr 1854 sein Missfallen darüber bekundet, dass die Mehrzahl der Studierenden noch immer nach dem vor-1848er Studienplan studierte, „und das[s] hiedurch ihren Rechtsstudien eine gefährliche, razionalistische und partikularistische Richtung gegeben und das Studium der allgemeinwissenschaftlichen-historischen Partien der Rechtswissenschaft vernachläßigt wird“. ÖstA. AVA MCZ 2641 ex 1854, Vortrag vom 15.8.1854. Dieses Doku-
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der Grundlage „geschichtlich gegebener thatsächlicher Verhältniße“,114 also – wie in der deutschen Historischen Schule – genetisch, „von seinem Ursprunge an in seiner allmäligen geschichtlichen Entwicklung“.115 Von der Aufwertung der Geschichte zur neuen juridischen Grundlagenwissenschaft erhoffte sich Thun eine vorbeugende Wirkung. Da eine historistische Ausrichtung des staatswissenschaftlich-juridischen Studiums für ihn über jeden Verdacht revolutionärer Wirkung erhaben war, erwartete er sich ‚unverdorbene‘ Absolventen, die sodann als künftige Staatsdiener – im ‚Herzen‘ der österreichischen Verwaltung – gehorsam und treu ihre Aufgaben verrichten sollten.116 Der „höchst wohltätige Aufschwung“, der Thuns Ansicht nach in der Rechtswissenschaft mit der Historischen Schule in Deutschland verbunden war, war ihm zufolge „auch nach Österreich zu verpflanzen“.117 Trotz der vertieften historischen Schulung, die mit Thun im juridischen Lehrplan verankert wurde, ließ sich die naturrechtliche Tradition nicht mit einem Schlag auflösen, denn selbst die historische Methode beruhte in gewisser Weise auf naturrechtlichen Voraussetzungen. Dieses Problem wurde letztlich auf einem genuin ‚österreichischen‘ Weg zu lösen versucht, und zwar durch die Etablierung einer christlich fundierten Spielart positivistischer Geschichtsforschung. Im Hinblick auf die Historische Schule in Deutschland war es u.a. Hans Kelsen, der daran erinnerte, dass mit ihr an die Stelle der Vernunft (oder der Natur) der ‚Volksgeist‘ als unhinterfragbare Quelle der gesellschaftlichen Ordnung gerückt worden wäre. Im österreichischen Vielvölkerstaat sollte anstatt des gefährlichen ‚Volksgeistes‘ Gott die letzte Grundlage des historisch fundierten juridischen Studiums darstellen. Mit der Unterdrückung der „falsche[n] Philosophie“, die den „göttlichen Quell“ von „dem Ursprunge des Rechtes“ verkannt hätte,118 versuchte Thun eine Auffassung durchzusetzen, der zufolge das Recht auf dem „geoffenbarten göttlichen Willen“ beruhte:119 „Der Staat, das Verhältnis von Obrigkeit und Unterthanen, […] ist den Menschen von Gott gegeben“.120
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ment ist zitiert nach Hans LENTZE, Graf Thun und die deutsche Rechtsgeschichte, in: MIÖG 63 (1955), S. 500–521, hier S. 512. Vgl. die Rede des Grafen Leo Thun bei der Sub-Auspiciis-Promotion des Dr. Julius Fierlinger (11. Mai 1852), in: OGRIS, Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, S. 39–42, hier S. 40. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 74. Vgl. Michael STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 277. Antrag des Grafen Thun auf Ernennung des Josef Unger zum außerordentlichen Professor, 9. Juli 1853, in: LENTZE, Graf Thun und die voraussetzungslose Wissenschaft, S. 197–209, hier S. 207. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 76. Vgl. hierzu und im Folgenden die umfassende und ausführliche Darstellung von HÖFLECHNER, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen
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Der Kunstgriff des Unterrichtsministers bestand darin, – nach der Zurückstufung des natürlichen Vernunftrechts – eine auf Gott bezogene Naturrechtsauffassung mit einem sich auf die Historische Schule berufenden Positivismus zu verquicken. Thun erhoffte sich, den aufkommenden „extremen Cultus des Positiven“121 zur Ausbildung einer loyalen und verantwortungsbewussten staatsnationalen Beamtenschaft nutzbar machen zu können. Der klerikal unterfütterte ‚Staatspositivismus‘ war jedoch voller innerer Widersprüche, dieses Unterfangen daher zum Scheitern verurteilt. Mit seiner Implementierung hatte Thun jene naturrechtlichen Vorstellungen, die er durch die Vordertüre vertrieben hatte, über die Hintertüre wieder hereingelassen. 3.2.2 Thun und die Philosophie Der Weg, den Leo Graf Thun-Hohenstein verfolgte, war durch seine tief katholische Haltung und durch die Vorstellungswelt seiner Mitstreiter Karl Ernst Jarcke und George Philipps vorgezeichnet.122 Seine juristischen Ratgeber erkannten „nicht [den] Rationalismus“, sondern „das lebendig Positive allein und dessen historisch-genetische Ergründung“ als Grundlagen der Rechtswissenschaft an.123 Zugleich traten sie philosophischen Strömungen, die ihrer Ansicht nach lediglich nach Macht und Einfluss im Staat wie in der Kirche strebten,124 mit tiefer Abneigung gegenüber. Jarcke und Philipps hatten Thun nicht nur mit der positivistischen Ausrichtung vertraut gemacht, sondern ihn auch von der Zweckmäßigkeit der Öffnung der österreichischen Jurisprudenz gegenüber ‚deutschen‘ Traditionen überzeugt. Der Unterrichtsminister verfolgte zwei (die Universitäten betreffende) Strategien, um dem Staatsapparat eine ‚moderne‘, der Orientierung nach
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auf Forschungsorientierung und Wissenschaftsorganisation, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 149–214, hier S. 162f. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 76. LENTZE, Naturrecht und historische Schule in der österreichischen Rechtswissenschaft, S. 41. Ernst Karl Jarcke (1801–1852) war ein zum Katholizismus konvertierter Vertreter des Öffentlichen Rechts (Publizistik), der von Metternich in die k.k. Hofund Staatskanzlei berufen worden war, um als vehementer Kritiker des vormärzlichen Studiensystems aufzufallen. George Philipps (1804–1872) war ebenfalls ein zum Katholizismus konvertierter Jurist, der als Anhänger der Historischen Schule über Vermittlung Jarckes von Thun 1851 nach Wien berufen worden war. Als erklärter Antipreuße wurde er 1851 zum ordentlichen Professor der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte der Universität Wien berufen. Vgl. Memorandum Jarckes über die Aufgaben eines Unterrichtsministers in Österreich (5. August 1849), in: OGRIS, Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, S. 29–37, hier S. 32f., und vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 94. Vgl. Memorandum Jarckes über die Aufgaben eines Unterrichtsministers in Österreich (5. August 1849), S. 32.
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aber katholisch-restaurative Grundlage zu verschaffen: Zum einen stufte er die Philosophie im juridisch-staatswissenschaftlichen Studium zugunsten der historisch-juridischen Lehrfächer zurück. Von der historischen Fundierung versprach er sich außer stabilen Staatsverhältnissen eine allgemeine Anhebung des wissenschaftlichen Niveaus. Zum anderen erweiterte er den universitären Lehrkörper massiv. Mit der Berufung hervorragender deutscher Wissenschaftler auf österreichische Lehrstühle verfolgte er allerdings auch politische Absichten: Sie sollte die Sympathien im katholischen Deutschland (!) vergrößern und auf diese Weise zur Angleichung der Juristenausbildung in Österreich beitragen.125 Zwar stieß Thun auf erhebliche Widerstände, schließlich erreichte er aber seine Ziele – nämlich die Verbannung der Rechtsphilosophie sowie die wissenschaftliche Öffnung nach Deutschland. Seine Vorliebe für taktische Lösungen bewies Thun insbesondere mit seiner Berufungspolitik. Infolge der neu eingeführten Lehr- und Lernfreiheit, die in manchen Fächern zwar sogleich wieder drastisch reglementiert wurde, verkleinerte sich der Spielraum zur willkürlichen Ausschaltung missliebiger Tendenzen. Der Unterrichtsminister begegnete dieser Herausforderung, indem er die neuen Professoren zwar aufgrund ihrer wissenschaftlichen Qualifikationen auswählte, ihre politische Ausrichtung aber keineswegs übersah. Er bevorzugte dabei nicht nur konservative Wissenschaftler, sondern insbesondere auch Nicht-Österreicher (Deutsche und Schweizer). In Ausnahmefällen berief er auch verdiente protestantische und jüdische Professoren.126 Was die Besetzung der Lehrstühle betraf, richtete er sein Augenmerk verstärkt auf das juridische Lehrfach. In der zielgerichteten Auswahl von Professoren sah er ein Mittel, die Naturrechtstradition zurückzudrängen und an deren Stelle eine an den Grundsätzen der deutschen Historischen Schule orientierte ‚Staatswissenschaft‘ aufzubauen. War er sich gewiss, dass die avisierten Akademiker auf seinen Kurs umschwenkten, so ernannte er auch Personen mit nationaler und/oder liberaler Gesinnung. Hiervon legen u.a. die Berufung des Verwaltungswissenschaftlers Lorenz von Stein (1815– 1890), des Zivilrechtlers Josef Unger (1828–1913), des Kunsthistorikers Rudolf Eitelberger (1817–1885) sowie der Historiker Václav Vladivoy Tomek (1818–1905) und Theodor von Sickel (1826–1908) Zeugnis ab. Sie alle berief Thun trotz ihrer ‚zweifelhaften‘ Vergangenheit – als Vertreter nationaler Haltungen (Tomek, der Schüler František Palackýs war), als Hegelianer (Eitelberger, Stein, Unger), als Vorreiter liberaler Vorstellungen (Eitelberger, Unger), als Anhänger des Positivismus neuer Prägung (Stein)
125 Vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 211. 126 Vgl. HÖFLECHNER, Die Auswirkungen politischer und kultureller Veränderungen auf Forschungsorientierung und Wissenschaftsorganisation, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 1, S. 149– 214, hier S. 164.
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oder als Verfechter der kleindeutschen Idee (Sickel). Tomek wirkte schließlich als erster tschechischer Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Prag dynastietreu und konservativ. Auch Sickel versicherte Thun seine Loyalität. Unger verwandelte sich vom Hegelianer zum Anhänger des Thunschen Kurses: Er untermauerte das Zivilrecht mit der rechtshistorischen Methode und sprach dem Studium des Naturrechts jegliche Relevanz ab. Zudem konvertierte er vom jüdischen zum katholischen Glauben.127 Trotz aller Loyalitätsbekundungen konnte er seine liberale Gesinnung jedoch nicht ganz verbergen. Auch Lorenz von Stein wurden von Thun seine rechtsphilosophischen Anfänge verziehen.128 Thun konnte auch sein Vorhaben der Ausschaltung der Rechtsphilosophie weitgehend umsetzen, und dies trotz der Widerstände der Josephiner, die an der philosophischen Ausbildung der Akademiker festzuhalten versuchten. Sein Argument von der Philosophie als Vorschule der Revolution wirkte offenbar überzeugend. Im Jahr 1853 brachte er in der schon angesprochenen Denkschrift zur Neugestaltung der österreichischen Universitäten unverhüllt seine ablehnende Haltung bezüglich der vorherrschenden philosophischen Strömungen zum Ausdruck: „Eine Philosophie“, so schrieben Thun und Flir (anonym bleibend), „welche die öffentliche Anerkennung der Wissenschaft und der Kirche zugleich genießt, existirt noch nicht.“129 Die Herbartsche Philosophie, die bald die größte Verbreitung finden sollte, und jene Hegels bezeichnete er als „Monstrositäten, welche der schaudervolle Beweis sind, zu welchen Resultaten der Verstand gelangt, wenn er sich an den Thatsachen der Offenbarung nicht mehr orientirt.“130 Wohl noch suspekter erschien ihm das (seiner Ansicht nach) revolutionäre Zwecke stützende System Kants bzw. der ‚politische‘ Idealismus. Die Art, in der Thun Kants Wirkung in Österreich und die deutsche und französische Aufklärung überbewertete, um vor allem einen politisierten und „verseichtigten Kantianismus“ und Hegelianismus zu bekämpfen, zeigt, dass sein Wissenschaftsverständnis wohl alles andere als ‚voraussetzungslos‘ war. Dies war auch der Grund dafür, dass die neu eingeführte Lehr- und Lernfreiheit im gleichen Moment wieder eingeschränkt wurde, wenn auch auf eine möglichst unauffällige und unsichtbare Weise.
127 Zur dreifachen – konfessionellen, politischen und wissenschaflichen – Konversion Ungers vgl. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848– 1945), S. 65–93. 128 Vgl. ebenda, S. 55–60. 129 ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 105. Weiter heißt es in der Denkschrift: „Nur eine mit der kirchlichen Lehre positiv harmonirende Philosophie kann sich frei und freudig begeistert und lebenskräftig an Oesterreichs katholischen Universitäten bewegen. – Einstweilen bleibt es die Aufgabe des Ministeriums, auf ein solches Ziel möglichst hinzulenken, und jeden offenbaren oder verhüllten Anstoß gegen die Offenbarung zu verhindern oder zu unterdrücken.“ 130 Vgl. ebenda, S. 20.
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Vor 1848 war im Kaisertum Österreich von Staats wegen zensuriert und überwacht worden. Hans Lentze zufolge war diese Gesinnungskontrolle jedoch nicht wirklich wirksam gewesen. Tatsächlich hatten sogar Hegelianer universitär Fuß zu fassen vermocht, sodass u.a. in der Rechtslehre vergleichsweise moderne Ansätze Verbreitung gefunden hätten.131 Durch das Ministerium Thun veränderte sich die Lage. Die Universitätslandschaft wurde erneuert, mit dieser Veränderung waren aber Ambivalenzen verknüpft: Da an den Universitäten die Lehr- und Lernfreiheit praktiziert wurde, musste Thun Wege finden, um die Kontrolle über die Wissenschaften und über das, was die Universitätsprofessoren den Studierenden vermittelten, nicht zu verlieren. In den Anhängern der idealistischen Philosophie sah man nach wie vor bedrohliche Unruhestifter. Sie wurden ‚verfolgt‘, versetzt oder ihrer Stellen enthoben. Dieses Schicksal ereilte u.a. den Prager Philosophieprofessor Johann Ignaz Hanuš (1812–1869).132 Sogar der mit Thun befreundete spätere Unterrichtsminister (1867–1870) und Ministerpräsident (1870) Leopold von Hasner (1818–1891) wurde aufgrund von Äußerungen, in denen man hegelianische Ansichten erkannte, von seiner Prager Rechtsphilosophieprofessur auf eine Lehrkanzel für Politische Ökonomie versetzt (1851).133 Eduard Herbst (1820–1892), der als Rechtsphilosophieprofessor in Lemberg die Vernunftrechtstradition verteidigt hatte, wurde auf eigenes Ansuchen auf den Lehrstuhl für Strafrecht nach Prag versetzt (1858).134 Dem Vorschlag, Herbst auf den Wiener Strafrechtslehrstuhl zu berufen, stimmte Thun nicht zu, nicht nur weil jener in Prag „eine pekuniär vorteilhafte Stellung“ innehatte, sondern weil der Minister auch die „exegetische Methode“ in Wien nicht weiter stärken wollte.135 Zur Verdrängung der ‚verderblichen‘ Philosophien setzte Thun aber auch auf institutionelle Schachzüge. Zum einen wertete er die Philosophie zu einem selbständigen akademischen Lehrfach in den neu zu errichtenden
131 Vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-HohenHohenstein, S. 114, S. 122. 132 Zu dessen Nachfolger in Prag wurde Robert Zimmermann, dem noch eine glänzende akademische Laufbahn beschieden sein sollte, ernannt. Vgl. Eduard WINTER, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, Wien 1968, S. 240. 133 Vgl. Leopold von HASNER, Denkwürdigkeiten. Autobiographisches und Aphorismen, Stuttgart 1892, S. 58. Hasner hatte 1851 eine hegelianisierende Filosofie des Rechts und seiner Geschichte in Grundlinien veröffentlicht. 134 Vgl. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848–1945), S. 39–41, hier S. 41f. 135 ÖstA. AVA MCU ZI 14732 ex 1860. Dieses Dokument wird zitiert nach Adelheid ZIKULNIG, Restrukturierung, Regeneration und Reform. Die Prinzipien der Besetzungspolitik der Lehrkanzeln in der Ära des Ministers Leo Graf ThunHohenstein, phil. Diss., Graz 2002, S. 126f. In den 1860er-Jahren sollte sich Herbst als führende Figur in der deutschliberalen Verfassungspartei profilieren. Im ‚Bürgerministerium‘ wirkte er als Justizminister.
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philosophischen Fakultäten auf.136 Zum anderen wertete er aber das für die vormärzlichen Universitätshörer verpflichtende, zweijährige philosophische Propädeutikum (Empirische Psychologie und Formale Logik) ab, indem er es in die nun achtklassigen Gymnasien verlagerte („Organisationsentwurf“ von 1849).137 Mit Anfang des Studienjahres 1854/55 schaffte er schließlich die Philosophie als juridischen Staatsprüfungsgegenstand per Ministerialerlass ab.138 Durch diese Manöver konnte er den Studierenden der Jurisprudenz aufwieglerische Philosophien vorenthalten, ohne aber den Anschein zu erwecken, den Stellenwert der Philosophie als solchen schmälern oder staatspolitischen und klerikalen Machtansprüchen opfern zu wollen. Durch die Abschaffung des für sämtliche Studierende verbindlichen, mehrjährigen und fächerübergreifenden philosophischen Vorstudienlehrgangs (einer Art studium generale) verlor die Philosophie allerdings erheblich an Einfluss. Dass sie aus dem Unterricht für Juristen und Mediziner gestrichen wurde, kommentierte der Rechtshistoriker Lentze mit einem „Epilog auf die Philosophie“: Sie hatte „ihre bisherige Rolle im Universitätsunterrichte ausgespielt.“139 Der neue, jeweils zweistündige philosophische Einführungsunterricht in den siebenten und achten Klassen der Gymnasien konnte die systematische philosophische Schulung aller angehenden Akademiker nicht ersetzen. Der Lehrinhalt beschränkte sich auf eine Psychologie, die empirisch sein wollte, aber metaphysisch war, und auf formale Logik.140 Kurz: Was im Hinblick auf die neu gewonnene Autonomie der philosophischen Disziplin den Anschein der Aufwertung erwecken mochte und auch sollte, war realiter eine Zurückstufung. So gelang es Thun, die vormalige Grundlagenwissenschaft Philosophie im buchstäblichen Sinn des Wortes zu ‚disziplinieren‘.141 Thuns Schachzüge dieser Art kommentierte der deutschnationale Autor und Wiener Universitätsbibliothekar Paul Molisch (1889–1946) vor
136 Schon 1845 war von der Studienhofkommission unter Mitwirkung Exners ein Plan zur Etablierung eines Philosophiestudiums erarbeitet, zunächst aber nicht genehmigt worden. Thun setzte ihn um. 137 Dem von Exner und Bonitz verfassten „Organisationsentwurf“ zufolge wurde das Fach „Philosophische Propädeutik“ im Mittelschullehrplan mit je 2 Wochenstunden für Empirische Psychologie und Formale Logik in der siebenten und achten Klasse verankert. 138 Die Rechtsphilosophie erfuhr diesen Rangverlust durch den Ministerialerlass vom 13. September 1854. Mit der Staatsprüfungsordnung vom 2. Oktober 1855 wurde der Ausschluss der Rechtsphilosophie dauerhaft fixiert. Auch aus dem Unterricht für Mediziner wurde die Philosophie ausgeschieden. Vgl. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848–1945), S. 62. 139 LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 252. 140 Vgl. ebenda, S. 206. 141 Vgl. BORODAJKEWYCZ, Aus der Frühzeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte, hier S. 345.
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seinem völkischen Hintergrund später „als eine völlige Verkennung des Wesens freier Lehre“, die der Unterrichtsminister hiermit bewiesen habe.142 3.2.3 Rudolf Eitelberger. Ein Vorkämpfer für die Philosophie Unter den Spätjosephinern stieß das Reformwerk Thuns auf Ablehnung: Schließlich sollte durch die Ausrichtung an der deutschen Jurisprudenz mit der Tradition einer sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verselbständigenden politisch-juridischen Wissenschaft in Österreich gebrochen werden. Vehementen Widerstand rief aber auch die raffiniert inszenierte Zurücksetzung und Minimierung der philosophischen Ausbildung an den Universitäten auf ein Gymnasialfach hervor. Hier trafen sich Josephiner und liberale Achtundvierziger: So appellierte Rudolf Eitelberger von Edelberg (1817–1885), der sich bald große Verdienste um den Aufbau der Disziplin der Kunstgeschichte erwerben sollte, in einem ausführlichen Memorandum Uiber Geschichte der Philosophie und ihre Bedeutung für Universitäten (1855)143 an den Minister, man möge die Philosophie auch künftig „dulden“. Eitelberger hatte Rechtswissenschaft studiert. Sein politischer Standpunkt war der eines liberal-revolutionären Achtundvierzigers. Vor 1848 hatte er Hegels Lehre in Privatvorlesungen verbreitet und im Revolutionsjahr als Redakteur der Österreichischen Blätter für Literatur und Kunst (Wiener Zeitung) politisch Stellung bezogen. Trotz dieses Zwischenspiels hatte er sich nicht die Abneigung Thuns zugezogen, im Gegenteil: Sie verband Sympathie füreinander. In Eitelberger hatte der Unterrichtsminister einen Spezialisten zur Hand, dem er zutraute, das Ästhetikstudium – eine Subdisziplin der Philosophie – neu aufzubauen, nämlich: positivistisch bzw. wie der Minister in seinem Vortrag vom 14. Oktober 1852 darlegte, „die Regeln der Theorie und einer eindringlichen Betrachtung der Denkmale der Künste selbst zu entwickeln, und nicht wie bisher eine auf abstraktem Wege gewonnene Theorie zur Würdigung der Kunstdenkmale anzuwenden.“144 Kaiser Franz Joseph (1830–1916) ernannte Eitelberger im Jahr 1852 auf Antrag seines Ministers zum ersten (außerordentlichen) Professor für Kunstge-
142 Paul MOLISCH, Die Wiener akademische Legion und ihr Anteil an den Verfassungskämpfen des Jahres 1848. Nebst einer Besprechung der übrigen 1848er Studentenlegionen, in: Archiv für österreichische Geschichte. Band 110, Wien– Leipzig 1926, S. 1–207, hier S. 190. 143 Rudolf EITELBERGER, Uiber Geschichte der Philosophie und ihre Bedeutung für Universitäten (mit Begleitschreiben vom 22. März 1855), Thun-Nachlass [D 335], auszugsweise, paraphrasierend abgedruckt in: BORODAJKEWYCZ, Aus der Frühzeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte, S. 335–343, und vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 250–257. 144 BORODAJKEWYCZ, Aus der Frühzeit der Wiener Schule der Kunstgeschichte, S. 322.
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schichte und Kunstarchäologie an der Universität Wien.145 Unversöhnlicher gab sich indes der damalige Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium, der Historiker und Jurist Josef Alexander von Helfert (1820–1910), der Eitelberger nicht nur als liberalen Zeitgenossen, sondern auch als „außerordentlich radikal“ einstufte und seine „überdeutsche“ Gesinnung noch nachträglich heftig tadelte.146 Eitelberger verteidigte die Philosophie in einer Weise, die nicht minder taktisch und unangreifbar war als das Vorgehen des Ministers, der sie schrittweise abzuwerten versuchte. In einem ausführlichen Exposé, das er Thun übermittelte, wies er kritisch darauf hin, dass „historische, naturwissenschaftliche und andere mehr oder minder positive Studien“ neuerdings „die Philosophie in der Hegemonie“ scheinbar abgelöst hätten. Habe damit die Philosophie aber aufgehört zu sein? „Mit Nichten“!147, so seine klare wie knappe Antwort. Sie habe lediglich aufgehört, für Staat und Kirche eine potenzielle, weil opponierende Gefahr darzustellen und damit die (keineswegs überflüssige) Erfahrung gemacht, „daß sie nicht über allen dominierend und tonangebend stehen“148 könne. Sie könne jedoch ihre selbständige Stellung neben den anderen Wissenschaften wiedergewinnen, wenn sie sich den Herausforderungen stelle, die von den positiven Wissenschaften an sie herangetragen würden. Auch wenn die Zukunft zweifelsfrei den historischen, philologischen und Natur-Wissenschaften gehöre, werde (bzw. dürfe) die Philosophie ihre bildende, erziehende Kraft nicht verlieren, da die Probleme, die in den Naturwissenschaften, der Jurisprudenz und Theologie auftauchten, doch nur durch ein „philosophisch gebildetes Denken“149 bewältigt werden könnten. Aus diesem Grund, so Eitelbergers kluge Argumentationsführung, sei zu befürchten, dass sich die (soeben verordnete) Zurückstufung der Philosophie negativ auf die wissenschaftliche Kritikfähigkeit auswirken werde, da sie die geistige ‚Einseitigkeit‘ fördere. Insbesondere warnte Eitelberger vor der Abschaffung philosophischer Studien für Juristen: Werde hier die
145 1864 wurde Rudolf Eitelberger schließlich zum ordentlichen Professor ernannt. Im selben Jahr wurde auf seine Initiative das ‚Museum für Kunst und Industrie‘ in Wien (MAK), das Erste seiner Art in Europa (außerhalb Englands), errichtet und 1868 die Kunstgewerbeschule in Wien eröffnet. Der bislang biografisch wenig gewürdigte Eitelberger profilierte sich vor allem als einflussreicher Wissenschaftsorganisator. Vgl. Kathrin POKORNY-NAGEL, Zur Gründungsgeschichte des k.k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie, in: Peter NOEVER (Hg.), Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für Angewandte Kunst in Wien, Wien 2000, S. 52–89, hier S. 57–62. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Band 1, Wien 21993, S. 239f. 146 Joseph Alexander von HELFERT, Die Wiener Zeitung im Jahre 1848, in: Zur Geschichte der kaiserlichen Wiener Zeitung, 8. August 1703–1903, Wien 1903, S. 138f. und S. 131. Zur Biografie Helferts vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950. Band 2, Wien 21993, S. 256f. 147 EITELBERGER, Uiber Geschichte der Philosophie und ihre Bedeutung für Universitäten, S. 336. 148 Ebenda, S. 335. 149 Ebenda, S. 336.
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Philosophie in Hinkunft nicht mehr toleriert, so öffne man einem krassen „Materialismus“ Tür und Tor, so seine trickreiche Mahnung. Wie sollte es aber künftig mit der Wertschätzung des philosophischen Gedankens aussehen? Die Philosophie verlange „keine Protektion, […] nur Duldung“, so Eitelbergers Kompromissvorschlag. Und welches System übrig bleiben werde, „nachdem die älteren Systeme als rationalistisch in Bausch und Bogen über Bord geworfen“, der Güntherianismus verurteilt, der Krausianismus verdächtigt und der Herbartianismus für atheistisch erklärt worden seien,150 dies war für Eitelberger eine nur scheinbar rhetorische Frage: Klar war für ihn letztlich wohl, dass es sich dabei um eine Angelegenheit handelte, die nicht der Staat, sondern allein die Wissenschaft entscheiden sollte. Die sich sorgende und warnende Stimme Eitelbergers fand bei Thun aber kein Gehör. So konnte Hans Lentze über Thuns Rolle in Bezug auf die nahende Herrschaft eines ‚liberalen‘ Positivismus in Österreich wie folgt urteilen: „Mit klarem Blick hat es Eitelberger also erkannt, daß Thun durch seine philosophiefeindliche Politik zum Wegbereiter des Positivismus wurde“, allerdings einer Spielart, die seinen Vorstellungen wohl nicht entsprochen hätte.151 3.2.4 Der Herbartianismus als Staatsphilosophie Die Unterrichtsreformer waren sich in der Ablehnung der idealistischen Systeme (Hegel, Schelling und Fichte) sowie der Jacobi-Schule (nach dem deutschen ‚Gefühlsphilosophen‘ Friedrich Heinrich Jacobi), die im Vormärz in Österreich toleriert wurde, einig. Tragbar erschien ihnen allein ein philosophisches System, das die Hegemonie von ‚Thron‘ und ‚Altar‘ nicht in Frage stellte. Schon im Vormärz war in Österreich eine umfassend modifizierte Version der Leibniz-Wolffschen Popularphilosophie verbreitet worden. Dieses System hatte den Anforderungen von Staat und Kirche noch am ehesten entsprochen: Bolzano und Herbart sollten ihm, wie oben geschildert, zentrale philosophische Impulse geben. Beide waren jedoch auf ihre Art und Weise auch umstritten: Bolzano war als angeblicher Aufrührer im Jahr 1819 von seiner Prager Professur abgesetzt und im so genannten Bolzano-Prozess über ihn ein Lehr- und Publikationsverbot verhängt worden. Als anstößig war u.a. empfunden worden, dass der Priester Bolzano den zentralen Wert des Christentums nicht in der Offenbarung, sondern in seiner erbaulichen Funktion erblickt hatte. Während sich Thun auch als Minister nicht von der Vorstellungswelt Bolzanos, mit dem er befreundet ge-
150 Ebenda, S. 341. 151 LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 254. Zu den zentralen Vermittlern einer erfahrungsbezogenen Grundorientierung sollte bald auch Eitelberger zählen. Vgl. u.a. MAZOHL, Universitätsreform und Bildungspolitik, S. 145.
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wesen war, abwenden sollte, beurteilte er Herbarts System scharf: In einer amtlichen Denkschrift (1853) wurde dieses von ihm bzw. Flir als „Monstrosität“ bezeichnet, zu der Wissenschaft ausarte, sobald sie sich nicht mehr an den „Thatsachen der Offenbarung“ orientiere.152 Unter solchen Vorzeichen ist es auf den ersten Blick wohl mehr als erstaunlich, dass Herbart in der Ära Thun zum „offizielle[n] Philosoph[en] der Donaumonarchie“ avancierte.153 Mehrere politische Gründe sprachen für diese Entwicklung, und sie wurden schon von den Zeitgenossen voll erfasst. So bestätigte Robert Zimmermann, dass die „neuerliche rege Theilnahme an Leibnitz’ Ansichten“ aus „bloßem historischen Interesse oder anderen der eigentlich philosophischen Wissenschaft ferner liegenden Gründen hervorgegangen“ sei.154 Und auch der Herbartianer Josef Durdík (1937–1902) verwies auf gewisse „äußere Einflüsse“, welche die Verbreitung der Herbartschen Philosophie (vor allem) in Böhmen verstärkt hätten.155 Carl Sigmund Barach (1834–1885) erklärte den Umstand, dass die Herbartsche Philosophie mit der offiziellen Staatspolitik plötzlich kompatibel wurde (im Jahr 1858 noch offen zustimmend), damit, „daß sie sich gegen die nachkantianischen Bestrebungen der Philosophie polemisch“ gerichtet habe und als Waffe gegen dieselben nun gebraucht werde.156 Herbarts System stieß nun also auf Anklang: Insbesondere Franz Serafin Exner, der Architekt der Unterrichtsreform, und sein Mitstreiter Hermann Bonitz (1814–1888) zählten zu den Herbartianern der ersten Stunde. Herbarts Philosophie empfahl sich vor allem aufgrund ihres Anspruchs auf strikte Trennung von Politik und Philosophie:157 Der Philosoph dürfe sich niemals anmaßen, „unmittelbar auf das Zeitalter einzuwirken“. Herbarts Mahnung, „daß nicht die Zeit, sondern das Unzeitliche […] eigentlicher Gegenstand [der Philosophie]“ sei,158 sowie seine „unpolitische Lebenseinstel152 Vgl. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 20. 153 Eduard WINTER (Hg.), Robert Zimmermanns Philosophische Propädeutik und die Vorlagen aus der Wissenschaftslehre Bernard Bolzanos. Eine Dokumentation zur Geschichte des Denkens und der Erziehung in der Donaumonarchie, Wien 1975 (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 299, 5), S. 12. 154 ZIMMERMANN, Leibnitz und Herbart. Eine Vergleichung, S. 4. 155 Josef DURDÍK, Über die Verbreitung der Herbart’schen Philosophie in Böhmen, in: Zeitschrift für Exakte Philosophie im Sinne des neuen Philosophischen Realismus 12 (1883), S. 317–326, hier S. 324. 156 Carl Sigmund BARACH, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosofie, aus der bisherigen Stellung der Philosofie zum Leben und den Forderungen des Lebens entwickelt, Wien 1858, S. 135. 157 Vgl. Andreas HOESCHEN, Lothar SCHNEIDER, Herbartianismus im 19. Jahrhundert. Umriss einer intellektuellen Konfiguration, in: Lutz RAPHAEL, Heinz-Elmar TENORTH (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneute Geistesgeschichte, München 2006 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 20), S. 447– 477, hier S. 448, S. 461. 158 HERBART, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, S. 61f.
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lung“159 machten sein System wider Erwarten auch für absolutistische Staatsentwürfe attraktiv. Auch Eitelberger hatte Thun die Lehre Herbarts unter diesen Auspizien näher gebracht: Sie wäre „trotz ihrer mehr als 30jährigen Wirksamkeit nirgend mit den bestehenden Konfeßionen oder politischen Staatsordnungen in Konflikt gekommen“.160 Der Rechtsphilosoph Georg Jellinek führte den Einzug dieser „deutschen Philosophie“ in Österreich zudem auf „die Farblosigkeit ihrer Religionsphilosophie“ zurück: Das Herbartsche System hätte sich als die „unschädlichste Form des ketzerischen Geistes“ die Gunst der Regierung gesichert.161 Werner Sauer bringt es auf den Punkt, wenn er den Aufstieg des Herbartianismus in Österreich auf den „nachmärzlichen Bedarf nach einer wissenschaftlich anspruchsvollen und zugleich akademisch Selbstbeschränkung übenden und propagierenden Philosophie“ zurückführt.162 Aufgrund der oben aufgezeigten Affinität zu Leibniz war das Herbartsche System im Umfeld von Bolzano auf Aufmerksamkeit gestoßen, wenn auch mit Abstrichen. Aus diesem Kreis der so genannten böhmischen Reformkatholiken rekrutierten sich auch die federführenden Akteure der Unterrichts- und Universitätsreform: neben dem Unterrichtsminister Thun, der in jungen Jahren von Bolzano beeinflusst worden war,163 u.a. Franz Serafin
159 VORLÄNDER, Die Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 42. Herbarts absolut autonomer Standpunkt ist bezeugt durch sein Verhalten als Rektor, als der er sich 1837 nicht dem Protest der „Göttinger Sieben“ – seiner Kollegen zu dieser Zeit – gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover anschloss: „Es ist nicht meine Sache zu beurteilen, was, und wieviel an dem politischen Leben der Deutschen zu verbessern sein möge. Nur sage ich: nach dem politischen Leben darf sich der Geist der Universität nicht modeln. Darum ist es gänzlich falsch zu meinen: voran gehe die Verfassung, hinten nach komme die Universität.“ Vgl. hierzu die Verteidigung Herbarts durch Ernst Topitsch: DERS., Kant in Österreich, S. 249, und vgl. Johann Friedrich HERBART, Erinnerung an die Göttingische Katastrophe im Jahre 1837 (Original 1838), in: DERS., Sämtliche Werke. Band 11, Aalen 1989 (Nachdruck), S. 27–44. 160 Schreiben Eitelbergers an Thun, 26. November 1854, in: Thun-Nachlass [D 303], zitiert nach LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 251. 161 Georg JELLINEK, Die deutsche Philosophie in Österreich (Original 1874), in: DERS., Ausgewählte Schriften und Reden. Band 1, Berlin 1911, S. 55–68, hier S. 60. 162 Werner SAUER, Die verhinderte Kanttradition. Über eine Eigenheit der österreichischen Philosophie, in: Michael BENEDIKT, Reinhold KNOLL, Josef RUPITZ (Hg.), Verdrängter Humanismus, Verzögerte Aufklärung. Band 3: Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820–1880), Klausen-Leopoldsdorf [u.a.] 1995, S. 303–317, hier S. 313. 163 Vgl. Brigitte MAZOHL-WALLNIG, Der Einfluss Bolzanos und der Bolzanisten auf die Österreichische Universitätsreform der Jahre 1848/49, in: Helmut RUMPLER (Hg.), Bernard Bolzano und die Politik. Staat, Nation und Religion als Herausforderung für die Philosophie im Kontext von Spätaufklärung, Früh-
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Exner, der als Prager Philosophieprofessor (so wie auch Thun in späteren Jahren) mit dem politisch verfemten Bolzano Kontakt gepflegt hatte,164 und Johann August Zimmermann (1793–1869), der Vater des späteren ‚Staatsphilosophen‘. Als man im Jahrzehnt nach 1848 das vormärzliche Wissenschaftssystem verwarf, wurde Bolzano folgerichtig wieder eine Art Anerkennung zuteil, allerdings post mortem. Es wurde schon darauf verwiesen, dass das antiidealistisch-realistische System Herbarts ein Vehikel darstellte, um die objektivistische Wissenschaftslehre Bolzanos „in Umlauf zu bringen“,165 da ihre Systeme in mancher Hinsicht konvergierten. Durch diese Stärkung realistisch-objektivistischer Strömungen hofften die neoabsolutistischen Machthaber wohl, „jenes schroffe Umschlagen des extremen Idealismus in krassen Materialismus“ verhindern zu können,166 das sich in Deutschland zur Jahrhundertmitte abzeichnete. Obwohl Herbart zuvor von Bolzano bzw. Zimmermann subjektivistische Tendenzen vorgeworfen worden waren, wurde er nun als Objektivist eingestuft. Bald war es opportun, auf den Herbartianismus umzuschwenken. Roger Bauer zufolge war es Exner, der die durch Herbart vermittelte wissenschaftliche und experimentelle Methode aufgegriffen habe, zu verdanken, „der willkürlichen Spekulation: dem Übel des Zeitalters“ entgegengewirkt zu haben.167 Exner habe die „religionsphilosophische“ Bolzanosche Periode der „Sicherstellung von Glaubenswahrheiten auf philosophischem Wege“ durch eine, die Josef Durdík „die psychologische“ nannte, abgelöst.168 Als ordentlicher Professor für Philosophie in Prag (1831–1848) hatte Exner Herbarts „Lehre von den Seelenerscheinungen“ zunächst in Böhmen verbreitet, „sodaß die Philosophie Herbart’s unter diesem Zeichen hier festen Fuß gewann“.169 Seit 1848 setzte Exner als Ministerialrat und Unterrichtsreformer in Wien (gemeinsam mit Hermann Bonitz) den Herbartianismus durch die zielgerichtete Besetzung verschiedener Lehrstühle mit Herbartianern ‚österreichweit‘ durch.170 Mit den Berufungen Ro-
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nationalismus und Restauration, Wien–Köln–Graz 2000 (Studien zu Politik und Verwaltung 61), S. 221–246, hier S. 221–234. WINTER, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, S. 242f. Exner wurde auf Vorschlag Bolzanos Ordentliches Mitglied der philosophischen Sektion der Königlich Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. Bolzanos Versuch, Exner für seine Philosophie zu gewinnen, hatte aber nicht gefruchtet: Exner blieb überzeugter Herbartianer. Vgl. HOESCHEN, SCHNEIDER, Herbartianismus im 19. Jahrhundert, S. 460. SIEGEL, Unterrichtsreform. Philosophie, S. 28. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 68. DURDÍK, Über die Verbreitung der Herbart’schen Philosophie in Böhmen, S. 319. Ebenda. Zur frühen Herbartrezeption in Österreich vgl. Barbara OTTO, Der sezessionierte Herbart – Wissenschaftsrezeption im Staatsinteresse zur Zeit Metternichs, in: BENEDIKT, KNOLL, RUPITZ (Hg.), Verdrängter Humanismus, Verzögerte Aufklärung. Band 3, S. 141–155. Stimmen die von Wolfgang Künne aufgezeigten Vermutungen des Hegelianers Karl Rosenkranz, der seit 1833 den Lehrstuhl Kants in Königsberg innehatte,
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bert Zimmermanns nach Olmütz (1849), Prag (1852) und Wien (1861) wurde die „jahrzehntelange unbedingte Herrschaft der herbartschen Philosophie in Oesterreich“ schließlich besiegelt,171 zumal dieses nun als unverfänglich eingeschätzte System auch in den Gymnasien der Monarchie obligatorisch vermittelt wurde. Robert Zimmermann (1824–1898), dem auch so mancher Schulreformer der Thunschen Ära gewogen war, stieg Schritt für Schritt zum führenden Vertreter der neuen ‚Staatsphilosophie‘ auf. Als vormaligem BolzanoSchüler und erstem Vertreter der Herbartschen Philosophie in Österreich sollte ihm eine glanzvolle akademische Karriere beschieden sein, für deren glücklichen Verlauf neben bzw. nach Bernard Bolzano insbesondere Franz
so war Exner 1844/45 von der Prager Universität in die Wiener Verwaltung ‚versetzt‘ worden, um den atheistischen „Herbartianismus Exners [...] unschädlich“ zu machen. Neue Preußische Provinzblätter 11 (1851), S. 146–165, und vgl. Wolfgang KÜNNE, ,Die Ernte wird erscheinen…‘. Die Geschichte der Bolzano-Rezeption (1849–1939), in: GANTHALER, NEUMAIER (Hg.), Bolzano und die österreichische Geistesgeschichte, S. 9–82, hier S. 18. 171 WINTER, Einleitung, in: Der Briefwechsel B. Bolzano’s mit F. Exner, S. XX. Winters Einschätzung des Stellenwerts des Herbartianismus in Österreich trifft sicher auf die als herbartianisch einzustufenden Veröffentlichungen zu. Die Zahl der Berufungen strikter Herbartianer in der Ära Thun (1849–1860) bleibt aber überschaubar. Schon unter Minister Stadion war im Jahr 1849 Franz Karl Lott (1807–1874), ein Schüler Exners, der noch Hörer von Herbart gewesen war, von Göttingen nach Wien berufen worden. In der nachrevolutionären Ära wurden auch andere Herbartianer auf Lehrstühle berufen, wie z.B. der Altphilologe Hermann Bonitz (Wien 1849) oder der Philosoph Wilhelm Volkmann (Prag 1860). Dem ‚strategischen‘ Herbartianer Eduard Hanslick (1825–1904) wurde 1856 die venia legendi für Geschichte und Ästhetik der Musik in Wien verliehen. Joseph Wilhelm Náhlowsky, ein Schüler Exners, wurde 1862 nach Graz berufen. Später wurden weitere Herbartianer auf Lehrstühle berufen, so der Philosoph Josef Durdík (Prag 1874). Der Herbartianismus stieg vor allem in der Pädagogik zur herrschenden Strömung auf, und zwar zunächst durch Theodor Vogt, einen Schüler Karl Lotts, der 1865 als Erster in Österreich im Fach Pädagogik habilitiert wurde und 1871 in Österreich (Wien) zum ersten (außerordentlichen) Professor für Pädagogik berufen wurde. 1898 wurde er ordentlicher Professor. Vogt sollte aber auch der letzte Wiener Universitätslehrer strikt Herbartscher Ausrichtung sein. Weiters wirkten in der Pädagogik in der Herbartschen Tradition Otto Willmann (Prag 1872/73) und der Exner-Schüler Gustav Adolf Lindner (Prag 1878). Vgl. Wolfgang BREZINKA, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Band 1: Einleitung. Schulwesen, Universitäten und Pädagogik im Habsburger-Reich und in der Republik, Wien 2000. Helmut ENGELBRECHT, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Band 4: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986, S. 38–49. Erik ADAM, Die Bedeutung des Herbartianismus für die Lehrer- und Lehrerinnenbildung in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie mit besonderer Berücksichtigung des Wirkens von Gustav Adolf Lindner, Klagenfurt 2002 (Retrospektiven in Sachen Bildung 2, 38). Rainer BOLLE, Gabriele WIEGAND (Hg.), Johann Friedrich Herbart 1806–2006. 200 Jahre allgemeine Pädagogik. Wirkungsgeschichtliche Impulse, Münster [u.a.] 2007.
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Serafin Exner und Leo Graf Thun verantwortlich waren. Im Jahr 1849 erster Habilitand für das Fach Philosophie in Wien, wurde Zimmermann noch im selben Jahr zum außerordentlichen Professor für Philosophie an der Universität Olmütz ernannt. 1852 wurde er nach Prag berufen, 1861 zum Professor für Philosophie an der Wiener Universität ernannt. Den Wiener Lehrstuhl hatte Zimmermann für die nächsten 35 Jahre (1861–1896) inne. In den letzten anderthalb Jahrzehnten seiner ‚Herrschaft‘ war er zudem der einzige ordentliche Professor für Philosophie an der Universität Wien. Das schon erwähnte Zimmermannsche Lehrbuch für Philosophische Propädeutik für Obergymnasien (1852/53) stellte über Jahrzehnte hinweg die kanonisierte Grundlage für den Unterricht in den oberen Gymnasialklassen dar. Es erschien nicht nur in drei vollständig überarbeiteten Auflagen, sondern wurde auch in verschiedene Sprachen übersetzt. Seine erste Auflage vermittelte im Wesentlichen noch zentrale Lehrsätze Bolzanos, in den späteren Auflagen (1860 bzw. 1867) wurde diese Ausrichtung aber zunehmend aufgegeben oder zumindest zur Unkenntlichkeit entstellt.172 Davon, dass Zimmermann in seinen Auffassungen zunächst tief von Bolzano geprägt war, zeugt nicht zuletzt seine Antrittsvorlesung in Olmütz, in der er vehement das Argument verfocht, dass weder eine wahre Philosophie noch eine reine Wissenschaft eine ‚Nationalität‘ besäßen oder mit nationalen Strömungen – welcher Art auch immer – ein Bündnis eingehen dürften.173 Zimmermann definierte die Wissenschaft als universelle, nicht aber national partikulare Handlungsform. Im konkreten historisch-politischen Zusammenhang hieß das, dass sie für die politische Stabilisierung einer ‚objektiven‘ Staatsnation wie jener der Habsburgermonarchie ein gefälliges Vehikel darstellen konnte.
3.3 D ER ANTIKANTIANISMUS IN Ö STERREICH . E INE I NVENTION OF T RADITION ? Dass das Werk Immanuel Kants und seine aufklärerische Philosophie in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch in Wien rezipiert und sogar von universitären Lehrkanzeln verbreitet wurde, lässt sich durch verschiedene ältere Zeugnisse zweifelsfrei belegen.174 Zugleich steht dank der Arbei-
172 Vgl. Edgar MORSCHER, Robert Zimmermann – der Vermittler von Bolzanos Gedankengut?, S. 176. 173 Vgl. Robert ZIMMERMANN, Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität. Eine Antrittsvorlesung, Olmütz 1850, S. 13. 174 Vgl. Karl WOTKE, Kant in Österreich vor 100 Jahren, in: Zeitschrift für österreichische Gymnasien 4 (1903), S. 289–305, und vgl. DERS., Ein Beitrag zur Geschichte des Kantianismus in Österreich, in: Jahresbericht des öffentlichen Untergymnasiums in der Josefstadt 26 (1902–1903), S. 3–4. Zum Angriff des Wolff-Schülers Franz Karl Hägelin (1735–1809) auf den Kantianismus vgl. DERS., Bemerkungen über die Gedanken, die Kantsche Philosophie betreffend,
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ten des Grazer Philosophen Werner Sauer außer Diskussion, dass die Ausbildung einer Kanttradition in Österreich seit etwa 1800 durch politische Interventionen verhindert wurde.175 Das bedeutet aber nicht, dass, wie u.a. Ernst Topitsch ausführte, „eine kantianische Unterströmung“ im Vormärz nicht weitergewirkt hätte.176 In der nachrevolutionären Ära avancierte Kant schließlich zum paradigmatischen Stellvertreter-Medium für politische Auseinandersetzungen: In den 1850er-Jahren bezichtigten die restaurativen Machthaber eine in Österreich angeblich übermächtige kantianische Aufklärungstradition der sozialen Aufwiegelung. Ihre liberalen Widersacher hielten den Herrschenden wiederum entgegen, dass aufgrund der massiven Hetze gegen das Kantsche Denken im Vormärz eine solche Tradition nicht bestanden habe und auch nicht entstehen könnte, da die Lehre Kants nach wie vor unterdrückt würde.177 Dieses über Kant laufende liberale Selbstidentifikationsnarrativ sollte sich noch lange halten: So diagnostizierte beispielsweise Otto Neurath (1882–1945), als er sich mit der Vorgeschichte des Wiener Kreises beschäftigte, einen entschiedenen Antikantianismus für Österreich: „Österreich erspart[e] sich das Zwischenspiel mit Kant.“178 Der
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in: Jahresbericht des öffentlichen Untergymnasiums in der Josefstadt 4 (1903), S. 5–14. DERS., Vincenz Eduard Milde als Pädagoge und sein Verhältnis zu den geistigen Strömungen seiner Zeit. Eine cultur- und quellengeschichtliche Einleitung in seine ,Erziehungskunde‘, Wien–Leipzig 1902 (Beiträge zur Österreichischen Erziehungs- und Schulgeschichte 4), S. 74–77. Max ORTNER, Kant in Österreich, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 14 (1904), S. 1– 25. Vgl. auch Ignaz BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848. Band 2 (1792–1848), Innsbruck 1898, S. 148, und Alphons LHOTSKY, Österreichische Historiographie, Wien 1962, S. 134. Vgl. SAUER, Die verhinderte Kanttradition, S. 303–317. DERS., Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Amsterdam 1982 (Studien zur österreichischen Philosophie 2). TOPITSCH, Kant in Österreich, S. 237. Die politisch motivierten Zurichtungen des Aufklärungsnarrativs um 1848 werden eindrucksvoll vom Wiener Historiker Franz L. Fillafer aufgezeigt. Vgl. Franz Leander FILLAFER, Rivalisierende Aufklärungen. Die Kontinuität und Historisierung des josephinischen Reformabsolutismus in der Habsburgermonarchie, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, Göttingen 2010 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 23), S. 123–169, und DERS., Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene. Überlegungen zu einer Geschichte des josephinischen Erbes in der Habsburgermonarchie, in: Christian EHALT, Jean MONDOT (Hg.), Was blieb vom Josephinismus? Zum 65. Geburtstag von Helmut Reinalter, Innsbruck 2010, S. 27–56. Otto NEURATH, Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus (Original 1936), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, hg. von Rudolf Haller und Heiner Rutte. Band 1, Wien 1981, S. 673–702, hier S. 676–679. In der Programmschrift des Wiener Kreises hatte Neurath in dem katholischen Priester Franz Brentano, der „Verständnis für die Scholastik“ aufgebracht habe, „Kant und die idealistischen Systemphilosophen [aber] beiseite ließ“, den Vater der logisch-positivistischen Theorie (und damit auch des Wiener Kreises!) ausgemacht. Vgl. Rudolf CARNAP, Hans HAHN, Otto NEURATH, Wissenschaftliche Weltauffassung.
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Ideenhistoriker Roger Bauer schloss sich dieser Auffassung an und zeichnete ein entsprechend verzerrtes Bild vom (Deutschen) Idealismus (Kant inbegriffen) und seinen Gegnern in Österreich.179 Sich explizit auf Neurath beziehend, formulierte schließlich der Grazer Philosoph Rudolf Haller die These von einem ‚Sonderweg‘ der österreichischen Philosophie, der dadurch kennzeichnet sei, dass man „Kants ,Kopernikanische Wendung‘ nie mit- und nachvollzog.“180 Als Hintergrund dieser Lesart der österreichischen Wissenschaftsgeschichte mitzuberücksichtigen sind jene Arbeiten, die 1903/04 anlässlich des 100. Todestages Kants erschienen und die österreichische Kantrezeption nach demselben Muster beschrieben, das die Auseinandersetzungen in den 1850er-Jahren geprägt hatte: Die einen sahen von Kant „alle gebildeten Kreise Wiens, selbst die fürsterzbischöflichen Alumnen beherrscht“, weshalb die Behauptung, dass „die Kantische Philosophie mit Feuer und Schwert verfolgt worden“ sei,181 jeder Grundlage entbehre. Die anderen argumentierten, dass durch die „bekannte ‚Politische Schulverfassung‘ des Jahres 1805 […] Kant vom Universitätsunterrichte [rundweg] ausgeschlossen wurde“, „nur polemisiert durfte natürlich gegen ihn werden.“ Kurz: „Die österreichische Politik unter Franz II. war antikantianisch bis ins Mark hinein.“182 Wie bereits erwähnt, darf inzwischen als historisch erwiesen gelten, dass Kant seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Österreich sowie auch an den österreichischen Universitäten rezipiert wurde:183 Seine Kritik der reinen Vernunft (1781) wurde schon bald nach ihrer zweiten Auflage 1787 zumindest in Wien zu einem gefragten und viel gelesenen Werk. Werner Sauer zeigte zudem, dass Kant im josephinischen Jahrzehnt auch im universitären Philosophieunterricht, insbesondere durch den erklärten Kantianer, Philosophen und Historiker Anton Kreil (†1833), der 1785 nach Pest berufen worden war, sowie durch den in Fünfkirchen (Pécs) lehrenden Johann Nepomuk von Delling (1764–1838) vertreten war.184 Obzwar sich Anfang des
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Der Wiener Kreis (Original 1929), in: NEURATH, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 1, S. 299–336, hier S. 302. BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 12: Hier heißt es, „daß die geistige Entwicklung, die mit den kritischen Schriften Kants einsetzt, in Österreich eigentlich nicht nachvollzogen wird.“ Rudolf HALLER, Österreichische Philosophie, in: Johann Christian MAREK [u.a.] (Hg.), Österreichische Philosophen und ihr Einfluß auf die analytische Philosophie der Gegenwart. Band 1, Innsbruck [u.a.] 1977, S. 57–66, hier S. 59. WOTKE, Kant in Österreich vor 100 Jahren, S. 303f. ORTNER, Kant in Österreich, S. 18f., S. 21, S. 17. Vgl. TOPITSCH, Kant in Österreich, S. 239–242, und SAUER, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, S. 107–153. Kreil und Delling wurden unter dem Vorwand, dass der Vortrag der kritischen Philosophie zum Atheismus führe, 1795 von ihren Stellen suspendiert. Kants Philosophie vorzutragen, war zunächst in Österreich noch nicht verboten, die Reaktion auf das „Tauwetter“ (Leslie Bodi) in der Monarchie setzte erst 1794 ein. Vgl. SAUER, Die verhinderte Kanttradition, S. 309, und DERS., Österrei-
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19. Jahrhunderts mit der Zurückdrängung aufklärerischer Tendenzen die Auffassung, dass Kant nur kritisch behandelt werden dürfe, durchgesetzt hatte,185 war er auch in den Jahrzehnten vor 1848 in aller Munde. „Alle, die sich von 1830 bis 1848 in der Donaumonarchie mit Philosophie“ beschäftigten, schreibt der Historiker Eduard Winter (1896–1982), hatten sich „mehr oder weniger an Kant geschult“.186 Winter nennt u.a. Ján Kollár (1849 Professor für Slawistik in Wien), Karol Kuzmány (1806–1866, 1849 Professor für praktische Theologie in Wien), András Vandrák (1807–1884, Philosoph am Lyzeum in Prešov/Eperies) und František (Franz) Palacký. Unter den Verehrern Kants befanden sich auch Schriftsteller und Mediziner: u.a. Eduard von Bauernfeld (1802–1890), Carl von Rokitansky (1804–1878), Ernst von Feuchtersleben (1806–1849) und Joseph Schreyvogel (1768–1832). Letzterer machte auch Franz Grillparzer (1791–1872) auf Kant aufmerksam, der in einem Tagebucheintrag von 1832 seine Wertschätzung deutlich zum Ausdruck brachte: „Alles, was ich Philosophisches lese, vermehrt meine Achtung für Kant.“187 Sogar im aufgeklärt kirchlichen Milieu des Vormärz fand Kant Anklang. Davon legt u.a. die Vorliebe des ersten Wiener Erziehungskundeprofessors und späteren Erzbischofs (1832–1853) Vincenz Eduard Milde (1777–1853) für die ‚kritische Philosophie‘ Zeugnis ab, der diese auch unter den Mitstudierenden der Theologie verbreitete.188 Auf die Rechtswissenschaften wirkte Kant merklich durch die Vermittlungstätigkeit des Wiener Juristen Franz von Zeiller, der einen Schwenk zum Königsberger Philosophen vollzogen hatte, ohne sich ihm aber vollständig anzuschließen. Ernst Topitsch zählte Kant zu den „geistigen Ahnherren des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches“.189 Während Studierende durch Zeillers Privatrecht Kants Philosophie rezipierten, wurde das ‚natürliche öffentliche Recht‘ weitgehend auf Martini aufbauend, d.h. kantkritisch unterrichtet.190
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chische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, S. 132f., 194f., 272–274. Vgl. ebenda, S. 310. WINTER, Romantismus, Restauration und Frühliberalismus im österreichischen Vormärz, S. 238f. Grillparzers Briefe und Tagebücher. Eine Ergänzung zu seinen Werken. Gesammelt und mit Anmerkungen herausgegeben von Carl Glossy und August Sauer. Band 2: Tagebücher, Hildesheim–Zürich–New York 2003 (Original 1905), S. 108. Vgl. WOTKE, Vincenz Eduard Milde, 245f. Max ORTNER, Kant in Österreich und Vincenz Eduard Milde, Klagenfurt 1904. DERS., Kant in Österreich, S. 23f. TOPITSCH, Kant in Österreich, S. 244. Vgl. SAUER, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, S. 323. Auf dem Boden der von Kant initiierten Richtung der Rechtsphilosophie stand auch Franz Edlauer (1798–1866), der Grazer Lehrkanzelinhaber für enzyklopädische Einleitung in das juridisch-politische Studium, Natur- und Kriminalrecht. Vgl. Gerhard OBERKOFLER, Die österreichische Juristentradition des Vormärz im Widerstreit mit den Reformen des Ministers Grafen Thun, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für
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Kant hatte sonach im juridischen Unterricht Aufnahme gefunden, ohne dass sich die Rechtswissenschaft vollständig der kritischen Philosophie verschrieben hätte.191 Ihre Vermittlung wurde zwar zusehends erschwert, allerdings kann von einer völligen Verdrängung Kants keineswegs die Rede sein. Nach 1848 verschärfte sich die Ablehnung Kants allerdings radikal: Um dies zu legitimieren, wurde retrospektiv der Kantianismus des Vormärz rhetorisch aufgewertet. In der von Alois Flir (1805–1859) im Auftrag von Thun verfassten, ‚anonym‘ erschienenen Schrift zur Neugestaltung der österreichischen Universitäten (1853) heißt es beispielsweise: „Die Philosophie, welche bis zum Jahre 1848 gelehrt wurde, war in der Regel eine Verquickung von Kant und Jakobi.“192 Im späten Vormärz war die Philosophie des Kantgegners (!) Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) mit besonderer Intensität und wohl unter Einschluss seiner kritischen Auseinandersetzung mit Kant gelehrt worden. Was Kant selbst betraf, so überzeichneten Thun und seine Mitstreiter dessen Wirkmächtigkeit in Österreich bewusst, um den angeblich zersetzenden Charakter seines Systems zu dokumentieren und das mit ihm ‚verseuchte‘ vormärzliche Studiensystem in Bausch und Bogen zu verwerfen. Im Jahr 1858 verurteilte sogar der Kantianer Carl Sigmund Barach – vermutlich mehr gezwungen als freiwillig – Kant offen als Revolutionär, da seine Staatsphilosophie „dem revolutionären Vernichtungsstreben und der Aufklärerei die Waffe der Wissenschaft in die Hände“ gespielt hätte.193 Kant wurde zwar zur öffentlichen Zielscheibe, die eigentlichen Angriffspunkte waren aber das Natur- und das Vernunftrecht: „Das sogenannte Naturrecht“, so Lentze, „wurde hier auf der allerunglücklichsten Stufe, auf der es sich jemals befand, der eines verseichtigten Kantianismus, gleichsam festgenagelt.“194 Kant war als Symbolfigur alles Staatsfeindlichen auch deshalb willkommen, weil mit ihm zugleich das Vernunftrecht, die „völlig verkehrte Idee von dem Ursprunge des Rechtes [aus der Vernunft]“, „die aller Offenbarung widersprechende rein subjektive Annahme [...], daß der Staat und die Ordnung in demselben, das Recht von den Menschen erfunden und erdacht sei“,195 verbannt werden konnte. In Hinkunft sollte das Recht nicht auf der Grundlage „dieser falsche[n] Philosophie“, sondern „in Verbindung mit der Geschichte und im völligen Einklange mit der wahren von Gott ge-
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Ernst C. Hellbling zum 80. Geburtstag, hg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Berlin 1981, S. 613–644, hier S. 620f. Vgl. SAUER, Die verhinderte Kanttradition, S. 308f. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 104. BARACH, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosofie, S. 25. Bezeichnenderweise gelang es Barach erst nach dem Abtritt Thuns als Unterrichtsminister und nach mehreren Anläufen sich im Jahr 1861 in Wien zu habilitieren. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 96f. ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 76.
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gebenen Grundlage alle[n] Rechtes“196 ausgelegt und auch über diesen Weg legitimiert werden. William M. Johnston resümierte in seiner Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte (31992), dass sich mit dem Aufstieg des Herbartianismus eine regelrecht „paranoische Feindseligkeit“ gegenüber Kant und dem Deutschen Idealismus etabliert habe, „gleichsam als hätten die politischen Maßstäbe der Ära Metternich die Philosophie infiziert“.197 Ebenso unbestreitbar wie die von oben verordnete Verfemtheit Kants im Thunschen Jahrzehnt ist aber das Vorhandensein vereinzelter, bald lauter werdender Stimmen, die – wie beispielsweise Carl Sigmund Barach – Kants Vernunftkritik wieder als Grundlage für eine zu entwickelnde „künftige“ Philosophie ins Spiel brachten.198 Immanuel Kant war zum Spielball politischer Strategie geworden: Allerdings waren es nicht nur die sich als ‚staatsnational‘ verstehenden politischen Kräfte, die Kant – in diesem Fall als Feindbild – instrumentalisierten: Während Thun und seine ‚Hofschreiber‘ – die Historiker Flir und Kink – den destruktiven Einfluss Kants im Vormärz hemmungslos überzeichneten, d.h. Aufklärung und Revolution kurzerhand verknüpften, übertrieben ihre liberalen Widersacher seine Verfemung im vorrevolutionären Studiensystem aus nicht minder strategischen Gründen. Der junge Wiener Rechtsphilosoph Georg Jellinek (1851–1911), der um 1900 in Heidelberg zum bedeutendsten Staatsrechtsprofessor Deutschlands avancieren sollte, verlieh dem liberalen Narrativ Ausdruck: 1874 kritisierte er in einer Schrift zur „deutschen Philosophie in Österreich“, dass die „Zwingburg des Metternichschen Systems“ die Lehren der deutschen Denker (insbesondere Kants) durch strengen Bann von den Kathedern der österreichischen Universitäten ferngehalten hätte. Der „deutsche Gedanke“ sei jahrzehntelang unterdrückt worden, während man unter dem Namen der Philosophie mehr oder weniger „kirchlich approbierte Doktrinen“ gelehrt hätte.199 Als die revolutionäre Stimmung zusehends erlosch und sich die herrschenden Mächte mit der Aufgabe der Stabilisierung der inneren Verhältnisse konfrontiert sahen, verschob sich auch das restaurative, antikantianische Narrativ: Der Aufwiegler Kant war passé. Stattdessen wurde nun der Subjektivismusvorwurf forciert: In seiner Wiener Antrittsrede im Jahr 1861 zeichnete Robert Zimmermann Kant als Vorläufer (!) des Idealismus, und er stilisierte ihn zum gefährlichen Subjektivisten:200 Zimmermann erachtete es – wie oben ausgeführt – als seine Aufgabe, die ungehemmte Subjektivität
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Ebenda, S. 80. JOHNSTON, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, S. 289f. BARACH, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosofie, S. 235–244. JELLINEK, Die deutsche Philosophie in Österreich, S. 56–59. Vor allem in Kants „Behauptung eines die Form aller Erfahrung producirenden Subjectes“ glaubte Zimmermann, die Wurzel des „Idealismus der intuitiven Anschauungsphilosophie“ zu entdecken. ZIMMERMANN, Philosophie und Erfahrung, S. 16.
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zurückzuweisen, um dem Objektivismus als Anker einer stabilen Herrschaftsordnung wieder zu seinem Vorrecht zu verhelfen. Die Schriften zu Kants 100. Todestag waren – wie schon erwähnt – noch von den beiden negativ aufeinander bezogenen, stereotypen Narrativen geprägt. Allerdings hatte im Schatten des ‚liberalen‘ Positivismus zwischenzeitlich die neukantianische Strömung auch Österreich (und sogar die ‚Berufsphilosophen‘) erreicht.201 Als deren Vertreter traten u.a. Carl Sigmund Barach, Aloys Riehl, Friedrich Jodl, Wilhelm Jerusalem, Rudolf Eisler, Max Adler, Karl Siegel, Oscar Ewald und Robert Reininger hervor.202 Auch Angehörige anderer, philosophienaher Disziplinen wie z.B. Carl Menger, Sigmund Freud und Hans Kelsen beriefen sich implizit oder explizit auf Kant.203 In einem autobiografischen Text aus dem Jahr 1927 erinnerte sich Kelsen in berührender Offenheit, wie sehr er Kant zentrale Prämissen seiner Theorie verdankte: „Die Kantische Philosophie war mir daher von allem Anfang an ein Leitstern.“204 Der unstreitbaren Resonanz, die Kant um 1900 selbst unter Philosophen fand, anscheinend zum Trotz, verstummte die Rede vom österreichischen Antikantianismus nicht: Otto Neurath brachte das Antikantianismusnarrativ wieder in Umlauf. Sich auf Neurath berufend, hatte Rudolf Haller, der in den 1980er- und 1990er-Jahren Neuraths Werk neu edierte, schon in den 1960er- und 1970er-Jahren – den Jahrzehnten der forcierten Ausbildung eines ‚österreichischen Nationalbewusstseins‘205 – die These aufgestellt, dass
201 Der Ruf „Zurück zu Kant“ verhallte nicht; er manifestierte sich in Deutschland noch im 19. Jahrhundert in zwei neukantianischen Schulen, der Marburger und der südwestdeutschen Schule. Beide entdeckten in Kants Philosophie entwickelbare Ansätze zur Neufundierung der Wissenschaften. In Österreich vertrat zunächst der einflussreiche Mediziner Carl von Rokitansky als „gleichsam offizieller Vertreter“ der Wissenschaft den neukantianischen Standpunkt. Vgl. SAUER, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration, S. 333. 202 Vgl. Wilhelm JERUSALEM, Kants Bedeutung für die Gegenwart, in: DERS., Gedanken und Denker. Gesammelte Aufsätze. NF, Wien–Leipzig 1925, S. 36– 63. 203 Vgl. PRIBRAM, Geschichte des ökonomischen Denkens 1, S. 542. 204 Hans KELSEN, Selbstdarstellung [1927], in: Hans Kelsen. Werke. Band 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hg. von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen 2007, S. 19– 27, hier S. 21, und vgl. DERS., Autobiographie [1947], in: Hans Kelsen. Werke. Band 1: Veröffentlichte Schriften 1905–1910 und Selbstzeugnisse, hg. von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen 2007, S. 29–132, hier S. 33. 205 Vgl. u.a. Friedrich HEER, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien– Köln–Graz 1981. Österreich. Von der Staatsidee zum Nationalbewußtsein. Studien und Ansprachen mit einem Bildteil zur Geschichte Österreichs, hg. im Auftrag der Gesellschaft Pro Austria von Georg Wagner, Wien 1982. Felix KREISSLER, Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozeß mit Hindernissen, Wien–Köln–Graz 1984 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 5) [Original: DERS., La prise de conscience de la nation autrichienne 1938– 1945–1978, Paris 1980]. Ernst HANISCH, Der Beginn des Nationalstaatspara-
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es eine in sich kohärente, „eigenständige“, dem Wesen nach ‚wissenschaftliche‘ Tradition „österreichischer Philosophie“ gäbe: Sie zeichne sich durch eine Tendenz zu Objektivismus und Realismus sowie (mit Blick auf ihre Abgrenzung) durch einen klaren Antikantianismus, -idealismus und -irrationalismus aus (‚Haller-Neurath-These‘). Als Zeugen der Ablehnung der Kantschen Philosophie führte Haller Bernard Bolzano, Franz Brentano, Ernst Mach und dessen Anhänger sowie die Kant nicht aufgreifenden Mitglieder des Wiener Kreises an. Den Beginn der „österreichischen“, d.h. antikantianischen Philosophie setzt der Grazer Philosoph mit den sich auf Leibniz beziehenden Arbeiten Zimmermanns, seinem Lehrer Bolzano bzw. mit Brentano an.206 Mag Hallers These auch schlüssige Momente beinhalten, so wird sie in letzter Zeit doch vermehrt in Zweifel gezogen. Aufgrund seiner überscharfen Trennung zwischen einer ‚österreichischen‘, an Leibniz anknüpfenden ‚wissenschaftlichen Weltauffassung‘ und einer ‚deutschen‘ Philosophie, die vom kantischen Apriorismus und der Spekulation des postkantischen Idealismus geprägt sei, habe Haller – so der kritische Tenor – die zahlreichen Verflechtungen und Berührungspunkte zwischen den beiden (auch in sich vielfältigen) Strängen übersehen.207 Zudem sei für Österreich eine Tradition
digmas in Österreich nach 1945 – der Unterschied zu Deutschland, in: Hans Peter HYE, Brigitte MAZOHL, Jan Paul NIEDERKORN (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma ‚Nationalstaat‘ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, Wien 2009 (Zentraleuropastudien 12), S. 293–305, hier S. 302f. Während in anderen Bereichen die regionale Abgrenzung auf Diskurse des 19. Jahrhundert zurückgeht (wie beispielsweise bei der ‚Österreichischen‘ Schule der Nationalökonomie, deren Name von der deutschen Historischen Schule zur Abwertung der ‚provinziellen‘ Menger-Schule geprägt wurde), ist der Begriff der „Österreichischen Philosophie“ in heutiger Verwendung ein Produkt der 1960er- und 1970er-Jahre. 206 Vgl. Rudolf HALLER, Wittgenstein und die Wiener Schule, in: Walter STROLZ, Oscar SCHATZ (Hg.), Dauer im Wandel. Aspekte österreichischer Kulturentwicklung, Wien–Freiburg–Basel 1975, S. 137–162. DERS., Zur Historiographie der österreichischen Philosophie, in: J. C. NYÍRI (Hg.), Von Bolzano zu Wittgenstein. Zur Tradition der Österreichischen Philosophie, Wien 1986 (Schriftenreihe der Wittgenstein-Gesellschaft 12, 2), S. 41–53. DERS., Gibt es eine österreichische Philosophie?, in: DERS., Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986, S. 31–43. 207 Vgl. Massimo FERARRI, Über die Ursprünge des logischen Empirismus, den Neukantianismus und Ernst Cassirer aus der Sicht der neueren Forschung, in: Enno RUDOLPH, Ion O. STAMATESCU (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, Hamburg 1997 (Cassirer Forschungen 3), S. 93–131, hier S. 99. Georg GIMPL, Fronde gegen die philosophierenden Physiker. Friedrich Jodl und seine Auseinandersetzung mit Ernst Mach und Ludwig Boltzmann, in: DERS. (Hg.), Ego und Alterego. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl im Kampf um die Aufklärung. Festschrift für Juha Manninen, Frankfurt am Main 1996, S. 287–330, der auf den Anteil des „kantianisch-konstruktivistischen Elements“ im österreichischen philosophischen Diskurs verweist (S. 298). Vgl. insbesondere auch Werner SAUER, Die verhinderte Kanttradition, S. 303–317.
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konstruiert worden, deren Akteure sich aufgrund völlig unterschiedlicher Auffassungen niemals als Teil einer solchen begriffen hätten.208 Weiters habe Haller den Stellenwert der angeblich typisch österreichischen Philosophie, zumindest an der Wiener Universität in der Zeit von 1918 bis 1938, im Vergleich zu anderen Strömungen (u.a. zu Othmar Spann) unzulässig überbewertet.209 Und letztlich sei auch das Argument einer nationalen Sonderentwicklung unter dem anzulegenden, habsburgspezifisch transnationalen Blickwinkel nicht nachvollziehbar: Die Philosophie aus Österreich in den Jahrzehnten vor 1914 sei weder habsburgische noch österreichische Nationalphilosophie gewesen, sondern „Weltphilosophie“.210 Auch wenn man nicht jedem der gegen die ‚Haller-Neurath-These‘ ins Treffen geführten Argumente völlig zustimmt, so darf es dennoch als überzogen bezeichnet werden, aus jener Distanz, die Bolzano, Brentano, Mach und manche Vertreter des Wiener Kreises zu Kant einnahmen, eine spezifisch ‚österreichische‘ Philosophietradition herzuleiten. Eine ausreichend beweiskräftige Zahl wissenschaftlicher und philosophischer Schriften und Vorlesungen belegen zudem, dass das Ausmaß der Ablehnung, das Kant in der politischen Rhetorik erreichte, nicht das Handeln an den Universitäten widerspiegelte. In der Tat war Kant in der Ära Thuns in Österreich eine persona non grata gewesen, seine Ablehnung sonach zweifelsohne manifest: Franz Karl Lott (1807–1874) hatte die Werke Kants zumindest noch behandelt; bald verschwanden sie aber völlig aus dem Universitätsunterricht.211
208 Beispielhaft sei die wesentliche Differenz zwischen Brentano und dem Wiener Kreis angeführt, was die Aufgabe der Philosophie bzw. den Empiriebegriff betrifft. 209 Vgl. Friedrich STADLER, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 1997, S. 96–106. 210 Vgl. Barry SMITH, Philosophie, Politik und wissenschaftliche Weltauffassung. Zur Frage der Philosophie in Österreich und Deutschland, in: Grazer Philosophische Studien 58/59 (2000), S. 241–262. DERS., Austrian Philosophy. The Legacy of Franz Brentano, Chicago–La Salle, Ill. 1996, S. 14–20. Ähnlich argumentiert die Budapester Philosophin Katalin Neumer, die dem reduktionistischen Blick Hallers die These entgegensetzt, die sprachtheoretische bzw. sprachkritische Reflexion bilde eine der Haupttendenzen der deutschsprachigen Philosophie in der Habsburgermonarchie im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts. Vgl. Katalin NEUMER, Wittgenstein und die ‚Philosophien des Lebens‘ oder: War Wittgenstein ein ‚Österreichischer‘ Philosoph? Zu Rudolf Hallers Konzeption einer eigenständigen Österreichischen Philosophie, in: DIES. (Hg.), Traditionen Wittgensteins, Frankfurt am Main 2004 (WittgensteinStudien 10), S. 103–132. 211 Ernst Topitsch verwies auf die kantkritischen, jeweils fünfstündigen Lehrveranstaltungen Karl Lotts im Sommersemester 1850 und im Wintersemester 1850/51: „Allgemeine Ethik (Moral- und Rechtsphilosophie mit kritischer Bezugnahme auf Kant, Fichte, Hegel)“ und auf eine Veranstaltung im Sommersemester 1952: „Darstellung und Kritik des Kantschen Systems“. Die nächsten Vorlesungen zu Kant fanden nicht vor 1861 statt. Barach unterrichtete im Sommersemester dieses Jahres die „Genetische Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel“. Vgl. TOPITSCH, Kant in Österreich, S. 250, bzw. Alfred
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Trotz allem war der viel zitierte ‚österreichische‘ Antikantianismus, insbesondere was Wien betrifft, allerdings in erster Linie Rhetorik, und er sollte es auch in Hinkunft bleiben. Robert Zimmermann sollte Kant nach 1848 ambivalent gegenüberstehen: Bald zieh er ihn als Wegbereiter der ungehemmten Subjektivität, bald nahm er ihn vor der „Unphilosophie“ des Idealismus in Schutz, und zwar wegen der „Fesseln der Bescheidenheit“, die Kant „seinen Behauptungen anzulegen für keine Unehre gehalten“ hätte.212 Später äußerte er sich wiederholt positiv über den ‚Vater des Kritizismus‘, u.a. in mehreren, Kant thematisierenden Aufsätzen in den Sitzungsberichten der philosophischhistorischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wenn Zimmermann in seiner Rektoratsrede von 1886 Kants Stellenwert für die moderne Philosophie unterstrich und sie als „die Schwelle“ bezeichnete, „auf der man nicht stehen bleiben kann, aber die man beschritten haben muss“, um in den „Hausflur der noch im Baue begriffenen Philosophie der Gegenwart“ zu gelangen,213 so berichtete er von der faktischen Präsenz Kants in der Lehre und in den Qualifikationsarbeiten an der Wiener Universitätsphilosophie. Zuletzt verwies auch der Wiener Historiker und Wissenschaftsphilosoph Friedrich Stadler auf die „kontinuierlich vorhandene KantTradition“ in Wien.214 Dass der angebliche Antikantianismus in Österreich nicht so schroff war, wie mitunter behauptet wurde, lässt sich vor allem für Wien einwandfrei zeigen: Unter denjenigen Philosophen, denen zwischen 1848 und 1938 an der Universität Wien Vorlesungen gewidmet waren, stand Kant mit deutlichem Abstand an der Spitze. Er wurde in diesem Zeitraum in 50 Vorlesungen im Fach Philosophie in Wien ‚eigens‘ behandelt. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Dissertationen zu Kant in der selben Periode betrachtet (39).215 Auf der universitären Bühne Wiens war Kant somit regelrecht allgegenwärtig. Um 1900 wurde er auch in verschiedenen benachbarten bzw. der Philosophie nahe stehenden Wissenschaften
212 213 214 215
WIESER, Die Geschichte des Faches Philosophie an der Universität Wien 1848–1938, phil. Diss., Wien 1950, S. 70–88. Vgl. auch die zahlreichen Tabellen zu den universitären Veranstaltungen über Kant seitens der führenden Neukantianer und über die Rezeption der philosophischen Klassiker in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum, in: Klaus Christian KÖHNKE, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main 1993 (stw 1087), S. 585–611. ZIMMERMANN, Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität, S. 14. Robert ZIMMERMANN, Über den Antheil Wiens an der Deutschen Philosophie. Inaugurations-Rede. Gehalten am 14. October 1886, Wien 1886, S. 16. STADLER, Studien zum Wiener Kreis, S. 105. Auf Bolzano nahm keine einzige Vorlesung eigens Bezug, auf Leibniz bezogen sich gleich viele wie auf Hegel und auf Fichte (7). 13 Dissertationen beschäftigten sich mit Herbart, 2 mit Bolzano. Vgl. WIESER, Philosophie an der Universität Wien 1848–1938, S. 235–241. STADLER, Studien zum Wiener Kreis, S. 98. GIMPL, Fronde gegen die philosophierenden Physiker, S. 298f.
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anerkennend rezipiert: Unter anderem fand Sigmund Freud bei Kant zahlreiche Anknüpfungspunkte (z.B. in Die Traumdeutung, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Totem und Tabu uvm.), die er folgerichtig auch bei den deutschen Idealisten entdeckte.216 Dass Kelsen in seiner Theoriebildung maßgeblich auf Kant zurückgriff, wurde bereits erwähnt. Die Schwachstellen des Antikantianismusnarrativs zeigen, dass unter diesem Vorzeichen eine österreichische Sonderentwicklung für die Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und danach nicht nachweisbar ist. Vielmehr trifft wohl das Gegenteil zu: Nach einer Periode der intellektuellen Abschließung Österreichs war Thun der Erste (aber nicht der Letzte), der sich bemühte, Österreichs Wissenschaft durch eine stärkere Annäherung an Deutschland zu modernisieren. Unter dieser Vorgabe hatte Zimmermann schon in seiner Olmützer Antrittsrede (1849) die wissenschaftliche Isolierung Österreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angeprangert und angesichts der 1849 erlassenen Lehrfreiheit, des „Gedankens freier Forschung“, in Bezug auf sein Fach enthusiastisch verkündet: „Es gibt keine Scheidewand mehr zwischen deutscher und österreichischer Philosophie“.217 Wenn derselbe Zimmermann Jahre später gegen Kant und den ‚politischen Idealismus‘ den Subjektivismusverdacht erhob, so fügte er nur den beiden schon vorhandenen Erfindungen – dem konservativen und dem liberalen Kant-Narrativ – eine weitere hinzu. Im Zuge einer invention of tradition wurden durch Überzeichnung Traditionen erfunden, der eminent politische Zweck der mit ihrer Aktualisierung jeweils verbunden war, wurde aber übersehen. Hierfür ist u.a. jener Standpunkt signifikant, der besagt, dass die österreichischen Philosophen des 19. Jahrhunderts „dem Subjektivismus, d.h. vor allem der Philosophie Kants [nicht mehr als] eine Art von ‚non possumus‘ entgegenzuhalten“ vermocht hätten.218
3.4 D ER P OSITIVISMUS
IN
Ö STERREICH
Im verfassungsgebenden Zeitalter sollte sich in der Habsburgermonarchie ein entscheidender Wandel in der weltanschaulichen Orientierung der Wissenschaften vollziehen. Der von Kant tief beeinflusste František Palacký vermittelt davon einen Eindruck: Jahrhundertelang wäre den Völkern in Sachen Staat, Kirche und Wissenschaft von der Autorität vorgeschrieben worden, „wie und was sie zu glauben hätten, wie ein jeder denken und sich zu benehmen habe,“ das Jahr 1848 habe schließlich aber dem „Grundsatz der freien Verstandes- und Willensentschließung“ des Individuums zum Vor216 In Freuds Traumdeutung (1900) werden Fichte, Schelling und Hegel häufiger zitiert als etwa Herbart, auf den Freud in seinem Gesamtwerk nur ein einziges Mal Bezug nimmt. 217 ZIMMERMANN, Über die jetzige Stellung der Philosophie auf der Universität, S. 10. 218 BAUER, Der Idealismus und seine Gegner in Österreich, S. 38.
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recht verholfen. Zwar habe das „Ministerium Bach“ (1852–1859) den Verstand des Menschen wieder in vorgeschriebene Bahnen zu lenken versucht, mit den Ansätzen einer Verfassungsstaatlichkeit habe sich der „eingezwängte Geist“ aber „vom Joche befreien und die Bahn des Fortschritts betreten“ können.219 Dieser Entwicklung ebnete mithin eine Weltauffassung den Weg, die als Positivismus bezeichnet wird. In Österreich wurde dieser zwar nicht als Massenbewegung, aber als wissenschaftlich-intellektuelles Programm wirksam. Wien etablierte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts etablierte neben Berlin und Leipzig als das bedeutendste Zentrum positivistischer Wissenschaft im deutschen Sprachraum.220 Der Positivismus lässt sich als eine Strömung in der Wissenschaft definieren, der zufolge das Analyseobjekt auf das beschränkt wird, was der Mensch sinnlich zu erfassen, zu beschreiben und zu ordnen vermag, kurz: auf erfahrbare Tatsachen. Ihr verborgenes Wesen (‚Essenz‘) sowie ihre Ursachen rechnet die positivistische Erkenntniskritik dem Reich der Metaphysik zu. Sie sind für sie ohne Erkenntniswert. Die Metaphysik war einer der zentralen Angriffspunkte der positivistischen Bewegung, die ihren Ausgang von Frankreich nahm. Ihr federführender Vertreter war August Comte (1798–1857), der die Herausforderung des wissenschaftlichen Zeitalters in der Überwindung der theologischen und metaphysischen Stadien innerhalb der Entwicklung des Denkens bzw. Wissens sah, um mit seinem Cours de la philosophie positive (1842) der positiven Methode, die er als Synonym für Wissenschaft verstand, zum Vorrecht zu verhelfen. Die positivistische Wissenschaft verfolgte das Ziel der Aufdeckung gesetzmäßiger Kausalzusammenhänge in der Seinswelt. Der Aufstieg des französischen Positivismus vollzog sich auf den Spuren des älteren (englischen) Empirismus (Francis Bacon, John Locke, David Hume). Durch die Werke von James und John Stuart Mill erfuhr die positivistische Strömung schließlich jene neuen Impulse, die insbesondere auf Österreich wirken sollten.
219 PALACKÝ, Oesterreichs Staatsidee, S. 5. 220 Hier beziehe ich mich auf folgende Darstellungen zu den Anfängen des Positivismus in Österreich: Johannes FEICHTINGER, Positivismus in der österreichischen Philosophie. Ein historischer Blick auf die frühe Positivismusrezeption, in: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 7, 2(2004), S. 24–29, bzw. DERS., Positivismus und Machtpolitik, S. 297–319. Zur Geschichte des Positivismus und Neopositivismus in Österreich aus philosophischem Blickwinkel vgl. Gerhard SCHURZ, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Logik und Sprache: der österreichische Positivismus und Neopositivismus und deren Umfeld, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 6.1: Philosophie und Religion: Erleben, Wissen, Erkennen, Wien 2004, S. 227–298. Aus soziologischem Blickwinkel beziehen sich Reinhold KNOLL und Helmut KOHLENBERGER auf die Geschichte des österreichischen Frühpositivismus, vgl. DIES., Gesellschaftstheorien. Ihre Entwicklungsgeschichte als Krisenmanagement in Österreich 1850–1930, Wien 1994, S. 105–110.
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In Deutschland fand der Positivismus in Justus von Liebig (1803–1873) einen frühen Anhänger. Der Chemiker vertrat schon zur Jahrhundertmitte, nachdem den Methoden des „reinen Nachdenkens“ lange Zeit der Vorzug gegeben worden war,221 John Stuart Mills (1806–1873) System der induktiven Logik.222 Mills Werk, das 1849 auf Deutsch erschien, fand zunächst als methodische Anleitung der Naturwissenschaften Verbreitung. In Deutschland fand auch Comtes philosophie positive, vermittelt durch den liberalen Juristen Karl Twesten (1820–1870), bald Bewunderer. Während der Positivismus jenseits der Alpen aber zunächst nur vorübergehend eine Alternative zu Hegel darstellte, war der Widerhall, auf den er diesseits stieß, dauerhafter.223 In Österreich traten zunächst aufstrebende junge Kulturwissenschaftler als Vermittler der induktiven Methode auf. Sie standen dem Logizismus Zimmermanns weitgehend reserviert gegenüber. Ansätze eines logischen Empirismus, die Bolzanos Wissenschaftslehre noch enthielt, waren inzwischen verkümmert.224 In Wien wirkte vor allem die Millsche Spielart des Positivismus befruchtend, indem er im liberalen Milieu bald der Systemphilosophie, „ein bloßes Herumtappen […] unter bloßen Begriffen“,225 den Rang streitig machte. Hier vollzog sich der Wandel von der ‚metaphysischen‘ Wissenschaftslehre zu einer sich auf empirisch überprüfbare Tatsachen beziehenden ‚wissenschaftlichen Weltauffassung‘ im Zeichen jener Impulse, die der englische Empirismus lieferte: Ernst Mach sollte später zur Schlüsselfigur des Positivismus avancieren. 3.4.1 Rivalisierende Akteure in der Aneignung des Positivismus In Österreich vollzogen sich Aneignung und Durchsetzung des Positivismus im Kontext des Aufstiegs neuer sozialer Konfigurationen: Das politischprogressive, national gesinnte, deutschliberale Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, das den zentralistisch gefärbten Verfassungsstaat verteidigte, stellte bald eine mit Adel, Kirche und autoritärer Staatsverwaltung rivalisierende Macht dar.226 Der Adel verteidigte den föderativen Staat, um seine
221 Vgl. SCHURZ, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, S. 228. 222 Die induktive Logik Mills wurde von Jacob Schiel (1813–1889), einem früheren Studenten Liebigs, übersetzt. Vgl. John Stuart MILL, Die inductive Logik. Eine Darlegung der philosophischen Principien wissenschaftlicher Forschung, insbesondere der Naturforschung, Braunschweig 1849. 223 Vgl. W. M. SIMON, European Positivism in the Nineteenth Century. An Essay in Intellectual History, Ithaca, NY 1963 (‚Positivism in Germany‘), S. 238– 263, hier S. 262f. 224 Vgl. SCHURZ, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, S. 235. 225 BARACH, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosofie, S. 9. 226 Vgl. Ernst BRUCKMÜLLER, Ein ,deutsches‘ Bürgertum? Zu Fragen nationaler Differenzierung der bürgerlichen Schichten in der Habsburgermonarchie
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Machtstellung in den Provinzen zu wahren. Das Konkordat (1855) mit dem Papst hatte der Kirche eine neue Machtstellung gesichert. Adel, katholische Kirche und das ‚Ministerium Bach‘“ vereinte jener Vormachtswille, der im Konkordat ein Sinnbild fand: Das Bündnis zwischen ‚Thron‘ und ‚Altar‘ versinnbildlichte die Machtstellung des staatlich-klerikalen Antiliberalismus.227 Aufgrund verlorener Kriege (1859 und 1866) und politischer Schwächen sahen sich Dynastie und Staatsverwaltung in den 1860er-Jahren zu einer ‚liberaleren‘ Verfassungspolitik gezwungen (‚Oktoberdiplom‘ 1860, ‚Februarpatent‘ 1861). Vor diesem Hintergrund entbrannte auch der Kampf um die Aufhebung des Konkordats. Unter liberaler Administration (1868–1870, 1871–1878/79) wurde der Staat schließlich nach der Verabschiedung der ‚Dezemberverfassung‘ (1867) durch die Maigesetze (1868), das Reichsvolksschulgesetz (1869) sowie die Kündigung und Aufhebung des Konkordats (1870/74) laisiert.228 Durch das Konkordat war das Schul-, nicht aber das Universitätswesen kirchlicher Aufsicht unterstellt worden. Im restaurativen Klima der 1850er-Jahre hatten junge liberale Wissenschaftler aber dennoch kaum Chancen, an einer Universität Fuß zu fassen. Das Ziel einer akademischen Berufslaufbahn war noch schwerer erreichbar, wenn die Anwärter jüdischer Herkunft waren. Völlig aussichtslos schien ein solches Vorhaben aber, wenn sie auch noch den Positivismus für sich entdeckt hatten. Einer jener, auf die diese Merkmale zutrafen, war Theodor Gomperz
vom Vormärz bis um 1860, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 343– 354, hier S. 351f. DERS., Wolfgang MEIXNER, Wiener Wirtschaftsbürgertum um 1900. Methodische Vorüberlegungen zur Erforschung und Darstellung einer sozialen Gruppierung, in: Karl MÖCKL (Hg.), Wirtschaftsbürgertum in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, München 1996 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 21), S. 343–374, hier S. 347f. DERS., Bildungsbürgertum und Intellektuelle in Wien und in den Kronländern, in: Andrei CORBEA-HOISIE, Jacques LE RIDER (Hg.), Metropole und Provinzen in Altösterreich (1880–1918), Wien–Köln–Weimar 1996, S. 16–29, hier S. 24f. Joseph Redlich betont in seinem Standardwerk Das österreichische Staats- und Reichsproblem (Band I/2, Leipzig 1926, S. 71), dass um 1850 „die Deutschen allein eine eigentliche Bourgeoisie besaßen.“ 227 Vgl. Karl VOCELKA, Staat und Kirche in der Periode der deutschliberalen Herrschaft, in: Leopold KAMMERHOFER (Hg.), Studien zum Deutschliberalismus in Zisleithanien 1873–1879. Herrschaftsfundierung und Organisationsformen des politischen Liberalismus, Wien 1992 (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 25), S. 75–90 und DERS., Die Gegenkräfte des Liberalismus in der Donaumonarchie, in: KAMMERHOFER (Hg.), Studien zum Deutschliberalismus in Zisleithanien, S. 122–142. Vgl. auch Roger AUBERT [u.a.] (Hg.), Die Kirche in der Gegenwart. Erster Halbband: Die Kirche zwischen Revolution und Restauration, Freiburg–Basel–Wien 1999 (Handbuch der Kirchengeschichte 6), S. 538ff, und Peter LEISCHING, Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Die Konfessionen, hg. Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band 4, Wien 1985, S. 1–247, hier S. 25–57. 228 Vgl. COHEN, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria, 1848– 1918, S. 36–39.
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(1832–1912). Als Altphilologe und späterer Verfasser des Standardwerks Griechische Denker (1896), einer dreibändigen Geschichte der griechischen Philosophie (600–300 v. Chr.), hatte er in seinem zweiten Studienjahr Anfang der 1850er-Jahre positivistische Ideen englischer Herkunft aufgegriffen. Später erinnerte er sich, dass ihm als (assimiliertem) Juden ein Lebensziel – die akademische Laufbahn – nicht vor Augen gestanden hätte: Die Konkordatszeit war angebrochen und hatte dem Juden die Laufbahn des Hochschullehrers wieder verschlossen. Mein Verhältnis zum ererbten Glauben war […] nur in der frühen Knabenzeit ein inniges gewesen. Dennoch hielt ich es, wie ich jetzt glaube mit Unrecht, für eine Ehren- und Gewissenssache, der alten Religionsgemeinschaft nicht zu entsagen, und versperrte mir damit für lange Zeit den Weg zu gedeihlicher Wirksamkeit. So stand mein Jünglingsalter unter dem Drucke der Aussichtslosigkeit […].229
Mit dem Antritt des ‚Bürgerministeriums‘ (1868–1870) verflog diese Aussichtslosigkeit aber schlagartig. Im Jahr 1867, in dem die deutschliberale Verfassungspartei in Österreich die Macht übernahm, wurde Gomperz an der Universität Wien habilitiert (ohne davor promoviert zu haben), 1869 wurde er eben hier außerordentlicher, 1873 ordentlicher Professor. Gomperz war nicht nur der erste Jude, der im deutschen Sprachraum auf einen Lehrstuhl für Klassische Philologie berufen wurde, er sollte auch der erste, einflussreiche Vermittler des Millschen Positivismus nach Österreich werden. Zur Jahrhundertmitte waren die offiziellen politischen Vorzeichen für die Aufnahme des als liberal eingestuften Positivismus noch negativ gewesen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Zum einen erhoben seine Anhänger so wie jene der Kirche Anspruch auf das Weltauslegungsprimat.230 Sich vom ‚göttlichen Sinnzentrum‘ abwendend, suchten die Positivisten nicht mehr nach dem transzendentalen Sinn, sondern nach innerweltlichen Zusammenhängen, die wissenschaftlich erkenn- und beweisbar waren. Solche ‚Sinnentleerung‘ der Welt wurde von der Kirche zwangsläufig bekämpft. Zum anderen vertrug sich der systematische ‚Materialismus‘ der Positivisten mit den Anforderungen der klerikalen Autoritäten mehr schlecht als recht. Zwar hatten Thun, Jarcke und Philipps die Analyse des Positiven zum Grundprinzip wissenschaftlicher Tätigkeit erhoben, die Wissenschaft aber lediglich auf seine historisch-genetische Ergründung beschränkt, für jedes philosophische System aber tiefe Abneigung gehegt.231 Daher hatten sie den philosophischen Unterricht, den sie verdächtigten, Staat und Kirche
229 Theodor GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 24. 230 Vgl. Bernard PLÉ, Die ‚Welt‘ aus den Wissenschaften. Der Positivismus in Frankreich, England und Italien von 1848 bis ins zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Eine wissenssoziologische Studie, Stuttgart 1996, S. 145. 231 Vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 94.
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zu unterwandern, strikter Kontrolle unterworfen, um jeden „Anstoß gegen die Offenbarung zu verhindern oder zu unterdrücken“.232 Thun hatte gehofft, der Universität durch strategische Schachzüge eine katholisch-konservative, antiliberale Ausrichtung aufprägen zu können. Allerdings vergebens. Alsbald erfasste die Hochschulen der Zug der Zeit. Sie avancierten zu Schauplätzen antiklerikaler, bald liberaler, bald nationaler Manifestationen. Wovor Eitelberger Thun gewarnt hatte, dass nämlich eine unter staatlich-klerikalem Kuratel stehende Systemphilosophie ‚materialistischen‘ Strömungen Tür und Tor öffnen musste, trat tatsächlich ein. Die Sogwirkung, die der Positivismus, der die studierende Jugend für sich einnahm, entfaltete, war beträchtlich: Er war antimetaphysisch, weltoffen, progressiv und emanzipatorisch. Vordergründig versah sich der Positivismus als wissenschaftliche Methodenlehre mit dem Schein politischer Neutralität. Allerdings waren mit seinem Auftreten auch unverkennbar politisch-weltanschauliche Ansprüche verbunden. In seiner Studie Die „Welt“ aus den Wissenschaften (1996)233 verwies Bernard Plé zu Recht darauf, dass der Positivismus in Frankreich, England und Italien unter spezifischen politischen Verhältnissen wirkmächtig wurde: In seinem Ursprungsland Frankreich hatten ihm – als säkularer Religion – z.B. die Ablösung der Monarchie durch die republikanische Staatsform (Dritte Republik) und der staatliche Laizismus zum Aufstieg verholfen.234 Auch in Österreich verschafften ihm einschneidende Transformationsprozesse, in denen sich Machtverhältnisse veränderten, ein günstiges Aufnahmeklima. So ist es bezeichnend, dass er sich zur Zeit der Hochblüte des national informierten Liberalismus dauerhaft durchsetzen konnte. Der stetige Wandel der Staatsform, die nur schrittweise Ausweitung politischer Partizipation sowie die seit der Kündigung des Konkordats (1870) zunehmende Kompromissbereitschaft der liberalen Politik in kirchenpolitischen Angelegenheiten vereitelten aber vermutlich, dass der Positivismus in Österreich zu einer mit Frankreich vergleichbaren Bewegung anschwoll. Vielmehr wurde er als eine dem Fortschrittsnarrativ verpflichtete wissenschaftliche Methodenlehre appropriiert, deren politische Schlagseite anders gelagert war. Denn: Im Prinzip war der Positivismus für nationalkulturelle Unterscheidungen blind, da sein Anspruch ein universalistischer war. Dieser Universalitätsanspruch schloss jedoch nicht aus, dass im Zeichen des Positivismus national-partikulare Ziele mitverfolgt, d.h. Wertvorstellungen anderer Nationalitäten zurückgewiesen wurden. Auch der Positivismus erlaubte also die Berücksichtigung subjektiv-partikularer Interessen, verhüllte sie aber als solche unter dem Mantel der Autorität objektiver Wissenschaft. In dieser naiven Spielart verkam so manche positivistisch verfahrende Wissen-
232 ANONYM [Aloys Flir, Leo Thun-Hohenstein], Die Neugestaltung der österreichischen Universitäten, S. 105. 233 Vgl. PLÉ, Die „Welt“ aus den Wissenschaften, 1996. 234 Vgl. ebenda, S. 292.
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schaft zu einer tendenziell unwissenschaftlichen Ideologie. Mit ihrer Hilfe konnte die im Zentrum der Bewegung stehende bürgerlich-liberale Gruppe unter dem Schleier objektiver Wissenschaft den anderen ihre eigene Welt der Werte aufzwingen, von jenen Besitz ergreifen und für eine Homogenität asymmetrischer Art auftreten. Diese Verwendung wurde später von Otto Neurath als „imperialistisch“ und „anti-pluralistisch“ kritisiert, weshalb er den Positivismusbegriff zur Bezeichnung der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ des „Logischen Empirismus“ rundweg zurückwies.235 Ernest Gellner wies darauf hin, dass der Positivismus in Wien eine spezifisch zentralistisch-deutsche, d.h. antislawische Ausrichtung besessen habe, obwohl er auch in den slawischen Metropolen Habsburgs auf großen Anklang gestoßen sei: „In Cracow and Lemberg, positivism was strong“.236 Diese Hinweise mögen genügen, um anzudeuten, dass der Positivismus auch in Cisleithanien nicht mit jener Neutralität verfuhr, die seine Verfechter zu haben vorgaben. Während er in Wien von liberaler und deutschnationaler Seite gegen staatliche und kirchliche Bevormundung in Anschlag gebracht, zugleich aber zur Bevormundung anderer – nämlich der Slawen – verwendet wurde,237 manifestierte sich der Positivismus in Polen als eine nationale bürgerlich-intellektuelle Bewegung, die das Ziel verfolgte, den Massen durch sozioökonomische Weiterentwicklung und Erziehung ein polnisches Nationalbewusstsein zu vermitteln.238 Zwar durfte sich die im Zeichen des Positivismus verfahrende Wissenschaft durch die liberale Politik eine Aufwertung erhoffen, der Preis, den Erstere für ihre Allianz – je nachdem – mit dem schroffen politischen Zentralismus oder sprachnationalen Anstrengungen zu entrichten hatte, war allerdings die Verzögerung ihrer eigenen ‚Autonomisierung‘. In Österreich stieg der Positivismus bald zur unveräußerlichen Grundlage einer zur deutschliberalen Machtpolitik affinen Wissenschaft auf, die sich mit einer spezifischen Haltung versah: Ihre Aktivisten konnten sich mit der Idee einer zentralistisch organisierten Staatsnation, in der die Vormachtstellung des deutschen Segments zu verteidigen war, identifizieren.239 Affinitäten zur liberalen Politik wiesen nicht nur die Vertreter der jungen philologischhistorischen und philosophischen Zweigwissenschaften auf, sondern auch
235 Vgl. Otto NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften durch den Enzyklopädismus des Logischen Empirismus (Original 1945), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 997–1009, hier S. 1002. 236 Ernest GELLNER, Language and Solitude. Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma, Cambridge 1998, S. 127f. 237 Vgl. FEICHTINGER, Positivismus und Machtpolitik, S. 297–319. 238 Vgl. Aleksander GIEYSZTOR [u.a.], History of Poland, Warszawa 1979, S. 465–473. 239 Vgl. Pieter JUDSON, Die Limits of National Activism in Imperial Austria: Creating Frontiers in Daily Life, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung].
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Mediziner und Naturwissenschaftler. Vor diesem Hintergrund erschien die von Robert Zimmermann und seinen Mitstreitern repräsentierte, auf formale Analysen zugespitzte Systemphilosophie, die das staatsnationale Narrativ stützte, von der induktiven Methode aber weitgehend unberührt war, bald als unzeitgemäß und verstaubt. Auch der Herbartianismus konnte den progressivsten Vertretern der Wissenschaft bald keine zureichenden Anregungen oder Antworten mehr bieten. Unter diesen Voraussetzungen entwickelte sich die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im letzten Jahrhundertviertel zu einem der bedeutendsten Brennpunkte positivistischer Wissenschaft.240 3.4.2 Die Vermittler Der Altphilologe Theodor Gomperz liefert das beeindruckendste Zeugnis für die Anfänge des Positivismus in Österreich:241 In den Jahren 1853/54, zur Zeit seines Studienaufenthalts in Leipzig, übersetzte er John Stuart Mills System der deductiven und inductiven Logik (1843).242 Dieses Werk, das Humes Empirismus mit Comtes Positivismus verknüpfte, verschaffte dem
240 In Berlin entwickelte sich zwar kein organisierter Positivismus, der mit dem in Paris vergleichbar gewesen wäre, jedoch entstand im Herzen Preußens schon in den frühen 1860er-Jahren ein positivistischer Zirkel unter dem Namen ‚Selbstmörderklub‘, in dem allwöchentlich politische und wissenschaftliche Probleme diskutiert wurden. Außer Wilhelm Dilthey, dem Kunsthistoriker und Schriftsteller Herman Grimm (1828–1901) und anderen zählte auch Wilhelm Scherer zu dieser Vereinigung. Dilthey schrieb, dass in ihr „der Geist einer veränderten Zeit [herrschte]. Die Erfahrungsphilosophie, wie sie Engländer und Franzosen ausgebildet hatten, wurde ihnen [den Mitgliedern des ‚Selbstmörderklubs‘, J.F.] durch Mill, Comte und Buckle nahe gebracht und von ihr aus bilden sich ihre Überzeugungen“. Wilhelm DILTHEY, Wilhelm Scherer zum persönlichen Gedächtniß, in: Deutsche Rundschau 49 (1886), S. 132–146, hier S. 137. Theodor Gomperz legt auch für Leipzig Zeugnis von der Verbreitung positivistischer Vorstellungen ab. Vgl. GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 33. Unter anderem verweist auch Erich Rothacker (1888–1965) auf die Kennzeichnung Leipzigs als Hochburg positivistischer Ideen. Vgl. Erich ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920, S. 199–207, hier S. 199, und Eckhardt FUCHS, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994 (Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 9), S. 266. 241 Zu Gomperz vgl. Wilhelm JERUSALEM, Theodor Gomperz, in: DERS., Gedanken und Denker, S. 160–172. Jacques LE RIDER, Theodor und Heinrich Gomperz. Altphilologie, Judentum und Wiener Moderne, in: Wilfried BARNER, Christoph KÖNIG (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2001 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3), S. 321–326. Vgl. auch Theodor Gomperz. Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit. Auswahl seiner Briefe und Aufzeichnungen 1869– 1912, erläutert und zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft von Heinrich Gomperz, hg. von Robert A. Kann, Wien 1974 (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 295). 242 Die Übersetzung der Millschen Logik durch Gomperz erschien als erster Band (1869) in der von demselben herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Mills (12 Bände, Leipzig 1869–1880).
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neuen induktiven Wissenschaftsverständnis, einer Wirklichkeitswissenschaft, entscheidende methodische (empirisch-logische) Anstöße.243 Rudolf Eitelberger, der von Thun 1852 auf den ersten Wiener Lehrstuhl für Kunstgeschichte berufen worden war, hatte Gomperz, mit dem er befreundet war, während seiner Studentenzeit die Lektüre eines ersten Positivisten – George Grotes History of Greece – empfohlen.244 Gomperz sollte dieses Werk, in dem Carl Schorske zufolge „die Sophisten und radikalen Demokraten […] als die strahlenden Lichter Athens“ gefeiert worden wären,245 zeitlebens höchst schätzen. Somit darf Eitelberger wohl als Initialzünder für die Aufnahme der neuen Erfahrungsphilosophie in Wien und Österreich bezeichnet werden. Zwar war die Positivismusrezeption zur Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum noch in ihren Anfängen, aber schon zu Lebzeiten Auguste Comtes (1798–1857) hatten positivistische Vorstellungen maßgebliche Orientierungspunkte für die Wissenschaft in Österreich geliefert. Hier hatte dieses Gedankengut, so Rothacker, „an eine […] weit verbreitete geistige Haltung nicht übel anknüpfen“ können: die „eigentümliche Mischung starker scholastischer Überlieferungen mit Josephinischer Aufklärung, […] über der sich im 19. Jahrhundert eine liberale naturwissenschaftlich mathematische Bildungsschicht ablagerte.“246 Der Brünner Chorherr und spätere Krakauer Universitätsprofessor der deutschen Sprache und Literatur Franz Thomas Bratranek (1815–1884), der am Augustinerstift zu Brünn, einem „Herd der Aufklärung“, wirkte, hatte als Lehrer am Brünner Lyzeum den jungen Gomperz mit junghegelianischen Vorstellungen in Berührung gebracht.247 Gomperz erinnerte sich im Alter, die „Willkür der Hegelschen Konstruktionen“ zwar erkannt zu haben, aber von Hegel bald dennoch tief beeinflusst worden zu sein, da dieser große Verdienste für eine „diesseitige“ Philosophie erworben hätte. Die antimetaphysische Weltauffassung sah Gomperz in John Stuart Mills empiristischpositivistischer Methode umgesetzt.248 In der Tat – so bezeugte es auch der Wiener Psychoanalytiker und Freudbiograf Siegfried Bernfeld (1892–1953) – stand Mills Philosophie „in klarem Gegensatz zu den metaphysischen Sys-
243 Vgl. KNOLL, KOHLENBERGER, Gesellschaftstheorien, S. 106. 244 Vgl. GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 33, und FUCHS, Henry Thomas Buckle, S. 275. 245 Carl E. SCHORSKE, Die ägyptische Ausgrabung. Freuds Psycho-Archäologie der Kulturen, in: DERS., Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne, Wien 2004, S. 223–249, hier S. 228. 246 ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 200. 247 Der Mährer Bratranek machte Gomperz auch mit Rudolf Eitelberger, einem Jugendfreund und Landsmann, bekannt. 248 GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 13f. Im Herbst 1853 hatte Gomperz Mills Logik erworben, bald stand er in regem Briefwechsel mit Mill, seit 1856 pflegten sie auch persönlichen Austausch, sodass Gomperz über positivistische Entwicklungen aus erster Hand informiert war. Gomperz unterhielt auch zum französischen Positivisten Émile Littré (1801–1881), zu George Grote (1794– 1871) und zu Herbert Spencer (1820–1903) persönliche Beziehungen. Mill und Littré verwiesen Gomperz auf das Werk Comtes.
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temen, die man damals vorzugsweise ‚Philosophie‘ nannte“.249 Diesbezüglich hatte Mill für Gomperz dem „Grundpathos“ seines eigenen „Nachdenkens über philosophische Fragen ganz und gar“ entsprochen.250 Gomperz bekundete in seinen Essays und Erinnerungen (1905), die beredt Zeugnis zur Vorgeschichte des Positivismus in Österreich ablegen, dass ihn Mills induktive Logik aufgrund des „Kampfs gegen Willkür“ mit Jubel erfüllt habe: Alle Metaphysik und Ontologie, jeder Versuch, hinter die Welt der Phänomene vorzudringen, war dem strengen Empiriker Gomperz schon damals aus erkenntnistheoretischer Perspektive als illegitim erschienen, er beschränkte sich lieber darauf, die Welt der Erscheinungen zu analysieren. Diesen Standpunkt, dem er schon im Werk von Mills Vater James Mill (1773–1836) begegnet war, bezeichnete er in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Übersetzung der Millschen Logik als Erster mit dem Ausdruck „Phänomenalismus“.251 Als ein Antidoton wider die Willkür moralisch-sozialer, jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrender Machtansprüche betrachtete Gomperz auch den „Utilitarismus“, das Bestreben, „,den Imperativ aller praktischen Vorschriften auf den Indikativ realer menschlicher Interessen‘ zurückzuführen“, sowie den strengen Determinismus, der auch die menschlichen Willenshandlungen nicht der allwaltenden Kausalität entziehe.252 In der positivistischen Logik erkannte Gomperz sonach nicht nur eine wissenschaftlich-theoretische, sondern auch eine praktisch-ethische Herausforderung. Diese motivierte ihn und den mit ihm verbündeten jungen Wilhelm Scherer (1841–1886), der seine „Wendung“ zum Positivismus vermutlich Theodor Gomperz verdankte,253 sich sozialpolitisch zu engagieren: Traut man den Gomperzschen Aufzeichnungen, so stand er zusammen mit Scherer, Max Menger (1838–1911) und Adolf Ehrenfeld an der Wiege der Arbeiterbewegung. Sie machten sich auch, so Gomperz, um den Aufbau von Arbeiterbildungsvereinen, Konsumvereinen und Produktivgenossenschaften verdient und waren später auch an der Gründung der anfänglich von Carl von Rokitansky geleiteten anthropologischen Gesellschaft beteiligt. Sie nahmen auch mit Theodor Meynert (1833–1892), dem späteren Direktor der Psychiatrischen Klinik des Allgemeinen Krankenhauses (1875–1892), Ver-
249 Siegfried BERNFELD, Freuds wissenschaftliche Anfänge (Original 1949), in: DERS., Suzanne CASSIRER BERNFELD, Bausteine der Freud-Biographik, hg. von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 1981 (stw 727), S. 112–147, hier S. 142f. 250 Theodor GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 13f. 251 Ebenda, S. 34. 252 Ebenda. 253 Vgl. Hans-Harald MÜLLER, Mirko NOTTSCHEID, Der Briefwechsel zwischen Theodor Gomperz und Wilhelm Scherer. Eine Gelehrtenkorrespondenz vom Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 134, 2(1997–1999), S. 127–156, hier S. 128.
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bindung auf, um sich Einblick in seine empirischen Versuche und Analysen zu verschaffen.254 Zur Mitte der 1860er-Jahre hatte sich im Wiener Umfeld von Gomperz und Scherer, der zwischen 1862 (Rückkehr aus Berlin) und 1872 (Berufung nach Straßburg) in Wien wirkte und 1868 zum ordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur berufen wurde, ein positivistischer Zirkel formiert, dessen Ziel in der Umsetzung des positivistischen Projekts in den jeweiligen Wissenschaften und seiner Verbreitung bestand. Diese Vereinigung hätte mehr erreicht, so Gomperz, als ihr Name „historisches Kränzchen“ auszudrücken vermochte:255 In ihren Sitzungen wurden Politik und Literaturgeschichte, Religions- und Sprachwissenschaft, aber auch die Nationalökonomie und die Soziologie verhandelt.256 Zu den tätigsten Mitgliedern zählten der Altphilologe und spätere Kultus- und Unterrichtsminister Wilhelm von Hartel (1839–1907), der Altgermanist Richard Heinzel (1838– 1905), der Historiker Ottokar Lorenz (1832–1904), der Kunstforscher Moritz Thausing (1838–1884) sowie Theodor Gomperz und Wilhelm Scherer. Mit Scherer vollzog sich in der jungen Germanistik ein Methodenwandel. Er betrachtete die Vergangenheit im Spiegel von Ursache und Wirkung und zog in methodischer Anlehnung an Ernst Wilhelm von Brückes Lautphysiologie Schlüsse auf den historischen Lautwandel. Scherer orientierte sich in seinem Buch Zur Geschichte der deutschen Sprache (1868) an der ‚naturwissenschaftlichen‘ Methodik. Sein Wissenschaftshandeln verknüpfte er mit einer politisch-teleologischen Zielsetzung: Er versuchte zu den Wurzeln ‚deutscher Einheit‘ vorzudringen, um die nationale Idee sprachwissenschaftlich zu verifizieren. Später etablierte Scherer den Positivismus auch als literaturwissenschaftliche Methode.257 Das positivistisch-induktive Verfahren fand in den historisch-philologischen Disziplinen verstärkt Anklang: Insbesondere verliefen die mit dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung verknüpften Anfänge der „Wiener Schule“ der Kunstgeschichte (Rudolf Eitelberger, Jacob Falke, Moritz Thausing) im Zeichen des Positivismus.258 Rudolf Eitelberger trug die
254 Vgl. Theodor GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 46. 255 Auch in Leipzig sollte sich später ein ‚Positivisten-Kränzchen‘ formieren. Mitglieder waren der Psychologe Wilhelm Wundt, der Geograph Friedrich Ratzel, der Historiker Karl Lamprecht und der Chemiker Wilhelm Ostwald. Vgl. Roger CHICKERING, Das Leipziger ‚Positivisten-Kränzchen‘ um die Jahrhundertwende, in: Gangolf HÜBINGER, Rüdiger vom BRUCH, Friedrich Wilhelm GRAF (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Band 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 227–245. 256 Vgl. GOMPERZ, Essays und Erinnerungen, S. 47. 257 Vgl. Peter WIESINGER, Die Entwicklung der Germanistik in Wien im 19. Jahrhundert, in: Frank FÜRBETH [u.a.] (Hg.), Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt am Main (1846–1996), Tübingen 1999, S. 443–468, hier S. 456f. 258 Vgl. Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854–1954, Graz–Köln 1954 (Mitteilungen des Instituts für
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positivistische Auffassung in sein Museum für Kunst und Industrie. In diesem ersten Kunstgewerbemuseum Europas (außerhalb Englands) bildete ein Fortschrittsbegriff, der mit der Vorstellung einer unaufhaltsamen materiellen und technologischen Entwicklung gekoppelt war, die Grundlage für ein empirisch fundiertes Klassifikationsverfahren. Der stellvertretende Direktor Jacob Falke (1825–1897) trieb die Ausbildung einer technisch-materialistischen Stiltheorie voran: Er verquickte die materialistisch-deterministische Methode des positivistischen Historikers Thomas Henry Buckle (1821–1862) mit der Stiltheorie Gottfried Sempers (1803–1879).259 Aber auch andere Sprachund Literaturwissenschaftler und Historiker wie z.B. Ottokar Lorenz, Felix Stieve (1845–1898), R[ichard] M[aria] Werner (1854–1913) und Wilhelm Meyer-Lübke (1861–1936) zeigten sich in Österreich gegenüber positivistischen Ansätzen offen,260 insbesondere aber Vertreter der Staatswissenschaft, in der sich das positive, ahistorische Staatsrecht sukzessive durchsetzte. Ein früher Hauptvertreter dieser Strömung, Josef Ulbrich (1843–1910), plädierte vehement für die normative ‚juristische Methode‘: „Eine wissenschaftliche Darstellung des Staatsrechts darf nicht ein trübes Gemenge philosophischer, historischer, statistischer Notizen sein; sie muss vielmehr in strenger Systematik ihren Stoff juristisch behandeln.“261 Schließlich manifestierte sich der Positivismus auch in der Universitätsphilosophie. Zunächst öffnete sich ihm Franz Brentano (1838–1917), der 1874 auf den zweiten Wiener Philosophielehrstuhl berufene Würzburger Philosoph. In der Wiener Philosophielandschaft etablierte sich der Positivismus bald durch Friedrich Jodl (1849–1914), Adolf Stöhr (1855–1921) und Richard Wahle (1857–1935) als neue wegweisende Strömung.262 Den Höhepunkt seiner Strahlkraft erreichte er allerdings durch Ernst Mach (1838–1916), der im Jahr 1895 auf einen Lehrstuhl für Philosophie, der der
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Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 17). Karl VOCELKA, Das Habsburgerreich als Gegenstand und Aufgabe der österreichischen Geschichtsforschung, in: Martin SCHEUTZ, Arno STROHMEYER (Hg.), Was heißt ‚österreichische‘ Geschichte? Probleme, Perspektiven und Räume der Neuzeitforschung, Innsbruck [u.a.] 2008 (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 6), S. 37–50, hier S. 43–45. Johannes FEICHTINGER, Barbara BOISITS, Gregor KOKORZ, Volker MUNZ, Sonja RINOFNER-KREIDL, Peter STACHEL, Carlos WATZKA, Bernd WEILER, Peter WILHELMER, Wissenschaft und Kontext: Universalismus und Relativismus in der Wissenschaftsgeschichte Zentraleuropas, in: Moritz CSÀKY, Astrid KURY, Ulrich TRAGATSCHNIG (Hg.), Kultur. Identität. Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck [u.a.] 2004 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 4), S. 165–206, hier S. 180–184. Vgl. Diana REYNOLDS, Alois Riegl and the Politics of Art History: Intellectual Traditions and Austrian Identity in Fin de Siècle Vienna, PhD. Dissertation, University of California, San Diego 1997, S. 177–190. Vgl. ROTHACKER, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 206. Joseph ULBRICH, Lehrbuch des Oesterreichischen Staatsrechts. Für den akademischen Gebrauch und die Bedürfnisse der Praxis, Berlin 1883, S. I. Vgl. SAUER, Die verhinderte Kanttradition, S. 313.
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Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaften gewidmet war, berufen wurde. Die Berufung erfolgte bezeichnenderweise von der letzten Regierung, in der die deutschliberale Partei noch entscheidend vertreten war. An Machs Berufung hatte ein Altliberaler, nämlich Theodor Gomperz, das Aushängeschild des Positivismus in Wien, tatkräftig mitgewirkt.263 Franz Brentano, neben Zimmermann die Schlüsselfigur der Wiener Philosophie vor Mach, hatte zuvor ein System entworfen, das sich der Aufgabe verschrieb, psychologische Gesetze durch empirische Verifikation abzusichern. Mit seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874)264 verfolgte er das Ziel, die psychologische als philosophische Methode nach naturwissenschaftlichem Vorbild auszurichten. Die Philosophie war für ihn eine Wissenschaft wie jede andere. Demnach müsse sie – wollte man sie richtig betreiben – eine Methode verwenden, die im Wesentlichen mit jener anderer Wissenschaften übereinstimme: „Die naturwissenschaftliche Methode […] ist, das ist heute ausgemacht, auch für die Philosophie die einzig wahre.“265 In diesem Sinne hatte Brentano auch seine berühmte vierte Habilitationsthese von 1866 formuliert, die er als provokante Erwiderung auf die Philosophie des Deutschen Idealismus vorbrachte: „Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaft.“266 Sonach teilte er mit dem Positivismus nicht nur den Anspruch auf Objektivismus und Wissenschaftlichkeit, sondern auch die Ablehnung idealistischer Spekulation (Hegel, Fichte und Schelling).267 Franz Brentano hatte über Auguste Comte und die positive Philosophie (1869)268 eine Abhandlung verfasst, und er stand zumindest im Jahr 1873 mit John Stuart Mill in Briefkontakt. Dennoch wäre es voreilig, Brentano unter die Positivisten einzureihen. Vom Positivismus trennten ihn, so der Düsseldorfer Wissenschaftstheoretiker Gerhard Schurz, „eine Reihe von logisch-empiristisch inakzeptablen metaphysischen Thesen“269 wie z.B. jene von der apriorischen Tatsachenerkenntnis u.a. durch Gottesbeweise, aber auch eine abweichende Auffassung, was die empirische Methode betraf. Seine Annahme eines Dualismus von Physischem und Psychischem sollte später Ernst Mach – nach seinem Positi-
263 Vgl. Josef MAYERHÖFER, Ernst Machs Berufung an die Wiener Universität 1895, in: Clio Medica. Acta Academiae Internationalis Historiae Medicinae 2 (1967), S. 47–55, hier S. 52. 264 Franz BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, hg. von Oskar Kraus. 2 Bände, Leipzig 21924–1925 [Original: DERS., Psychologie vom empirischen Standpunkte. 2 Bände, Leipzig 1874]. 265 Franz BRENTANO, Meine letzten Wünsche für Oesterreich, Stuttgart 1895, S. 32. 266 Franz BRENTANO, Über die Zukunft der Philosophie, hg. von Oskar Kraus, Leipzig 1929 (Original 1893), S. 137. 267 Vgl. SCHURZ, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, S. 234. 268 Franz BRENTANO, Auguste Comte und die positive Philosophie, in: DERS., Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand, Leipzig 1926 (Philosophische Bibliothek 195) (Original 1869), S. 99–133. 269 SCHURZ, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, Logik und Sprache, S. 234.
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vismusverständnis – als metaphysisch verwerfen. Auch Brentanos Empiriebegriff war aus rein positivistischer Sicht zwiespältig. Seine Auffassung von der empirischen Methodik bezog sich in erster Linie noch auf die innere Wahrnehmung („introspektive Evidenz“) als Fundament der Tatsachenwahrnehmung, obwohl er auch Außenwahrnehmung und Experiment als Erkenntnisquellen anerkannte.270 Seiner Auffassung nach, der „Nüchternheit besonnener Forschung“271 zum Vorrecht verhelfend, war Franz Brentano aber zweifelsohne Positivist. In seiner Wiener Antrittsvorlesung verkündete er das Ziel, die vorherrschende philosophische Methodenlehre, die „durch intuitiv schöpferische Konzeption und durch aprioristische Konstruktionen ein Gebäude spekulativen Wissens“ errichtet hatte, zu stürzen. Denn auch in der Philosophie dürfe es, „keine andere Lehrmeisterin geben […] als die Erfahrung.“272 Zwar bestand für ihn kein Zweifel, dass der vermeintlich spekulative Idealismus überwunden war, was aber Wien betraf, so vermerkte er, war die „Periode traumhaft willkürlicher Konstruktionen“ offenbar noch nicht ganz vorüber: „Das Unkraut ist nicht ausgerodet“:273„Ich kam in einer Zeit“, so berichtete er von seiner Ankunft in Wien, „welche sich über die Hohlheit pomphaft aufgebauschter Lehrsysteme völlig klar geworden war“, ohne aber „Keime echter Philosophie“ vorzufinden: „Ich fand die Zustände in hohem Maße traurig; eine Herbartische Lehre, aber keine Herbartische Schule (die Stunde für sie war eben schon vorüber)“.274 Die von Herbart „unter Anwendung der Mathematik weitgeführten Deduktionen“ hätten hier insbesondere in der Psychologie den Herausforderungen einer induktiven Wissenschaft nicht mehr zu genügen vermocht, vielmehr noch: „Zu was für Verirrungen die Psychologen ob dem Mangel seiner Hilfsmittel geführt werden, zeigt besser vielleicht, als irgend etwas anderes, das gänzliche Fehlschlagen des Versu-
270 Davon zeugt sein vergebliches Vorpreschen bei der Gründung eines Instituts für experimentelle Psychologie in Wien. Vgl. BRENTANO, Meine letzten Wünsche für Oesterreich, S. 33–39. In Österreich sollte sich die Psychologie nicht vor dem Jahr 1922, als Karl Bühler nach Wien berufen wurde, als Wissenschaftsdisziplin verselbständigen. Mit seiner Berufung war die Errichtung des renommierten städtischen Wiener Psychologischen Instituts verbunden. Vgl. Gerhard BENETKA, Giselher GUTTMANN, Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.1: Menschliches Verhalten und gesellschaftliche Institutionen: Einstellung, Sozialverhalten, Verhaltensorientierung, Wien 2001, S. 83–168, hier S. 122–128. 271 Oskar KRAUS, Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von Carl Stumpf und Edmund Husserl, München 1919, S. 7. 272 Franz BRENTANO, Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete. Ein Vortrag, gehalten beim Antritte der philosophischen Professur an der k.k. Hochschule zu Wien am 22. April 1874, in: Kurt Rudolf FISCHER (Hg.), Österreichische Philosophie von Brentano bis Wittgenstein, Wien 1999, S. 3–14, hier S. 3. 273 BRENTANO, Meine letzten Wünsche für Oesterreich, S. 31. 274 Ebenda, S. 10.
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ches von Herbart, eine wissenschaftliche Psychologie zu begründen.“ Der Grund lag für Brentano offen: „Es fehlt überall an der Erfahrungsgrundlage.“ Beispielhaft nannte er Herbarts unbewiesene Annahme, „daß entgegen gesetzte Vorstellungen nach Maßgabe ihrer Stärke sich hemmen.“275 Der „Paradigmenwechsel in der psychologischen Erkenntnistheorie“276 stand unmittelbar bevor. Doch nicht Brentano, der die Vorstellungsmechanik Herbarts wegen der „aprioristischen Konstruktionen“ als anachronistisch eingestuft hatte, sollte ihn anführen, sondern Sigmund Freud: Diesem war es vorbehalten, die Psychologie auf neue Wege zu führen.
3.5 S IGMUND F REUD UND DIE Ü BERWINDUNG DES H ERBARTIANISMUS Von den tiefgreifenden Wendungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – von der Systemwissenschaft zur empirischen Forschung, von der deduktiven zur induktiven Methode sowie von der Vernunftwissenschaft zum ‚subjektivistischen Objektivismus‘ – zeugt das Werk bedeutender Wissenschaftler. Die frühen Wiener Verfechter der empirisch-induktiv verfahrenden Wissenschaft waren – wie erwähnt – Theodor Gomperz, Wilhelm Scherer, Max Menger, Wilhelm von Hartel, Moritz Thausing, die hervorragendsten Mediziner Wiens – Carl von Rokitansky, Theodor Meynert, Ernst Wilhelm von Brücke, Hermann Nothnagel – sowie Franz Brentano und der Schüler der zuletzt Genannten: Sigmund Freud. Dessen Weg sollte sich später mehrfach mit dem von Gomperz, dem federführenden Vermittler des Werks von John Stuart Mill, kreuzen.277 Auf Mills Ideen war der junge Student zunächst aber durch Franz Brentano aufmerksam geworden. Vier Semester lang (WS 1874/75–SS 1876) hatte Freud die Lehrveranstaltungen
275 Ebenda, S. 36. 276 Vgl. Wolfgang NEUBER, Paradigmenwechsel in psychologischer Erkenntnistheorie und Literatur. Zur Ablöse des Herbartianismus in Österreich (Herbart und Hamerling, Freud und Schnitzler), in: Herbert ZEMAN (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Teil 1, Graz 1989, S. 441–474. 277 Sigmund Freud behandelte „gegen Ende der Achtziger- und bis gegen die Mitte der Neunziger Jahre“ die Nervenschmerzen von Gomperz’ Ehefrau Elise. Diese wurde im Jahr 1902 bei Unterrichtsminister Hartel, dem Altphilologen und früheren Mitglied des Wiener Positivistenzirkels, in Sachen Zuerkennung des Professorentitels für Freud vorstellig. Im selben Jahr wurde Freud der Titel eines Titular-Extraordinarius verliehen. 1920 wurde ihm der Titel „ordentlicher Universitätsprofessor“ zuerkannt. Vgl. Josef GICKLHORN, Renée GICKLHORN, Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente, Wien– Innsbruck 1960, S. 46f. K. R. EISSLER, Sigmund Freud und die Wiener Universität. Über die Pseudo-Wissenschaftlichkeit der jüngsten Wiener FreudBiographik, Bern–Stuttgart 1966. Theodor Gomperz. Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit, S. 106f. SCHORSKE, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, S. 231.
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des Verfassers der Psychologie vom empirischen Standpunkte besucht.278 Brentano war es auch, der Freud an Gomperz vermittelte, für dessen deutschsprachige Ausgabe der Millschen Werke er im Jahr 1879 vier Essays übersetzte.279 Kurzfristig hatte Freud erwogen, Philosophie zu studieren. Jedoch nahm er von diesem Vorhaben bald wieder Abstand, um sein Studium der Medizin (1873–1881), in der er sein wissenschaftliches Methodenideal stärker verwirklicht sah, abzuschließen. Zu dieser Zeit hatten die hervorragendsten Mediziner Wiens – der renommierte deutsche Physiologe Ernst Wilhelm von Brücke (1819–1892), der Professor für Innere Medizin Hermann Nothnagel (1841–1905) und der Psychiater und Hirnanotom Theodor Meynert (1833–1892) – die neuen positivistischen Grundsätze in ihren Laboratorien etabliert. Insbesondere Brücke war ein radikaler Verfechter empirischer Wissenschaft. Freud hatte 1876 seine positivistisch orientierten Vorlesungen über Physiologie besucht.280 Im selben Jahr war er in Brückes physiologisches Labor eingetreten. Von den Laborversuchen beeindruckt, sollte der junge Freud unter Brückes Obhut zu seiner künftigen Auffassung finden, die durch eine „materialistische Grundorientierung“ (Evolutionismus, Physikalismus, Empirismus) bestimmt war.281 In Brücke begegnete der jun278 Vgl. BERNFELD, Bausteine der Freud-Biographik, S. 179. Zum Einfluss Brentanos auf Freud vgl. Günter GÖDDE, Traditionslinien des Unbewußten. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, Tübingen 1999, S. 95, und DERS., Freuds philosophische Diskussionskreise in der Studentenzeit, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 27 (1991), S. 73–113, hier S. 83–90. 279 Vgl. John Stuart MILL, Gesammelte Werke. Autorisierte Übersetzung unter Redaktion von Professor Dr. Theodor Gomperz. Band 12: Über Frauenemanzipation. Plato. Arbeiterfrage. Socialismus, Leipzig 1880. Heinrich Gomperz verweist auf die Vermittlerrolle Brentanos, der Sigmund Freud seinem Vater als Übersetzer der vier Mill-Schriften empfohlen hatte. Der Psychoanalytiker berichtete darüber Heinrich Gomperz im Jahr 1932 brieflich. Vgl. Theodor Gomperz. Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit, S. 106f. Sigmund Freud erwähnte Gomperz später in einem Zitat seiner Traumdeutung. Sigmund FREUD, Die Traumdeutung [Mit den Zusätzen bis 1935] (Original 1899/1900), in: DERS., Gesammelte Werke. Band II/III. Nachdruck der Ausgabe von London 1942, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 102f. 280 Vgl. dazu Ernst BRÜCKE, Vorlesungen über Physiologie. Unter dessen Aufsicht nach stenographischen Aufzeichnungen. 2 Bände, Wien 1874. 281 Vgl. GÖDDE, Freuds philosophische Diskussionskreise in der Studentenzeit, S. 78–83. DERS., Philosophischer Kontext, in: Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Hans-Martin Lohmann und Joachim Pfeiffer, Stuttgart–Weimar 2006, S. 10–25, hier S. 10. Ernest JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die grossen Entdeckungen 1856–1900, Bern–Stuttgart 1962, S. 45. Sigmund Freud unterzeichnete um 1911/12 zusammen mit Ernst Mach, Albert Einstein, Josef Popper-Lynkeus und anderen einen „Aufruf“ an Wissenschaftler verschiedener Disziplinen für die Gründung einer „Gesellschaft für positivistische Philosophie“, deren Ziel darin bestand, „eine umfassende Weltanschauung aufgrund des Tatsachenstoffes vorzubereiten, den die Einzelwissenschaften angehäuft haben.“ Augustinus WUCHERER-HULDENFELD, Philosophisches im Denken Sigmund Freuds, in: DERS., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein.
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ge Student „der größten Autorität“, so Freud später, die je auf ihn gewirkt habe.282 Durch das Wort seines verehrten Lehrers kam er zur Einsicht, dass er in seiner „armseligen materiellen Situation eine theoretische Laufbahn vermeiden müßte.“283 1882 wechselte der junge Arzt als unbezahlter Aspirant an die Abteilung des neu nach Wien berufenen Internisten Hermann Nothnagel am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, 1883 als Sekundararzt an die Klinik des international angesehenen Psychiaters Theodor Meynert, der das Ziel verfolgte, die Psychiatrie vom Makel spekulativer Wissenschaft zu befreien.284 Brücke, Nothnagel und Meynert unterstützten 1885 Freuds Habilitationsvorhaben im Fach Neuropathologie. Im selben Jahr führte ihn ein mehrmonatiges Stipendium der Wiener Universität zu Jean-Martin Charcot (1825–1893) an die wohl bekannteste psychiatrische Anstalt seiner Zeit, das Hôpital Salpêtrière, nach Paris. Im Jahr 1886 ließ sich Freud in Wien als Nervenarzt nieder: „So kam ich von der Histologie des Nervensystems zur Neuropathologie und auf Grund neuer Anregungen zur Bemühung um die Neurosen.“285 Als Student hatte Freud die Absicht, seine philosophischen Studien zu vertiefen, verworfen. Die Universitätsphilosophie war ihm vermutlich als zu spekulativ, abstrakt und subjektiv erschienen.286 Im September 1875 schrieb er in einem Brief an einen Jugendfreund: „Gegen die Philosophie bin ich mißtrauischer als je.“287 Zu dieser Zeit hatte der Herbartianismus noch die Wiener und Prager Universitätsphilosophie beherrscht.288 Manche Auffassungen der Wiener Herbartianer in Amt und Würden mussten auf die Verfechter des neuen empirisch-induktiven Methodenideals anachronistisch wirken. In der Tat zeichnete sich in der Philosophie, der Psychologie und der Ästhetik bald eine Wende ab: „Dass der Herbartianismus [im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, J.F.] so weitgehend auf der Strecke blieb“, er-
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Ausgewählte philosophische Studien I. Anthropologie, Freud, Religionskritik, Wien–Köln–Weimar 22003, S. 153–341, hier S. 189. Sigmund FREUD, Nachwort zur ‚Frage der Laienanalyse‘ (Original 1926), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV. Werke aus den Jahren 1925–1931. Nachdruck der Ausgabe von London 1950, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 287–296, hier S. 290. Ebenda. Vgl. Albrecht HIRSCHMÜLLER, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie. Von der Hirnmythologie zur Neurosenlehre, Tübingen 1991, S. 117–135, S. 223– 227. FREUD, Nachwort zur ‚Frage der Laienanalyse‘, S. 290f. Vgl. WUCHERER-HULDENFELD, Philosophisches im Denken Sigmund Freuds, S. 161–168. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 1, S. 49. Eli ZARETSKY, Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse, Wien 2006, S. 46f. FREUD, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 145 [Eintrag von „Wien, 9. Sept. 1875“]. In Wien wirkten noch Robert Zimmermann (–1896) und Theodor Vogt (–1906). Franz Karl Lott war 1874 verstorben. In Graz lehrte Johann Wilhelm Náhlowsky (–1885) und in Prag unterrichteten zu dieser Zeit noch Josef Durdík, Otto Willmann und Gustav Adolf Lindner.
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klärt der Lüneburger Kunsthistoriker Karl Clausberg mit seiner „spezifischen vorempirischen Steigbügelhalterrolle“.289 Theodor Gomperz sah nicht zufällig in Zimmermann, dem Aushängeschild des Herbartianismus in Österreich, nichts anderes als „ein Relikt einer vergangenen Epoche der Philosophie“290. Selbst Franz Brentano stufte Herbarts System aufgrund seiner Abstraktheit in seiner Vorlesung zur Psychologie und Ästhetik (WS 1885/86) spöttelnd als wissenschaftlich überholt ein: „Leider meinten viele, wo soviel mathematische Strenge zu finden sei, müsse exakte Wissenschaft gegeben sein.“291 Schon im Jahr 1875 hatte Brentano in einem Gespräch, das er mit Sigmund Freud und Josef Paneth (1857–1890) geführt hatte, Herbarts „aprioristische Konstruktionen in der Psychologie“ entschieden zurückgewiesen, und er hatte sich darüber echauffiert, „daß es mit Philosophie sehr wüst ausgesehen habe.“292 Auch Robert Zimmermann blieb in diesem Gespräch nicht ungeschoren. Er wurde ebenso „herabgesetzt“. Was Herbart betraf, hielt es Brentano für unverzeihlich, „daß es ihm [Herbart] nie eingefallen sei, die Erfahrung oder das Experiment zu Rate zu ziehn und nachzusehn, ob diese auch mit seinen willkürlichen Annahmen [überein]stimmten“.293 Sigmund Freud bemerkte in einem Brief an seinen Jugendfreund Eduard Silberstein, dass Brentano in einem Gespräch von „einige[n] merkwürdige[n] psychologische[n] Beobachtungen“ berichtet hätte, „die die Haltlosigkeit der Herbartschen Spekulationen zeig[t]en. Es tue mehr not, über einzelne Fragen gründliche Untersuchungen anzustellen, um zu einzelnen sicheren Resultaten zu gelangen, als das Ganze der Philosophie umfassen zu wollen, was nicht anginge, weil die Philosophie und Psychologie eine noch ganz junge Wissenschaft sei und besonders von der Physiologie keinerlei Unterstützung erwarten könne.“294 Brentano hatte sich in diesem Gespräch „unumwunden zur [wirklichen] empiristischen Schule“ bekannt, die er in der Übertragung der „Methode der Naturwissenschaften auf die Philosophie und besonders die Psychologie“ erkannte. Freud sah darin den „Hauptvorzug seiner Philosophie“, der „sie allein mir erträglich macht.295 Die schwelende Herbartianismuskritik stand im Zeichen der neuen Herausforderungen vonseiten einer induktiv verfahrenden Forschungswissen-
289 Karl CLAUSBERG, Wiener Schule – Russischer Formalismus – Prager Strukturalismus. Ein komparatistisches Kapitel Kunstwissenschaft, in: IDEA. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 2 (1983), S. 151–180, hier S. 155. 290 Theodor Gomperz. Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josephs-Zeit, S. 153, S. 222, und Theodor GOMPERZ, Briefe und Aufzeichnungen (1832– 1868), ausgewählt, erläutert und zu einer Darstellung seines Lebens verknüpft von Heinrich Gomperz. Band 1, Wien 1936, S. 93f. 291 Franz BRENTANO, Grundzüge der Ästhetik. Aus dem Nachlass herausgegeben von Franziska Mayer-Hillebrand, Bern 1959, S. 54. 292 FREUD, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 116 [Eintrag von „Montag, 15. März“ 1875]. 293 Ebenda. 294 Ebenda. 295 Ebenda.
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schaft: Herbarts spekulativer, mathematischer Ansatz, der mechanistische Psychologie- und der objektivistische Ästhetikbegriff waren mit der positivistischen Wissenschaftslehre wohl unvereinbar. Kritik wurde insbesondere unter Psychologen laut. Zunächst stuften Alexius Meinong (1853–1920), Professor für Psychologie in Graz, und sein Schüler Alois Höfler (1853– 1922), später Professor in Prag und Wien, die in der Tradition der „empirischen Psychologie“ Brentanos standen, Herbarts Psychologie als metaphysisch, ahistorisch, statisch usw. ein.296 Offenbar verfehlte die zunehmende Herbart-Aversion ihre Wirkung auf Sigmund Freud nicht. In seinem Werk manifestierte sich augenfällig die Überwindung jener „Periode traumhaft willkürlicher Konstruktionen“ in Österreich, von der Brentano sprach: Bezog sich Brentano u.a. auf die spekulativen „Verirrungen“ Herbarts, der sein Modell deduktiv, ohne empirische Verifikation, aufgestellt hatte, so setzte Freud einen weiteren Schritt: Er überwand die „gebräuchlichen psychologischen Abstraktionen“297 seiner Zeit – sowohl Herbarts Vorstellungsmechanik in der Ausführung Lindners als auch Brentanos Bewusstseinspsychologie. Mehrfach wurde Sigmund Freud als ‚Nachdenker‘ etikettiert, der sich Herbarts System produktiv angeeignet habe.298 In der Tat sind zahlreiche begriffliche Anleihen (wie z.B. „Widerstand“, „Reproductionen“, „verdrängte Vorstellungen“) nachweisbar. Auch die Idee, dass dem Ich „unverträgliche“ Vorstellungen zur Verdrängung führten, ist wohl Herbartschen Ursprungs. Doch verwendete Freud diese Begriffe – wie Günter Gödde zeigte – nur als „Steigbügel“, um das, was er in den Therapien beobachtete, in Worte zu fassen. Was die Theorie als solche betraf, rückte er aber von Herbart weit ab. Die Ursache hierfür erblickte der Berliner Psychologe, Therapeut und Historiker Gödde in den „metaphysischen Voraussetzungen“ der Herbartschen Psychologie,299 so z.B. in seiner Lehre, die auf den „alten Gegensatz einer widerspruchsvollen Erscheinungswelt und einer wahren, von der Metaphysik zu begreifenden Welt der Dinge an sich“300 hinauslief.
296 Vgl. NEUBER, Paradigmenwechsel in psychologischer Erkenntnistheorie und Literatur, S. 444–454, und ENGELBRECHT, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Band 4, S. 47f. 297 GÖDDE, Traditionslinien des Unbewußten, S. 175. 298 Zunächst hatte Maria Dorer im Jahr 1932 die These aufgestellt, dass sich zentrale Theorien Sigmund Freuds bei Herbart vorgebildet fänden. Vgl. M[aria] DORER, Historische Grundlagen der Psychoanalyse, Leipzig 1932. Dieser Standpunkt wurde von so mancher kulturgeschichtlichen Arbeit nicht korrigiert, sodass er die Auslegung Sigmund Freuds bis zuletzt beherrscht hat. Günter Gödde hat ihn zu Recht relativiert. 299 GÖDDE, Traditionslinien des Unbewußten, S. 174f. Daher nahm Freud in seinem Werk auf Herbarts Psychologie wohl auch keinen expliziten Bezug. 300 Wilhelm WINDELBAND, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften. Band 2, Leipzig 41907, S. 390.
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Johann Friedrich Herbart hatte in seinem Lehrbuch zur Psychologie (1816) ein dynamisches (aus positivistischer Sicht aber wohl noch metaphysisches) Modell entworfen, nach dem sich Vorstellungen wechselseitig im Sinne einer psychischen Mechanik hemmten, sodass sie nicht die „Schwelle des Bewusstseyns“ zu überschreiten vermochten. Herbart sprach von „Reproductionen“, von „Verdunkelung“ und von „verdrängten Vorstellungen“,301 er bezog den Verdrängungsbegriff auch auf die Mechanik der gehemmten Vorstellungsverbindung, verknüpfte ihn aber weder mit der Idee einer Zensur noch mit Entstellungsvorgängen. Herbart war zwar der Ansicht, dass sich die sich in Kraft umsetzenden unterdrückten Vorstellungen mathematisch definieren ließen,302 wie er in seiner Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824) ausführte, ein konkretes Messverfahren blieb er aber schuldig. Auch der Herbartianer Gustav Adolph Lindner (1828–1887) verblieb in seinem Lehrbuch der empirischen Psychologie, als inductiver Wißenschaft (1858/ 21868)303 in der Sphäre abstrakter, rationalistischer und mechanistischer Begrifflichkeit verhaftet, als er argumentierte, dass die Wiederbewusstmachung von verdrängten Vorstellungen der Überwindung eines mechanischen „Widerstandes“ bedürfe, der Kraft „aller daselbst vorhandenen, ihr entgegengesetzten Vorstellungen.“304 Wesentlich empirischer verfuhr Franz Brentano. Allerdings blieb
301 HERBART, Lehrbuch zur Psychologie, S. 144–156. 302 Vgl. Mai WEGENER, Unbewußt/das Unbewußte, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. Karlheinz Barck [u.a.]. Band 6, Stuttgart–Weimar 2005, S. 202–240, hier S. 216. 303 Die Herbartsche Psychologie wurde den Gymnasiasten in Österreich durch die philosophisch-propädeutischen Lehrbücher von Gustav Adolph Lindner vermittelt. Lindners Lehrbuch wurde auch im Leopoldstädter Realgymnasium, das Sigmund Freud besuchte, zur Vermittlung der Psychologie im Rahmen des Unterrichtsfachs Philosophie verwendet. Mit großer Wahrscheinlichkeit war daher auch Sigmund Freud nach diesem Behelf unterrichtet worden. Die „im Geiste Herbarts ausgerichtete philosophische Propädeutik mit den Lehrbüchern Gustav Adolf Lindners“ war der Ort, so Hemecker, „an dem Sigmund Freuds erste eingehende Beschäftigung mit Fragen der Psychologie stattgefunden hat.“ Wilhelm H. HEMECKER, Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Psychoanalyse, München 1991, S. 108–127, hier S. 113. Die 12. Auflage von Lindners Psychologielehrbuch (1858) erschien 1897. Es wurde auch in andere Sprachen der Monarchie und ins Englische übersetzt. Sein Lehrbuch der formalen Logik erreichte 14 Auflagen (1861–1922). 1866 erschien als drittes Lehrbuch die Einleitung in das Studium der Philosophie. Lindner hatte auch Leitfäden für Lehramtsstudenten – eine Allgemeine Erziehungslehre und eine Allgemeine Unterrichtslehre – verfasst und sonach den Herbartianismus in die Lehrerausbildung verpflanzt. Vgl. Wolfgang BREZINKA, Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Band 2: Pädagogik an den Universitäten Prag, Graz und Innsbruck, Wien 2003, S. 51–67. 304 Gustav Adolph LINDNER, Lehrbuch der empirischen Psychologie, als inductiver Wißenschaft für den Gebrauch an höheren Lehranstalten und zum Selbstunterrichte, Wien 31872, S. 67, S. 81f., S. 100.
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auch er jenem „metaphysischen und rationalen Menschenbild“305 verpflichtet, dem Freud den Kampf ansagen sollte: „Wo […] das Bewußtsein […] beginnt“, schrieb Brentano, „beginnt das Reich der Psychologie.“306 Sigmund Freuds Theorie von der Macht des „Unbewussten“ deckte sich mit Brentanos Bewusstseinspsychologie vom „empirischen Standpunkt“ daher ebenso wenig wie mit Herbarts (von Lindner übermittelten) Modell der Vorstellungsmechanik: Herbart hatte zwar die Dynamik zwischen unbewusster und bewusster Seelentätigkeit thematisiert, den Begriff des „Unbewussten“ für die „verdunkelten“ Vorstellungen aber noch nicht ausdrücklich verwendet. Brentano verwarf das Unbewusste sogar als ein für jeden nur einigermaßen exakten Denker unzulässiges „hypothetisches Unding“.307 In psychologischen Ansätzen dieser Art manifestierten sich deutlich ältere Seelenmodelle, wie z.B. Descartes These, dass die Seele mit dem Bewusstsein identisch wäre. Vor Freud überstieg die Idee eines empirisch erfassbaren ‚psychisch Unbewussten‘ noch den Horizont des Vorstellbaren.308 Mit Günter Gödde ist daher die Schlussfolgerung zulässig, dass es Freud vorbehalten war, die Herbartsche Vorstellung der Dynamik von Verdrängung, Widerstand und Reproduktion „aus dem Bezugsrahmen jener abstrakten und rationalistischen Philosophie“ herauszuführen und die abstrakten philosophischen Konzepte „in seiner klinischen Theorie und Praxis mit Leben“ aufzufüllen.309 Die Ätiologie der Neurosen im Blick habend, revidierte Freud die in Vernunftvorstellungen verharrende Psychologie grundlegend. Die Stärke seiner Theorie bestand darin, dass sie auch auf empirischer Außenbeobachtung beruhte, ohne sich aber von der „eigentliche[n] Philosophie“ losgesagt zu haben. So lieferten ihm Positivismus, Darwinismus und Materialismus das epistemologische Werkzeug für die Aufarbeitung des „analytischen Materials“.310 Bezüglich jener „kunstvoll aufgebauten Systembildungen“, die er hinter sich ließ, notierte Freud: „Die Philosophen heißen in ihrer überwiegenden Mehrzahl psychisch nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist.“ „Ein unbewußtes Seelisches“ sei für sie (und damit meinte er nicht zuletzt Brentano) „ein Unding“.311 Da dieser sich allein auf bewusste Selbstbeobachtung bezogen habe, hätte er das Material nicht gekannt, durch dessen Studium der Analytiker (nämlich er selbst: Freud) die entscheidenden, nämlich „unbewußten Seelenakte“ herausgefunden habe. „Das Psychische der Philosophen“, erläuterte Freud, „war nicht das der Psychoanalyse.“312 An-
305 306 307 308 309 310 311
GÖDDE, Philosophischer Kontext, S. 12f. BRENTANO, Meine letzten Wünsche für Oesterreich, S. 35. BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkte, 1874, S. 142. Vgl. GÖDDE, Philosophischer Kontext, S. 14f. Ebenda. FREUD, Selbstdarstellung, S. 86. Sigmund FREUD, Die Widerstände gegen die Psychoanalyse (Original 1925), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV, S. 97–110, hier S. 103. 312 Ebenda.
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derswo schrieb er: „Was […] die in den Philosophenschulen herrschende Seelenwissenschaft geben konnte, war freilich geringfügig und für unsere Zwecke unbrauchbar. Wir hatten die Methoden wie deren theoretische Voraussetzungen neu zu finden.“313 Der integrative Herbartianismus eines Zimmermann, der in Freuds jungen Jahren in Österreich noch vorgeherrscht hatte, war ihm hierbei wohl ebenso keine Hilfe gewesen wie die Bewusstseinspsychologie Brentanos. Insbesondere durch zwei ‚klinische‘ Entdeckungen grenzte sich Freud Ende des 19. Jahrhunderts von den vorangehenden Konzepten ab, nämlich einerseits durch die Erkenntnis: „Das Seelische in dir fällt nicht mit dem dir Bewußten zusammen“; anderseits durch die Beobachtung: Die „Nachrichten deines Bewußtseins sind unvollständig und häufig unzuverlässig“, die seelischen Vorgänge dem Ich daher nur teilweise zugänglich. Der „Nachrichtendienst“ versagte Freud zufolge z.B. im Triebkonflikt, in dem „dein Wille […] dann nicht weiter als dein Wissen“ reicht, also unbewusste Vorstellungen wirken, die sich dem Willen des Ichs nicht unterwerfen. Dank dieser beiden Aufklärungen, kurz: „daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (des Bewusstseins),314 hatte sich ihm schon in der Traumdeutung (1900) gezeigt, dass „der Bewußtseinseffekt nur eine entfernte psychische Wirkung des unbewußten Vorgangs ist, […] und daß er bestanden und gewirkt hat, ohne sich noch dem Bewußtsein irgendwie zu verraten.“315 „Das Unbewußte“ hatte Sigmund Freud im Schlusskapitel der Traumdeutung als analytischen Grundbegriff eingeführt, um es als den zentralen Teil der menschlichen Psyche zu definieren: „Alles Bewußte hat eine unbewußte Vorstufe, während das Unbewußte auf dieser Stufe stehen bleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewußte ist das eigentlich real Psychische.“316 Solange die Psychologie das Psychische allein im Bewusstsein gesucht und gefunden und „unbewußte psychische Vorgänge“ als widersinnig eingestuft habe, erklärte Freud in diesem Zusammenhang, habe keine Chance bestanden, die ärztlichen Beobachtungen abnormer Seelenzustände psychologisch zu verwerten. 1912 schrieb er: „Hier ergibt sich die Gelegenheit zu lernen, was wir auf Grund von Überlegungen oder aus irgend einer anderen Quelle empirischen Wissens nicht hätten erraten können, daß die Gesetze der unbewußten Seelentätigkeit sich im weiten Ausmaß von jenen der bewußten unterschei-
313 Sigmund FREUD, Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus (Original 1932), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XVI. Werke aus den Jahren 1932–1939. Nachdruck der Ausgabe von London 1950, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 261–266, hier S. 261. 314 Sigmund FREUD, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (Original 1917), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XII. Werke aus den Jahren 1917–1920. Nachdruck der Ausgabe von London 1940, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 1–12, hier S. 10f. 315 FREUD, Die Traumdeutung, S. 617. 316 Ebenda.
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den.“317 Erst die Psychoanalyse habe auf diese Weise Medizin und Philosophie vereint und die unbewussten psychischen Vorgänge als „zweckmäßigen und wohlberechtigten Ausdruck für eine feststehende Tatsache“ anerkannt.318 Sie habe dem Unbewussten den Stellenwert des „eigentlich real Psychischen“ zuerkannt. Sigmund Freuds genuine Innovation bestand daher nicht in der Aufdeckung einer Dynamik zwischen „verdrängten“ und wieder „reproduzierten“ Vorstellungen, sondern in der theoretischen Verifikation der Bewusstseinsfähigkeit des Unbewussten vermittels therapeutischer Beobachtung.319 An seinem Lebensabend unterstrich der Vater der Psychoanalyse nochmals, dass er das maßgebliche Konzept des „dynamisch Unbewussten“ Autoren wie Wilhelm Jerusalem, Hippolyte Taine und Gustav Theodor Fechner verdankte, die „die anthropologische und psychologische Tragweite des Unbewußten“ erkannt hätten.320 Insbesondere habe aber „ein deutscher Philosoph“ den „Begriff des Unbewussten“ als Erster im wissenschaftlichen Sinne zu verwenden gewusst, erinnerte sich Freud in seiner 1938 verfassten und aus dem Nachlass erschienenen Abhandlung „Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis“. Dieser, nämlich Theodor Lipps (1851–1914), habe „mit aller Schärfe verkündet, das Psychische sei an sich unbewusst, das Unbewusste sei das eigentlich Psychische“321 – und somit das brennendste Problem der Psychologie. Weiters explizierte er in kritischer Auseinandersetzung mit und wohl in bewusster Abkehr von den in Wien vorherrschenden Modellen Herbarts und Brentanos, dass das Konzept des Unbewussten schon seit langem geradezu auf Entdeckung gewartet hätte. Zwar sei in der Philosophie und Literatur oft genug mit ihm gespielt worden, je-
317 Sigmund FREUD, Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewussten in der Psychoanalyse (Original 1912), in: DERS., Gesammelte Werke. Band VIII. Werke aus den Jahren 1909–1913. Nachdruck der Ausgabe von London 1943, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 429–439, hier S. 438. 318 FREUD, Die Traumdeutung, S. 616. 319 Zu den Anfängen der Psychoanalyse vgl. u.a. Franz X. EDER, Sigmund Freud, Psychoanalyse und die Kultur des Fin de Siècle, in: Werner FAULSTICH (Hg.), Das Erste Jahrzehnt, München 2006 (Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts), S. 119–230. 320 GÖDDE, Philosophischer Kontext, S. 15. 321 Sigmund FREUD, Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis (Original 1938), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XVII. Schriften aus dem Nachlaß 1892–1938, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 139–147, hier S. 147. Günter Gödde verweist auch auf die im Briefwechsel Sigmund Freuds (aus den 1890er-Jahren) mit Wilhelm Fließ vorhandenen ausdrücklichen Bezugnahmen auf den Antiherbartianer Wilhelm Jerusalem, auf Hippolyte Taine, Gustav Theodor Fechner und Theodor Lipps. Der Letztere, ein in München lehrender Philosophieprofessor, hatte auf dem III. Internationalen Kongress für Psychologie in München 1896 einen programmatischen Vortrag zum Thema „Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie“ gehalten, in dem er das Unbewusste zur brennendsten Frage der Psychologie erklärte. Freud zitiert diesen Vortrag von Lipps in der Traumdeutung (S. 616). Vgl. GÖDDE, Traditionslinien des Unbewußten, S. 176–187.
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doch hätte es die Wissenschaft nicht zu fassen gewusst. Die Psychoanalyse habe das Unbewusste ernst genommen und mit neuem Inhalt gefüllt. Die psychoanalytischen Forschungen, so rekapitulierte Freud in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 in London, hätten zur Erkenntnis von neuen Aspekten des unbewussten Psychischen geführt und einige der Gesetze aufgedeckt, die in ihm herrschten. Doch habe die „Qualität der Bewusstheit“ ihren Stellenwert in der Psychoanalyse nicht verloren, bliebe sie doch das „einzige Licht, das uns im Dunkel des Seelenlebens“ leuchte und leite. Sonach ergab sich für die Psychoanalyse als Heilungsmethode eine zentrale Aufgabe, nämlich das Bewusste auf Kosten des Unbewussten zu vergrößern, oder – in Sigmund Freuds Worten –: „unbewusste Vorgänge in bewusste zu übersetzen, [und] solcher Art die Lücken in der bewussten Wahrnehmung auszufüllen.“322 Die rationalistische Sicht auf das Individuum hatte der jungen Psychologie in Österreich den Blick auf das Unbewusste verstellt. Da die Psychoanalyse wieder die Kontingenz der individuellen Erfahrung in das Blickfeld rückte, war sie auch wegweisend für die neue Ausrichtung der Wissenschaft am Subjekt: Dieser radikale Wandel manifestierte sich in jener Entdeckung Sigmund Freuds, „daß es jenseits der vorbewußten Strukturen der Erfahrung, jenseits der Mythen und den von modernen Denkern beschriebenen kollektiven Vorstellungen ein dynamisches und individuelles Unbewußtes“ gäbe.323 In den 1920er-Jahren veröffentlichte er schließlich seine bekannte strukturelle Topologie der Psyche (Ich, Es, Über-Ich), durch die er die ‚Individualpsychologie‘ auf neue Bahnen führen sollte. Dass die Psychoanalyse aufgrund der „Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie“ bald auf Widerstände stoßen sollte, verwundert nicht: Die Mediziner hätten sie für ein spekulatives System gehalten, erinnerte sich Freud 1925, der Philosoph, der sie am Maßstab seiner kunstvoll aufgebauten Systembildungen gemessen hätte, hätte ihr vorgeworfen, dass ihre „obersten Begriffe der Klarheit und Präzision“ entbehrten.324 Dennoch wurde Sigmund Freuds Schaffen für eine ‚autonom-engagierte‘ Wissenschaft Zentraleuropas wegweisend, und zwar aus drei Gründen: Zum einen war es das zentrale Anliegen der Psychoanalyse, die Autonomie des Subjekts zu vergrößern. Zum anderen verstand es Freud, sich mit der das Subjekt verhandelnden Wissenschaft „an jenen weiteren Kreis von Gebildeten“ zu wenden, „die, ohne gerade Philosophen oder Mediziner zu sein, doch die Wissenschaft vom Seelischen des Menschen nach ihrer Bedeutung für das Verständnis und die Vertiefung des Lebens zu würdigen“ wussten.325
322 323 324 325
FREUD, Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis, S. 147. ZARETSKY, Freuds Jahrhundert, S. 137. FREUD, Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, S. 104. Sigmund FREUD, Anzeige [der Schriften zur angewandten Seelenkunde] (Original 1907), in: DERS., Gesammelte Werke. Nachtragsband. Texte aus den Jahren 1885–1938, hg. von Angela Richards unter Mitwirkung von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 1999, S. 695.
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Und schließlich relativierte er den seit Jahrhunderten zentralen Stellenwert des subjektiven Bewusstseins: Zwar hätten Philosophie und Kunst von Anbeginn an gewusst, schreibt Micha Brumlik, dass nicht nur Vernunft, sondern auch Leidenschaften das Menschsein steuerten, dieses Wissen wäre aber noch mit der Überzeugung verknüpft gewesen, dass den Menschen die Leidenschaften bewusst seien oder zumindest werden könnten. Von dieser Auffassung habe sich Sigmund Freud radikal verabschiedet, indem er den Blick dafür schärfte, „daß sowohl vernünftige Überlegungen von ihnen selbst nicht zugänglichen Motiven geleitet werden als auch Leidenschaften möglich und wirklich sind, die sich – jedenfalls zunächst – dem Wissen“ entzögen.326 Die Zurücknahme des lange Zeit unumstrittenen Vernunftdogmas goss Sigmund Freud 1917 in seine berühmte Formel, dass das „Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.“327
3.6 Z WISCHENRESÜMEE Kurz zusammengefasst wollte ich in den vorangehenden Subkapiteln jenen Auffassungswandel zeigen, der sich in den Jahrzehnten nach 1848 vollzog. Er korrelierte mit den politischen Transformationsprozessen zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Während sich in der Zeit des Neoabsolutismus die Vorstellung von einer ‚objektiven‘ Staatsidee als integratives Moment verfestigte, blieb die nationale Idee eine ständige Herausforderung für die Monarchie. Zunächst bedienten sich die Eliten des Gesamtstaates der Wissenschaft, bald erblickten aber auch die nationalen Herausforderer der Staatsnation eine politische Ressource in ihr. Offenkundig verkannten zu dieser Zeit weder Wissenschaft noch Politik den wechselseitigen Nutzen. Mit der Neugestaltung der Universitätslandschaft (Universitätsreform), der verstärkten Verberuflichung der Wissenschaft und den neuen intellektuellen Herausforderungen (Positivismus) verlagerte sich der politische Akzent: Modern war, sich als Wissenschaftler der Kulturnationsidee anzuschließen. Sichtbar wurde damit der Anachronismus der dogmatisch-objektivistischen Orientierungen der Jahrhundertmitte. Eine zunehmend empirisch-induktiv verfahrende ‚Wirklichkeitswissenschaft‘ wertete das Subjekt auf. Der universalistische Anspruch des positivistischen Wissenschaftshandelns verhinderte aber nicht, dass die Stellung des Subjekts im Positivismus bewusst oder unbewusst partikulare (nationale) Weltsichten stützte. Die Affinität zwischen der positiven Wissenschaft und dem Agieren der Altliberalen, das letztlich Asymmetrien in der Machtverteilung zwischen den Nationalitäten in Kauf nahm, ist unübersehbar. Diese Form des Subjektivismus sollte aber bald durch eine weitere Spielart subjektivistischer Wissenschaft ergänzt und überwunden wer-
326 Micha BRUMLIK, Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts, Weinheim–Basel 2006, S. 22. 327 FREUD, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 11.
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den. Ihre Vertreter nahmen sich vor, nicht in politische Machtspiele abzudriften. Sie gaben das Subjektive nicht auf, objektivierten dieses aber mit Hilfe elaborierter Modelle. Als ‚subjektivistische Objektivisten‘ sollten sie eine reflexiv-positivistische Position beziehen. Eine Zentralfigur dieser Bewegung war Sigmund Freud, dessen Rolle in diesem Zusammenhang noch ausführlicher dargestellt werden wird. Diese subjektivistisch-objektivistische Position reflexiv-positivistischer Wissenschaft, der im Folgenden weiter nachgegangen wird, verdankte sich im Wesentlichen drei Bezugspunkten: der objektivistischen Wissenschaftslehre der Jahrhundertmitte, der Aufwertung des Subjekts durch die Aneignung des Positivismus sowie einer neuen, bald wirkmächtigen Strömung – dem Historismus:328 Dieser präsentierte sich in Wien, der Haupt- und Residenzstadt der k.u.k. Monarchie, in zwei verschiedenen Spielarten: einer positivistischen und einer relativistischen.329 Während unter dem Begriff des ‚positivistischen Historismus‘ Tatsachenforschung verstanden wird, in der das historische Material nicht an eine übergreifende Ordnung rückgebunden oder zur Gegenwart in ein Verhältnis gebracht wird, versteht man unter ‚relativistischem Historismus‘ jene Strömung, die auch „den Standpunkt des erkennenden Subjektes historisch relativiert“. Diese Form des Historismus wurde wiederholt „als Indiz für den Auseinanderfall von Subjektivität und Geschichtsinhalt, als Indiz für Identitäts- und Wertverlust“ gedeutet:330 – eine Gefahr, auf die auch Friedrich Nietzsche (1844–1900) in seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ (1874) mit dem Titel „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“331 verwiesen hatte. Der Historismus konnte in Österreich jedenfalls die Wahrnehmung einer Dezentrierung, Vereinzelung und Diskontinuität sowie Erosion verbindlicher Werte verstärken. Seine langfristigen Auswirkungen waren jedoch ambivalent. Zum einen vergrößerten sich die Anstrengungen, den „Wertever-
328 Zu den Voraussetzungen des Historismus in Österreich vgl. Moritz CSÁKY, Geschichtlichkeit der Lebenswelt. Bemerkungen zu den intellektuellen und sozialen Voraussetzungen des Historismus, in: Gernot GRUBER (Hg.), Die Kammermusik von Johannes Brahms. Tradition und Innovation. Bericht über die Tagung Wien 1997, Laaber 2001 (Schriften zur musikalischen Hermeneutik 8), S. 81–94. 329 Vgl. SCHNÄDELBACH, Philosophie in Deutschland 1831–1933, S. 51–58. WUNBERG, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, S. 314–317. DERS., Historismus und Fin de Siècle. Zum Decadence-Begriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Actes Du Colloque International. La Litterature de Fin de Siecle, une Litterature Decadente? Luxembourg 1990, S. 13–47, hier S. 15–17. 330 Gunter SCHOLZ, Historismus, Historizismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Band 3, Basel–Stuttgart 1974, S. 1142–1147, hier S. 1142. 331 Friedrich NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Original 1874), in: DERS., Unzeitgemäße Betrachtungen. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow, Frankfurt am Main–Leipzig 2000 (it 2682), S. 95–184.
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lust“ durch holistische „Surrogatkonzepte“332 auszugleichen, zum anderen konnte die relativistische Haltung aber auch eine skeptische Kulturkritik als Triebkraft für intellektuelle Innovationen beflügeln. Der Grazer Soziologe Karl Acham beschrieb diese Situation wie folgt: „Normative Verunsicherung ist der Preis für die Zunahme der Freiheit“.333 Auf den Umstand, dass die wissenschaftliche Theoriebildung um 1900 zunehmend von relativierenden Auffassungen inspiriert wurde, verwies insbesondere der Wiener Systemtheoretiker und Wissenschaftshistoriker Ludwig von Bertalanffy (1901–1972): Bertalanffy zufolge hätten sich zu jener Zeit der Glaube an absolute kognitive Kategorien im Sinne der Anschauungsformen Kants bereits verflüchtigt: Raum, Zeit und Bewegung wären im Zuge dieses kognitiven Umbruchs als relativ – durch das wahrnehmende Subjekt beeinflusst – aufgefasst worden: „The categories of experience or forms of intuition, to use Kant’s term, are not a universal a priori, but rather they depend on the psycho-physical organization and physiological conditions of the experiencing animal, man included.“334 Den unvergleichbar großen Stellenwert, den diese relativierenden Auffassungen in Wien um die Jahrhundertwende genossen hatten, bezeugte nicht zuletzt Ernst Mach: Der Physiker, Mathematiker und Sinnesphysiologe verwarf die synthetischen Kategorien (absolute Bewegung, absoluter Raum, absolute Zeit) als überflüssige metaphysische Substanzbegriffe.335 Mach relativierte sogar die Substanzhaftigkeit des Ichs („Das Ich ist unrettbar“336), um dadurch die Dichotomie von Ich und Welt, Psychischem und Physischem, Erscheinung und Gegenstand aufzulösen. Dieser neue Relativismus wäre zunächst vonseiten der Wiener Kunstwissenschaft ins Rollen gebracht worden, konstatierte Bertalanffy.337 Als einen maßgeblichen Vorreiter dieser Relativierung stufte er Alois Riegl (1858–1905) ein, der die Überwindung überzeitlicher ästhetischer Normen
332 Vgl. WUNBERG, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne, S. 317, und DERS., Historismus und Fin de Siècle, S. 17. Als Surrogatkonzepte zählt Wunberg „manifeste ideologische Erscheinungen“ auf, wie z.B. die Wandervogelbewegung, Theosophie und Anthroposophie. Ebenfalls als holistische Surrogate zu verstehen seien politische Totalitätsentwürfe, wie z.B. die verschiedenen Faschismen, der Nationalsozialismus oder das Modell des österreichischen Ständestaats. 333 Karl ACHAM, Die ,kulturelle‘ Krise der Gesellschaft um 1900 und die Genese der Sozialwissenschaften, in: Volker DREHSEN, Walter SPARN (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, S. 39–67, hier S. 42. 334 Ludwig von BERTALANFFY, An Essay on the Relativity of Categories, in: Philosophy of Science 22, 2(1955), S. 243–263, hier S. 250. 335 Vgl. Gerald HOLTON, Ernst Mach und die Geschichte des Positivismus, in: DERS., Wissenschaft und Anti-Wissenschaft, Wien–New York 2000, S. 1–59, hier S. 9. 336 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 20. 337 Vgl. BERTALANFFY, An Essay on the Relativity of Categories, S. 251.
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verkündet habe.338 In der Tat sollte dieser Wiener Kunstwissenschaftler die Horizonte des Wissenschaftshandelns beträchtlich erweitern: Zum einen führte er die Kunstwissenschaft auf völlig neue Wege, da er die absolutistisch-wertbehafteten Ästhetikauffassungen seiner Zeit überwand, um unter dem Zentralbegriff des „Kunstwollens“ einem historisch-psychologischen, der Subjektrolle Ausdruck verleihenden, funktionalen Ästhetikbegriff zum Vorrecht zu verhelfen. Zum anderen entwarf er mit der Theorie des „Kunstwollens“ ein objektivierendes Wissenschaftsmodell, das ihn und die Wissenschaft davor bewahrte, mit der Aufwertung des Subjekts auf die Seite einer die Nationalismen stützenden Wissenschaftspraxis abzuweichen. Sein wesentliches Verdienst war es schließlich, das Subjekt mit einer sich zunehmend um Autonomie bemühenden Wissenschaft vermittelt zu haben. Somit zählte auch Riegl zu jenen reflexiv-positivistischen Wegbereitern, die der Wissenschaft einen ‚dritten‘, den ‚autonom-engagierten‘ Weg wiesen.
3.7 V ERFECHTER EINER REFLEXIV - POSITIVISTISCHEN W ISSENSCHAFTSAUFFASSUNG 3.7.1 Alois Riegl. Der Wegbereiter Im Jahr 1916 notierte der Schriftsteller Hermann Bahr: „Wer ist Riegl? [...] Von Riegl weiß der Leser nichts, [...] ebenso wie er von Franz Wickhoff noch nichts weiß: die beiden größten österreichischen Kunsthistoriker, die die Kunstgeschichte von Grund auf umgeformt […] haben, sind ihm unbekannt geblieben.“339 Auch später war das Vermächtnis Alois Riegls dem Vergessen nahe, zur Jahrtausendwende wurde sein Werk in einer wahrhaften „Riegl industry“340 wiederentdeckt. In der vorliegenden Arbeit kann den Ursachen für die Wiederentdeckung dieser Zentralfigur der Kunstwissenschaft nicht weiter nachgegangen werden. Stattdessen soll ihr Anteil am Wissenschaftswandel des ausgehenden 19. Jahrhunderts rekonstruiert werden. Alois Riegl inspirierte die zeitgenössische Wissenschaft zumindest dreifach: erstens durch die Überwindung der vorherrschenden Ästhetik338 Vgl. ebenda. 339 Hermann BAHR, Expressionismus, München 1916, S. 75f. 340 Arthur C. DANTO, Riegl bearing, in: Artforum International, September 2000, S. 21–22, hier S. 22. Zur Wiederentdeckung vgl. Georg VASOLD, Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Wiener Gelehrten, Freiburg im Breisgau 2004, S. 13–16, und Arthur ROSENAUER, Peter NOEVER, Georg VASOLD (Hg.), Alois Riegl 1905/2005. Tagungsband zum Symposium „Alois Riegl 1905/2005“‚ veranstaltet von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit dem Österreichischen Museum für Angewandte Kunst/Gegenwartskunst (MAK)‚ dem Bundesdenkmalamt und dem Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien‚ Wien‚ 20. bis 22. Oktober 2005, Wien 2010 (Veröffentlichungen der Kommission für Kunstgeschichte 9).
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auffassungen, waren sie materialistisch, objektivistisch oder idealistisch; zweitens durch die Implementierung eines das Subjekt aufwertenden, reflexiv-positivistischen Standpunktes; sowie drittens durch die konsequente Historisierung und Verräumlichung des Kunstschaffens.341 Zu unterstreichen ist, dass er mit diesem Akt der Subjektivierung den wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch keineswegs aufgab. Zwar wertete er mit dem von ihm geprägten Zentralbegriff des „Kunstwollens“ das handelnde Subjekt auf, nicht aber ohne dieses zugleich an jene raumzeitlichen und ästhetischen Anforderungen, die mit dem Kunstwerk bewältigt worden waren, zurückzubinden. Da Riegl die Kunstwissenschaft als eine empirisch-positive begründete, vergrößerte er ihre Autonomie von der Politik – demungachtet, ob diese national oder übernational orientiert war. Er wird im Folgenden als ein Vorreiter positivistischer Wissenschaft von reflexiver Ausrichtung vorgestellt. 3.7.1.1 Wer war Alois Riegl? Die Jugendjahre hatte der Sohn eines Linzer Beamten der ‚Österreichischen Tabakregie‘ in verschiedenen Teilen der Habsburgermonarchie verbracht. In Kolomea und Stanislau (heute: Iwano-Frankiwsk) hatte er das Gymnasium besucht und in Kremsmünster (Oberösterreich) maturiert. In Wien studierte er zwei Jahre lang Rechtswissenschaft, später Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte. Sich selbst nannte er mitunter, so Hans Tietze, ein „Beispiel der übernationalen Konstruktion des alten Österreich“.342 Riegls Art und Weise, die Kunst der Vergangenheit zu betrachten, war entschieden neu, das zentrale Motiv seiner methodisch-theoretischen Anstrengungen die Verwissenschaftlichung der Kunstgeschichte. Wollte sie im Zeitalter disziplinärer Ausdifferenzierung zu einer selbständigen Wissenschaft aufsteigen (und darin lag das erklärte Ziel), so bedurfte sie einer tragfähigen Grundlage. Alois Riegl sollte sie ihr bieten: Zum einen wandte er neue historiografische Verfahren an, denen zufolge er die „universalgeschichtliche Art der Betrachtung“343 mit einer Identifizierung von Merkma-
341 Einen allgemeinen Überblick zur wissenschaftlichen Biografie Alois Riegls liefern neben anderen: Julius von SCHLOSSER, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, in: MIÖG, Ergänzungs-Band 2, 13(1934), S. 145–226, hier S. 181–193. Max DVOŘÁK, Alois Riegl (Original 1905), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Kunstgeschichte, hg. von Johannes Wilde, Karl M. Swoboda, München 1929, S. 279–298. Hans TIETZE, Alois Riegl, in: Neue Österreichische Biographie. Band 8, Wien 1935, S. 142–150. REYNOLDS, Alois Riegl and the Politics of Art History, 1997. Andrea REICHENBERGER, Riegls Kunstwollen. Versuch einer Neubetrachtung, St. Augustin 2003 (conceptus-studien 15), S. 15–28. Johannes FEICHTINGER, Alois Riegl. Wegbereiter einer relativierenden Wissenschaftsauffassung in der Wiener Moderne. Eine Skizze, in: Festschrift für Götz Pochat. Zum 65. Geburtstag, hg. vom Johann Konrad Eberlein, Wien 2007 (grazer edition 2), S. 237–253. 342 TIETZE, Alois Riegl, S. 142. 343 Alois RIEGL, Kunstgeschichte und Universalgeschichte (Original 1898), in: DERS., Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung von Hans Sedlmayr, hg.
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len individueller Artefakte durch Vergleich verknüpfte. Dadurch grenzte er sein Fach von einer älteren, konventionellen, anekdotisch verflachten Geschichte der Kunst aller Völker, Länder und Zeiten ab; worauf seine positivistische Geschichtsschreibung insbesondere abzielte, war die Sichtbarmachung ‚genetischer‘ Zusammenhänge in der Kunstentwicklung. Zum anderen befreite er seine Disziplin von den vorherrschenden spekulativ-idealistischen, materialistischen oder objektivistisch-formalistischen (Winckelmann, Semper, Zimmermann), d.h. normativen Ästhetikauffassungen seiner Zeit, die er zugunsten einer relativierenden, „empirischen Ästhetik“344 verwarf. Sein Credo lautete: „Alles Seiende ist schön“,345 nicht nur die Kunst der Klassiker, sondern auch die der späten Römer, des (Früh-) Mittelalters, der so genannten ‚primitiven‘ Völker und Kulturen sowie auch die zeitgenössische Kunst. Schließlich öffnete er sein Fach für psychologische Ansätze, die den Weg zu einer empirisch-positivistischen Ästhetik ebnen konnten. Willibald Sauerländer schreibt Alois Riegl das zentrale Verdienst zu, die empirische, psychologisierende Auffassung vom künstlerischen Objekt mit einer umfassenden Theorie der Geschichte verbunden zu haben.346 Alois Riegl verdankte Moritz Thausing seine Wendung zum Kunsthistoriker. Max Büdinger (1828–1902) lehrte ihm den universalhistorischen Zugang, Theodor von Sickel die entwicklungsgeschichtliche Methode.347 Das Studium am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1881–1883) schärfte seinen Blick doppelt: für empirische Forschung und für das Kunstwerk als historisches Dokument. Als Mitarbeiter an der Abteilung für Textilien am k.k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (1884–1897) entfaltete er seine Neigung für die Randbereiche der Bildenden Kunst. Von Kunsthandwerk umgeben, war er bestrebt, die von der Wissenschaft sichtlich vernachlässigten Werke und Epochen wissenschaftlich neu zu bewerten. In zahlreichen Studien untersuchte er u.a. die Volkskunst, den textilen ‚Hausfleiß‘ und die Hausindustrie der verschiedenen Teile der Habsburger-
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von Artur Rosenauer, Wien 1996 (Klassische Texte der Wiener Schule der Kunstgeschichte 1, 5), S. 3–9, hier S. 7. [= Alois RIEGL, Gesammelte Aufsätze, hg. von Karl M. Swoboda, Wien 1929] Alois RIEGL, Naturwerk und Kunstwerk I (Original 1901), in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 1996, S. 49–61, hier S. 61. Vgl. Alois RIEGL, Pensieri, im Folder „Italienisches Barock“, Nachlass Riegl, 4, 2 (Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien), zitiert nach: Margaret OLIN, Spätrömische Kunstindustrie: The Crisis of Knowledge in fin de siècle Vienna, in: Wien und die Entwicklung der kunsthistorischen Methode, Wien– Köln–Graz 1984 (Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte 1, 1), S. 29–36, hier S. 35. Vgl. Willibald SAUERLÄNDER, Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siècle, in: DERS., Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik, hg. von Werner Busch [u.a.], Köln 1999, S. 213–228, hier S. 217. Vgl. LHOTSKY, Österreichische Historiographie, S. 221, und TIETZE, Alois Riegl, S. 142.
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monarchie sowie orientalische Teppiche.348 Die Ergebnisse veröffentlichte er in den Mitteilungen des Museums und in seinen Monografien Die ägyptischen Textilfunde am k.k. österr. Museum (1889), Altorientalische Teppiche (1891), Volkskunst, Hausfleiss und Hausindustrie (1894) und Ein altorientalischer Teppich vom Jahre 1202 (1895). Aufmerksamkeit zog er durch sein erstes Hauptwerk Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893) auf sich. Im Jahr 1901 erschien sein nächstes großes Werk: Die spätrömische Kunst-Industrie (Spätrömische Kunstindustrie, 2 1927)349, daneben veröffentlichte er noch eine Vielzahl anderer Schriften, u.a. Das Holländische Gruppenportrait (1902) als die ausgereifteste Darlegung seiner methodischen Ziele. Abbildung 1: Alois Riegl (1858–1905), um 1890, ÖNB
Im Jahr 1894 wurde Alois Riegl an der Wiener Universität zum außerordentlichen Professor (seit 1897 Ordinarius ad personam) ernannt. 1902 zum
348 Zu Alois Riegls Frühwerk vgl. VASOLD, Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte, S. 21–80. 349 Alois RIEGL, Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn im Zusammenhange mit der Gesammtentwicklung der Bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern, Wien 1901.
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Generalkonservator der k.k. Zentralkommission für Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale berufen, verwarf er in seiner Schrift Der moderne Denkmalkultus, sein Wesen, seine Entstehung (1903) die Schulmeinung von der Mustergültigkeit gewisser Stilformen, die in der Denkmalpflege den Ruf nach Wiederherstellung der Urform evoziert hatte. Diese Anforderung relativierte er mit einem Argument, das auf Carl Mengers Einfluss schließen lässt: Denkmale repräsentierten für ihn Werte; die ihnen anhaftenden Erinnerungs-, Gegenwarts- und Gebrauchswerte definierte er aber weder als objektiv-unveränderlich noch als subjektiv-beliebig, sondern als relativ, da zeit- und ortsspezifisch. Den einzigartigen Charakter jedes Kunstwerks sah er im „Alterswert“ repräsentiert.350 1905 verstarb Riegl siebenundvierzigjährig nach schwerer Krankheit. 3.7.1.2 Zur Verwissenschaftlichung einer Disziplin Die Zeitspanne zwischen 1885 und 1905, in der Alois Riegl sein Hauptwerk schuf, stellte für die Kunstgeschichte eine tiefe Zäsur dar. Hans Sedlmayr (1896–1984) bezeichnete die Jahre um 1900 als das Zeitalter ihrer „Wissenschaftswerdung“.351 Der Anteil Wiens an diesem Prozess ist nicht hoch genug einzuschätzen, Alois Riegl insbesondere gab drei wesentliche methodische Anregungen, welche sein Fach vor spekulativer Willkür schützten: erstens die Ausrichtung der Kunstgeschichte als eine den Naturwissenschaften analoge Gesetzeswissenschaft; zweitens den Anstoß, das historische Material nicht nur zu sammeln, sondern auch zu analysieren; und dies, um – drittens – das Bewusstsein für die Entwicklungsprobleme der Kunst aus universalhistorischer und kulturenübergreifender Perspektive zu vertiefen. Drei „Hauptrichtungen“ – die kulturhistorisch-chronologische, die ästhetisch-dogmatische sowie die historisch-dogmatische – hatten Max Dvořák (1874–1921) zufolge die Kunstbetrachtung lange Zeit geprägt.352 Im 19. Jahrhundert war Kunst zunächst chronologisch dokumentiert und vom Standpunkt überzeitlicher, absoluter ästhetischer Wertmaßstäbe bewertet worden, bevor sich in Österreich in der Zeit der Abkehr von der ‚idealistischen Spekulation‘ ein „materialistischer Kultus der Einzeltatsachen“ durchgesetzt habe.353 Die ‚Wissenschaftswerdung‘ der Kunstwissenschaft im Habsburgerreich war im Wesentlichen mit folgenden Personen ver-
350 Alois RIEGL, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, Wien–Leipzig 1903, S. 22–29. Zum „Alterswert“ vgl. u.a. BACHER (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, 1995, S. 21–27, und Gabi DOLFF-BOHNEKÄMPER, Wahr oder Falsch. Die Denkmalpflege als Medium nationaler Identitätskonstruktionen, in: Otto Gerhard OEXLE [u.a.] (Hg.), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne. Band 2, Göttingen 2004 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 23), S. 231–285, hier S. 269–278. 351 Hans SEDLMAYR, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte. Vermehrte Neuausgabe, Mittenwald 1978, S. 21f (Original 1958). 352 DVOŘÁK, Alois Riegl, S. 282. 353 RIEGL, Naturwerk und Kunstwerk I, S. 53.
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knüpft:354 dem Zipser Ungarn Joseph Daniel Böhm (1794–1865); dem Mährer Rudolf Eitelberger, der – wie erwähnt – 1852 zum ersten Wiener Professor für Kunstgeschichte und Kunstarchäologie ernannt worden war und den „historisch-ästhetischen Gesichtspunkt“ im Sinne Gottfried Sempers (1803– 1879) weiterentwickelt hatte; dem Böhmen Moritz Thausing, der als zweiter Wiener Professor für Kunstgeschichte (1873–1884) die „Morellische Methode“ (nach Giovanni Morelli, 1816–1891) zur zweifelsfreien Authentifizierung der Urheberschaft eines Kunstwerks eingeführt hatte,355 und letztlich mit den Oberösterreichern Franz Wickhoff (1853–1909) und Alois Riegl, die die normative Ästhetik zugunsten einer empirischen Ästhetikauffassung überwanden. Damit schärften sie den Blick auf entwicklungsgeschichtliche Vorgänge, und sie rehabilitierten auch die vermeintlichen ‚Verfallsepochen‘ (Spätantike, Mittelalter, Barock). Im Besonderen war es Riegl, der in seinem Aufsatz „Kunstgeschichte und Universalgeschichte“ (1898) einer neuen Art entwicklungsgeschichtlicher Kunstbetrachtung den Weg bahnte, die sich von jener älteren Geschichte abgrenzte, welche – aus der Sicht der neuen Disziplin der Kunstwissenschaft – von ‚Dilettanten‘ konventionellen universalhistorischen Zuschnitts geschrieben worden sei. Jede ernst zu nehmende Kunstgeschichte bedurfte der Kombination zweier historischer Verfahren: der völlig sicheren Ausdeutung der einzelnen Werke anhand von kritischer Quellenforschung sowie – auf deren Grundlage – der Sichtbarmachung der verallgemeinerbaren Zusammenhänge, Analogien und Verflechtungen. Hierdurch konnte sich erst
354 Vgl. Martin SEILER, Empiristische Motive im Denken der Wiener Schule der Kunstgeschichte, in: DERS., Friedrich STADLER (Hg.), Kunst, Kunsttheorie und Kunstforschung im wissenschaftlichen Diskurs. In memoriam Kurt Blaukopf (1914–1999), Wien 2000 (Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst 5), S. 49–86. Seiler behandelt ausführlich und detailreich die Gründungsphase der Wiener Kunstgeschichtsforschung. Vgl. auch Götz POCHAT, Gerhard SCHMIDT, Georg VASOLD, Der Beitrag der Kunstgeschichte zur Ausformung der Humanwissenschaften, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 5: Sprache, Literatur und Kunst, Wien 2003, S. 403–444. Weiterführende Arbeiten zur Wiener Schule der Kunstgeschichte vgl. u.a. Wiener Schule – Erinnerungen und Perspektiven. Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 53 (2004). Edwin LACHNIT, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte und die Kunst ihrer Zeit. Zum Verhältnis von Methode und Forschungsgegenstand am Beginn der Moderne, Wien–Köln– Weimar 2005. Christopher WOOD (Hg.), The Vienna School Reader. Politics and Art Historical Method in the 1930s, New York 2000. Zur Wiener Kunstgeschichte im Nationalsozialismus und danach vgl. Hans H. AURENHAMMER, Hans Sedlmayr und die Kunstgeschichte an der Universität Wien 1938–1945, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 5 (2003), S. 161– 194. DERS., Das Wiener Kunsthistorische Institut nach 1945, in: GRANDNER, HEISS, RATHKOLB (Hg.), Zukunft mit Altlasten, S. 174–188. Vgl. auch die umfassende Bibliografie desselben zur Geschichte der Wiener Schule unter: The Gombrich Archive – www.gombrich.co.uk [Zugriff: 01.03.2010] 355 Vgl. Arthur ROSENAUER, Moritz Thausing und die Wiener Schule der Kunstgeschichte, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 36 (1983), S. 135–139.
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ein Bild zeitlich weitgefasster prozessualer Abläufe ergeben, von dem Riegl oberste, auf den ersten Blick unsichtbare, historische Gesetze abzuleiten versuchte. Zunächst hatte er diese Methode der Verknüpfung von „Spezialforschung“ und „universalhistorischer Betrachtung“ in den Stilfragen (1893) formuliert: „Je gesichertere Resultate die Spezialforschung an die Hand gibt“, wiederholte er in einem späteren Aufsatz, „desto untrüglicher werden die Schlüsse der universalhistorischen Betrachtung ausfallen.“ Und weiter: „Es wäre also völlig müßig die Frage aufzuwerfen, welcher von beiden Methoden der Vorzug zu geben ist. Sie sind beide notwendig und bedürfen einander wechselseitig.“356 Durch diesen methodischen Ansatz zeichnete Alois Riegl für einen entscheidenden Wandel verantwortlich: Die ältere Stilgeschichte, der zufolge die Form als das die Vielfalt der Kunst Verbindende betrachtet und in der dem Verbindenden die Attribute ‚Aufstieg‘, ‚Blüte‘ oder ‚Verfall‘ beigefügt worden waren, hatte das Ziel verfolgt, eine Skala zur Vermessung des Werts einzelner Kunstwerke zu liefern. Das Kunstschaffen als solches, nämlich als Praxis, war in diesem Zusammenhang nicht untersucht worden. Durch den historisch-empirischen Ästhetikbegriff, den Alois Riegl einführte, verschob sich der Blick von der Wertung des Objekts auf die Analyse der Voraussetzungen, unter denen das Kunstwerk ‚notwendigerweise‘ entstanden war. Aus dieser wissenschaftlichen Perspektive begann sich eine Stilgeschichte neuen Formats abzuzeichnen. Dadurch habe Riegl, so Willibald Sauerländer, den kühnsten, aber wohl auch bizarrsten Entwurf einer autonomen Kunstgeschichte geschaffen und unter den Begründern der Kunstgeschichte weit herausgeragt.357 3.7.1.3 Stilgeschichte großen Stils. Oder: Der neue Zweck der Form Alois Riegl konzipierte auf diesem Wege eine „Stilgeschichte großen Stils“,358 der zufolge der Stil eines Kunstwerks weder als Wertmaßstab fungierte noch einen rein ästhetischen (Selbst-)Zweck erfüllte. Im ‚Stil‘ erkannte Riegl vielmehr einen Seismografen der sozialen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse einer Zeit, der eine spezifische Funktion repräsentierte. Zuletzt vertrat der Wiener Kunsthistoriker Georg Vasold in seinem Buch Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte (2004) zu Recht die These, dass Riegl seine wissenschaftshistorisch relevante Stellung nicht als traditioneller Stil-, sondern als Kulturhistoriker erreicht habe: „Ihn aber 356 RIEGL, Kunstgeschichte und Universalgeschichte, S. 7. 357 Vgl. SAUERLÄNDER, Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siècle, S. 217, S. 219. 358 Vgl. SEDLMAYR, Kunst und Wahrheit, S. 21f. Der Stilbegriff hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem Gattungsbegriff der Rhetorik und Literaturästhetik zu einer Begrifflichkeit, die die diachrone Verlaufsrichtung der Kunst anzeigte, verwandelt. Vgl. Willibald SAUERLÄNDER, Von Stilus zu Stil. Reflexionen über das Schicksal eines Begriffs, in: DERS., Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik, S. 256–276.
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[…], wie vielfach geschehen, als herausragenden Vertreter des wissenschaftlichen Paradigmas der Stilgeschichte zu sehen, […] dessen primäres Interesse in der Beschreibung der künstlerischen Form lag, heißt nichts weniger als Riegl zu verkennen.“359 Alois Riegl hatte sich zwar von der „rein formalistische[n] Kunstbetrachtung und ihre[n] Abstraktionen“360 verabschiedet, die Aussagekraft der Form zur Aufklärung entwicklungsgeschichtlicher Probleme aber nicht in Zweifel gezogen. Die „formale Signatur“361, wie es Walter Benjamin (1892– 1940) nannte, war für ihn sogar die verlässlichste Zeugin, um sich ein Urteil über vergangene Zeiten zu bilden. Sein Stilbegriff erlaubte ihm den Schluss von der Kunst auf die Zeit und von der Zeit auf die Kunst. Sonach bildeten Form- und Kulturgeschichte keinen unüberwindbaren Gegensatz; sie ergänzten einander vielmehr: Der Stil gab Auskunft über die Kultur, in der ein künstlerisches Artefakt hervorgebracht wurde; zugleich veränderte sich damit aber auch die Aufgabe des Kunstwissenschaftlers, der nun von den Voraussetzungen künstlerischer Tätigkeit und deren Wandel Zeugnis abzulegen statt ästhetischer Richter über das Kunstschaffen zu sein hatte. Diesen kulturhistorischen Auftrag verknüpfte Riegl mit dem Ziel, seiner Disziplin den Stellenwert einer echten, ‚exakten‘ Wissenschaft zu verschaffen.362 Zunächst verlangte dies, die Ästhetiken Winckelmanns, Sempers und Zimmermanns zurückzuweisen und an deren Stelle einen historisch-psychologischen, d.h. relativierenden Ästhetikbegriff einzuführen. Dies bedeutete aber auch die Loslösung der Kunstwissenschaft von der normativen Ästhetik der Herbartianer. 3.7.1.4 Der neue Ästhetikbegriff In Österreich hatte die Herbartsche Ästhetik (wie gezeigt) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine nahezu unangefochtene Stellung erreicht. Ihre Hochburgen bildeten Wien und Prag. Johann Friedrich Herbart hatte die Ästhetik als eine objektive, nichtspekulative und normative Wissenschaft neu zu begründen versucht. In seiner „allgemeinen Ästhetik“ wurde das Werturteil vom Subjekt als der urteilenden Instanz entkoppelt. Herbart zufolge besaß „das Schöne und Häßliche, insbesondere das Löbliche und Schändliche […] eine ursprüngliche Evidenz, vermöge deren es klar ist, ohne gelernt und bewiesen zu sein“.363
359 VASOLD, Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte, S. 84. 360 SCHLOSSER, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, S. 178. 361 Walter BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: DERS. Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band I, 2, Frankfurt am Main 1991 (stw 931), S. 431–469, hier S. 439f. 362 Vgl. Ernst H. GOMBRICH, Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin 2004, S. 14 [Original: DERS., Art and Illusion. A study in the psychology of pictorial representation, London 1960]. 363 HERBART, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, S. 130.
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Der von Julius von Schlosser (1866–1938) als „letzter Herbartianer“ bezeichnete Robert Zimmermann hatte das von Herbart vorskizzierte Programm der Ästhetik als „exacter Wissenschaft“364 in Wien aufgegriffen und die bedeutendste Ästhetik Herbartscher Ausrichtung verfasst. Zimmermann verstand die Ästhetik als eine „apriorische“ und „keine empirische“ Wissenschaft.365 Sie war für ihn daher auch keine historische Wissenschaft, die sich dem ‚Ursprung‘ des Schönen widmete, sondern eine Wissenschaft der Form, deren Aufgabe in der Untersuchung der in einem Kunstwerk enthaltenen „konkreten ästhetischen Verhältnisse“ bestand. War das Schöne allein Ausdruck wohlgefälliger werkinterner Relationen, so ließ es sich als eine objektive Struktureigenschaft begreifen. Um zu zeigen, was das Schöne sei,366 hatte Zimmermann die Ästhetik als Wissenschaft zur Aufklärung überzeitlicher, objektiv-formaler Verhältnisse in der Struktur der Kunstwerke definiert. Sie war sonach eine „Proportionslehre im großartigen Maßstabe“, also „reine Formwissenschaft“,367 deren Sinn er darin erblickte, das „bestimmt aufzustellen, was schön sei, für alle Zeit und an jedem Ort.“368 Aus dieser Perspektive spielte das Subjekt als erkennende sowie als schöpferische und wahrnehmende Instanz keine Rolle. Das politische Motiv, das ihn zur Ausklammerung des Subjekts bewog, liegt auf der Hand. In seinem Aufsatz „Die spekulative Aesthetik und die Kritik“ (1854) zeigte es sich deutlich. In ihm ‚entlarvte‘ Zimmermann den Subjektivismus als eine revolutionäre Triebkraft: „Das idealistische Subjekt stieß die Objektivität vom Thron, das Prinzip der Kunst, der Kritik wie das des Lebens ward der Egoismus.“ Der Grundsatz, „daß es keine objektive Geschmacksregel gebe, und ein Kriterion der Schönheit zu suchen, ein vergebliches Bemühen sei“, den Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) aufgestellt habe, habe dem „schrankenlosesten Subjektivismus“ Tür und Tor geöffnet. Die „ästhetische Selbstgesetzgeberschaft des Subjekts“, in der das Ich nur sich selbst gehorche, bekämpfte Zimmermann mit dem wissenschaftlichen Antidoton der normativen Ästhetik: „Wo es keine allgemeine Rechtsnorm gibt, gilt das
364 Robert ZIMMERMANN, Zur Reform der Aesthetik als exacter Wissenschaft, in: Zeitschrift für exacte Philosophie 2 (1862), S. 309–358. 365 Robert ZIMMERMANN, Aesthetik. 2 Bände, Wien 1858–1865. 366 Zu Zimmermann, zur Geschichte der formalen Ästhetik und zum Herbartianismus vgl. Lambert WIESING, Formale Ästhetik nach Herbart und Zimmermann, in: HOESCHEN, SCHNEIDER (Hg.), Herbarts Kultursystem, S. 283– 296. DERS., Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 24–54, und Georg JÄGER, Die Herbartianische Ästhetik. Ein österreichischer Weg in die Moderne, in: Herbert ZEMAN (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830–1880), Graz 1982, S. 195–219. 367 Vgl. Zimmermanns zweibändige Abhandlung zur Ästhetik, Wien 1858–1865 [Band 1: Geschichte der Aesthetik als philosophischer Wissenschaft. Band 2: Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft]. 368 Robert ZIMMERMANN, Die spekulative Aesthetik und die Kritik, in: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst 6, 6. Februar 1854 (Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung), S. 37–40, hier S. 39f.
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Recht des Räubers; wo die Kunstnorm fehlt, der Kitzel des Moments; wo Jeder recht hat, hat Keiner Recht, und wo Alles für schön gilt, entflieht die Schönheit.“ Sonach musste das ästhetische Credo, wie das politische oder religiöse, „gemeinschaftlich“ sein, „weil es einen Kanon für das Schöne geben muß, wie es einen für das Recht und für die Wahrheit gibt.“369 Von diesem Kanon versprach er sich die Stärkung ‚legitimer‘ Herrschaft und Macht. Zimmermanns Ästhetikauffassung wurde österreichweit verbreitet: Otakar Hostinský (1847–1910) und der Grazer Herbartianer Joseph Wilhelm Náhlowsky (1812–1885) versuchten Zimmermanns strikten Formalismus zwar im Sinne Herbarts zurechtzurücken,370 ihr Ästhetikbegriff verblieb dennoch, wenn auch in verschiedenen Schattierungen, dominant herbartianisch: In Böhmen avancierten Josef Durdík, ein Zimmermann-Schüler, und der eben genannte Hostinský zu den offiziellen tschechischsprachigen Vertretern dieser so genannten „kritisch-ästhetischen“ Kunstauffassung,371 die auch auf die neuen ästhetischen „Zweigwissenschaften“ (wie z.B. Musik, Kunst und Literatur) wirkte.372 In der Musik zeugt davon beispielhaft der „reine“, d.h. formalistische Ästhetikbegriff Eduard Hanslicks (1825–1904),373 den er in seiner Programmschrift Vom Musikalisch-Schönen (1854) vertrat:374 „Die ästhetische Untersuchung weiß nichts und darf nichts wissen von den persönlichen Verhältnissen und der geschichtlichen Umgebung des Componisten, nur was das Kunstwerk selbst ausspricht, wird sie hören und glauben.“ Auch
369 Ebenda, S. 37. 370 Vgl. HOESCHEN, SCHNEIDER, Herbartianismus im 19. Jahrhundert. Umriss einer intellektuellen Konfiguration, S. 461f. 371 DURDÍK, Über die Verbreitung der Herbart’schen Philosophie in Böhmen, S. 322. 372 Kurt BLAUKOPF, Von der Ästhetik zur „Zweigwissenschaft“, in: Martin SEILER, Friedrich STADLER (Hg.), Kunst, Kunsttheorie und Kunstforschung im wissenschaftlichen Diskurs. In memoriam Kurt Blaukopf (1914–1999), Wien 2000 (Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst 5), S. 35–46, hier S. 38. 373 Vgl. Barbara BOISITS, Formalismus als österreichische Staatsdoktrin? Zum Kontext musikalischer Formalästhetik innerhalb der zentraleuropäischen Wissenschaft, in: Muzikološki Zbornik/Musicological Annual 40, 1–2(2004), S. 129–136. 374 Vgl. Barbara BOISITS, Grenzen der Kunst und die Metaphysik der Tonkunst. Über Musikanschauung und Musikästhetik in Österreich, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 6.2: Philosophie und Religion. Gott, Sein und Sollen, Wien 2006, S. 207–249. DIES., Ästhetik versus Historie? Eduard Hanslicks und Guido Adlers Auffassung von Musikwissenschaft im Lichte der zeitgenössischen Theoriebildung, in: Barbara BOISITS, Peter STACHEL (Hg.), Das Ende der Eindeutigkeit. Zur Frage des Pluralismus in Moderne und Postmoderne, Wien 2000 (Studien zur Moderne 13), S. 89–108. Barbara TITUS, The Quest for Spiritualized Form: (Re)Positioning Eduard Hanslick, in: Acta Musicologica 80, 1(2008), S. 67–97. Vgl. auch Peter STACHEL, Die Schönheitslehre Bernard Bolzanos, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 5, S. 499– 518, hier S. 513–518.
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Hanslick näherte sich dem Ziel, „nach[zu]weisen, was [...] das Schöne ist“, vom Standpunkt der objektivistischen Wertästhetik.375 Das musikalisch Schöne beschränkte sich für ihn auf „tönend bewegte Formen“376, auf das „schöne Objekt“, das vom „empfindenden Subjekt“ unberührbar war: „Das Schöne hat seine Bedeutung in sich selbst, es ist zwar schön nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe.“377 Auch von der jungen Wiener Kunstwissenschaft, die sich mit Zimmermanns Ästhetik in Tuchfühlung befand,378 sollte das zentrale Stilmerkmal der Form nicht aufgegeben werden, wohl aber die Vorstellung des zeitlosen, objektiven ‚Kunstwerts an sich‘: „Nach heutigen Begriffen“, so schrieb Alois Riegl, gäbe es „keinen absoluten, sondern bloß einen relativen, modernen Kunstwert“: Während der Kunstwert eines Kunstwerks nach älterer Auffassung daran gemessen worden sei, inwieweit „es den Anforderungen einer vermeintlich objektiven, bisher niemals einwandfrei formulierten Ästhetik“ entsprach, so bemesse sich der Kunstwert des Kunstwerks nach seiner neueren Auffassung danach, „wie weit es den Anforderungen des modernen Kunstwollens entgegenkommt“. Die allgemeine Definition der Anforderungen war nach seiner Theorie nicht zielführend, da diese „von Subjekt zu Subjekt, von Moment zu Moment“ unaufhörlich wechselten.379 Der normativ-objektivistische Ästhetikbegriff hatte in der Kunstwissenschaft seine Überzeugungskraft verloren. Alois Riegls Vorreiterrolle war Sinnbild für das, was sich allmählich abzuzeichnen begann: eine „allgemeine Aversion gegenüber den verknöcherten Relikten, aber auch den historischen Leistungen des herbartianischen Wissenschafts-Paradigmas.“380 Von der Verabschiedung solcher vorpositivistischen Auffassungen durch Alois Riegl legte schon sein Schüler Max Dvořák (1874–1921) Zeugnis ab: Wie hätten auch Zimmermanns unproduktive Variationen auf die schon damals antiquierte Herbartsche Philosophie […] einen vorwärts strebenden Geist befriedigen können? Wenn eine Spur dieser Lehrer in Riegls Schriften bemerkbar ist, so äußert sie sich als eine direkte Negation ihrer Lehren und Methode.381
375 HANSLICK, Vom Musikalisch-Schönen [Strauß’sche Ausgabe], S. 93, S. 92. 376 Barbara BOISITS, ,Tönend bewegte Formen‘ oder ,seelischer Ausdruck‘. Zu einer musikästhetischen Streitfrage im 19. Jahrhundert, in: De musica disserenda 2, 2 (2006), S. 43–52. 377 HANSLICK, Vom Musikalisch-Schönen [Strauß’sche Ausgabe], S. 22, S. 26. In der zweiten Auflage heißt es: „Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder geschaut noch betrachtet wird.“ 378 Alois Riegl hatte Zimmermanns und Brentanos Vorlesungen besucht. 379 RIEGL, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, S. 5f. 380 CLAUSBERG, Wiener Schule – Russischer Formalismus – Prager Strukturalismus, S. 155. Auch Theodor und Heinrich Gomperz stuften Zimmermann als ein Relikt einer vergangenen Epoche der Philosophie ein. Vgl. Theodor Gomperz. Ein Gelehrtenleben im Bürgertum der Franz-Josefs-Zeit, S. 153, S. 222, und Theodor Gomperz. Briefe und Aufzeichnungen (1832–1868), S. 93f. 381 DVOŘÁK, Alois Riegl, S. 280.
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Dvořák ist im Wesentlichen zuzustimmen, was Methode und Lehren, nicht jedoch, was manche Orientierungen Alois Riegls betraf: Zimmermann verdankte Riegl wohl die Hinwendung zur Formanalyse, Büdinger sein Bestreben, Kunst unter völlig neuen theoretischen Aspekten – zeiten- und kulturenübergreifend, von der Antike bis zur Gegenwart und von Afrika, über Asien nach Europa – abzuhandeln. Dieser noch heute anschlussfähige Zugriff Riegls wurde im 20. Jahrhundert mitunter nicht tradiert: Während ihn sein Nachfolger in der Denkmalpflege – Max Dvořák – in seinem Nachruf noch als Überwinder des Herbartianismus klassifizierte,382 sah ihn Julius von Schlosser in seinem Rückblick auf die Wiener Schule (1934) wieder vom „Fluidum“ des „Herbartianischen ‚Realismus‘“ umflossen.383 Zuletzt rückte ihn der deutsche Ästhetikprofessor Lambert Wiesing, der – sich auf Schlosser berufend – den Wiener Kunsthistoriker als Zimmermann-Schüler einstuft, schief ins Licht: Wiesing sprach in Widerrede zum Schüler Dvořák Alois Riegl das angebliche Verdienst zu, „die formale Ästhetik des frühen Herbartianismus in eine Philosophie des Stils“ transformiert zu haben.384 Von einer solchen Zuschreibung nahmen manche Wiener Kunsthistoriker zu Recht Abstand, so u.a. Hans Sedlmayr (1896–1984) und Otto Pächt (1902– 1988).385 Letzterer erkannte in Riegl einen maßgeblichen Neuerer:386 Solange eine normative Ästhetikauffassung die Wissenschaften dominiert habe, versicherte Pächt, sei der Weg zu einem historischen Verständnis der Kunst der Vergangenheit versperrt gewesen. Alois Riegl habe ihn durch die Zurückweisung der zeitlosen, ortsunspezifischen, absoluten Schönheitsnorm freigelegt. Sei es Aufgabe der Kunstgeschichte, so Otto Pächt, „die historische raison d’être jedes einzelnen Werkes der Vergangenheit zu entdecken,
382 Vgl. DVOŘÁK, Alois Riegl, S. 279–298. Der Nekrolog Dvořáks erschien zunächst in den Mittheilungen der k.k. Central-Commission zur Erforschung u. Erhaltung d. Kunst- u. historischen Denkmale 3, 4(1905), Sp. 255–276. 383 SCHLOSSER, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, S. 182. 384 WIESING, Die Sichtbarkeit des Bildes, S. 57. 385 Vgl. Otto PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Als Vorlesung an der Universität Wien, gehalten im Wintersemester 1970/71, in: DERS., Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgewählte Schriften, München 1977, S. 187–300, hier S. 234. Zu Pächt und zur Wiener Schule der Kunstgeschichte vgl. Johannes FEICHTINGER, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt am Main–New York 2001 (Campus Forschung 816), S. 339–436. DERS., Die Emigration der österreichischen Kunstgeschichte in den 1930er Jahren, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 5, S. 579–604. Katharina SCHERKE, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte und die Warburg-Schule. Anmerkungen zur geistigen Infrastruktur zweier Großstädte, in: Peter STACHEL, Cornelia SZABO-KNOTIK (Hg.), Urbane Kulturen in Zentraleuropa um 1900, Wien 2004 (Studien zur Moderne 19), S. 383–408. 386 Vgl. PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 293.
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d.h. es aus den historischen Bedingungen zu begreifen, unter denen es gewachsen ist“,387 so wäre Alois Riegl dieser Aufgabe nachgekommen: Wenn wir heute sagen, dass, um ein Kunstwerk zu verstehen, das auf Voraussetzungen basiert, die nicht die unseren sind, wir die ihm adäquate Einstellung finden müssten, so bekennen wir uns zu Forschungszielen und Verfahren, die überhaupt erst seit Riegls Eintreten für eine historische Relativierung ästhetischer Werte in den Blickkreis der Wissenschaft getreten sind.388
Zu betonen bleibt, dass dieser Schritt der Relativierung nicht bedeutete, dass Riegl das Kunstideal, das einer Zeit anhaftete, über Bord geworfen oder das Ziel seiner Objektivierung aufgegeben hat. Im Gegenteil: Zur Objektivierung des relativ Schönen prägte er in den Stilfragen einen neuen Zentralbegriff, das „Kunstwollen“,389 das er untrennbar mit seinem Stilbegriff verknüpfte. Mit dem Konzept des „Kunstwollens“ wertete er sowohl das schaffende als auch das wahrnehmende Subjekt auf, band dieses aber zugleich an die raumzeitlichen – und daher relativen – ästhetischen Anforderungen, die in dem Kunstwerk bewältigt worden seien, rück. Durch seine Abkehr von einem überzeitlichen, ortsunspezifischen, dogmatisch-objektivistischen Ästhetikbegriff erreichte Alois Riegl dreierlei: Erstens vergrößerte er die Autonomie seiner Wissenschaft, weil er ihr die Aufgabe zuwies, sich dem verursachenden Prinzip der künstlerischen Praxis zu widmen, ohne Sachwalterin einer objektiv vorgegebenen, zugleich aber politisch affinen Kunstnorm zu sein. In Verbindung damit wurde zweitens das kunstschaffende Subjekt aufgewertet, mochte dieses das „Kunstwollen“ einer Epoche erfüllen oder auch nicht: Sonach durfte „jede menschliche Tätigkeit und jedes menschliche Geschick, wovon uns Zeugnis oder Kunde erhalten ist, ohne Ausnahme historischen Wert beanspruchen.“390 Zugleich verkannte er aber nicht den ebenfalls relativen Horizont des erkennenden Subjekts: „Die Kunstgeschichte befindet sich in einem Wahn, wenn sie glaubt, objektiv vorzugehen.“391 Drittens wurde mit der These des sich verändernden ‚Anschauungsspielraums‘, d.h. der Überwindung des ‚Kunstwerts an sich‘, auch die Verfallsidee obsolet.392 War der Verfall nicht ein
387 Otto PÄCHT, Alois Riegl, in: Alois RIEGL, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. Mit einem Nachwort von Otto Pächt, Berlin 1985 (Original: 1893), S. 347–367, hier S. 355 [= Otto PÄCHT, Art Historians and Art Critics – VI: Alois Riegl, in: Burlington Magazine 105 (1963), S. 188– 193], und vgl. DERS., Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 234. 388 PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 292. 389 RIEGL, Stilfragen, S. VII. 390 RIEGL, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, S. 2. 391 Alois RIEGL, Holländische Kunst des 17. Jahrhunderts (Unveröffentlichtes Vorlesungstyposkript), S. 115, und POCHAT, SCHMIDT, VASOLD, Der Beitrag der Kunstgeschichte zur Ausformung der Humanwissenschaften, S. 409. 392 Später verabschiedete sich auch der führende ‚Musikhistoriker‘ Guido Adler (1855–1941) vom überzeitlichen Schönheitsbegriff (Hanslick), doch blieb für
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Teil der kontemporären Wahrnehmung, so konnte er nur eine in die Vergangenheit projizierte, für die Analyse des Schaffensprozesses unerhebliche Wertzuschreibung sein. Somit war der relativierte Kunstwertbegriff eine unabdingbare Voraussetzung zur Zerstörung des Dogmas vom ungleichen Wert verschiedener Stile. War der Kunstwert auch von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort verschieden, so hieß dies umgekehrt noch nicht, das er sich nicht objektivieren ließ. Das Konzept des „Kunstwollens“ bot Riegl hierfür das Mittel. 3.7.1.5 Kunstwollen Als „Kunstwollen“ charakterisierte Alois Riegl das, was den Stil und damit das spezifische Aussehen eines Kunstwerks determinierte, also die zu einer bestimmten Zeit vorherrschende „ästhetische Disposition“, welcher der Künstler Ausdruck verlieh. Diesen neuen Begriff hatte er – wie schon erwähnt – in den Stilfragen (1893) erstmals verwendet.393 Das „Kunstwollen“ war für ihn das einzige objektiv Gegebene, die letzte positiv-wissenschaftlich eruierbare Station.394 Als Positivist werde man sagen müssen, schrieb er, daß das Kunstschaffen sich lediglich als ein ästhetischer Drang äußert: bei den einen (den Künstlern), die Naturdinge in einer bestimmten Art und Weise, unter einseitiger Steigerung der einen, Unterdrückung der anderen Merkmale wiederzugeben, bei den anderen (dem Publikum), die Naturdinge in ebendieser Art und Weise, wie es von den gleichzeitigen Künstlern geschieht, wiedergegeben zu schauen.395
Dieses „Kunstwollen“ veränderte sich in den unterschiedlichen Stilperioden, weil es nicht an die „Naturwerke“ anknüpfte, sondern an die Art und Weise, in der die Menschen diese jeweils als reproduziert sehen wollten. Zwar strebte jeder Stil nach getreuer Naturwiedergabe, jedoch habe auch jeder seine eigene Auffassung davon gehabt (so Gombrich in seiner Würdigung Riegls).396 Im Zeichen des sich verändernden „Kunstwollens“ sei die Kunstproduktion daher bewusst von der getreuen Naturnachahmung abgewichen, verschiedene Merkmale der „Naturwerke“ seien im Kunstwerk absichtlich gesteigert, andere aber unterdrückt worden.397 Diese Abweichungen waren aber für Riegl kein Ausdruck von Mangel, sondern eines in den verschiedenen Stilepochen unterschiedlichen subjektiven Sehen- bzw. Greifen-
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ihn die Analyse jener ‚Meisterwerke‘, die vom Auftauchen neuer stilistischer Momente zeugten, vordergründig. ‚Manierismen‘ waren ihm keine wissenschaftliche Anstrengung wert. Vgl. BOISITS, Ästhetik versus Historie? Eduard Hanslicks und Guido Adlers Auffassung von Musikwissenschaft, S. 89–108. Alois RIEGL, Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893 (21923), S. VII. Vgl. SEDLMAYR, Kunst und Wahrheit, S. 35. RIEGL, Naturwerk und Kunstwerk I, S. 57. Vgl. GOMBRICH, Kunst und Illusion, S. 15. RIEGL, Naturwerk und Kunstwerk I, S. 57.
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Wollens. Innerhalb einer Epoche wies dieses Wollen in eine bestimmte Richtung, die nicht nur „alle Gattungen des bildenden Kunstschaffens gleichermaßen beherrschte,“398 sondern auch für alle anderen intellektuellen Äußerungsformen (Philosophie, Religion, Wissenschaft, Staat und Recht) maßgeblich war:399 Die „Hauptäußerungsformen des menschlichen Wollens“ waren laut Riegl „während der gleichen Zeitperiode im letzten Grunde schlichtweg identisch.“400 Im Kunstwerk sah Riegl allein einen unverkennbaren Ausdruck der dynamischen kunstinternen Triebkraft des „Kunstwollens“, das im künstlerischen Schaffen einer Epoche wirksam war.401 Die direkte, ungebrochene Bedingtheit der künstlerischen Praxis durch andere, politische, soziale und ökonomische, also kunstexterne Wirkkräfte wies Riegl als metaphysische Illusion zurück.402 Im „Kunstwollen“ enthüllte sich ihm nicht nur das verursachende Prinzip der jeweiligen Erscheinungsweise von Umriss und Farbe in Ebene oder Raum, sondern auch der tiefere Grund der Stilwandlungen: Veränderten sich die tieferen Ideale von dem, was als schön befunden wurde, so wandelten sich an der Oberfläche die Stile. In der Spätrömischen Kunstindustrie (1901), seiner einflussreichsten Schrift, nahm Riegl endgültig von der Vorstellung eines von ‚Aufstieg‘, ‚Hochblüte‘ und ‚Verfall‘ geprägten Verlaufs der Kunstentwicklung Abschied. Wurde die Kunst der Spätantike bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts als Verfallsepoche abqualifiziert, so verwarf er nun dieses Vorurteil, um das „Wollen“ der unterbewerteten spätrömischen Stilepoche zu verstehen. Zu diesem Zweck analysierte er das Ornament, in dem sich ihm die Signatur eines Zeitstils am deutlichsten zeigte, um Grundlegendes festzustellen: „Also mindestens für das Pflanzenrankenornament bestünde hienach in der spätrömischen Zeit kein Verfall, sondern ein Fortschritt oder doch wenigstens eine Fortbildung von selbständigem Werte.“403 Das Etikett der ‚Verfallsepoche‘, das der spätrömischen, mittelalterlichen und barocken Kunst anhaftete, hatte für ihn laut Pächt nur eine Ursache: die „tyrannische Unduldsamkeit einer normativen Ästhetik“404. Damit war der Bruch vollzogen: Überzeugt, dass „der Kernpunkt jeder modernen historischen Auffassung“ der „Entwicklungsgedanke“ zu sein habe,405 nahm Riegl unterschiedliche Schönheitsideale in den verschiedenen Zeitaltern an. Sonach war es
398 Alois RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, Wien 21927 (Unveränderter Nachdruck Darmstadt 1992), S. 400. 399 Vgl. PÄCHT, Alois Riegl, in: RIEGL, Stilfragen, S. 358. RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, S. 401. DERS., Naturwerk und Kunstwerk I, S. 60. 400 RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, S. 400f., und vgl. DERS., Naturwerk und Kunstwerk I, S. 60. 401 Vgl. RIEGL, Naturwerk und Kunstwerk I, S. 57. 402 Vgl. PÄCHT, Alois Riegl, S. 358. RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, S. 401. DERS., Naturwerk und Kunstwerk I, S. 60. 403 RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, S. 7. 404 PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 292. 405 RIEGL, Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen und seine Entstehung, S. 2.
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der Kunstwissenschaft nicht aufgegeben, ästhetische Werturteile zu fällen, sondern ausgehend von der Vorstellung, dass alles Seiende in einer Zeit und an einem Ort ‚schön‘ gewesen wäre, spezifische Entwicklungsprozesse zu untersuchen. Abbildung 2: Titelseite Die spätrömische Kunst-Industrie (1901)
3.7.1.6 Vom Wert zur Funktion: Subjektivistischer Objektivismus Die Relativierung des absoluten Wertbegriffs bedeutete für Alois Riegl nicht, dass die ‚Meisterleistung eines Genies‘ und das ‚Machwerk eines Stümpers‘ als gleichwertige Stildokumente anzuerkennen waren; im Gegenteil: Sich an der Kunstfertigkeit des Künstlers zu orientieren, war nach wie vor legitim, jedoch musste das spezielle Objekt zum „Kunstwollen“ einer Zeit, in der es geschaffen worden war, in Beziehung gesetzt werden.406 Wertrelativierung hieß allein, dass keine absolute Norm den Maßstab für Schönheit bilden durfte, oder anders gesagt, dass je nach den vorherrschen-
406 Vgl. PÄCHT, Alois Riegl, S. 364.
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den Schönheitsidealen ein anderes Können zur Schaffung von Kunst vonnöten war.407 Dieses andere „Kunstkönnen“ sollte unter Anwendung der „exacten“ historischen Methode und durch Bildanalyse objektiviert werden. Mit Hilfe der empirisch-deskriptiven Methode – durch „subjektive Betrachtung“ der Kunstwerke und durch „die vergleichende Heranziehung von literarischen Äußerungen“, „ein bisher ungenützt gebliebenes Mittel“ – sollte herausgefunden werden, „ob man zur damaligen Zeit in der Tat dasjenige von der bildenden Kunst gewollt hat, was wir uns auf Grund der Untersuchung der Denkmäler als das Gewollte vorstellen – in welcher Übereinstimmung offenbar erst der wahre und allein zuverlässige Prüfstein zur Erhärtung unserer Forschungsresultate gelegen wäre.“408 Hierfür bot der universalhistorische Ansatz die entscheidende theoretische Ergänzung. Alois Riegls Ehrgeiz war es (soweit auf empirischem Wege ergründbar), durch Abstraktion vom einzelnen Kunstwerk das verursachende Prinzip des Kunstschaffens, das historisch jeweils spezifische „Kunstwollen“, „the drive to make art“409, für verschiedene Orte und verschiedene Zeiten zu rekonstruieren. Wie schon erwähnt, führte er diese methodische Lösung in den Stilfragen (1893) vor und durch: Hier befasste er sich mit oft unauffälligen ornamentalen Motiven, die von der Kunstgeschichte seiner Zeit vernachlässigt worden waren, in denen sich aber die Verschiebungen im „Kunstwollen“ seines Erachtens am deutlichsten zeigten. Das Detail im Blick, entwarf er ein der Art nach universalhistorisches Bild, das die Transformationen des Pflanzenrankenornaments von den ältesten erfassbaren (altägyptischen) Anfängen über seine charakteristischen Ausformungen in der klassisch antiken Kunst zur frühmittelalterlichen Arabeske zeigte. Riegls Analyse ergab, dass sowohl die Arabeske als auch die Ornamentik westlicher Ausprägung auf antike dekorative Traditionen der Mittelmeerregion zurückreichten. Die orientalische Kunst des Mittelalters stellte sich ihm daher nicht als spontanautochthone Schöpfung dar, sondern – so wie auch die europäische Kunst – als ein Weiterleben der Kunst des Altertums. Veränderungen in der Formenwelt führte er – wie bereits ausgeführt – auf Wandlungen des „Kunstwollens“ zurück, welches sich im kleinsten Ornament ebenso wie im größten Monumentalbau manifestierte.410 Riegls Untersuchung der Stilfragen erbrachte im Wesentlichen zwei Ergebnisse: Durch die empirische Verifikation der Verwandtschaftsverhältnisse in der Ornamentik konnte er zum einen das Überdauern der Kunstformen aufzeigen. Dadurch war die Theorie der Semperianer vom spontanautochthonen Kunstschaffen411 ebenso nichtig wie die vorherrschende Ver-
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Vgl. PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 293. RIEGL, Spätrömische Kunstindustrie, S. 392f. WOOD (Hg.), The Vienna School Reader, S. 26. Vgl. GOMBRICH, Kunst und Illusion, S. 14. Der Semperianischen Theorie spontan-autochthonen Kunstschaffens zufolge war der Stil vom Gebrauchszweck sowie von Material und Technik bestimmt.
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fallsthese widerlegt. Das neue Schlagwort, mit dem er sich das Kunstschaffen erklärte, lautete Diffusion. Zum anderen rückten durch die Kombination von historisch-psychologischer Erforschung einzelner Kunstwerke und von Formanalyse Entwicklungszusammenhänge ebenso verstärkt in das wissenschaftliche Blickfeld wie das Subjekt als kunstschaffende Instanz. Der Künstler wurde im Verhältnis zur Form aufgewertet, „Formprobleme an sich“ zurückgewiesen und die hiermit verknüpften Wertzuschreibungen neu reflektiert. Walter Benjamin erinnerte im Jahr 1932 an diesen von Alois Riegl implementierten neuen Typ von Kunstwissenschaft, dem zufolge die Form nicht „als Ausfluß eines bloßen Formproblems“ oder „um ihres Reizes willen“ behandelt wurde, sondern als Ausdruck eines individuellen Formwillens. Das kunstschaffende Subjekt wäre demnach jedes Mal in ein neues Erkenntnisfeld vorgestoßen, „das bis zum Augenblick dieser formalen Bewältigung noch nicht ‚vorlag‘“. Dass der Künstler die gegebene Welt aber formal neu aufnehmen konnte, hätte einer „Denkart“ als Grundvoraussetzung bedurft, für die der „Anschauungsspielraum selbst mit der Zeit und gemäß den Wendungen seiner geistigen Lenkung veränderlich“ war. Wurde nämlich die spezifische „formale Signatur“ als die zwingende Art der künstlerischen Bewältigung der Welt aufgefasst, so musste das Kunstwerk nicht nur von den in einer historischen Epoche wirksamen Vorstellungen Zeugnis ablegen, sondern notwendig auch in eine Richtung weisen. Mit der Idee des „Kunstwollens“ habe dieser „Ahnherr eines neuen Typs von Kunstwissenschaft“ für einen entscheidenden Übergang in der Betrachtung des Kunstwerks verantwortlich gezeichnet: vom „materialistischen Kultus der Einzeltatsachen“, wie Benjamin schrieb, der in Abkehr vom ‚spekulativen Idealismus‘ entstand und allein ein antiquarisches Interesse befriedigte, zur Analyse des „eigentlichen Gehalts“ bzw. der „geistigen Funktion“ des Kunstwerks.412 Alois Riegls Konzept des „Kunstwollens“ blieb, wie zu erwarten war, nicht unwidersprochen. Sogar Ernst H. Gombrich (1909–2001) fand mehrere Angriffspunkte: Zum einen kritisierte er die angebliche Ausschaltung der Idee des technischen Könnens durch Riegl und des mit dem veränderlichen „Kunstwollen“ einhergehenden Stilwandels. Zum anderen meinte er im „Kunstwollen“ vorwissenschaftliche mythologisierende Züge zu entdecken, die der fatalen Angewohnheit, in substanzialisierten Kollektiven zu denken Eine verblüffende Analogie zu Sempers materialistischer Theorie weist auch der Hanslicksche Ästhetikbegriff auf. Hanslick schreibt in der zweiten Auflage seiner Schrift zur Musikästhetik: Die Forschung „hält fest an dem Grundsatz, daß die Schönheitsgesetze jeder Kunst untrennbar sind von den Eigenthümlichkeiten ihres Materials, ihrer Technik.“ Vgl. HANSLICK, Vom Musikalisch-Schönen [Strauß’sche Ausgabe], S. 23. 412 Walter BENJAMIN, Strenge Kunstwissenschaft. Zum ersten Bande der „Kunstwissenschaftlichen Forschungen“ (Zweite Fassung) (Original 1932), in: DERS., Gesammelte Schriften. Band 3, Frankfurt am Main 1991 (stw 933), S. 369–374, hier S. 371f.
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und von ‚Menschheit‘, ‚Rassen‘, ‚Zeitaltern‘ usw. zu sprechen, Vorschub leisteten und eine überindividuelle Kraft imaginierten (sei es der ‚Zeitgeist‘, der ‚Volksgeist‘ oder ‚das Blut‘), wodurch die Widerstandskraft des Einzelnen wider den Totalitarismus geschwächt worden sei. In diesem Sinne hatte auch Hans Sedlmayr „Die Quintessenz der Lehren Riegls“ gezogen und – sich auf Riegl berufend – die Korrektur der Ansicht verlangt, dass die einzelnen Individuen primär, Gruppen aber nur Summen solcher Individuen wären. Sedlmayr hatte Riegl allerdings schon im Jahr 1927 (und nochmals 1958) völlig verzerrt wiedergeben: Er unterstellte Riegl die Zurückweisung der Vorstellung, dass „die in den Gruppen basierenden geistigen Kollektivgebilde“ „keine Realia, sondern bloße Nomina“ wären.413 Mit Hilfe dieser Unterstellung konnte Sedlmayr von Riegl „echte historische Geschehensganzheiten und sinnvolle Eigenbewegungen des Geistes“ herleiten.414 Andere Kritik übte Ernst Bloch, der Alois Riegls „Kunstwollen“ als ambivalent einstufte: zwar „gerecht, aber auch als Keil im kulturellen Verlauf.“415 Durch ihn wäre die ästhetisch unterbewertete nichtattische, außereuropäische Kunst aufgewertet worden, die Überbietung der Verfallsstile durch die Klassik sonach verschwunden. In der „so hochverdienstlichen ,Rettung‘“ bisher unterbewerteter Kunst – „auch der so genannten Barbarenkunst“ –, und damit der Gleichstellung der verschiedensten Kulturen, jene der exotisierten Anderen miteingeschlossen, sah er das demokratische Moment. Aufgegeben worden wäre die kolonialistische Haltung, die Abwertung des Außereuropäischen, um das Ideal der griechischen Kunst zu erreichen. Dennoch hatte sich das „Kunstwollen“ einer Epoche Bloch zufolge einem „reaktionären“ Verständnis nicht entzogen. Da Riegl Geschichte als Entfaltung eines Wollens in unterschiedlichen Zeiten und Räumen aufgefasst habe, habe er einer Skalierung der Räume („Kulturkreise“) sowie des „Geschichts-‚Prozesses‘“ („Fortschrittssprengung“) Vorschub geleistet.416 Diese kritischen Anwürfe verfehlten jedoch – so lässt sich einwenden – im Wesentlichen ihr Ziel. Zugegebenermaßen hatte Alois Riegl sein „Kunstwollen“ unzureichend definiert. Anders als manche seiner Interpreten meinten, hatte er darunter weder eine Anleitung für ein „Denken in Kollektiven“ (Gombrich) verstanden, noch mit ihm einem „geistigen Kollektivgebilde“ (Sedlmayr) Vorrang vor dem Individuum eingeräumt. Im Hinblick darauf argumentierte Sedlmayr widersprüchlich: „Ebensowenig“, schrieb er im
413 Hans SEDLMAYR, Einleitung. Die Quintessenz der Lehren Riegls (Original 1927), in: Alois RIEGL, Gesammelte Aufsätze, hg. von Karl M. Swoboda, Wien 1929, S. XI–XXXIV, hier S. XXXI. Vgl. folgende Auflagen: DERS., Die Quintessenz der Lehren Riegls, in: DERS., Kunst und Wahrheit, 1958, S. 14– 34, hier S. 46, und DERS., Einleitung. Die Quintessenz der Lehren Riegls, in: Alois Riegl. Gesammelte Aufsätze. Mit einer Einleitung von Hans Sedlmayr, hg. von Artur Rosenauer (1996), S. XIII–XXXIV, hier S. XXIX. 414 SEDLMAYR, Einleitung (1929), S. XXXII. DERS., Kunst und Wahrheit (1958), S. 47. DERS., Einleitung (1996), S. XXX. 415 BLOCH, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, S. 167. 416 Ebenda, S. 170.
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Jahr 1927, „kommen als Träger des Kunstwollens die Völker im rassenmäßigen Sinn in Betracht“.417 Zugleich brachte Sedlmayr dieses aber in die Nähe völkisch-kollektivistischer Anschauungen. Die hier vorgebrachte Kritik findet in Riegls Modell jedenfalls keine Anhaltspunkte, sie zeigt vielmehr, dass Sedlmayr das „Kunstwollen“ – ein Begriff, der der Kunstwissenschaft zu größerer Autonomie verhalf – gegenteiligen, d.h. politischen Zwecken unterwarf oder unterwerfen wollte. Alois Riegl war und blieb ein Verfechter der ‚objektivistischen‘ Auffassung von Wissenschaft. Als solcher bewertete er aber das Subjekt als Akteur in den sich verändernden Anschauungsspielräumen nicht unter. Durch den ‚Wollens‘-Begriff wurde es dem Wortsinn nach in der Ästhetik vielmehr aufgewertet, seine Funktion aber als von raumzeitlichen ästhetischen Dispositionen bestimmt vorgestellt. Kunstwerke wurden sonach als Gewebe vieler formaler Fäden, der Stil durch die raumzeitliche Verschränkung der Motive zwischen Antike und Gegenwart, Europa, Afrika und Asien geprägt begriffen. Stile veränderten sich aufgrund unterschiedlichen „Kunstwollens“. Spezifische „formale Signaturen“ erwiesen sich als ein Indiz hierfür. Vielleicht war der ‚subjektivistische Objektivist‘ Alois Riegl ein Historist – wenn, dann aber ein relativistischer. Er war weder ein positivistischer Faktensammler noch ein Historist in dem Sinne, wie Bloch ihn vorstellte. Zwar waren für ihn – so könnte man sagen – ‚alle Zeitalter unmittelbar zu Gott‘, weil als Stilepochen gleichwertig; aus der Perspektive des „Kunstwollens“ waren die Epochen aber nach keiner Seite – weder zeitlich noch räumlich (national-territorial) – voneinander isoliert. Seine Untersuchungen zur historischen Diffusion der künstlerischen Formen legen davon ebenso Zeugnis ab, wie die Zertrümmerung der Auffassung vom „Gebietscharakter der Kunst“:418 Wenn Historisten traditionellen Zuschnitts die Kunst verschiedener Territorien und Zeiten zu erfassen versuchten, so hielt Alois Riegl nach den Verbindungslinien und Schnittstellen in der künstlerischen Praxis Ausschau. Zu diesem Zweck verschob er den Blick vom „Einzelge-
417 SEDLMAYR, Einleitung. Die Quintessenz der Lehren Riegls, 1996, S. XVIII. Weiters explizierte Sedlmayr Riegls Begriff vom „Kunstwollen“ wie folgt: Die Verteilung der Stile habe sich nicht mit der Verteilung der Volkstümer gedeckt. Unmöglich wäre es auch, „als Träger des Kunstwollens ‚die Zeit‘ oder ‚den Zeitgeist‘ anzusetzen. Denn nimmt man diese ungenauen Ausdrücke wörtlich, so müßten einfach alle in demselben Jahr, zu derselben Zeit, entstandenen Kunstwerke den gleichen Stil aufweisen. Der Träger des Kunstwollens ist vielmehr immer eine bestimmte Gruppe von Menschen, die sehr verschieden groß sein kann. Dadurch erreicht man jene Variabilität, die notwendig ist, um das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener Stile in demselben geografischen Raum und den verschiedenen ‚Umfang‘ der Stil-Gattungen und ihrer Unterarten zu erklären.“ Ebenda, S. XVIIIf. 418 Mit diesen Begriffen knüpft Walter Benjamin an die „methodischen Ideen“ Alois Riegls an. BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 440, und DERS., Lebensläufe III, in: DERS., Fragmente, Autobiographische Schriften, Frankfurt am Main 1972 (Gesammelte Schriften 6), S. 217–219, hier S. 218f.
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genstand auf seine geistige Funktion“, um von der „formalen Signatur“ auf die Wahrnehmung der Zeit, in der das Kunstwerk entstand, rückzuschließen.419 Die sozialen Umwälzungen aufzuzeigen, die in diesen Veränderungen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden, blieb zwar späterer Wissenschaft vorbehalten, mit der Verschiebung der Wertperspektive zur Analyse der Funktion durch Mikrostudien und universalhistorische Zusammenschau hatte er aber das Reflexionsniveau seiner Disziplin beträchtlich gehoben: Der an der klassischen Überlieferung orientierte Wertmaßstab wurde aufgegeben; und mit ihm auch die zeitliche Hierarchisierung und räumliche Segregation. Das vorgebliche Neben- und Nacheinander ‚an sich‘ wurde zugunsten diachroner und synchroner Verflechtungen überwunden. Diesem Ansinnen verlieh Riegl nicht nur in seiner Art, die ‚Stilfragen‘ zu behandeln, sondern auch in dem, was er als den Auftrag der Denkmalpflege verstand, und in seinen diesbezüglichen Aktivitäten Ausdruck:420 In seinem Bericht zur Untersuchung des Diokletianspalastes in Spaleto/Split verwarf er die Idee einer purifizierenden Rekonstruktion der ältesten und vermeintlich „wertvollsten“ Schicht, um die lokale „Integrität“ der akkumulierten Schichten zwischen römischer Zeit und lokalem, zeitgenössischem „Gebrauchsund Identifikationswert“ zu bewahren.421 Sah Riegl in der Kunst ein transepochales, -kulturelles und -nationales „Epiphänomen“? Dehios Anliegen, mit dem denkmalpflegerischen Auftrag völkisch nationale Identitätsstiftungsprozesse zu verstärken,422 widersetzte sich Riegl vehement.423 Unter ‚Volk‘ verstand er keine „politische“, d.h. soziale oder „ethnographische“ Kategorie, d.h. „die Angehörigen eines und desselben Stammes“, sondern eine wissenschaftlich deskriptive und analytische Kategorie: ‚Volk‘ war für ihn ein Sammelbegriff für diejenigen, „deren
419 BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 439f., und DERS., Strenge Kunstwissenschaft, S. 372. 420 Vgl. Michael S. FALSER, Zwischen Identität und Authentizität. Zur politischen Geschichte der Denkmalpflege in Deutschland, Dresden 2008, S. 59–66. DERS., Zum 100. Todestag von Alois Riegl 2005, in: www.kunsttexte.de 1 (2006), S. 1–15 [Zugriff: 01.03.2010]. DERS., Denkmalpflege zwischen (europäischem) Gedächtnis und (nationaler) Erinnerung – Riegls Alterswert und Kulturtechniken der Berliner Nachwendezeit, in: Moritz CSÁKY, Elisabeth GROSSEGGER (Hg.), Jenseits von Grenzen. Translokales, transnationales Gedächtnis, Wien 2007, S. 75–93. 421 Alois RIEGL, Bericht über eine im Auftrag des Präsidiums der k.k. ZentralKommission zur Wahrung der Interessen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Denkmale innerhalb des ehemaligen Diokletianischen Palastes zu Spalato durchgeführte Untersuchung (Original 1903), in: BACHER (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal, S. 173–181. 422 Vgl. Georg DEHIO, Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. [Rede zur Feier des Geburtstags Sr. Majestät des Kaisers, Straßburg 1905], in: Georg Dehio. Alois Riegl. Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Mit einem Kommentar von Marion Wohlleben und einem Nachwort von Georg Mörsch, Braunschweig–Wiesbaden 1988, S. 88–103, hier S. 92. 423 Vgl. RIEGL, Neue Strömungen in der Denkmalpflege, S. 217–233.
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ganze Lebenshaltung auf der bloßen Tradition“ beruhte.424 Wie er in vielen seiner Arbeiten [wie z.B. Altorientalische Teppiche (1891), Stilfragen (1893), Spätrömische Kunstindustrie (1901] zeigte, bildeten sich Traditionen keineswegs autochthon und sie überschritten auch jedwede „schroffen Kulturabsperrungen“.425 Allein sein Volksbegriff zeugt davon, dass er seine Theorie jenseits der in der Habsburgermonarchie vorherrschenden Nationalisierungspolitiken bildete.426 Sie war daher hierfür auch weitgehend unbrauchbar, was sie allerdings in späteren nationalstaatlichen und postnationalen Kontexten nicht davor schützte, nachträglich eine politische Funktion zugeschrieben zu erhalten:427 Vor dem Hintergrund wachsender nationalistischer, xenophober und antisemitischer Tendenzen interpretierte Julius von Schlosser das „Kunstwollen“ Anfang der 1930er-Jahre als Ausdruck eines „Neuvitalismus“: „Die Kunstentwicklung“ stelle sich – dem „Volksgeist entspringend“ – „als Personifikation oder Allegorie eines Begriffes dar, wie 428 ein hypostasierter Organismus“. Sedlmayr erblickte im „Kunstwollen“ ein Argument für eine völkische Kunstauffassung. Zuschreibungen solcher Art überlebten 1945 und wurden im verbleibenden 20. Jahrhundert ständig neu genährt. Mit dem Anbruch einer „postnationalen Konstellation“ (Jürgen Habermas) und im Zuge der europäischen Integration wurde Riegl vermehrt als Verfechter eines offiziellen habsburgischen Inter- und Übernationalismus, Kosmopolitismus und Multikulturalismus avant la lettre gelesen,429 oder – wie zuletzt – als Anwalt Habsburg-affiner staatsnationaler und bin-
424 Alois RIEGL, Das Volksmäßige und die Gegenwart, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 1 (1895), S. 4–7, hier S. 4. 425 Alois RIEGL, Entwurf einer gesetzlichen Organisation der Denkmalpflege in Österreich (1905), in: BACHER (Hg.), Kunstwerk oder Denkmal, S. 49–144, hier S. 108. 426 Der Volksbegriff wurde in der Habsburgermonarchie sowohl von sprach- als auch von staatsnationalen Aktivisten politisch (territorial oder ethnografisch) definiert, und zwar je nach Standpunkt als „Gesammtvolk“ oder als „racenmäßig ausgezeichnete Gruppe“. HELFERT, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, S. 1f. 427 Vgl. Ján BAKOŠ, From Universalism to Nationalism. Transformations of Vienna School Ideas in Central Europe, in: Robert BORN, Alena JANATKOVÁ, Adam S. LABUDA (Hg.), Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs, Berlin 2004 (Humboldt-Schriften zur Kunst- und Bildgeschichte 1), S. 79–101. 428 SCHLOSSER, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich, S. 190. 429 Vgl. u.a. Margaret OLIN, Art History and Ideology: Alois Riegl and Josef Strzygowski, in: Penny Schine GOLD, Benjamin C. SAX (eds.), Cultural Visions. Essays in the History of Culture, Amsterdam–Atlanta, GA 2000, S. 151– 170, und DIES., Alois Riegl. The Late Roman Empire in the Late Habsburg Empire, in: Ritchie ROBERTSON, Edward TIMMS (eds.), The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective, Edinburgh 1994 (Austrian Studies 5), S. 107–120.
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nenkolonialistischer Attitüden gezeigt.430 Diese Auslegungen werden seinem Wissenschaftshandeln nicht voll gerecht: Zwar mochte Riegls Verständnis von Kunst mit einer – dem habsburgischen Vielvölkerstaat affinen – übernationalen Orientierung korrelieren, sein hoch reflexives Wissenschaftshandeln widmete er jedoch dem Zweck, die Kunstgeschichte als empirisch-positivistische Kulturwissenschaft zu begründen, um dadurch ihre Autonomie von der Politik, war Letztere national oder übernational orientiert, zu vergrößern. Ihn daher als reflexiven Positivisten zu charakterisieren, ist zweifelsohne angebracht. 3.7.1.7 Zwischenresümee Durch die definitive Verabschiedung der absoluten, normativen Ästhetikauffassung und der Vorstellung von „Verfallsepochen“ in der Spätrömischen Kunst-Industrie (1901) hatte der heute wieder weltweit geschätzte Alois Riegl seine Disziplin auf neue Wege geführt. Der relative Schönheitsbegriff war Voraussetzung für die Theorie eines historisch-veränderlichen „Kunstwollens“. Mit diesem Zentralbegriff erklärte der Wiener Kunst- und Kulturwissenschaftler den Wandel der Stile neu, die relativierende Zauberformel des „Kunstwollens“ war von Auffassungen des Historismus befruchtet. Aus historistischer Perspektive war es nunmehr unzulässig, zu behaupten, dass eine Zeit etwas nicht konnte, was für eine andere selbstverständlich war:431 War das „Kunstkönnen“ einer Zeit „beschränkt“, so war es nicht Unvermögen, sondern vielmehr ein „Anderes-wollen“ oder „Es-anderswollen“, also ein anderes „Kunstwollen“,432 dem ein Künstler (also ein Subjekt) im Kunstwerk Ausdruck verliehen hatte. Diesen Standpunkt brachte Ludwig Bertalanffy auf die lapidare Formel: „So the categories of artistic creation seem to be dependent on the culture in question.“433 Der Wiener Kunsthistoriker Hans Tietze bezeichnete Riegls Spätrömische Kunstindustrie als eines der „wichtigsten Fundmentalwerke der modernen Kunstwissenschaft“.434 Max Dvořák zufolge dokumentierte das Werk den „Sieg der psychologisch-historischen Auffassung der Geschichte der Kunst über die absolute Ästhetik“.435 Otto Pächt sprach in Bezug auf diese Schrift vom „Toleranzedikt unserer Wissenschaft schlechthin“.436 Durch dieses epochemachende Werk hatte Riegl laut Carl Schorske der „Pluralität der Kunst jenseits jedes einzelnen ästhetischen Maßstabs a priori“ zu ihrem
430 Der britische Kunsthistoriker Matthew Rampley versuchte zuletzt u.a. im Wissenschaftshandeln von Alois Riegl koloniale Attitüden nachzuweisen: DERS., Art History and the Politics of Empire: Rethinking the Vienna School, in: Art Bulletin XCI, 4(2009), S. 446–462. 431 Vgl. Hans BELTING, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 22002, S. 144. 432 PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 292. 433 BERTALANFFY, An Essay on the Relativity of Categories, S. 251. 434 TIETZE, Alois Riegl, S. 145. 435 DVOŘÁK, Alois Riegl, S. 291. 436 PÄCHT, Methodisches zur kunsthistorischen Praxis, S. 292.
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Vorrecht verholfen.437 Oder wie es Willibald Sauerländer formulierte: „Sie [die Kunstgeschichte, J.F.] verbannte sowohl das Wahre wie das Schöne im traditionellen Sinne aus ihrem Gesichtskreis.“438 Der neue Ästhetikbegriff zeugte von einer reflexiv-positivistischen Wissenschaftshaltung, die sich auch im (kultur-)wissenschaftlichen Handeln zeigte. Später sollten sich Georg Simmel, Max Weber, Karl Mannheim (1893–1947), Walter Benjamin, Paul Feyerabend (1924–1994) und andere auf Alois Riegl berufen.439 Diesen intellektuell reflexiven Aufbruch, mit dem Subjektivität und Objektivität neu bewertet und zusammengeführt wurden, hatte in Wien um 1900 eine Anzahl weiterer Wissenschaftler mitvollzogen: Ernst Mach, Hans Kelsen und Sigmund Freud. Bevor diese zentralen Akteure ins Zentrum gerückt werden, soll ein kurzer Blick auf andere Wahlverwandte geworfen werden, durch deren Wirken die reflexivpositivistische Wende in der Wissenschaft markiert wurde: auf Ludwig Wittgenstein (1889–1951), Otto Neurath (1882–1945) und den Wiener Kreis. Während Alois Riegl die Autonomie der Kunstwissenschaft durch das Konzept des „Kunstwollens“ erweitert hatte, veränderten diese Zentralfiguren der österreichischen Wissenschaft den Blick auf jenes Objekt, das im 19. Jahrhundert zum zentralen Vehikel nationalpolitischer Spaltung avanciert war: die Sprache. Der eine begriff Sprache als ein Mittel, das Vielfalt orchestrierte, der andere definierte sie als ein Spiel; von beiden wurde der im 19. Jahrhundert als Symbol der Trennung wirkende Sprachbegriff delegitimiert und Sprache völlig neu – relativierend – gefasst, ohne aber in der Analyse von wissenschaftlicher Objektivierung abzusehen. Die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins zeugt – wie im Anschluss gezeigt werden soll – von verblüffenden Analogien zu jener reflexiv-positivistischen Auffassung, der Alois Riegl Jahrzehnte davor den Weg geebnet hatte. 3.7.2 Ludwig Wittgenstein: Zwischen Einheit und Vielfalt. Ein Anwalt der Relativierung? Das Spätwerk Ludwig Wittgensteins (insbesondere die Philosophischen Untersuchungen440) zeugt von der Wahrnehmung jener „theoretischen Verantwortung“, die Jean-François Lyotard als das Verdienst bedeutender Akteure
437 SCHORSKE, Wien – Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, S. 221f. 438 SAUERLÄNDER, Alois Riegl und die Entstehung der autonomen Kunstgeschichte am Fin de siècle, S. 214. 439 Vgl. Barbara AULINGER, Die Gesellschaft als Kunstwerk. Fiktion und Methode bei Georg Simmel, Wien 1999 (Studien zur Moderne 7), und Jeremy TANNER, Karl Mannheim and Alois Riegl: From Art History to the Sociology of Culture, in: Art History 32, 4(2009), S. 755–784. 440 Ludwig WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen (Original 1953), in: DERS., Werkausgabe. Band 1, Frankfurt am Main 1984 (stw 501), S. 225– 618 (= PU).
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der Wiener Moderne um 1900 beschrieb.441 Wittgenstein nahm seine ‚Untersuchungen‘ nach seiner Rückkehr nach Cambridge im Jahr 1929 in Angriff, um in ihnen wesentliche Grundpositionen seiner Frühphilosophie zu revidieren. Doch gab er sein zentrales Thema – das Verhältnis von „Sprache“ und „Welt“ (respektive von „Elementarsatz“ und „Sachverhalt“ bzw. „Name“ und „Gegenstand“) – nicht auf. Dieses Problem beschäftigte ihn noch bis ans Ende seines Lebens. 1951 verstarb Wittgenstein in Cambridge. 3.7.2.1 Sprachspiele statt Abbilder Im Tractatus logico-philosophicus, der 1929 als Doktorarbeit in Cambridge akzeptierten englischen Übersetzung der acht Jahre zuvor veröffentlichten Logisch-philosophischen Abhandlung,442 hatte Wittgenstein den Standpunkt vertreten, dass Sprache und Welt über eine identische (logische) Struktur verfügten, was er durch Anwendung logischer Analyseverfahren zu beweisen versuchte. Den Satz bestimmte er als das Abbild eines Sachverhaltes: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.“ (LPA 4.01) Sätze, die keinen möglichen Sachverhalt abbilden, seien als nicht sinnvoll zu verwerfen. Denn, was nicht eindeutig gesagt werden könnte, müsste überhaupt unsagbar bleiben, da gewisse Zeichen in der Wirklichkeit über keine Bedeutung verfügten. (LPA 6.53) Diese Auffassung von Sprache revidierte Wittgenstein später, und er verglich die Funktionsweise einer Sprache mit der eines Spiels: „Die Analogie der Sprache zu einem Spiel soll verdeutlichen“, schreibt der Grazer Wittgensteinexperte Volker Munz, dass die Annahme einer und nur einer Sprache, deren Sinn mittels logischer Analyse transparent werden sollte, verfehlt war. Vielmehr wurde die Sprache nun als ein Komplex mehrerer, in unterschiedlicher Weise miteinander verknüpfter Sprachspiele aufgefasst. Der Sinngehalt eines jeden Spielzuges in Form einer sprachlichen oder nichtsprachlichen Äußerung hängt dabei von den bedeutungskonstituierenden grammatischen Bestimmungen dieses Spiels ab.443
In den Philosophischen Untersuchungen (1953, posthum) erteilte Wittgenstein dem Verständnis von Sätzen als vereinheitlichtes System, das die Wirklichkeit sinnvoll abbildete – der so genannten Abbildtheorie der Sprache – eine Absage: „Wir erkennen, daß, was wir ‚Satz‘, ‚Sprache‘, nennen,
441 LYOTARD, Postmodernes Wissen, S. 122. 442 Ludwig WITTGENSTEIN, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus (Original 1921), in: DERS., Werkausgabe. Band 1, Frankfurt am Main 1984 (stw 501), S. 7–85 (= LPA). 443 Volker A. MUNZ, Wesen und Sprache. Auszüge einer variierten Metaphysikkritik, in: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 6, 1(2003), S. 4–9, hier S. 6.
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Abbildung 3: Titelseite Logisch-Philosophische Abhandlung erschienen in der letzten Nummer von Ostwalds ‚Annalen der Naturphilosophie‘ (1921)
nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte, sondern die Familie mehr oder weniger miteinander verwandter Gebilde.“ (PU, Bemerkung 108) Die Annahme der „formellen Einheit“ zwischen Sätzen und Sachverhalten wurde aufgegeben zugunsten des Begriffs der „Familienähnlichkeit“ (PU, Bemerkung 67), der auf die ‚Verwandtschaft‘ der „Sprachspiele“ verwies. Der Familienähnlichkeitsbegriff verdeutlichte Wittgensteins Annahme, dass es kein einzelnes Merkmal gäbe, das allen Spielen gemeinsam wäre, d.h. dass diesen Spielen nicht mehr eine logische Struktur zugrunde läge, sondern dass sie vielmehr durch ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ (PU, Bemerkung 66),444 verbunden wären: „Statt etwas anzugeben“, schrieb Wittgenstein,
444 „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie. (PU, Bemerkung 67)
214 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder diesen Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ‚Sprachen‘. (PU, Bemerkung 65)
Und weiter: Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn Du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! (PU, Bemerkung 66)
Hiermit definierte der späte Wittgenstein das Verhältnis von Welt und Sprache völlig neu: Der Sinn einer Aussage ergab sich für ihn nicht mehr durch eine strukturelle Identität von Sätzen und Sachverhalten, sondern durch die Verortung der Sprache im offenen, bedeutungsstiftenden Regelwerk. Die Sprachspielmetapher verdeutlichte Wittgenstein am Beispiel des Schachspiels: Die Spielfigur („Bauer“) im Schachspiel sei nicht Zeichen von etwas, sie vertrete keinen Gegenstand. Was der Bauer sei, sei allein durch die Regeln des konkreten Spiels bestimmt. Anders gesagt bestimmt nicht das Bezeichnete die Bedeutung der sprachlichen Zeichen, diese ist vielmehr durch „die Gesamtheit der Regeln“, die für ihren Gebrauch gelten, bestimmt.445 Was das Schachspiel aber von der Sprache unterscheide, sei ihre Anwendung, d.h. die Art und Weise, wie Sprache mit anderen Tätigkeiten verknüpft würde. Jede Sprachverwendung sei demnach untrennbar mit Handlungen verbunden: „Das Sprechen der Sprache ist Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU, Bemerkung 23) Sonach sei das Sprachhandeln hochgradig lebensweltabhängig, kontingent. Zur Veranschaulichung verglich Wittgenstein die Sprache mit einer „alten Stadt“: verwinkelt, unregelmäßig und vielteilig; die jüngeren Teile versinnbildlichten die spezialisierten Sprachen (z.B. der Wissenschaften): Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (PU, Bemerkung 18)
445 Vgl. Ludwig WITTGENSTEIN, Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Werkausgabe. Band 3, Frankfurt am Main 1984 (stw 503), S. 150.
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Wittgenstein bezeichnete dieses komplexe System mit dem Ausdruck „Sprachspiel“. Auch ein Satz erlangte nun für Wittgenstein nur im Rahmen von „Sprachspielen“, in seiner Verwobenheit mit Tätigkeiten in einer Lebensform, d.h. in seiner Verwendung, Bedeutung: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (PU, Bemerkung 43), und „außerhalb des Sprachspiels“ habe ein bzw. der Satz als solcher „keinen Sinn“.446 Hier zeigt sich klar die Verwerfung jenes in der Logisch-philosophischen Abhandlung noch vertretenen Referenzprinzips, dem zufolge die Bedeutung eines Namens der Gegenstand war, den er bezeichnete: „Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung“. (LPA 3.203) Dieser relativistische Zug in Wittgensteins Spätphilosophie, auf den u.a. Volker Munz verweist,447 manifestiert sich in der im Plural konzipierten Metapher der „Sprachspiele“, die auf die Mannigfaltigkeit des Sprachgebrauchs und die frei gewählte Setzung der „Grammatik“, d.h. des normativen Systems verwies. Sonach gab es für Wittgenstein „unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.“ (PU, Bemerkung 23) Wittgenstein verstand die Regelsysteme als ‚willkürlich‘ gesetzt, keinesfalls wesenhaft und demnach völlig gleichwertig. Der Gebrauch der Sprache war ihm zufolge also abhängig von der Lebensform des Sprechers. So bemerkte Wittgenstein 1937: „Ich will sagen: es ist charakteristisch für unsere Sprache, daß sie auf dem Grund fester Lebensformen, regelmäßigen Tuns, emporwächst. Ihre Funktion ist vor allem durch die Handlung, deren Begleiterin sie ist, bestimmt. […] Die Grundform des Spiels muß eine sein, in der gehandelt wird.“448 Kurz zusammengefasst zeigt sich, dass sich Wittgenstein in seinem Spätwerk von jener traditionellen Logik verabschiedete, die er in seiner Abhandlung, dem Tractatus, zur Vollendung geführte hatte. Sich von der Sterilität logisch-normativer Letztbegründung abwendend, entwickelte er nach 1929 eine völlig andere Art, das Verhältnis von Sprache und Welt zu beschreiben: An die Stelle der Abbildtheorie samt logischer Analysemethode
446 Ludwig WITTGENSTEIN, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie I (Original 1980), in: DERS., Werkausgabe. Band 7, Frankfurt am Main 1984 (stw 508), S. 5–215, hier S. 99 (§ 488). „Das hängt damit zusammen“, schrieb Wittgenstein weiter, „daß er nicht eine Art Name ist. So daß man sagen könnte: ‚Ich glaube … – das ist so‘ wobei man (in sich etwa) auf das deutet, was dem Satz seine Bedeutung gibt.“ 447 Vgl. Volker MUNZ [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten und Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne, in: CSÁKY, KURY, TRAGATSCHNIG (Hg.), Kultur – Identität – Differenz, S. 13–43, hier S. 32. 448 Ludwig WITTGENSTEIN, Ursache und Wirkung. Intuitives Erfassen (Original 1937), in: DERS., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. und übers. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 1989 (stw 770), S. 101–139, hier S. 115, und MUNZ, Wesen und Sprache, S. 8f.
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trat der relativierende Begriff der „Sprachspiele”. Das „Vorurteil der Kristallreinheit“ der Logik konnte nur durch die Drehung „unserer ganzen Betrachtung“ – durch die Denkfigur der „Sprachspiele“ – beseitigt werden: „Man könnte sagen: Die Betrachtung muß gedreht werden, aber um unser eigentliches Bedürfnis als Angelpunkt.“ (PU, Bemerkung 108) „Sprachspiele“ entwickeln sich sozusagen Hand in Hand mit unterschiedlichen Lebensformen. Sie sind folglich ebenso inkommensurabel wie mannigfaltig. Auf diesen Wittgenstein der „Sprachspiele“ bezog sich Lyotard, als er ihn als Schlüsselfigur einer in Ansätzen postmodernen Wissenschaft des Wiener Fin de Siècle einstufte, die nicht auf die Seite eines politisch verbrämten Positivismus abwich. 3.7.2.2 Methode Wittgensteins Methode ist wohl der signifikanteste Ausdruck für die Hinterfragung moderner wissenschaftlicher Verfahrensweisen: In den Philosophischen Untersuchungen verfuhr er nicht mehr linear argumentativ, sondern er goss seine Gedanken in eine Vielzahl von „Bemerkungen“, die er als angemessene Schreibform erachtete: „Meine Absicht war es von Anfang“, schrieb er im Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, „alles dies einmal in einem Buche zusammenzufassen“; „nach manchen mißglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, […] daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie gegen ihre natürliche Neigung, in einer Richtung weiterzuzwingen.“ Diesen subjektiven Befund objektivierte er allerdings über das Spezifikum der Untersuchungsmethode: Die „Natur der Untersuchung“, schrieb Wittgenstein, „zwingt uns, ein weites Gedankengebiet kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.“ Aufgrund seiner Weite ließe sich das Untersuchungsfeld nicht von einem Standort übersehen, vielmehr seien diverse Wege zu erschließen, um eine Menge von Landschaftsskizzen zu entwerfen, die letztlich auch kein „integrales Bild“, wohl aber eine für viele Perspektiven offene Wahrheit erzeugen konnten. Daher habe er mit philosophischen Bemerkungen Vorlieb nehmen müssen, „die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.“ Und weiter präzisierte er: „Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen.“ (PU, Vorwort, S. 231–233) Dieses mäandernde Vorgehen, die lakonische Sprachverwendung, das ironische Selbstgespräch, Gleichnisse, Bilder und Analogien zeugen davon, dass Wittgenstein das rigide, linear vorwärts schreitende, diskursive Analyseverfahren der modernen Wissenschaft aufgab, im Gegenzug aber „die irreduzible Vielfalt von Sprachspielen“ (und damit auch eine ebenso irreduzible Pluralität mannigfaltiger Denk- und Lebensformen) proklamierte und für sein eigenes Denken – bzw. „Sprachspiel“ – vorbehaltlos akzeptierte.449
449 Wolfgang WELSCH, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 51997 (Original 1987), S. 35, S. 178.
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Mit dieser Methode der skizzenhaften, aber „übersichtlichen Darstellung“ nahm er davon Abstand, Widersprüche und Divergenzen im Sinne moderner Wissenschaft aufzulösen. Lyotard zufolge war es die „Stärke Wittgensteins“, ein Verfahren entwickelt zu haben, das die Wirklichkeit nicht in ein monolithisches System kausaler Zusammenhänge zu zwängen versuchte, sondern das vielmehr der „rauen Nüchternheit“ der Wirklichkeit gerecht wurde.450 Da für ihn das Buch als solches die spezifische Darstellungsform des Wissens als System darstellte, war es also nur konsequent, dass er vor der Veröffentlichung seiner Gedanken in dieser Form zurückwich.451 Selbst die Philosophischen Untersuchungen erschienen erst im Jahr 1953, also posthum. 3.7.2.3 Naturwissenschaften Mit zunehmendem Alter unterzog Wittgenstein die naturwissenschaftliche Methode einer verschärften Kritik: Hatte er zunächst noch die Auffassung vertreten, dass die Naturwissenschaften der Philosophie die einzig richtige Methode zur Verfügung stellten – „Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft.“ (LPA 6.53) –, so nahm er in seinem Spätwerk von diesem Standpunkt radikal Abstand. Schon im Blauen Buch, das Wittgenstein sieben Studierenden in Cambridge in den Jahren 1933/34 diktierte, benannte er die „Voreingenommenheit für die naturwissenschaftliche Methode“ als Hauptquelle für „unser Streben nach Allgemeinheit“.452 Diese Methode erlaubte nämlich, „die Erklärung von Naturerscheinungen auf die kleinstmögliche Anzahl primitiver Naturgesetze zurückzuführen“. (BB, S. 39) Wittgenstein war zur Überzeugung gelangt, dass die unendliche Vielfalt (familien-)ähnlicher, aber nicht identischer Erscheinungen unaufgeklärt bliebe, so lange Philosophen der Versuchung erlagen, philosophische Probleme „nach der Art der Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten.“ (BB, S. 39) „Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.“ (BB, S. 39) Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die wegen ihrer Suche nach kausalen Erklärungen zwangsläufig reduktionistisch verfuhren, war es für Wittgenstein nicht Aufgabe der Philosophie, das Eine auf ein Anderes zurückzuführen und durch dieses „irgendetwas zu erklären“, sondern die unendliche Vielfalt der Phänomene zu beschreiben: „Philosophie ist wirklich ‚rein deskriptiv‘“, formulierte er provokant. (BB, S. 39) Die Zurückweisung der Abbildtheorie zugunsten jener der „Sprachspiele“ spiegelte sich auch in Wittgensteins neuer Methode der Vernetzung von
450 LYOTARD, Postmodernes Wissen, S. 122. 451 Wittgensteins Werke erschienen mit Ausnahme der Logisch Philosophischen Abhandlung (1921) und dem Wörterbuch für Volksschulen (1926) erst nach seinem Ableben. 452 Ludwig WITTGENTEIN, Das Blaue Buch (Original 1958), in: DERS., Werkausgabe. Band 5, Frankfurt am Main 1984 (stw 505), S. 7–116, hier S. 38f. (= BB).
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Bemerkungen auf Zetteln, in Taschennotizbüchern, Manuskripten und Typoskripten durch Rückgriffe, Querverweise und Wiederholungen sowie in der tiefen Skepsis gegenüber kausaler Argumentationsführung wider. Peter Sloterdijk sieht darin den Versuch, „das Patchwork der lokalen Lebensspiele und ihrer Regeln ans Licht zu heben“: Wittgenstein war „nicht mehr ein behauptungsfreudiger System- und Totalitätsphilosoph traditionellen Stils“, im Gegenteil: Sloterdijk zufolge entwickelte er mit der Theorie der „Sprachspiele“ eines „der mächtigsten Argumente des modernen und nachmodernen Pluralismus.“453 Jean François Lyotard hob hervor, dass Wittgenstein eine völlig andere Art der wissenschaftlichen Letztbegründung vorstellbar gemacht hätte. Diese stützte sich nicht mehr auf die „verlorene Erzählung“ der Vergangenheit, die „für den Großteil der Menschen selbst verloren“ war, sondern auf die Vielfalt begrenzter, aber verschiedenartiger menschlicher Sprech-, Handlungs- und Lebensformen. Hier zeigt sich auch die im Kern relativistische Pointe der Philosophischen Untersuchungen. Lyotard zufolge könne seit Wittgensteins Philosophie der „Sprachspiele“ das Prinzip der Legitimierung nur noch in Verbindung mit den Figuren der ‚sprachlichen Praxis‘ und der „kommunikationellen Interaktion“ gedacht werden. Vor allem anderen, so Lyotard, habe diese Art der Legitimierung die Wissenschaft, „die rauhe Nüchternheit des Realismus gelehrt.“454 3.7.2.4 Musik In Wittgensteins späteren Bemerkungen zur Musik, die als eine Art ästhetisches ‚Programm‘ aufgefasst werden können, zeigt sich der relativierende Zug der Sprachspieltheorie noch viel deutlicher: Das „Sprachgebiet“ (VB 1946, S. 528)455 der Musik war für Wittgenstein Ausdruck seiner jeweiligen Zeit. Das musikalische „Thema“ habe einen „Gesichtsausdruck“ und seine Wirkung auf uns hänge „mit dem ganzen Feld unserer Sprachspiele“ (VB 1946, S. 523) zusammen. Das „Thema“, das auf uns Eindruck mache, verweise auf die Umgebung außerhalb: „Und das Thema ist auch wieder ein neuer Teil unserer Sprache, es wird in sie einverleibt. […] Das Thema ist in
453 Peter SLOTERDIJK, Vorbemerkung, in: Thomas H. MACHO, Wittgenstein, München 2001, S. 7–9, hier S. 8. 454 LYOTARD, Postmodernes Wissen, S. 122. 455 Ludwig WITTGENSTEIN, Vermischte Bemerkungen, in: DERS., Werkausgabe. Band 8, Frankfurt am Main 1984 (stw 508), S. 445–573 (= VB). Bei den Vermischten Bemerkungen handelt es sich um eine Auswahl von Aufzeichnungen aus dem ca. 20.000 Seiten umfassenden Manuskript bzw. Typoskriptnachlass Wittgensteins, die der ‚Wittgenstein-Schüler‘ Georg Henrik von Wright (1916–2003) in den Jahren 1965–1966 vorgenommen hat. In der Zitierung wird das Jahr der Niederschrift der jeweiligen Bemerkung durch Wittgenstein hinzugefügt.
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Wechselwirkung mit der Sprache.“ (VB 1946, S. 523) So gewinne das Kunstwerk wie die Sprache durch seine Umgebung Bedeutung.456 Das Verstehen von Musik war Wittgenstein zufolge sonach dem Verstehen eines Satzes in der Sprache „viel verwandter“, als man glaubte. (PU, Bemerkung 527) Am Musikverstehen zeige sich, dass jede Ausdrucksform mit ihrer fließenden Umgebung verbunden sei. Musik gewinne nur in einer Kultur Bedeutung: „Wer in einer bestimmten Kultur erzogen ist“, wird in der „Begriffswelt“ ihrer Musik „zu Hause“ sein und verstehen „was geschah“. (Z 164f., S. 305)457 Auch die „musikalische Phrase“ verstand Wittgenstein wie eine Sprache (Z 172, S. 307). Sie habe – so wie die Worte, der Satz – „nur in dem Fluß der Gedanken und des Lebens […] Bedeutung“. (Z 173, S. 307) Da die „Sprachspiele“ für ihn in Wechselwirkung standen, wirkten sie auch im Verstehen aufeinander. So heißt es: Jemandem „Verständnis für Gedichte oder Malerei bei[zu]bringen, kann zur Erklärung dessen gehören, was Verständnis für Musik sei.“ (VB 1948, S. 550) Wittgenstein zeigte, dass die jeweiligen Schreib-, Mal- und Musizierweisen (als Sprechweisen bzw. Kommunikationsformen) in Verbindung miteinander standen, der Zusammenhang war für ihn ein historisch-dynamischer. Im Jahr 1946 notierte er: „Daß die Musik nach Mozart (besonders natürlich durch Beethoven) ihr Sprachgebiet erweitert hat, ist weder zu preisen, noch zu beklagen; sondern: so hat sie sich gewandelt.“ (VB 1946, S. 528) Im Wiener Palais seines Vaters Karl Wittgenstein (1847–1913) war Ludwig ständig von Musik umgeben aufgewachsen.458 Das Spektrum der musikalischen Vorlieben reichte von Bach bis Brahms. Auch Ludwig Wittgenstein, der die Wiener Klassik bevorzugte, zog mit Brahms den Schlussstrich; neuerer Musik wurde wenig Gehör geschenkt. In jungen Jahren betrachtete er Musik und Sprache als zwei Seiten ein und derselben Medaille, 456 Hier zeigen sich zentrale Analogien zum modernen Identitätsbegriff, den Mach – zur Erinnerung – wie folgt vorformulierte: „Identität mehr durch die Umgebung als durch die psychische Identität“. MACH, Auszüge aus den Notizbüchern 1871–1910, S. 180. 457 Ludwig WITTGENSTEIN, Zettel, in: DERS., Werkausgabe. Band 8, Frankfurt am Main 1984 (stw 508), S. 259–443 (= Z). Die Kategorie Zettel besteht aus einer Sammlung, die Wittgenstein selbst erstellt hat. Bei der Veröffentlichung der Zettelsammlung wurde auf eine chronologische Ordnung verzichtet, die überwiegende Anzahl der Zettel betrifft Bemerkungen, die Wittgenstein in den Jahren 1945–1948 diktierte. Die Zitierung der Zettel erfolgt nach der vorgenommenen Nummerierung und Seitenzahl. 458 Vgl. Hermine WITTGENSTEIN, Familienerinnerungen (niedergeschrieben von 1944–1948), unveröffentlichtes Manuskript, Wittgenstein Archive, Cambridge, S. 78–81. Brian McGUINNESS, Wittgensteins frühe Jahre, Frankfurt am Main 1992 (stw 1014), S. 45–52. Ray MONK, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 22004, S. 24–30. Michael NEDO, Michele RANCHETTI (Hg.), Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt am Main 1983, S. 35–43. Christoph LANDERER, „Die raffinierteste aller Künste“. Wittgenstein und die Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 11–12 (2001), S. 10– 18. Wittgenstein und die Musik. Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder, hg. von Martin Alber, Innsbruck 2000 (Brenner-Studien 17).
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nämlich der Logik; so notierte er im Jahr 1915: „Die musikalischen Themen sind in gewissem Sinne Sätze. Die Kenntnis des Wesens der Logik wird deshalb zur Kenntnis des Wesens der Musik führen.“459 Spätestens Anfang der 1930er-Jahre verabschiedete sich Wittgenstein aber von dieser vom Modell her ‚strukturalistischen‘ Musikauffassung. Hatte seine Frühphilosophie noch die „Klarheit der klassischen Formensprache, ihre innere Logik und Folgerichtigkeit“ gehabt, was „Logik und Musik auf eigentümliche Weise parallelisiert[e]“ und die Moderne am Maßstab der Klassik als wertlos erscheinen ließ,460 so sprach Wittgenstein bald nur noch von ‚Wandel‘. Mit der Abkehr von der Abbildtheorie veränderte sich auch sein Ästhetikbegriff. Während die Logisch-philosophische Abhandlung noch von seiner normativen Ästhetikauffassung zeugte – die Ästhetik hatte sich so wie die Logik und Ethik nicht mit kontingenten Tatsachen, sondern mit dem, was anders nicht sein konnte, beschäftigt –461, so gab er diese absolute und zeitenübergreifende Ästhetikvorstellung später unwiderruflich auf. War die jeweilige Lebensform der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen, so war ein relativistischer Ästhetikbegriff der Endpunkt.462 Hiermit entzog er nicht nur der normativen Ästhetik jede Legitimation [„Hier hat auch der Begriff ‚das Schöne‘ manchen Unfug angestellt.“ (VB 1946, S. 528], auch im Bereich der Ästhetik selbst fand Wittgenstein eine neue Art der Letztbegründung. Da mit den „Sprachspielen“ verflochten, war auch der Ästhetikbegriff einer Zeitepoche – die Art zu malen, zu schreiben und zu musizieren – als ein pragmatischer aufzufassen: als Zeichengebrauchszusammenhang, der eine Begriffswelt – ein ästhetisch autonomes So-Sein – schafft.
459 Ludwig WITTGENSTEIN, Tagebücher 1914–1916 [Eintrag „7.2.15“], in: DERS., Werkausgabe. Band 1, Frankfurt am Main 1984 (stw 501), S. 87–223, hier S. 130. 460 LANDERER, „Die raffinierteste aller Künste“, S. 13. 461 Vgl. Hans-Johann GLOCK, Ästhetik, in: DERS., Wittgenstein Lexikon, Darmstadt 2000, S. 47–51, hier S. 48. 462 Zweifellos stand Wittgenstein mit seiner wertrelativierenden Auffassung in einer Tradition, die in Wien um 1900 entstanden war. Die konkrete Anleihe hierfür fand er aber – Christoph Landerer zufolge – im Werk Spenglers, von dem er Anfang der 1930er-Jahre verstärkt Notiz nahm. Vgl. LANDERER, „Die raffinierteste aller Künste“, S. 16f. Spengler schrieb: „Was besitzen wir heute unter dem Namen ‚Kunst‘? Eine erlogene Musik voll von künstlichem Lärm massenhafter Instrumente, eine erlogene Malerei voller idiotischer, exotischer und Plakateffekte, eine erlogene Architektur, die auf dem Formenschatz vergangener Jahrtausende alle zehn Jahre einen neuen Stil ‚begründet‘, in dessen Zeichen jeder tut, was er will. […] Und trotzdem kommt dies allein, der Geschmack von Weltleuten, als Ausdruck und Zeichen der Zeit in Betracht. Alles übrige, das demgegenüber an den alten Idealen ‚festhält‘, ist eine bloße Angelegenheit von Provinzialen.“ Oswald SPENGLER, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Band 1: Gestalt und Wirklichkeit, Wien–Leipzig 1918, S. 414.
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Abbildung 4: Ludwig Wittgenstein (1889–1951), 1943, ÖNB
3.7.2.5 Ästhetik, Kultur und der Zweck der Relativierung In seiner ersten Vorlesung über Ästhetik (1938) sagte Wittgenstein: „Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur. […] Die Wörter, die wir Ausdrücke von ästhetischen Urteilen nennen, spielen eine sehr komplizierte, aber genau festgelegte Rolle in der Kultur einer Epoche.“463 Was dem Wort seinen Sinn gibt, „ist das Spiel, in dem es auftaucht“, so gibt eine Vorlesungsmitschrift Wittgenstein wieder, „nicht die Form“: „Wenn ich den Hauptfehler der Philosophen der jetzigen Generation […] benennen sollte, würde ich sagen, er besteht darin, daß sie beim Betrachten der Sprache die Form der Wörter betrachten und nicht den Gebrauch, der von der Form der Wörter gemacht wird.“464 „Um [aber] ihren Gebrauch zu beschreiben“, so Wittgen-
463 Ludwig WITTGENSTEIN, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Zusammengestellt und hg. aus Notizen von Yorick Smythies, Rush Rhees und James Taylor von Cyril Barrnett (Original 1938, 1942–1946). Deutsche Übersetzung von Ralf Funke, Düsseldorf–Bonn 1994, S. 19. Zu Wittgensteins späterer Ästhetikauffassung vgl. J. C. NYÍRI, Am Rande Europas. Studien zur Österreichisch-Ungarischen Philosophiegeschichte, Wien–Köln–Graz 1988 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 9), S. 139f. 464 WITTGENSTEIN, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, S. 10.
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stein weiter, oder um zu zeigen, „was mit kultiviertem Geschmack gemeint ist, muß man eine Kultur beschreiben.“ Eine Reihe ästhetischer Regeln vollständig zu erschließen, bedeutete für ihn, „die [gesamte] Kultur einer Epoche zu beschreiben.“465 Und weiter: „Was wir jetzt kultivierten Geschmack nennen, existierte vielleicht im Mittelalter gar nicht. Ein völlig anderes Spiel wird zu verschiedenen Zeiten gespielt.“466 Wittgenstein verdeutlichte: Angenommen, Lewy [Casimir Lewy, ein Studierender, der an der Vorlesung teilnahm, J.F.] hätte das, was man einen kultivierten Geschmack für die Malerei nennt. Das ist etwas völlig anderes als das, was im 15. Jahrhundert kultivierter Geschmack genannt wurde. Ein ganz anders Spiel wurde da gespielt. Für ihn bedeutet er etwas völlig anderes als für einen Menschen damals.467
„Um dir über ästhetische Begriffe klar zu werden“, so lautete sein Grundsatz, „musst Du Lebensweisen beschreiben.“ Und Wittgenstein wurde sich nicht nur der unterschiedlichen Schönheitsvorstellungen zu verschiedenen Zeiten, sondern auch ihrer unterschiedlichen Funktion gewahr: „Das gesamte Spiel ist anders.“468 Da er Werturteile als Teile der „Sprachspiele“ und daher zeit-, kultur- und kontextverhaftet auffasste, waren sie ebenso inkommensurabel wie diese.469 Sie waren nicht für alle Zeiten absolut, sondern als Ausdruck der jeweiligen Lebensformen aufzufassen. Sprachhandlungen (verbaler und nichtverbaler Art) waren sonach ebenso mannigfaltig, unvergleichlich und relativ wie Wertzuschreibungen (Schönheitsideale). In dieser Auffassung zeigen sich verblüffende Ähnlichkeiten zum Begriff des „Kunstwollens“, den der Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl ein halbes Jahrhundert davor eingeführt hatte. Wittgenstein rückte mit den beiden Konzepten „Sprachspiele“ und „Familienähnlichkeiten“ pragmatische Vorstellungen ins Zentrum seiner Sprachphilosophie und Ästhetik, die auch Riegl der Kunstwissenschaft durch den Bruch mit der dogmatisch-normativen Ästhetikauffassung zugunsten einer raumzeitlichen empirischen Ästhetik vermittelt hatte. Dass Sprache aber ein „unvergleichliches Wesen“ (!) besäße, schrieb Wittgenstein, sei ein „Aberglaube“. (PU, Bemerkungen 97 und 110) Wie Satz und Sachverhalt keine identische logische Struktur aufwiesen, die
465 Ebenda, S. 19. So gibt James Taylor in seiner Mitschrift Wittgensteins Standpunkt wider. 466 Ebenda. 467 Ebenda, S. 20. 468 Ebenda, S. 22, S. 18. 469 Was ihn zu einer veränderten Sicht auf die Kunst führte, zeigte er auch an seinem Werk: „Am gefährlichsten aber scheint es zu sein, wenn man seine Arbeit irgendwie in die Stellung bringt, wo sie, zuerst von einem selbst und dann von Andern mit den alten großen Werken verglichen wird. An solchen Vergleich sollte man gar nicht denken. Denn wenn die Umstände heute wirklich so anders sind, als die frühern, daß man sein Werk der Art nach nicht mit den früheren Werken vergleichen kann, dann kann man auch den Wert nicht mit dem eines andern vergleichen.“ (VB 1948, S. 545)
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sich in den Begriffen abbildete und durch logische Analyseverfahren aufzudecken wäre, so ließe sich auch das Wesen der Kunst nicht dechiffrieren und ihr Wert nicht nach einem Maßstab messen. Sind Sprachhandlungen kontextgebunden, so seien es auch Wertvorstellungen, die durch Sprache vermittelt würden: „Nicht, was Einer jetzt tut, sondern das ganze Gewimmel der menschlichen Handlungen, der Hintergrund, worauf wir jede Handlung sehen, bestimmt unser Urteil, unsere Begriffe und unsere Reaktionen.“ (Z 567, S. 407) Die Handelnden bestimmten im jeweiligen sozialen Kontext ständig neu, was welche Bedeutung erhalten sollte. Sprache war sonach nichts Wesenhaftes, das das handelnde Subjekt unbeteiligt ließe, sondern lediglich ein Werkzeug im Akt des Sprachhandelns: „Sieh den Satz als Instrument an, und seinen Sinn als seine Verwendung.“ (PU, Bemerkung 421) Jedoch beließen es Wittgenstein und Riegl nicht dabei, den Wahrheitsgehalt von Aussagen und Werturteilen zu relativieren, sondern sie erarbeiteten auch Begriffssysteme wissenschaftlicher Objektivierung. Trotz solcher intellektueller Interventionen, die mit Konzepten wie den „Sprachspielen“ und dem „Kunstwollen“ verbunden waren, entzogen sich Sprache und Kunst nicht dem Zweck politischer Instrumentalisierung (z.B. der Nationalisierung). Die Wissenschaft gab aber in dieser reflexiven Haltung die politische Affirmation zugunsten der Analyse auf. Kurz gesagt erklärte sie sich mit diesem Schritt für relativ autonom. 3.7.3 Spann versus Neurath. Oder: Absolut-engagierte kontra autonom-engagierte Wissenschaft Das Jahr 1918 stellte nicht nur für Österreich eine wesentliche Zäsur dar: In ganz Europa verschärfte der Zerfall staatlicher, kultureller und damit auch kognitiver Ordnungen Stephen Toulmin zufolge die kollektive Orientierungslosigkeit. Zwar wären die Auflösungsprozesse nirgends deutlicher als in Wien wahrnehmbar gewesen,470 dennoch sei es gerade in der Metropole des verblichenen Vielvölkerstaats gelungen, der Krise neue konstruktive Entwürfe entgegenzuhalten. In den Wissenschaften hätte damals wieder „die Idee einer strengen Rationalität nach dem Vorbild der formalen Logik und einer universellen Methode“ die Oberhand gewonnen. Trifft die Toulminsche These zu, so legt hiervon der Wiener Kreis, der ein Programm vertrat, das „noch formaler, exakter und strenger [war] als das von Descartes und Leibniz“, Zeugnis ab.471 Das Ziel der Vereindeutigung wurde allerdings auch von politisch völlig anders orientierten Wissenschaftlern wie z.B. Othmar Spann verfolgt. Die idealistische „Ganzheitslehre“ dieses ‚Universalisten‘ fand in Österreich viel stärkeren Anklang als der empiristisch-
470 Vgl. Stephen TOULMIN, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1994 (stw 1126), S. 252. 471 Ebenda, S. 255.
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positivistische Ansatz des Wiener Kreises.472 Beide verknüpften mit ihrem wissenschaftlichen Tun explizit auch außerwissenschaftliche Anliegen, die jedoch denkbar unterschiedlich waren: Während der Wiener Kreis mit dem „enzyklopädischen“ Programm der „Unified Science“ die „Zerspaltung der Wissenschaft“473 aufzuheben versuchte, zielte Spann auf eine vereinheitlichende Neuordnung aller Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw.) innerhalb eines klar geordneten Systems. Othmar Spann und der Organisator des Wiener Kreises Otto Neurath waren in jeder Hinsicht Antipoden; am deutlichsten zeigt sich dies wohl in ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung: Neurath und die Mitglieder des Wiener Kreises waren im Wesentlichen sozialdemokratisch oder liberal orientiert,474 Spann hingegen deutschnational und christlich-konservativ.475 Sie teilten allein das grundlegende Anliegen, die sich ‚spaltende‘ bzw. ausdifferenzierende Welt des Sozialen wieder zusammenzuführen, allerdings, wie bereits angedeutet, unter völlig verschiedenen Vorzeichen und mit völlig unterschiedlichem Ziel: Während Spann ein neues holistisches System entwarf, wies Neurath Systementwürfe als solche vehement zurück: „Ich habe mich der Idee des Systems der Wissenschaft widersetzt; sogar als ein ‚Ideal‘. […] Sie ist gefährlich.“476 Neben ihrer politischen Ausrichtung trennte sie ihr Verhältnis zur Demokratie. Im Gegensatz zu Spann, der die individualistische Demokratie bekämpfte, versuchte Neurath mit der Wiederbelebung des „Enzyklopädismus“ demokratisierende Impulse zu geben. Seine Demokratiekritik stützte Spann auf das fadenscheinige Argument der Gefahr ihres Umschlagens in den Totalitarismus. Statt demokratischer Gleichheit sah seine Ganzheitslehre eine „Gesellschaft der Ungleichwertigen“477 vor. Spann war das, was weder Neurath noch ein anderes Mitglied des Wiener
472 Othmar Spann gab zwischen 1922 und 1934 die so genannte Herdflamme heraus, eine „Sammlung der gesellschaftswissenschaftlichen Grundwerke aller Zeiten und Völker“, in der u.a. zentrale Werke des Deutschen Idealismus (so z.B. von Fichte, Schelling und Hegel) neu aufgelegt wurden. 473 Rudolf CARNAP, Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft, in: Erkenntnis 2 (1931), S. 432–465, hier S. 432. 474 Vgl. Heiner RUTTE, Moritz Schlick und Otto Neurath – die intellektuelle Spannweite des Wiener Kreises, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 6.1, S. 335–383, hier S. 337–342. 475 Vgl. J. Hanns PICHLER, Othmar Spann – Sein Werk und Wirken, in: Robert RILL, Ulrich E. ZELLENBERG (Hg.), Konservatismus in Österreich. Strömungen – Ideen – Personen und Vereinigungen von den Anfängen bis heute, Graz 1999, S. 245–253. 476 Otto NEURATH, Brief an Horace M. Kallen, undatiert [„summary of Neurath’s philosophic faith“], veröffentlicht durch Horace M. KALLEN, Postscript – Otto Neurath 1882–1945, in: Philosophy and Phänomenological Research 6, 4(1946), S. 529–533, hier S. 532. Original: „I have opposed the idea of the system of the sciences even as an ‚ideal‘. […] It is dangerous.“ 477 Werner SUPPANZ, Othmar Spann. Soziologie, Zeitdiagnose, Politik, in: Andreas BALOG, Gerald MOZETIC (Hg.), Soziologie in und aus Wien, Frankfurt am Main [u.a.] 2004, S. 105–127, hier S. 116–120.
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Kreises sein wollte: Metaphysiker, Substanzialist und – in den Worten eines seiner Apologeten – ein „letzter großer Systemphilosoph“.478 Spann und Neurath trennten nicht nur ihre jeweiligen politischen und wissenschaftlichen Auffassungen, sondern auch ihre Ansichten und ihr Handeln im Hinblick auf das anzustrebende Verhältnis von Wissenschaft und Politik: Die Autonomie der Wissenschaften, die Otto Neurath über die Stärkung wissenschaftlicher Selbstreflexion vehement verteidigte, setzte Spann durch seinen Antiempirismus gerne aufs Spiel. Als Anwalt der Bewegung nationaler Selbstvergewisserung auf christlich-deutscher und ständischer Grundlage überschritt er bedenkenlos das Gebot der wissenschaftsinternen Legitimierung und ersetzte dieses durch politische Anerkennung. Während Spann mit seiner „Ganzheitslehre“ dem Totalitarismus ein Argument lieferte, vertiefte sich Neurath in eine Theorie der Handlung, die der pluralistischen Demokratie zum Vorrecht verhelfen sollte. Dieses Ziel vor Augen war es vor allem die Sprache als Konzept, der Neurath – Zentralfigur des „Logischen Empirismus“479 – seine Aufmerksamkeit zuwandte. Sie war im Zuge der (zentral-)europäischen Nationalisierungsbewegungen vom Symbol politischer Emanzipation zu einem Mittel ‚ethnischer‘ Abgrenzung geworden. Ähnlich wie der späte Wittgenstein versuchte Neurath den Begriff der Sprache wieder als konfliktminderndes, überbrückendes und zur Aushandlung von Differenzen nutzbares Medium zu rehabilitieren. Die Vorstellung eines regulativen Systems, das Unterschiede in Homogenität auflöste, war seine Sache nicht. Sein handlungsorientiertes Denken griff stattdessen ein Modell auf, das Widersprüche zuließ, ohne dabei das Einheitsideal zu verraten, nämlich das Konzept der „Enzyklopädie“. Otto Neurath näherte sich hiermit, wie noch genauer auszuführen sein wird, genau jener Auffassung, die Pierre Bourdieu – wie in der Einleitung erwähnt – als „scholarship with commitment“480 bezeichnen sollte. 3.7.3.1 Othmar Spann Othmar Spann (1878–1950) wurde im Jahr 1919 auf den Wiener Lehrstuhl für Politische Ökonomie und Gesellschaftslehre berufen. Mit dieser Professur, die er bis 1938 innehatte, verfolgte er das Ziel, den angeblich verengten Horizont des individualistischen Empirismus durch eine nichtempiristische, „universalistische“ Wissenschaftslehre zu erweitern. Dieser „ganzheitliche Systemansatz“, der in jüngeren historischen Arbeiten neu bewertet wurde,481 478 Veit PITTIONI, Othmar Spanns Ganzheitslehre in neuer Interpretation, in: Conceptus. Zeitschrift für Philosophie 18, 43(1984), S. 3–32, hier S. 4. 479 Neurath sprach daneben auch von „Empirischem Rationalismus“. Beides waren Begriffe, die er dem Terminus „Logischer Positivismus“ vorzog. 480 BOURDIEU, Forschen und Handeln, S. 100. 481 Vgl. den konzisen Überblick durch SUPPANZ, Othmar Spann. Soziologie, Zeitdiagnose, Politik, S. 105–127. DERS., Die Gesellschaft als Körper. Organizistisches Denken in der Staats- und Gesellschaftstheorie Othmar Spanns, in: Barbara BOISITS, Sonja RINOFNER-KREIDL (Hg.), Einheit und Vielheit. Organologische Denkmodelle in der Moderne, Wien 2000 (Studien
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kennzeichnete Spanns Hauptwerk, die Gesellschaftslehre (1914),482 er manifestierte sich aber auch in seinen umfangreichen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften. Das ganzheitliche Verfahren, das er in der Kategorienlehre (1924) methodisch-theoretisch fundiert hatte, wandte er an, um nicht dem „Grundirrtum der individualistischen Sozialphilosophie“ aufzusitzen: Denn die „erste und vornehmste Kategorie des Seins“ bildeten seiner Ansicht nach die „Ganzheiten“ in den sozialen Gruppen.483 Sonach begriff er Gesellschaft, Staat, Nation, Kirche, Volksgemeinschaft und andere soziale Entitäten als reale, dem Individuum vorgängige und übergeordnete, substanziell beschaffene Wesenheiten. Mit dem Begriff des „Universalismus“ bezeichnete er seine „Auffassung der Gesellschaft als Einheit oder Ganzheit“.484 Walter Heinrich (1902–1984), Spanns namhaftester Schüler, erklärte die normative Verwendung des Universalismusbegriffs später folgendermaßen: Da „Universalismus für ihn die Wahrheit in sich schloß, mussten eben das individualistische Verfahren und all seine Ableitungen Irrtum sein.“ In Spanns Schaffen habe die Korrektur dieses ‚Irrtums‘ eine „Schlüsselstellung“ eingenommen.485 Dabei habe er den Individualismus „rein analytisch“ verworfen, weshalb er die Vorwürfe, dass sein Universalismus ein „ethisch-politisches System“ sei, wiederholt zurückwies. Aber sogar Walter Heinrich sollte Spanns politischen Aktivismus in „beratender und vor allem lehrender Funktion“ bestätigen.486 Dabei sei es Spann in politischer Hinsicht zum einen um die Verteidigung des deutschen Volkstums gegangen,487 zum anderen um einen „Abbruch und Neubau der Gesellschaft“488 auf ständisch-
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zur Moderne 11), S. 225–254, und Martin SCHNELLER, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservativismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1970 (Kieler Historische Studien 12). Othmar SPANN, Kurzgefaßtes System der Gesellschaftslehre, Leipzig 1914. Ab der zweiten Auflage erschienen als DERS., Gesellschaftslehre, Leipzig 2 1923–4Graz 1969. PRIBRAM, Geschichte des ökonomischen Denkens. Band 1, S. 464. Othmar SPANN, Universalismus, in: DERS., Kleine Schriften zur Wirtschaftsund Gesellschaftslehre, hg. von Norbert Hentschel und Erwin Sulek, Graz 1975, S. 125–149, hier S. 127. Walter HEINRICH, Othmar Spann. Gestalt, Werk und Wirkungen, in: Othmar Spann. Leben und Werk. Ein Gedenkband aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburtstages, hg. von Walter Heinrich, Graz 1979 (Gesamtausgabe 21), S. 17– 78, hier S. 39, S. 24. Ebenda, S. 43. Die Ganzheitslehre habe in drei Bereichen Wirkung erzielt: in der Österreichischen Heimwehrbewegung, im Düsseldorfer Institut für Ständewesen und im Sudetendeutschtum. Vgl. Othmar SPANN, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch? Vortrag, Eger 1920 (Böhmerland-Flugschrift für Volk und Heimat 24). Die vierte Auflage erschien als Band 8 der Gesamtausgabe, Graz 1975, S. 3–46. Othmar SPANN, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft gehalten im Sommersemester 1920 an der Universität Wien, Leipzig 1921. Die fünfte Auflage erschien als Band 5 der Gesamtausgabe, Graz 1972.
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hierarchischer Grundlage, den er schon im Jahr 1920 einer „politisch hoch erregten“ Wiener Zuhörerschaft verkündet hatte.489 Spann sah sein ideales Sozialmodell in der „organischen“ Ordnung verkörpert, die allein „dem Wesen der universalistischen Gesellschaftsauffassung“ entsprach. In ihr war „das Erste (Primäre), die ursprüngliche Wirklichkeit, von der sich alles ableitete, nicht der Einzelne“, sondern die „Ganzheit“, nämlich „die Gesellschaft.“ Der Einzelne existierte aus der „universalistischen“ Sicht Spanns nicht „auf dem Boden seiner Ichheit“, er war vielmehr als das vom Ganzen „Abgeleitete“ aufzufassen490 und als solches Teil einer durch organischen Aufbau gekennzeichneten Ordnung. In diesem System stellten die Einzelnen eine Ansammlung Ungleichwertiger – abgestuft Ungleiche – dar. Was die Kategorien ‚Volk‘, ‚Nation‘ und „wahrer Staat“ betraf, waren Ordnungen dieser Art für Spann der „vollkommenste politische Ausdruck der universalistischen Gesellschaftsverfassung“.491 Eine solche Ordnung sah er in der Ständestaatsvorstellung verwirklicht, obwohl die österreichische Variante ständischer Verfasstheit für ihn von seiner Idealvorstellung abwich. Zunächst hatten Mussolini und Hitler für Spanns Universalismus noch Interesse gezeigt. Da Spann aber von der christlichen Fundierung seines Staatsideals nicht abrückte, wurde er für die Nationalsozialisten bald verdächtig. So darf es als eine Ironie des Schicksals gewertet werden, dass Spann zum ‚Opfer‘ eines Systems wurde, dem er zumindest nicht ablehnend gegenüberstand. Als Otto Neurath vom Hilfskomitee für verfolgte Akademiker in London ersucht wurde, Spann politisch einzuschätzen, antwortete er am 18. November 1944: „In any case he is a Nazi and persecution would be only the result of some deviation and not of antiNazism“.492 3.7.3.2 Der Wiener Kreis Der Wiener Kreis, über den inzwischen umfangreiche Monografien vorliegen,493 widmete sich der „wissenschaftlichen Weltauffassung“ mit dem Ziel
489 HEINRICH, Othmar Spann. Gestalt, Werk und Wirkungen, S. 39. Othmar SPANN, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, eingerichtet von Rudolf Reim. Mit einem Nachwort von Ferdinand A[lois] Westphalen, Graz 51972 (Gesamtausgabe 5), S. 5f. 490 Othmar SPANN, Gesellschaftslehre, Leipzig 31930, S. 100f. 491 SPANN, Der wahre Staat, S. 207. 492 Am 30.11.1944 ergänzte Neurath seine Bewertung Spanns für die Society for the Protection of Science and Learning: „An eyewitness just told me, that before Hitler came Spann appeared in a meeting of the Vaterländische Front (Catholic Fascism called by many people) and shook hands with some prominent people. Perhaps such wavering lead to his persecution by the Nazis, […]. That does not alter his speeches and books, which promoted National Totalitarianism pure and simple.“ Vgl. Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Fasc. 355/5. FEICHTINGER, Wissenschaft zwischen den Kulturen, S. 197. 493 STADLER, Studien zum Wiener Kreis, 1997. Viktor KRAFT, Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus. Ein Kapitel der jüngsten Philoso-
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der Überwindung des Obskurantismus der metaphysischen Schulphilosophie.494 Von der „metaphysikfreien Einstellung“495 der „Wiener Schule des Logischen Empirismus“ (eine Bezeichnung, die allerdings die divergierenden Standpunkte seiner Mitglieder mehr verschleiert als erhellt)496 zeugen die Vorbilder, auf die man sich berief: Frege, Russell und Whitehead im Hinblick auf die Logik, Hume und Mach bezüglich des Empirismus;497 zugleich wirkte auf manche seiner Vertreter Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus).498 Der radikale Aufbruch zur wissenschaftlichen Weltauffassung sollte durch die disziplinenübergreifende Zusammenführung und Vereinheitlichung der einzelnen Wissenschaftssprachen vollzogen werden. Machs Vorschlag einer „einzigen wissenschaftlichen Sprache“ bildete auch das zentrale Interesse, das Otto Neurath (1882–1945), die Schlüsselfigur des Wiener Kreises, verfolgte.499 Philipp Frank (1884–1966), Physiker und Machianer, schrieb: „Wir wussten sehr gut, dass der Mensch sich nach einer Philosophie der Vereinheitlichung sehnt. Sollte sich die neue Philosophie weigern, der Sache der Vereinheitlichung zu dienen, würden viele Menschen, sogar Wissenschaftler, lieber zur metaphysischen Tradition zurückkehren als sich auf eine rein analytische Einstellung beschränken zu lassen.“500 Mit der „Eliminierung der Metaphysik“, so erinnerte sich Frank im Jahr 1949, sollte daher denjenigen Gruppen, „die wir heute totalitär nennen“, die philosophische, wissenschaftliche und ideologische Grundlage entzogen werden.501 Demo-
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phiegeschichte, Wien 31997 (Original 1950). Rudolf HALLER, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, Darmstadt 1993. Vgl. Friedrich STADLER, Zur Politischen Relevanz und zum kulturellen Kontext des Logischen Empirismus, in: Michael HEIDELBERGER, Friedrich STADLER (Hg.), Wissenschaftsphilosophie und Politik. Philosophy of Science and Politics, Wien–New York 2003 (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 11), S. 9–24. Otto NEURATH [Rezension], R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt (Original 1928), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 1, S. 295–297, hier S. 296. Zu den divergierenden philosophischen und politischen Standpunkten innerhalb des „Logischen Empirismus“ in Wien vgl. RUTTE, Moritz Schlick und Otto Neurath – die intellektuelle Spannweite des Wiener Kreises, S. 335–383. Vgl. Herbert FEIGL, The Origin and Spirit of Logical Positivism, in: Peter ACHINSTEIN, Stephen F. BARKER (eds.), The Legacy of Logical Positivism. Studies in the Philosophie of Science, Baltimore 1969, S. 2–24, hier S. 3. Vgl. CARNAP, HAHN, NEURATH, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, S. 305, und Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis, hg. von B. F. McGuinness, 1984 (Ludwig Wittgenstein 3). NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1000. Philipp FRANK, Der historische Hintergrund, in: FISCHER (Hg.), Österreichische Philosophie von Brentano bis Wittgenstein, S. 245–296, hier S. 279f. [Original: DERS., Introduction. Historical Background. Modern science and its philosophy, New York 1955]. Ebenda, S. 277ff.
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kratisierung bzw. der Erhalt der bestehenden Demokratien war und blieb das vorrangige außerwissenschaftliche Anliegen des Wiener Kreises. Abbildung 5: Titelseite der von Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath herausgegebenen Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929)
Die „wissenschaftliche Weltauffassung“ zeigte sich in der Verknüpfung sämtlicher wissenschaftlicher Aussagen „über beobachtbare Tatbestände“, die „einen einheitlichen Bereich“ bildeten. Sie manifestierte sich in der von Otto Neurath und Rudolf Carnap (1891–1970) vehement verfochtenen Idee der „Einheitswissenschaft“.502 Die anvisierte interdisziplinäre „Kollektivarbeit“ setzte „die Hervorhebung des intersubjektiv Erfaßbaren“503 voraus. Mit der Intersubjektivität wurde auch das Sinnkriterium verknüpft. Allein intersubjektiv verifizierbare Sätze waren sonach sinnvolle Sätze, während Sätze, die sich der inneren, subjektiven Wahrnehmung verdankten und/oder sich
502 Otto NEURATH, Einheitswissenschaft (Original 1936), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 761–763. 503 CARNAP, HAHN, NEURATH, Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, S. 305.
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nicht intersubjektiv bewährten, als sinnlose Sätze eingestuft wurden. Ziel der wissenschaftlichen Arbeit war nicht das Aufstellen neuer ‚philosophischer‘ Aussagen, sondern – wie der Titel eines Essays von Carnap bezeugt – die „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“.504 Die Arbeit an der Sprache war das Mittel, „um die Einheitswissenschaft als wirksames Gebilde zu schaffen.“ Denn, so formulierte Neurath 1933: „Wissenschaftliche Termini verbinden“, während „metaphysische Termini trennen“.505 Abbildung 6: Der erste Band der Reihe ‚International Encyclopedia of Unified Science‘ [1938–1951(1970)] mit dem Titel Encyclopedia and Unified Science (1938)
Was die Sprache als Vereinheitlichungsmedium betraf, so vertraute Neurath als Vertreter des „metaphysikfreien Monismus“ auf den „Physikalismus“.506
504 Rudolf CARNAP, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Erkenntnis 2 (1931), S. 219–241. 505 Otto NEURATH, Einheitswissenschaft und Psychologie (Original 1933), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 587–610, hier S. 610. 506 Ebenda, S. 589.
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Darunter verstand er eine neutrale intersubjektive Sprache, in der sich sämtliche metaphysikfreien wissenschaftlichen Aussagen ausdrücken ließen oder in die sie übersetzt werden könnten. Die physikalistische Sprache, die das Vokabular für „ein geschlossenes, einheitliches Aussagensystem“ liefern sollte, erachtete Neurath für am besten geeignet, die „Aufgabe der Einheitswissenschaft auf materialistischer Basis“ zu erfüllen, da sich mit ihr verständliche, intersubjektiv überprüfbare und „kontrollierbare Voraussagen über räumlich-zeitliche Vorgänge“ treffen ließen.507 Durch die vereinheitlichte wissenschaftliche Sprachverwendung sollten nach dem Vorbild der Leibnizschen „scientia universalis“ alle legitimen Tatsachenaussagen in einer „Einheitswissenschaft“ verknüpfbar werden. Was sich Neurath unter der „physikalistischen Sprache“ konkret vorstellte, ist nicht ganz eindeutig: Einmal verstand er darunter logisch-mathematische Zeichen, ein andermal die „Alltagssprache“ – vermindert um metaphysische Begriffe. Trotz aller offenen Fragen blieb für ihn der „physikalistische“ Ansatz die Basis und das „Hauptelement der ‚Einheit‘“.508 3.7.3.3 Otto Neurath: Antiabsolutismus, Antisubstanzialismus und Relativismus Zweifelsohne zeichneten sich im Wiener Kreis Tendenzen der Mathematisierung, Logifizierung und Axiomatisierung ab. Sonach ist Stephen Toulmins Argument bemerkenswert, dass die „Hauptbeschäftigung des Wiener Kreises“ darin bestanden habe, die verlorene „,Exaktheit‘ wiederherzustellen und auf der Basis mathematischer Logik eine ‚Einheitswissenschaft aufzubauen“, obwohl auch er darauf hinweist, dass dieser Zirkel von „praktischen Absichten auf dem Gebiet der sozialen und politischen Reform durchsetzt“ gewesen sei.509 Inwieweit manche Kreismitglieder – insbesondere der so genannte „Left Vienna Circle“510 – eine politische Wissenschaftsphilosophie im Zeichen des logischen Empirismus entwickelten oder aber vom neutralen Standpunkt im Wissenschaftsfeld sozialpolitisch engagiert und progressiv agierten, wird zuletzt von Vertretern der Philosophy of Science heftig debattiert.511 Sicher scheint, dass Neurath und Carnap die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes nicht verletzten, – Wissenschaft also nicht mit Politik verwechselten – mit ihren Anstrengungen zur Überwindung metaphysischer Wissenschaftsauffassungen zugleich aber „praktische“, d.h. soziale und politische Ziele verknüpften. Sie manifestierten sich vor allem in Verteidigung und Ausbau der Demokratie auf dem Wege einer 507 508 509 510
NEURATH, Empirische Soziologie, S. 525. NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1000. TOULMIN, Kosmopolis, S. 248. Thomas E. UEBEL, Political philosophy of science in logical empiricism: The left Vienna Circle, in: Studies in History and Philosophy of Science 36 (2005), S. 754–773. 511 Vgl. Sarah S. RICHARDSON, The left Vienna Circle, Part 1. Carnap, Neurath, and the left Vienna Circle thesis, in: Studies in History and Philosophy of Science 40 (2009), S. 14–24.
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„Demokratisierung des Wissens“.512 Darin bestand Otto Neuraths ‚praktisches‘ Projekt, das er als Wissenschaftler umsetzte. In Anbetracht solch ‚autonom-engagierten‘ Wissenschaftshandelns ist es offensichtlich, dass Stephen Toulmin manche seiner Thesen insoweit überzeichnet, als sie das Agieren des Wiener Kreises nur unzureichend beschreiben. Davon zeugt zum einen seine Ansicht, dass der Wiener Kreis mit dem ‚Zerfall‘ kognitiver Ordnungen zum älteren ‚Systemmonopolismus‘ einer „einzigen, allgemeingültigen ,Methode‘, vorzugsweise der der Physik“, zurückgekehrt wäre; zum anderen der Standpunkt, dass manche seiner Vertreter für die systematische Logifizierung der Wissenschaft plädiert und die „Aristotelische Mahnung, die Methoden den Problemen anzupassen“, für irrelevant erachtet hätten;513 und schließlich der in seiner Schrift anklingende Absolutismusvorwurf. Tatsächlich wiesen die Wiener ‚Wissenschaftsphilosophen‘ jedweden methodischen ‚Absolutismus‘ scharf zurück; manche logischen Empiristen, wie z.B. Philipp Frank (ein Anhänger Machs) und Otto Neurath, setzten sich vielmehr explizit für einen epistemologischen Relativismus ein, ohne allerdings – und hier dürfte das Missverständnis zu suchen sein – das Objektivitätsideal und die Suche nach ausreichend ‚exakten‘ Methoden aufzugeben.514 Friedrich Stadler beschrieb die diesbezügliche Haltung des Wiener Kreises treffend: „The opposite concept of relativism in the philosophy of science is not objectivity. The opposite of relativity and relativism is absolutism: […] Epistemological Absolutism.“515 Diesen erkenntnistheoretischen Standpunkt vertraten die logischen Empiristen aber keinesfalls. So war z.B. Otto Neurath, der hier als das Aushängeschild dieser Bewegung vorgestellt wird, ein Relativist und Pluralist sowie seiner politischen Überzeugung nach ein Demokrat. Als Anwalt der integrativen „Einheitswissenschaft“ wies er jeden „pseudorationalistischen“ Systembildungsversuch, der einem apriorischen Absolutheitsdenken vertraute und das sinnlich Wahrnehmbare verachtete, als Vorschule des Totalitarismus zurück. Im Hinblick darauf war er strikter Anhänger Ernst Machs, der die Substanzenlehre als Metaphysik verworfen und in seinen Antimetaphysischen Vorbemerkungen die Sinnesdaten als letzte Elemente wissenschaftlicher Bewährung bestimmt hatte. Als Machianer widersetzte sich Neurath jener „weltab-
512 Günther SANDNER, Demokratisierung des Wissens. Otto Neuraths politisches Projekt, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 2 (2009), S. 231–248. 513 TOULMIN, Kosmopolis, S. 248. 514 Vgl. Herbert FEIGL, Some Major Issues and Developments in the Philosophy of Science of Logical Empiricism, in: DERS., Michael SCRIVEN (eds.), Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Volume 1, Minneapolis 1956, S. 3–37, hier S. 4. 515 Friedrich STADLER, Ilkka A. KIESEPPÄ, Science – A House built on Sand? A Conversation with Noretta Koertge in Minneapolis on November 21st, 1998, in: Daniel GREENBERGER, Wolfgang L. REITER, Anton ZEILINGER (eds.), Epistemological and Experimental Perspectives on Quantum Physics, Dordrecht–Boston–London 1999, S. 279–301, hier S. 288.
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gewandten Philosophie“, die außerhalb der „Sinnenwelt“ „wahre Wesenheiten“ und ein „wahres Sein, hinter der durch die Sinne vorgetäuschten Welt des Scheins“ zu entdecken meinte.516 Mit der Kritik dieser ‚metaphysischen‘ Illusionen erteilte er nicht nur der Suche nach einer wesenhaften, aber verborgenen Seinswelt, sondern auch der Gottesvorstellung und – mit ihr – der Annahme eines absoluten Raums eine Absage: „Der absolute Raum ist gewissermaßen das Produkt eines ‚Sensoriums Gottes‘ (Newton)“.517 War der absolute Raumbegriff aufgegeben, so verlor Neurath zufolge auch die Vorstellung von einer absoluten Bewegung jeden Sinn: Körper könnten sich nur in Bezug auf andere Körper, nicht aber in Bezug auf den Raum bewegen. In ähnlicher Weise verwarf der Empiriker Neurath auch andere, der empirischen Wahrnehmung widerstreitende Substanzbegriffe: die „Seele“, den „Zeit- und Volksgeist“ sowie die Vorstellung der Welt als „abgeschlossenes Ganzes“.518 In seinem scharfen Antisubstanzialismus ließ Neurath auch so manchen seiner Weggefährten, wie z.B. die Integrationsfigur der Wiener Wissenschaftsphilosophie Moritz Schlick (1882–1945), nicht verschont: Schlicks Suche nach „absoluter Gewissheit“519 erschien Neurath ebenso verdächtig wie Wittgensteins „mystizistische Metaphysik“,520 von der seiner Ansicht nach die Schlusssätze der Logisch-Philosophischen Abhandlung zeugten.521 Weitere Steine des Anstoßes waren Wittgensteins Substanzenlehre (LPA 2.021) und Abbildtheorie (LPA 4.021). (Wittgenstein hatte diese Thesen
516 Hans HAHN, Überflüssige Wesenheiten. Occams Rasiermesser. Ein Vortrag gehalten im Verein Ernst Mach, Wien 1930 (Veröffentlichungen des Vereines Ernst Mach), S. 3. Der Mathematiker Hans Hahn (1879–1934) war Neuraths Schwager und auch dessen ‚Sprachrohr‘. 517 Otto NEURATH, Physikalismus. Die Philosophie des Wiener Kreises (Original 1931), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 1, S. 413–416, hier S. 415. 518 Otto NEURATH, Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung (Original 1929), in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 1, S. 371–385, hier S. 372. Vgl. DERS., Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1000, und DERS., Physikalismus. Die Philosophie des Wiener Kreises, S. 415. 519 Otto NEURATH, Radikaler Physikalismus und ‚Wirkliche Welt‘ (Original 1934) in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 611–623, hier S. 614–616. 520 NEURATH, Einheitswissenschaft und Psychologie, S. 588. 521 Otto NEURATH, Soziologie im Physikalismus (Original 1931) in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 533–562, hier S. 535. Vgl. die Anmerkungen Toulmins zur Geschichte der Auslegung des Tractatus, in der die ethische Dimension des Wittgensteinschen Frühwerks ausgeblendet worden sei. Aus dieser Perspektive wurden die Schlussbemerkungen des Tractatus als „merkwürdige Andeutungen über Werte“ bemängelt. (JANIK, TOULMIN, Wittgensteins Wien, S. 23–25) Janik und Toulmin unternahmen den Versuch, die überzogene Trennung, die durch „die spätere akademische Chirurgie“ zwischen soziokulturell disponiertem Autor und seinem Werk institutionalisiert worden sei, zu überwinden. (Ebenda, S. 26)
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inzwischen allerdings schon aufgegeben.) Neuraths Metaphysikvorwurf traf sogar seinen Mitstreiter Carnap, dessen übergreifender Systematisierungsversuch eines logischen Weltaufbaus ihm suspekt erschien.522 Da Carnap aus physikalisch-naturwissenschaftlicher Perspektive an einer „idealen Sprache“ arbeitete und zu zeigen versuchte, wie man bei „vollkommener Einsicht“ verfahren müsse, verdächtigte ihn Neurath des Apriorismus, Idealismus und Pseudorationalismus: „Wie aber überwindet man die Vieldeutigkeit, die schon durch die Auswahl allein eintritt […]?“523 Der Versuch einer „vollkommenen Einsicht“ in den Weltaufbau war aus der Sicht Neuraths nichts anderes als die Wiederbelebung eines ‚metaphysischen‘ Idealismus, und das idealsprachliche System Carnaps eine Abweichung von der „weltzugewandten Philosophie“: „Man mag all diese Programme so systematisch wie nur möglich erfüllen und den logischen Aufbau möglichst sorgfältig durchzuführen trachten“, kritisierte Neurath im Jahr 1935 in der Zeitschrift Erkenntnis, „wir gelangen nicht zu ,einem‘ System der Wissenschaft, das gewissermaßen an die Stelle der ,wirklichen Welt‘ treten könnte, alles bleibt mehrdeutig und in vielem unbestimmt. ,Das‘ System ist die große wissenschaftliche Lüge.“524 Das Modell eines in sich widerspruchsfreien ‚Systems‘ und eine Programmatik wissenschaftlicher ‚Ordnung‘ waren Neurath nicht geheuer: Wissenschaft beruhte für ihn auf „lokalen Systematisierungen“, auf „Vielfältigkeit“ und „Unbestimmtheit“. Zeigte die Analyse der Wissenschaftssprache „lokalisierte“ Widersprüche, so waren diese als solche aufzuklären. Auf dem Weg zur „Einheitswissenschaft“, einer Art sprachlichen Barrierefreiheit zwischen den Disziplinen, wären Sätze nicht infolge von Widersprüchlichkeit, sondern allein wegen ihrer Sinnlosigkeit in der Wissenschaftssprache zu verwerfen. Otto Neurath zog die „Enzyklopädie als Modell“ dem „System als Modell“ vor.525 Die Idee einer Enzyklopädie des modernen Empirismus widersetzte sich der Vorstellung einer allgemeinen Methode ebenso wie der universalistischen, ‚vollständigen‘ Theorie.526 Neurath versprach sich vom Enzyklopädismus einen Angriff auf jede intellektuelle
522 Zur kulturellen Verortung und Verwendung des Begriffs ‚Aufbau‘ in Politik, Wissenschaft und Architektur in den Zwischenkriegsjahren und danach vgl. Peter GALISON: Constructing modernism: The cultural location of Aufbau, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science 16 (1996), S. 17–44 [Themenband: Origins of Logical Empiricism]. 523 NEURATH [Rezension], R. Carnap. Der logische Aufbau der Welt, S. 296. 524 Otto NEURATH, Einheit der Wissenschaft als Aufgabe. Vortrag, gehalten bei der Vorkonferenz des Ersten Internationalen Kongresses für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31. August bis 2. September 1934, in: DERS., Gesammelte philosophische und methodologische Schriften. Band 2, S. 625–629, hier S. 626. 525 NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 999–1001. 526 Haller stufte den Enzyklopädismus als den „äußersten Schritt in der impliziten Kritik am Carnapschen Systematisierungsversuch“ ein. Vgl. HALLER, Neopositivismus, S. 178, und im Besonderen das Kapitel „Otto Neurath“, S. 150–178.
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Autorität, die vorgab, „die Wahrheit zu predigen“. Daher stand für ihn außer Zweifel, dass der Enzyklopädismus keinem Missbrauchsversuch zur Schaffung einer ‚absoluten‘ Autorität widerstandslos erliegen könne: „Ich denke“, schrieb Neurath, „der skeptische Pluralismus unseres Empirismus stellt an sich kaum ein brauchbares Werkzeug für Unterdrücker dar.“527 Andere mögen andere Programme bevorzugen. Aber niemand kann den logischen Empirismus zur Begründung eines totalitären Arguments benutzen. Er bietet nicht ein einziges Schlupfloch für Dogmatismus. Pluralismus ist das Rückgrat meines Denkens. Metaphysische Haltungen führen oft zum Totalitarismus, aber ich kenne keinen einzigen logischen Empiristen, der als solcher zu einer totalitären Auffassung gelangt ist.528
So wie andere seiner Zeitgenossen verteidigte Neurath die von totalitären Vorstellungen belagerte Demokratie durch eine Art „scholarship with commitment“ (Pierre Bourdieu), das in einer spezifischen, provokantantithetischen Theorie der Sprachvereinheitlichung bestand: „Wenn Priester und Herrscher ihre eigene Sprache haben“, schrieb Neurath, „dann werden sie von den beherrschten Massen abgetrennt, und gerade die Vereinheitlichung der Sprache stellt einen Schritt in Richtung einiger demokratischer Möglichkeiten dar.“529 Damit die ‚Massen‘ „etwas mehr vom gegenwärtigen Wissen der Menschheit begreifen“ könnten, entwickelte Neurath u.a. Techniken der visuellen Information,530 so genannte „Isotype“: Sie seien geeignet, die „demokratische Zusammenarbeit“ „zwischen dem Mann von der Straße und dem wissenschaftlichen Experten“ zu verbessern.531 Die verbindende Sprache war für ihn Voraussetzung jener demokratischen (sozialen und politischen) ‚Einheit‘, für die er auf seine Weise kämpfte. Das nivellierende „System als Modell“ war kein Mittel, um die „Demokratie der Kooperation“532 zu erreichen. In einem seiner letzten Briefe schrieb er: „Ich lege Nachdruck auf Planungen für die Freiheit“: „Darunter verstehe ich die Orchestrierung der Vielfalt.“533
527 NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1005. 528 NEURATH, Brief an Horace M. Kallen, undatiert [„summary of Neurath’s philosophic faith“], S. 533. Original: „Others may prefer other programs. But none can use Logical Empiricism to ground a totalitarian argument. It conceals not a loophole for dogmatism. Pluralism is the backbone of my thought. Metaphysical attitudes lead very often to totalitarianism, but I do not know of any consistent logical empiricist who came thereby to a totalitarian view.“ 529 NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1003f. 530 Vgl. Hadwig KRAEUTLER, Otto Neurath. Museum and Exhibition Work. Spaces (Designed) for Communication, Frankfurt am Main [u.a.] 2008, S. 243– 250. 531 NEURATH, Die Orchestrierung der Wissenschaften, S. 1009. 532 Ebenda, S. 1003. 533 Ebenda. Original: „I also stress planning for freedom. I mean by planning for freedom orchestration of variety.“
4. Identität als Wissenschaft I
A. H ANS K ELSEN : D AS REINE R ECHT UND DIE W ISSENSCHAFT ALS F REUND DER D EMOKRATIE Der Wiener Staatsrechtslehrer Hans Kelsen wird als der ‚Architekt‘ der österreichischen Bundesverfassung erinnert. Aus kultur- und wissenschaftshistorischer Perspektive ist im Besonderen sein reflexiver Rechtspositivismus von zentralem Interesse. Der Weg, der ihn dahin führte, wird in diesem Kapitel nachgezeichnet. Das Ziel, der Jurisprudenz Autonomie zu verschaffen, erreichte Kelsen durch eine speziell normative Art der Grundlegung von Rechts- und Staatstheorie, die er 1934 in seiner Monografie Reine Rechtslehre1 zusammenführte. Der Wiener Staatsrechtswissenschaftler verstand seine Theorie des positiven Rechts als eine „von aller politischen Ideologie und allen naturwissenschaftlichen Elementen gereinigte“ Lehre, die „nicht auf Gestaltung, sondern ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts“ (RR2, S. III) gerichtet sei. Seine vehemente Forderung nach einer kompromisslosen Trennung von Wissenschaft und Politik begründete er damit, dass es sich dabei um spezifische Praktiken innerhalb von zwei unterschiedlichen Handlungsfeldern handle, weshalb beide ihr je eigenes Ziel zu verfolgen hätten und nicht aneinander gekoppelt oder vermischt werden dürften: „Politics as the art of government, […] the practice of regulating the social behavior of men, is a function of will […]. Science is a function of cognition; its aim is not to govern, but to explain.“2 Die Staatsrechtslehre, der Kelsens Hauptinteresse galt, war von Anbeginn – so Michael Stolleis – „unter den juristischen Einzeldisziplinen das
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2
Hans KELSEN, Reine Rechtslehre. Einleitung in die Rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig–Wien 1934 (im Folgenden RR). Die zweite, vollständig überarbeitete Auflage erschien 1960. DERS., Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit. Zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1960 (im Folgenden RR2). Hans KELSEN, Science and Politics, in: The American Science Review 45, 3(1951), S. 641–661, hier S. 641.
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politische Fach schlechthin.“3 Die jahrhundertelang bestehende Verflechtung des öffentlichen Rechts mit der jeweils herrschenden Macht legt davon Zeugnis ab, und noch heute bringt die spezifische Politiknähe der Staatsrechtslehre so manche unscharfe Grenzziehung hervor.4 Mit dem Aufstieg der induktiven Wissenschaftsauffassung und der schrittweisen Autonomisierung der Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor diese Verbindung zwar ihre Selbstverständlichkeit – in diesen Jahrzehnten erklärte sich auch die Wissenschaft vom Staatsrecht zu einer ‚rein juristischen‘, autonomen Disziplin. Allem Anschein zum Trotz gab sie aber auch im Zeitalter der Verfassungsstaatlichkeit ihre Funktion als Sprachrohr und Legitimationsinstanz der jeweiligen Machthaber nicht vollends auf. Abbildung 7: Hans Kelsen (1881–1973), um 1930, ÖNB
3 4
Michael STOLLEIS, Staatsrechtslehre und Politik, Heidelberg 1996 (Heidelberger Universitätsreden 12), S. 6. Vgl. Helmuth SCHULTZE-FIELITSCH, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung. Eine einführende Problemskizze, in: DERS. (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, Berlin 2007, S. 11–47.
I DENTITÄT
ALS
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Hans Kelsen war es vorbehalten, diese Verstrickung der Jurisprudenz mit der Politik ebenso offen wie offensiv aufzuzeigen und aufzukündigen. Angesichts des Aufstiegs neuer diktatorischer Systeme (Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus) erschien dem Wiener Juristen die sorgfältige und – wie er hoffte – dauerhafte Trennung von Politik und Wissenschaft umso dringlicher; ein Ziel, das er innerhalb des rechtswissenschaftlichen Feldes u.a. damit verfolgte, dass er eine intensive Debatte über die methodisch-theoretischen Voraussetzungen der Jurisprudenz eröffnete. Auf der Basis neu formulierter Grundbegriffe entwickelte er sowohl seine Reine Rechtslehre als auch eine Demokratietheorie, die er beide zur Absicherung der relativen Autonomie seiner Disziplin in Stellung brachte. Dieses Plädoyer für die Unabhängigkeit der Jurisprudenz stellte allerdings zugleich – so paradox es erscheinen mag – einen Akt politischen Engagements dar: Kelsen hatte als Jurist ein klares Ziel vor Augen, als er in einer Zeit, da sich der zunehmend autoritärer werdende Staat nach wie vor als ‚legitim‘ präsentierte und die Staatsrechtslehre es zu weiten Teilen versäumte, dagegen Einspruch zu erheben, zur wissenschaftlichen „Verteidigung der Demokratie“ aufrief.5 In diesem strategischen Autonomismus manifestierte sich sein ‚autonom-engagiertes‘ Handeln: Indem er durchwegs rechtswissenschaftlich argumentierte, agierte er weder ‚rein politisch‘ (d.h. im Sinne Bourdieus ‚heteronom‘), noch arbeitete er für eine ‚absolut autonome‘ Wissenschaft, die sich einen Rückzug in den von Raum, Zeit, Wirklichkeit und Politik vermeintlich unberührten Elfenbeinturm erlaubte. Vielmehr versuchte er mit den Mitteln der Jurisprudenz, also wissenschaftsintern, seiner Um- und Nachwelt, „darüber Rechenschaft [zu] geben, wo Feind und wo Freund stehen.“6 Carl Schmitts Freund-Feind-Schema zynisch aufgreifend, legte er der Jurisprudenz nahe, die „Demokratie als ihren Freund“ und die „Autokratie als ihren Feind zu erkennen“ – und das, weil er der Rechtswissenschaft eine Mitverantwortung für das Schicksal der Demokratie zuwies. So verteidigte Kelsen die Autonomie der Wissenschaft, indem er gegen heteronome Tendenzen in ihr ankämpfte. Er vertrat damit eine Position, die Pierre Bourdieu – wie in der Einleitung gezeigt – als „scholarship with commitment“7 beschrieb. Dieser Ansatz machte den „Juristen des Jahrhunderts“8 in der diesbezüglich wohl prekärsten aller Disziplinen zum Vorreiter eines Wissenschaftsverständnisses, auf dessen Basis jene (selbst-)reflexive Analyse wis-
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Hans KELSEN, Verteidigung der Demokratie, in: DERS., Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, S. 229–237 [Original: Blätter der Staatspartei 2 (1932), S. 90–98]. Hans KELSEN, Wissenschaft und Demokratie, in: DERS., Verteidigung der Demokratie, S. 238–247, hier S. 238 [Original: Neue Zürcher Zeitung 321, 23. Februar 1937, S. 1–2; 327, 24. Februar 1934, S. 1–2]. BOURDIEU, Forschen und Handeln, S. 93–101, hier S. 100. Zu den spezifischen Eigenschaften wissenschaftlicher Felder vgl. DERS., Vom Gebrauch der Wissenschaft, S. 16–31, hier S. 26–31. Vgl. DREIER, Hans Kelsen (1881–1973), ‚Jurist des Jahrhunderts‘?, S. 705–732.
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senschaftlich-politischer Kohabitation stattfinden konnte, welche die Bezeichnung Wissenschaft besonders verdient. Hans Kelsen war Wiener von Prager Herkunft. Im Jahr 1911 habilitiert, wurde er 1919 ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Dieses Amt übte er ein Jahrzehnt lang aus. 1918 zum wissenschaftlichen Mitarbeiter in die Staatskanzlei berufen, legte er Vorentwürfe zur österreichischen Bundesverfassung (BV-G) (1920–1933; seit 1945) vor. Sein zentraler Anteil am BV-G (1920) bestand in seiner Urheberschaft der so genannten ‚Normprüfungskompetenz‘ des neu gegründeten Verfassungsgerichtshofes, in den er durch das Parlament gewählt wurde. Seine Judikatur sollte Kelsen im ersten Jahrzehnt der Ersten Republik maßgeblich prägen. Als die gewählten Verfassungsrichter – so auch Kelsen – infolge des so genannten ‚Dispensehen‘-Konflikts abberufen und im Zuge der Verfassungsnovelle (1929) durch von der Regierung ernannte Richter ersetzt wurden,9 verließ er Österreich. Von diesen Vorgängen, die für ihn schon von der „Einschränkung oder Ersetzung des demokratisch-parlamentarischen durch ein berufsständisches System“ zeugten,10 war Kelsen „auf das tiefste erbittert“.11 Im Jahr 1930 nahm er einen Ruf als Völkerrechtsprofessor an die Universität Köln an, die er aber schon 1933 wieder verlassen musste: Als einer der Ersten wurde Kelsen von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben.12 Zunächst emigrierte er in die Schweiz, um nach Aufenthalten am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf (1933–1940) und an der Deutschen Universität Prag (1936–1938) im Jahr 1940 Europa zu verlassen. In den Vereinigten Staaten fand Kelsen anfangs an der Harvard University Aufnahme. Später wirkte er bis 1952 als Professor für Political Science an der University of California in Berkeley.13 1945
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Vgl. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 67–77. Rudolf Aladár MÉTALL, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, S. 47–57. Robert WALTER, Hans Kelsen als Verfassungsrichter, Wien 2005 (Schriftenreihe des Hans KelsenInstituts 27). Christian NESCHWARA, Kelsen als Verfassungsrichter. Seine Rolle in der Dispensehen-Kontroverse, in: Stanley L. PAULSON, Michael STOLLEIS (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 353–384. DERS., Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 249–267. Hans KELSEN, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, in: Gerhard ANSCHÜTZ, Richard THOMA (Hg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Band 1, Tübingen 1930, S. 147–165, hier S. 164. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 77. Vgl. Oliver LEPSIUS, Hans Kelsen und der Nationalsozialismus, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 271–287. Vgl. Johannes FEICHTINGER, Transatlantische Vernetzungen. Der Weg Hans Kelsens und seines Kreises in die Emigration, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 321–338. DERS., Die Emigration der österreichischen Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den 1930er Jahren, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.2, S. 447–497. DERS., Die Karrie-
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erwarb er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Der elffache Ehrendoktor Kelsen verstarb im Jahr 1973. Das folgende Kapitel umfasst drei Teile: Zunächst wird die auf Kelsen zurückreichende reflexive Spielart des Rechtspositivismus erläutert. In der Folge wird sie den staatsrechtspositivistischen Konzepten des Spätkonstitutionalismus gegenübergestellt, um das machtkritische Surplus der Reinen Rechtslehre und verwandter Konzepte in anderen Disziplinen (u.a. der Psychoanalyse) hervorzuheben. Im zweiten Teil wird auf Kelsens Ziel, der Rechtswissenschaft relative Autonomie zu verschaffen, vor dem Hintergrund älterer Staatsrechtsdiskurse in Österreich, von denen er sich entscheidend absetzte, näher eingegangen. Der dritte Teil widmet sich dem Interventionscharakter, von dem seine Arbeiten zeugen. Sie waren daher auch von politischer Bedeutung. Mit ihnen zielte Kelsen nämlich auch auf die Stabilisierung der Demokratie. Hiermit nahm er eine Haltung ein, durch die er sich von vielen anderen Wissenschaftlern absetzte, weshalb sein ‚autonomengagiertes‘ Wissenschaftshandeln in dem letzten Abschnitt unter dem Titel „Das Prinzip Kelsen“ vorgestellt wird.
4.1 F AMILIENÄHNLICHKEITEN AUF DEM W EG ZUR RELATIVEN AUTONOMIE In Österreich etablierten sich in den Kultur- und Humanwissenschaften der Zwischenkriegszeit zwei unterschiedliche Wissenschaftskulturen, eine universitär verankerte sowie eine andere, die ihre Anknüpfungspunkte vornehmlich jenseits der akademischen Anstalten fand.14 In Anbetracht des verstärkten Zugriffs der national-katholischen Machtpolitik auf die Universität wurden Wissenschaftler mit unliebsamen Auffassungen bald ins akademische Abseits manövriert. Im Zuge der ‚Nationalstaatswerdung‘ Österreichs hatte sich zusehends auch der Antisemitismus verschärft.15 Das Schicksal akademisch-beruflicher Marginalisierung ereilte nicht nur so manches Mitglied des Wiener Kreises,16 sondern auch Angehörige des Kreises um Hans Kelsen.17 Dieser Zirkel wird auch als Kelsen-,Schule‘ oder als eine „For-
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rechancen von österreichischen Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaftlern in der Englischen Emigration, in: J. M. RITCHIE (ed.), German Speaking Exiles in Great Britain, Amsterdam–New York 2001 (Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies), S. 131–148. Vgl. FEICHTINGER, Wissenschaft zwischen den Kulturen, S. 32–38. Vgl. Johannes FEICHTINGER, Kulturelle Marginalität und wissenschaftliche Kreativität. Jüdische Intellektuelle im Österreich der Zwischenkriegszeit, in: DERS., Peter STACHEL (Hg.), Das Gewebe der Kultur. Kulturwissenschaftliche Analysen zur Geschichte und Identität Österreichs in der Moderne, Innsbruck [u.a.] 2001, S. 311–333, hier S. 311. Vgl. STADLER, Studien zum Wiener Kreis, 1997. Vgl. WALTER, JABLONER, ZELENY (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen, 2008. Klaus ZELENY, Der Kreis um Kelsen. Die Wiener rechtstheoretische
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scherformation“ bezeichnet, der schließlich der Titel „Wiener Schule der Rechtstheorie“ zuerkannt wurde.18 Im Hinblick auf ihre Randständigkeit waren die beiden hoch innovativen Wiener Wissenschaftszirkel wahlverwandt oder – wie es Clemens Jabloner und Friedrich Stadler formulieren – „familienähnlich“:19 Diese Ähnlichkeit zeigte sich insbesondere darin, dass beide Kreise durch ihr Handeln jenen Akteuren im Wissenschaftsfeld einen Spiegel vorhielten, die sich zwar mit dem Schein ‚reiner‘ bzw. objektiver Wissenschaftlichkeit versahen, sich zugleich aber jeder politischen Macht offerierten. Sich der zunehmenden Verflechtung von moderner Wissenschaft und Machtpolitik bewusst, setzten Kelsen und der Wiener Kreis auf eine intellektuell-reflexive Strategie: Da sie die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes wahrten und Objektivität als Erkenntnisziel anstrebten,20 zugleich aber kraft ihrer wissenschaftlichen Konzepte in die soziale Wirklichkeitssphäre intervenierten, war es ihnen vorbehalten, die Autonomie der Wissenschaften auf der Grundlage eines reflexiven methodologischen Positivismus zu erweitern. Im Hinblick darauf spricht der deutsche Sozialforscher Hauke Brunkhorst von einer „Gleichzeitigkeit von Grenzerhaltung und Grenzverletzung“.21 Zuletzt wurde mit dem Hinweis auf divergierende wissenschaftsphilosophische Ausgangspunkte auf Unterschiede zwischen dem Wiener Kreis und dem Zirkel um Hans Kelsen verwiesen.22 Was den Logischen Empirismus
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Schule, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 137–148. Clemens JABLONER, Kelsen and his Circle. The Viennese Years, in: European Journal of International Law 9 (1998), S. 368–385. Zum Privatseminar Hans Kelsens vgl. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 55–57. Matthias JESTAEDT, Von den ‚Hauptproblemen‘ zur Erstauflage der ‚Reinen Rechtslehre‘, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 113–135, hier S. 119. Clemens JABLONER, Beiträge zu einer Sozialgeschichte der Denkformen. Kelsen und die Einheitswissenschaft, in: DERS., Friedrich STADLER (Hg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans Kelsen-Schule, Wien–New York 2001 (Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis 10), S. 19–43, hier S. 43. Friedrich STADLER, Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre – Über Familienähnlichkeiten, in: JABLONER, STADLER (Hg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, S. IX–XXI. Vgl. Clemens JABLONER, Objektive Normativität. Zu einem Bezugspunkt von Reiner Rechtslehre und Wiener Kreis, in: WALTER, OGRIS, OLECHOWSKI (Hg.), Hans Kelsen. Leben – Werk – Wirksamkeit, S. 169–182. Hauke BRUNKHORST, Auf dem Weg zur civitas maxima? Hans Kelsens Werk zwischen Krieg, Revolution und Neugründung der internationalen Gemeinschaft, in: Tamara EHS (Hg.), Hans Kelsen und die Europäische Union. Erörterungen moderner (Nicht-)Staatlichkeit, Baden-Baden 2008, S. 27–56, hier S. 37. Zur wiederholten Kritik Neuraths an dem „nicht ganz metaphysikfreien Kelsen“ (NEURATH, Empirische Soziologie, S. 501) vgl. JABLONER, Beiträge zu einer Sozialgeschichte der Denkformen, S. 19–21. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilo-
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mit der Reinen Rechtslehre insbesondere verband, war, dass beide den Verlockungen der Realpolitik widerstanden und auf jede Selbstaufwertung durch affirmatives Wissenschaftshandeln verzichteten. So bekundete Hans Kelsen nachträglich zwar offen seine Sympathie für die Sozialdemokratische Partei, um aber zugleich zu betonen, dass stärker als diese sein „Beduerfnis nach parteipolitischer Unabhaengigkeit“ in seinem Beruf gewesen sei.23 Allerdings wäre es unzutreffend, Kelsen (wie auch Neurath und andere Mitstreiter) als apolitische Verfechter einer absolut autonomen Wissenschaft einzustufen. Mit der vehementen Zurückweisung von Übergriffen seitens der Politik bzw. sich wieder verstärkender metaphysisch-weltanschaulicher Tendenzen innerhalb der Wissenschaft teilten Kelsen und der Wiener Kreis zweifelsohne eine politische Haltung, die sie aber auf unterschiedliche Art und Weise zum Ausdruck brachten: Während der ‚Reine Rechtslehrer‘ die neu aufziehende Verpolitisierung der Staatsrechtswissenschaft in scharfsinniger juristischer Arbeit raffiniert unterwanderte,24 bekämpften die Vertreter des Logischen Empirismus durch sprach- und wissenschaftsphilosophische Analysen die metaphysische Spekulation als solche.25 Ein Ziel, das aber beiden vor Augen lag und das sie mit den Mitteln der Wissenschaft verfolgten, bestand in einem möglichst effektiven Widerstand gegen die totalitären Strömungen der Zeit, oder umgekehrt: in der wissenschaftlichen Stärkung und Absicherung der Demokratie. Während der Wiener Kreis eine ‚wissenschaftliche Weltauffassung‘ verbreitete, läutete Hans Kelsen in eben diesem Sinne eine gravierende Wende in der Staatsrechtslehre ein, um sich gegen jene Teile der Juristenzunft zu stellen, „die von Demokratie nur mit verächtlichen Worten“ sprachen und „die Diktatur – direkt oder indirekt – als das Morgenrot einer neuen Zeit“ begrüßten: „Und diese Wendung der ‚wissenschaftlichen‘ Haltung“, notierte Kelsen, geht Hand in Hand mit einem Wechsel der philosophischen Front: Fort von der jetzt als Flachheit verschrieenen Klarheit des empirisch-kritischen Rationalismus, diesem geistigen Lebensraum der Demokratie, zurück zu der für Tiefe gehaltenen Dunkelheit der Metaphysik, zum Kultus eines nebulosen Irrationalen, dieser spezifischen Atmosphäre, in der seit je die verschiedenen Formen der Autokratie am besten gediehen sind. Das ist die Parole von heute.26
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sophie an Österreichs Universitäten (1848–1945), S. 345–347. Horst DREIER, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, in: SCHULZE-FIELITZ (Hg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, S. 81–114, hier S. 87. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 59. „Was mich mit der Philosophie dieses Kreises verband – ohne darin von ihr beeinflusst zu sein – war ihre anti-metaphysische Tendenz“, schrieb Kelsen am 5. Mai 1963 in einem Brief an den Wiener Kreis-Forscher Henk L. Mulder. Der Brief wurde auszugsweise von Clemens JABLONER veröffentlicht, in: Beiträge zu einer Sozialgeschichte der Denkformen, S. 19f. Vgl. FRANK, Der historische Hintergrund, S. 277–279. KELSEN, Verteidigung der Demokratie, S. 230f.
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Kelsen, Neurath und andere zielten sonach im Wesentlichen auf die Überwindung der zeittypischen Ideologie- und Wertverhaftung der sozial- und rechtswissenschaftlichen Theorie ab: Sie delegitimierten die Wissenschaft als Werkzeug politischer Wertverwirklichung, verbannten sie aber nicht in den ‚Elfenbeinturm‘ reiner Wahrheitsfindung. Denn: Jene absolut autonome Wissenschaft, die Autonomie mit Autarkie und Verzicht auf Verantwortung verwechselte, lief Gefahr, dieselbe zusehends einzubüßen anstatt sie zu erweitern. Um weiterem Autonomieverlust vorzubeugen, handelten sie daher im Sinne eines strategischen Autonomismus – wie erwähnt – relativ autonom. Kelsen zufolge bedeutete dies, den „Einbruch der Politik von rechts und links“27 in die Wissenschaft schärfstens zurückzuweisen28 und eine „Trennung von Politik und Wissenschaft […] gegen alle Widerstände von rechts und links“ unablässig zu verteidigen.29 Denn „Wissenschaft ist nie Wollenschaft. […] Sie ist nur Intellektualität.“30 Auf jeden Fall habe man aber mit „der eingewurzelte[n] Gewohnheit“ zu brechen, „im Namen der Wissenschaft vom Recht, unter Berufung also auf eine objektive Instanz, politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Character haben können, auch wenn sie im besten Glauben, als Ideal einer Religion, Nation oder Klasse auftreten“ würden. (RR, S. 5) In der Jurisprudenz sei Sachlichkeit nur dann gewährleistet, wenn sie sich auf Aussagen über ein System des ‚Sollens‘ (und nicht des ‚Seins‘ oder des ‚Wollens‘) beschränkte. Das ‚Sollen‘ war für Kelsen aber kein ethischer Wert, sondern bloß eine Denkform. Die Jurisprudenz als ‚Normwissenschaft‘ zu begründen, bedeutete überdies, dass sie den Begriff des Positivismus anders, ihrem eigenen Gegenstand gemäß, fassen musste. Dies verlangte, das Verhältnis zu den Naturwissenschaften und den kausal argumentierenden „Gesellschaftswissenschaften“ (wie Geschichte, Soziologie und Ethnologie) zu reformulieren und klare Grenzen zu ziehen. (RR2, S. 78f., S. 89–93) Die Rechtswissenschaft
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Aussprache über die vorstehenden Berichte, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 4 (1928), S. 203. Vgl. auch Hans KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: Juristische Wochenschrift 58, 23(1929), S. 1723–1726, hier S. 1724, und Peter von OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1974, S. 323. Vgl. Michael STOLLEIS, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre. Ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, Stuttgart 2001 (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 39, 1), S. 6. Hans KELSEN, Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung (Original 1931), in: Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Norbert Leser, Wien 1967, S. 69–136, hier S. 70. Hans KELSEN, Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft. Eine methodenkritische Untersuchung, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 40 (1916), S. 95–153, hier S. 97.
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musste sonach als logikorientierte, objektive ‚Normwissenschaft‘ und als (nichtkausale) ‚Gesellschaftswissenschaft‘ konzipiert werden, um sie jenseits des Dualismus von Natur- und Sozialwissenschaft zu positionieren und als autonome Disziplin zu begründen. Da es der positivistischen Jurisprudenz laut Kelsen nicht aufgegeben war, Recht zu bewerten oder zu schöpfen, kennzeichnete er seine Rechtslehre mit dem Attribut „rein“. Dieser Begriff zeugt zumindest von zwei methodischen Anforderungen: Zum einen markiert er „eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis“, die das eliminiert, „was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört“. (RR, S. 1) Zum anderen verweist dieses Attribut – die „Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes“ voraussetzend – auf eine Jurisprudenz, die sich „von aller politischen Ideologie“ verabschiedet. (RR, S. III) Diese „methodischen Grundprinzipien“ waren für Kelsen dann erfüllt, wenn sich die Rechtslehre darauf beschränkte, „das ihr aufgegebene Material in ein System möglichst präziser Begriffe möglichst erschöpfend einzufangen.“31 Abbildung 8: Titelseite Reine Rechtslehre (1. Auflage, 1934)
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KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1723.
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Das Attribut ‚rein‘, mit dem Kelsen seine ‚normwissenschaftliche‘ Rechtslehre ausdrücklich versah, enthielt weiters – wie auch an anderer Stelle ausgeführt – eine implizite Spitze gegen all jene Vertreter des Rechtspositivismus, die zwar – vermeintlich oder vorgeblich – eine eigenständige Positionierung des Fachs anvisierten,32 für die es aber „überhaupt keine Macht“ gegeben habe, „der sich anzubieten sie nicht bereit“ gewesen wären. (RR, VIII). Im Vorwort der Reinen Rechtslehre, das er 1934 – ein Jahr, nachdem er von seiner Kölner Professur vertrieben worden war – in Genf verfasste, erkannte Kelsen den Zusammenhang zwischen der soziokulturellen Krise in der durch den Weltkrieg „aus den Fugen geratenen Zeit“ und der vorherrschenden Ideologieverhaftung der Wissenschaft darin, dass er ernüchtert vermerkte, dass „das Ideal einer objektiven Wissenschaft von Recht und Staat [...] [wohl] nur in einer Periode sozialen Gleichgewichts Aussicht auf allgemeine Anerkennung“ (RR, S. VIII) hätte. Die Reine Rechtslehre, die sich dem Objektivitäts- und Exaktheitsideal anzunähern versuchte, war zu einer Zeit, in der „laut und öffentlich der Ruf nach einer politischen Rechtswissenschaft“ (RR, S. VIII) zu vernehmen war, nicht zufällig höchst umstritten. Titel und Bezeichnung einer ‚reinen‘ Rechtslehre provozierten umso mehr, als die Idee des ‚Reinen‘ in der politischen Praxis nationalistischer In- und Exklusion und bald auch rassistischer Säuberung eine Schlüsselfunktion erfüllte. Kelsen beanspruchte die ‚Reinheitsvorstellung‘ für sein kritisch-positivistisches Konzept einer Wissenschaft, als wollte er sie von der Politik für den Bereich der Theorie, der Analyse, zurückerobern. So konzipierte er seine ‚reine‘ Rechtslehre als eine Instanz, die den heraufziehenden totalitären Tendenzen mit rein wissenschaftlichen Waffen Widerstand und den gefährdeten jungen Demokratien in Österreich und Deutschland Beistand leisten sollte. Auch wenn sich diese Hoffnung in den 1930er-Jahren nicht mehr erfüllte, so setzte Kelsen hiermit doch den entscheidenden Schritt im wechselvollen, langwährenden Ablösungsprozess der Jurisprudenz von der Politik. Im Hinblick darauf sah sich der Wiener Jurist wiederholt dazu veranlasst, ein zentrales Missverständnis auszuräumen: „Die Entpolitisierung, die die Reine Rechtslehre fordert, bezieht sich auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf ihren Gegenstand, das Recht.“ Dass das Recht als „ein wesentliches Instrument der Politik“ von dieser nicht getrennt werden konnte und sollte,33 war für Kelsen ebenso unhinterfragbar wie die Tatsache, dass die Rechtsordnung als Resultante divergierender Gruppeninteressen in der
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Vgl. FEICHTINGER, MÜLLER, Kelsen im wissenschaftshistorischen Kontext, in: EHS (Hg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, S. 211f. Hans KELSEN, Was ist die Reine Rechtslehre? (Original 1953), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hg. von Hans Klecatsky, René Marcic und Herbert Schambeck. Band 1, Wien [u.a.] 1968, S. 611–629, hier S. 620.
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„kausal bestimmten historischen Entwicklung“ aufzufassen wäre.34 Die Reine Rechtslehre sollte daher keine Lehre des ‚reinen Rechts‘, sondern eine ‚reine Lehre‘ des Rechts sein.35 Ihre Aufgabe war die Analyse der Struktur des juristischen Systems, nicht aber seine Ausgestaltung. (RR, S. 17) Dem Rechtspositivismus zwar verpflichtet, stand Kelsen dieser Tradition allerdings zutiefst ambivalent gegenüber.36 Umgekehrt stieß sein „relativistischer Rechtspositivismus“ (RR2, S. 441) von dieser Seite auf besonders massive Kritik.
4.2 K RITIK
UND
G EGENKRITIK
Das in der Rechtswissenschaft vorhandene Methodenvakuum war so manchem kritischen Juristenkopf, der um 1900 sein Studium absolviert hatte, nicht verborgen geblieben. Die Jurisprudenz verfügte Franz Weyr (1879– 1951)37 zufolge über keine Methode, sondern nur über Programme. Laut seinem Brünner Mitstreiter hatte Kelsen als einer von wenigen den Handlungsbedarf, der sich mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften vergrößert hatte, erkannt und auf diesen mit einer ‚juristischen Methode‘ geantwortet. Ausgehend von der Erkenntnistheorie Immanuel Kants habe er das Ziel verfolgt, die Jurisprudenz als eine den ‚explikativen Wissenschaften‘ ebenbürtige Disziplin neu zu konzipieren, ohne aber „den Naturwissenschaften, welche gerade ihr glänzendstes Jahrhundert [...] hinter sich hatten, blind nachzueifern, um im Konzert derselben wenigstens als eine zweitrangige Disziplin anerkannt zu werden.“38 Vor allem ihre Theorieabstinenz habe gegen die Vorbildfunktion der Naturwissenschaften gesprochen. Sie hätten jene „landläufige [Form von] Wissenschaft“ verkörpert, „die jede Erkenntnistheorie als einen überflüssigen, wenn nicht geradezu schädlichen Ballast von sich wies, und unter Ablehnung jeder Philosophie, der sie – ähnlich wie
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Hans KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen, 21923, S. 479, und DERS., Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 21. Vgl. KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1724, und Michael STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Dikatur 1914– 1945, München 1999, S. 163. Vgl. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. VII., und DERS., Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, Wien 1930, S. 9. Vgl. Pavel HUNGR, Weyr und Kelsen – Geistesverwandte Persönlichkeiten, in: Rechtstheorie 23 (1992), S. 161–165. Miloš VEČEŘA, František Weyr, Brno 2001. Robert WALTER, Franz Weyr als deutschsprachiger juristischer Autor, in: Rechtstheorie. Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts 23 (1992), S. 149–160. Franz WEYR, Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht, in: Alfred VERDROSS (Hg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre. Festschrift. Hans Kelsen zum 50. Geburtstag gewidmet, Wien 1931, S. 366–389, hier S. 367.
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der Rechtswissenschaft – den eigentlichen wissenschaftlichen Charakter absprach, unentwegt auf induktivem Wege ihre speziellen und speziellsten Einzelerkenntnisse sammelte.“39 „Juristischen Scharfsinn“ hätten allein die Werke von Georg Jellinek (1851–1911) und Edmund Bernatzik (1854–1919) versprüht,40 die die Unerlässlichkeit einer ‚juristischen Methode‘ aufgezeigt hätten, ohne dass es ihnen aber, so Weyr, „trotz ihres evidenten Scharfsinns“ gelungen wäre, „das letzte Wort auszusprechen.“41 Die Vorliebe für empirische Methoden bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Form hätte übrigens auch die ältere (rechtshistorische) mit der neueren (soziologischen) Jurisprudenz verbunden.42 Mehr noch: Sie hätten sich einträchtig verbündet, um die „normative Theorie“43 zurückzudrängen, weswegen sie auch unter den Anhängern der ‚juristischen Methode‘ auf Ablehnung gestoßen seien. Hans Kelsens Konzept einer juristischen ‚Normwissenschaft‘ konnte als ein Angriff auf die Grundpositionen der positivistischen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts verstanden werden: Die ‚normative Theorie‘ verleugnete zwar nicht die wirkenden Machtverhältnisse, allerdings zog sie diese nicht als Objekt der juridisch-normativen Analyse in Betracht. Diese bewusste Verengung des Untersuchungshorizonts begründete Kelsen mit dem in Anlehnung an Kant definierten Dualismus von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘. Dass etwas sei, dürfe nicht zur Schlussfolgerung verleiten, dass es auch so sein sollte. Verstand man aber die juristische Anordnung als ein reines ‚Sollen‘, so
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WEYR, Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht, S. 367. Zu Jellinek und Bernatzik vgl. Peter GOLLER, Georg Jellinek und Edmund Bernatzik. Zwei österreichische Staatsrechtslehrer an der Universität Basel (1889–1893), in: Zeitschrift für öffentliches Recht 54 (1999), S. 475–528, und DERS., Österreichische Staatsrechtswissenschaft um 1900. Aus Briefen Edmund Bernatziks an Georg Jellinek (1891–1903), S. 203–249. WEYR, Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht, S. 367. Goller verweist auf die „doppelte Rolle“ Bernatziks, die er in Bezug auf die Wiener rechtstheoretische Schule spielte, nämlich als „Bahnbrecher“ und als „Opfer“: Aus der Sicht Kelsens war Bernatzik bei der ‚Reinigung‘ des Staatsrechts von psychologischen und soziologischen Zugriffen auf halbem Wege stehen geblieben. Vgl. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, S. 160–167. Vgl. Alexander SOMEK, Die Politik innerhalb der Grenzen der theoretischen Vernunft. Das Problem der österreichischen Rechtsphilosophie, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.2, S. 365– 403. In der Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze (1911) nahm die Entwicklung der ‚normativen Theorie‘, so die ursprüngliche Bezeichnung der Reinen Rechtslehre, ihren Ausgang. Kelsen verstand unter ‚normativ‘ die Systematik gegebener juristischer Normen. Diese Theorie entwickelte er in den 1920er-Jahren in mehreren Monografien weiter: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920), Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922), Allgemeine Staatslehre (1925). Nach der Veröffentlichung der Reinen Rechtslehre (1934) fand seine Theorie in der zweiten Auflage dieser Schrift im Jahr 1960 ihre umfassendste Ausformulierung.
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konnte das Kriterium dafür, dass sie tatsächlich war, keine Seins-Tatsache (wie z.B. die sozialen Machtverhältnisse) sein. Im Unterschied zum älteren Rechtspositivismus führte Kelsen die Geltung des positiven Rechts nicht auf deren ‚Faktizität‘ zurück; er fragte also nicht nach dem ‚Sein‘ des ‚Sollens‘ und dessen Übereinstimmung bzw. Einheit, sondern definierte auch die Rechtsgeltung als Kriterium innerhalb des Soll-Systems, von dem er eine Einheitlichkeit forderte. Dieses „negative Kriterium der Einheit“ – und somit der Geltung einer Norm – war für ihn die innere „Widerspruchslosigkeit“ bzw. Homogenität der juristisch-normativen Ordnung. Zwar verleugnete er keineswegs einen Zusammenhang zwischen der sozialen Wirklichkeit und den Inhalten der positivrechtlichen Soll-Ordnung, die Geltung Letzterer bewertete er dennoch als eine Sache der Einheit des ‚Sollens‘. Die Rechtswissenschaft verdankte sich sonach der Tendenz, den Gegenstand ‚Recht‘ „irgendwie [als] Einheit zu begreifen“. Das Wesen des Rechts erkannte Kelsen daher nicht in der isolierten Rechtsnorm, sondern im Rechtssystem, kurz: in der Integration der rechtsnormativen Vielfalt in einer Einheit. Die zentrale Aufgabe der Wissenschaft vom Recht erblickte er folglich in der Aufdeckung der sich im Systembau ergebenden Widersprüchlichkeiten.44 Ausgehend von diesem Kernproblem, der Einheit des Normensystems, entwickelte Kelsen auch seinen Staatsbegriff: „Die Theorie des Staates hatte ich – von allem Anfang an – als integrierenden Bestandteil einer Rechtstheorie betrachtet“,45 schrieb er im Jahr 1947. Daher lag für ihn die wissenschaftliche Antwort auf die entscheidende Frage, „was die Einheit in der Vielheit der diese Gemeinschaft bildenden Individuen konstituiert“, auf der Hand: nämlich, „dass es eine spezifische Rechtsordnung ist [,] die diese Einheit konstituiert; dass alle Versuche, diese Einheit meta-juristisch, d.h. soziologisch zu begruenden, als gescheitert anzusehen sind.“46 Der Staat war seiner ‚normativen Theorie‘ zufolge (im Gegensatz zur Auffassung der positivistischen Jurisprudenz) daher kein von Herrschaftsverhältnissen dominierter Machtkomplex. Jene Staatsrechtslehrer, die den Staat als solchen begriffen, betrieben für ihn eine „animistische Hypostasierung“, indem sie ihn mit dem Medium seiner Veranschaulichung, nämlich der Person, verwechselten: „Seinem Wesen nach“ war der Staat für Kelsen nichts anderes als ein Begriff zur Bezeichnung einer relativ zentralisierten, hypothetisch vorausgesetzten Ordnung der auf das Individuum wirkenden juristischen Zwänge.47 Zu dieser Vorstellung des Staats als ideeller Ordnung des Zwangs habe ihn Kants Staatsbegriff – „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter
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Aussprache über die vorstehenden Berichte [Wortmeldung Hans Kelsen], in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 4 (1928), S. 168–207, hier S. 172–174. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 59. Ebenda, S. 62. Ebenda.
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Rechtsgesetzen“ – geführt,48 der für ihn im Wesentlichen das Gleiche besagte. So war ihm auch Max Webers Begriff vom Staat als „politischer Anstaltsbetrieb“, dessen „Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“,49 also einer Ordnung durch Zwang, mehrfacher Kritik wert.50 In seiner Abhandlung „Über Staatsunrecht“ präzisierte Kelsen im Jahr 1914: „Meine Konstruktion hat den Staat, der in der heutigen Rechtstheorie noch als macht- und herrschaftbegabte Person angesehen wird, aller politischen Macht- und Herrschaftselemente entkleidet und ihn lediglich als dasjenige belassen, was er für die juristische Erkenntnis allein sein kann“: nämlich eine „Personifikation des Rechtes“.51 Die bis dato weitverbreitete Hypostasierung, d.h. die Überhöhung der abstrakten Vorstellung vom Staat zu einem zeitübergreifenden naturhaften ‚Organismus‘ (‚Substanz‘), hatte für ihn nicht nur theoretische, sondern auch praktisch-politische Konsequenzen gezeitigt. Auf das Ziel, das Kelsen mit der Zerstörung des vor- bzw. außerrechtlichen und substanzialisierten Staatsbegriffs verfolgte, wird noch zurückzukommen sein. Vorweg sei gesagt, dass er das organizistische Staatsverständnis als ein Vehikel entlarvte, das der vorherrschenden autokratischen Ordnung das Recht zuerkannte, ‚rechtmäßig‘, legitim zu sein. Kelsens Anstrengung einer neuen methodischen Grundlegung seiner Disziplin lief sonach darauf hinaus, den Staatsbegriff wissenschaftlich für die Anforderungen der modernen Demokratie zuzurichten. Der neue Staatsbegriff wurde von Vertretern der herrschenden Staatsrechtslehre allerdings als ein massiver Tabubruch gewertet. Dass Kelsen die verbreitete Vorstellung des Staatsrechtsdualismus widerlegte, nach der man „den Staat als ein vom Recht verschiedenes [also ‚metarechtliches‘] We-
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Hans KELSEN, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates (Original 1924), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 1625– 1660, hier S. 1625. Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Mit einem Anhang: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, hg. von Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Tübingen 41956, S. 39 [§ 17], bzw. „Der rationale Staat als anstaltsmäßiger Herrschaftsverband mit dem Monopol legitimer Gewaltsamkeit“. 2. Halbband, S. 829–832 [§ 2]. In den Bänden Wirtschaft und Gesellschaft der neuen Max-Weber-Gesamtausgabe finden sich zwar nicht identische, aber analoge Formulierungen u.a. in dem Kapitel: „Politische Gemeinschaften“. Vgl. Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, hg. von Wolfgang J. Mommsen. Teilband 1: Gemeinschaften, Tübingen 2001 (Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden. Band 22, 1), S. 204–217. Zu Kelsens Kritik an Max Webers ‚soziologischem‘ Staatsbegriff vgl. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 156–170, und DERS., Allgemeine Staatslehre, S. 19–21. Hans KELSEN, Über Staatsunrecht. Zugleich ein Beitrag zur Frage der Deliktsfähigkeit juristischer Personen und zur Lehre vom fehlerhaften Staatsakt, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 40 (1914), S. 1–114, hier S. 114.
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sen“, als eine Art „machtvollen Makroanthropos“ bzw. als „sozialen Organismus“ (RR, S. 115f., RR2, S. 288) begriff, hatte wohl den Horizont jener Juristen, denen die Anstrengung der Verwandlung des Machtstaats in einen Verfassungsstaat noch lebhaft in Erinnerung war, überschritten. Ihnen sei so manches Argument Kelsens vielleicht noch begreiflich gewesen,52 bemerkt Michael Stolleis, die ‚Identitätsthese‘ von Staat und Recht wurde allerdings als gezielte Provokation aufgefasst: Sie war ebenso unannehmbar wie Kelsens vermeintlich ‚destruktive‘ Auffassung, dass vom ‚Sein‘ zum ‚Sollen‘ – sowie vice versa – keine Brücke führte. Die ‚normwissenschaftliche‘ Hypothese war in der Tat revolutionär. Der mit ihr verknüpfte Anspruch, die in der juridischen Tradition der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tief verankerte Staatsauffassung zu überwinden, war unübersehbar. Zudem entwickelte Kelsen seine Argumentation in ‚kritischer‘ Abgrenzung gegenüber seiner (meist namentlich genannten) Kollegenschaft.53 Um 1900 hatte sich Jellinek, wie Kelsen zynisch vermerkte, das Verdienst der „vollendenden Zusammenfassung der Staatslehre des XIX. Jahrhunderts“ erworben.54 Mit umso größerer Akribie begann er daher, Jellineks Thesen Schritt für Schritt zu widerlegen. An Jellineks Hauptwerk, der Allgemeinen Staatslehre (1900)55, kritisierte Kelsen insbesondere die so genannte „Zwei-Seiten-Theorie“56: die Aufspaltung der Staatslehre in eine „Soziallehre vom Staat“ sowie in eine „Staatsrechtslehre“, also eine Zweiteilung, die, so Kelsen, die Staatsvorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu unanfechtbar dominiert habe.57 Diese Doppelfunktion – der Staat als Herrschaftsverband und als normative Ordnung – war für ihn jenes entscheidende Übel, das die Jurisprudenz auf Abwege geführt hätte und das daher zu korrigieren wäre. Darüber hinaus hatte Jellinek den Staat als ein „reales Wesen“ definiert.58 Diese Definition war jedoch nur auf der Grundlage der „Zwei-Seiten-Theorie“ möglich, die Kelsen allerdings in seiner Schrift Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922) als ein in sich widersprüchliches Konstrukt widerlegte.
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Vgl. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2, S. 453. Vgl. u.a. den Titel von Abschnitt III, „Kritischer Beweis der Identität von Staat und Recht“, in: KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 114. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. IX. Georg JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900 [31905, hier verwendet 3 1929, 5. Nachdruck, durchgesehen u. ergänzt von Walter Jellinek]. Kelsen verwendete den Begriff „Zwei-Seiten-Theorie“ polemisch zur Abstempelung der Staatslehre Jellineks. Vgl. Hans KELSEN, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre, Tübingen 1920, S. 11. DERS., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 105–113. DREIER, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 95. In der Zweitauflage der Reinen Rechtslehre (1960) bemerkte Kelsen, dass sich jene Theorie trotz der „handgreiflichen Widersprüche“ mit „beispielloser Zähigkeit“ erhalten habe. (RR2, S. 288) JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 20, S. 163.
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Stattdessen identifizierte er, wie schon erwähnt, den Staat mit der abstrakten juristischen Ordnung. Der Staatsrechtsdualismus Jellinekscher Spielart war Kelsen zufolge dafür verantwortlich, dass die Staatsrechtslehre in jener Zeit den selbst erhobenen Anspruch der Ideologie- und Wertfreiheit nicht zu erfüllen vermochte und sich zudem noch machtpolitisch verstrickte. Die von Kelsen vollzogene Abkehr vom doppelten Staatsbegriff sowie die „rücksichtslose Vernichtung einer der wirksamsten Legitimitäts-Ideologien“ (RR, S. 127) prägten der Reinen Rechtslehre den Stempel einer destruktiven, „alles zermalmenden“ Theorie auf.59 Sein Ziel, die Jurisprudenz von jedweder machtpolitischen Umklammerung zu befreien, brachte eine „an Haß grenzende Opposition“ hervor, die Kelsen in seinen theoretischen Anstrengungen allerdings nur weiter bestärkte und die ihn zu so manchem bissigen Kommentar herausforderte: „Und so scheint denn heute nichts unzeitgemäßer zu sein“, notierte er, als eine Rechts-Lehre, die ihre Reinheit wahren will, während es für die anderen überhaupt keine Macht gibt, der sich anzubieten sie nicht bereit wären, während man sich nicht mehr scheut, laut und öffentlich den Ruf nach einer politischen Rechtswissenschaft zu erheben und für diese den Namen einer „reinen“ zu beanspruchen. (RR, S. VIII)
Während Kelsen seinen Vorläufern und Kritikern vorwarf, auf die Seite der Politik abgewichen zu sein, verlieh er der Reinen Rechtslehre aufgrund ihrer „antiideologischen Tendenz“ das Prädikat „wahre Rechtswissenschaft“. (RR, S. 17) Angesichts solcher Polemik überrascht es wohl nicht, dass seine radikale Unabhängigkeitsforderung auf Seiten vieler Juristen auf Ablehnung stieß: Der innovative Wurf, der verkürzt mit den Schlagworten ‚antimetaphysisch‘, ‚reflexiv-positivistisch‘, ‚relativistisch‘, ‚dekonstruktivistisch‘ und ‚ideologiekritisch‘ charakterisiert werden kann, wurde mit Anwürfen oder Ignoranz bestraft. Manche der mit ihm konkurrierenden Kollegen, wie z.B. Carl Schmitt (1888–1985), rechneten die Reine Rechtslehre zu den „Zeloten eines blinden Normativismus“ vergangener Zeiten.60 Andere warfen Kelsen die „gespensterhafte Unwirklichkeit einer Staatslehre ohne Staat
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William EBENSTEIN, Die Rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre. Unveränderter Nachdruck, Frankfurt am Main 1969 (Original 1938), S. 23. Die von Missverständnissen gezeichneten Angriffe auf Kelsen vonseiten der deutschen Staatsrechtslehrer sind u.a. dokumentiert in den Auszügen aus den ‚Aussprachen‘ auf den Tagungen der Deutschen Staatsrechtslehrer in den Jahren 1926/27. Vgl. Aussprache über die vorstehenden Berichte, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 43–62, und Aussprache über die vorstehenden Berichte, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 4 (1928), S. 168–207. Carl SCHMITT, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931 (Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart 1), S. 30.
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und einer Rechtswissenschaft ohne Recht“61 oder „Reine Rechtsleere“62 (Hermann Heller) vor. Dritten zeugte die ‚normative Theorie‘ von Weltfremdheit.63 So bezeichnete der Czernowitzer Rechtssoziologe Eugen Ehrlich (1862–1922) die ‚abstrakte‘ Jurisprudenz, von der Kelsen mit seiner Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911) ein erstes Meisterstück vorgelegt hatte, im Jahr 1913 als ein „blutleere[s] Gebilde“.64 Horst Dreier gibt in einem hoch informativen Aufsatz weitere „Kostproben“ des Kelsen-Bashings, die auch ein bezeichnendes Licht auf seine Kritiker werfen.65 Der deutsche Staatsrechtsphilosoph Ernst von Hippel (1895–1984) z.B. verwarf die Reine Rechtslehre als „‚undeutsch‘, intellektuell, substanzlos“ und „destruktiv“.66 Karl Larenz (1903–1993), einer der Wortführer der rassistischen „völkischen Rechtserneuerung“ im Nationalsozialismus, punzierte sie als „einen auf die Spitze getriebenen juristischen Nominalismus, der jede sittlich-geistige Substanz des Rechts und des Staates“ leugnete.67 Im selben Tonfall und unter gleichem Vorzeichen erachtete es der Münchner Jurist Carl Hermann Ule (1907–1999) als „überflüssig“, auf die „sog. Staatslehre Hans Kelsens (Jude)“ als „Ausgeburt eines fremdrassigen, wurzellosen Intellektualismus“ nochmals zurückzukommen.68 In den Jahrzehnten nach 1945 wurde die mit Kelsen verknüpfte Spielart des Positivismus für die moralische Wehrlosigkeit vieler Juristen vor dem Nationalsozialismus verantwortlich gemacht. Jüngere rechtshistorische Analysen korrigieren diesen Vorwurf allerdings, indem sie zeigen, dass die Weimarer Republik gerade von jenen „völkischen Rechtserneuerern“, die eine im Sinne Kelsens streng ‚normativ‘ verfahrende Jurisprudenz verworfen hatten, in den Nationalsozialismus geführt worden war.69
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Hermann HELLER, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 55 (1929), S. 321– 354, hier S. 323. Vgl. dazu JESTAEDT, LEPSIUS, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen, S. X. Vgl. Otto HINTZE, Staatslehre und Staatstheorie. Kelsens Staatslehre, in: DERS., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. von Gerhard Oestreich. Zweite, erweiterte Auflage, Göttingen 1964, S. 223–232, hier S. 231. Eugen EHRLICH, Grundlegung der Soziologie des Rechts, München–Leipzig 1913, S. 6. Vgl. DREIER, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 81. Ernst von HIPPEL [Rezension], Wilhelm Jöckel: Hans Kelsens rechtstheoretische Methode. Tübingen 1930, in: Juristische Wochenschrift 60, 18(1931), S. 1175, und vgl. DERS., Zur Kritik einiger Grundbegriffe in der ‚reinen Rechtslehre‘ Kelsens, in: Archiv des öffentlichen Rechts 44 (1923), S. 327–346. Karl LARENZ, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 21935, S. 49f. Carl Hermann ULE, Herrschaft und Führung im nationalsozialistischen Reich, in: Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit 45 (1940), S. 193–260, hier S. 200f. Vgl. Michael STOLLEIS, Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 22006 (stw 1155). Horst DREIER, Walter PAULY, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozia-
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In der Bundesrepublik Deutschland wurde Kelsen Zeit seines Lebens von der Staatsrechtslehre unterbewertet, sein ‚unwirklicher‘ Staatsbegriff weitgehend ignoriert.70 Im Jahr 1930 nach Köln berufen, wurde er – wie erwähnt – 1933 seines Amtes enthoben. Da so wie er auch viele seiner Schüler Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Vertreibung wurden,71 verstummte die Stimme Kelsens in Deutschland über Jahrzehnte hinweg. Die Zerrbilder, die man sich von ihm machte, blieben seit dem so genannten „Methodenstreit“72 in der Zwischenkriegszeit so unumstößlich wie seine Theorie, die – so Stolleis – „keine ‚Dämonie der Macht‘ und kein Schwefelsgeruch politischer Verantwortungslosigkeit umwitterte“ und in der Bundesrepublik lange Zeit als „erledigt“ galt.73 Zuletzt haben Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius fünf wirkmächtige Stereotype aufgezeigt, auf denen die noch heute im Raum schwebenden Vorwürfe des „formalistischen Reduktionismus“, des „logizistischen Konstruktivismus“, des „selbstgenügsamen Normativismus“, des „politikflüchtigen Positivismus“ und des „amoralischen Relativismus“ beruhen.74 In Österreich verlief die Wiederaneignung des Juristen, nicht aber des Politikwissenschaftlers Hans Kelsen kontinuierlicher.75 Die 1972 anlässlich
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lismus, in: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000, Berlin– New York 2001 (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 60), S. 9–147. Lutz RAPHAEL, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5– 40, hier S. 15–17. Oliver LEPSIUS, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994 (Münchener Universitätsschriften, Reihe der Juristischen Fakultät 100). Vgl. Christoph MÖLLERS, Staat als Argument, München 2000, S. 44, S. 55– 57, S. 125, S. 129–135. Zur Rezeption Kelsens in Deutschland vgl. Norbert ACHTERBERG, Die Reine Rechtslehre in der Staatstheorie der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, hg. vom Hans Kelsen-Institut. Band 1, Wien 1978 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 2), S. 7–54. Vgl. FEICHTINGER, Wissenschaft zwischen den Kulturen, S. 282–304. DERS., Transatlantische Vernetzungen, S. 315–332. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 77–91. Vgl. STOLLEIS, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001, und Wolfgang MÄRZ, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatsrechtslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: Knut Wolfgang NÖRR, Bertram SCHEFOLD, Friedrich TENBRUCK (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 75–133. STOLLEIS, Staatsrechtslehre und Politik, S. 15f. JESTAEDT, LEPSIUS, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen, S. XI–XVII. Vgl. FEICHTINGER, MÜLLER, Kelsen im wissenschaftshistorischen Kontext, S. 227–231. Die beiden jüngeren deutschsprachigen Werke zur Demokratietheorie nehmen Kelsen kaum zur Kenntnis: Waschkuhn nur am Rande,
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seines 90. Geburtstags durch Ministerratsbeschluss vom 14. September 1971 gegründete Bundesstiftung Hans Kelsen-Institut mit Sitz in Wien hat der Reinen Rechtslehre national und mittlerweile auch international gebührende Anerkennung verschafft. Die Schriften Kelsens werden in den nächsten Jahren in einer dreißigbändigen Werkausgabe neu aufgelegt.76 Es ist wohl nicht zuletzt der Kontext der EUropa-Debatte, der den Rahmen für dieses neue Interesse am Wiener Juristen und Politikwissenschaftler Kelsen bildet. Zum einen liefert seine Theorie zentrale Anhaltspunkte zur Klärung des umstrittenen Verhältnisses zwischen Unions- und Staatenrecht,77 zum anderen enthält sie maßgebliche Anregungen für einen konstruktiven Umgang mit den identitätspolitischen Herausforderungen eines plurikulturell verfassten Europas. Und das insbesondere dadurch, weil sie zeigt, dass sich durch die abstrakte Handhabung von Allgemeinbegriffen die Verhandelbarkeit von Differenzen seinsweltlicher Art vergrößert. Die ‚normative Theorie‘ verweist auf ein Solidaritätsmodell, das Identität nicht aufgrund vorgeblicher Seinsmerkmale, sondern durch individuelles Handeln stiftet. Da Kelsen in diesem Sinne die substanzialisierten Staats-, Nations- und Volkskonzepte des 19. Jahrhunderts überwand, um sie im Rahmen einer Theorie der ‚Demokratie als Differenz‘ funktional zu fassen, wird er zu Recht als Theoretiker der Pluralität für das sich integrierende Europa des 21. Jahrhunderts neu entdeckt.78 Dass Kelsens Œuvre nicht vergessen wurde, ist nicht zuletzt den Arbeiten von Horst Dreier, Clemens Jabloner, Matthias Jestaedt, Oliver Lepsius, Stanely L. Paulson, Michael Stolleis, Robert Walter und vielen anderen zu verdanken, die nach zaghaften Anfängen einer längst überfälligen KelsenRenaissance den Weg geebnet haben.
4.3 D IE R EINE R ECHTSLEHRE
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Die konziseste Darstellung der Reinen Rechtslehre, die schon mit seiner Schrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911)79 in Grundzügen vor-
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Schmidt bezieht sich nicht auf Kelsen. Vgl. Arno WASCHKUHN, Demokratietheorien. Politiktheoretische und ideengeschichtliche Grundzüge, München– Wien 1998. Manfred G. SCHMIDT, Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 32006. Vgl. Hans KELSEN. Werke, hg. von Matthias Jestaedt [Hans-Kelsen-Forschungsstelle an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg] in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut, Tübingen 2007ff. Vgl. DREIER, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 103f. Vgl. Robert Christian VAN OOYEN, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, Berlin 2003 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 125), und Oliver LEPSIUS, Wiedergelesen. Hans Kelsen: Allgemeine Staatslehre, 1925, in: Juristen Zeitung 59, 1(2004), S. 34–35. Hier heißt es: „Kelsens Demokratietheorie ist eine frühe Pluralismustheorie.“ (S. 35) Hans KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911.
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lag,80 bot Kelsen in der Vorrede zur zweiten Auflage (1923) und in dem Buch Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922). Die nachfolgende Skizze vermag in ihrer Kürze die ‚normative Theorie‘ natürlich nicht erschöpfend darzustellen, sie versteht sich vielmehr als Hinführung zum wissenschaftshistorischen Grundproblem dieser Arbeit, dem Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Kultur. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Kelsen mit der Reinen Rechtslehre die Begriffe von Recht und Staat völlig neu definierte. Wohin ihn diese Neudefinition führte, wurde bereits angedeutet: Durch die Zurückweisung der heteronomen Tendenzen in der Jurisprudenz verschaffte Kelsen ihr jenen selbstreflexiven Spielraum, durch den sie als relativ autonome Wissenschaft – zumindest potenziell – in das ‚Schicksal‘ der Demokratie eingreifen konnte. Denn: Spielte die Wissenschaft ihr Spiel und nicht das der Politik, so war sie Letzterer auch nicht verpflichtet. Allein unter dieser Voraussetzung konnte die Rechtswissenschaft Verletzungen der normativen Ordnung durch politische Übergriffe (von welcher Seite auch immer) als Systemwidersprüche aufzeigen. Um dieses Argument weiter entfalten zu können, werden die machtkritischen Dimensionen der ‚normativen Theorie‘ und wahlverwandter Konzepte älteren Diskursen zum Verhältnis von Politik und Rechtswissenschaft gegenübergestellt. Dass die Reine Rechtslehre in Österreich entwickelt wurde, kam – so eine weitere Hypothese – nicht von ungefähr. Zunächst werden drei Grundprinzipien der Kelsenschen Theorie erörtert: der grundlegende Gegensatz von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, der Kampf gegen den „Methodensynkretismus“81 und der Grundsatz der Identität von Staat und Recht. 4.3.1 Rechtsfragen: Der grundlegende Gegensatz von Sein und Sollen Die Tatsache, dass etwas sei, begründete für Kelsen nicht zugleich, dass etwas auch sein sollte, wie auch umgekehrt aus der Aussage, dass etwas sein sollte, nicht die Schlussfolgerung gezogen werden könne, dass etwas sei. (RR2, S. 5)82 In der Reinen Rechtslehre traf er daher die Unterscheidung
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Diese Abhandlung beschränkt sich im Wesentlichen auf die Zeitspanne der Ausformulierung der normativen Theorie zwischen den Hauptproblemen (1911/1923) und der ersten Auflage der Reinen Rechtslehre (1934). Zur Periodisierung vgl. u.a. JESTAEDT, Von den ‚Hauptproblemen‘ zur Erstauflage der ‚Reinen Rechtslehre‘, S. 321–338. Stanley L. PAULSON, Introduction, in: DERS., Bonnie Litschewsky PAULSON (eds.), Normativity and Norms. Critical Perspectives on Kelsenian Themes, Oxford 1998, S. XXII–LIII. DERS., Review: Four Phases in Hans Kelsen's Legal Theory? Reflections on a Periodization, in: Oxford Journal of Legal Studies 18, 1(1998), S. 153–166. Vgl. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, u.a. S. 53, S. 294, S. 296. Vgl. auch den Hinweis auf die durch Kants Vernunftkritik bestimmte Methode des Dualismus von Sein und Sollen, in: KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. VII.
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zwischen empirischer Seinsordnung und normativer Sollensordnung, und nur mit Letzterer habe sich die Jurisprudenz zu befassen. Das juridische Erkennen habe sich auf das zu beschränken, was im Bereich des Rechts liege. Ihre Aufgabe war Kelsen zufolge jedoch nicht die Bestimmung dessen, was in ihm sein sollte. Hierin setzte er sich entschieden vom älteren Rechtspositivismus ab, dem er vorwarf, das ‚Sollen‘ in seiner soziologischen Dimension in die Rechtslehre integriert zu haben, was in methodologischer Hinsicht grobe Fehler nach sich gezogen habe. Zwar bestritt er bereits in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre (1911) keineswegs, dass das Recht auf soziale Tatsachen reagierte. Aber schon hier, in seinem ersten großen Werk, bildete die Forderung nach einer definitiven Trennung der wissenschaftlichen Aussagen über das Recht (Sollen) von jenen über soziale Tatsachen (Sein) die Grundlage für alle weiteren Argumente seiner Rechtslehre. Um eine sich der „Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie“ (RR, S. III) zu begründen, griff Kelsen auf das u.a. von Kant reformulierte Hume’sche Gesetz der Dichotomie von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ zurück. Mit Hilfe dieser Voraussetzung trennte er die Jurisprudenz von nichtjuristischen Elementen moralisch-politischer, metaphysischer und naturwissenschaftlich-empirischer Art. Der Sein-Sollen-Dualismus stellte für ihn ein Abgrenzungsinstrument der Disziplinen dar. Die jeweilige Zuteilung ergab sich durch das, was eine Wissenschaft als ihren Gegenstand definierte: Je nachdem, ob sich dieser auf das ‚Sein‘ oder ein sittliches, rechtliches oder ästhetisches ‚Sollen‘ bezog, unterschied er zwischen Kausal- oder explikativen Wissenschaften und den ‚Normwissenschaften‘. In den Kausalwissenschaften sei das kausal geordnete ‚Sein‘ eins mit der Wirklichkeit, der Natur, das Kausalgesetz sein Ausdruck; für die Erschließung des ‚Seins‘ lieferten die Naturwissenschaften die Methoden. Der Jurisprudenz, die sich mit dem ‚Sollen‘ zu beschäftigen habe, wies er im Gegenzug ein für sie als ‚Normwissenschaft‘ charakteristisches Methodeninventar zu: Nicht die ‚Kausalität‘, sondern die ‚Zurechnung‘ bildete das Betrachtungsprinzip. Unter Zurechnung verstand er die Verknüpfung zweier Tatsachen durch einen Sollsatz. Die Aufgabe der Jurisprudenz war es seiner Ansicht nach daher nicht, durch Anwendung explikativer Methoden tatsächliches, in der Welt des ‚Seins‘ vorhandenes Wissen zu erschließen,83 sondern das Inventar positivrechtlicher Anordnungen bzw. Normen zu analysieren. Darin spiegelt sich seine Auffassung von der „Eigengesetzlichkeit des Rechtes gegenüber der Natur oder einer nach Art der Natur bestimmten sozialen Realität“.84 Die unverrückbare Grundlage hierfür bestand für Kelsen darin, dass das „positive Recht – im Verhältnis zur Natur, d.h. zu dem kausal bestimmten tatsäch83
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Vgl. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. VI, und DERS., Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode. Vortrag, gehalten in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien (Original 1911), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 3–36, hier S. 8f. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. VI.
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lichen Verhalten der Menschen – [allein] ein Sollen“ wäre.85 Der Sollenscharakter der Rechtsnormen würde dadurch, dass die auf ihnen beruhenden Willensakte (Gesetz, Urteile) Seins-Tatsachen wären, nicht aufgehoben. Die Rechtswissenschaft müsse aber der Versuchung widerstehen, in die Welt des ‚Seins‘ abzuschweifen, weil sie damit nicht nur auf die Ausformulierung einer spezifischen Methode, sondern auch auf ihre relative Autonomie verzichtete. Vom ‚Sein‘ durfte kein Weg zum ‚Sollen‘ führen, wie auch vice versa.86 4.3.2 Wider den Methodensynkretismus Während die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts noch gewohnt war, normative Probleme explikativ zu lösen, gab Kelsen diesen Anspruch auf. Damit verfolgte er u.a. das Ziel, den für seine ‚juristische Methode‘ unhaltbaren, von ihm so bezeichneten „Methodensynkretismus“ zu verabschieden. Kelsen strebte nach der „Methodenreinheit“: Die Aufgabe der Jurisprudenz sah er in der Analyse dessen, was und wie Recht ist, nicht aber in dem synthetisierenden Blick darauf, was Recht sein soll. Die Rechtslehre durfte sich nicht als Rechtspolitik verstehen; sie war Wissenschaft, und als solche zunächst eine Rechtsformenlehre.87 Der Anspruch auf Methodenreinheit setzte für Kelsen eine Selbstbeschränkung der Jurisprudenz voraus: Sich auf den neukantianischen Wissenschaftsbegriff Marburger Provenienz beziehend, argumentierte er, dass man den Staat nicht gleichzeitig soziologisch und juristisch, als Herrschaftsverband und als normative Ordnung, definieren dürfe: Denn wenn es die Methode ist, die den Gegenstand der Erkenntnis bestimmt (und davon war er überzeugt), könne der Staat nicht legitimes Objekt zweier rechtswissenschaftlicher Zugriffe sein. Die schon erwähnte „Zwei-Seiten-Theorie“ der traditionellen Staatsrechtslehre verletzte für Kelsen somit den Grundsatz der Einheit des Gegenstandes.88 Er forderte daher nicht unpolemisch die Aufkündigung des „Methodensynkretismus“ als „eines der charakteristischen Zeichen dieser Zeit“.89 Dieser sollte durch die saubere Trennung der juristischen von aller nichtjuristischen Materie zugunsten eines vereinheitlichten, normierten logischen Systems überwunden werden. Von der Annäherung an das „wahrhaft Normative“90 auf der Basis einer systematischen „juristischen
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KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1723. Vgl. Fritz SCHREIER, Die Wiener rechtsphilosophische Schule, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 11 (1922/23), S. 309–328, hier S. 310, und KELSEN, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 6. Kelsen bezeichnete sie auch als „Geometrie der totalen Rechtserscheinung“. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. 93. Vgl. LEPSIUS, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 158–162. KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1724. WEYR, Reine Rechtslehre und Verwaltungsrecht, S. 376.
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Methode“ versprach sich Kelsen eine Erweiterung der Autonomie der Jurisprudenz, sowohl von den Kausalwissenschaften als auch von der Politik: „und zwar erstmalig und […] definitiv“, wie sein Brünner Mitstreiter Franz Weyr vermerkte.91 4.3.3 Staatsfragen: Die Verwerfung des Dualismus von Staat und Recht Ausgehend von dem Dualismus von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ hatte Kelsen das Recht als eine normative Ordnung definiert; und zwar nicht im metaphysischen, sondern im Sinne einer „Zwang anordnenden Norm“ (RR, S. 25), genauer: einer „souveränen Zwangsordnung menschlichen Verhaltens“.92 Diese Trennung ergänzte Kelsen durch einen Schachzug, der die herrschende „Staatsrechtslehre“ – ein Begriff, den er zusehends stärker angriff 93 – zutiefst herausforderte: In der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Hauptprobleme (1923) identifizierte er explizit das Recht mit dem Staat, den er „als relativ höchste Zwangsordnung menschlichen Verhaltens“ definierte.94 Da sich beide als dieselben Zwangsakte begreifen ließen (RR, S. 117), waren beide auch Gegenstand einer Art von Erkenntnis, nämlich der normativjuristischen.95 (RR, S. 127) Die zentrale These von der Übereinstimmung (Identität) von Staat und Recht vertiefte der Wiener Jurist im Jahr 1922 in seiner Schrift Der soziologische und der juristische Staatsbegriff,96 um schließlich in der Reinen Rechtslehre (RR, S. 117–128; RR2, S. 288–320) zu argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Staat und Recht nur eine – nämlich ideologische – Funktion erfüllte. Die Jurisprudenz des Spätkonstitutionalismus hatte Staat und Recht voneinander getrennt. Der Staat wurde auch als materieller Zwangsapparat sowie (im negativen Sinne laut Kelsen) auch als Macht ausübender ‚Makroanthropos‘ (‚Übermensch‘) definiert. Unter Recht wurde die normative Ordnung als Inbegriff von Regeln, Geboten und Verboten verstanden. An Kelsens Insistieren auf dem Umstand, dass es keine der Rechtsordnung vorgängige, reale ‚Staat‘ zu nennende Instanz geben könne, wird deutlich, dass seine gesamte, hoch präzise Argumentation letztlich ein zutiefst politisches Plädoyer dafür ist, dass es eine solche Instanz nicht geben dürfe: Da „gewisse oberste Organe“ des autokratischen oder absolutistischen Staats daran interessiert wären, die existierende Ordnung dem Zeitgeist entsprechend als rechtmäßige Einrichtung – als Rechts-
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Ebenda, S. 372. Hans KELSEN, Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung, Wien 1926, S. 3, und vgl. RR, S. 25f., bzw. RR2, S. 34–36. Vgl. hierzu u.a. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 217. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. XVI. Aber nicht jede Rechtsordnung sei Staat. Staat hieße dieselbe dann, so Kelsen, wenn sie einen gewissen Grad von Zentralisation erreicht habe. (RR, S. 118) KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 114–132.
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ordnung – zu rechtfertigen, müsse die Rechtswissenschaft besonders auf der Hut sein, um nicht dem alten, „gegen das demokratische Volksrecht gerichteten“ System in die Hände zu spielen.97 Wenn man in der so genannten Staats-‚Rechts‘-Lehre an die Stelle des Monarchen den Staat setzte, so habe sich an der Rechtswidrigkeit dieser Ordnung nichts geändert: Denn eine Institution, die auch jenseits des Rechts existiert und im rein juristischen Sinn damit als solche ‚metarechtlich‘ ist, könne nicht rechtmäßig Recht setzen.98 Man missverstehe ein nichtdemokratisches System als Staatsrechtsordnung und erkenne ihm zugleich das Recht zu, rechtmäßig zu sein. Georg Jellinek habe in seiner Allgemeinen Staatslehre (1900)99 mit seiner „Zwei-SeitenTheorie“ – so Kelsens Standpunkt – Staat (Herrschaftsverband) und Recht (normative Ordnung) begrifflich verdoppelt.100 Der Widerlegung dieser Theorie widmete Kelsen große Anstrengungen.
4.4 D IE S TAATSLEHRE G EORG J ELLINEKS Das eindrucksvollste Zeugnis für jenen Staatsbegriff, den Kelsen so scharf angriff, hatte Georg Jellinek mit seinem Standardwerk zur Allgemeinen Staatslehre geliefert. Der einflussreichste deutschsprachige Staatswissenschaftler der Jahrhundertwende differenzierte zwar so wie Kelsen zwischen ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, er sprach allerdings von einer empirisch-deskriptiven und einer normativen Seite des Staates. Zugleich beobachtete er, dass „das Faktische überall die psychologische Tendenz hat, sich in Geltendes umzusetzen“.101 Diesen Umstand begründete er wie folgt: „Alles Recht in einem Volke ist ursprünglich nichts als faktische Übung. Die fortdauernde Übung erzeugt die Vorstellung des Normmäßigen dieser Übung.“102 Auf diese Art und Weise entwickelte er das ‚Sollen‘, die Norm, aus der Anerkennung des ‚Seins‘, der Faktizität, durch die Normunterworfenen, und verletzte damit Kelsens höchstes Gebot: die Trennung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘. Jellinek begriff den Staat sowohl als „gesellschaftliches Gebilde“ („sozialer Staatsbegriff“) als auch als „juristische Institution“ („juristischer Staatsbegriff“). Diese verschiedenen Seiten seines Wesens bildeten zwei Gesichtspunkte, „unter denen der Staat betrachtet werden kann“:103 Aufgrund
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KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 137f., und DERS., Über Staatsunrecht, S. 5. Vgl. ebenda. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1900. Konzise Überblicksdarstellungen über Jellineks Staatslehre lieferten zuletzt Jens KERSTEN, Georg Jellinek und die Klassische Staatslehre, Tübingen 2000, und MÖLLERS, Staat als Argument, S. 12–35. Vgl. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 1–3. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Berlin 31929, S. 339f. Diese Auflage wird hier weiter verwendet. Ebenda, S. 339. Ebenda, S. 11.
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dieses dualisierten Staatsbegriffs zerfiel die Staatslehre in zwei Bereiche: Zum einen war der Staat (als ein und dasselbe Objekt) Gegenstand der „Allgemeinen Soziallehre des Staates“, zum anderen aber auch Objekt der „Allgemeinen Staatsrechtslehre“, was zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen – eine kausale und eine normative – notwendig machte: Als „soziale Erscheinung“ war der Staat unter historisch-politischem Blickwinkel zu analysieren, als „Staatsrechtslehre“ durfte die Allgemeine Staatswissenschaft aber „weder psychologisch, noch naturwissenschaftlich, weder empirisch, noch realistisch“, sondern „ausschließlich juristisch“ verfahren.104 Von juristischer Seite musste sie sich als eine Wissenschaft des ‚Seinsollenden‘ verstehen: „Die Rechtswissenschaft ist daher eine Normwissenschaft, ähnlich wie die Logik, die uns nicht lehrt, was die Dinge sind, sondern wie sie gedacht werden müssen, um eine in sich widerspruchslose Erkenntnis hervorzurufen.“105 Aufgabe der „Allgemeinen Staatslehre“ war es sonach, „den Staat nach allen Seiten seines Wesens zu erforschen“, und zwar unter Anwendung der für jede Seite spezifischen Methoden. Die Vermischung der juristischen Seite des Staates mit seiner sozialen, d.h. „dem, was vor dem Rechte liegt,“106 erachtete Jellinek also ebenso wenig zielführend107 wie einen Ausschließlichkeits- und Monopolanspruch auf „die einzig richtige Erklärungsart des Staates“.108 Diese dualisierende Sicht auf den Staat war nicht neu: Die Unterscheidung zwischen beschreibender Naturlehre des Staates (Staatenkunde), normativer Staatsrechtslehre und wertender ‚Politik‘ war schon ein Charakteristikum älterer Staatslehren gewesen.109 Als zukunftsweisend erwies sich aber Jellineks Anstrengung, die ‚sozialwissenschaftliche‘ Methode offensiv in eine übergreifende Wissenschaft vom Staat, in der sich juristische und soziologische Zugänge ergänzten, zu integrieren,110 um seine Wissenschaft vor verzerrenden Befunden zu bewahren.111 Um die Staatsrechtswissenschaft wieder stärker an die Tatsachenwelt rückzubinden, wich er allerdings von der logisch-systematischen Dogmatik Paul Labands ab. Jellinek konzedierte zwar, dass man auch mit der formalen Logik „zur Zeichnung staatsrechtlicher Bilder“ käme; er fügte aber hinzu, dass „denen in der Wirklichkeit der Dinge gar nichts“ entspräche.112
104 Georg JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Freiburg im Breisgau 1892, S. 184–190, hier S. 33. 105 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 138. 106 Ebenda, S. 11. 107 Vgl. ebenda, S. 136–140. 108 Ebenda, S. 12. 109 Vgl. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2, S. 453, und Walter PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus. Ein Beitrag zu Entwicklung und Gestalt der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert, Tübingen 1993 (Jus publicum 7), S. 115–121. 110 Vgl. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 138. 111 Vgl. ebenda, S. 12. 112 Ebenda, S. 17.
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4.4.1 Der Jellineksche Staatsbegriff Georg Jellinek hatte – wie gesagt – den Staat in seiner Janusköpfigkeit definiert: Zum einen war er ein Verband mit höchster Willensmacht, der durch das Vorhandensein einer Herrschergewalt sowie von Herrschaftsbeziehungen gekennzeichnet war: „Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“113 von hoher Organisationsstufe (im evolutionistischen Sinne) und großer Differenziertheit. Zum anderen manifestierte sich der Staat für Jellinek aber auch als eine juristische Persönlichkeit (als Rechtssubjekt): „Als Rechtsbegriff ist der Staat demnach die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes oder, [...] die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft.“114 Diese juristische Definition unterschied sich von der soziologischen verblüffend geringfügig, denn auch aus juristischer Perspektive definierte Jellinek den Staat über die Faktizität („Gewalt“, „Volk“, „Gebiet“115). Die normative Seite des Staates wurzelte aber letztlich im Seinsfaktum, wodurch der Staat, so Kelsens Kritik, als ein reales rechtsschöpfendes, tragendes und realisierendes Wesen vorgestellt werde, „als die wirkende Kraft und darum als Macht oder Gewalt […], die hinter dem ,Rechte‘ steht, um dieses aus seiner Sphäre der Idealität in die Realität zu setzen.“116 Die verbindende Klammer zwischen der sozialen und der juristischen Seite des Staates bildete in Jellineks Staatslehre vor allem die Theorie von der „normativen Kraft des Faktischen“117: „Die Umwandlung der zunächst überall rein faktischen Macht des Staates in rechtliche erfolgt stets durch die hinzutretende Vorstellung, daß dieses Faktische normativer Art sei, daß es so sein solle, wie es ist.“118 Sonach verkoppelte Jellinek über die „normative Kraft des Faktischen“ norm- und seinsweltliche Argumente, diese Denkfigur zeigte aber auch den Vorrang der Seinswelt, die auf das Normative bestimmend wirkte, auf: „Daher kann die einer späteren Zeit noch so unbillig scheinende Machtverteilung in einem Gemeinwesen“, so Jellinek,
113 Ebenda, S. 180f. 114 Ebenda, S. 183. 115 Auch Max Weber definierte die „politischen Gemeinschaften“ über einen klaren Gebietsanspruch. Er verstand darunter die „gewaltsame Behauptung der geordneten Herrschaft über ein Gebiet und die Menschen auf demselben“. Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden. Band 22, 1, S. 204. Alle politischen Gebilde seien „Gewaltgebilde“ (S. 222). In Weber fand Jellinek während seiner Heidelberger Jahre (1891–1911) einen regelmäßigen wissenschaftlichen Gesprächspartner. 116 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 2. 117 Vgl. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 337–344. 118 Ebenda, S. 342f., und vgl. VAN OOYEN, Der Staat der Moderne, S. 29.
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die Ausbeutung abhängiger Klassen durch die herrschenden in vollem Maße Rechtscharakter gewinnen nicht nur in dem Sinne, daß sie von der Macht geboten, sondern auch dadurch, daß sie von dem Unterworfenen anerkannt wird. [...] Hinzutreten zu der Überzeugung von dem Faktischen als dem Normativen müssen sodann, um den Rechtsbegriff zu vollenden, Garantien des also in den Machtverhältnissen ausgeprägten Rechtes.119
Die Vorstellungskraft des Subjekts entschied demnach letztlich darüber, was es als legitim wahrnahm.120 Die Vielzahl individueller Willensverhältnisse bildete die Schaltstelle zwischen der normativen Ordnung des ‚Sollens‘ und den faktischen Verhältnissen des ‚Seins‘, wodurch der Staat zu einer „Funktion der menschlichen Gemeinschaft“ wurde. Aus dieser Perspektive war er die „Summe bestimmter in Tätigkeiten sich äußernder sozialer Beziehungen zwischen Menschen“, also Menschenwerk, und nicht ein „neben oder über den Menschen stehendes natürliches Gebilde“.121 Daneben wurde der Staat von Jellinek aber als eine mit „ursprünglicher“, d.h. nicht ableitbarer „Herrschermacht“ ausgestattete „Körperschaft“, als souveränes Organ und als „die von Einem machtvollen Willen getragene herrschaftliche Organisation eines sesshaften Volkes“ konstruiert.122 War für Jellinek die staatliche Macht (Herrschergewalt) eine unbedingte, so sollte Kelsen im Herrschaftsmonopol des Staates überhaupt kein Staatsmerkmal erblicken: „Herrschen heißt aber die Fähigkeit haben“, erklärte Jellinek, seinen Willen anderen Willen unbedingt zur Erfüllung auferlegen, gegen ander[e]n Willen unbedingt durchsetzen zu können. Diese Macht unbedingter Durchsetzung des eigenen Willens gegen anderen Willen hat nur der Staat. Er ist der einzige kraft ihm innewohnender ursprünglicher, rechtlich von keiner anderen Macht abgeleiteter Macht herrschende Verband.123
Die ‚Herrschaft‘ war als das hervorstechendste Attribut des Staates auch eines der zentralen Objekte, denen sich die deutsche Staatsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte. Carl Friedrich von Gerber (1823–1891) hatte das Wort „Herrschen“ als „einen specifisch dem Staatsrechte angehörenden Begriff“ bestimmt;124 ebenso hatte auch Paul
119 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 342f. 120 Der Blick auf die Faktizität war nach Jellineks erkenntnistheoretischer Grundvorstellung subjektgebunden und nicht apriorisch, das heißt, dass das ‚Sein‘ nicht voraussetzungslos erkennbar war. Vgl. LEPSIUS, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, S. 324f. 121 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 174f. 122 Georg JELLINEK, Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Freiburg im Breisgau 1887, S. 190. 123 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 124 Carl Friedrich von GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, Leipzig 21869, S. 3.
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Laband (1838–1918) – neben Gerber der Hauptverfechter des positivistischen Staatsrechts im Deutschen Kaiserreich – den Standpunkt vertreten, dass „Herrschen“ einen signifikanten Inhalt der Staatsgewalt bildete: „Der Staat allein herrscht über die Menschen.“125 4.4.2 Jellineks Vorläufer Georg Jellinek, der in beider Tradition stand, überhöhte den Staat zu einem Subjekt mit Herrschermacht. Während Laband den Begriff ‚Herrschaft‘ noch auf das juristische Walten des Staates bezogen hatte, versah Jellinek den Staat über seinen sozialen Staatsbegriff mit einem Willen, durch den er seine „ursprüngliche Herrschermacht“ auszudrücken vermochte: „Der Staat ist die von Einem machtvollen Willen getragene herrschaftliche Organisation eines sesshaften Volkes.“126 Mit Hilfe der Staatswillensvorstellung wurde der Staatsgewalt die Vormacht über eine Vielzahl individueller Willensverhältnisse zugewiesen: „Sein [des Staates, J.F.] Willen hat allein die Kraft“, so bereits Laband, „den Willen der Individuen zu brechen, über Vermögen, natürliche Freiheit und Leben derselben zu verfügen.“127 Die „Willensmacht des Staates“ sei, so Gerber, die „Macht zu herrschen“: „Sie heißt Staatsgewalt“ und sei das Recht des Staates. Damit war das Staatsrecht als eine „Ordnung höherer Art“ definiert.128 Hier zeigt sich, dass schon Gerber und Laband, die Zentralfiguren des deutschen Staatsrechtspositivismus,129 das staatliche „Recht zu herrschen“130 (und damit auch die als legitim empfundene Herrschaftsordnung) mit der Autorität der Wissenschaft ummantelt hatten. Gerber, dessen politischer Standpunkt als antidemokratisch, antiparlamentarisch und antisemitisch bezeichnet wird,131 hatte in seiner Staatslehre nicht daran gezweifelt, „dass der organische Staat der constitutionellen Monarchie als der Inhalt der gegenwärtig bestehenden allgemeinen Rechtsüberzeugung des deutschen Volks angesehen werden muss.“132 An die politische Legitimationsfunktion, die der Staatsrechtspositivismus für sich – seiner vermeintlichen Ideologiefreiheit zum Trotz – in Anspruch genommen hatte, erinnerte neben anderen133
125 Paul LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band 1, Tübingen 5 1911, S. 69. 126 JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 190. 127 LABAND, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band 1, S. 69. 128 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 3, S. 7. 129 Vgl. LINDENFELD, The Practical Imagination, S. 202–204, S. 257–260. 130 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 220. 131 Vgl. Claus-Ekkehard BÄRSCH, Der Gerber-Laband’sche Positivismus, in: Martin J. SATTLER (Hg.), Staat und Recht. Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert, München 1972 (Staat und Recht 1512), S. 43–71, hier S. 60. 132 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 10. 133 Auch Claus-Ekkehard Bärsch betont, dass die positivistische Methode „deshalb so viel Anklang und konsequente Anwendung fand, weil für den Geist ihrer ‚Erfinder‘ eine gewisse Sympathie für die herrschenden Mächte von vornherein
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Peter von Oertzen (1924–2008) in seiner überzeugenden Studie Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus (1974): „‚Hinter der neutralen Maske des Positivismus ist die sehr politische Parteinahme für die herrschende Staatsordnung des monarchisch-konstitutionellen Systems unverkennbar.‘“134 Zwar hätten die Vertreter der Gerber-Laband-Schule betont, ‚rein juristisch‘ zu handeln, wirkmächtig sei ihre „‚streng juristische‘ Staatsrechtslehre“ aber auf zweierlei Art geworden: als Instanz, die die Jurisprudenz durch die bewusste Selbstbeschränkung auf die Welt der Normativität verwissenschaftlichte, während Politik – wie Michael Stolleis schreibt – „die negative Färbung von ‚parteilich‘ und ‚parteipolitisch‘, also ‚unwissenschaftlich‘, annahm“; aber auch als eine Wissenschaft, die „keineswegs so unhistorisch und unpolitisch in begriffsjuristischen Kategorien“ dachte, wie ihr dies nachgesagt wurde.135 Vielmehr erwarb sie sich unter vorgehaltener Hand das Verdienst der „‚Legitimierung des gouvernementalen status quo‘“ und der „,Evasion vor politischen Schwierigkeiten‘“.136 Georg Jellinek, der vielleicht typischste Vertreter der Ära des Spätkonstitutionalismus, war weder Demokrat noch Republikaner,137 und er war wohl auch nicht der letzte Vertreter des Staatsrechtspositivismus, der „Sympathie für die herrschenden Mächte“ gezeigt hatte.138 So wie Jellinek den Staat unverblümt als Machtfaktor konzipierte, so legitimierte seine Staatsrechtslehre auch die aktuellen politischen Machtverhältnisse. Als Mittel zum Zweck diente ihm die juristische Personenmetapher,139 mit deren Hilfe der Staat als
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charakteristisch war.“ BÄRSCH, Der Gerber-Laband’sche Positivismus, S. 56. Der deutsche Politikwissenschaftler präzisiert, „daß der Rechtspositivismus leicht zur wissenschaftlichen Legitimation der herrschenden politischen Mächte“ dienen konnte. Gerber, Laband und wohl auch Jellinek hätten die „Allianz zwischen Macht und Rechtspositivismus“ faktisch vollzogen. Vgl. DERS., Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, Berlin 1974 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 20), S. 45, S. 61f. OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, S. 321, und Heinrich HEFFTER, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 737. STOLLEIS, Staatsrechtslehre und Politik, S. 12. OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, S. 321, und Carl SCHMITT, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, S. 6f. Vgl. dazu LINDENFELD, The Practical Imagination, S. 260–263. Vgl. Klaus KEMPTER, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998 (Schriften des Bundesarchivs 52), S. 321. Zu Jellineks Biografie vgl. Martin SATTLER, Georg Jellinek (1851–1911). Ein Leben für das öffentliche Recht, in: Helmut HEINRICHS [u.a.] (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 355–368. BÄRSCH, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre, S. 62. Zur Genealogie und Metapher der Staatspersönlichkeit im positivistischen Staatsrecht vgl. Albrecht KOSCHORKE [u.a.], Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main 2007, S. 338–344, S. 370–376.
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Wesen gedacht und auf das die Souveränität verlagert werden konnte. De facto herrschte allerdings in dem zum Souverän aufgewerteten Staat weiterhin der Monarch. Jellinek war ein offener Anhänger der obrigkeitsstaatlichen Souveränität, der sich die ‚naiven‘ Bürger bzw. das nur angeblich willensfähige Volk, unterzuordnen hatte. In Hegel, der dem Staat quasigöttliche Züge verliehen hatte,140 fand Jellinek einen Vorläufer, in Max Weber vielleicht einen Nachfolger. Auch Weber sah im Staat das „Monopol legitimen physischen Zwanges“ innerhalb eines begrenzten Territoriums verkörpert, durch das ein „auf Legitimität gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“ aufgerichtet würde.141 In Deutschland repräsentierte das dem Obrigkeitsstaat verpflichtete Staatsrecht des Spätkonstitutionalismus die geltende Herrschaftsauffassung. Sie fand in Jellineks Staatsrechtslehre eine vollendete Zusammenfassung. Diese Wende zur ‚Staatsvergottung‘ hatte die aufstrebende Staatsrechtslehre in der Habsburgermonarchie allerdings nicht im selben Ausmaß vollzogen. In ihr blieb die Herrschergewalt der Dynastie das markanteste Merkmal einer besonderen Art von Staatlichkeit.142 Vor diesem Hintergrund erachtete der Wiener Staatsrechtsprofessor, Historiker und Politiker Joseph Redlich (1869–1936) das „Irregehen der deutschen Staats- und Rechtslehrer“, „die den preußisch-österreichischen ‚Obrigkeitsstaat‘ mit dem ‚Staat‘ identifizierten“, als bedauernswert. In dieser „ganzen deutschen Staatsscholastik“ entlarvte Redlich den ideologischen Zweck der Wahrung doktrinärer Obrigkeitsstaatlichkeit, für die sich die Vertreter des staatsrechtlichen Positivismus verwendet hätten: Der „Herr Professor Georg Jellinek“ habe dieser juristischen Methode der Staatslehre, die seit 1867/70 entstanden war, so Redlich, einen „erkenntniskritischen“ und philosophischen Anstrich verliehen.143 140 Hegel hatte den Staat als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ definiert. Er sah in Staat (und Volk) die Verkörperung des die Geschichte durchwehenden „Weltgeistes“. Georg Wilhelm HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit Hegels eigenhändigen Randbemerkungen in seinem Handexemplar der Rechtsphilosophie, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 51995 (Philosophische Bibliothek 483) (Original 1820), S. 207 (§ 257) und S. 288–297 (§§ 341– 360). 141 WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 1, 41956, S. 39 [§ 17] 142 Joseph von Eötvös zufolge verdankte sich der österreichische Staatskomplex der Herrschaftshoheit der Dynastie. Die Staatsbildungsversuche der Stände waren im 17. Jahrhundert im Sand verlaufen. Die Grundlage bildete daher das erbliche Sukzessionsrecht der Habsburger (1627/28, 1687): „Oesterreich ist Eins, weil die verschiedenen Theile der Monarchie alle monarchisch sind und weil in allen das legitime Recht dieselbe Person als Herrscher bezeichnet“. EÖTVÖS, Die Garantien der Macht und Einheit Oesterreichs, S. 90. Habe anderswo die Macht des Monarchen auf der Staatseinheit beruht, so sei es in der Habsburgermonarchie umgekehrt gewesen. 143 Joseph Redlich an Hermann Bahr, Wien 16.11.1920, in: Dichter und Gelehrter. Hermann Bahr und Josef Redlich in ihren Briefen 1896–1934, hg. von Fritz Fellner, Salzburg 1980 (Quellen zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 2), S. 433–436, hier S. 434.
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Jellineks Werk besaß in der Staatsrechtslehre einen so überragenden Stellenwert, dass Hans Kelsen in seiner Schrift Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922), die er der Widerlegung des Heidelberger Juristen widmete, den Standpunkt vertreten konnte, dass „mit der Theorie Jellineks [...] die herrschende Lehre“144 fallen musste. Die Kritik, zu der Kelsen anhob, war vehement und umfassend: Wenn der Staat kein ‚Ding‘ war, das sich soziologisch und juristisch beschreiben ließ, so kippte damit auch – wie zu zeigen sein wird – die so genannte „Selbstverpflichtungstheorie“ des Staates. Auch sollte Kelsen die Vorstellung der „ursprünglichen Herrschermacht“ als eine juristische Fiktion entzaubern und die „Verbandseinheit“ als eine verworrene Charakterisierung dessen enthüllen, was juristisch als „Körperschaft“ definiert worden war.145 Der Staat erschöpfte sich in einer Seite, der juristischen. Kelsen entwickelte seine kritisch-positivistische Staatsbzw. Staatsrechtslehre in Abwendung vom dem Obrigkeitsstaat verpflichteten Positivismus, und Georg Jellinek war seine Zielscheibe. Die Rechtswissenschaft sollte endlich ihre Allianzen mit der Politik aufgeben, um sich dem Ideal autonomer Wissenschaft anzunähern. Kelsens Angriff zielte im Besonderen auf den Jellinekschen Staatswillensbegriff, den er letztlich völlig verwarf.
4.5 D ER S TAATSWILLENSBEGRIFF ALS Z ENTRUM DER AUSEINANDERSETZUNG Zur Revision des Willensbegriffs der deutschen Staatsrechtspositivisten hatte den Wiener Juristen die Ansicht veranlasst, dass der vermeintlich einheitliche Wille, der dem angeblichen Organismus ‚Staat‘ Gerber zufolge innewohnte, anders gefasst werden musste als der Wille in psychologischer Hinsicht. Kelsen zufolge führte der psychologische Willensbegriff direkt zu jenem obrigkeitlichen Staatsbegriff, den er zu überwinden suchte. Im Folgenden wird die Staatswillensdefinition des deutschen Staatsrechtspositivismus erläutert und dem Kelsenschen Verständnis gegenübergestellt. In Deutschland wurde nach 1871 in relativ kurzer Zeit ein moderner, souveräner Machtstaat mit Anspruch auf umfassende Zuständigkeit etabliert.146 Diese Wandlungsprozesse in der deutschen Staatswirklichkeit bewirkten auch Veränderungen in der Staats- bzw. Staatsrechtswissenschaft. Die ältere Staatswissenschaft hatte den Staat nicht handlungsleitend interpretiert, sondern so darzustellen versucht, wie sie ihn vorfand. Sonach erfassten ihn ihre Vertreter weitgehend historisch-beschreibend, enzyklopä-
144 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 115. 145 Ebenda, S. 129f. 146 Vgl. OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, und PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 36–39.
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disch – seine rechtlichen Aspekte miteingeschlossen. Mit der sukzessiven Ausformung des modernen, imperialistisch-nationalen Machtstaates, der als ‚Willensverband‘ entworfen wurde und immer stärker in das soziale, ökonomische und kulturelle System intervenierte, veränderten sich allerdings Ziel, Ausrichtung und Gegenstand der Wissenschaft vom Staat. Die Staatsrechtswissenschaft, die sich im Deutschen Kaiserreich mit der Aufgabe der Konstruktion eines staatsrechtlichen Systems und der „Analyse der neu entstandenen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse“ konfrontiert sah,147 bezog sich zunächst auf die ‚juristisch‘ relevanten Willensverhältnisse.148 So wurde das Staatsrecht im Sinne „dogmatischer Wahrheiten jenseits von Geschichte und Politik“ als ein ‚geometrisches‘ System konzipiert,149 das den Staat als ‚rein juristischen‘ Willensverband zu betrachten erlaubte. Dieser ‚begriffsjurisprudenzielle‘ bzw. formalpositivistische Zugang erfuhr u.a. im Labandschen Axiom Ausdruck, dass für die dogmatische Staatsrechtslehre „alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen […] ohne Belang“ zu sein hätten.150 4.5.1 Carl Friedrich von Gerbers Staatswillensbegriff Der ‚Staatswille‘ war zum unumstößlichen Grundbegriff der neueren Staatsrechtswissenschaft avanciert, er ebnete der Ausbildung einer Wissenschaft vom Staatsrecht den Weg: Carl Friedrich von Gerber, der um 1900 rückblickend zum „Vater der Staatsrechtswissenschaft“151 erklärt wurde, verwendete die Staatswillensfigur als Abgrenzungsmittel gegen die ältere Staatwissenschaft, so wie sie auch für Laband das zentrale Analyseobjekt der Staatsrechtswissenschaft abgab.152 Beide betrachteten den Staat als Willensverband. Gerbers erstes Ziel war die „Aufstellung eines wissenschaftlichen Systems“, das dem modernen Verfassungsstaat angemessen war, indem es „die rechtlichen Verbindungen aller einzelnen Erscheinungen“153 – die Verhältnisse „der einzelnen zum staatlichen Handeln berufenen Kräfte zu einan-
147 Paul LABAND, Aus dem Vorwort zur ersten Auflage (1876), in: DERS., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band 1, S. V–VII, hier S. VI. 148 Vgl. GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 215, und Uwe VOLKMANN, Relativität des Staates – Staatsbegriff und Staatsverständnis im Spiegel der jüngeren Geschichte, in: JuS (Juristische Schulung) 12 (1996), S. 1058–1064, hier S. 1060. 149 STOLLEIS, Staatsrechtslehre und Politik, S. 10. 150 Paul LABAND, Vorwort zur zweiten Auflage (1888), in: DERS., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band 1, 51911, S. VII–X, hier S. IX. 151 Vgl. PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 19. 152 Vgl. Christoph SCHÖNBERGER, Ein Liberaler zwischen Staatswille und Volkswille, in: PAULSON, SCHULTE (Hg.), Georg Jellinek, S. 3–32, hier S. 5. 153 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. VIIf.
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der“154 – juristisch definierte und damit analysierbar machte. Das Staatsrecht ließ sich seiner Ansicht nach allein auf der „Grundlage sicherer juristischer Deduction“155 wissenschaftlich greifen. Hierfür erblickte der thüringische Jurist eine unentbehrliche Voraussetzung in der „schärferen und correcteren Präzisierung der dogmatischen Grundbegriffe“.156 Den „Ausgangs- und Mittelpunkt des Staatsrechts“ bildete für ihn der Staat, den er als die „höchste rechtliche Persönlichkeit“157 definierte. Gerber griff in diesem Zusammenhang Vorstellungen des Göttinger Juristen Wilhelm Eduard Albrecht (1800– 1876) auf, der schon im Jahr 1837 das „höhere, allgemeine Gesamtinteresse“ in der „juristischen Person“158 ‚Staat‘ verkörpert gesehen hatte. Auch für Gerber war der Staat allein dem Volke wegen vorhanden; als „höchste rechtliche Persönlichkeit“ mit Willen war er dessen „Bewahrer und Offenbarer“159, das Volk aber seine „Manövriermasse“.160 In dieser Hierarchie konnte dem Individuum als Teil des Volkes „alle selbständige juristische Persönlichkeit (das um seiner selbst willen Berechtigt-Seyn)“ aberkannt werden,161 und selbst das Volk war allein durch den Staat, der seinem „Gesammtleben“ die rechtliche ‚Form‘ verlieh, willensfähig. Das Staatsrecht, eine Ordnung höherer Art, war folglich ein Produkt der ‚Willensmacht‘ und Gewalt des Staates: „Die Willensmacht des Staats ist die Macht zu herrschen.“ Der Begriff der Herrschaft bezeichnete für Gerber den „eigenthümlichen Willensinhalt der Staatspersönlichkeit.“162 Dieser Willensinhalt, der sich in einem „das ganze Volk verbindenden Willen“ zeigte,163 unterschied nach Gerber die juristische Staatspersönlichkeit von den juristischen Personen des Privatrechts. Auf die „Nachweisung und Abgränzung“ dieser Willensverhältnisse bezog sich für ihn – wie im Privatrecht, so auch im Staatsrecht – die „juristische Construction des Staats“,164
154 Ebenda, S. 217. 155 Ebenda, S. VIII, und vgl. auch Manfred BALDUS, Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1996 (Schriften zur Rechtstheorie 168), S. 127. 156 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. VII. 157 Ebenda, S. 4, S. 2. 158 Wilhelm Eduard ALBRECHT, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 150–152 (1837), S. 1489–1504, S. 1508–1515, hier S. 1492. 159 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 1–3. 160 KOSCHORKE [u.a.], Der fiktive Staat, S. 371. 161 ALBRECHT, Rezension über Maurenbrechers Grundsätze, S. 1492. Zu Wilhelm Eduard Albrecht und zur ‚Erfindung‘ der Theorie der juristischen Persönlichkeit des Staates vgl. KOSCHORKE [u.a.], Der fiktive Staat, S. 319–329, und Henning UHLENBROCK, Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, Berlin 2000 (Schriften zu Verfassungsgeschichte 61), S. 39–55. 162 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 3. 163 Ebenda, S. 220. 164 Ebenda, S. 215.
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dessen juristische Willensverhältnisse von der Staatsrechtslehre zu analysieren waren. 4.5.2 Georg Jellineks Staatswillensbegriff Die Staatspersönlichkeitslehre, die Gerber und Laband vervollkommnet hatten,165 wurde von Georg Jellinek als der „Grund- und Eckstein“166 der deutschen Staatsrechtslehre weitergeführt. Das Willenssubjekt ‚Staat‘ bildete auch für ihn die Voraussetzung für eine selbständige Staatsrechtswissenschaft. Vom Standpunkt seiner beiden Vorläufer wich er allerdings ab,167 da er in den staatlichen Willensverhältnissen nicht nur ein juristisches, sondern auch ein sozialpsychologisches Phänomen erblickte. Dies führte zu der von Kelsen so heftig kritisierten „Zwei-Seiten-Theorie“. Für den Begriff des Staatswillens bedeutete das jedoch vorläufig nur eine nähere Präzisierung. Denn während Gerber und Laband die Staatsrechtswissenschaft mit Hilfe des Willensbegriffs von anderen Disziplinen abgrenzten, ohne aber die Willensverhältnisse der Staatsperson näher auszuformulieren, zielte Jellinek darauf, den Willensbegriff auf ein tragfähigeres Fundament zu stellen. Dazu ordnete er ihn der Seite seines „sozialen Staatsbegriffes“ zu. Als sozialer Verband manifestierte sich für ihn der Staat in den „Willensverhältnisse[n] Herrschender und Beherrschter“. Diese Verhältnisse stellten für den Heidelberger Juristen die letzten objektiven Merkmale des Staates dar: „Die zur Verbandseinheit zusammengefaßten staatlichen Willensverhältnisse […] [sind] wesentlich Herrschaftsverhältnisse.“168 Was Jellinek mit dem Willensbegriff sonach beschrieb, war Macht. Allein der Staat habe die Macht unbedingter Durchsetzung seines Willens gegen den Willen anderer: „Er [der Wille der Staatspersönlichkeit, J.F.] ist wie aller Wille Macht, Gewalt. Die Staatsgewalt ist der physische und psychische Veränderungen [be]wirkende Staatswille,“169 so Jellinek. Der Staat war für ihn folglich der einzige herrschende Verband, dessen Macht von keiner anderen Macht abgeleitet, sondern ursprünglich war,170 oder wie es Jellinek unter Rückgriff auf seinen sozialen Staatsbegriff ausdrückte: „Der Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen.“171 Hier zeige sich, so der Jenaer Jurist Walter Pauly, dass Jellinek die Willenstheorie im Rahmen seines „sozialen Staatsbegriffs“ als Machttheorie ausformuliert und die tatsächlichen Machtverhältnisse mit juristischen
165 Vgl. UHLENBROCK, Der Staat als juristische Person, S. 72–83 (Gerber), S. 84–103 (Laband). 166 JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 195. 167 Vgl. BALDUS, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 128f., und JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 195. 168 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 180. 169 JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 196. 170 Vgl. ebenda. 171 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 180f.
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Strukturen überformt habe.172 In der Tat legte Jellinek in seiner Abhandlung zur „normativen Kraft des Faktischen“ der „tatsächlichen Verfassung eines Staates“ – der „Rechtsordnung“ – die „faktische Machtverteilung“ zugrunde.173 Er unterstrich weiters, dass eine „Theorie, welche den Staat nur als Machtverhältnis auffasst[e], als brutale Tatsache“, ein zentrales „Element des öffentlichen Rechtes erkannt“ habe, dass aber jene „Lehren“ irrten, die „Macht und Recht als absolute Gegensätze“174 begriffen. Jellineks psychologisch-anthropologische Aufladung des Willensbegriffs, über den er die normative Geltung an die Faktizität zurückband, analysierte Pauly treffend: Jellinek habe den Willensbegriff auf die Ebene der sozialen Seinswissenschaft verschoben, ihn aber in seiner ‚Normwissenschaft‘ ‚verkümmern‘ lassen.175 Zwar sollte das Staatsrecht auch Jellineks Vorläufern zufolge soziale Willensbeziehungen, die in der Staatspraxis vorkamen, ordnen, Gerber und Laband hätten aber den Standpunkt vertreten, so Pauly, dass das Staatsleben der Staatsrechtslehre nicht schon die juristischen Formen offerierte, in die diese Willensbeziehungen auf der normativen Ebene gegossen werden sollten.176 Jellinek übernahm zwar die Trennung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, er sah sich aber zugleich veranlasst, die soziale und juristische Ebene an signifikanten Stellen zu überbrücken, um die Staatslehre vor – wie er meinte – verzerrenden Schlussfolgerungen zu bewahren. 4.5.3 Hans Kelsen: Der Staatswille als normative Konstruktion Der Jellineksche Vermittlungsversuch beschwor den heftigen Widerspruch Hans Kelsens herauf, und er veranlasste ihn, das Staatswillenskonzept als juristischen Begriff völlig neu zu definieren. Jener Willensbegriff, der juristisch-normative, soziale und psychologische Momente in sich vereinte, war seiner Ansicht nach für die Staatsrechtslehre unbrauchbar. Jellineks Argument, dass im Staat als sozialem Faktum ein einziger Wille vorherrschte, der sich als „realer Gesamtwille“ oder psychischer Vorgang begreifen ließe, war nicht nur illusionär, sondern auch unzutreffend. Daher veränderte Kelsen die Zugangsweise zum Willensbegriff. Um zu zeigen, dass der Staatswillensbegriff nicht auf die Welt des ‚Seins‘ applizierbar war, unterschied er scharf zwischen einem spezifisch juristischen und einem psychologischen Willen: Man müsse kein Marxist sein, so der Wiener Jurist, „um angesichts der tiefen Klassengegensätze, die das juristisch eine Einheit bildende Staatsvolk zerklüften, einen das ganze Volk seelisch einigenden Gesamtwillen für ein Phantom zu halten.“ Und weiter:
172 Vgl. PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 220f. 173 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 337–344, hier S. 341. 174 Ebenda, S. 344. 175 Vgl. PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 221. 176 Vgl. ebenda, S. 221f.
272 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT […], dann muß das innerhalb der Staatsgrenze lebende Volk in eine Vielheit von Gruppen zerfallen; und weil die Bildung geistiger Gemeinschaft keineswegs an den juristischen Staatsgrenzen haltmacht, so müssen sich zwischen den im innigsten wirtschaftlichen und sonstigen Verkehre lebenden Bewohnern der Grenzgebiete zweier völlig verschiedener Staaten ebenso Willenskonglomerate bilden können wie innerhalb der Staatsgrenzen; diese Grenzen sind für eine soziologische, d.h. auf die Realität des Seins und nicht auf die Idealität irgendwelcher Normen gerichtete Betrachtung, wenn nicht in konkreten Seelenvorgängen von Menschen, so überhaupt nicht gegeben.177
In Anbetracht der verschachtelten nationalen Verhältnisse innerhalb der Habsburgermonarchie musste Kelsen ein Staatsbegriff, der von einer sozialpsychologischen Übereinstimmung der unterschiedlichen individuellen Willensrichtungen innerhalb eines Territorium ausging, wohl mehr als absurd erscheinen: „Denn schon die oberflächliche Beobachtung der Wirklichkeit drängt einem die Erkenntnis auf“, referierte Kelsen vor der Wiener Soziologischen Gesellschaft im Jahr 1911, „daß das juristisch als Einheit zu erfassende Staatsvolk unmöglich jene intensive geistige Gemeinschaft ist, die zu einer Übereinstimmung der Willensrichtung in allen Individuen, d.h. zu jener sozialpsychischen Tatsache des Gesamtwillens führt.“178 War es also undenkbar, den Staat als ein Surrogat sozialer und psychischer Wechselwirkungen zu konzipieren,179 so schlussfolgerte Kelsen nicht überraschend, dass „die juristische Einheit des Staates“ in nichts anderem als „in der Einheit der Rechtsordnung gegeben“,180 d.h., dass „der Staat ausschließlich eine juristische Einheit, lediglich ein Rechtsbegriff“181 sein konnte. Von diesem Standpunkt, nämlich, „daß es jedenfalls nicht das [sozialpsychologische] Willensmoment, der Gesamtwille ist, der ein hinreichendes Kriterium liefert, um zu jener Einheit ‚Staat‘ zu gelangen, als welche das auf einem bestimmten Gebiet, unter einer einheitlichen Rechtsordnung lebende Volk, diese Gebietskörperschaft, der Rechtswissenschaft erscheint“,182 sollte er auch später nicht abweichen. Von dieser Warte aus fasste er das Konzept des ‚einheitlichen Staatswillens‘ völlig neu, und zwar als Ausdruck für die „Einheitlichkeit der Organisation“ bzw. für die „notwendige innere Widerspruchslosigkeit […] der Welt des rechtlichen Sollens“.183 Schon 1911 stell-
177 KELSEN, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 18. 178 Ebenda, S. 17. 179 In seiner Demokratieschrift sprach Kelsen von der „Fiktion eines überparteilichen ‚organischen‘ Gesamtwillens“. Hans KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie. Umgearbeitete Auflage, Tübingen 21929, S. 23. 180 Hans KELSEN, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 32 (1914), S. 202–245, hier S. 213. 181 KELSEN, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 17. 182 Ebenda. 183 Ebenda, S. 33.
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te Kelsen klar: „Das ist das Wesen des Staatswillens: Eine zum Zwecke der ‚Zurechnung‘ vollzogene normative Konstruktion.“184 Aus ‚normwissenschaftlicher‘ Perspektive diente Kelsen die Staatswillensfigur als ein Werkzeug für die Bestimmung dessen, was in Anbetracht der sozialen, sprachlich-kulturellen und weltanschaulichen Vielzahl der Willensverhältnisse noch als Merkmal staatlicher Identität zu begreifen war: nämlich die normative Ordnung, die von der Sollenswissenschaft Staatsrechtslehre zu verteidigen war. Den Staatswillensbegriff deutscher Provenienz wies er aber vehement zurück, da er sich in sozialpsychologischer Verwendung als illusorisch erwies185 und letztlich – wie weiter auszuführen sein wird – die aufklärerische Sorge um die Ermittlung des Volkswillens verschleierte und überblendete.186 4.5.4 Kant. Oder: Die Renaissance der Aufklärung Mit der Revision des Staatswillensbegriffs setzte Kelsen einen Schritt, der direkt mit seinen demokratietheoretischen Überlegungen in Verbindung stand. Kant war für ihn hierbei wegweisend. Der deutsche Staatsrechtspositivismus hatte nämlich an die Stelle der demokratischen Vorstellung der Aufklärung, dass die „gesetzgebende Gewalt […] nur dem vereinigten Willen des Volkes“ – also dem ‚Volkswillen‘ – zukommen könne187 und der Grund für die Verbindlichkeit des Rechts das Volk sei, die Willensmacht des Staates gesetzt: „Die Staatsgewalt“, so Gerber, „ist das Recht des Staats.“188 Kelsen behielt den Begriff des Staatswillens zwar bei, die Art und Weise, wie er ihn aber zurechtrückte, lässt allerdings ahnen, dass er das demokratietheoretische Verfahren, wie man denn vom Willen vieler zur einheitlichen politischen Handlung kommen könne, nicht vergessen hatte. In Deutschland hatten sich 1870/71 mit der Verwirklichung des nationalstaatlichen ‚Traums‘ die demokratisierenden Ideale von 1848 weitgehend verflüchtigt. Da sich die neuen Staatseliten vielfach mit dem zufrieden gaben, was errungen worden war, wurde der Verfassungsstaat jeder weiteren politischen Auseinandersetzung entrückt. Weiterführende demokratisierende
184 Ebenda. 185 Der Willensbegriff der Jurisprudenz repräsentierte keine psychische, empirisch (durch Selbstbeobachtung) zu erfassende Tatsache, sondern allein eine spezifisch juristische, unter dem Gesichtspunkt der Norm, des Sollens, vollzogene Konstruktion, der im Seelenleben des Menschen kein konkreter Vorgang entsprach. Vgl. KELSEN, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 21f., S. 32. 186 Vgl. Jürgen HABERMAS, Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff der Öffentlichkeit (Original 1989), in: DERS., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 31994, S. 180– 212. 187 Immanuel KANT, Die Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weischedel. Band 8, Frankfurt am Main 1977 (stw 190) (Original 1798), S. 432 (§ 46). 188 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 3.
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Ansätze wurden erstickt.189 Diese „politische Abdankung des Bürgertums“190, so der Politikwissenschaftler Claus-Ekkehard Bärsch, spiegelte sich in einer Staatsrechtslehre wider, deren Vertreter als zuverlässige Komplizen des Machtstaats agierten. In den Augen der führenden Juristen besaß der zum Organismus verklärte Staat ein „Willensvermögen“, das sich in der „Macht zu herrschen“ oder im „Recht, zur Ausführung der im Staatszwecke liegenden Aufgaben einen das ganze Volk verbindenden Willen zu äussern“,191 zeigte. Durch diese auf Hegel zurückreichende Überhöhung des Staates rückte der Staatsrechtspositivismus von den Staatsvorstellungen der Aufklärung aber vollkommen ab. Im 18. Jahrhundert waren weder der Staat noch das Volk als Substanz, sondern funktional verstanden worden: „Ein Staat (civitas)“, notierte Kant, „ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“.192 Ebenso definierte er das Volk als „eine Menge von Menschen“, die sich „im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend“ durch demokratische Prozesse der politischen Entscheidungsfindung, d.h. durch Rechtsetzung, als Volk konstituiert.193 Dieses entstand für Kant in einem „actus, da die Menge durch ihre Vereinigung ein Volk macht.“194 Das Volk werde sonach erst durch den Akt der Gesetzgebung zu diesem; es besitze kein vorpolitisches Wesen. Dieses prozessuale Volksverständnis teilte Kant mit Jean-Jacques Rousseau, der den „Akt“, „durch welchen ein Volk zum Volk wird“, als die „wahre Grundlage der Gesellschaft“ begriff.195 Demnach werden die Mitglieder eines Staates durch die Teilnahme aller an der Praxis der Rechtserzeugung zum Volk verbunden: „Als Einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind.“196 Wie für Rousseau konnte „die gesetzgebende Gewalt“ auch für Kant „nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen.“ Gesetzgebend könne nur jener „allgemein vereinigte Volkswille“ sein,197 der „die verschiedenen Willen […] verknüpft, d.i. der gemeinschaft-
189 Vgl. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2, S. 455, und VOLKMANN, Relativität des Staates, S. 1060. 190 BÄRSCH, Der Gerber-Laband’sche Positivismus, S. 63. 191 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 220. 192 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 431 (§ 45). 193 Ebenda, S. 429 (§ 43). 194 Immanuel KANT, Reflexionen zur Rechtsphilosophie, in: Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Band 6: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin– Leipzig 1934 (Akademie Ausgabe 19), S. 442–613, hier S. 511. Vgl. Ingeborg MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (1994), S. 602–612, hier S. 604. 195 Jean-Jacques ROUSSEAU, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2003 (Original 1762), S. 16. 196 Ebenda, S. 19. 197 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 432 (§ 46).
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liche Wille“,198 notierte Kant im Zuge seiner „Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht“: „So repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“.199 Indem Kant wie Rousseau200 das Volk als einen juristischen Begriff bestimmten, setzten sie den Staat mit dem Volk gleich: „Der Staat ist ein Volk“, schrieb Kant, „das sich selbst beherrscht“,201 um jedoch vor einem zu warnen: „Wo staat (!) u. Volk zwey verschiedene Personen sind ist despotism.“202 Der Souverän, das Volk, war für Kant und Rousseau nicht mehr als ein „Gedankending“, das kein soziologischer, sondern nur ein rein formal-rechtlicher Begriff erfassen konnte.203 Der deutsche Staatsrechtspositivismus gab dem Aufklärungsdiskurs um den Volkswillen („volonté générale“204) mit der Staatswillensdebatte eine neue Wendung; genauer: Er wurde überdeckt.205 Die Souveränität wurde auf den Staat verlagert, diesem die „ursprüngliche Herrschermacht“ zuerkannt. Von demokratischer Entscheidungsfindung, d.h. der Volkssouveränität als Identität von Volk und Staat, war mit dieser „Apotheose des Staates“206 keine Rede mehr. Der Staatswille abstrahierte bereits auf der begrifflichen Ebene von den Willen der Einzelnen. Während im Zeitalter der Aufklärung der Wille des Individuums im Vordergrund stand, wurde dieser im 19. Jahrhundert auf ein Kollektivsubjekt verschoben. Hinkünftig wurde der Staatswille von der juristischen Staatsperson verkörpert. Diese Konstruktion ermöglichte auch einen scheinbaren Kompromiss zwischen Herrscher- und Volkssouveränität. Durch die Souveränität des konstitutionellen Staats wurde zwar die Herrschersouveränität dem Anschein nach zurückgesetzt, da allerdings nicht das Individuum das Subjekt der Herrschaft darstellte, verschleierte diese Erfindung, dass man sich in Deutschland vom Anspruch auf demokratische Willensfindung weitgehend verabschiedet hatte. Die ‚juristische Person‘ Staat
198 KANT, Metaphysik der Sitten [Aus dem Nachlaß:] V. Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht, LBl. F 18 R II 348–354 (= Immanuel Kant. Werke. Elektronische Ressource, Berlin 2003) 199 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 464 (§ 52). 200 Vgl. MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, S. 205–207. 201 KANT, Metaphysik der Sitten [Aus dem Nachlaß:] V. Vorarbeiten zum Öffentlichen Recht, LBl. F 4 R II 281–284 (Immanuel Kant. Werke. Elektronische Ressource, Berlin 2003). 202 Immanuel KANT, Vorarbeiten zu Zum Ewigen Frieden, in: Kant’s handschriftlicher Nachlaß. Band 10: Vorarbeiten und Nachträge, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1955 (Akademie Ausgabe 23), S. 153–192, hier S. 163. 203 Vgl. MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, S. 207. 204 Jean-Jacques ROUSSEAU, Du contrat social ou Principes du droit politique, Amsterdam 1762. 205 Vgl. FEICHTINGER, MÜLLER, Kelsen im wissenschaftshistorischen Kontext, S. 220. 206 Otto HINTZE, Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppenheimers System der Soziologie, in: DERS., Soziologie und Geschichte, S. 239–305, hier S. 242.
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war souverän, der Staatswille wurde aber durch das Handeln des Monarchen unmittelbar realisiert. Dies verlangte auch, „dass der Staatsbürger sich der Fügung des Staatswillens in jeder Form seiner rechtmässigen Kundgebung unterordne und gehorsam erweise“.207 So leistete der deutsche Staatsrechtspositivismus der Machtstaatsidee Vorschub. Insbesondere durch seinen Bezug auf Immanuel Kant griff Hans Kelsen die im Staatswillendiskurs verschleierte Idee des Volkswillens wieder auf. So wie seine Vorläufer in der Zeit der Aufklärung verortete er das Volk nicht im ‚Sein‘ (Abstammung usw.), sondern im ‚Tun‘ der Individuen: Der vereinigte Wille des Volkes realisierte sich für ihn – wie für Rousseau und Kant – durch die Teilhabe der Individuen am Verfahren der Rechtserzeugung. Voraussetzung war die „Gewährleistung gleicher Verfahrensrechte trotz Ungleichheit der gesellschaftlichen Interessenslagen“.208 Nach Kant konnte in der Willensbildungspraxis zwar ein Teilhaber dem anderen Unrecht zufügen, „nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria).“209 Jene Bürger, die sich die Gesetze, denen sie gehorchen wollten, selbst geben, konstituierten sich durch die kooperative Willensbildungspraxis als souveränes Volk. Dieser prozessuale Volkssouveränitätsbegriff sicherte ihnen ihre Freiheit, die laut Jürgen Habermas beidem – der Subjektivität des Einzelnen und der Souveränität des Volkes – entspringt.210 Auch für Kelsen hieß Souveränität nicht Freiheit von staatlicher Herrschaft, sondern Freiheit zur Mitwirkung an der Bildung des ‚Staatswillens‘: „Soll [nämlich] Gesellschaft, soll gar Staat sein, […] dann muß Herrschaft sein. Müssen wir aber beherrscht werden, dann wollen wir nur von uns selbst beherrscht sein.“211 Während für Jellinek der Souverän Staat die Macht verkörperte, war für Kelsen die Idee der Souveränität Sache des Volks bzw. dessen, was er im Sinne Kants unter Volk verstand. Durch die Aufnahme der aufklärerischen Idee der Volkssouveränität hatte Kelsen nicht nur den Staat als Willensmacht, sondern auch die Vorstellung vom einheitlichen Staatswillen, der nicht anders als durch die Verschleierung oder Unterdrückung der Individualwillen erreicht werden könne, desavouiert.
207 GERBER, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, S. 46. 208 MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, S. 9f. 209 KANT, Metaphysik der Sitten, S. 432 (§ 46). Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. 210 Vgl. HABERMAS, Volkssouveränität als Verfahren, S. 186. 211 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 4.
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4.6 D IE T HESE VON DER VOLLSTÄNDIGEN I DENTITÄT VON S TAAT UND R ECHT Die Theorie, dass der „Staat […] nur als seinem Wesen nach eine – relativ zentralisierte – Rechtsordnung sein“ kann,212 hatte Kelsen in seiner zweiten Monografie Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920) vertieft,213 um schließlich Anfang der 1920er-Jahre den Beweis der vollständigen Identität von Staat und Recht zu führen. In anderen Worten: Der Staat besitzt keine vom Recht unabhängige Existenz. Die ‚Identitätsthese‘ sollte zum Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie avancieren. Der Standpunkt, dass der dualisierende (soziologisch-ontisierende und juristische) Staatsbegriff über keine methodische Grundlage verfügte, lässt sich aus zwei Erfahrungen Kelsens erklären: zum einen aus der Erfahrung zentraleuropäischer Lebenswirklichkeiten, zum anderen aus der Aneignung der neukantianischen Theorie. 4.6.1 Vorbild Neukantianismus Jellinek versuchte den Staat von verschiedenen Seiten – der juristischen und der sozialen – zu erfassen, und er verwendete hierfür zwei Methoden: die juristisch-normative sowie die soziologische (oder naturwissenschaftlichkausale). Der Methodendualismus Jellineks blieb Kelsen zufolge aber der „höchst oberflächliche[n] Vorstellung“ verpflichtet, dass der Staat ein „Ding mit zwei Seiten“ wäre: „einer der kausalwissenschaftlichen Erkenntnis zugänglichen Natur-Seite und einer der normativ-juristischen Erkenntnis zugewandten Rechts-Seite.“214 Die Unhaltbarkeit der „Zwei-Seiten-Theorie“ argumentierte Kelsen mit der „erkenntnistheoretischen Einsicht, daß die Identität des Erkenntnisgegenstandes nur durch die Identität des Erkenntnisprozesses […] gewährleistet“ sei.215 Denn wenn es keinen Gegenstand an sich gäbe, sondern dieser von der Methode der Betrachtung bestimmt sei, so könne der Staat nicht legitimes Objekt zweier Zugriffe sein. Die „ZweiSeiten-Theorie“ verletzte für Kelsen somit den Grundsatz der durch die Methode bestimmten Einheit des Gegenstandes. In seiner Selbstdarstellung
212 Rudolf Aladár MÉTALL, Staat als Recht, in: Philosophie huldigt dem Recht. Hans Kelsen, Adolf J. Merkl, Alfred Verdross. Ehrendoktoren der Universität Salzburg. Erinnerungsband zum 1. Juni 1967, S. 55–63, hier S. 58. 213 Vgl. Alfred RUB, Hans Kelsens Völkerrechtslehre. Versuch einer Würdigung, Zürich 1995, S. 110–124. 214 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 6. 215 Ebenda, S. 7. In der zweiten Auflage seiner Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923) würdigte Kelsen die „erkenntnistheoretische Grundeinstellung Cohens, der zufolge die Erkenntnisrichtung den Erkenntnisgegenstand“ bestimmen würde. Der Cohensche Ansatz der „Methode der Reinheit“ führte Kelsen wohl zum Postulat der „Reinheit der Methode“ bzw. zur Antithese des „Methodensynkretismus“. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. XVII.
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(1927) erinnerte sich Kelsen, dass er durch eine im Jahr 1912 in den Kantstudien erschienene Rezension seiner Hauptprobleme auf den Neukantianismus aufmerksam geworden wäre: „Jetzt erst wandte ich mich dem Studium der Marburger Kantianer, insbesondere Cohens zu, dessen Erkenntnistheorie für mich von nachhaltigem Einfluss wurde“.216 Vor dem neukantianischen Hintergrund verfestigte sich seine ‚Identitätsthese‘; kurz: „daß der Staat soferne er Gegenstand juristischer Erkenntnis ist, nur Recht sein kann“.217 Der Rechtspositivismus Kelsenscher Prägung war vom kritizistischen Standpunkt Kants geprägt, dem zufolge der zu erkennende Gegenstand durch die Methode erzeugt werde, d.h. methodenbestimmt sei. War die Wirklichkeit nicht ‚objektiv‘ vorgegeben, sondern der Zugriff auf sie durch die wissenschaftliche Methode vorkategorisiert, so war sie zwar nicht total, aber reduziert und zugleich exakt erfassbar. Wurde sie jedoch als wahr vorausgesetzt, sodass sich die Methodenverwendung ihr anzupassen hatte, so ergab sich notwendig eine beliebig große Vielfalt subjektiver Wirklichkeiten, Objekte, die sich letztlich als unvergleichbar und nicht verallgemeinerungsfähig erwiesen. Da sich die subjektiv vorgeprägten Gegenstände und gegenstandsbestimmten Methoden dadurch kritischer Überprüfung entzogen, seien die Anhänger der gegenstandsbestimmten Methode in der Weimarer Republik – wie Oliver Lepsius schreibt – durch ihr Wirklichkeits- und Wissenschaftsverständnis dem Nationalsozialismus hilflos ausgeliefert gewesen.218 Anders Kelsen, dem zufolge die Identität der Methode Voraussetzung für die Identität des Erkenntnisobjekts war, was für ihn umgekehrt aber hieß, dass die Anwendung verschiedener Methoden prinzipiell (und zwangsläufig) unterschiedliche Gegenstände erzeugen würde: „Und so könnte – gäbe es ein als ‚Staat‘ zu bezeichnendes Objekt der Soziologie – dieser soziale Staat für die juristische Erkenntnis überhaupt nicht in Betracht kommen.
216 KELSEN, Selbstdarstellung [1927], S. 21f. Zur Aufnahme neukantianischer Theoreme durch Kelsen vgl. PAULSON, Introduction, in: PAULSON, PAULSON (eds.), Normativity and Norms, S. XXII–LIII. Geert EDEL, The Hypothesis of the Basic Norm: Hans Kelsen and Hermann Cohen, in: PAULSON, PAULSON (eds.), Normativity and Norms, S. 195–219. DERS., Zum Problem der Rechtsgeltung. Kelsens Lehre von der Grundnorm und das HypothesisTheorem Cohens, in: Peter A. SCHMID, Simone ZURBUCHEN (Hg.), Grenzen der kritischen Vernunft, Basel [u.a.] 1997, S. 178–194. Robert ALEXY [u.a.] (Hg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie. Mit einer Einleitung von Stanley L. Paulson, Baden-Baden 2002 (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 25). LEPSIUS, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 324–329. PAULSON, STOLLEIS (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005. 217 KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. XVII. 218 Vgl. Oliver LEPSIUS, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren in den Geisteswissenschaften der Weimarer Republik, in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 22 (1995), S. 283–310.
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Es müsste ein von dem durch juristische Betrachtung gewonnenen ‚Staat‘ gänzlich verschiedenes Objekt sein.“219 Jene Staatslehre, die den Staat durch ineinander verschränkte soziologische und juristische Analysen zu erfassen versuchte, würde den Grundsatz der Einheit des Gegenstandes verletzen. So würden an Stelle einer zwei Wesenheiten auftauchen, über die Aussagen zu treffen unverhüllt tautologisch sei, was unweigerlich Scheinprobleme hervorrufen musste:220 Der Versuch, eben dasselbe Objekt: den Staat, zum Inhalt zweier verschiedener Begriffe, eines sozialen und eines Rechtsbegriffs zu machen und dabei die Identität des Erkenntnisgegenstandes aufrecht zu erhalten, muß natürlich zu den schwersten Widersprüchen und Verrenkungen führen.221
Da der Staat aus soziologischer Sicht ein anderer als aus juridischer Perspektive war, war Kelsen zufolge jeglicher nichtrechtliche Staatsbegriff, der sich in einer sozialen Staatslehre manifestierte, zu verwerfen. Das heißt allerdings nicht, wie oft zu lesen ist, dass Kelsen jegliche ‚Staatssoziologie‘ verworfen hätte. Allerdings erhob er den Anspruch, dass die Jurisprudenz, der er zur relativen Autonomie verhelfen wollte, den metarechtlichen Staatsbegriff, der für ihn ideologische Zwecke erfüllte, zurückwies. Zugleich vertrat er – wie näher zu zeigen sein wird – den Standpunkt, dass der Staat auch in jeder nichtjuristischen Wissenschaft, die Aussagen über ihn traf, als juristisch-normative Ordnung aufzufassen sei. Unter diesen Voraussetzungen ergab sich für Kelsen die „einfache Erkenntnis, daß der Staat […] die Rechtsordnung nicht etwa ‚erzeugt‘ oder ‚trägt‘, sondern ist.“222 Er fasste ihn als eine normative Zwangsordnung, als „die vollendete Form des positiven Rechts“223 auf. Der erkenntnistheoretische Sinn der Identifikation von Staat und Recht lag für ihn in der Auflösung dieser vermeintlichen Zweiheit und in der Zurückführung der Substanz auf die Funktion. Der Zweck war – wie weiter unten ausgeführt werden wird – die Demaskierung der mit der Trennung von Staat und Recht verbundenen Involvierung der Wissenschaft in Politik.
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KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 116. Vgl. ebenda, S. 206. Ebenda, S. 117. Ebenda, S. 135. Hans KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (Original 1928), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 281–350, hier S. 284.
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4.6.2 Der habsburgische Vielvölkerstaat als Movens für Kelsens Identitätstheorie „Kelsen’s Jewish and Hapsburgian heritage“ schreibt der Historiker Dan Diner, „had a clear impact on the development of his legal theory […].“224 In der Tat beeinflusste seine Zentraleuropaerfahrung die Ausbildung seiner Rechts- und Staatsauffassung maßgeblich. Worauf er darin konkret Bezug nahm, zeigt der Erfurter Jurist Manfred Baldus, der betont, „[that] Kelsen’s theory also contains a response to the very real facts of the AustroHungarian monarchy […]“: „It was, in particular, its dualistic state construction, its economic situation, and above all the plethora of nationalities forming the Austro-Hapsburg Empire which influenced the genesis and development of Kelsen’s thesis that the unity of the state and the unity of the law were identical.“225 Die Annahme, nach der ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Kelsens ‚Identitätsthese‘ und der habsburgischen Staatswirklichkeit besteht, überzeugt noch mehr aus der Perspektive des „Pluralitäten“-Modells. Die Habsburgermonarchie war ein Vielvölkerreich. Im 19. Jahrhundert lebten in ihr elf anerkannte „Volksstämme“ (Nationalitäten) und rund ein Dutzend so genannter ‚ethnischer‘ Splittergruppen, die sich auf die drei monotheistischen Weltreligionen aufteilten. Diese Vielfalt, der sich Moritz Csáky mit dem „Pluralitätenbegriff“ theoretisch nähert, war zweifelsohne eines ihrer hervorstechendsten Merkmale. Die Pluralitäten stellten „Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne“226 dar. Der umsichtige Zeitgenosse bemerkte schon in Wien um 1900, dass aufgrund solcher Vielfalt in der Seinswelt Einheit in ihr kaum zu stiften war. In Zentraleuropa konnten gemeinhin verbindende Momente wie z.B. Sprache, Kultur und Wertvorstellungen vielmehr trennend wirken. Daher konnte auch die Basis staatlicher Einheit weder physischer noch psychischer Art sein. Die Vermutung liegt nahe, dass Kelsen, der diese Alltagserfahrung machte, eine Theorie vom Staat bzw. vom Recht ausbildete, die sich der Aufladung durch seinsweltliche Tatsachen entzog. In diesem Sinne wies er auch jeden Versuch der metajuristischen, d.h. nichtnormativen, empirischsoziologischen oder psychologischen Stiftung staatlicher Identität als vergeblich und sogar kontraproduktiv zurück.227 Letztere ließ sich allein auf der Ebene des juristischen Verweisungszusammenhangs erreichen. Dan Diner argumentiert, „that political institutions based on highly abstract norms were
224 Dan DINER, Introduction, in: Dan DINER, Michael STOLLEIS (eds.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, Gerlingen 1999 (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv 20), S. 9–12, hier S. 9f. 225 Manfred BALDUS, Hapsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State“. On the Structural Setting of Kelsen’s Legal Thought, in: DINER, STOLLEIS (eds.), Hans Kelsen and Carl Schmitt, S. 13–25, hier S. 14. 226 CSÁKY [u.a.], Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, S. 13–43. 227 Vgl. MÉTALL, Hans Kelsen. Leben und Werk, S. 42.
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imperative for a continued existence of the body politic“, und weiter: „[…] – not least of all to neutralize the explosive potentiality of cultural difference.“228 Indem Kelsen seiner Theorie ein normatives Antlitz verpasste, vermittelte er seiner Wissenschaft ein integratives Konzept, das Machtprozesse nicht ausblendete, sondern mitreflektierte: Sobald sozio- bzw. psychologisierende Juristen in einer sprachlich, kulturell und konfessionell heterogenen Staatswirklichkeit seinsweltliche Momente zu einheitsstiftenden Faktoren aufwerteten und den Staat als psychophysische und nicht als juristischformale, d.h. „ideelle Ordnung menschlichen Verhaltens“229 begriffen, liefen sie Gefahr, entweder einer Illusion aufzusitzen oder den Staatsbegriff bewusst zur Etablierung oder Legitimierung einer asymmetrischen, nichtdemokratischen Herrschaftsordnung zu verwenden. So war der soziologisierende Rechtspositivismus, „der das Recht auf ein Machtfaktum gründen wollte“,230 Kelsen zufolge tief in das Ränkespiel nationaler Gruppen um Herrschaftsvorteile verstrickt. Im Hinblick darauf lief – wie noch gezeigt werden wird – u.a. auch die „Soziologische Staatsidee“, wie sie von Ludwig Gumplowicz (1838–1909) vertreten wurde, Gefahr, sich den Weg zur autonomen Wissenschaft zu verstellen. Kelsen zog den Schluss, dass nicht die Jurisprudenz, sondern die Politik als rechtsetzende, d.h. handelnde Instanz für den Ausgleich von Interessensunterschieden zuständig wäre;231 die Staatsrechtswissenschaft habe mit der Analyse rechtsnormativer Systeme Vorlieb zu nehmen, um das aufzufinden, was die Kluft in der Seinswelt überbrücken konnte. In diesem Sinne verabschiedete Kelsen den von seinsweltlicher Macht bzw. Herrschaft kündenden Staatsbegriff: „The unity of state”, schreibt Manfred Baldus, „can actually be achieved in normative terms over and above the unity of the law.“232 Davon, dass Kelsen mit seiner ‚Identitätstheorie‘ und dem veränderten Staatswillensbegriff auf die Verhältnisse in der Habsburgermonarchie reagierte, war schon Rudolf Aladár Métall (1903–1975),233 sein Weggefährte, Schüler und Freund, überzeugt: „Der Staat, der Kelsen am nächsten lag und den er aus eigener Erfahrung am besten kannte, konnte nur als Rechtseinheit verstanden werden.“234 Es sei bezeichnend, so Métall weiter,
228 DINER, Introduction, S. 9f. 229 KELSEN, Die Lehre von den drei Gewalten oder Funktionen des Staates, S. 1625. 230 Alfred VERDROSS, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s (Original 1930), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 1301–1309, hier S. 1305. 231 Vgl. Klaus GÜNTHER, Hans Kelsen (1881–1973). Das nüchterne Pathos der Demokratie, in: Jürgen SEIFERT (Hg.), Streitbare Juristen. Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988, S. 367–379, hier S. 372. 232 BALDUS, Hapsburgian Multiethnicity and the ‚Unity of the State‘, S. 13f., S. 18. 233 Vgl. Nicoletta BERSIER LADAVAC, Rudolf Aladár Métall, in: WALTER, JABLONER, ZELENY (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen, S. 315–324. 234 MÉTALL, Staat als Recht, S. 58.
282 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT daß Kelsens Staatsbegriff als Rechtsbegriff zutiefst in altösterreichischen Erfahrungen verwurzelt ist. Denn die österreichische Monarchie, dieses Konglomerat bunter, durch Sprache, Religion und Geschichte unterschiedener Gruppen, ließ sich als Staat nicht durch Theorien begreifen, die seine Einheit auf sozial-psychologische oder sozial-biologische Zusammenhänge zu gründen versuchten.235
Auch Hans Kelsen selbst brachte in seiner Autobiographie (1947) die Grundlagen seiner Rechts- und Staatslehre mit der persönlichen Anschauung, die er vom österreichischen Staat gewonnen hatte, in Verbindung: Die entscheidende Frage in bezug auf das Wesen des Staates schien mir zu sein: was die Einheit in der Vielheit der diese Gemeinschaft bildenden Individuen konstituiert. Und auf diese Frage konnte ich keine andere wissenschaftlich fundierbare Antwort finden als die, dass es eine spezifische Rechtsordnung ist die diese Einheit konstituiert; dass alle Versuche diese Einheit meta-juristisch d.h. soziologisch zu begruenden, als gescheitert anzusehen sind. Diese These dass der Staat seinem Wesen nach eine – relativ zentralisierte – Rechtsordnung, dass daher der Dualismus von Staat und Recht eine Fiktion ist, die auf einer animistischen Hypostasierung der Personifikation beruht, mit deren Hilfe man die juristische Einheit des Staates darzustellen pflegt, ist ein wesentliches Element meiner Rechtslehre geworden. Es mag sein, dass ich zu dieser Anschauung nicht zuletzt dadurch gekommen bin, dass der Staat, der mir am naechsten lag und den ich aus persoenlicher Erfahrung am besten kannte, der oesterreichische Staat, offenbar nur eine Rechtseinheit war. Angesichts des oesterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehoerigen Menschen zu gruenden versuchten, ganz offenbar als Fiktion. Insofern diese Staatstheorie ein wesentlicher Bestandteil der Reinen Rechtslehre ist, kann die Reine Rechtslehre als eine spezifisch oesterreichische Theorie gelten.236
Hans Kelsen reflektierte hiermit zwar das lebensweltliche Movens, das ihn zu seiner Rechtslehre geführt hatte, allerdings gab er den Anspruch auf ihre universelle Geltung nicht auf. Der Erfolg, den Kelsens Lehre zunächst in Spanien, Latein-Amerika, Japan und anderswo verzeichnete, gab ihm diesbezüglich Recht.237 Die normative Theorie, die Kelsen in Wien entwarf, kann sich nicht zuletzt in von kultureller Vielfalt geprägten Räumen als integratives Mittel erweisen. In Zeiten zunehmender Plurikulturalität hat seine Theorie daher auch am Anfang des 21. Jahrhunderts ihre Aktualität nicht eingebüßt. 235 Ebenda. 236 KELSEN, Autobiographie [1947], S. 59f. 237 Vgl. Der Einfluß der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, hg. vom Hans Kelsen-Institut. 2 Bände, Wien 1978/1983 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 2 und 8).
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4.7.1 Die neue Art Einheit zu stiften Die Zurückweisung der Verdoppelung von Staat und Recht bildete für Kelsen den Ausgangspunkt für sein ambitioniertes Vorhaben: Zum einen bemühte er sich um die Autonomisierung der Jurisprudenz, ohne sie aber aus ihrer sozialen Verantwortung zu entlassen; zum anderen entwarf er als Jurist ein Identitätsmodell, das insbesondere in der nichtjuristischen Sphäre ausgleichend wirken konnte. Aufbauend auf Kant verlagerte er das vereinheitlichende Moment von der substanziellen auf die abstrakte Ebene, auf der „Interessensgegensätzlichkeiten“238 akzeptabel, formulierbar und verhandelbar waren. Jene Einheit aber, die er für die Seinswelt zurückwies, verlangte er, wie bereits beschrieben, umso nachdrücklicher für das juristische Normensystem. Eine derartige rechtsnormative Widerspruchsfreiheit, die sich als ‚Staatswille‘ äußerte, setzte allerdings die Annahme einer normativitäts- und einheitsstiftenden Instanz jenseits der Seinswelt voraus. Dafür führte Kelsen die so genannte „Ursprungs-“239 oder „Grundnorm“ ein, die drei wesentliche Aufgaben zu erfüllen hatte: Sie fungierte als „erster rechtserzeugender Tatbestand“.240 Als solcher verlieh sie den wirksamen juristischen Zwangsordnungen den Verbindlichkeitscharakter. Kelsen verstand die Grundnorm als überpositive Voraussetzung (als Annahme, bald Hypothese, später als Fiktion), um die effektiv wirksame Zwangsordnung nicht als Ausfluss seinsweltlicher Autoritäten, sondern normativ (und damit aus sich selbst heraus und von anderen Ordnungen unabhängig) zu begründen. In Verbindung damit bildete die Grundnorm zweitens das Fundament dafür, dass sich juristische Normen als objektiv gültig (oder ungültig) erweisen konnten. Kelsen zufolge bildete sie – und nicht die tatsächlichen seinsweltlichen Machtverhältnisse, die durch Angewöhnung als rechtmäßig empfunden würden (Jellinek) – den ‚letzten‘ Grund für die Geltung von Recht.241 Drittens definierte er über die Grundnorm das Analyseobjekt einer kritisch-positivistischen Jurisprudenz:242 Normen waren nur dann Teil der wirksamen juristi-
238 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 22. 239 KELSEN, Das Problem der Souveränität, S. 115. 240 KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 338. 241 Vgl. KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. VII. Die Grundnorm sei in der Tat keine Norm des positiven Rechts, so Kelsen. Das sei der einzige Punkt, in dem eine Ähnlichkeit zwischen der Lehre von der Grundnorm und der Naturrechtslehre bestünde. (RR2, S. 442) 242 Vgl. Horst DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 (Fundamenta juridica 1), S. 42–82, und DERS., Hans Kelsen (1881–1973), ‚Jurist des Jahrhunderts‘?, S. 718–720. In seiner Monografie nimmt Dreier zur Rolle der Grundnorm ausführlich Stellung.
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schen Zwangsordnung, wenn sie sich auf die höchste Norm, die Grundnorm – in den meisten Fällen die Verfassung – zurückführen ließen. Die juristische Grundnorm lieferte Kelsen auch das Argument der Abgrenzung von zweierlei Wissenschaftsauffassungen: zum einen von normativen Ordnungen naturrechtlicher Art, zum anderen vom Rechtspositivismus älterer Ausprägung. Diese beiden Systeme kannten unterschiedliche Gründe für die Geltung des juristischen Normensystems. Das eine verwies auf seine Herkunft von einem absolut höchsten normativen Prinzip (Vernunft, Natur, Gott), das andere auf seine Effektivität. Kelsen definierte den spezifischen Geltungsgrund neu, nämlich formal und relativ. Dabei gab er aber die Vorstellung einer mit den Imperativen der Vernunft, der Moral, der Ethik oder mit der tatsächlichen Wirksamkeit des ‚Sollens‘ verkoppelten Normgeltung nur auf, um sie im Gegenzug mit den Kritierien der rechtmäßigen Erzeugung und Rückführbarkeit der normativen Sätze auf eine einheitliche Geltungsquelle zu verknüpfen. Da er die Verbindlichkeit einer Norm auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens ihrer Setzung zurückführte, privilegierte er die Herkunft, d.h. den Akt ihrer Positivierung, im Vergleich zu ihrem Inhalt. So sprach Kelsen der Jurisprudenz auch das Recht der Erzeugung materialer, d.h. inhaltserfüllter Normen ab; ihre Zuständigkeit betraf nicht die Normsetzung, sondern allein die Analyse „der hypothetischen Voraussetzungen alles positiven, in seinem Inhalt schrankenlos wandelbaren Rechts“.243 Was die Grundnorm betraf, entwickelte Kelsen eine elaborierte Theorie, mit der er ihr einheitsstiftendes Potenzial in Bezug auf sämtliche juristische Normen nachwies: Ausgehend von der Annahme, dass der normative Erzeugungs- bzw. Entstehungszusammenhang einer hierarchischen Ordnung – einem Stufenbau – unterlag (RR, S. 74, vgl. auch RR2, S. 203f.), gipfelte diese „Normpyramide“244 in einer einzigen Norm, der Grundnorm. Diese lieferte die Voraussetzungen für den „Begründungszusammenhang“, durch den „die Einheit in der Mannigfaltigkeit der ‚empirischen‘, d.h. positiven Rechtssätze, Rechtsnormen, Rechtstatsachen“ gestiftet wurde.245 Einheit lag vor, weil „die eine auf die andere verweist, oder […] beide von einer höheren gemeinsamen Norm delegiert werden.“246
243 KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 338. 244 KELSEN, Das Problem der Souveränität, S. 119. 245 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 102, und vgl. JESTAEDT, Von den ‚Hauptproblemen‘ zur Erstauflage der ‚Reinen Rechtslehre‘, S. 128f. 246 Alfred VERDROSS, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s, S. 1303, und vgl. DERS., Abendländische Rechtsphilosophie. Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschichtlicher Schau, Wien 1958 (Rechts- und Staatswissenschaften 16), S. 177–180. Hans Kelsen erblickte das Kriterium für die formale Einheit einer juristischen Ordnung darin, „daß die Erzeugung und sohin die Geltung der einen [Norm] auf eine andere zurückgeht, deren Erzeugung wieder durch andere bestimmt ist; ein Regreß, der letztlich in der Grundnorm mündet, der
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Hans Kelsens Konzept der dynamischen Normenhierarchie, das eine Wende darstellte, war wesentlich von Adolf Merkls Lehre der Rechtserzeugung im Stufenbau des Rechts inspiriert.247 Der mit Verdross älteste KelsenSchüler Merkl (1890–1970) hatte in seinem Aufsatz „Die Rechtseinheit des österreichischen Staates“ (1918) gezeigt,248 dass sich aus der Vielfalt eine formale Einheit ergeben würde, wenn jene „auf ein gemeinsames gedankliches Zentrum rückführbar oder aus einem solchen Zentrum ableitbar“ sei, kurz: „weil in einem Punkte wurzelnd oder in einer Spitze gipfelnd“.249 Auch Merkl hatte seine Theorie unter Anschauung der „österreichischen Verhältnisse“ entwickelt, wobei sein „dogmatischer Ausgangspunkt“ die hiesige „Besonderheit des Staatsbegriffs im rechtlichen Sinn“ darstellte: „Was ist der Erkenntnisgrund dieses besonderen Staatsbegriffes“, fragte er, „wenn die historisch-politische Gegebenheit ihm [aufgrund der „materiellpolitischen Buntheit“] nicht zugrunde gelegt werden kann?“250 Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Kelsen die Grundnorm, „die selbst eine normative Rechtfertigung durch eine höhere Norm nicht aufweist und daher nur hypothetische Gültigkeit vermittelt,“251 etablierte, um die objektive Geltung einer juristischen Soll-Ordnung zu begründen. Als letzter Grund für die Geltung sämtlicher Rechtsnormen stiftete sie die formale Einheit: „The basic norm not only provides the basis for the validity of legal norms”, resümiert Manfred Baldus, “it also produces […] unity among the multiplicity of empirical legal facts.“252 In der Reinen Rechtslehre (1934) gab Kelsen einen kurzen und bündigen Überblick seiner Theorie von der formalen Einheit: Eine Vielheit von Normen bildet eine Einheit, ein System, eine Ordnung, wenn ihre Geltung auf eine einzige Norm als letzten Grund dieser Geltung zurückgeführt wer-
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hypothetischen Grundregel und sohin dem obersten Geltungsgrund, der die Einheit dieses Erzeugungszusammmenhangs stiftet.“ (RR, S. 74) Dass die „Einheit der Rechtsordnung“ […] „im wesentlichen die Einheit eines Erzeugungszusammenhangs“ ist, zeugt vom dynamischen Charakter der Rechtserzeugung. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 99, und vgl. DERS., Reine Rechtslehre, 1934, S. 63–67. Zur Stufenbaulehre vgl. den Abschnitt „Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung als juristisches Welterklärungsmodell“ in Ewald Wiederins Aufsatz: Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre, in: SCHULTZE-FIELITSCH, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, S. 293–317, hier S. 300–307. Vgl. die biografischen Abrisse zu Merkl in: KELSEN, Selbstdarstellung [1927], S. 23, bzw. in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 2383f., und GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, S. 213–226. Adolf MERKL, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates (Original 1918), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 1115–1165, hier S. 1163. MERKL, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates, S. 1164. KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 288. BALDUS, Hapsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State“, S. 15.
286 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT den kann. Diese Grundnorm konstituiert als die gemeinsame Quelle die Einheit in der Vielheit aller eine Ordnung bildenden Normen. (RR, S. 62)
In Abkehr vom älteren Positivismus und von der Naturrechtslehre verzichtete Kelsen „auf eine absolute, materiale Rechtfertigung“, um sich „auf die bloß hypothetische, formale Fundierung durch die Grundnorm“ zu beschränken: „Positivismus (und erkenntnistheoretischer) Relativismus gehören ebenso zusammen“, schlussfolgerte der Wiener Jurist, „wie Naturrechtslehre und (metaphysischer) Absolutismus.“253 Der kritische Positivismus schuf sonach die Voraussetzungen für die erweiterte Autonomisierung der Rechtswissenschaft, während, so Kelsen, „die naturrechtliche Anschauung das Recht schließlich und endlich in Vernunft, Moral, Natur, die Rechtswissenschaft in Ethik, Politik oder gar Naturwissenschaft aufgehen“ habe lassen.254 4.7.2 Wege zur Autonomisierung der Jurisprudenz Seit den im Jahre 1911 erschienenen Hauptproblemen der Staatsrechtslehre hatte Hans Kelsen das Ziel verfolgt, die Jurisprudenz als „exacte“, aber logisch-normative und autonome Wissenschaft neu zu konzipieren. Um sie „auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ (RR, S. IX), nahm er Anleihen an der neukantianischen Philosophie. Da es die Aufgabe jeder Wissenschaft sei – auch der normativen –, „zu einem System einander nicht widersprechender, innerlich zusammenhängender Urteile zu gelangen,“255 sah er die Jurisprudenz insbesondere in dem Maße Wissenschaft werden, „als sie dem Postulate der Einheit ihrer Erkenntnis genügt, als es ihr gelingt, alles Recht als ein einheitliches System zu begreifen.“256 Diesen Grundsatz deklarierte Kelsen zu einem Kriterium seiner Disziplin. Er vertrat ihn in beiden Auflagen seiner Reinen Rechtslehre. (RR, S. 135f., RR2, S. 329) Das als Wissenschaftskriterium bezeichnete Prinzip der Einheit der juridischen Erkenntnis darf allerdings nicht mit der formalen Einheit der normativen Ordnung verwechselt werden,257 obwohl Letztere eine Voraussetzung von erkenntnismäßiger Einheit ist. Die Jurisprudenz hatte sich Kelsen zufolge darüber bewusst zu werden, dass sich die Einheit der Rechtsordnung im Staatsbegriff widerspiegelte, was soviel hieß, dass die sich selbst reflektie-
253 KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 288. 254 KELSEN, Das Problem der Souveränität, S. 87. 255 Ebenda, S. 108. 256 Ebenda, S. 152. 257 Vgl. BALDUS, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 150f.
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rende Rechts- bzw. Staatswissenschaft eine die Einheit der Rechtsordnung erzeugende Grundfunktion zu übernehmen hatte.258 Der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Jurisprudenz schien Kelsen von zwei Seiten gefährdet: zum einen vonseiten der Naturrechtslehre, welche die Jurisprudenz aus „dem Bereich positiver Rechtssätze“ in jenen der „ethischpolitischen Postulate“ gezogen habe;259 zum anderen durch den Siegeszug der kausalanalytischen Methodenanwendung in den Naturwissenschaften, die auch die Soziologie und Psychologie in einen „naive[n] empiristische[n] Naturalismus“260 geführt habe. Hatte er zur Abwehr der Verwandlung der Jurisprudenz in eine kausalwissenschaftlich-explikative Disziplin die Trennung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ vorausgesetzt, so bekämpfte er auch die drohende Überlagerung des juristischen ‚Sollens‘ durch Sitte und Moral. Diese Sollenssphären waren für Kelsen nicht Gegenstand der Jurisprudenz, sondern der Ethik. Die Begründung und sogar Überprüfung einer nach bestimmten Moralvorstellungen ‚gerechten‘ oder ‚ungerechten‘ normativen Ordnung überstieg den Auftrag der Jurisprudenz als Wissenschaft, der er die Aufgabe zuwies, der unzulässigen Vermengung verschiedener Normensysteme entgegenzuwirken. Horst Dreier spricht in Bezug auf Kelsens Abwehrhaltung gegenüber einer synkretistischen Überformung durch Kausalwissenschaften und Naturrecht von einer „doppelten Frontstellung.“261 Die Jurisprudenz stieg Kelsen zufolge in dem Maße zur Wissenschaft auf, als sie drei Grundprinzipien in sich vereinte und wahrte: die Wahrung des Dualismus von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘, die Durchsetzung der methoden- und theoriebewussten Grundüberzeugung, dass sich rechtsnormative Sätze weder naturrechtlich noch seinsweltlich begründen ließen, sowie die Beschränkung des juridischen Analyseobjekts auf die wirksamen Zwangsordnungen. Sein Kampf galt daher beiden: dem „Rechtsnaturalismus“ und dem „Rechtsmoralismus“.262
258 Vgl. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 211–218, hier S. 213. 259 KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. V. 260 Hans KELSEN, Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuches zur Überwindung der ‚Rechtsdogmatik‘, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (ZÖR) 3 (1922), S. 103–235, hier S. 104. 261 DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 27–90, hier S. 27. Vgl. DERS., Hans Kelsen (1881–1973), ‚Jurist des Jahrhunderts‘?, S. 705–732. DERS., Rechtsdeutung zwischen Normativierung der Natur und Naturalisierung des Normativen am Beispiel von Kelsens Rechtsbegriff, in: JABLONER, STADLER (Hg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, S. 291–305, hier S. 298–301. 262 JESTAEDT, Von den ‚Hauptproblemen‘ zur Erstauflage der ‚Reinen Rechtslehre‘, S. 122.
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4.7.2.1 Die Abwehr der Überformung durch die Kausalwissenschaften Schon in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre (1911) hatte sich der Wiener Jurist heftig gegen die Usurpation der Jurisprudenz durch die kausalwissenschaftliche Methode zur Wehr gesetzt. Kelsen zufolge hatte der ältere Rechtspositivismus zu keiner methodologisch ausreichenden Fundierung der Geltung juristischer Ordnungen gefunden, weder in der Ausformung des ‚psychologischen Positivismus‘ (Georg Jellinek u.a.) noch als soziologische Lehre (Eugen Ehrlich u.a.). Die Jurisprudenz habe dem Druck der aufstrebenden Naturwissenschaften nachgegeben, und sie sei in eine Welt naturwissenschaftlicher Betrachtung abgedriftet. Der Angriff der empirischen Seinswissenschaften auf die Jurisprudenz als Sollenswissenschaft manifestierte sich für ihn augenfällig in der „soziologischen“ Betrachtung „des Rechtes wie eines Stückes naturgegebener Wirklichkeit nach kausalwissenschaftlicher Methode“263. Suchte die Jurisprudenz ihre Legitimation in der Welt des ‚Seins‘ (und/oder der Moral), so lief sie Gefahr, zur Magd „realer Machtverhältnisse“ zu verkommen. Um das zu verhindern, rief Kelsen zu einer radikalen Kehrtwende auf. Dabei unterstützte ihn einer seiner „aeltesten Schueler“,264 Alfred Verdross (1890–1980),265 der ebenfalls zur Absicherung der Autonomie der Jurisprudenz, „die durch die psychologisierende und soziologische Rechtslehre sehr zu Schaden der Rechtswissenschaft verschobenen und verwischten Grenzlinien gegenüber der Psychologie und Soziologie wieder her zu stellen“ suchte.266 Der Soziologisierungs- und Psychologisierungsvorgang in der Rechtswissenschaft war nur aufzuhalten, wenn sich definieren ließ, „welches der allgemeine, von der Natur verschiedene Bereich sei, innerhalb dessen sich das Soziale und insbesondere Staat oder Recht entfaltet[en].“267 Kelsen verlagerte diesen „Existenzraum des Sozialen im allgemeinen und des Staates im besonderen“268 in die rechtsnormative Sphäre. Wurde der Staat als ein intellektuelles Konstrukt und nicht als eine zeit- und raumfüllende Substanz begriffen, so war auch die Staatslehre keine Kausal-, sondern eine ‚Geistes‘-Wissenschaft; und dementsprechend war die Gesetzlichkeit von Staat und Recht keine Kausal-, sondern eine ‚Norm- oder Wertgesetzlichkeit‘, auf deren Erzeugung und Geltung die Analyse abzuzielen hatte. Indes sprach ihm der herrschende Staatsrechtspositivismus, der den Staat als normative Ordnung auffasste, aber auch eine „psychophysische, raum263 KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. V. 264 KELSEN, Autobiographie [1947], S. 45. 265 Vgl. den kurzen biografischen Abriss zu Verdross in: Ebenda, bzw. in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 2397f., und Anthony CARTY, Alfred Verdross and Othmar Spann: German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law, in: European Journal of International Law 6 (1995), S. 78–97. 266 VERDROSS, Die Rechtstheorie Hans Kelsen’s, S. 1303. 267 KELSEN, Der Staat als Integration, S. 6. 268 Ebenda.
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füllende, d.h. aber eine naturhafte Existenz“ zu.269 Diese Konstruktion fungierte Kelsen zufolge als ein Vehikel, das Juristen verwendeten, um politische Ziele zu verfolgen. Um die Jurisprudenz für politisch-ideologische Zwecke unverfügbar zu machen, plädierte er für eine neue kritische Rechtswissenschaft, die auf Kausalanalysen des ‚Seins‘ verzichtete und sich als ‚Normwissenschaft‘ auf die Analyse des ‚Sollens‘ beschränkte. Hierfür stellte die Annahme einer „Eigengesetzlichkeit des Rechts gegenüber der Natur“ die Grundvoraussetzung dar.270 Die Aufgabe der Jurisprudenz war sonach nicht die Erzeugung oder Rechtfertigung juristischer Inhalte, sie hatte nach Kelsen allein einen formal-deskriptiven Auftrag zu erfüllen, der in der reinen, unverfälschten, wertfreien Darstellung der zeitlich und örtlich variablen juristischen Ordnungen bestand. Wertfrei hatte sie vor allem deshalb vorzugehen, weil die jeweiligen normativen Ordnungen notwendig von politischen, sozialen und sittlichen Vorstellungen geprägt waren. Auch für Kelsen war es unbestreitbar, „dass es die natürlichen, ökonomischen, kurz die Tatsachen der kausal bestimmten historischen Entwicklung sind, die den Inhalt der Rechtsordnung bestimmen.“271 Demzufolge waren die juristischen Zwangsordnungen auch nicht als rein, d.h. wert- und empiriefrei aufzufassen, im Gegenteil: Sie stellten sich ihm als der Inbegriff eines Wertverwirklichungsaktes dar, der als solcher tatsächliche Machtstrukturen abbildete. Deshalb definierte Kelsen das Recht auch als „eine bestimmte Ordnung (oder Organisation) der Macht“, also als eine Tatsache der Seins-Welt, die sich wie ein dünner Schleier über die effektiven Zwangsordnungen legen würde: „Wer [aber] den Schleier hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen.“272 Da die Akte der Wertverwirklichung mit der normativen Zwangsordnung in Beziehung standen, weil sich in Letzterer die Seinswelt manifestierte, stellte er auch nicht in Abrede, dass menschliche Verhaltensweisen wie z.B. die Motivation der Schaffung von Rechtsnormen kausal-explikativ, d.h. unter dem Machtaspekt untersucht werden konnten. Analysen dieser Art waren aber nicht Aufgabe der Jurisprudenz und sollten deshalb anderen Wissenschaften, insbesondere der Soziologie, überlassen werden. Aber auch hierfür musste der Staat keineswegs aus der Sphäre des Normativen in die der Natur verschoben und „selbst als ein Raum und Zeit füllender Körper […] vorgestellt werden.“273 Zusammengefasst heißt das: Dass das Recht als solches eine seinsweltliche Tatsache sei, bezweifelte Hans Kelsen keines-
269 Ebenda, S. 9. 270 KELSEN, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 21923, S. VI, und vgl. DERS., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 97. 271 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 21. 272 Aussprache über die vorstehenden Berichte [Wortmeldung Hans Kelsen], in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 3 (1927), hier S. 55. 273 KELSEN, Der Staat als Integration, S. 26.
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wegs, er sprach der Jurisprudenz aber jeden Erkenntnisgewinn aus seinsorientierter Analyse ab. Sie sollte sich sonach zwar an der Exaktheit und Systematik der Naturwissenschaften orientieren, ihren Kausalitätsbegriff einschließlich der ‚Wahrheit‘ und ‚Falschheit‘ von Schlussfolgerungen aber verabschieden. Die Jurisprudenz definierte er als eine Wissenschaft, die sich allein mit der normativen Ordnung, wie sie war, und nicht wie sie sein sollte, zu befassen hatte: „Wertungen – stets subjektiven Charakters – sind Sache der Ethik und Politik, nicht aber der objektiven Erkenntnis. Nur ihr hat […] die Rechtswissenschaft zu dienen, wenn sie Wissenschaft sein will und nicht Politik.“ (RR, S. 128) 4.7.2.2 Abschied vom Naturrecht Das andere Ziel, das Kelsen zur Erweiterung der Autonomie der Jurisprudenz unbeirrt verfolgte, bestand in ihrer Abgrenzung von anderen Sphären des ‚Sollens‘: von der Ethik, der Religion, vor allem aber vom Naturrecht. Im 17. und 18. Jahrhundert hatten sich auch im Heiligen Römischen Reich säkulare Naturrechtslehren (u.a. von Hugo Grotius, John Locke und Samuel Pufendorf) verbreitet. Sich auf das überpositive Naturrecht zu berufen, hieß anzuerkennen, dass bestimmte Rechtssätze jenseits der eigentlichen Rechtsetzung Geltung beanspruchen und nicht außer Kraft gesetzt werden durften. Im 19. Jahrhundert hatte sich eine weitgehende Abkehr vom Naturrecht vollzogen, der u.a. Gerber, Laband und – mit Einschränkungen – auch Jellinek in ihren Theorien Ausdruck verliehen hatten. Kelsen zufolge war dieser Wandlungsprozess aber auf halbem Weg stecken geblieben: Mit dem Auftauchen des Positivismus sei das Recht daher nicht mehr als eine absolute und unveränderliche, sondern als eine den zeitlichen und örtlichen Umständen und Veränderungen unterworfene Kategorie verstanden worden; dennoch habe sich aber die Auffassung eines absoluten Rechtswerts (etwa in der Idee der absoluten Gerechtigkeit) in großen Teilen der positivistischen Rechtswissenschaft erhalten. (RR, S. 19f.) In den 1930er-Jahren war Kelsens Angriff auf das Naturrecht wieder brandaktuell: Unter dem Vorzeichen aufziehender Totalitarismen wurde von katholischer Seite in Österreich die Auffassung verbreitet, dass „das christliche Naturrecht […] der einzig wahre, weil metaphysisch begründete Rückhalt gegen die totalitären Mächte, vor allem gegen den gottlosen Bolschewismus“ sei.274 Von Gott, der Vernunft oder der Natur (voraus-)gesetzt, hatte sich das Naturrecht nicht auf eine relative, hypothetische Geltung, die von Menschen erzeugt, verändert und aufgehoben werden konnte, beschränkt. Es hatte Kelsen zufolge die Illusion bewahrt, dass das Individuum einer höchsten Norm unterworfen war, die das „wahrhaft Gute“, „Richtige“ und „Gerechte“
274 Ernst TOPITSCH, Hans Kelsen – Demokrat und Philosoph, in: Werner KRAWIETZ, Ernst TOPITSCH, Peter KOLLER (Hg.), Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Berlin 1982 (Rechtstheorie Beiheft 4), S. 11–27, hier S. 13.
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verkörperte. Da sein Geltungsanspruch absolut und „ewig“ war, hatte sich der Mensch dieser höchsten Autorität vorbehaltlos zu unterwerfen, wodurch ihm aber umgekehrt auch soziale Verantwortung abgenommen wurde. Obzwar im Namen des Naturrechts Revolutionen vom Zaun gebrochen werden konnten, so hatte diese Art der Inanspruchnahme Kelsen zufolge aber ihre eigentliche Funktion, die der Stützung absoluter Herrschaft, verdeckt: „Die Naturrechtslehre […] als ‚Magd der Theologie‘ […] hat zuerst die Sklaverei, dann die Leibeigenschaft, dann die koloniale Zwangsarbeit in Verbindung mit Menschenhandel und schließlich das Feudalsystem […] als ‚Gott- und naturgewollte Ordnung‘ verteidigt.“275 Auch in Österreich habe sie einen herrschaftsstabilisierenden Zweck erfüllt und sich „durch Generationen durchaus konservativ als Stütze von Thron und Altar“ bewährt.276 So sah Kelsen Zeit seines Lebens in der Naturrechtslehre eine „theologische“ Ideologie.277 Die Stoßrichtung, die er mit seiner Naturrechtskritik verfolgte, lag auf der Hand: Da allein der Mensch über die Ordnung, der er sich unterwarf, verfügen sollte,278 definierte er die juristische Ordnung als eine wandelbare und jeweils neu aufzufüllende Schöpfung des Menschen. Sie war relativ und verdankte ihre Geltung – wie erwähnt – der spezifischen Art und Weise ihrer Erzeugung sowie ihrer Rückführbarkeit auf eine einheitliche Geldungsquelle.279 Das positive Recht war „Menschenwerk“ (RR2, S. 255), nicht aber Ausdruck einer metaphysischen Vernunft oder zeitloser Sitten- und Wertordnungen. Der Jurisprudenz war es daher nicht erlaubt, rechtsnormative Ordnungen nach Maßstäben der Moral zu bewerten, ihr Auftrag bestand lediglich darin, sie in ihrer jeweiligen Ausformung zu beschreiben. Der Versuchung zu werten sei die Rechtswissenschaft – so Rudolf Aladár Métall – allerdings seit jeher ausgesetzt gewesen280 und ihr scheinbar erlägen. Nur dies konnte für Kelsen die Ursache dafür sein, dem Recht „jenen absoluten Wert zu verleihen, den die Moral in Anspruch nimmt.“ (RR, S. 13) Aus der Perspektive der Moral betrachtet, bedeutete Recht soviel wie Gerechtigkeit. Da Kelsen zufolge absolute Werte nicht erkennbar waren, ließ sich für ihn Gerechtigkeit auch nicht wissenschaftlich begründen. Jedweder Ansatz hier-
275 Hans KELSEN, Die Grundlagen der Naturrechtslehre (Original 1963), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 869 –912, hier S. 904. 276 KELSEN, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, S. 314. 277 In seiner posthum veröffentlichten Schrift Allgemeine Theorie der Normen, hg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1979, S. 4 formulierte Kelsen: „Diese Naturrechtslehre beruht, bewußt oder unbewußt, auf einer metaphysisch-theologischen Grundlage.“ 278 Vgl. DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 283f. 279 Der hypothetisch-relative Charakter der Sollensordnung tat Kelsen zufolge der Sache, dass das positive Recht als ein System gültiger Normen zu begreifen war, keinen Abbruch. Vgl. KELSEN, Was ist die Reine Rechtslehre?, S. 621, und DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 166f. 280 Vgl. MÉTALL, Hans Kelsen. Leben und Werk, S. 7.
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zu wäre im Irrationalismus stecken geblieben. Was Gerechtigkeit sei, wisse man nicht, und könne man nicht wissen, so Kelsen. Die Vorstellung, sich absoluter Gerechtigkeit versichern zu können, sei nur ein „schöner Traum der Menschheit.“281 Aus anderer Perspektive, der des Philosophen, war Ludwig Wittgenstein zu einem vergleichbaren Ergebnis gekommen. Er hatte gezeigt, dass Werte, Ethik, Moral und Gerechtigkeit nicht Teil der Welt des „So-Seins“ wären.282 Sie waren es aber nicht nur aus der Sicht des Philosophen nicht, sondern sie durften es auch aus jener des positivistischen Juristen keinesfalls sein, denn: Je weniger man bemüht sei, so Kelsen, das positive Recht von der Gerechtigkeit zu unterscheiden, je nachgiebiger man gegenüber den Interessen der rechtsetzenden Mächte wäre, das Recht als gerecht gelten zu lassen, desto mehr leiste man einer ideologischen Tendenz Vorschub. Davon legte Kelsen zufolge die Naturrechtslehre Zeugnis ab. Sie habe auf die Absicherung der herrschenden Machtverhältnisse abgezielt, da es ihr um „eine Verklärung“ des Staates sowie um ein unmündiges Individuum gegangen sei, „erzielt durch den Nachweis, daß das positive Recht nur der Ausfluß einer natürlichen, göttlichen oder vernünftigen, das heißt aber absolut richtigen, gerechten Ordnung“ wäre. (RR, S. 16) Der Naturrechtslehre warf Kelsen den logisch unzulässigen (ontologischen) Schluss vom ‚Sein‘ auf das ‚Sollen‘ vor. Denn, so schlussfolgerte der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Robert Christian van Ooyen: „Ohne ontische Begründung des positiven Rechts durch ‚höhere‘ Werte (göttliche Ordnung, Naturrecht) oder ‚souveräne‘ Macht (Staatsräson, ‚normative Kraft des Faktischen‘) gibt es nämlich auch keinen Herrschaftsanspruch von absoluter Geltung.“283 Sei das Gesetz jedoch weder natürlichen noch vernünftigen oder göttlichen Ursprungs, sondern allein „Menschenwerk“, so gelte es auch nur als solches: für bestimmte Menschen, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit. 4.7.2.3 Recht versus Macht. Oder: Die Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie Um die Autonomie der Jurisprudenz auszuweiten, traf Hans Kelsen mehrere Vorkehrungen: Zum einen unterschied er das Recht von metaphysischen Normsystemen, zum anderen bekämpfte er den so genannten ‚Methodensynkretismus‘, insbesondere in seiner Tendenz, die für ihn zwingend getrennt zu haltenden Sphären des ‚Seins‘ und des ‚Sollens‘ zu vermengen. Ausgehend von der These, dass die Staatsrechtslehre durch die Vermittlung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ verpolitisiert werden würde, verfolgte Kelsen das
281 Hans KELSEN, Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1953, S. 43. 282 In seiner Logisch-Philosophischen Abhandlung (1921) heißt es: „Alle Sätze sind gleichwertig. (6.4) [...] Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muß er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. (6.41) [...] Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. (6.42) Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen lässt. (6.421)“ 283 VAN OOYEN, Der Staat der Moderne, S. 46.
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Ziel, den doppelten Blick auf den Staat (sozialer und juristischer Staatsbegriff) zu überwinden. Der dualisierende Staatsbegriff, der sich insbesondere in der „Zwei-Seiten-Theorie“ des Staates äußerte, beruhte seines Erachtens auf einem organizistischen Staatsverständnis, dem zufolge der ‚Staatskörper‘ nach dem Abbild des Individuums geschaffen wurde. Der Staat würde sonach als ein „beseelter Körper“, als „umkörperte Seele“284 oder Persönlichkeit (mit Seele und Willen) begriffen. Der Zweck dieser Theorie habe darin bestanden, die Vielfalt abstrakter Normen sowie ihrer Verhältnisse durch die ‚Verkörperung‘ zu veranschaulichen. Dabei hätten ihre Vertreter versucht, „alles nach Analogie des eigenen Ich zu begreifen (alles als Ich zu begreifen)“. Die Tendenz, „dieses ‚Hilfsmittel‘ des Denkens als ‚reale‘ Wesenheit zu hypostasieren“,285 habe schließlich zu der „zur Mythologie gewordene[n] Hypostasierung“ des Staates geführt.286 Die Vorstellung des Staates als Organismus, der kraft seiner ursprünglichen Herrschermacht einen Willen zu äußern vermöge, kritisierte Kelsen als die zentrale Hypostasierung. Der dualisierende Staatsbegriff fand Kelsen zufolge seinen markantesten Ausdruck in dem, was Georg Jellinek als die ‚Selbstverpflichtungstheorie des Staates‘ bezeichnet hatte, die darin bestand, dass sich der als Machtfaktor identifizierte Staat eine objektive Rechtsordnung schuf, um sich dieser zugleich zu unterwerfen: Durch „Selbstbindung“ verpflichtete sich der Staat, der „an sich betrachtet Macht“ war, sich selbst als „rechtlich beschränkte Macht“ zu verstehen und auch so zu agieren.287 Diese paradoxe und illusionäre Konstruktion war nur auf der Basis des dualisierenden Staatsbegriffs möglich: Der Staat muß als eine vom Recht verschiedene Person vorgestellt werden, damit das Recht den – dieses Recht erzeugenden und sich ihm unterwerfenden – Staat rechtfertigen könne. Und das Recht kann den Staat nur rechtfertigen, wenn es als eine vom Staat wesensverschiedene, dessen ursprünglicher Natur: der Macht, entgegengesetzte und darum in irgendeinem Sinne richtige oder gerechte Ordnung vorausgesetzt wird. So wird der Staat aus einem bloßen Faktum der Gewalt zum Rechtsstaat, der sich dadurch rechtfertigt, daß er das Recht fertigt. (RR, S. 116; RR2, S. 288)
Die „ideologische Funktion“288, die sich aus der Verdunkelung der Identität von Staat und Recht ergab, stufte Kelsen als von „außerordentlicher, gar
284 285 286 287
KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 11. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 206. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 11. JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 184–190, hier S. 184. Vgl. DERS., Gesetz und Verordnung, S. 189–205, hier S. 198–200, und DERS., Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882, S. 34–36. 288 Jochen von BERNSTORFF, Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, Baden-Baden 2001 (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 2), S. 59–61.
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nicht zu überschätzender Bedeutung“ ein. (RR, S. 116, RR2, S. 288) Sie und ihre weitreichenden Implikationen aufgedeckt zu haben, wird in der Forschung nahezu einhellig als sein maßgebliches Verdienst bewertet. Denn, so seine Argumentation, wenn das positive Recht eine für die Machthaber unerwünschte Konsequenz habe, so ließe sich jeder Verfassungs- und Rechtsbruch seitens der Politik mit Hilfe des dualisierenden Staatsbegriffs exkulpieren: „Man manipuliert eben neben der Rechtsordnung noch mit einer zweiten, die sog. Staatsraison darstellenden Ordnung, die hauptsächlich auf die Bedürfnisse gewisser oberster Organe abgestellt ist.“289 Im Normalfall würde sich der Staat zwar dem Recht unterwerfen. Die dualistische Konzeption ließ aber auch den Umkehrschluss zu, nämlich dass sich der Staat, so Dreier, in Ausnahmefällen dieser Verpflichtung entzog.290 Mit der Selbstverpflichtungsthese, der zufolge Staatszweck und positive Rechtsordnung auseinanderfielen, hielten die Juristen Kelsen zufolge ‚dem Staat‘ (bzw. bestimmten politischen Akteuren) eine Hintertür offen, durch die man sich in einem „nackten Machtakt“ von dem, was positives Recht war, willkürlich verabschieden konnte. Der Staat konnte sich sonach mit dem Argument, die Rechtsordnung bewahren zu wollen, von dieser zeitweise ausnehmen:291 „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht“, sollte Carl Schmitt zustimmend notieren, „kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt.“292 Dieses „Doppelstaatsrecht“ stellte für Kelsen eine „gefällige Theorie“ dar, mit dem Ziel, potenzielles Unrecht seitens der Machthaber juristisch zu legitimieren. Die Staatsrechtslehre habe sich ein wissenschaftliches System geschaffen, das sich „von jeder Politik verschieden und unabhängig erklärt“, dennoch aber eine „Hintertüre“ offen gehalten habe, um durch sie im Namen des öffentlichen Interesses „eben jene ‚Politik‘ wieder hereinzulassen“:293 Der Gegensatz von Staat und Recht [...] ist letzten Endes aus dem Bestreben zu erklären, die positive, konstitutionell-demokratische Verfassung, den sogenannten ‚Rechtsstaat‘, im Wege einer Interpretation aus dem Wesen des ‚Staates‘ oder des ‚öffentlichen‘ Rechts zugunsten des absolutistisch-monarchischen Prinzipes des Polizeistaates zu verdrängen.294
Sonach hatte der dualisierende Staatsbegriff in den Augen Kelsens der vorherrschenden Staatsrechtslehre nicht so sehr zu einer Vertiefung des Wissens über den Staat, sondern vielmehr zur Stärkung seiner Autorität verhol-
289 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 137. 290 Vgl. DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 218, und DERS., Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 98f. 291 Vgl. ebenda, S. 213, bzw. S. 99–101. 292 Carl SCHMITT, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München– Leipzig 1922, S. 13. 293 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 138. 294 Ebenda, S. 139.
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fen. (RR, S. 117; RR2, S. 289) Hier entdeckte er die tiefe innere Verwandtschaft mit der Theologie: So wie es der Theologie nicht darauf angekommen wäre, ihren Gegenstand – Gott – zu erkennen, sondern seine Autorität zu stärken, versuchte auch die „Staatstheologie“ die Autorität dessen zu vergrößern, was sie als Staat begriff.295 Da der dualisierende Staatsbegriff dem Staat absolute Souveränität verlieh, so van Ooyen, diente er nicht nur der Errichtung einer Machtreserve, sondern zugleich der „Camouflierung von überkommenen Herrschaftsverhältnissen“:296 Unter dem rechtlichen Schleier und der Maske des Staates ermöglichte er es den ‚Staatsorganen‘ jenseits des rechtsstaatlichen Normensystems zu agieren. Für Kelsen waren „alle Handlungen extra legem“ „bloße Machtemanationen“ (Horst Dreier), die er juristisch nicht „dem Staat als verfasster Rechtsordnung“ zurechnete. Dies zu erkennen stellte für ihn die Voraussetzung dar, dass der reale Machtapparat die Möglichkeit verlor, „das positive Recht unter Berufung auf höhere Zwecke der Staatsräson (Ausnahmezustand) zu brechen.“297 Die Verpolitisierung der Staatsrechtswissenschaft zeigte sich Kelsen zufolge aber auch in der Vermengung dessen, was positives Recht war, mit dem, was von irgendeinem Wertstandpunkt Recht sein sollte. Diese Tendenz manifestierte sich darin, „daß die Erkenntnis des gegebenen Staates und des positiven Rechtes unklar mit dem Bestreben vermengt“ worden sei, „diese Objekte in bestimmter Weise zu gestalten.“298 Die herrschende Staatsrechtslehre hätte das „ihrem subjektiven Interesse Entsprechende […] als das objektiv Richtige“ dargestellt. Dadurch lieferte sie aber den widerstreitenden Ideologien „in wahrhaft verhängnisvoller Weise ‚Objektivität‘“ – „nach rechts ebenso wie nach links.“299 Maße sich die Staatsrechtswissenschaft nämlich an, die ihr zur Erkenntnis aufgetragenen Gegenstände schöpferisch-normativ zu bestimmen, dann trete das, „was nur Ausdruck subjektiven Interesses ist, bekleidet mit der Autorität der Wissenschaft […] auf.“300 Dabei wirke sie umso politischer, je autonomer sie erscheine. Die „angeblich wertfreie Theorie vom Staat als biologischem Organismus“ wäre demnach von der Staatsrechtslehre zu dem Zwecke vertreten worden, einem höchst subjektiven politischen Ziel den Schein „wissenschaftlicher“ Objektivität zu verleihen. Sie wäre nur Maske für ein „bestimmtes Soll- und Werturteil“ gewesen – „ein politisches Postulat“.301 Gerade in der Zwischenkriegszeit hätte die Jurisprudenz unter dem Deckmantel wissenschaft-
295 Vgl. KELSEN, Der Staat als Integration, S. 30, S. 56. 296 VAN OOYEN, Der Staat der Moderne, S. 35. 297 DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 297f. 298 KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1724. 299 Ebenda. 300 Ebenda. 301 Zur ideologischen Funktion der Organismustheorie vgl. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 10–13.
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licher Autorität für oder gegen ein politisches System – eine Ideologie – Stellung bezogen. In der durch Weltkrieg und Weltrevolution erschütterten Gesellschaft kommt es den kämpfenden Gruppen und Klassen mehr denn je auf die Erzeugung brauchbarer Ideologien an, die den noch in der Macht Sitzenden, wie den zur Macht Strebenden die wirksamste Verteidigung ihres Interessensstandpunktes ermöglichen. […] Da muß eben die ‚Wissenschaft‘ vom Staat und Recht herhalten. Sie liefert eben jene ‚Objektivität‘, die keine Politik aus sich selbst zu produzieren vermag.302
Wollte die Jurisprudenz Wissenschaft und nicht Politik sein, so hätte sie nur der Erkenntnis zu dienen. (RR, S. 128) Das hieß aber nicht, dass der Wissenschaftler keine politische Meinung vertreten durfte. Er war allein verpflichtet, „das Eine [Wissenschaft treiben] vom Anderen [politische Werturteile, J.F.], Erkennen und Wollen, voneinander zu trennen.“303 Beschränkte sich die Jurisprudenz auf das Erkennen, so war auch der Staat auf das, was er war, zurückzustufen: auf eine juristische Ordnung der Zwänge. Deshalb verstand Kelsen unter staatlicher ‚Souveränität‘ auch keine Sache des Seins, sondern eine der hierarchisierenden normlogischen Ordnung. Der juristische Staatsbegriff bezog sich auf die Unableitbarkeit und Unabhängigkeit des juristischen Systems von anderen normativen Ordnungen.304 Durch die Überwindung des Systemdualismus und die Abkehr von der Selbstverpflichtungstheorie sollte Kelsen die Jurisprudenz in eine vollkommen neue Richtung lenken. Im Wissen um autoritäre Machtverhältnisse versuchte er, diese auf einer abstrakten juristischen Ebene einzufangen, um die Autonomie der Jurisprudenz gegenüber politischen Willkürakten auszuweiten. Das Mittel, mit dem er dieses Ziel verfolgte, war die Reine Rechtslehre. Das Ziel seiner Bemühungen war für Kelsen ein zweifaches: Einerseits galt es, einen „reinen, von aller verdoppelnden Substanzialisierung befreiten Rechtsbegriff wieder herzustellen“, das heißt das Recht als „autonomes System [zu begreifen], das sich nach immanenten Gesetzen ändert [...].“305 Anderseits war der Jurisprudenz ein Weg zu weisen, auf dem sie sich als demokratisierend wirkende Instanz entfalten konnte. Die Wissenschaft musste „mit den ihr spezifischen Mitteln“ und „ohne dabei im geringsten ihren Grundsatz wertfreier Objektivität zu verletzen, [die] Demokratie als ihren Freund [und] die Autokratie als ihren Feind erkennen“.306 Wenn Kelsen also in seinem nächsten Schritt den „metarechtlichen Staatsbegriff“, die Verlebendigung und Überhöhung des gedanklichen Konstrukts Staat, unter dem Aspekt des „politi-
302 KELSEN, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, S. 1724. 303 Ebenda. 304 Zur Verschiebung des Souveränitätsbegriffs von der „willensfähigen Staatsperson“ auf die Bezeichnung der hierarchisierenden normlogischen Ordnung vgl. BERNSTORFF, Der Glaube an das universale Recht, S. 54–59. 305 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 210. 306 KELSEN, Wissenschaft und Demokratie, S. 238.
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schen Missbrauchs“ betrachtete, agierte er zwar nicht politisch im engeren Sinn. Aber er engagierte sich, so intensiv wie möglich, für die Durchsetzung neuer wissenschaftlicher ‚Gesetze‘ zur Unterscheidung demokratischer und antidemokratischer, rechtsfreundlicher und rechtsfeindlicher Systeme – in Jurisprudenz und Politik.
4.8 W ISSENSCHAFT
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4.8.1 Der substanzlose Staat Kelsens Standpunkt, dass der Staat als ein „nach Art einer raumfüllenden, seelisch-körperlichen Substanz existierendes Kollektivsubjekt als ‚Träger‘ irgendwelcher Gewalten […] nicht existiert und nicht existieren kann“,307 sondern man ihn als eine spezifisch rechtsnormative Zwangsordnung zu begreifen habe, war für seine Zeit revolutionär. Die Staatsrechtslehrer hätten sich den Staat über das „anschauliche Bild“ der menschlichen Person, „als deren Qualität ein ‚Wille‘ angenommen wird“, vorzustellen versucht, diese „Hilfsvorstellung“ aber „real gesetzt“308, ihn personifiziert und als Souverän von höchster Macht konstruiert. Die Vorstellung vom Staat als „Makroanthropos“ habe sich aber als verhängnisvoll erwiesen, da der personifizierende „metarechtliche“ Staatsbegriff letztlich nur dazu diente, außerjuristische „Machtreserven“ zu legitimieren.309 Er sei „in Wahrheit das anthropomorph verkleidete, in üblicher Weise hypostasierte politische Postulat: dass alles gestattet sei, bzw. geboten sei, was den Interessen gewisser Träger der ‚öffentlichen Gewalt‘ entspricht.“ Dieser Zusammenhang stelle nichts anderes dar als die „Ursprungsnorm eines – auf den Absolutismus abgestellten – Normsystems“, kurz: die rechtswissenschaftliche Verteidigung der Autokratie.310 In diesem fundamentalen Punkt forderte Kelsen eine Kehrtwende. Dabei musste das Bild vom Staat als Substanz – als „natürlicher Organismus“ und überrechtliches Subjekt ‚extra legem‘ – korrigiert werden. In diesem Sinne vollzog er als „Ikonoklast“311 das, was Alexander Somek zuletzt als eine „Deontologisierung des Staates“312 bezeichnet hat. Ziel von Kelsens ‚Bildersturm‘ war eine Rechts- als Staatslehre, „weil alle Staatslehre nur als Staatsrechtslehre möglich, alles Recht aber Staatsrecht, weil jeder Staat Rechts-
307 308 309 310 311
KELSEN, Der Staat als Integration, S. 4. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 205, S. 176. Ebenda, S. 136–140. Ebenda, S. 137. Alexander SOMEK, Staatenloses Recht: Kelsens Konzeption und ihre Grenzen, in: Archiv für Rechts- und und Sozialphilosophie 91, 1(2005), S. 61–82, hier S. 61f. 312 Ebenda, S. 64f.
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staat [war.]“313 Der Staat sei Recht und das Recht sei Staat, weil die „Macht des Staates“ nichts anderes sei als die „Macht des Rechtes“, nicht eines „idealen Naturrechts“, sondern nur des „positiven Rechtes.“314 Diese „Demystifizierung des Staates“315 führte Kelsen zu seiner vielzitierten „Staatslehre – ohne Staat“.316 Wie schon betont, trug für ihn jene Staatslehre, die den Staat als ein souveränes Wesen begriff, Züge einer „Staatstheologie“, und zwar weil sie sich geweigert habe, „den Dualismus von Staat und Recht zu überwinden und die Systemeinheit herzustellen.“317 Gott und Staat wären als erste Ursache vorgestellt worden: allmächtig und jenseits des Geschaffenen stehend. Diese „Vergöttlichung“ sei als „Staatsfetischismus“ einem „Anbetungsbedürfnis“ entsprungen,318 dem Wunsch, „sich einem Höheren, Heiligen zu unterwerfen, sich aufzuopfern.“319 Diese Art „Vergöttlichung des Staates“ wies der Wiener Jurist jedoch entschieden zurück, und er prägte das erwähnte Schlagwort von der „Staatslehre ohne Staat“, die er in der Reinen Rechtslehre repräsentiert sah: Um „den Staat als ein von der Rechtsordnung verschiedenes Wesen“ aus dem staatsrechtlichen Diskurs zu eliminieren,320 griff Kelsen auf Ernst Cassirers Studie über Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910) zurück.321 Der als Macht im Hintergrund wirkende Staat war aus erkenntniskritischer Perspektive demnach allein als ein „Denkbehelf“ aufzufassen, mit einer dem „Begriff Gottes“ vergleichbaren Funktion für die Seinsordnung: „Was Cassirer für die Grundbegriffe der Naturwissenschaft wie Atom, Aether, Materie, Kraft, Seele usw.“ geleistet habe, das sei auf analoge Weise auch für die Grundbegriffe der Rechtswissenschaft – insbesondere für den Begriff des Staates – auszuführen, notierte Kelsen 1922, nämlich „sie aus Substanz- in reine Funktionsbegriffe zu wandeln.“322 Jede „moderne Wissenschaft [habe] alle Substanz in Funktion aufzulösen“, um „aus dem Niveau der Theologie in die Linie der modernen Wissenschaft“ zu gelangen.323 „Die Tendenz zu diesem Wandel“ sah Kelsen „in der Entwicklung der Wissenschaft selbst“ sichtbar werden.324 Er verwies deshalb auch explizit auf die Parallele zwischen der „Deontologisierung“ des Rechts und zeitgenössischen Tendenzen in anderen Wissenschaften: Der hypostasierte
313 KELSEN, Gott und Staat, S. 55. Der in dem herkömmlichen Sinne verwendete Terminus „Rechtsstaat“ zur Bezeichnung eines bestimmten Staatstypus war für Kelsen ein Pleonasmus. Vgl. RR2, S. 314. 314 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 17. 315 SOMEK, Staatenloses Recht, S. 73f. 316 KELSEN, Gott und Staat, S. 54. 317 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 248, S. 253. 318 Vgl. VAN OOYEN, Der Staat der Moderne, S. 37. 319 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 250. 320 Ebenda, S. 208. 321 CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910. 322 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 212. 323 KELSEN, Gott und Staat, S. 54. 324 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 212.
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Staatsbegriff des 19. Jahrhunderts sei „erkenntnistheoretisch [noch] auf einer Stufe mit dem Begriff der Seele in der alten Psychologie, dem Begriff der Kraft in der alten Physik“ gestanden.325 Manche Vertreter der modernen Wissenschaft hätten dieses Verständnis von Kraft jedoch ebenso verabschiedet wie jenes der Seele. Die Psychologie begreife sich inzwischen als „Seelenlehre – ohne Seele“ (Freud), und die Physik als eine „Kraftlehre – ohne Kraft“ (Mach).326 In diesem Sinne musste auch die moderne Staatsrechtswissenschaft als eine „Staatslehre – ohne Staat“327 konzipiert werden: Wenn festgestellt werden kann, daß der von der Staatstheorie dem Recht gegenüber unterschiedene, ‚hinter‘ dem Recht, als ‚Träger‘ des Rechts gedachte Staat ebenso eine verdoppelnde, Scheinprobleme erzeugende ‚Substanz‘ ist, wie die ‚Seele‘ in der Psychologie, die ‚Kraft‘ in der Physik, dann wird es ebenso eine Staatslehre ohne Staat geben, wie es schon heute eine Psychologie ohne eine ‚Seele‘ [...] und schon heute eine Physik ohne ‚Kräfte‘ gibt.328
Die Aufhebung der Trennung von Substanz und Phänomen sowie der daraus resultierenden Scheinprobleme war das erklärte Ziel so mancher, denen sich Hans Kelsen wahlverwandt fühlte. In seinem Essay „Was ist wirklich?“ (1960) nannte z.B. Erwin Schrödinger räsonierend „die Gründe für das Aufgeben des Dualismus von Denken und Sein oder von Geist und Materie“329, und er plädierte für ein Denken ohne „lenkenden Dämon“, also dafür „daß wir alles Geschehen in unserer Weltvorstellung vor sich gehend denken, ohne derselben ein materielles Substrat als Objekt zu unterlegen, von welchem sie die Vorstellung wäre“.330 Der Begründer der Wellenmechanik war mit den Schriften von Mach, Cassirer, Hume, Avenarius und Schuppe vertraut, durch die eine Vielzahl von Scheinproblemen beseitigt worden wäre.331 Au-
325 KELSEN, Gott und Staat, S. 54. 326 Allerdings sei schon jetzt darauf verwiesen, dass Kelsens Grundprinzip des Sein-Sollen-Dualismus keineswegs dem methodischen Monismus Machs entsprach. Vgl. Adolf MENZEL, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, Wien– Leipzig 1929 (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der Akademie der Wissenschaften 210, 1), S. 562: „Ich bin nicht Monist. So unbefriedigend ich auch eine dualistische Konstruktion des Weltbildes empfinde, in meinem Denken sehe ich keinen Weg, der über den unleidlichen Zwiespalt hinwegführt zwischen Ich und Welt, Seele und Leib, Subjekt und Objekt, Form und Inhalt – oder in welche Worte sich sonst die ewige Zweiheit verbergen mag,“ so KELSEN in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre, 1911, S. VI. 327 KELSEN, Gott und Staat, S. 54. 328 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 138f. 329 Vgl. Erwin SCHRÖDINGER, Was ist wirklich? (Original 1960), in: DERS., Mein Leben, meine Weltsicht. Die Autobiographie und das philosophische Testament. Mit einem Vorwort von Auguste Dick, München 2006, S. 119–182, hier S. 121–128. 330 Ebenda, S. 128. 331 „Dem Andenken von David Hume, Richard Avenarius und Wilhelm Schuppe“ widmete Ernst Mach seine Schrift Erkenntnis und Irrtum (1905).
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ßer Schrödinger dürfen in dieser Hinsicht u.a. auch Ernst Mach und Sigmund Freud als Wahlverwandte Hans Kelsens bezeichnet werden. Letzterer untermauerte seine Kritik des Dualismus von Substanz und Vorstellung mit folgenden Zeilen: Immer wieder wird betont, daß die Annahme eines von den Qualitäten, beziehungsweise Relationen der Dinge verschiedenen ‚hinter‘ ihnen stehenden, als ihr ‚Träger‘ anzusehenden Etwas, einer als Materie, Kraft, Seele, Atom, Aether oder sonstwie bezeichneten ‚Substanz‘ eine anthropomorphe, mythologische ‚Verdoppelung‘ der Welt sei, so wie hier der vom Recht verschiedene, ‚hinter‘ dem Recht stehende, als ‚Träger‘ des Rechts angesehene Staat als eine Verdoppelung der Rechtswelt behauptet wurde.332
4.8.2 Machtkritik durch Sprachkritik. Die Verabschiedung des Substanzbegriffs in Wien um 1900 Der Blick auf Theoriebildungen der Jahrhundertwende zeigt, dass sich die Wissenschaften (von erwähnten Ausnahmen abgesehen) noch nicht von begrifflichen Substanzialisierungen als Mittel der Letztbegründung verabschiedet hatten. So beanstandete der österreichische Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849–1923), dass mit der unreflektierten Verwendung abstrakter Begriffe außerwissenschaftliche Zwecke verbunden waren – in der Physik: die Begriffe „Kraft“, „Materie“, Atom“; in der Philosophie: „Substanz“, „Objekt“, „Absolutes“; in der Religion: „Gott“; und in der Sphäre des Politischen: „Volk“, „Kultur“ und natürlich „Rasse“.333 Mauthner argumentierte, dass dieser „Wortaberglaube“ eine allgemeine „geistige Schwäche“ des Menschen wäre, die ihm zwar sein Leben vereinfachte, zugleich aber auch seine Abhängigkeiten von den vorgestellten ‚Substanzen‘ vergrößerte.334 In der Wissenschaft stiftete die begriffliche Vergegenständlichung des Abstrakten Mauthner zufolge Verwirrung, in der sozialen Wirklichkeit konnte sie aber der Verhüllung asymmetrischer Machtverhältnisse dienen. Um diesem Übel Abhilfe zu schaffen, machten sich Vertreter verschiedener Wissenschaftsdisziplinen im Wien des Fin de Siècle an die Umwertung grundlegender Substanzbegriffe in Funktionsbegriffe, wobei das Ziel, das man dabei anvisierte, sich kaum von jenem unterschied, das Kelsen verfolgte: Mit der Zurückweisung der Vorstellung, dass ein Begriff eine von der Erscheinung wesensverschiedene Wirklichkeit bezeichnen könne, wurde für eine forcierte Autonomie der Wissenschaften plädiert, auf deren relativ autonomen Basis man jedoch hoffte, als ‚unparteiischer Dritter‘ wieder in
332 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 209. 333 Fritz MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Band 3: Zur Grammatik und Logik. Dritte, um Zusätze vermehrte Auflage, Leipzig 1923, S. 327. 334 MAUTHNER, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Band 1, S. 155–175, hier S. 159.
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lebensweltliche Vorgänge eingreifen zu können. Im Hinblick darauf versuchten Mach, Freud und Kelsen mit der Zerstörung der hypostasierten Begriffe und der Objektivierung terminologischer Systeme neue Akzente zu setzen:335 So verwarf Mach z.B. die Annahme einer Wesensverschiedenheit von ‚Ich‘ und Außenwelt bzw. Subjekt und Objekt, Freud jene von Individuum und Kollektiv und Kelsen die vom Staatsrechtsdualismus etablierte Trennung von Staatskörper und juristischer Ordnung. Mit den neuen Konzepten, die sie an deren Stelle setzten, kritisierten sie Substanzbegriffe (,Ich‘, ‚Kollektivseele‘, ‚Staat‘) in ihrer jeweiligen Wissenschaft nicht zuletzt wegen der durch ihre Verwendung provozierten und über diese gerechtfertigten gesellschaftlichen Missstände. Sie verstanden ihre Arbeit also auch als Intervention in ein Wissenschaftshandeln, das bestimmten unerfreulichen politischen Vorhaben mit der Autorität der Wissenschaft Vorschub leistete. Auf diesen Akzent der Autonomisierung bezog sich wohl Lyotard, als er mit dem Verweis auf manche der vorhin genannten Intellektuellen Wiens um 1900 schrieb: „Die Wissenschaft spielt ihr eigenes Spiel, sie kann die anderen Sprachspiele nicht legitimieren. Zum Beispiel entgeht ihr das der Präskription.“336 Zwar vereinfachten heteronome Tendenzen ebenso wie der Rückzug in den Elfenbeinturm die Stellung der Wissenschaftler, jedoch blockierten beide Positionen zugleich den Autonomisierungsprozess in den Wissenschaften. Umgekehrt eröffneten sich dem skizzierten ‚autonomengagierten‘ dritten Segment des Wissenschaftsfeldes vom Standort politischer Unabhängigkeit neue Möglichkeiten wissenschaftlichen Agierens. Man handelte relativ autonom: unabhängig vom Feld der Politik (bzw. der Macht), aber nicht jenseits öffentlicher Verantwortung. In Sichtweite lag ein Ziel: die Demokratie.
4.9 W AHLVERWANDTSCHAFTEN : M ACH – F REUD – K ELSEN Mach, Freud und Kelsen waren – wie erwähnt – Wahlverwandte, was ihr reflexiv-positivistisches Wissenschaftsverständnis und ihr Ziel der Zurückdrängung einer metaphysischen Tradition betraf. Da sie mit ihren Theorien nicht nur Scheinprobleme, die mit dem Substanzialismus verknüpft waren, sondern auch machtpolitisch motivierte Handlungen vieler Vorgänger offenlegten, wirkten sie in zweifacher Weise wegweisend: theoretisch, aber auch
335 Vgl. Johannes FEICHTINGER, Das Neue bei Mach, Freud und Kelsen. Zur Aufkündigung der Legitimationsfunktion in den Wissenschaften in Wien und Zentraleuropa um 1900, in: FEICHTINGER [u.a.], Schauplatz Kultur – Zentraleuropa, S. 297–306. 336 LYOTARD, Das postmoderne Wissen, S. 119.
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durch ihre Art, auf wissenschaftsinternem Weg Verantwortung für die Demokratisierung zu übernehmen. 4.9.1 Ernst Mach und die Physik ohne Kraft Der Physiker, Mathematiker und Sinnesphysiologe Ernst Mach wirkte in vielerlei Hinsicht bahnbrechend. Das Bild, das hier von ihm gezeichnet wird, zeigt ihn nicht nur als Verfechter der empiristisch-positivistischen Wissenschaftsauffassung, sondern auch als Schlüsselfigur im Ringen um die Auflösung des dualisierenden Wissenschaftsbegriffs: Ihm zufolge bildeten demnach nicht verborgene Substanzen, sondern allein die Erscheinungen das Substrat der Welt. Aus dieser Perspektive dekonstruierte er verschiedene naturwissenschaftliche ‚Grundbegriffe‘ wie Raum, Zeit, Bewegung oder Kraft als Abstraktionen mit Hilfsfunktion. In einer Wendung, die in den Forschungen zur Wiener Moderne zu einem der Schlagwörter werden sollte, erklärte er das ‚Ich‘ als reales ‚Ding an sich‘ zur ‚unrettbaren‘ Fiktion und definierte es als eine schlichte Verknüpfung von Sinneswahrnehmungen, die nur „zur vorläufigen Orientierung und für bestimmte praktische Zwecke“337 als Einheit auftrete. Damit waren aber auch ‚Ich‘ und Außenwelt, Erscheinung und Gegenstand, Psychisches und Physisches nicht mehr wesensverschieden, sondern durchlässig und aufeinander bezogen. Da das Subjekt einen notwendigen Akteur der Demokratisierung darstellte, verwarf er es jedoch nicht zur Gänze. Allerdings wich er auch nicht auf die Seite von Surrogatkonzepten wie z.B. ‚Wir-Ideologien‘ und der Vorstellung von Kollektivsubjekten ab. Seine ‚Elementenlehre‘ lieferte damit ein reflexivpositivistisches Wissenschaftsmodell, das – übertragen auf die soziale Wirklichkeit – In- und Exklusionsvorgänge ad absurdum führte. Das Ziel der positivistischen Verankerung der modernen Wissenschaft verfolgend, deckte Mach in seinen historisch-kritischen Schriften die metaphysischen Schwächen der zu seiner Zeit tonangebenden mechanistischen Physik auf. In seinem Buch Die Mechanik in ihrer Entwickelung (1883)338 kritisierte er die nicht hinreichend begründeten Fundamente der Newtonschen Mechanik. Der tief religiöse Isaac Newton (1643–1727) hatte noch das Einwirken Gottes auf die Sätze der Physik vorausgesetzt, um Begriffe wie „absoluter Raum“, „absolute Zeit“, „absolute Bewegung“ zufriedenstellend definieren zu können. Im Zeitalter der Aufklärung wurde Gott zwar aus den Sätzen der Physik verbannt, der Begriff der Absolutheit sei, so Philipp
337 Vgl. MACH, Die Analyse der Empfindungen, S. 10f., S. 23. Die Zitation der Analyse der Empfindungen bezieht sich im Folgenden auf einen Nachdruck der neunten Auflage (Jena 1922) mit einem Vorwort von Gereon Wolters, Darmstadt 1991. 338 Ernst MACH, Die Mechanik in ihrer Entwickelung. Historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1883.
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Abbildung 9: Ernst Mach (1838–1916), 1910, ÖNB
Frank, aber erhalten geblieben.339 Da die neuen Theorien in der Physik nur noch „sehr schwer und in sehr erkünstelter Weise“340 mit den Newtonschen Grundbegriffen zu vereinbaren gewesen seien, sei die Kritik an der klassischen Mechanik nicht verstummt.341 Mach sollte ihr vehement Ausdruck verleihen. Albert Einstein (1879–1955) widerlegte schließlich Newtons Absolutheitsvorstellungen umfassend. Den Weg zur Relativitätstheorie hatte ihm Ernst Mach geebnet,342 der die klassische Mechanik einer vehementen Kritik unterzogen hatte: Stein des Anstoßes war die Vorstellung des „Abso-
339 Vgl. Philipp FRANK, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, München–Leipzig– Freiburg 1949, S. 68f. 340 Ebenda, S. 69. 341 Vgl. ebenda, S. 69–72. 342 Vgl. Albert EINSTEIN, Ernst Mach, in: Physikalische Zeitschrift 17, 7(1916), S. 101–104, hier S. 102f.
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luten“343 in den Begriffen von Raum, Zeit und Bewegung. Mach verwarf die zur Methode erstarrten Versuche der Systematisierung empirisch nicht nachprüfbarer Sätze, um schließlich auf das markanteste Merkmal mechanistischer ‚Metaphysik‘ zu verweisen, nämlich, dass sich die Analysen auf die Begriffe, nicht aber auf das tatsächlich Vorfindbare bezogen. Ernst Mach unterschied zwischen überprüfbaren Tatsachen und nicht überprüfbaren Annahmen. Während er Letztere als metaphysisch bezeichnete, nannte er empirisch überprüfbare Sätze, die sich in ein Aussagensystem einfügen ließen, Sätze der Wissenschaft.344 Diese waren wissenschaftlich, weil sie sich auf ein unmittelbar und tatsächlich Vorfindbares bezogen, das übersichtlich darstellbar und zwischen den Disziplinen widerspruchsfrei verknüpfbar war. Wissenschaftlichkeit zeigte sich sonach im Vergleich und in der Ordnung des sinnlich Erfahrbaren. Die Wissenschaft ersetzte bzw. ersparte Erfahrungen durch Vorbildung oder Nachbildung der Tatsachen in wissenschaftlichen Sätzen, die leichter zur Hand waren als die Erfahrung selbst. Der Wert der Wissenschaft lag für Mach demnach im so genannten „Ökonomieprinzip“: „Mit der Erkenntnis des ökonomischen Charakters“ des Denkens, so folgerte er, „verschwindet auch alle Mystik aus der Wissenschaft.“345 Als die zentrale Quelle der „wunderlichen, monströsen Theorien“ der Metaphysik entlarvte Mach den Descartschen Dualismus („Materie, Geist – Ausdehnung, Denken“346), um in David Hume (1711–1776), dem ‚Zerstörer‘ metaphysischer Wahrheitsansprüche, sein Vorbild zu finden: Der schottische Philosoph, Historiker und Ökonom hatte die Cartesianische Zweisubstanzentheorie verworfen347 und Subjekt sowie Objekt als in der Zeit variierende Elementenkomplexe aufgefasst. Auch Mach verwarf die Substanzenlehre, um sie durch sein Konzept des methodischen Monismus zu erset-
343 Über den Begriff des Absoluten schrieb Mauthner: „So ist in der ganzen Wirklichkeitswelt des Seins und des Denkens freilich nur ein Begriff übrig geblieben, auf den absolut sinnvoll angewandt werden könnte: der Begriff Gott. ‚Absolut‘ ist wirklich eine Eigenschaft Gottes.“ Fritz MAUTHNER, Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zweite, vermehrte Auflage von 1923/24. Band 1, Wien–Köln–Weimar 1997 (Das philosophische Werk I, 1), S. 12. 344 Vgl. MACH, Vorwort zur vierten Auflage (1902), in: DERS., Analyse der Empfindungen, S. XXX, und Friedrich STADLER, Ernst Mach – Zu Leben, Werk und Wirkung, in: Rudolf HALLER, Friedrich STADLER (Hg.), Ernst Mach – Werk und Wirkung, Wien 1888, S. 11–57, hier S. 24. 345 Ernst MACH, Die Mechanik. Historisch-kritisch dargestellt. Unveränderter Nachdruck [Leipzig 91933], Darmstadt 1973, S. 457. 346 Ernst MACH, Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig 31917, S. 6f. 347 Sich auf Mach und andere berufend, sollte sich auch Erwin Schrödinger später, als er „Die Gründe für das Aufgeben des Dualismus von Denken und Sein oder von Geist und Materie“ nannte, in diesem Sinne äußern. Vgl. SCHRÖDINGER, Was ist wirklich?, S. 121–128.
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zen.348 Was Mach unter Monismus verstand, erläuterte Moritz Schlick (1882–1936) kurz und bündig: Da alle unsere Aussagen über die sogenannte Außenwelt sich nur stützen auf Empfindungen, so können und müssen nach Mach diese Empfindungen und Komplexe von solchen auch als einzige Gegenstände jener Aussagen aufgefasst werden, und es bedarf nicht noch der Annahme einer hinter den Empfindungen verborgenen unbekannten Wirklichkeit. Damit wird die Existenz der Dinge an sich als eine ungerechtfertigte, unnötige Annahme abgetan. Ein Körper, ein physischer Gegenstand ist nichts anderes als ein Komplex, ein mehr oder weniger fester Zusammenhang von Empfindungen, das heißt von Farben, Tönen, Wärme- und Druckempfindungen usw.349
Im Spiegel des Empirismus zeigten sich klar die Schwachstellen der Newtonschen Mechanik: Der „absolute Raum“, die „absolute Zeit“ und die „absolute Bewegung“ waren für Mach nicht über sinnliche Erfahrung verifizierbar: „Niemand ist berechtigt zu sagen, daß er von derselben [nämlich der Vorstellung des „Absoluten“, J.F.] etwas wisse.“350 Er bewertete sie daher als „müßige metaphysische Illusion“,351 die auf unverständlichen Vorannahmen beruhte, die sich weder mit der Tatsachenerfahrung deckten noch widerlegbar waren. Auch widerstrebte die Vorstellung des „Absoluten“ einer übergreifenden Wissenschaftsfundierung, mit der Mach das Ziel verfolgte, bestimmte Wissenschaften – Physik, Physiologie und Psychologie – widerspruchsfrei zu verknüpfen. Die Übersetzbarkeit eines Standpunkts, „den man nicht sofort verlassen muß, wenn man in das Gebiet einer anderen Wissenschaft hinüberblickt,“352 war allein durch den methodischen Monismus
348 Ernst Mach verstand sich selbst nicht als Philosoph, sondern als Naturforscher sowie Theorie- und Methodenkritiker in den von ihm vertretenen Disziplinen. Vgl. Volker MUNZ, Stabilitätsverluste und die Unrettbarkeit des Ichs, in: Károly CSÚRI, Zoltán FÓNAGY, Volker MUNZ (Hg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien 2008 (Österreich-Studien Szeged 3), S. 100–111, und DERS. [u.a.], Wissenschaft und Kontext: Universalismus und Relativismus in der Wissenschaftsgeschichte Zentraleuropas, in: CSÁKY, KURY, TRAGATSCHNIG (Hg.), Kultur – Identität – Differenz, S. 165–206, hier S. 184–187. 349 Moritz SCHLICK, Ernst Mach, in: Neue Freie Presse, 12. Juni 1926 (Beilage), S. 10–13, hier S. 11. 350 MACH, Die Mechanik, S. 217. 351 Vgl. MACH, Mechanik, S. 216–242, hier S. 216–237. John T. BLACKMORE, Three autobiographical manuscripts by Ernst Mach, in: Annals of Science 35 (1978), S. 401–418, hier S. 414. STADLER, Studien zum Wiener Kreis, S. 140. HOLTON, Ernst Mach und die Geschichte des Positivismus, S. 1–59, hier S. 9. Péter HANÁK, Ernst Mach und die Position des Phänomenalismus in der Wissenschaftsgeschichte, in: Fritz KLEIN, Karl Otmar von ARETIN (Hg.), Europa um 1900. Texte eines Kolloquiums, Berlin 1989, S. 265–282, hier S. 269–272. 352 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 24.
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gewährleistet. Das System Newtons stellte für Mach das mächtigste Manifest der verfallenden Ära der Metaphysik dar. Die Auffassung, zu der ihn seine historisch-kritischen Studien zur Mechanik geführt hatten, „daß alles Metaphysische als müßig und die Ökonomie der Wissenschaft störend zu eliminieren sei,“353 gab er auch in seinen sinnesphysiologischen Studien nicht auf. In den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen“ zur Analyse der Empfindungen (1886)354 verlieh Mach dem methodischen Monismus beredt Ausdruck: In strikter Ablehnung jeglicher Substanzbegriffe (wie z.B. Ich, Körper) definierte er darin Qualitäten wie Farben, Töne, Räume, Zeiten usw. lediglich über die Grundkategorie der Empfindungen, die auf mannigfaltige Weise miteinander zu Empfindungsoder Elementenkomplexen verknüpft waren. Mach zufolge erzeugten nicht die Körper Empfindungen, sondern umgekehrt: Die Körper waren durch die in der Erfahrung vorgefundenen Empfindungskomplexe gebildet.355 Sonach konstituierte sich die Welt für Mach nicht aus „rätselhaften Wesen“ („Körpern“ oder „Gegenständen“), sondern durch die Verknüpfung von Sinneswahrnehmungen.356 Die Sinnesempfindungen bezeichnete Mach als die vorläufig letzten (man könnte sagen: unteilbaren) Elemente, in denen er „den einzig legitimen Ausgangspunkt“ der wissenschaftlichen Analyse sowie ihrer Letztbegründung erblickte.357 Aus Machscher Sicht neigte die Wissenschaft dazu, diese räumlich und zeitlich (funktional) verknüpften Wahrnehmungskomplexe mit Namen (z.B. „Körper“ oder „Gegenstände“) zu versehen, dabei werde aber übersehen, dass diese Namen nur „Notbehelfe zur vorläufigen Orientierung“ darstellten.358 Als solche deckte er viele Grundbegriffe der Physik wie z.B. „Atom“, „Elektron“, „Quant“ usw. auf. Was für ihn ein Hilfsmittel zur Darstellung und Verständigung war, wie z.B. der Begriff „Materie“, war von anderen zum Wesen der Welt verklärt worden. Der Aufdeckung dieses Irrtums widmete Mach große Teile seines Schaffens: Zu fragen, was Begriffe „eigentlich sind“359, war für ihn ebenso müßig, wie zu fragen, was diese Begriffe philosophisch bedeuten würden. Ihre Verwendung war Mach zufolge solange sinnvoll, als sie den Blick auf das allein Verbleibende, den Zusammenhang der vorläufig letzten Elemente – der Sinnesempfindungen – nicht verstellten. Sinnvoll waren sonach nur solche Sätze, so Philipp Frank, ein vehementer Verfechter der Machschen Theorie, die „im Prinzip als Sätze über den Zusammenhang unserer Sinnesempfindungen ausgesprochen werden 353 Ernst MACH, Vorwort zur zweiten Auflage (1900), in: DERS., Die Analyse der Empfindungen, S. XXVIII. 354 Ernst MACH, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886. Seit der zweiten Auflage (1900) lautet der Titel: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Psychischen zum Physischen. 355 Vgl. MACH, Analyse der Empfindungen, S. 23. 356 Ebenda, S. 17. 357 Max PLANCK, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909, S. 34. 358 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 10f. 359 FRANK, Einstein, S. 80.
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können“.360 Diese waren Teil der Wissenschaft, deren Aufgabe Mach in der Ordnung der Wahrnehmungs- und Sinneskomplexe erblickte. Jeden Versuch, die Begriffe vor die sinnliche Wahrnehmung zu reihen, bewertete er als metaphysischen Akt: „So dürfen wir auch die intellektuellen Hilfsmittel, die wir zur Aufführung der Welt auf der Gedankenbühne gebrauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten.“361 Halte man sie für solche, so treibe man nicht Physik, sondern Metaphysik. In seiner Analyse der Empfindungen (1886) konzipierte Ernst Mach von der ‚Elementenlehre‘ ausgehend seinen Ichbegriff. Das ‚Ich‘, schrieb er, „ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit,“ seine Grenze sei ziemlich unbestimmt und willkürlich verschiebbar. Die so genannte Einheit des Bewusstseins gebe es nicht, das ‚Ich‘ sei keine „reelle“, sondern nur eine „ideelle denkökonomische“ Einheit:362 ein Gedankensymbol, ein „an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene[r] Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird.“363 Unbefangen betrachtet, zeige sich das ‚Ich‘ als „ein funktionaler Zusammenhang der Elemente“364, nicht das ‚Ich‘ sei das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen), die dieses ‚Ich‘ bildeten: „Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper“, und es verdankte seine relative Beständigkeit der Kontinuität respektive der langsamen Änderung. Was wir am Tode so sehr fürchteten, die Vernichtung der Beständigkeit, das trete im Leben schon in reichlichem Maße ein. Das ‚Ich‘ habe keine Substanz, es sei – so wie Körper und Gegenstand – lediglich eine Hypothese, kurz: „Das Ich ist unrettbar.“365 Die zentrale These von der ‚Unrettbarkeit des Ichs‘ sollten viele Schriftsteller und Künstler aufgreifen,366 um dem Krisengefühl der Jahrhundertwende Ausdruck zu verleihen. An der Auflösung der Substanzbegrifflichkeit zugunsten seiner Elemente nahmen aber auch die Wissenschaften Anleihe. Das „unrettbare Ich“ gilt für Kristóf Nyíri sogar als ein markantes Kennzeichen für die „Einzigartigkeit der österreichischen Philosophie“.367 Machs Einfluss war aber noch weitläufiger: Von ihm sollten auch die Sozi-
360 Philipp FRANK, Die Bedeutung der physikalischen Erkenntnistheorie Machs für das Geistesleben der Gegenwart, in: Die Naturwissenschaften 5, 5(1917), S. 65–72, hier S. 67. 361 MACH, Die Mechanik, S. 483. 362 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 19. 363 Ebenda, S. 2. 364 MACH, Erkenntnis und Irrtum, S. 11. 365 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 19, S. 3, S. 20. 366 Vgl. Volker MUNZ, Reception of a Philosophical Text: A Case Study, in: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900 7, 2(2004), S. 7–23, und Friedrich STADLER, Vom Positivismus zur „wissenschaftlichen Weltauffassung.“ Am Beispiel der Wirkungsgeschichte von Ernst Mach in Österreich von 1895 bis 1934, Wien–München 1982. 367 NYÍRI, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, S. 15.
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alwissenschaften, die Jurisprudenz sowie Machs Herkunftsdisziplin, die Physik, profitieren. Der methodische Monismus lieferte ein Werkzeug, um auf das zurückzugreifen, was vor den Begriffen gegeben war: auf die Sinnesempfindungen respektive die verschiedenen Zusammenhänge derselben. Das, was aufgefasst werde, sei nicht das „Ding an sich“, ein „Gegenstand“ oder „Körper“, sondern lediglich die Elemente in ihrem spezifischen Zusammenhang: Die „in der Erfahrung vorgefundenen Elemente [...] sind immer dieselben, nur von einerlei Art und treten nur je nach Art ihres Zusammenhangs bald als psychische bald als physische Elemente auf“. Diese Tatsache bezeichnete Mach als das „Prinzip des vollständigen Parallelismus des Psychischen und Physischen“.368 Unterschiede ergaben sich allein durch die Anschauungsperspektive, also dadurch, „ob man vom psychologischen oder physikalischen Standpunkt zu denken beginnt“:369 „Nicht der Stoff“, schrieb Mach, „sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden.“370 In einer autobiografischen Skizze notierte er, dass er das „Prinzip des vollständigen Parallelismus des Psychischen und Physischen“ aus seiner Lektüre der Kantschen Prolegomena zu jeder Metaphysik, welche künftighin als Wissenschaft wird auftreten können (1783) entwickelt habe. Diese Schrift, die er als Fünfzehnjähriger in der Bibliothek seines Vaters gefunden hatte, habe er „mit Begierde“ verschlungen. Der überwältigende Eindruck der Prolegomena habe in ihm den naiven Realismus des Jungen zerstört, jegliche Neigung zur Metaphysik vernichtet und ihn vom „Metaphysiker Kant“ abgebracht: Das ‚Ding an sich‘ erkannte ich noch als Knabe als eine unnütze metaphysische Erfindung, als eine müssige metaphysische Illusion. […] Wenn ich nun auch Kants Gedanken nicht festhalten konnte, bleibe ich ihm doch für seine Anregung verbunden, die mich auch zur historisch-kritischen Bearbeitung der Mechanik geführt hat.371
Die Lektüre Kants habe Mach auch den Anstoß dazu gegeben, dass er auf der Objektseite die Annahme einer objektiven Wirklichkeit („Ding an sich“) jenseits der Welt der Sinneswahrnehmungen verwarf: „Gibt es keine Wesensverschiedenheit des Psychischen und des Physischen, so wird man den-
368 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 50f. 369 John T. BLACKMORE, Klaus HENTSCHEL (Hg.), Ernst Mach als Außenseiter. Machs Briefwechsel über Philosophie und Relativitätstheorie mit Persönlichkeiten seiner Zeit, Wien 1985 (Philosophica 3), S. 45f. 370 MACH, Analyse der Empfindungen, S. 14. Der Grazer Philosoph Volker Munz spricht in diesem Zusammenhang von dem wesentlichen relativierenden Aspekt in der Theorie Machs. Vgl. DERS., Das Ich und die Welt. Bemerkungen zur Philosophie Popper-Lynkeus', in: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900. Sonderheft 3: Josef Popper-Lynkeus (2004), S. 4–20, hier S. 9. 371 BLACKMORE, Three autobiographical manuscripts by Ernst Mach, S. 414, vgl. auch S. 406.
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selben exakten Zusammenhang, den man in allem Physischen sucht, auch in den Beziehungen des Physischen und Psychischen vermuten.“372 Denn: Was auf Körper und Gegenstände zutraf, konnte Mach auch für die Subjektseite – das ‚Ich‘ – und damit für das Verhältnis von ‚Ich‘ und Außenwelt, Erscheinung und Gegenstand, Psychischem und Physischem aufzeigen. Die dualisierende Auffassung blieb für ihn sonach ein Ableger metaphysischer Wissenschaft, das Schlagwort von der ‚Unrettbarkeit des Ichs‘ ein Vehikel, die wissenschaftliche Theoriebildung auf neue Wege zu führen. Albert Einstein würdigte ihn dafür, die „allzu große Autorität“ der Begriffe vernichtet und sie auf ihren „irdischen Ursprung“ zurückgeführt zu haben.373 Diese kognitive Wende eröffnete eine weitere Perspektive: Die Verabschiedung der Dichotomie von ‚Ich‘ und Außenwelt lässt sich als eine dekonstruierende Intervention verstehen, die auf Selbstvergewisserungsvorgänge durch die Vertiefung von Unterschieden zwischen einem ‚Ich‘ bzw. ‚Wir‘ und einem ‚Ihr‘ in der sozialen Wirklichkeit verweist. Durch die Entwertung des ‚Ichs‘ als Substanz wollte Mach die Grundlage für eine freiere „Lebensverfassung“ schaffen, „welche Mißachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt.“ Würde nämlich das ‚Ich‘ nur als „eine stärker zusammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit andern Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt“374, aufgefasst und nicht als substanzielle Entität, so erledigten sich schwierige Prozesse der Identitätsfindung, der In- und Exklusion von selbst. Den politischen Kontext, in dem Mach das Korsett der Wesensbegriffe aufschnürte, bildeten die Nationalisierungsprozesse, mit denen er nicht zuletzt als Rektor der Prager Universität vor und nach der Teilung (1882) konfrontiert war375 und die von einem letztlich noch metaphysikverhafteten System der modernen Wissenschaft gestützt wurden. Auch aus diesem Grund dekonstruierte Mach die naive Spielart des Positivismus, und er verlieh der Wissenschaft durch die Kritik verzerrender Begrifflichkeit ein reflexiv-relativierendes Antlitz. Auf Machs Wissenschaftsverständnis verweisend, konstatierte Philipp Frank, dass es in der Wissenschaft nicht darauf ankäme, „die Beobachtungen durch ein bestimmtes bevorzugtes Bild darzustellen“, um es einem weltanschaulichen Standpunkt zu unterwerfen, sondern nur darauf, „daß die Sätze der Wissenschaft für das Leben brauchbar sind.“376 Mach war aber nicht der einzige, der in Wien um 1900 von Substanzbegriffen Abschied nahm. Ein
372 Ernst MACH, Vorwort zur vierten Auflage (1902), in: DERS., Analyse der Empfindungen, S. XXX. Machs so genannte ‚Psychophysik‘ war durch Gustav Theodor Fechner inspiriert worden, der Zürcher Empiriokritizist Richard Avenarius war Machs unmittelbarer Weggefährte. 373 EINSTEIN, Mach, S. 102. 374 MACH, Die Analyse der Empfindungen, S. 20, S. 23. 375 Vgl. Dieter HOFFMANN, Ernst Mach und die Teilung der Prager Universität, in: LEMBERG (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz, S. 33–61. 376 FRANK, Einstein. Sein Leben und seine Zeit, S. 84.
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maßgeblicher Weggefährte war sein um 18 Jahre jüngerer Zeitgenosse Sigmund Freud. 4.9.2 Sigmund Freud und die Seelenlehre ohne Seele Auch die Psychoanalyse Sigmund Freuds lässt sich als eine Lehre, die sich von substanzialistischen Begriffen verabschiedete, verstehen. Im Besonderen setzte sich Freud von zwei Konzepten ab: vom rationalistischen Seelenmodell und vom scholastischen Seelenbegriff der Theologie als einer vom Körper wesentlich verschiedenen Substanz. Freud erlangte Gewissheit über das, was im Verlauf einer jahrhundertelangen Debatte zusehends anerkannt worden war:377 nämlich die nichtbewussten Anteile des Seelenlebens. Der Seelenbegriff stellte für Freud nur noch einen Denkbehelf dar, mittels dessen er den Spannungen im Individuum, den psychischen Prozessen, Ausdruck verleihen konnte. So wie er die Seele nicht als Substanz begriff, so ließ er auch den Ich-, Sozial- und Massenbegriff einer metaphysischen Tradition zurück. Die Termini verwendete er allein als Mittel der Veranschaulichung. Die begriffliche Unterscheidung unterwarf er nicht dem Zweck, das ‚Ich‘ vom Kollektiv, die ‚Individual‘- von der Massenpsychologie und das Bewusste vom Unbewussten abzuspalten, womit auch er – wie Mach und Kelsen – auf unzulässige Hypostasierungen verzichtete. In der Traumdeutung (1900) formulierte er seinen Ich-Begriff der besonderen Art: Das „eigentlich reale Psychische“ war für ihn nicht der bewusste Anteil des ‚Ichs‘, sondern das Unbewusste, das uns so unbekannt sei „wie das Reale der Außenwelt“ und durch „die Daten des Bewußtseins“ ebenso unvollständig zugänglich und unzuverlässig wahrnehmbar „wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.“378 Man müsse das ‚Ich‘, so resümierte er im Unterkapitel einer späteren Schrift „Die Abhängigkeiten des Ichs“379, „als armes Ding [sehen], welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und unter den Drohungen von drei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs.“380 Diesen Gefahren ausgesetzt, fungiere das ‚Ich‘ als ein Mittler zwischen jenen Kräften, die einander bekämpften: Es bemühe sich, das ‚Es‘ zu zähmen und das ‚Über-Ich‘ zu besänftigen. Das ‚Über-Ich‘ wache kritisch über das ‚Ich‘, im ‚Es‘ entfalte sich das verborgene Reich der Verdrängungen, das sich nicht – oder nur begrenzt – dem Willen des ‚Ichs‘ un-
377 Den Anfang dieser Debatten stellte die Gleichsetzung des Seelischen mit dem Bewusstsein durch Descartes dar, der die Vorstellung unbewusster Seeleninhalte noch bekämpft hatte. Vgl. WEGENER, Unbewußt/das Unbewußte, S. 205, und Ludger LÜTKEHAUS, Einleitung, in: DERS. (Hg.), ‚Dieses wahre innere Afrika‘. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Gießen 2005, S. 7–45. 378 FREUD, Die Traumdeutung, S. 617f. 379 Sigmund FREUD, Das Ich und das Es (Original 1923), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIII, S. 235–289, hier S. 277–289. 380 Ebenda, S. 286.
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terwerfen lasse. Kurz: Das ‚Ich‘, schrieb Freud 1917 in einer viel zitierten Formulierung, sei „nicht Herr […] in seinem eigenen Haus“.381 Zwar konzentrierte sich Freud zunächst auf das nur vermeintlich autonome ‚Ich‘, um es als Austragungsort des Kampfes zwischen einem zensurierenden ‚Über-Ich‘ und seinem Gegenspieler, dem Unbewussten, zu definieren, später wandte er sich aber zunehmend – parallel zur Verschärfung der politischen Situation – dem Problem verdinglichter Konzepte des ‚Sozialen‘ zu. Die Psychoanalyse hatte sich von Anfang an auf die sozialen und nichtsozialen („narzißtische“ oder „autistische“) Akte des Individuums bezogen.382 Später verlagerte sich sein Blick auf das ‚Soziale‘, ohne dass sich in seiner ‚Sozioanalyse‘ aber das Objekt der Untersuchung veränderte: Da es für Freud nur ‚Individualseelen‘ gab, waren Sozial- und Massenpsychologie im Sinne der ‚Individualpsychologie‘ zu betreiben. Mit seiner schmalen Schrift über moderne Massenbewegungen mit dem Titel Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921)383 stellte er die Sozialpsychologie auf neue Grundlagen: Darin zeigte er, dass das Unbewusste sozial geprägt sei, und er wies die in der zeitgenössischen Psychologie übliche Annahme zurück, dass es eine überindividuelle ‚Massen‘- oder ‚Kollektivseele‘ gäbe. Damit formulierte er ein Argument gegen den „Dingcharakter“384 des ‚Sozialen‘, auf das sich nicht zuletzt auch Hans Kelsen explizit bezog. Freud unterschied zwar begrifflich zwischen narzisstischen und sozialen seelischen Akten, er traf diese Unterscheidung aber nicht zum Zweck einer sachlichen Trennung zwischen dem ‚Ich‘ und dem ‚Sozialen‘ als vermeintliche Wesenheiten: „Die Massenpsychologie“, schrieb er, „behandelt also den einzelnen Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert.“385 Das, was Freud als charakteristisch für die Masse einstufte, hatte Gustave Le Bon in seiner Psychologie der Massen (1895) nicht berücksichtigt: „das Bindemittel“, den libidinösen Aufbau der „künstlichen“ Massen, deren Zusammenhalt Freud auf „Gefühlsbindungen“ bzw. die Macht des „Eros“ zurückführte. In diesen „Liebesbeziehungen“ erkannte Sigmund Freud das „Wesen der Massenseele“.386 In der Masse gab der Einzelne Freud zufolge vorübergehend sein ‚IchIdeal‘ auf und vertauschte es „gegen das im Führer verkörperte Massenide-
381 FREUD, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 11. 382 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 73f. Um Missverständnisse vorzubeugen, sei darauf verwiesen, dass der Individualpsychologiebegriff im Folgenden nicht im Sinne der tiefenpsychologischen Ausrichtung Alfred Adlers (1870–1937) verwendet wird, sondern in dem Sinne, in dem ihn Sigmund Freud benutzte. 383 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 73–161. 384 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 129, und vgl. DERS., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 33f. 385 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 74. 386 Ebenda, S. 77, S. 100.
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al“. Der Grund hierfür bestand für ihn darin, dass das von der Führerfigur repräsentierte Ideal dem ‚Ich-Ideal‘ seiner Anhänger entsprach. Sonach öffnete sich der Einzelne dem suggestiven Einfluss der anderen, „weil ein Bedürfnis bei ihm besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch ‚ihnen zuliebe.‘“ Der in der Masse sublimierte Eros suggerierte aber auch zugleich abwehrende Gefühle gegenüber Außenstehenden. Das Resultat seiner Untersuchung goss Sigmund Freud in die „Formel“ von der „libidinösen Konstitution“ der Masse. Die Masse beruhe auf einer „Vorspiegelung“, der Illusion, „daß ein Oberhaupt da ist […], das alle Einzelnen der Masse mit der gleichen Liebe liebt.“ Die Masse konstituiere sich durch eine „doppelte Art der Bindung“, in der „jeder Einzelne einerseits an den Führer […], anderseits an die anderen Massenindividuen libidinös gebunden“ sei.387 In seiner Massenpsychologieschrift zeigte Freud, dass auch in der Sozialpsychologie ‚individualpsychologisch‘ zu verfahren wäre. ‚Individual‘und Sozialpsychologie gaben für ihn nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille ab: „Das ist gerade das Spezifische seiner Methode“, erinnerte Kelsen, „daß er Phänomene der sog. Massenseele als Erscheinungen der Individualseele aufzeigt[e].“388 Der spiritus rector der Psychoanalyse gewann diese Ansicht ausgehend von einem anderen Sozialbegriff, der von jenem der zeitgenössischen Soziologie und der soziologisierenden Jurisprudenz abwich. Hatte Freud zunächst die Annahme der Ich-Autonomie als Schein entlarvt, so nahm er später in seiner Massenpsychologie auch von der verbreiteten Vorstellung eines substanzhaften, gottgleichen ‚Sozialen‘ Abstand. Die als begriffliche Abstraktion aufgefasste ‚Individualseele‘ fungierte in seinem Denken künftig auch als Grundlage seiner Massenpsychologie. Massenpsychologie war demnach eine Ich-Analyse auf sozialer Ebene, womit er die seit dem 19. Jahrhundert wirkmächtige Vorstellung einer als Substanz auftretenden ‚Massenseele‘ verwarf. Diese Auffassung, die sich inzwischen durchgesetzt hat und der zufolge der Begriff der ‚Kollektivseele‘ höchstens noch metaphorisch verwendbar ist, behielt Freud – wie im Kapitel 5 gezeigt werden wird – auch in seinem Spätwerk bei. 4.9.3 Das wesenhaft Soziale und Kelsens Kritik an der zeitgenössischen Sozialpsychologie Im 19. Jahrhundert hatten sich verschiedene Vorläufer der von Sigmund Freud neu gefassten Sozialpsychologie das ‚Soziale‘ vielfach noch als ein überindividuelles, seelisch-körperliches Wesen vorgestellt. So hatte die Beobachtung, dass sich Menschen in Isolation anders als in Gemeinschaft verhielten, die Annahme eines vom Individuum verschiedenen „Kollektivkörpers“ evoziert. Der angeblich überindividuelle Charakter sozialer „Gebilde“
387 Ebenda, S. 100, S. 128, S. 102, S. 145, S. 104. 388 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 112.
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manifestierte sich u.a. im Begriff der „Massen- oder Kollektivseele“, die den Raum zwischen den Einzelnen eliminierte und sie zu einem Ganzen verschmelzen ließ.389 In seinem Aufsatz „Der Begriff des Staats und die Sozialpsychologie“ (1922) rückte Hans Kelsen solche Vorstellungen in ein neues Licht, indem er zeigte, dass durch diese Denkweise die vorgestellte Massen- oder Kollektivpsyche mit einer „organischen Hülle“ versehen worden sei. Diese Hypostasierung des ‚Sozialen‘ entdeckte er u.a. in der psychologischen Konstruktion „sozialer Dinge“ sowie in Begrifflichkeiten wie ‚Massen‘-, ,Kollektiv‘- und ‚Volksseele‘. Auch was unter ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Staat‘ verstanden wurde, war für Kelsen ein Irrläufer solcher sozialpsychologischen Substanzialisierungen, eine Tendenz, der er sich vehement widersetzte. Was er in Bezug auf den Staat als einen juristischen Tatbestand definierte, nämlich „die Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden staatlichen Rechtsordnung“,390 durch die allein sich Volk und Nation als die Summe rechtsunterworfener Individuen konstituierten, habe die Sozialpsychologie des 19. Jahrhunderts mit dem Schein einer Wirklichkeit sui generis versehen. In diesem Zusammenhang war für Kelsen folgende Auswahl sozialpsychologischer Theorieversuche exemplarisch. In seiner Schrift Die Psychologie der Massen (1895) hatte Gustave Le Bon (1841–1931) ein bedrohliches und abwertendes Massenbildnis gezeichnet. Die Massen bewiesen für ihn in der „Mehrzahl ihrer Handlungen“ häufig „eine absonderlich niedrige Geistigkeit“.391 Anführer hatten mit ihnen leichtes Spiel, da sich die Masse mit einer „Kollektiv“- oder „Massenseele“ versah, die die Eigenarten beteiligter Individuen in sich aufsog. Die Masse als solche trat dabei Le Bon zufolge als „ein provisorisches Wesen“ auf, das aus „heterogenen Elementen“ bestand, „die für einen Augenblick sich miteinander verbunden“ hätten. In diesem Moment verkörperte sie „ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften“ als jenen, welche die einzelnen für ihr Zustandekommen verantwortlichen Zellen aufwiesen: Welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, […] durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde.392
Mit seiner Psychologie der Massen wurde Le Bon zu einem der Pioniere bzw. Popularisierer der Massenpsychologie.393 Schon zu Zeiten Sigmund Freuds erlebte sein auch für die Soziologie bedeutsames Werk sechs
389 Vgl. ebenda, S. 125f. 390 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 15. 391 Gustave LE BON, Die Psychologie der Massen. Autorisierte Übersetzung nach der 12. Auflage von Dr. Rudolf Eisler, Leipzig 1908, S. VIII [Original: DERS., Psychologie des foules, Paris 1895]. 392 Ebenda, S. 12. 393 Vgl. JAHODA, A History of Social Psychology, S. 105–109.
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deutschsprachige Auflagen. Von dieser Art Massenpsychologie sollte sich der Wiener Psychoanalytiker – wie noch zu zeigen sein wird – entschieden abwenden. Im deutschsprachigen Raum hatte die ‚Völkerpsychologie‘ als der erste Versuch einer Sozialpsychologie das Ziel verfolgt, die „ganz eigentümliche[n] psychologische[n] Verhältnisse, Ereignisse und Schöpfungen“ aufzudecken, „welche gar nicht den Menschen als Einzelnen betreffen, nicht von ihm als solchem ausgehen.“394 Die von Moritz Lazarus (1824–1903) und seinem Schwager Heymann Steinthal (1823–1899) begründete Disziplin hatte bei Hegel, Herbart und dem Historismus Anknüpfungspunkte gefunden.395 Sie verstand sich als das Gegenstück zur ‚Individualpsychologie‘ und hatte das Volk als Untersuchungsobjekt im Visier. Die Begründer der Völkerpsychologie führten die durch die ‚Individualpsychologie‘ nicht erklärbaren, überindividuellen psychischen Phänomene unter dem Begriff des „Volksgeistes“ zusammen.396 Der Volksgeist verkörperte das Gebilde historisch verwurzelter, übereinstimmender Wertvorstellungen. Die Völkerpsychologie wirkte vor allem durch Wilhelm Wundt (1832–1920) weiter auf Vertreter der jungen Ethnologie (u.a. Franz Boas, Bronislaw Malinowski, Edward Sapir) und der Soziologie wie z.B. auf Émile Durkheim und Georg Simmel, denen hier weiter Aufmerksamkeit geschenkt werden soll.397 Was die „soziologischen Tatbestände“398 betraf, hatte sich vor allem Émile Durkheim (1858–1917) – neben anderen – das aus Kelsens Perspekti-
394 Weiter heißt es: Der „Geist einer Gesamtheit“ ist „verschieden […] von allen zu derselben gehörenden einzelnen Geistern, und der sie alle beherrscht“. Vgl. M. LAZARUS, H. STEINTHAL, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), S. 1–73, hier S. 5, und Gerhart von GRAEVENITZ, „Verdichtung“. Das Kulturmodell der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 12 (1999), S. 19–57. [Eine gekürzte Fassung ist erschienen in: Aleida ASSMANN, Ulrich GAIER, Gisela TROMMSDORFF (Hg.), Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt am Main 2004 (stw 1724), S. 148–171.] 395 Vgl. Georg ECKARDT (Hg.), Völkerpsychologie. Versuch einer Neuentdeckung. Texte von Lazarus, Steinthal und Wundt, Weinheim 1997, und Moritz LAZARUS, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg. von Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2003 (Philosophische Bibliothek 51). 396 Die Völkerpsychologie schränkte jedoch ein, dass der Volksgeist nur „in den Einzelnen lebt und kein vom Einzel-Geiste abgesondertes Dasein hat.“ Die individuelle Psychologie sei daher die Grundlage der Völkerpsychologie. Vgl. LAZARUS, STEINTHAL, Einleitende Gedanken, S. 10f. 397 Vgl. ECKARDT (Hg.), Völkerpsychologie, S. 107–110. Uwe LAUCKEN, Sozialpsychologie. Geschichte, Hauptströmungen, Tendenzen, Oldenburg 1998, S. 88f. LAZARUS, Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, S. XI. 398 Kelsen sprach (laut der vierten Auflage von Durkheims Schrift Die Regeln der soziologischen Methode, Leipzig 1908) von der „sozialen Tatsache“. Vgl. KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 127.
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ve zweifelhafte Verdienst ihrer Ablösung von individuellen Seelenvorgängen erworben.399 Durkheim ist einer jener ‚Klassiker‘, denen nicht nur Soziologen wie Halbwachs, Lévi-Strauss, Parsons, Merton, Foucault und Bourdieu, sondern auch Vertreter vieler anderer Disziplinen wie z.B. De Saussure, die Annales-Schule, Piaget und die Sozialanthropologie wertvolle Anregungen verdankten.400 Kelsen zufolge hatte Durkheim der „sozialen Tatsache“ allerdings auf dem Weg „unkritischer Hypostasierung“ einen „dinglichen Charakter“ verliehen: „Die ‚erste und grundlegende Regel‘ für die Erkenntnis des ‚Sozialen‘ bestehe“, so Kelsen Durkheim zitierend, darin, „‚die sozialen Tatsachen so zu betrachten wie die Dinge.‘“401 In der Tat definierte Durkheim den „soziologischen Tatbestand“ in seinem methodischen Manifest, den Regeln der soziologischen Methode (1895),402 als etwas ‚Objektives‘, das auf die Einzelnen „äußerlichen Zwang“ ausübe und „von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben“ besitze.403 Die soziologischen Tatbestände waren für ihn „dem Einzelnen äußerlich“, da nicht angeboren, sondern anerzogen; „unabhängig“, da nicht im individuellen Verhalten aufgehend; und „zwanghaft“, da auf den Willen eines jeden Individuums moralischen Druck ausübend,404 während „deren Natur“, so Durkheim provokant, „doch durch den Willen nicht verändert werden“ könne.405 Die soziologischen Tatbestände standen für ihn demnach über dem Menschen, dessen Handeln sie regulierten.406 Um 1900 postulierte Durkheim, dass die sozialen Erscheinungen wie (aber nicht als) „Dinge“ zu behandeln seien. Hierfür wurde er – oftmals missverstanden – des „Chosismus“ geziehen, sodass er sich im Vorwort zur zweiten Auflage zur Klarstellung veranlasst sah, dass er die sozialen Phänomene (wie das Bewusstsein) keineswegs als materielle Dinge mit Substanzcharakter, sondern „mit dem gleichen Rechtstitel“ als „Gegenstände“ begriffen habe „wie die materiellen Dinge, wenn auch solche anderer Art.“407 In den Chor der Kritiker stimmte später auch Hans Kelsen ein. Ihm
399 Vgl. ebenda, S. 125–133. 400 Vgl. Hans-Peter MÜLLER, Émile Durkheim (1858–1917), in: Dirk KAESLER (Hg.), Klassiker der Soziologie. Band 1, München 1999 (Beck’sche Reihe 1288), S. 150–170. 401 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 127. 402 Emile DURKHEIM, Die Regeln der soziologischen Methode, hg. in neuer Übersetzung von René König, Neuwied 1961, S. 83–247 [Original: DERS., Les règles de la méthode sociologique, Paris 1895]. 403 Ebenda, S. 114. 404 MÜLLER, Emile Durkheim (1858–1917), S. 153–156. 405 Emile DURKHEIM, Vorwort, in: DERS., Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied [u.a.] 1961, S. 85–87, hier S. 86f. 406 Einen kurzen Überblick zu Durkheims wissenschaftlicher Methode liefert JAHODA, A History of Social Psychology, S. 116–119. 407 Emile DURKHEIM, Vorwort zur zweiten Auflage, in: DERS., Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied [u.a.] 11961, S. 88–101.
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zeigte sich der „Dingcharakter“408 am deutlichsten im Begriff der „Gesellschaft“, die jener als Wirklichkeit sui generis begriffen habe, was für den Juristen den Boden für Hypostasierungen wie z.B. der Annahme einer ‚Kollektivseele‘ mit bereitet hatte. Zeugnis davon, dass die Sozialwissenschaften in ihren Anfängen ihr Analyseobjekt angeblich in sozialen Wesenheiten entdeckt hatten, legten für Kelsen wohl manche seiner Wiener Zeitgenossen ab, die er zwar nicht nannte, aber meinte. So sprach z.B. Othmar Spann im Hegelschen Tonfall von „Objektivationen“. Das „Sozial-Psychologische“ stellte für ihn ein selbständiges „Objektivationssystem“ dar.409 Und auch dem Wiener Philosophen, Kant- und Wundt-Verehrer sowie Le BonÜbersetzer Rudolf Eisler (1873–1926) zufolge ergaben sich aus der Wechselwirkung der Individuen Verhältnisse, die sich für ihn nach ihrem Stabilwerden als „objektive Mächte“ darstellten.410 Der soziale Tatbestand besaß Durkheim zufolge für den Einzelnen verbindliche Autorität. In der Gesellschaft sah er eine moralische Macht von gleicher Transzendenz wie Gott. Kelsen warf ihm vor, sie sogar mit Gott gleichgesetzt zu haben. Für jemanden wie ihn, der jedwede unkritische Hypostasierung entschieden bekämpfte, vermisste Durkheims Soziologie gerade jene analytische Tendenz, die sie zu haben vorgab. Die „erste und grundlegendste Regel“, „die soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten“,411 verhalf Durkheim zweifelsohne zur Grundlegung seiner jungen Disziplin, die er auf diesem Wege durch Mittel der positiven Wissenschaft erfassen konnte. Anstoß nahm Kelsen aber an einem anderen Aspekt, nämlich an der Vorstellung vom „Dingcharakter des Sozialen“,412 den Durkheim als von subjektiven,413 d.h. von individuellem Wünschen und Wollen wesensverschieden vorstellte. In dieser „mechanistisch-psychologistischen Soziologie“ erblickte der Verfechter des juristischen Staatsbegriffs Vorboten und Komplizen einer organizistischen Auffassung vom Staat, deren zentrales
408 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 129. Vgl. auch KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 33f., und DURKHEIM, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 115–128. 409 Othmar SPANN, Untersuchungen über den Gesellschaftsbegriff zur Einleitung in die Gesellschaftslehre. Band 1: Wirtschaft und Gesellschaft, Dresden 1907, S. 6–9, S. 57–132. 410 Rudolf EISLER, Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Entwickelung der menschlichen Gesellschaft, Leipzig 1903, S. 55. Der „Volksgeist“, der „aus dem Zusammenschlusse der Einzelgeister“ hervortrat und „etwas Neues“, „Umfassendes“, „Herrschendes“ verkörperte, war für Eisler einer jener Mächte, die das ‚Ich‘ determinierten. 411 DURKHEIM, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 115. 412 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 129. 413 Durkheim spricht u.a. davon, dass „neue Erscheinungen durch Verbindung von Elementen, ihren Sitz nicht in den Elementen, sondern in dem durch deren Vereinigung hervorgebrachten Ganzen haben“, dass „die kollektiven Handlungsund Denkweisen eine Realität außerhalb der Individuen besitzen“ und dass „die sozialen Phänomene reale Dinge sind“. DURKHEIM, Die Regeln der soziologischen Methode, S. 93, S. 99, S. 101.
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Merkmal er in der Annahme eines Staatskörpers mit Seele und Willen ausmachte. Lapidar resümierte er: „In der die sozialen Gebilde begründenden ,Wechselwirkung‘ steckt der Keim des Staatskörpers wie der Staatsseele.“414 Die „psychologische Soziologie“ führte demnach Kelsen zufolge zu „der ins mythologische [!] ragenden Hypostasierung der sogenannten organischen Gesellschaftstheorie“,415 welche seiner Ansicht nach rechtfertigend in Machtprozesse der Seinswelt eingriff. Das zu verhindern, war wohl das Motiv seiner vielleicht etwas überzogenen und Durkheim missverstehenden Kritik. Was den Begriff der sozialen Erscheinung betraf, den Durkheim „in wahrhaft bahnbrechender Weise“ definiert habe, stimmte der Grazer Jurist und Soziologie Ludwig Gumplowicz mit diesem völlig überein: „Vorgänge, also Denkungsarten, Gefühle, die außerhalb des Individuums gebildet wurden und sich demselben zwingend aufdrängen, sind soziale Erscheinungen.“416 Das ‚Soziale‘ war auch für ihn eine Wirklichkeit sui generis, vom Individuum ausgehend ließe es sich nicht erklären: „Eine individuelle Tatsache wird nie eine soziale erzeugen“, schrieb Gumplowicz, „so sehr auch der Schein uns trügen mag“.417 Dass man sie „weder aus dem Einzelwillen noch aus den Einzelpsychen erklären konnte“, kurz: dass ihre Unabhängigkeit vom Individuum als eine Tatsache erschien, war auch für Gumplowicz dafür anlassgebend, dass von einer „Massenpsyche“ gesprochen und eine „Massenpsychologie“ geschaffen worden sei. Was das schwierigste Problem der Soziologie, „die Unabhängigkeit des Gruppenstrebens von dem Einzelwillen“, betraf, war sein Standpunkt klar: Zwar könnte eingewendet werden, merkte Gumplowicz an, dass die Gesamtheit, das Gemeinwesen, die Gruppe aus Einzelnen bestünde, sie selber daher kein Organismus mit einem Willen sei und die Gruppe nur tue, was ihr vom Willen ihrer Bestandteile, der sie bildenden Einzelnen, aufgegeben werde. Er war sich aber sicher, dass sich die Sache genau umgekehrt verhielt. Gumplowicz zeichnete – wie weiter unten noch näher ausgeführt werden wird – den Staat als ein vom Individuum unabhängiges, „geschichtlich gewordenes“ „Naturwesen“, in dem die stärkere Gruppe über die jeweils schwächere Herrschaft ausübte. Er sprach vom ihm als von einer „Organisation von Herrschaft“.418 Trotz seiner realistischen Sicht auf den Staat driftete er aber unwillkürlich in anthropomorphisierende Vorstellungen ab: „Wer ist es nun“, schrieb er, „der hier denkt, fühlt, schmeckt – ist es das Individuum?
414 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 37. 415 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 126. 416 Ludwig GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie. Mit einem Vorwort von Franz Oppenheimer, Aalen 1978, S. 5 [Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1926: Ausgewählte Werke, hg. von Gottfried Salomon, in Verbindung mit Franz Oppenheimer, Franco Savorgnan, Max Adler 2] (Original 1885, zweite Auflage 1905). 417 Ebenda, S. 18. 418 GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 97.
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Nein! Es ist die sociale Gruppe“.419 Gumplowicz hatte der Gruppe sogar individuelle Sinnesäußerungen zugeschrieben: nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle, einen Geschmack. Hier manifestierte sich für den Wiener Juristen Edmund Bernatzik, einen der schärfsten Kritiker von Gumplowicz, ein zu Recht „verspotteter Mysticismus“.420 Auf den Vorwurf, dass seine Konzeption von „Gemeinwesen“, das von einem einheitlichen Streben erfüllt wäre, etwas „Mystisches“ enthalte (so Durkheim) bzw. eine „abenteuerliche“ Idee sei (so Simmel), entgegnete Gumplowicz, dass er die soziale Gruppe nirgends als ein selbständiges Wesen, als einen Organismus bezeichnete, dennoch aber auf die Tatsache verwiesen hätte, dass in der sozialen Entwicklung die Gruppen so einheitlich vorgehen würden, „als ob sie einheitlich wollende Wesen wären“.421 Die Vorhaltung, Gruppen bzw. den Staat als Wesen mit Willen, der den der Summe seiner Mitglieder transzendierte, begriffen und damit das Individuum als solches, weil vollständig determiniert, eliminiert zu haben, vermochte Gumplowicz allerdings nicht zurückzuweisen.422 Was die Sozialpsychologie betraf, teilte Kelsen, der wie sein Lehrer Bernatzik mit Gumplowiczs Theorie nichts anzufangen wusste, am ehesten den Standpunkt Georg Simmels, des Verfassers der Sociologie (1908): Simmel hatte sich der vorherrschenden Auffassung von der „sozialen Psychologie“ widersetzt, die von einer „Volksseele“, einem „Bewußtsein der Gesellschaft“, einem „Geiste der Zeiten als von realen, produktiven Mächten“ sprach.423 Simmels Abwendung davon war aber nicht vollkommen zweckfrei, versuchte er doch im Zuge der Ausdifferenzierung der Disziplinen zwischen Sozial- und ‚Individualpsychologie‘ methodische Analogien nachzuweisen, um Unterschiede zwischen der Soziologie und der Psycholo-
419 Ebenda, S. 174. 420 Edmund BERNATZIK, Ludwig Gumplowicz. Einleitung in das Staatsrecht (1889) und Das österreichische Staatsrecht (1891) [Rezension], in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 19 (1892), S. 761–781, hier S. 766. Für Bluntschli habe das Gemeinwesen einen Geruchssinn besessen, Gumplowicz habe ihm einen Geschmackssinn zugeschrieben. Während es Bluntschli, Schäffle und Lilienfeld aber als lebendiges Wesen aufgefasst hätten, habe Gumplowicz dem Gemeinwesen zwar Lebensäußerungen attribuiert, es aber nicht als Persönlichkeit anerkannt. 421 Ludwig GUMPLOWICZ, Soziologische Essays. Soziologie und Politik. Mit einem Vorwort von Franco Savorgnan, Aalen 1972, S. 234f. [Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1926: Ausgewählte Werke, hg. von Gottfried Salomon, in Verbindung mit Franz Oppenheimer, Franco Savorgnan, Max Adler 4] [Original: DERS., Essays 1899. DERS., Soziologie und Politik 1892]. 422 Unübersehbar ist eine Analogie zu dem schon aufgezeigten Standpunkt des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr, der 1927 – Riegl verzerrt auslegend – im völkischen Tonfall von „in den Gruppen basierenden geistigen Kollektivgebilden“ („Realia“, nicht „Nomina“) sprach. SEDLMAYR, Einleitung. Die Quintessenz der Lehren Riegls, in: RIEGL, Gesammelte Aufsätze, 1929, S. XXXI. 423 Georg SIMMEL, Exkurs über Sozialpsychologie (Original 1908), in: DERS., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992 (Gesamtausgabe 11), S. 625–632.
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gie dingfest machen zu können. Sein Argument lautete, „daß seelische Prozesse nur im Individuum und nirgends anders“ stattfinden würden. Da die Gruppe daher über keine Seele verfügte, verwarf er die Vorstellung von der „Kollektivseele“. Die Sozialpsychologie hatte sich mit dem Individuum zu befassen, Individualpsychologie aber nicht mit Soziologie.424 Simmel führte den Anspruch der Soziologie auf disziplinäre Autonomie nicht auf das unteilbare Objekt (Gesellschaft), sondern auf eine unteilbare Analyseperspektive zurück. Diese verdankte sich für ihn der Tatsache, dass der Mensch „in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt[e].“425 Den von ihm geprägten Begriff der „Wechselwirkung“ verwendete er sowohl als Relationsbegriff zur Analyse interindividueller, sozialer Beziehungen als auch als heuristisches Prinzip zur Schärfung des Verständnisses der Interaktionen.426 Der Wechselwirkungsbegriff akzentuierte das „dynamische Geschehen“. Sonach „sollte man nicht von Gesellschaft, sondern von Vergesellschaftung sprechen“, denn Gesellschaft sei „etwas Funktionelles, etwas, was die Individuen tun und leiden“, also ein Vorgang, in dem „die Einzelnen vermöge gegenseitig ausgeübter Beeinflussung und Bestimmung verknüpft sind.“427 Die Gesellschaft wurde durch diesen Vorgang mehr oder minder erzeugt. Simmel sah in ihr „keine Substanz, nichts für sich Konkretes, sondern ein Geschehen.“428 Der Untertitel seines Hauptwerkes „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ zeigte das Ziel seiner Sociologie an, das er unter der methodischen Prämisse verfolgte, von jedem essenzialistischen Verständnis von Gesellschaft (aber auch von Individualität und Gruppe), das er als metaphysisch und als mystische Hypostasierung verwarf, Abstand zu nehmen. Im Allgemeinen verschlossen sich allerdings die Wissenschaften seiner Zeit, insbesondere die Staatsrechtswissenschaft, vor derart dynamischen Ansätzen. Umgekehrt fand Kelsen auch an Simmels Soziologie Kritikpunkte: Was den Staatsbegriff betraf, warf er sogar Simmel, dem Vertreter einer modernen Soziologie, noch substanzialistische Vorstellungen vor: Zwar wirkte für den Lazarus-Schüler ein dynamisches Prinzip in der Gesellschaft, nämlich eine interindividuelle „Wechselwirkung“, die sich psychischer Momente oder Zwecke verdankte, der „Staat“ wäre aber auch von Simmel letztlich sozial definiert worden: nämlich, „weil unter seinen Bürgern das entsprechende Verhältnis gegenseitiger Einwirkung besteht.“429 Da Simmel den Staat über Wechselwirkungen zwischen den Individuen definierte, wich
424 Ebenda, S. 625f., S. 632. 425 Georg SIMMEL, Grundfragen der Soziologie (Original 1917), hg. von Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt (Gesamtausgabe 16), S. 59–149, hier S. 72. 426 Vgl. Brigitta NEDELMANN, Georg Simmel (1858–1918), in: Dirk KAESLER (Hg.), Klassiker der Soziologie, S. 127–149, hier S. 130–133. 427 SIMMEL, Grundfragen der Soziologie, S. 70. 428 Ebenda. 429 SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, S. 18.
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er von Kelsens Auffassungen vom Staat als normativer Ordnung entscheidend ab: Simmel versuchte die Staatszugehörigkeit empirisch-psychologisch zu bestimmen; dabei verfiel er aber Kelsen zufolge einer methodischen Illusion. Der Wiener Jurist sah allein im Geltungsbereich der juristischen Ordnung das definitive Moment, durch das die Zugehörigkeit der Staatsbürger zum Staat markiert war; demnach konnte die Soziologie nur untersuchen, ob diejenigen, die man juristisch als Staatsangehörige definierte, untereinander auch in jener Wechselwirkung stünden, die man irrtümlich für das den Staat konstitutierende Merkmal auffasste.430 4.9.4 Vorbild Freud? Warf Kelsen also „jedem Soziologen“ seiner Zeit ein „naiv-substanzialistisches“ Denken vor, so sah er in Sigmund Freud einen Neuerer, von dem er sagen konnte, „mit seiner psychoanalytischen Forschung über die Ergebnisse der bisherigen Soziologie hinausgegangen“431 zu sein. Er habe das Ziel verfolgt, das aufeinander bezogene Verhalten der Menschen in ‚Massenverhältnissen‘ zu analysieren, ohne auf vulgärpsychologische Ansätze der affektiven Ansteckung zurückzugreifen. Auch auf eine normative Begründung sozialer Tatsachen durch die Aufrichtung einer höchsten Autorität habe er verzichtet. Durkheim habe die soziale Tatsache noch mit Gott gleichgesetzt, Freud habe diese Annahme als überflüssig erachtet, weil er in „keiner Weise“ auf „die Rechtfertigung irgend welcher sozialer Autoritäten“, sondern ausschließlich auf „die Erklärung psychischer Phänomene“ abgezielt habe.432 Kurz: Anstatt das ‚Soziale‘ als höchsten Wert zu stiften, habe Freud – so Kelsen – mit den Mitteln der ‚Individualpsychologie‘ und unter Verzicht auf mystisch-metaphysische Annahmen (wie z.B. einer ‚Kollektivseele‘) Ursachen sozialer Verhaltensweisen aufzuklären versucht. In seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) zeigte der skeptische Individualist Sigmund Freud einen Weg auf, der von der Analyse des Individuums zur Aufhellung kollektiv wirksamer, d.h. sozialer psychischer Dispositionen führte. Waren in der Massenpsychologie vor Freud die Äußerungen des ‚Sozialen‘ auf einen nicht weiter zurückführbaren Sozialtrieb bezogen und ‚Individualpsychologie‘ von der Sozial- bzw. Massenpsychologie unterschieden worden,433 so überbrückte Freud diese methodische Kluft; für ihn war der soziale Trieb nicht mehr „ursprünglich“ und „unzerlegbar“.434 Soziale sowie narzisstische seelische Akte fasste er als Objekte ‚individualpsychologischer‘ Analyse. Im „Seelenleben des Einzelnen“, so Freud, wirkte „der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Geg-
430 431 432 433 434
Vgl. KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 100. Ebenda, S. 125, S. 133. Ebenda, S. 134f. Vgl. FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 74. Ebenda.
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ner“.435 ‚Individualpsychologie‘ war demnach – wie erwähnt – von Anfang an und notwendigerweise auch Sozialpsychologie, Sozialpsychologie aber ‚Individualpsychologie‘. Jede methodische Spaltung war im Sinne Kelsens ein Vorwand für Hypostasierungen und daher unangebracht.436 Die Wege Freuds und Kelsens kreuzten sich in Wirklichkeit zwar nicht oft,437 dennoch gibt es unübersehbare Parallelen, was ihre Biografie, ihre Ausgangspunkte und Ziele wissenschaftlichen Handelns betrifft. Beide blickten auf galizische Vorfahren zurück: Kelsens Vater Adolf war als Vierzehnjähriger mittellos in die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien gezogen, und auch Freuds Vater hatte sich von dieser entfernten Provinz der Monarchie zunächst nach Freiberg/Pribor (Mähren, heute Tschechische Republik) aufgemacht und sich 1860 in Wien niedergelassen. Die Söhne stiegen durch Gymnasialbesuch, Studium und Berufswahl in das Wiener Bürgertum auf. Als Zeitgenossen (Freud wurde 1856 geboren,438 Kelsen 1881439) verband sie nicht nur ihre jüdische Herkunft (Kelsen ließ sich 1905 taufen), sondern auch eine religiöse Indifferenz und ein unbeugsamer Atheismus: Kelsen war Agnostiker und Positivist, Freud sah sich als „gottloser Mediziner und Empiriker“.440 In wissenschaftlicher Hinsicht hatte Sigmund Freud in den Augen des Juristen für das Anliegen, das er standhaft verfolgte, unschätzbare Vorarbeiten geleistet. Kelsen griff diese aufgrund der auffallend ähnlichen Ausgangspunkte und Grundauffassungen auf. In den Jahren 1911/12 hatte er zwölf Mal die Mittwoch-Sitzungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) besucht.441 Seit Anfang der 1920er-Jahre beschäftigte er sich verstärkt mit der Psychoanalyse und er traf Sigmund Freud im Sommer
435 Ebenda, S. 73. 436 Vgl. ebenda. 437 Vgl. Ludwig ADAMOVIC, Kelsen und die Tiefenpsychologie. Stattgefundene und nicht stattgefundene Begegnungen, in: Robert WALTER, Clemens JABLONER (Hg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung. Ergebnisse eines Internationalen Symposions in Wien (14.–15. Oktober 1996), Wien 1997 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 20), S. 129–138. 438 Vgl. Hans-Martin LOHMANN, Die intellektuelle Biographie, in: FreudHandbuch, S. 49–76. Sigmund FREUD, Selbstdarstellung (Original 1925), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV, S. 31–96. 439 Vgl. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 29–132. MÉTALL, Hans Kelsen. Leben und Werk, S. 1–101. Friedrich KOJA (Hg.), Hans Kelsen oder die Reinheit der Rechtslehre, Wien–Köln–Graz 1988, S. 9–33. Thomas OLECHOWSKI, Über die Herkunft Hans Kelsens, in: Tiziana J. CHIUSI, Thomas GERGEN, Heike JUNG (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008 (Schriften zur Rechtsgeschichte 139), S. 849–863. 440 FREUD, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881 [Eintrag von „Wien, Nov. 8. 1874“], S. 82. 441 Vgl. Oliver RATHKOLB, Hans Kelsens Perzeption Freudscher Psychoanalyse (unter Berücksichtigung rechtstheoretischer Auseinandersetzungen), in: Eveline LIST (Hg.), Psychoanalyse und Recht, Wien 2000, S. 85–91.
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1920 oder 1921 mehrfach auf Spaziergängen in Seefeld in Tirol.442 Auf einer der Sitzungen der WPV (30. November 1921) hielt Kelsen ein Referat zu dem Thema „Der Begriff des Staates und Freuds Massenpsychologie“. Der Vortragstext wurde 1922 unter dem Titel „Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie. Mit besonderer Berücksichtigung von Freuds Theorie der Masse“ in der Zeitschrift Imago, für die Freud als Herausgeber zeichnete, veröffentlicht. In Sigmund Freud sah Kelsen unzweifelhaft ein Vorbild. Was ihn mit Begeisterung erfüllt hatte, bestand darin, dass der Psychoanalytiker die Vorstellung von der Seele, insbesondere aber der Massenseele, als Substanz aufgegeben und den Vermassungsprozess auf seine ‚individualpsychologischen‘ Ursachen zurückgeführt hatte. Allerdings entzweite sie bald ein Missverständnis: Der Jurist Kelsen war mit dem Standpunkt des von ihm verehrten Psychoanalytikers, dass auch der Staat als eine psychologische Masse zu begreifen sei, nicht einverstanden. Freud hatte auch diesen unvorsichtigerweise als soziale Gruppe, als „Massenseele“ mit „libidinöser Struktur“ aufgefasst. In seinem veröffentlichten Vortrag bezog sich Kelsen auf die maßgebliche Äußerung Sigmund Freuds: Jeder einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut. Jeder einzelne hat also Anteil an vielen Massenseelen, an der seiner Rasse, des Standes, der Glaubensgemeinschaft, der Staatlichkeit usw. und kann sich darüber hinaus zu einem Stückchen Selbständigkeit und Originalität erheben.443
Dass Freud offenbar auch den Staat als eine psychologische Masse begriff, wertete Kelsen als ein Indiz der Hypostasierung. Doch durfte er erwarten, dass jener, der ‚seelische‘ Vorgänge im Visier hatte, den Staat nicht ‚individual‘- und sozialpsychologisch, sondern juristisch-normativ auffasste? In diesem Sinn antwortete Sigmund Freud Kelsen nach dessen Vortrag in der WPV. Er habe seine Arbeit als Analytiker darin investiert, „um in [der] Analyse des Ichs weiterzukommen.“ Denn: „Der Weg zur Ichanalyse ginge über das Verständnis narzißtischer Psychosen, aber auch von sozialer Seite. Das Interesse der Psychoanalyse geht auf Ichanalyse.“ Das Staatsproblem
442 Vgl. Interview with Hans Kelsen by Dr. Kurt Eissler, Sigmund Freud Collection of the Library of Congress, Washington, Box ZR 12. [Transkript am Hans Kelsen-Institut, Wien, freigegeben von Oliver Rathkolb, Mai 1998] Der amerikanische Psychoanalytiker österreichischer Herkunft Kurt Eissler (1908–1999) führte das Interview mit Hans Kelsen am 19. Dezember 1953. Clemens Jabloner verweist auf die Mitgliedschaft Hans Kelsens in der WPV. Sicher ist, dass der Vortragende Hans Kelsen in der Sitzung der WPV vom 30. November 1921 „als Gast“ geführt wurde. Vgl. JABLONER, Kelsen and his Circle, S. 382. 443 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 119.
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habe er wegen Kompliziertheit nicht angerührt.444 Wohl auf diesen Vorfall Bezug nehmend, erklärte Freud in seiner Abhandlung Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) den Hypostasierungsvorwurf im Hinblick auf seine Vorstellung von Masse für überzogen: „Ich kann im Gegensatz zu einer sonst verständnisvollen und scharfsinnigen Kritik von Hans Kelsen (Imago VIII/2, 1922) nicht zugeben“, schrieb Freud, „daß eine solche Ausstattung der ‚Massenseele‘ mit Organisation eine Hypostasierung derselben, das heißt die Zuerkennung einer Unabhängigkeit von den seelischen Vorgängen im Individuum bedeute.“445 Hier stießen Standpunkte aufeinander, die zu Missverständnissen Anlass gaben. Folgende Schlussfolgerung ist naheliegend: Tatsache ist, dass sich der Jurist vor jedweder Verwässerung seines juristischen Staatsbegriffs verwahrte. So meinte er auch, im Werk Freuds Hypostasierungen gefunden zu haben, obwohl der von ihm verehrte Seelenkundler solche vielmehr zu entlarven versucht hatte. Wäre die flüchtige Beziehung, die beide verband,446 dauerhafter geworden, so hätte sich dieses Missverständnis vermutlich aufgeklärt. Denn Kelsen war sich wohl bewusst, dass Freud seinen Seelenbegriff definitiv von Le Bons Vorstellung einer provisorisch wesenhaften Kollektivseele, die das rassenmäßig vererbte Unbewusste in sich vereinte, abgegrenzt hatte. Unter ‚Massenseele‘ verstand Freud allein ein Hilfswort, das begrifflich differenzierte, keineswegs aber eine substanzielle Kollektivseele repräsentierte. Tatsächlich sah er in der Masse ein Objekt ‚individualpsychologischer‘ Analyse. Da Freud die Vermassung als einen auf individuellem Handeln beruhenden Prozess auffasste, hatte er sich in der Diskussion des Vortrags von Kelsen in der WPV wohl aufgerufen gefühlt, klärend zu unterstreichen, dass er anstatt „Masse“ auch den Begriff „Vergesellschaftungen“ verwenden hätte können.447 Simmel, in dessen Tradition diese Begriffsverwendung stand, hatte für Kelsen wohl am ehesten die künftige Stoßrichtung der Argumentation aufgezeigt: Seit Simmel war der Begriff der ‚Volksseele‘ in einer sich als kritisch verstehenden Wissenschaft punziert: Gesellschaft war „keine Sub-
444 Sitzungsprotokoll der Sitzung der WPV am 30. November 1921, veröffentlicht durch Karl FALLEND, Sonderlinge, Träumer, Sensitive. Psychoanalyse auf dem Weg zur Institution und Profession. Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und biograpische Studien, Wien 1995 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 26), S. 216f. 445 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 94. 446 Robert Walter unterstreicht, dass die „stattgefundene“ Begegnung zwischen beiden „fast keine gewesen sei, da die beiden einander nicht wirklich getroffen hätten.“ Vgl. Diskussion vom Vortrag von Präsident Ludwig Adamovic, in: WALTER, JABLONER (Hg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, S. 140. Ernest Jones berichtete von einem Besuch Hans Kelsens bei Freud während dessen Aufenthalt in Bad Gastein im Jahr 1921. Vgl. Ernest JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3: Die letzte Phase 1919–1939, Bern–Stuttgart 1962, S. 102. 447 Vgl. Sitzungsprotokoll der Sitzung der WPV am 30. November 1921, S. 217.
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stanz“, sondern ein „Geschehen“ („Vergesellschaftung“).448 Allein Individuen konnten Träger von Bewusstsein sein, nicht aber Kollektive. Was aber den Staat betraf, warf Kelsen Simmel ein methodisches Vergehen vor, weil er den Staat nicht als Abstraktum, als Ordnung menschlichen Verhaltens, als Recht, sondern als soziales Organ definiert hatte. Auch Freud hatte sich den Staat organisch vorgestellt. Ihm gegenüber war Kelsen aber gewogener als gegenüber Simmel. Freud war kein Soziologe, sondern Mediziner und ein unverzichtbarer Komplize, der – wie Ernst Mach – jene begrifflichen „Gespenster“ vertrieb, die den Fortschritt der Wissenschaften gehemmt und in der Welt des ‚Sozialen‘ Missstände, Ungerechtigkeiten und Verwirrungen hervorgerufen hatten. Kelsen führte Fritz Mauthner als Zeugen an, der als Sprachkritiker die Hypostasierung der veranschaulichenden Begrifflichkeit als „substantivische Sprache“ und „Wortaberglauben“ aufgedeckt habe. Diese „mythologische Methode“, die „in alle Wissenschaften, insbesondere aber in die Geisteswissenschaften hineinragte“,449 sollte vom Standpunkt der Erkenntniskritik überwunden, der Fehler der Umdeutung der Relationen in ‚feste Dinge‘, der Funktionen in Substanzen, bereinigt werden. Darin handelte Freud für Kelsen vorbildhaft, desavouierte er doch zentrale Substanzbegriffe wie z.B. ‚Massenseele‘, ‚Rasse‘, das ‚kollektive Unbewusste‘ dauerhaft. Die begriffskritische Haltung Freuds musste daher auf einen Juristen, der auf der Suche nach Argumenten war, um die wirkmächtige Vorstellung vom ‚Wesen‘ des Staates zu zerstören, tief inspirierend wirken. Unter diesem Vorzeichen stufte Kelsen Freuds Arbeiten zum ‚Ich‘ und zum ‚Sozialen‘ als „unschätzbare Vorarbeit“ ein, weil sie „aufs wirksamste die mit der ganzen Magie jahrhundertealter Worte ausgerüsteten Hypostasierungen Gottes, der Gesellschaft und des Staates in ihre individual-psychologischen Elemente“ aufgelöst habe.450 4.9.5 Hans Kelsen und die Staatslehre ohne Staat Als Kelsen seine Staatsrechtslehre konzipierte, argumentierten Teile der modernen Wissenschaft noch mit Substanzbegriffen, die eine verborgene Wirklichkeit jenseits der Erfahrungstatsachen abbildeten. Physiker sprachen von ‚Kraft‘, ‚Materie‘, ‚Atom‘, Theologen von ‚Gott‘. In der Sozialpsychologie repräsentierten das „soziale Ding“, die ‚Kollektiv‘- oder ‚Volksseele‘, aber auch der Begriff der ‚Masse‘ wesenhaft aufgefasste Substanzen. Ebenso wurden in der modernen Staatsrechtslehre der ‚Staat‘, das ‚Volk‘ und die ‚Nation‘ als solche vorgestellt. Substanzbegrifflichkeiten wie z.B. „Kraft“, „Seele“ u.a., notierte Kelsen, seien aber nichts als eine „versteckte Ausge-
448 SIMMEL, Grundfragen der Soziologie, S. 70. 449 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 138. 450 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 141, und DERS., Der Staatsbegriff und die Psychoanalyse (Original 1927), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 209–214, hier S. 214.
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burt“ der unwiderstehlichen Tendenz zur Personifikation, „gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Gehirns.“451 In der Substanzialisierung vieler abstrakter Allgemeinbegriffe, die als Strategie der Absicherung und Ausweitung menschlicher Souveränität verstanden werden konnte, erkannte Kelsen jedoch ein Vehikel der Wissenschaft, als Komplize der Herrschaft asymmetrische Machtverteilungen zu verschleiern. Da der herrschende Staatsrechtspositivismus Kelsen zufolge mit der Hypostasierung des Staats Macht zu Recht verklärte, verkörperte der organische, d.h. metarechtliche Staatsbegriff eine Art höhere Wahrheit: So wie Gott als ein der Natur gegenüber transzendentes Wesen wurde der Staat als eine dem Recht vorgegebene Kreatur vorgestellt. Im Hinblick darauf spielte „der Begriff des Staates“, so Kelsen, „in der Rechtswissenschaft durchaus die gleiche Rolle wie der Begriff der ‚Kraft‘ in der Physik, der Begriff der ‚Seele‘ in der Psychologie, allgemein der Begriff der Substanz in der Naturwissenschaft.“452 Solch metaphysischen Sichtweisen erteilte Kelsen eine Absage. Hatten Mach, Freud u.a. in ihren Disziplinen schon die Substanz- durch Funktionsbegriffe ersetzt, so nahm nun auch der Wiener Jurist dieses Vorhaben in Angriff, „um in der Rechtswissenschaft den Staat als ein von der Rechtsordnung verschiedenes Wesen“ zu eliminieren.453 Die jeweiligen Motive, die für die methodische Kritik der angeführten Wissenschaftler maßgeblich waren, waren einander ähnlich: Mach, Freud und Kelsen verwarfen die Substanzbegriffe, da sie die Wissenschaften mit Scheinproblemen überfrachteten. Sie erblickten in der politischen Instrumentalisierbarkeit reifizierender Begriffe wie z.B. ‚Volk‘, ‚Rasse‘ und ‚Nation‘ ein Motiv gegen substanzhafte Verdopplungen im Bereich der Wissenschaft anzutreten: Substanzbegriffe dieser Art, d.h. die Vorstellung von der Existenz axiomatischer, durch unveränderliche Attribute ausgezeichneter Substanzen, die sich voneinander eindeutig abgrenzen und im Verhältnis zueinander bewerten ließen, mochten zwar einen identitätsstiftenden Zweck erfüllen, sie wiesen aber auch die Tendenz auf, das Individuelle zu eliminieren und das Unintegrierbare auszugrenzen. Mach und Freud waren nur zwei von jenen hellsichtigen Wissenschaftlern, die um 1900 Substanz- durch Funktionsbegriffe ersetzten, um mit den ihnen eigenen wissenschaftlichen Mitteln den zunehmenden sozialen und politischen Ausgrenzungsprozessen entgegenzutreten. Hans Kelsen knüpfte in seiner Disziplin an ihre Vorarbeiten an und baute auf diesen auf. Durch die Verrechtlichung des Staates vernichtete er dessen metarechtliche Machtreserve, um im Rechtsstaat den Spielraum demokratischer Kompromissfindung und Konfliktminderung zu vergrößern. Wien war der Ort, an dem Mach das ‚Ich‘ relativierte, um der „Mißachtung des fremden Ich“ vorzubauen, Freud die Vorstellung einer überindividuellen Massenseele und die dinghafte Ausprägung des ‚Sozialen‘
451 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 207. 452 Ebenda, S. 206f. 453 Ebenda, S. 207f.
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verwarf und Kelsen eine „Staatslehre ohne Staat“ entwickelte, die nicht Macht in Recht verklärte. Zweifelsohne hatten die Pluralitäten Österreichs ihren Blick dafür geschärft. Auch in Österreich hatten soziologisierende Juristen das Trennende in den Vordergrund gerückt und – wie im folgenden Teil auszuführen sein wird – als „Seins-Wissenschaftler“ normativ gewirkt. Hiervon war Kelsen aber weit entfernt, versuchte er doch das Verbindende auf normativer Ebene aufzuzeigen, um nicht auf der Seins-Ebene das Trennende zu vergrößern.
B. S TAATSRECHTSDISKURSE IN H ABSBURG -Z ENTRALEUROPA Im Laufe des 19. Jahrhunderts verabschiedete sich die Jurisprudenz zusehends von der Vorstellung, dass über der vom Menschen erzeugten juristischen eine legitime natürliche Ordnung stehen würde. Die moderne Naturrechtslehre büßte ihren Einfluss auf das öffentliche Recht allerdings nicht vollends ein. Ausläufer waren noch im 20. Jahrhundert wirksam. In der Habsburgermonarchie hatte das ‚ewige‘ und ‚gerechte‘ Naturrecht – seit 1716 (in Wien seit 1753/54) universitär vermittelt – die Rechtswissenschaft, das Privatrecht sowie die Herrschaftspraxis bestimmt.454 In der Mitte des 19. Jahrhunderts entzog die Politik der Rechtswissenschaft dieses angeblich ‚subjektivistische‘ Fundament, um sie ‚objektivistisch‘, historisch und positivistisch auszurichten.455 Mit dem Aufstieg der induktiven Methodik suchte auch die im Werden begriffene Staatsrechtswissenschaft Anschluss an das positivistische Wissenschaftsideal. Sie versah sich zwar mit dem Schein des Autonomen, jedoch verblieben ihre Zugriffe auf das Recht weiterhin politisch geprägt. Um 1900 wurden schließlich zusehends kritische Töne laut: Die Autonomisierung war nur halbherzig vollzogen worden; außerdem wurde man sich gewiss, dass Theorie und Methodik der Naturwissenschaften für die Jurisprudenz als ‚Soll-Wissenschaft‘ nicht zureichten. Als sich aus neukantianischer Perspektive zeigte, dass sich die Analyseobjekte der Jurisprudenz nicht voraussetzungslos den Kausalwissenschaften zurechnen ließen, schwand zusehends die Euphorie über das naturwissenschaftliche Methodenideal. Der Positivismus schlitterte in seine erste Krise.456 Das zentrale
454 Vgl. HEINDL, Bildung und Recht, S. 183–206, und Wilhelm BRAUNEDER, Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie, in: Diethelm KLIPPEL (Hg.), Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.–19. Jahrhundert), München 2006 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 57), S. 145–170, hier S. 145. 455 Vgl. Michael STOLLEIS, Nationalität und Internationalität: Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht des 19. Jahrhundert, Stuttgart 1998 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 4), S. 14. 456 Vgl. Stefan KORIOTH, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: Archiv des öffentlichen Rechts 117 (1992),
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Verdienst Hans Kelsens bestand darin, einen Ausweg aus der Krise aufgezeigt zu haben, indem er Anfang des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft vom Staatsrecht methodisch-theoretisch als reine ‚Normwissenschaft‘ neu begründete, um ihr offensiv den Weg zur relativen Autonomie zu ebnen. Auch in der Habsburgermonarchie fungierte die Jurisprudenz als „das politische Fach schlechthin“457 und als Sprachrohr des Herrschers an die kleine Zahl Studierender. Dynastie, Hof und Verwaltung hatten schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert für sich das „volle Recht“ auf „Einrichtung und der Beaufsichtigung der Studien“ reklamiert, „deren Zweck sich […] zunächst auf den Staat und das Politikum“ bezog.458 In der zweiten Jahrhunderthälfte reformierte Maria Theresia die Juristenfakultäten, und sie intensivierte die Naturrechtspflege. Der fiktive Gesellschaftsvertrag sollte auf die uneinheitliche Verfasstheit des Staates ausgleichend wirken,459 sodass sich die dynastische Union verschiedener Königreiche und Länder mit dem Schein moderner Staatlichkeit versehen konnte. Vor diesem Hintergrund etablierte der Wiener Aufklärer, Staatsphilosoph, Staatsrat und (seit 1754) Universitätsprofessor Carl Anton Freiherr von Martini (1726–1800) das ‚Vernunftrecht‘ als ‚politische Disziplin‘ und ‚Staatsdoktrin‘. Auch Metternich gab dieses Staatsfundament mangels verträglicher Alternativen nicht auf, allerdings wurde das ‚natürliche öffentliche Recht‘ zu seiner Zeit für die restaurativen Anforderungen der offiziellen Politik weiter zugerichtet: Anstelle von Staatsrecht wurden politikfreie Statistik und österreichisches Gesetzesrecht, nicht aber Verfassungsrecht gelehrt: „Ein wirkliches Studium des öffentlichen Rechtes“, so Josef Ulbrich, „mangelte vollständig.“ So hätten im Vormärz Studierende weder durch „das seichte Naturrecht“ noch durch „die flachen Theorien Sonnenfels’“ Einblick in das „Wesen des Staates“ gewinnen können.460 Die nur bruchstückhafte Vermittlung des Staatsrechts verhinderte aber nicht, dass progressive liberale Akteure auf ihren Anspruch auf eine Verfassung verzichteten. Diese „Latenzperiode des Liberalismus“, von der der Historiker Karl Eder – wie erwähnt – sprach, endete schließlich in einer Revolution. Dadurch erschien das Naturrecht als herrschaftsstabilisierende Staatsdoktrin diskreditiert, sodass der Minister für Cultus und Unterricht Leo Graf von Thun-Hohenstein das juridische Studi-
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S. 212–238, hier S. 212, und LEPSIUS, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisverfahren, S. 293–296. STOLLEIS, Staatsrechtslehre und Politik, S. 6. Josef ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, in: Oesterreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesammten österreichischen öffentlichen Rechtes, hg. von Ernst Mischler, Josef Ulbrich. Band 2, Wien 1897, S. 1385–1395, hier S. 1386. Vgl. Waltraud HEINDL, Universität und Staatsideologie. Die österreichische Monarchie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Michal SVATOŠ, Luboš VELEK, Alice VELKOVÁ (Hg.), Magister Noster, Praha 2005, S. 183– 194, hier S. 184, und BRAUNEDER, Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie, S. 145–170. ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, S. 1390.
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um neu ausrichten konnte: Er verbannte das ‚subjektive‘ Naturrecht und verpasste der Jurisprudenz anstatt des rationalistischen einen historischpositivistischen Anstrich. Damit versuchte er, den staatstragenden Juristenstand auf einen, von subjektivistischer Spekulation befreiten, konservativen Weg im Zeichen des Objektivismus einzuschwören. Die Thunsche Unterrichtsverwaltung verstand unter Positivismus allerdings nicht das, was viele liberal gesinnte Akteure, die sich bald für ihn verwendeten, mit diesem Begriff verknüpften. Die Tendenz zur Verpositivierung der Wissenschaft hatte sich in der habsburgischen Jurisprudenz schon im Zeitalter der großen ‚nationalen‘ Kodifikationen des Zivil- und Strafrechts abgezeichnet.461 In der Juristenausbildung des 19. Jahrhunderts manifestierte sie sich in einer Art Gesetzespositivismus. Ansätze einer positivistischen Staatsrechtswissenschaft, die diesen Namen auch verdienten, tauchten in Österreich aber erst Anfang der 1860er-Jahre auf: In den nächsten Jahrzehnten entfaltete sich die Staatsrechtslehre – vereinfacht gesagt – in zwei unterschiedlichen Varianten: einer normativ-logischen und einer empiristisch-psychologisch-soziologischen. Hinzu kam im ausgehenden 19. Jahrhundert eine dritte Strömung, die als historistisch bezeichnet werden kann. Die Vertreter der normativ-logischen Jurisprudenz verstanden unter dem juristischen System eine von kausaler Gesetzmäßigkeit, Geschichte, Politik und Metaphysik befreite normative Ordnung. Im Mittelpunkt ihrer Analysen stand die Welt juristischer Normen; Moral und Faktizität waren für sie unerheblich. Die Anhänger einer empiristischen ‚Staatsrechtslehre‘ sprangen auf den kausalwissenschaftlichen Zug der Zeit auf, den die Naturwissenschaften ins Rollen gebracht hatten. Da sie die soziale Dimension – die Faktizität – in die juristische Analyse miteinbezogen, werteten sie den Standpunkt, dass das Recht ‚machtgeboren‘ sei, auf. Jede der hier erwähnten Varianten konnte auf ihre Art – wie später gezeigt werden wird – ins Politische abdriften.
4.10 D ER R ECHTSSTAAT
OHNE
S TAATSRECHT
Die Studienreform von 1810 und die Kodifikation und Veröffentlichung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) von 1811/12 bildeten den Abschluss einer sich über fünfzig Jahre erstreckenden Staatsreformbewe-
461 In den österreichischen und böhmischen Ländern der Monarchie waren Zivilund Strafrecht kodifiziert worden. Im Königreich Ungarn stützte sich die Justiz auf das Tripartitum Stephan Werböczys aus dem 16. Jahrhundert sowie auf die so genannten ‚Abschiede‘ des ungarischen Reichstages. Vgl. Otto BRUNNER, Staat und Gesellschaft im vormärzlichen Österreich im Spiegel von I. Beidtels Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848, in: Werner CONZE (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1962 (Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 1), S. 39–78, hier S. 64.
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gung, die der Jurisprudenz und den ‚Politischen Wissenschaften‘ zu einem beträchtlichen Aufschwung verholfen und zur Ausbildung einer spezifisch österreichischen Spielart des juridischen Studiums geführt hatte: Hier wurde ein rechts- und staats- bzw. politikwissenschaftlicher Studienzweig universitär verankert. Aufgrund dieser Verbindung, die in das 18. Jahrhundert zurückreichte, unterschied sich das österreichische Rechtsstudium von dem in Ungarn und jenem in Deutschland.462 In Österreich wurde auch die Hinwendung zur historischen Rechtsschule nicht mit Deutschland mitvollzogen, da die mit ihr verbundene ‚Mythisierung‘ historisch-nationaler Rechte eine Steigerung der nationalen Sprengkraft befürchten ließ.463 Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches (1806) hatte die Ablösungstendenz verstärkt. Die Verselbständigung hatte sich aber schon im 18. Jahrhundert abgezeichnet. Verstärkt war das Ziel einer Art ‚österreichischen Nationalerziehung‘ verfolgt worden. Vor diesem Hintergrund hatte Maria Theresia im Zuge der Verstaatlichung (Säkularisierung) des Schul- und Universitätswesens das Studium an den Juristenfakultäten der österreichischen Länder reformiert. War das Rechtsstudium davor durch das kanonische und römische Recht beherrscht gewesen, so schuf sie 1753 an der juridischen Fakultät der Wiener Universität einen Lehrstuhl für Natur- und Staatsrecht, der im Jahr darauf mit dem erwähnten Freiherrn von Martini besetzt wurde. Die neu errichtete Lehrkanzel für Polizei- und Kameralwissenschaft wurde 1763 dem Martini-Schüler und späteren Aufklärer Joseph von Sonnenfels (1732 od. 1733–1817) überantwortet. Lehrstühle dieser Art wurden danach auch an den anderen Universitäten installiert, ihre Inhaber auf Vorschläge der Wiener Professoren ernannt. Der Staatsphilosoph Martini verkörperte ad personam das, was zu seiner Zeit unter Staatsrecht verstanden wurde. Seine Schriften Das natürliche öffentliche Recht, Das allgemeine Recht der Staaten und Das private Naturrecht464 stellten nach 1774 die Richtschnur für Vorlesungen an den juridischen Fakultäten dar. Das natürliche öffentliche Recht wirkte allerdings ambivalent: Was progressiv erschien, stützte in Wahrheit die dynastischmonarchische Herrschaftsform. Diesem System zufolge unterwarf sich das ‚Staatsvolk‘ freiwillig einer von ihm auf den Herrscher delegierten ‚Staatsgewalt‘: Die monarchische Herrschaftsgewalt war unumschränkt und unan-
462 Trotz der dynastischen Verbindungen sollte es in der Jurisprudenz zu keiner Annäherung zu Ungarn kommen. Vgl. HEINDL, Staat, Gesellschaft und Verwaltung im Neoabsolutismus, S. 97–111, hier S. 107–109. 463 In Deutschland setzte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Historische Schule durch, die mit den schulbildenden Synthesen Friedrich Carl von Savignys (1779–1861) ihren Höhepunkt erreichte. 464 Martini hatte seine Werke ursprünglich in lateinischer Sprache abgefasst. Als unter Kaiser Joseph II. seit 1783 die Vorlesungen zumeist in deutscher Sprache abzuhalten waren, wurden sie übersetzt.
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fechtbar, Privilegien beruhten auf dem Majestätsrecht.465 Martinis System sah weder die Lehre von der Volkssouveränität noch die gesetzmäßige Sicherung von Individualrechten vor. Kaiser Joseph II. war ein erklärter Anhänger naturrechtlichen Unterrichts. Hier zeigt sich, dass der Wissenschaft die Erfüllung eines Machtzwecks aufgegeben war. Später wurde Martinis Werk Das natürliche öffentliche Recht von Franz von Egger (1765–1851),466 einem Professor für Kriminal- und Zivilrecht an der Universität Wien, in eine umfassend revidierte und entschärfte Version gebracht. Sein System sollte den Wandel der politischen Verhältnisse und mehrere Studienreformen (1788/89, 1790/91, 1805 und 1810) überdauern. Im Vormärz weiter verwendet,467 wurde es schließlich durch die Thunsche Studienreform eliminiert.
4.11 D IE J OSEPHINISCHE S TAATSLEHRE Kaiser Joseph II. (1741–1790) bedachte die Staatslehre mit zwei zentralen Aufgaben, und zwar mit der praktisch-juristischen Schulung der Studierenden zum Zweck ihrer Berufsvorbereitung für den Staatsdienst sowie ihrer weltanschaulichen ‚Lenkung‘. Wissenschaftliche Forschungstätigkeit wurde hingegen als zweitrangig eingestuft.468 Die Universitätsstudien waren im theresianisch-josephinischen Zeitalter zur ‚dynastisch-höfischen‘ Angelegenheit avanciert.469 Studierende sowie Professoren wurden seither verstärkter staatlicher Aufsicht unterworfen. Maria Theresia hatte im Jahr 1760 zur zentralen Planung, Lenkung und Verwaltung der Universitäten und Gymnasien die Studienhofkommission gegründet. Unter ihrem Schirmherrn Gerhard van Swieten (1700–1772) wurden Vorlesebücher vorgeschrieben, Un-
465 Vgl. Ignaz BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740– 1848. Band 1 (1740–1792), Innsbruck 1896, S. 101–104, und HEINDL, Bildung und Recht, S. 189f. 466 Franz Edler von EGGER, Das natürliche öffentliche Recht nach den Lehrsätzen des Freiherrn C.A. v. Martini vom Staatsrecht mit beständiger Rücksicht auf das natürliche Privatrecht des k.k. Hofrates von Zeiller, Wien–Triest 1809– 1810. 467 Vgl. HEINDL, Bildung und Recht, S. 187. Zur Verwässerung der Auffassungen Martinis durch Egger vgl. ebenda, S. 200–202, und DIES., Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich. 1780 bis 1848, Wien [u.a.] 1991, S. 121–126. 468 Die Universitäten Graz, Innsbruck und Brünn (Olmütz) wurden zu Lyceen zurückgestuft. Auch die Universität Lemberg wurde in ein Lyceum verwandelt, Krakau (seit 1795 habsburgisch) weiter als Universität geführt. Zwischen 1824 und 1828 erhielten die Lyceen schließlich wieder den Titel einer Universität. Vgl. BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung 1740–1848. Band 2, S. 296. 469 Die Verwandlung der Universität von einer autonomen Körperschaft in eine staatliche Anstalt war durch die Reformatio nova Ferdinands I. im Jahr 1554, dem ersten staatlichen Universitätsgesetz ‚Österreichs‘, eingeleitet worden.
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terrichtsmethoden vorgezeichnet und die Zensur verschärft.470 Diese Vorschriften übernahm auch sein Sohn Gottfried van Swieten (1733–1803) als Präses der Studien- und Bücherzensur-Hofkommission. Laut einer Verordnung (1783) war es seither keinem Professor erlaubt, ohne ihre Genehmigung zu den von dieser Hofstelle vorzuschreibenden Vorlesebüchern einen Zusatz oder irgendeine Abänderung zu machen.471 Den politischen Zweck der „hohen Schulen des Staates“ – wie sie nunmehr hießen – definierte der jüngere van Swieten unmissverständlich in einem ‚Vortrag‘ im Jahr 1785: Die Studienverfassung in den Staaten Eurer Majestät […] hängt mit der allgemeinen Nationalerziehung genau zusammen; machet einen der wichtigsten, der wesentlichsten Teile derselben aus, soll dem Staate Bürger, die von ihren Pflichten unterrichtet, überzeugt, und sie aus Ueberzeugung stets zu erfüllen bereit, soll ihm Beamte, die in verschiedenen Zweigen der öffentlichen Verwaltung brauchbar, soll Männer für die Rathstube, für das Kabinett bilden, die mit vaterländischen, zum ganzen Plane der Staatsverfassung einstimmenden Grundsätzen und Gesinnungen genährt sind.472
Der Zweckgerichtetheit des Studiensystems zufolge hatte Kaiser Joseph II. kaum Verständnis für die freie Wissenschaft und Lehre aufgebracht. Der Historiker, Jurist und Verwaltungsfachmann Ignaz Beidtel (1783–1865) berichtete, dass „die Freiheit im Vortrage, welche tatsächlich bestand, prekär“ gewesen sei.473 In der Tat wurde die universitäre Lehre auf die Bedürfnisse des Staates orientiert. Kurz: Die Universitäten stellten Staatslehranstalten dar, deren vordringliche Aufgabe in der erwähnten „National-“ bzw. „Staatserziehung“ bestand. Unnütze Lehre, wie die der französischen, italienischen und spanischen Sprache, war einzustellen, ein Austausch mit ausländischen Universitäten nicht vorgesehen. Inbegriff dessen, was eine Universität nicht darstellen sollte, war die Universität Göttingen, der van Swieten angeblich vorwarf, „ohne alle Beziehung zur Nationalbildung“ zu sein. Sie hätte „keinen vorgeschriebenen, eine beständige Leitung oder besondere Aufsicht fordernden Plan“; im Gegenteil: „die Studierenden […] sind wie die Lehrer ganz sich selbst überlassen; jene besuchen für ihr Geld, welche Lehrer, welche Collegien sie wollen; diese lesen, was sie wollen, was ihren Hörsal am meisten zu füllen hoffen lässt“. Sie suche „die Gelehrten vom größten Rufe“ an sich zu ziehen, „weil sie durch solche Männer den
470 Vgl. BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung. Band 1, S. 36. 471 Vgl. ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, S. 1387, und Rudolf KINK, Die Rechtslehre an der Wiener Universität. Geschichtliches Fragment als Beitrag zur österreichischen Rechtsgeschichte, Wien 1853, S. 62. 472 Vortrag van Swietens vor dem Kaiser vom 25. Februar 1785, wiedergegeben in: Rudolf KINK (Hg.), Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, Wien 1854, S. 554. 473 BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung. Band 1, S. 280.
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Zulauf des Ausländers zu vergrössern hofft, um dessen Verzehrung, nicht um dessen Verwendung es ihr zu thun ist.“474 Dass im Studiensystem Gottfried van Swietens völlige Stagnation vorherrschte, ist eine Sichtweise, die im Wesentlichen auf den Historiker Rudolf Kink (1822–1864) zurückreicht, welcher selbst ein Spielball der Politik gewesen war. Der Innsbucker Verfasser der Wiener Universitätsgeschichte hatte zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Unterrichtspolitik Josephs II. und seines Studienhofkommissionsvorsitzenden van Swieten völlig verzerrt dargestellt, um die Innovationen Thuns, d.h. die Abkehr von der anachronistischen Studienverfassung josephinischer Herkunft, in strahlenderem Licht erscheinen zu lassen.475 Kinks normativer Zugang bestimmte bis zuletzt das Bild, das von van Swietens Reform des philosophischen Studiums gezeichnet wurde. Der Salzburger Historiker Ernst Wangermann erinnert, dass das Attribut eines „Studiendespotismus“, der dem jüngeren van Swieten seit Rudolf Kink von vielen Historikern nachgesagt wurde und wird, nicht ihm, sondern vielmehr seinen Widersachern gebührte:476 Habe van Swieten als Präses der Studienhofkommission einen Universitätsunterricht mit „Verstand und Herz“ einzuführen versucht und die Professoren nicht in despotischer Weise an staatlich appropierte Lehrbücher gebunden, so hätte sie sein Nachfolger Martini (ab 1790) zur Verschriftlichung jeder Abweichung aufgefordert, damit der Staat von ihren Lehrsätzen unterrichtet gewesen wäre.477 Gottfried van Swieten hatte im Rahmen der juridischen Studienreform, die ihm 1788/89 anvertraut worden war, Wangermann zufolge die Intention verfolgt, das juridische Studium für die Stärkung des Staatsnationsgefühls auf der Grundlage eines verfassungsmäßigen Verhältnisses zwischen dem Monarchen und den Staatsbürgern zuzurichten.478 Hierfür sollte u.a. ein Lehrstuhl für das österreichische Staatsrecht in Wien etabliert und die ‚vaterländischen Geschichte‘ im Studienplan der juridisch-politischen Studien verankert werden. Dieses Vorhaben scheiterte allerdings, da die Unterrichtung des Staatsrechts als gefährlich und politisch untragbar eingestuft wurde; ebenso wurden nach dem Sturz van Swietens als Studienhofkommissionsvorsitzendem und mit der Studienreform, die Leopold II. in den Jahren
474 Vortrag van Swietens vor dem Kaiser vom 25. Februar 1785, wiedergegeben in: KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, S. 554, und vgl. DERS., Die Rechtslehre an der Wiener Universität, S. 62f. 475 Rudolf Kink verfasste im Auftrag des Unterrichtsministers eine Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien (1854). 476 Ernst WANGERMANN, Aufklärung und staatsbürgerliche Erziehung. Gottfried van Swieten als Reformator des österreichischen Unterrichts 1781–1791, Wien 1978, S. 78. 477 Vgl. ebenda, S. 68–82, hier S. 80f. 478 Vgl. ebenda, S. 80.
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1790/91 seinem Nachfolger Martini anvertraute, Abstriche an der zukunftsweisenden philosophischen Studienreform vorgenommen.479 In der Angelegenheit der „österreichischen Nationalerziehung“480 hatte Gottfried van Swieten in Joseph von Sonnenfels einen Mitstreiter gefunden, der mit anderen Mitteln dasselbe Ziel verfolgte: Sonnenfels verstand die Nationalerziehung nicht im ethnografischen, sondern im politischen Sinne. In seiner Schrift Über die Liebe des Vaterlandes (1771) definierte er ihr Ziel: praktisch, sozial, dem Individuum Glückseligkeit verschaffend. Ihm schwebte das Modell eines vernünftigen Staates, eine Art „moderne Staatsbürgernation“481, vor. Die Voraussetzung für den ersehnten Vernunftstaat, durch den der Wind der Aufklärung wehen sollte, bildeten die „nationalen“ Kodifikationswerke. Allerdings waren für Sonnenfels auch „die Wissenschaften […] ein wesentlicher Theil der National-Erziehung“, über die „die Jugend die zu ihrer künftigen Bestimmung als Bürger nach Verschiedenheit der Classen nöthige Bildung empfangen“ sollte.482 So verwundert es nicht, dass Sonnenfels auch an van Swietens Lehrstuhlvorschlag für das österreichische Staatsrecht Anteil hatte, der mit seinem Projekt eines „Staatsplans“, einer Art Staatsverfassung, korrelierte.483 Während diese Projekte im Sand verliefen, verloren die ‚Politischen Wissenschaften‘, die Sonnenfels in den Universitätsunterricht eingeführt hatte, ihren Stellenwert nicht wieder. Joseph II. hatte sie 1784 von dem der
479 Vgl. HEINDL, Bildung und Recht, S. 192f. DIES., Universität und Staatsideologie, S. 186. BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung. Band 1, S. 445–448. 480 Vgl. Joseph von SONNENFELS, Das Unterrichtswesen in Oesterreich unter Kaiser Joseph II. Nach (seiner) Darstellung von Gerson Wolf, Wien 1880, S. 6– 9, und Richard MEISTER, Die Idee einer österreichischen Nationalerziehung unter Maria Theresia, in: Anzeiger der Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse 1 (1946), S. 1–16. 481 HEINDL, Bildung und Recht, S. 191, und DIES., Joseph von Sonnenfels. Skizzen zu einem ‚patriotischen‘ Lehrer und Beamten, in: Moravští Židé v rakouskouherské monarchii (1780–1918) [Mährische Juden in der österreichischungarischen Monarchie (1780–1918)], Brno 2003, S. 303–314. 482 Diese Darstellung des österreichischen Studiensystems, welche Sonnenfels am 24. August 1785 zum Gebrauche des kais. Russischen Ministeriums der Volksaufklärung verfasste, ist wiedergegeben in: KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Band 1, S. 553. 483 Vgl. Sonnenfels „Allerunterthänigstes Promemoria über die Wiederherstellung der politischen Kompilation“ vom 7. April 1790 zur Kodifikation des öffentlichen Rechts, umfassend behandelt in: Stephan WAGNER, Der politische Kodex. Die Kodifikationsarbeiten auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in Österreich 1780–1818, Berlin 2004 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 70), S. 44–55, S. 235–244. Vgl. weiters Karl-Heinz OSTERLOH, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameralwissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck–Hamburg 1970 (Historische Studien 409), S. 208f. Ernst WANGERMANN, Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen, Wien– Frankfurt–Zürich 1966, S. 34–36. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 51.
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Grundausbildung dienenden zweijährigen cursus philosophiae an der philosophischen auf die höhere juridische Fakultät der Universitäten und Lyzeen verlagert.484 Künftig war ihr Studium für jeden Juristen verpflichtend.485 Die ‚Politischen Wissenschaften‘ umfassten die Fächer Wirtschaft (mit allgemeiner Staatslehre), Verwaltungsrecht (Polizei und Staatswirtschaft) und Statistik, und sie verstanden sich als die Lehre von den Mitteln zur Handhabung der Wohlfahrt des Staates.486 Als erster Inhaber der Wiener Lehrkanzel hatte Sonnenfels den Boden für die Kameralwissenschaften bereitet, auch die Verwaltungswissenschaft fand in der Polizeiwissenschaft, wie sie Sonnenfels verstanden hatte, einen Vorläufer. Viele spätere Professoren, die diese verpflichtenden Fächer in Wien und den anderen österreichischen Universitäten unterrichteten, waren seine Schüler, sodass der Historiker und Statistiker Karl Theodor Inama von Sternegg (1843–1908) darauf verweisen konnte, dass die in Wien von Lorenz von Stein entwickelte Verwaltungslehre auf eine durchgehende Tradition zurückgeblickt habe. Schließlich lieferte Sonnenfels‘ Hauptwerk Grundsätze auch die Grundlagen für die Statistik. Hatte Sonnenfels diese Disziplin aber noch durch eine normative Methode fundiert, so sollte sein Schüler Ignaz de Luca (1746–1799) der Statistik, einer Staatenkunde, eine enzyklopädische Ausrichtung geben. In der Statistik wurden ‚unpolitische‘ Informationen über den Zustand des ‚Vaterlandes‘ vermittelt.487
484 Vgl. ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, S. 1388, und LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo ThunHohenstein, S. 54. 485 Vgl. Friedrich KLEINWÄCHTER, Die rechts- und staatswissenschaftlichen Facultäten in Oesterreich, Wien 1876, S. 14f. 486 Der Lehrstoff der ‚Politischen Wissenschaften‘ lässt sich aus dem vorgeschriebenen und vielfach aufgelegten Sonnenfelsschen Lehrbuch Sätze aus der Polizey-, Handlungs- und Finanz-Wissenschaft, Wien 1765, erschließen. Vgl. Joseph von SONNENFELS, Sätze aus der Polizey-, Handlungs- und FinanzWissenschaft, Wien 1765, dann überarbeitet und erweitert, nach 1787 mehrfach neu aufgelegt. Spätere Auflagen erschienen unter dem Titel: Grundsätze der Polizey-, Handlungs- und Finanz-Wissenschaft. Vgl. auch Kurt EBERT, Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz. Rechtswissenschaft und Rechtslehre an der Grazer Hochschule zwischen 1810 und 1948, Graz 1969, S. 85–87. 487 Vgl. insbesondere auch Michael STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 382f. Karl Theodor INAMA VON STERNEGG, Die Entwicklung der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes seit dem Tode von Lorenz von Stein, in: DERS., Staatswissenschaftliche Abhandlungen. Band 2, Leipzig 1903, S. 57–84. OSTERLOH, Joseph von Sonnenfels, S. 248.
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4.12 D ER V ORMÄRZ . F RANZ VON Z EILLER & C O . Der Sonnenfelssche Vorstoß fand schließlich einen Vollender: Der MartiniSchüler und Lehrkanzelnachfolger Franz von Zeiller (1751–1828), der „mit Feuereifer“488 die Tendenzen der josephinischen Hochschulpolitik vertrat, führte als Mitglied der Studienhofkommission, als Studiendirektor der juridischen Fakultät und als Architekt der neuen Studienreform (1810) das, was Sonnenfels auf Schiene gebracht hatte, im Wesentlichen weiter.489 Die Idee der Kodifikation des öffentlichen Rechts in einem ‚Politischen Kodex‘, einer Art Staatsverfassung, wurde aber nach dem Tod von Sonnenfels 1817 endgültig aufgegeben. Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches (1806) hatte zu einer umfassenden Revision der Ordnung für den Unterricht in den „juridisch-politischen Wissenschaften“ geführt. Die so genannte „Zeillersche Studienordnung“ (1810) etablierte das Rechtsstudium als ein „juridisch-politisches“,490 sodass die politischen und Kameralwissenschaften auch künftig als ein integraler Teil der juridischen Studien aufgefasst wurden. Diese Verknüpfung zeugt – wie erwähnt – von einem spezifisch österreichischen Weg,491 der auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verfolgt wurde. So waren u.a. die Vertreter der ‚Österreichischen Schule der Nationalökonomie‘ (wie z.B. Carl Menger) ausgebildete Juristen.492 Der Studienreformer Franz von Zeiller vertrat den Standpunkt, „dass der neue Plan nur auf das Bedürfniss des Landes einzuschränken, und nur das zu lehren sei, was der austretende Jurist für seine praktischen Zwecke, namentlich für den Staatsdienst, brauche.“ Da – so sein Argument sowie im Wesentlichen auch das der Hofkanzlei – die nach der Auflösung des Reichsverbandes „noch übrigbleibenden Fundamentalgesetze der deutschen österr. Staaten [so Zeiller in seinem Bericht vom 10. Mai 1808, J.F.] kein Ganzes [bildeten], das eines eigenen Lehrfaches bedürfte“,493 war es über-
488 LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, S. 67. 489 Vgl. Kurt EBERT, Der Einfluß Franz v. Zeillers auf die Gestaltung des juristischen akademischen Unterrichts. Die Reform des Rechtsstudiums im Jahre 1810, in: Walter SELB, Herbert HOFMEISTER (Hg.), Franz von Zeiller (1751–1828). Beiträge zur Gesetzgebungs- und Wissenschaftsgeschichte, Wien–Graz–Köln 1980, S. 63–93. 490 KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität in Wien. Band 1, S. 618. Die „juridisch-politischen Lehranstalten“, in denen dieses Studium angeboten wurden, waren folgende: die Universität Wien, die Theresianische Ritterakademie in Wien, die Universitäten bzw. Lehranstalten in Graz, Prag, Olmütz, Lemberg, Pavia, Padua und Innsbruck. 491 Vgl. Elisabeth BERGER, Das Studium der Staatswissenschaften in Österreich, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 177–211, hier S. 181. Im Jahr 1919 wurde schließlich ein separates Studium der Staatswissenschaft eingerichtet. 492 Vgl. LINDENFELD, The Practical Imagination, S. 69f. 493 Rudolph KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität in Wien. Band 1, S. 617.
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flüssig, weiterhin das deutsche Staatsrecht zu vermitteln. Der „öffentliche Unterricht“ sollte daher dem „Studien-Hofcommissions-Decret“ vom 7. September 1810 zufolge auf das, „was in den deutschen Erbländern zur Besorgung der Justiz oder politischen Geschäfte zu wissen nöthig ist, ausgedehnt, aber auch darauf eingeschränkt werden.“494 Bruchstückhaft wurden Staatsrechtsgesetze und deutsche Reichsgeschichte auch künftig im Lehrfach österreichische Staatengeschichte und Weltgeschichte, in der Statistik und der politischen Gesetzeskunde vermittelt.495 Die Zeillersche Studienordnung hatte eindeutig die Letztere zum Schwerpunkt. Vermittelt wurde u.a. das österreichische Privatrecht, das im Sinne der Aufklärung, insbesondere von Kant, im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) auf naturrechtlicher Grundlage kodifiziert wurde.496 Zeiller fungierte als sein wichtigster Redakteur, und er verfasste auch das für das entsprechende Lehrfach vorgeschriebene Vorlesebuch Das natürliche Privat-Recht (1802). Mit der Zeillerschen Studienreform hatten sich im Jahr 1810 die Wege der Jurisprudenz in Deutschland und Österreich verzweigt: Jenseits der Alpen verwandelten sich die Universitäten im Zuge der Humboldtschen Universitätsreform sukzessive zu weitgehend ‚autonomen‘ wissenschaftlichen Anstalten, die sich dem neuen Grundsatz der Freiheit von Lehre und Forschung verpflichtet sahen. In vielen deutschen Staaten, insbesondere in Preußen, verdrängte die Historische Schule in der Jurisprudenz bald das Naturrecht: „Das Deutsche öffentliche Recht ist keine rationale, es ist eine theils historische theils positive Wissenschaft“, formulierte der deutsche Staats- und Völkerrechtler Johann Ludwig Klüber (1762–1837). Das Naturrecht ablehnend, fügte er hinzu: „Es sind also die rationalen Formen speculativer Wissenschaften hier nicht durchaus anwendbar.“497 Dass er seine Methode als „dogmatisch-historisch“498 definierte, machte Sinn: Stolleis verweist darauf, dass dieser Begriff doppelt schützte: vor „spekulativer Willkür“ und „naturrechtlicher Abstraktion“, die revolutionären Tendenzen Vorschub leisten konnten, aber auch vor einer historischen Verfestigung des
494 Instruction zur Ausführung des Lehrplanes über das juridisch-politische Studium (= „Studien-Hofcommissions-Decret“ vom 7. September 1810), in: Wilhelm UNGER, Systematische Darstellung der Gesetze über die höheren Studien in den gesammten deutsch-italienischen Provinzen der österreichischen Monarchie. Zweiter Theil. Specielle Anordnungen, Wien 1840, S. 105. 495 Vgl. KINK, Geschichte der kaiserlichen Universität in Wien. Band 1, S. 617. EBERT, Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz, S. 39. LHOTSKY, Österreichische Historiographie, S. 136. 496 Vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo ThunHohenstein, S. 65. Das ABGB wurde im Jahr 1811 durch kaiserliches Patent kundgemacht, und es trat 1812 in den habsburgischen Erblanden, nicht aber in Ungarn, in Kraft. 497 Johann Ludwig KLÜBER, Vorrede zur ersten Auflage (Original 1817), in: DERS., Öffentliches Recht des Teuschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt 41840, S. XXIII. 498 Ebenda, § 14.
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status quo des Ancien Regime.499 Diesseits der Alpen, also in Österreich, sah die Zeillersche Studienordnung (1810) keine vertiefte rechtshistorische Ausbildung vor. Das römische Recht wurde weitgehend zurückgedrängt und das Studium der juristischen Ordnungen anderer Staaten vernachlässigt. Schließlich war – wie erwähnt – auch das öffentliche Recht im juridischen Studienplan nur bruchstückhaft verankert. Seine Vermittlung bezog sich im Vormärz vornehmlich auf die Auslegung von Gesetzesparagrafen. Im öffentlichen Recht vermochte demzufolge das Naturrecht auch nicht im selben Ausmaß zu wirken wie im Privatrecht,500 in dem ebenso die praktischjuridische Schulung im Vordergrund stand. Die Zurückstufung der Publizistik in Österreich war kein Zufall: Die Absicht, das staatliche Verfassungsrecht zu kodifizieren, war schon in der Zeit der großen Zivil- und Strafrechtskodifikationen vorhanden gewesen,501 Versuche dieser Art (wie die Schaffung eines ‚Politischen Kodex‘) waren aber im Sand verlaufen, und zwar aufgrund von Widerständen im Hof, des erheblichen administrativen Aufwands und der unüberblickbaren Zahl von Verordnungen, die in Wien und den Ländern oftmals zusammenhanglos erlassen worden waren. Schließlich scheuten auch „die Freunde der unbeschränkten Monarchie“ – wie der sachkundige Zeitgenosse Karl Joseph Pratobevera (1769–1853) süffisant bemerkte – solche „unbequemen sich selbst geschlossene Fesseln“.502 Die erste Verfassung Österreichs – die „Pillersdorfsche Verfassung“ (benannt nach Franz Freiherr von Pillersdorf) – wurde daher nicht vor April 1848 erlassen.503
499 Michael STOLLEIS, Die Historische Schule und das öffentliche Recht, in: DERS. [u.a.] (Hg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 495–508, hier S. 497. 500 Vgl. Friedrich ENGEL-JANOSI, Die Theorie vom Staat im deutschen Österreich 1815–1848, in: Zeitschrift des öffentlichen Rechts 2 (1921), S. 360–394, hier S. 362. 501 Im Jahr 1797 trat in der Habsburgermonarchie die erste umfassende moderne Zivilrechtskodifikation der Welt, das Bürgerliche Gesetzbuch für Galizien, in Kraft. Dieses Gesetzbuch war das Vorbild für weitere Zivilrechtskodifikationen. 1812 trat das ABGB, Inbegriff der naturrechtlichen Gesetzgebung, in Kraft, schon davor das Zivilprozessrecht. Durch das Strafgesetzbuch war das Straf- und Strafprozessrecht geregelt. Vgl. Wilhelm BRAUNEDER, Österreichs Beitrag zur Rechtskultur, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.2, S. 405–446, hier S. 410–414. 502 WAGNER, Der politische Kodex, S. 218, und vgl. BRAUNEDER, Vom Nutzen des Naturrechts für die Habsburgermonarchie, S. 158–162. 503 Vgl. Wilhelm BRAUNEDER, Österreichische Verfassungsgeschichte, Wien 10 2005, S. 115–117, und DERS., Die Verfassungsentwicklung in Österreich 1848–1918, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Verfassung und Parlamentarismus, hg. von Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch. Band VII, 1, Wien 2006, S. 69–237, hier S. 84–94.
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Österreich war kein moderner Staat:504 Die Stellung der Kaiser beruhte auf einem fiktiven naturrechtlichen Herrschaftsvertrag, sie traten auch nicht als ‚Organe‘ des ‚Staates‘ auf. Die Habsburgermonarchie war daher über den sich ausbildenden Staatsbegriff nicht zureichend erfassbar. In Anbetracht der nationalen Herausforderungen wurde der von Sonnenfels noch patriotisch verwendete Staats- und Vaterlandsbegriff in offiziöser Verwendung verworfen. Die rechte Bezeichnung gaben künftig „Kaisertum“, „Monarchie“ und der anachronistisch anmutende Reichsbegriff ab.505 Unter diesem Vorzeichen darf es auch kaum verwundern, dass sich in Österreich eine Wissenschaft vom Staat nur rudimentär auszubilden vermochte, – eine Tatsache, der der deutsche Staatsrechtswissenschaftler Rudolf Smend (1882– 1975) in folgender Zuspitzung Ausdruck verlieh: „Eine Wissenschaft vom Staat und Staatsrecht und ihre Pflege und Lehre gibt es im vormärzlichen Österreich nicht.“506 Im Vormärz wurden die Universitäten strenger Überwachung unterworfen, um die künftigen Administratoren des völkerübergreifenden monarchischen Systems vor nationalliberaler Infiltration zu bewahren. Die Studienhofkommission wählte die Strategie der Immunisierung: Sie überwachte die Universitäten. Den Vortragenden wurde weiterhin das Lehrbuch vorgeschrieben, das Studiensystem zielte auf die Bewahrung des überlieferten Wissens ab. Wissen zu schaffen, war in dieser Zeit keine zentrale Aufgabe der Universitäten. Den Studierenden und Professoren wurde auch das Studium im Ausland (insbesondere in Deutschland, von dem sich Österreich absonderte) – von Ausnahmen abgesehen – verwehrt.507 So konnte Ignaz Beidtel aus eigener Anschauung berichten, dass „in verschiedenen Zeitpunkten bei der Studien-Hofkommission keine Ahnung davon [bestand], was sich im Auslande Alles geändert habe und welche Bedürfnisse dadurch entstanden wären.“508 In der Jurisprudenz war insbesondere der Historischen Schule der Weg nach Österreich versperrt; das aufgeklärte Naturrecht wurde wohl allein mangels Alternativen weiterhin gelehrt. In ihm entdeckte man ein Mittel, die nationale Ideologie zugunsten einer Tradition, die in Österreich in die Zeit der Aufklärung (und weiter) zurückreichte und zentrifugale Tendenzen
504 Der Historiker Otto Brunner (1898–1982) definierte die Monarchie als „eine monarchische Union von Königreichen und Ländern“, eine Staatenverbindung „älteren Typs“, die sich zwar moderne Verwaltungsstrukturen auferlegte, in der aber die alten Länder weiterwirkten. BRUNNER, Staat und Gesellschaft im vormärzlichen Österreich, S. 51–53. 505 Vgl. HEINDL, Bildung und Recht, S. 199. 506 Rudolf SMEND, Der Einfluß der deutschen Staats- und Verwaltungrechtslehre des 19. Jahrhunderts auf das Leben in Verfassung und Verwaltung, in: DERS., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 21968, S. 326–345, hier S. 330. 507 Vgl. ENGEL-JANOSI, Die Theorie vom Staat im deutschen Österreich 1815– 1848, S. 360. 508 BEIDTEL, Geschichte der österreichischen Staatsverwaltung. Band 1, S. 140.
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hemmen konnte, zurückzuweisen. Die Naturrechtslehre wurde aber wenig gepflegt und den Studierenden nur in einer reduzierten Version vermittelt.509 Im Wesentlichen standen drei dem Naturrecht verpflichtete, nach den politischen Anforderungen adaptierte und autorisierte Vorlesebücher in Verwendung: Das natürliche Privat-Recht Zeillers, Das natürliche öffentliche Recht Martinis (jeweils in den Versionen von Franz von Egger) und Sonnenfels‘ Werk Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz, das 1769 zum „Vorlesebuch“ bestimmt worden war, und nach dem sich der politische bzw. volkswirtschaftliche Unterricht durch mehr als achtzig Jahre – gleichsam als „unwandelbares Dogma“510 – auszurichten gehabt hatte.511 Mit der Thunschen Universitätsreform veränderte sich schließlich vieles. So wurde u.a. die Lehr- und Lernfreiheit verkündet. Insbesondere was die juridischen Fakultäten betraf, zeigt sich allerdings – wie im vorigen Abschnitt erwähnt – eines klar: Von der Implementierung einer ‚voraussetzungslosen‘ Wissenschaft kann auch in Zusammenhang mit Thun nicht gesprochen werden. In der Jurisprudenz wurde die Lehr- und Lernfreiheit de facto ebenso wenig umgesetzt wie die Voraussetzung der politischen Zuverlässigkeit der durch den Minister zu ernennenden Wissenschaftler aufgegeben. In der Tat blieben die juridischen Fakultäten in mancher Hinsicht das, als was sie von Thun, seinen Mitstreitern und späteren Bewunderern in Be-
509 Vgl. LENTZE, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo ThunHohenstein, S. 69f., und Geschichte der Wiener Universität von 1848 bis 1898. Als Huldigungsfestschrift zum Fünfzigjährigen Regierungsjubiläum seiner k.u.k. Apostolischen Majestät des Kaisers Franz Josef I., hg. vom Akademischen Senate der Wiener Universität, Wien 1898, S. 97–178. 510 ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, S. 1390. 511 Vgl. Friedrich ENGEL-JANOSI, Die Theorie vom Staat im deutschen Österreich 1815–1848, S. 361. Auch der Unterricht in der Verkehrsprache, der den Studierenden Grundlagen für die spätere Verwaltungspraxis vermitteln sollte, wurde jahrzehntelang auf der Grundlage des obligaten Sonnenfelsschen Lehrbuches Über den Geschäftsstil (1784) durchgeführt. In der zweiten Auflage wurde dieses Lehrmittel gründlich überarbeitet und – mit einem neuen Titel versehen – mehrfach nachgedruckt; es blieb bis 1848 in Gebrauch. Vgl. Joseph von SONNENFELS, Ueber den Geschäftsstil. Die ersten Grundlinien für angehende oesterreichische Kanzleybeamte, Wien 1784. Vgl. dazu u.a. Leslie BODI, Sprachregelung als Kulturgeschichte. Sonnenfels. Über den Geschäftsstil (1784) und die Ausbildung einer österreichischen Mentalität, in: Gotthart WUNBERG, Dieter A. BINDER (Hg.), Pluralität. Eine interdisziplinäre Annäherung. Festschrift für Moritz Csáky, Wien–Köln–Weimar 1996, S. 122–153. Moritz CSÁKY, Pluralität und Wiener Moderne, in: Maurice GODÉ, Ingrid HAAG, Jacques LE RIDER (Hg.), Wien – Berlin: Deux cités de la modernité – Zwei Metropolen der Moderne (1900–1930), Montpellier 1993 (Cahiers d‘Etudes Germaniques 24), S. 233–251, hier S. 246f. Peter STACHEL, Ein Staat, der an einem Sprachfehler zugrunde ging. Die „Vielsprachigkeit“ des Habsburgerreiches und ihre Auswirkungen, in: FEICHTINGER, STACHEL (Hg.), Das Gewebe der Kultur, S. 11–45, hier S. 26f.
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zug auf den Vormärz eingestuft wurden: „Abrichtungsanstalten für den Staatsdienst“.512
4.13 D IE S ITUATION DER S TAATSRECHTSWISSENSCHAFT
UM
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Das Ministerium Leo Graf von Thun-Hohenstein veränderte die Ausrichtung der juridischen Studien in Österreich grundlegend: Im Allgemeinen wurde die „hartnäckige josephinische Tradition“ naturrechtlicher Anschauungen der Aufklärer zugunsten einer ‚objektivistischen‘, historischpositivistischen Schule aufgegeben.513 Mit der Vertiefung der rechtshistorischen Studienfächer, insbesondere durch die Vermittlung deutscher Reichsund Rechtsgeschichte und durch die Unterrichtung deutschen Privatrechts, verfolgte der Minister zwei Ziele, und zwar: das Rechtsstudium auf jenes Niveau zu heben, das die historische Rechtsschule in Deutschland zu diesem Zeitpunkt erreicht hatte, sowie einen Juristenstand aufzubauen, der für einen mit rationalistischer Spekulation in Verbindung gebrachten politischen Radikalismus nicht empfänglich war. Die Thunsche Studienordnung sah allerdings weiterhin Entscheidendes nicht vor: Sie berücksichtigte weder das österreichische Staats- und Verwaltungsrecht noch die Vermittlung seiner historischen Grundlagen, d.h. die österreichische Reichsgeschichte. Im Jahr 1849 hatte die Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät mit der Schaffung einer „Lehrkanzel für Verfassungsrecht“ die „Trennung der Lehrkanzel des oesterreichischen Verfassungsrechtes von der des Verwaltungsrechtes“ vorgeschlagen.514 Die Ablehnung dieses Vorschlags durch den Minister wies schon auf die Wiederkehr absolutistischer Herrschaftspraxis durch Aufhebung des konstitutionellen Systems im Dezember 1851 voraus.515 Die Studien- und Prüfungsordnung von 1850, die das vormärzliche Studiensystem von 1810 ablöste, hatte ein zweijähriges Intermezzo eingeläutet: In ihr war bereits die Vermittlung des vor 1848 nur rudimentär verankerten Staatsrechts vorgesehen. 1852 sollte sich die Situation aber
512 Joseph von KARABACEK, Bericht des Sekretärs der phil.-hist Classe [Nekrolog auf den von Thun nach Wien berufenen Professor für deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte Heinrich Siegel], in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 50 (1900), S. 362–365, hier S. 363. 513 LHOTSKY, Österreichische Historiographie, S. 161. 514 Vgl. Abdruck des Vorschlags (8. November 1849) durch den Dekan Joseph von Kudler und des Majestätsvortrags des Ministers für Kultus und Unterricht Leo Graf Thun-Hohenstein (27. November 1849) betreffend die Besetzung mehrerer an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät zu Wien erledigter Lehrkanzeln, in: OBERKOFLER, Die österreichische Juristentradition des Vormärz, S. 643, S. 618f. 515 Vgl. ebenda, S. 618f., und DERS., Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft Frankfurt am Main [u.a.] 1984 (Rechtshistorische Reihe 33), S. 121–153, hier S. 123f.
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wieder grundlegend verändern.516 Mit der Wiederkehr des Absolutismus (31. Dezember 1851) und der Außerkraftsetzung der Verfassung wurde das vorgesehene Fach ‚Staatsrecht‘, welches das Verfassungsrecht behandeln sollte, wieder gestrichen; künftig wurde ‚Österreichische Verwaltungs- und Finanzgesetzkunde‘ – nicht als Pflichtfach – unterrichtet.517 Im verwaltungsmäßig zentralisierten, neoabsolutistischen Staat der 1850er-Jahre hatte sich jeder Verfassungsrechtsunterricht erübrigt. Die Staatsrechtswissenschaft sollte erst mit dem Anbruch des konstitutionellen Zeitalters in den 1860er-Jahren neue Impulse erfahren: Im Zuge der Verfassungsgesetzgebung wurde auch die Jurisprudenz erneuert, sie differenzierte sich zusehends aus. Um 1870 wurden in Österreich die ersten selbständigen Professuren für öffentlich-rechtliche Fächer etabliert. Ihre Inhaber sonderten sich von den ‚Politischen Wissenschaften‘ (wie z.B. der Nationalökonomie) ab, und sie überschritten die bloße Gesetzeskunde. Der erste Lehrstuhl für Österreichisches Staatsrecht wurde im Jahr 1868 in Wien, der Hochburg des Liberalismus, errichtet. Er wurde mit Wenzel Lustkandl (1832–1906) als außerordentlichem Professor besetzt. In Prag wurde eine Lehrkanzel für ‚Öffentliches Recht‘ gegründet, die Josef Ulbrich übertragen wurde. In Graz wurde 1871 das Ordinariat für ‚Politische Wissenschaften‘ auf zwei Lehrkanzeln aufgeteilt; davon behandelte eine das Verfassungsrecht. Auch in Innsbruck und Czernowitz wurden künftig ‚Allgemeines und österreichisches Staatsrecht (einschließlich des Verwaltungsrechts)‘ gelehrt. So schien der Aufstieg des öffentlichen Rechts an den Juristenfakultäten Cisleithaniens unaufhaltbar.518 Hierfür hatten die neue Verfassungsstaatlichkeit (1867), die Reichsgerichtsbarkeit (1869) zur Gewährung des Grundrechtsschutzes (der ‚Nationalitätenrechte‘) und die Verwaltungsgerichtsbarkeit (1867/1876) die entscheidenden Impulse geliefert.519 Schließlich wurden im Jahr 1893 die Abänderungen der juridischen Studienordnung Thuns, die sich aufgrund der „Erfahrungen der letzten Jahrzehnte“ und der „zu Tage getretenen Bedürfnisse“ als notwendig erwiesen hatten, durch eine neuerliche Studienreform auch politisch-parlamentarisch gebilligt.520 Folgende Fächer wurden als obligatorischer Teil des Studiums neu eingeführt: das öster-
516 Vgl. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2, S. 307. 517 Vgl. Wilhelm BRAUNEDER, Formen und Tragweite des deutschen Einflusses auf die österreichische Verwaltungsrechswissenschaft 1850–1914, in: DERS., Studien I. Entwicklung des Öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main [u.a.], S. 343–376, hier S. 346. 518 Vgl. ebenda, S. 358f. 519 Vgl. STOURZH, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918, S. 58–74, und Friedrich LEHNE, Edwin LOEBENSTEIN, Bruno SCHIMETSCHEK (Hg.), Die Entwicklung der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Festschrift zum 100jährigen Bestehen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofes, Wien–New York 1976. 520 ULBRICH, Universitäten. Rechts- und staatswissenschaftliche Studien, S. 1391.
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reichische Staatsrecht, in Verbindung mit dem allgemeinen Staatsrecht; das österreichische Verwaltungsrecht und die österreichische Reichsgeschichte, als Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts (Verfassung, Verwaltung, Justiz). Mit dieser Neuordnung wurden die Staats- und Verwaltungsrechtslehre im juridischen Studienplan erheblich aufgewertet, sodass das Staatsrecht in Österreich um das Jahr 1900 vollends als juridische Disziplin etabliert war.
4.14 V ERKÜMMERTE V ERFASSUNGSLEHRE . O DER : D ER ADMINISTRATIVE S TIL IN DER S TAATS ( RECHTS ) LEHRE Der Wiener Staatswissenschaftler Erich Voegelin (1901–1985)521 formulierte in seinem Buch Der autoritäre Staat (1936) die These, dass die Reine Rechtslehre nur als der Höhepunkt und die Vollendung eines charakteristischen Zugs der österreichischen Staatslehre zu betrachten sei, der sich bis zur Gründung des Kaisertums Österreich (1804) und der ihr folgenden Studienreform (1810) zurückverfolgen ließe.522 Dieser Zug zeigte sich für Voegelin, der sich als Kritiker seines Lehrers hervortat,523 in Kelsens prinzipieller Haltung, „sich auf die Erkenntnis des Staates nicht einzulassen“.524 Als Staatslehrer hätte ihm das Prinzip der Methodenreinheit verboten, sich mit der realen Herrschaftsordnung ‚Staat‘ wissenschaftlich zu befassen. Kurz gesagt: Voegelin sah in der Reinen Rechtslehre die Vollendung des idealtypischen habsburgischen Stils einer ‚verkümmerten‘ Verfassungslehre, den er als den „administrativen“ bezeichnete. Dieser „administrative Stil“ verdankte sich jenen spezifisch österreichischen Verhältnissen, nach denen ein „Reich“ in die Verwaltungsorganisation eines Staates „hineingewachsen“ sei, ohne über ein dem Machtapparat Autorität und Legitimität verleihendes politisches Volk im westeuropäischen Sinn zu verfügen. Da sich in den Machtakten daher nicht der „nationale Existenz- und Herrschaftswille“ widergespiegelt hätte, wäre dem Machtapparat auch nicht jenes Autoritätsgewicht der westeuropäischen Staatenwelt zugekommen. Herrscher und
521 Vgl. Eckhard ARNOLD, Eric Voegelin, in: WALTER, JABLONER, ZELENY (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen, S. 513–552. Michael LEY, Gilbert WEISS, Voegelin in Wien. Frühe Schriften 1920–1938, Wien 2007 (Passagen Religion und Politik 3). Johannes FEICHTINGER, Eric Voegelin, in: John M. SPALEK, Konrad FEILCHENFELDT, Sandra H. HAWRYLCHAK (Hg.), Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Band 3, 4: USA, Zürich–München 2003, S. 249– 272. 522 Vgl. Erich VOEGELIN, Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien–New York 1997 (Forschungen aus Staat und Recht 119) (Original 1936), S. 127–130. 523 Vgl. ARNOLD, Eric Voegelin, S. 541–549. 524 VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 128.
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Staatsmänner hätten sich sonach als „Administratoren einer geschichtlich gewordenen Machtorganisation“ profiliert. Unter diesem Vorzeichen habe die Verfassungs- und Rechtslehre in der Monarchie, die zwischen Reich und Staat schwankte, dazu geneigt, im öffentlich-rechtlichen Bereich den Schwerpunkt auf das Verwaltungsrecht zu legen und das Verfassungsrecht soweit wie möglich unter dem Aspekt der Administration der normativen Ordnung zu betrachten: „Akte der Verfassungssphäre können, wenn sie Rechtsakte sein wollen, nur Akte der Administration der Verfassungsnormen sein.“525 Diesen „administrativen Stil“ vermeinte Voegelin in idealtypisch vervollkommneter Weise in der Reinen Rechtslehre zu entdecken. Er sah in ihm einen für die österreichische Staatslehre konstitutiven Zug, der mit der etatistischen Zurückstufung des Staatsrechts Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen habe. Mit der Streichung der Staatsrechtsvorlesungen vom Studienplan im Jahr 1810 (!) sei für ein halbes Jahrhundert lang auch die wissenschaftliche Pflege des österreichischen Verfassungsrechts verschwunden, während sich das Verwaltungsrecht „bis in seine kleinsten Einzelheiten“ reicher Bearbeitung erfreut habe. Dieses Phänomen hatte der Prager Jurist Josef Ulbrich (1843–1910) in seiner „Gesammtdarstellung des österreichischen Staatsrechts“ (1883) folgendermaßen kommentiert: „Es wurden nur einzelne Theile des öffentlichen Rechtes, zumeist in Form blosser Compilationen als sogen. politische Gesetzkunde bearbeitet“.526 Von dieser Staatsrechtslehre, die sich auf „die Inhaltsangabe der Rechtnormen“ beschränkte, „Prinzipienfragen“ aber unberücksichtigt ließ,527 zog Voegelin zwei Verbindungslinien, eine – wie erwähnt – zu Kelsen, die andere zur verwaltungswissenschaftlichen Tradition in Österreich. In Bezug auf Letztere lieferte der deutsche Staatswissenschaftler Robert von Mohl (1799–1875) für Voegelin den Anknüpfungspunkt. In seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften (1855) hatte Mohl in Bezug auf die staatsrechtliche Literatur Österreichs „die reiche Bearbeitung des Verwaltungsrechtes“ gewürdigt, den „Mangel aller Erörterungen über Verfassungsfragen“, „die Vermeidung jedes Eingehens auf Grundsätzliches“ aber kritisiert und diesen Zustand mit der absolutistischen Herrschaftspraxis begründet: So wie sich die Staatsgewalt selbst nicht auf die Entwicklung eines freien kräftigen Bürgerthumes und auf die Ausbildung der geistigen Kräfte des Volkes stützte, sondern auf die Macht des Heeres und auf den überall vorhandenen und bis in die innersten Verhältnisse fühlbaren Befehl des Beamtenthums: so duldete sie auch in der Wissenschaft nur die Auseinandersetzung der in jedem Lebensverhältnisse zu beobach-
525 Ebenda, S. 4f. 526 ULBRICH, Lehrbuch des Oesterreichischen Staatsrechts, S. 70. 527 VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 130.
344 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT tenden Pflichten und Formen, nicht aber die Untersuchung der letzten Gründe, auf welchen alle diese Befehle beruhten.528
Mohl attestierte Österreich „nicht etwa blos“ die Unbeliebtheit „einer abgeneigten Kritik“ der Standpunkte der Regierung, „sondern die Besprechung der Gegenstände an sich war missliebig.“ Daher habe die Regierung „eine Belehrung über staatsrechtliche Dinge […] für sich selbst nicht bei der Wissenschaft“ gesucht; „für die Unterthanen“ habe „sie eine solche sogar bedenklich“ gefunden, „jeden Falles überflüssig. Eine unerbittliche Censur gab aber die Mittel zur Lenkung der Literatur auf die allein gewünschte Bahn.“ Mohls Blick auf den Zustand der österreichischen ‚Staatsrechtslehre‘ zeigte ihm, dass sich in der Jurisprudenz im Vergleich zum Vormärz de facto nicht viel geändert habe. Die Ursache für die „sehr geringe“ Tätigkeit im „österreichischen Staatsrechte“ in dem „Uebergangszustande“ erblickte der deutsche Staatswissenschaftler und Politiker in „den Nachwirkungen gewaltsamer Erschütterungen“ und „endlich auch wohl Resten alter Gewohnheit und Besorgniss“. Als Liberaler hoffte er aber, dass die Regierung „die ganze Thätigkeit aller ihr geneigten geistigen Kräfte zu beleben und zu benützen“ wisse, was zur „Gründung eines ganz neuen einheitlichen Volks- und Staatslebens“ führen würde.529 Voegelin zufolge hatte Mohl zwar den Zusammenhang zwischen dieser Tradition und dem Ausbleiben einer „Staatslehre großen Stils“ erkannt, im Rückblick hatte sich für Voegelin Mohls Hoffnung auf eine Staatslehre nach deutschem Vorbild allerdings auch mit dem Auftauchen der Verfassungsstaatlichkeit nicht erfüllt: Das Vielvölkerreich alten Stils habe sich nicht in einen Staat nach westeuropäischem Muster verwandelt.530
4.15 D IE S TAATSRECHTSLEHRE
ZWISCHEN NORMATIVER UND EMPIRISTISCHER AUSRICHTUNG
In Österreich vollzog sich der Aufstieg der Staatsrechtslehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen zwei Grundpositionen wissenschaftlicher Erkenntnis, nämlich – wie erwähnt – der normativ-logischen und der empiristisch-psychologisch-soziologischen. In beiden Varianten erkannte Erich Voegelin eine resignative Haltung, in der einen mehr, in der anderen weniger.531 Die in ihnen jeweils entwickelten Verfahren entfalteten die Staatsrechtsproblematik im Sinne und zugunsten der Aufrechterhaltung des
528 Robert von MOHL, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographieen [!] dargestellt. Band 2, Erlangen 1856, S. 337. 529 Ebenda, S. 337f. 530 Vgl. VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 3–8, S. 129f. 531 Vgl. ebenda, S. 130–135.
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Vielvölkerstaates. Die normative Position manifestierte sich in einer ‚Staatsrechtslehre‘, die sich auf die Analyse der normativen Ordnung beschränkte, Momente der Seinswelt aber außer Acht ließ. Ihr Hauptvertreter war Josef Ulbrich. Die Verbindung von Positivismus und politischer Resignation zeigte sich für Voegelin aber auch unter Vertretern der induktiv-empiristischen Position. So habe Ludwig Gumplowicz den Standpunkt vertreten, dass es jenseits der Inhaltsangabe der Rechtsnormen keine Staatslehre gäbe, es sei denn als Naturwissenschaft. Die Gegenwart wäre erfüllt vom Kampf, der nach Naturgesetzen ablief, ohne Einflussmöglichkeit des einzelnen. So löste sich alle Geschichte für Gumplowicz nach den Worten des deutschen Sozialhistorikers Otto Hintze (1861–1940) in ein „sinn- und seelenloses Marionettenspiel“ auf.532 Voegelin zufolge hatte es im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts allerdings Versuche der Überwindung dieser resignativen Haltungen sowie eine Annäherung an eine Verfassungslehre auf materieller Grundlage gegeben. Davon legten für Voegelin die Arbeiten des Wiener Juristen Felix Stoerk und seines Schülers Friedrich Tezner Zeugnis ab. Diese beiden Rechtswissenschaftler verfolgten in der Tat das Ziel, die juristischen Begrifflichkeiten entgegen der Logifizierung der Begriffskonstruktionen auf induktivem, d.h. historischem Wege zu bestimmen, um eine Kongruenz der juristischen Termini mit der Staatswirklichkeit herzustellen. Zu zeigen wird sein, dass jeder der vorhin erwähnten österreichischen Staatsrechtstheoretiker auf seine Art und Weise tendenziell heteronom verfuhr; einschließlich Voegelin, der die Staatsführung des Ständestaates dafür lobte, den „administrativen Stil“ überwunden, durch die „autoritärstaatliche Neuordnung“ den Willen zum Staat bekundet und sonach „existentielle Schritte in der Staatswerdung Österreichs“ gesetzt zu haben: „Österreich hat seit 1933 (!) nicht nur sein demokratisch-parlamentarisches durch ein autoritäres Verfassungsrecht ersetzt“, notierte er 1936, „sondern es hat einen Schritt vom ‚administrativen‘ zum ‚politischen‘ Stil, es hat einen Schritt vom ‚Reich‘ zum ‚Staat‘ getan.“533 Die Idee der Überwindung des „administrativen Stils“ bot für Voegelin eine Chance, sich dem Ständestaat anzunähern. Sah er in Kelsens Reiner Rechtslehre die „administrative Verfassungslehre“ auf „idealtypisch vollkommene Weise“ verwirklicht, so stellte sich Voegelin in seiner Untersuchung zum autoritären Staat die Aufgabe, die „herrschende Verfassungslehre“ zu überwinden „und eine ‚politische‘ zu entwerfen.“534 Voegelin stellte sich damit in die Reihe jener ‚politischen‘ Vertreter der Staatsrechtslehre in Österreich, die als Juristen heute nahezu vergessen sind. Im Folgenden wird dieses politisch tendenziöse Feld in der Rechtswissenschaft skizziert, in das
532 HINTZE, Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung, S. 240, und vgl. VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 135. 533 VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 6. 534 Ebenda, S. 5f.
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Kelsen mit seinem Streben nach relativer Autonomie der Wissenschaft intervenierte. 4.15.1 Josef Ulbrich Der Prager Jurist und Rechtspositivist Josef Ulbrich (1843–1910) war ein strikter Verfechter des normativen bzw. ‚begriffsjurisprudenziellen‘ Ansatzes Labandscher Prägung. Von Voegelin wurde er als ein Vorläufer Kelsens gezeichnet. Diese Argumentation ist aber nur auf den ersten Blick schlüssig, denn Ulbrichs Ansatz war keineswegs darauf gerichtet, die herrschenden Machtverhältnisse juristisch aufzubrechen; vielmehr wollte er sie untermauern. Der später in Graz wirkende Statistiker, Finanzwissenschaftler und Verwaltungsjurist Ernst Mischler (1857–1912) schilderte Ulbrich, den ordentlichen Professor des österreichischen öffentlichen Rechtes an der Prager Universität, als „Verteidiger“ der „deutschen Studentenschaft Prags“.535 Ulbrich trat nicht durch besondere Theorien, sondern als Systematiker des österreichischen Staatsrechtes hervor. So war er der Erste, der Gesamtdarstellungen lieferte, die mehr als zwanzig Jahre lang (von Gumplowiczs Schriften abgesehen) die einzigen waren, die eine wissenschaftliche Zusammenschau des durch die Verfassungsgesetzgebung erweiterten österreichischen Staatsrechts boten. Im Vorwort seines Lehrbuches des Oesterreichischen Staatsrechts (1883) formulierte Ulbrich sein methodisches Ziel: „Eine wissenschaftliche Darstellung des Staatsrechts darf nicht ein trübes Gemenge philosophischer, historischer, statistischer Notizen sein; sie muß vielmehr in strenger Systematik ihren Stoff juridisch behandeln.“536 Unübersehbar ist seine Anlehnung an den deutschen Staatsrechtspositivismus Labandscher Prägung, dem ersten Versuch, die Staatslehre in Verbindung mit dem positiven Verfassungsrecht ‚rein juristisch‘ zu verwissenschaftlichen. Diesem Ziel, dem er im ersten systematischen Staatsrechtslehrbuch für Österreich „nach Kräften nachgestrebt“ hat, unterwarf er seine umfassende Staatsrechtsdarstellung. Im Ab-
535 Ernst MISCHLER, Josef Ulbrich. Ein Lebensbild, in: Sammlung Gemeinnütziger Vorträge, hg. vom Deutschen Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag, Prag 1912, S. 1–16. Mischler schrieb Ulbrich die Gründung der Prager deutschen mensa academica und des deutschen Studentenheimes zu. Weiters habe dieser „regsten Anteil“ an den Arbeiten der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur sowie an jenen des deutschen akademischen Juristenvereines in Prag genommen, dessen Protektor er war. Schließlich sei er auch noch Ehrenmitglied der Lese- und Redehalle deutscher Studenten und der Burschenschaft Carolina gewesen. Vgl. ebenda, S. 12. Ulbrich gab zusammen mit Mischler das Oesterreichische Staatswörterbuch (Handbuch des gesammten öffentlichen Rechtes. 2 Bände. Wien 11895–1897) heraus, den so genannten „Mischler-Ulbrich“. 536 ULBRICH, Lehrbuch des Oesterreichischen Staatsrechts, S. I. Das Werk erfuhr unter dem Titel „Österreichisches Staatsrecht“ mehrere Neuauflagen.
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schnitt „Methode und System“ verdeutlichte Ulbrich, dass zu Zwecken der Veranschaulichung zwar „eine allgemeine, geschichtliche und philosophische, Lehre von dem Wesen und den Zwecken des Staates“ vermittelt werden könnte, um aber hinzuzufügen, dass dieser für das Staatsrecht keine praktische Geltung zukäme.537 Allerdings nahm er in sein Werk auch die Grundzüge des Verwaltungsrechts auf. Ulbrich stufte den Wert des Staatsrechts ohne Verwaltungsrecht als vermindert ein: „Ohne das Verwaltungsrecht“, schrieb er, sei „das Staatsrecht zumeist ein dürftiges Gerippe abstrakter Sätze, die in dieser Allgemeinheit keine Anwendung finden.“ Als den Zweck seines Werkes nannte er, dass es ein Lehrbuch für das Studium sei, „für welches bisher ein Leitfaden dieser Disziplin nicht existirte“, und ein „bequemes Nachschlagebuch“,538 mit dem sich Ulbrich als das österreichische Aushängeschild der so genannten ‚Begriffsjurisprudenz‘ vorstellte. In seiner Fokussierung auf das positive Recht und der Ablehnung eines ‚Methodensynkretismus‘ sah Voegelin – wie im Übrigen auch Hermann Heller539 – eine Vorstufe der Reinen Rechtslehre. Ulbrich lieferte ihm hiermit ein Argument für seine These vom „administrativen Stil“ in der österreichischen Verfassungslehre. Das Motiv für Ulbrichs Hinwendung zu einem vermeintlich geschichtsfreien und von sprachnationalen Vorstellungen unanrührbaren Positivismus liegt auf der Hand; der deutsch-liberale Staatsrechtler nannte es selbst: „Wo sich der Staat auf eine an Zahl und Bildung entschieden überlegene sprachliche Nationalität stützen kann, gehen von dieser die Impulse des staatlichen Lebens aus. In Staaten ohne stammliche und sprachliche Einheit muss der Staat seine Beziehungen zu den als gesellschaftliche Gruppen erscheinenden Nationalitäten ordnen.“540 Die Gefahr, die der Sprachnationalismus für den Bestand der ‚Staatsnation‘ heraufbeschwören konnte, hatte Ulbrich offenbar gezwungen, seine Wissenschaft in einen neutralen Schleier zu hüllen. Sich auf den Standpunkt absoluter Autonomie zurückzuziehen, war wohl die logische Antwort der Juristerei auf die nationalpolitischen Herausforderungen in der Habsburgermonarchie. Im Hinblick darauf ist Voegelins These von der Beschränkung auf das normative Inventar – das „positive Recht“ – als Zeichen der politischen Resignation schlüssig. Hinter der Maske des neutralen Staatsrechtspositivismus verbarg sich allerdings unverkennbar eine politische Absicht. So trifft das, was Peter von Oertzen für den Staatsrechtspositivismus deutscher Prägung gezeigt hat, auch auf Österreich zu, nämlich, dass sich die ‚juristische Methode‘ zwar mit dem Schein politischer Unab-
537 Ebenda, S. 72. 538 Ebenda, S. VI, S. I. 539 „Die reine Rechtslehre ist der zu spät geborene Erbe des logistischen Rechtspositivismus, die folgerichtige Erfüllung des soziologie- und wertfremden Programms des Labandismus.“ Hermann HELLER, Die Krisis der Staatslehre, in: DERS., Gesammelte Schriften, hg. von Martin Drath [u.a.]. Band 2: Recht, Staat, Macht, Leiden 1971, S. 3–30, hier S. 15f. 540 ULBRICH, Lehrbuch des Oesterreichischen Staatsrechts, S. 110.
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hängigkeit versah, in Wahrheit aber eine zentrale Ressource der Politik zur Wahrung des gouvernementalen status quo darstellte.541 Wenn Ulbrich mit der ‚rein juristischen‘ Methode die Zähmung nationaler, d.h. konkret – tschechischer Ansprüche verknüpfte, so untermauerte er zweierlei: einerseits die Idee der ‚Staatsnation‘, was im Hinblick auf seine Tätigkeit als Staatsrechtsprofessor in einem nichtdemokratischen Staat wohl nicht verwunderlich ist; mit ihr aber anderseits auch ein Machtsystem, das sich in einer Zentralstaatsmission mit deutsch-österreichischer Vorherrschaft manifestierte: Als steter Kämpfer gegen die Idee des böhmischen Staatsrechts, „welches überdies seinen theoretischen Anschauungen grundsätzlich zuwiderlief“, verteidigte er – so Mischler – die „rechtliche Stellung der deutschböhmischen Heimat“. Mischler beschrieb Ulbrich als einen der „einflußreichsten Politiker Böhmens“, dessen Bedeutung sich allein „in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit“, d.h. als „geistiger Politiker“ manifestiert habe.542 Daher wäre es wohl verwegen, der von Voegelin konstruierten Traditionslinie von Ulbrich zu Kelsen zuzustimmen, war es doch diese nicht zuletzt methodologisch begründete politische Verstrickung der Wissenschaft, die Kelsen ebenso offen wie offensiv aufkündigte. 4.15.2 Friedrich Tezner Anlässlich seines 10. Todestages würdigte der k.k. Justizminister und Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes a.D. Josef Schenk (1858–1944) im Jahr 1935 den „österreichischen Richter und Gelehrten Friedrich Tezner“ mit den Worten: Die Arbeiten zum Staats- und Verwaltungsrecht sowie zum Verwaltungsprozess „zeigen Tezner als gründlichen Kenner der Geschichte der Monarchie und ihrer Länder, sie zeigen ihn aber auch als Künder ihres Ruhms und ihrer Größe.“543 Diese beiden zentralen Aspekte – ein historischer Staatsrechtsbegriff sowie ein das Staatshandeln affirmierendes Wissenschaftsverständnis – charakterisierten tatsächlich Tezners wissenschaftliches Werk. So urteilte auch der von ihm heftig angegriffene, ihm aber dennoch zeitlebens tief verbundene Kelsen in einem Nachruf im Jahr 1925 lapidar: „Tezner war – seinem ganzen Charakter nach – ein vornehmlich aufs Historisch-Politische gerichteter Geist.“544 In der Verwendung der „historisch-genetischen“ Methode knüpfte Friedrich Tezner (1856–1925) an Vorstellungen des Wiener Völker- und Staatsrechtlers Felix Stoerk (1851–1908) an, der sich in seiner Schrift Zur Metho-
541 Vgl. OERTZEN, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, S. 321. 542 MISCHLER, Josef Ulbrich, S. 11f. 543 Josef SCHENK, Der österreichische Richter und Gelehrte Friedrich Tezner, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 6 (1935), S. 185–188, hier S. 185. 544 Hans KELSEN, Friedrich Tezner, in: Neues Wiener Tagblatt, 14. Juni 1925, S. 5f.
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dik des öffentlichen Rechts (1885)545 ebenfalls vehement der juristischformalen Methode widersetzt hatte.546 In diesem Werk zeigte Stoerk den „methodischen Irrthum“ der „Inhalts-Entfremdung der nichtpolitischen Darstellungsart“ auf,547 den er auf die „denaturirende Wirkung“ der „civilistischen Methode“ auf die juristische Begriffsbildung zurückführte.548 Den Ansatzpunkt der Zurückweisung der Labandschen ‚Begriffsjurisprudenz‘ bildete die Begriffskritik. Stoerk bezweifelte den Wert der durch ein Abstraktionsverfahren methodisch-doktrinär zugerichteten Begriffe und Typen (König, Staat, Realunion usw.): Da „die unberechenbare Mannigfaltigkeit der individuellen Merkmale“ die „Gewinnung abstracter Formeln [im öffentlichen Recht, J.F.] zumeist unmöglich“ mache, verböte sie in der Regel „die Subsumption thatsächlicher Gestaltungen unter abstracte Typen“. Sonach war das Staatsrecht „eines wirklichen Staates“ Stoerk zufolge „vom rein logischen Gedanken aus“ wissenschaftlich nicht zu begreifen. Und da für „die Vielgestaltigkeit des historischen Geschehens im Staate“ keine „constanten Kriterien der Gewissheit“ gefunden werden könnten, stellte für ihn die „historisch-genetische Reconstruction“ der Rechtserscheinung das „einzige Surrogat“ dar, das „die Generalisierung der abstracten Regel“ zu ersetzen vermochte. Der Staatsrechtswissenschaft wies er daher die Aufgabe zu, jedes Recht auf „seine specifische Substanz“ – „das Individuelle des nationalen, historischen, wirthschaftlichen Thatbestandes“ – zu prüfen.549 Der historistisch-positivistische Ansatz Stoerks konnte die Staatsrechtslehre aber vom Weg der Autonomisierung wegführen,550 den sie sich durch die formale Ausrichtung zu bahnen versuchte: „Durch das unbewusste Einfliessen politischer Erwägungen“ konnte die „bewusste Berücksichtigung der […] einwirkenden politischen Leitmotive“ leicht in eine Verpolitisierung der Wissenschaft kippen. Stoerk hatte die verlockende Vorstellung der „Autonomie des juristischen Denkens“ in Sorge versetzt, dass die „nicht-politische“ Staatsrechtslehre die staatliche Wirklichkeit, das „Recht ,im Raume‘“, völlig aus dem Blick verlieren würde.551 Daher hatte er die „specifisch publicistische Methode“ zugunsten eines anderen Verfahrens,
545 Felix STOERK, Zur Methodik des öffentlichen Rechts, Wien 1885. Dieses Werk wurde mit weiteren Arbeiten Stoerks unter folgendem Titel neu aufgelegt: Über die Juristische Methode. Kritische Studien zur Wissenschaft vom öffentlichen Recht und zur soziologischen Rechtslehre, hg. Günther Winkler, Wien–New York 1996 (Forschungen aus Staat und Recht 116), S. 1–87. 546 Vgl. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Band 2, S. 345f. L[eo] STRISOWER, Felix Stoerk, in: Zeitschrift für Internationales Privat- und öffentliches Recht 18 (1908), S. 446–448. Paul LABAND, Felix Stoerk, in: Deutsche Juristen-Zeitung 13, 3(1908), S. 174–175. 547 STOERK, Zur Methodik des öffentlichen Rechts, S. 68–88. 548 Ebenda, S. 37–68. 549 Ebenda, S. 34, S. 67, S. 35f., S. 76. 550 Vgl. PAULY, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, S. 238f. 551 STOERK, Zur Methodik des öffentlichen Rechts, S. 78, S. 108.
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das Wissenschaft und Politik verschränkte, aufgegeben: „Sache des allgemeinen Staatsrechts und der Politik“ wäre es, so vermerkte er, zwischen dem positiven Staatsrecht und den Lehren der Staatswissenschaft auf Grundlage geschichtlicher Forschung zu vermitteln. Dem Staatsrecht fiele dabei im Wesentlichen eine erklärende Aufgabe zu; der Politik aber „die Nachweisung der den thatsächlichen Erfolg der Staatshandlungen bedingenden Momente veränderlicher und geschichtlich wandelbarer Art“.552 Was Walter Pauly für Stoerk vermerkte, trifft wohl auch auf Friedrich Tezner, seinen Schüler, zu.553 An seinem Werk wird die politische Ummantelung der historischen Methodenverwendung, der er zum Vorrecht verhalf, deutlich sichtbar: Auch Tezner widersetzte sich der typisierenden Begriffsbildung, Ausgangspunkt seiner Kritik war ebenfalls der so genannte ‚Staatsrechtsformalismus‘ bzw. -‚logizismus‘. Die Anwendung eines nicht induktiv erarbeiteten, doktrinären Typenbegriffs nach der Art von Jellinek (Republik, Bundesstaat, Staatenbund usw.) wies der Wiener Staatsrechtslehrer daher schärfstens zurück,554 um den durch begriffsscharfe Typenbildung notwendig induzierten Wirklichkeitsverlust durch die historische Anreicherung der Grundbegriffe auszugleichen. Die doktrinäre Typisierung der Staaten war für Tezner untragbar: „So ist denn die österreichische Monarchie ein Staatswesen sui generis und deckt sich weder mit dem doktrinären Typus der Real- oder Personalunion, noch auch mit dem eines wahrhaft konstitutionell monarchischen Staates.“555 Tezners Vorhaben, wirklichkeitsnahe, empirisch fundierte Typenbegriffe auszubilden, hatte allerdings eine politische Triebkraft. So merkte er selbst an: „Wer das Gegenteil lehrt, führt irre über alle bedeutsamen Staatsakte des Monarchen, die sich als wirksam behaupten, ungeachtet sie weder mit dem Typus der Personal- oder Realunion noch aus der konstitutionellen Doktrin heraus erklärt werden können.“556 Was Österreich-Ungarn betraf, erfasste der doktrinäre Typenbegriff seiner Ansicht nach nicht die spezifische Rolle des Monarchen, der kraft seiner Autorität durch nichtnormierte Akte rechtsschöpfend wirken konnte. Diese patricharchal-„reichsprokuratorische“
552 Felix STOERK, Die allgemeinen Grundlagen des Staatsrechts, in: DERS., Über die Juristische Methode, S. 159–185, hier S. 165. 553 Zur wissenschaftlichen Biografie vgl. Nikolaus SCHWÄRZLER, Friedrich Tezner, 1856–1925, in: Wilhelm BRAUNEDER (Hg.), Juristen in Österreich 1200–1980, Wien 1987, S. 242–247. 554 Vgl. Friedrich TEZNER, Die wissenschaftliche Bedeutung der allgemeinen Staatslehre und Jellineks Recht des modernen Staates, in: Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1902, S. 638–671, hier S. 638f. Zur Auseinandersetzung mit Jellineks Typenlehre vgl. KERSTEN, Georg Jellinek und die Klassische Staatslehre, S. 118–120. 555 Friedrich TEZNER, Das ständisch-monarchische Staatsrecht und die österreichische Gesamt- oder Länderstaatsidee, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 42 (1916), S. 1–136, hier S. 135. Allein die Bezeichnung Österreich-Ungarns als „Österreichische Monarchie“ sollte in Ungarn Unmut hervorrufen. 556 Ebenda, S. 135f.
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Kompetenz des Kaisers wirke staatsrechtlich vereinheitlichend: „Die Souveränität ist somit beim Ganzen“, argumentierte Tezner, „und nicht bei den Teilen, deren keiner für sich allein bestehen kann, und Organ dieser Gesamtsouveränität ist der aus dem ständischen Staatsrecht hervorgewachsene Kaiser aus dem Hause Österreich“.557 Die moderne Typenlehre, die ein Staatswesen im Sinne der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht vorsah, verlieh in den Augen Tezners im Gegenzug der Idee der Souveränität der Teile Auftrieb. Jellinek sprach qua Typenlehre von einer „Staatenverbindung“ (Staatenbund), was Tezner als schroffen Widerspruch zur Wirklichkeit bewertete. Da die Typenlehre staatliche Mischformen als „organische Mißbildungen“ („Abnormitäten“) abwertete, verwarf der Wiener Jurist die ihre anatomischen Mängel verdeckende „Toilettenkunst“ moderner Typenbildung.558 Somit zeigt sich, dass Tezners Zurückweisung der Typenlehre auch politisch motiviert war. Um nachzuweisen, dass die österreichisch-ungarische Monarchie weder ein Bundesstaat noch ein Staatenbund, sondern ein von der modernen Typenlehre nicht erfasster „Mischling“ war – „ein Mittelding zwischen monarchischem Staatenbund und Bundesstaat“, eine „Kreuzung“559 beider – und der Souverän letztlich der Kaiser war, griff er zur historisch-genetischen Methode. Auf diesem Weg intervenierte Tezner als Jurist in den im Ausgleich (1867) wurzelnden juristischen Konflikt über das Verhältnis Österreichs und Ungarns. Während Juristen in Transleithanien von einer dualistischen Staatenverbindung auf paritätischer Grundlage sprachen, orteten cisleithanische Rechtswissenschaftler eine Art bundesstaatliches Verhältnis. Diese divergierende politische Auslegung der voneinander abweichenden österreichischen und ungarischen Ausgleichsgesetze wurde von den jeweiligen Staatsrechtswissenschaftlern wissenschaftlich verkleidet. Angelpunkt der Auseinandersetzung war der Status der Souveränität. Während die so genannte ‚groß-österreichische‘ öffentlich-rechtliche Schule die vollkommene Souveränität der in den Ausgleichsgesetzen als „zwei Hälften“ (nicht als Staaten) bezeichneten Teile bestritt, verteidigten ungarische Juristen (aber auch Jellinek und andere) die Doktrin von den zwei souveränen Staaten. Tezner suchte historische Argumente, um zu zeigen, dass Österreich und Ungarn vielleicht im verfassungsrechtlichen, aber nicht im völkerrechtlichen Sinne zwei Staaten waren. Den Spuren des Wiener Staatsrechtsprofessors und deutschliberalen Politikers Wenzel Lustkandl folgend, fand er sie in der Pragmatica Sanctio (1713), mit deren Annahme sich die ungarischen Stände im Jahr 1723 der Herrschaft der Habsburger unterworfen hätten. Sonach
557 Ebenda, S. 136. 558 Friedrich TEZNER, Die Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee. Ihr Inhalt und ihre politische Notwendigkeit, Wien 1905, S. 49. 559 Ebenda, S. 59, S. 45, S. 51.
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konstruierte Tezner eine Art Reichssouveränität,560 die er im gemeinsamen Herrscher und in anderen k.u.k. Organen repräsentiert sah. Die Metapher von den „siamesischen Zwillingen“, die zur Beschreibung des Verhältnisses von Österreich und Ungarn herangezogen wurde, hinkte sonach: „Die Monarchie hat […] nur ein Haupt.“561 Die Stichhaltigkeit des historischen Arguments Tezners konnte aber die Tatsache, dass die beiden Reichshälften keine gemeinsame Gesetzgebung besaßen, nicht verhüllen. Von den Ungarn wurde Letztere als das höchste Attribut staatlicher Souveränität gewertet. Vor diesem politischen Hintergrund wird zumindest mehreres plausibel: erstens das politische Motiv der ständigen Angriffe Tezners auf Jellinek sowie seine Ablehnung der „Durchschnittstypen“ der modernen Staatslehre, die den „ungeheuren Reichtum an staatlichen Einrichtungen“ angeblich nicht erschöpfend zu erfassen vermochten;562 und zweitens Tezners polemische Ablehnung der Reinen Rechtslehre. Unübersehbar ist, dass sein Ideal der Reichssouveränität mit Kelsens Staats- bzw. Rechtsbegriff unvereinbar war. Im „Verfassungsrecht des österreichischen Länderstaates“ lag für Tezner nämlich kein „logisch geschlossenes System von Rechtssätzen“ vor, sondern vielmehr ein „sinnreich konstruiertes Maschinensystem“, das in keine „logische Formel“ gepresst werden konnte.563 War aber (wie für Kelsen) die juristisch-normative Widerspruchsfreiheit das Kennzeichen von Souveränität, so konnte Österreich-Ungarn wohl nicht als Staat modernen Typs bezeichnet werden. Was Tezner dabei aber offenbar insbesondere störte, war, dass die Monarchie in logischer Konsequenz auch nicht als Träger staatlicher Souveränität eingestuft werden konnte. Schließlich durfte Tezner zufolge eines von vornherein nicht übersehen werden: „Das juristische Denken hat allezeit praktischen Zwecken gedient.“564 Daraus machte er kein Hehl: „Die Staatslehre ist zu allen Zeiten tendenziös gewesen und es ist eine Selbsttäuschung, wenn man glaubt, sie in unseren Tagen anders gemacht zu haben“.565 Versuchte Kelsen die Verflechtung der Jurisprudenz mit der Politik in demokratisierender Absicht aufzulösen, so kam Tezner dies einem Bildersturz gleich: Die Reine Rechtslehre „hat mit dem Eifer einer monotheistischen Lehre alle Götterbildnisse von den Altären gerissen.“566 Die
560 Vgl. József BUZÁS, Zur Geschichte des österreichisch-ungarischen öffentlichrechtlichen Verhältnisses: Friedrich Tezner über die Rechtsnatur der dualistischen Staatsverbindung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 102 (1985), S. 269–282. 561 TEZNER, Die Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee, S. 57. 562 TEZNER, Die wissenschaftliche Bedeutung der allgemeinen Staatslehre und Jellineks Recht des modernen Staates, S. 647. 563 Friedrich TEZNER, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit. Eine empirischrealistische Studie, Wien–New York 1986 (Forschungen aus Staat und Recht 75), S. 40. 564 Ebenda, S. 47. 565 TEZNER, Die wissenschaftliche Bedeutung der allgemeinen Staatslehre und Jellineks Recht des modernen Staates, S. 647. 566 TEZNER, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit, S. 14.
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„Räumungsarbeit“, die Kelsen unternommen habe, wäre „allzu gründlich ausgefallen“, weil „hinter dem Schleier, den Kelsen von dem Geheimnis des Rechtsbegriffs weggezogen zu haben vermeint, bei genauer Betrachtung nichts zu sehen sein wird.“567 Was Tezner im Hinblick auf die Staatslehre vermerkte, zeigte sich nicht zuletzt auch in seinem Wissenschaftshandeln. In der wissenschaftlichen Widerlegung des modernen Typenbegriffs blieb er dem politisch-praktischen Zweck der wissenschaftlichen Untermauerung der Herrschersouveränität in der dualistischen Monarchie verpflichtet. Sein Argument war, dass sich keine der beiden Hälften „infolge ihrer nationalen und ethnischen Zusammensetzung […] zu einem […] wahrhafte Souveränität besitzenden Staatswesen zu entwickeln“ vermocht habe.568 Dabei erblickte er durch die Anerkennung des auf der Dynastie ruhenden österreichischen Staatstitels die erhabene Chance auf „Begründung eines Völkerbundes auf der Grundlage des Patriarchates“,569 die aber durch den „nationalen Rausch“ der Magyaren, der auch andere Völker angesteckt hätte, verwirkt worden wäre. Die Magyaren bezichtigte er des „Verbrechens“ der nationalistischen Abschwächung der anti-nationalen Staatsidee; was er aber offensichtlich nicht sah (oder nicht wahrhaben wollte), war, dass sich Dynastie und Staatsverwaltung durch strategische Ausnutzung der nationalen Ambitionen der verschiedenen Völker den Weg zu jenem österreichischen ‚Völkerbundstaat‘, der ihm vorschwebte, selbst verstellt hatten. Der zentralistisch-bürokratische Absolutismus war bald nach 1867 einer wechselnden Allianzpolitik gewichen: Bernatzik hatte 1899 in einem Brief an Jellinek lapidar bemerkt: „Tezner wie so viele andere [begreift] das Wesen der österr. Schaukelpolitik nicht.“570 In seinem Urteil über Kelsen hatte Tezner nicht völlig Unrecht: Er würdigte Kelsens Werk mit ironischem Unterton als den „Zentralpunkt der modernen Rechtswissenschaft“ und seinen Verfasser als Mann der Tat, „den das niedergedrückte Vaterland zur Aufrichtung und Vervollkommnung seiner Verfassung mit berechtigtem Vertrauen berufen“ habe.571 Die Reine Rechtslehre bewertete er aber als „kein System des wirklichen Rechts, sondern einer idealen Rechtsordnung“.572 Vielleicht war Kelsens Ideal der normativen Widerspruchsfreiheit unerreichbar, die Macht des Verfassungsgerichtshofs, jedes verfassungswidrige Gesetz und jede gesetzeswidrige Verordnung aufzuheben, überschätzt worden und der Verzicht der Staatsrechtslehrer auf den politischen Mehrwert unvorstellbar. Sollte dieses Ideal, das
567 Friedrich TEZNER, Betrachtungen über Kelsens Lehre vom Rechtssatz, in: Archiv des öffentlichen Rechts 1912, S. 325–344, hier S. 343f. 568 Friedrich TEZNER, Österreichisches Staatsrecht in Einzeldarstellungen für den praktischen Gebrauch: Der Kaiser, Wien 1909, S. 246. 569 TEZNER, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit, S. 39. 570 GOLLER, Österreichische Staatsrechtswissenschaft um 1900, S. 231. 571 TEZNER, Rechtslogik und Rechtswirklichkeit, S. 14. 572 Ebenda, S. 11.
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vor Verfassungs- bzw. Rechtsbruch schützte, deshalb aber aufgegeben werden? Tezner,573 der bald nach seinem Tod vergessen worden war, wurde in der Zeit des autoritären Ständestaats wiederentdeckt: Voegelin würdigte ihn 1936 in seiner Schrift Der autoritäre Staat, weil er – unter historischer Perspektive – den „administrativen Stil“ in der ‚Staatsrechtslehre‘ transzendiert und die politische Rolle der Staatsführung gewürdigt hätte. Tezners Wissenschaftshandeln stützte zweifelsohne Voegelins „Versuch, die ‚administrative‘ Verfassungslehre Österreichs zu überwinden und eine ‚politische‘ zu entwerfen.“574 Die Staatsführung habe ihre Stellung als Administrator der Verfassung aufgeben müssen, und es seien „existentielle Schritte in der Staatswerdung Österreichs“ gesetzt worden, in dem Sinne, „daß die obersten Staatsorgane durch die politische Situation legitimiert als die Träger des Willens zur Existenz des Staates Österreich entscheidend auftraten.“575 Die Verfassung war somit ein Instrument der Politik und keiner gerichtsförmigen Kontrolle unterworfen. Unter diesem Vorzeichen ist es nicht verwunderlich, dass der eingangs erwähnte Verwaltungsjurist und Politiker Josef Schenk im Jahr 1935 schrieb: „Mit seinen juristischen Theorien steht Tezner jetzt zehn Jahre nach seinem Tode nicht mehr vereinsamt da.“576 4.15.3 Ludwig Gumplowicz In seinem Buch Philosophisches Staatsrecht (1877) warf der Staats- und Verwaltungsrechtler Ludwig Gumplowicz (1838–1909) den „Rechts- und Staatswissenschaften“ seiner Zeit vor, Metaphysik zu treiben: „Denn was uns diese als ‚Rechts- und Staatsphilosophie‘ […] boten, das waren meist Systeme logischer Folgerungen aus einem willkürlich a priori hingestellten Satze, aus einer ‚Idee‘.“577 Der Grazer Jurist demaskierte das öffentliche Recht als eine Wissenschaft, die sich „nicht auf empirisch festgestellte Thatsachen […] in Staat und Gesellschaft“ stützte, sondern sich „der reinen Deduction aus apriorischen Sätzen“ ergäben habe.578 In dieser „verschiedenen Art des Forschens“ sah er den „Hauptunterschied“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Was die philosophische Staatslehre betraf, ließ Gumplowicz angesichts des Siegeszugs der naturwissenschaftlichen Methode keinen Zweifel über den Anachronismus des deduktiven Verfahrens of-
573 Zur Biographie Tezners vgl. Friedrich Wilhelm KREMZOW, Friedrich Tezner. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Verwaltungsrechtswissenschaft. Das Leben, in: Acta Universitatum. Zeitschrift für Hochschulforschung, Kultur- und Geistesgeschichte 1, 2–3(1971), S. 23–41. 574 VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 6. 575 Ebenda. 576 SCHENK, Der österreichische Richter und Gelehrte Friedrich Tezner, S. 188. 577 Ludwig GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht. Systematische Darstellung für Studirende und Gebildete, Wien 1877, S. 5. 578 Ebenda, S. 5f.
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fen, in dem er keine Zukunft sah. Mit dem „richtigen Begriffe von ‚Wissenschaft‘“ war für ihn vielmehr die Anwendung der „richtige[n] inductive[n] Methode“ verknüpft: Jede Wissenschaft habe die Aufgabe, „eine Summe von empirischen Thatsachen“ zu durchdringen und durch Beobachtung die in der „Welt, Natur und Geschichte gegebenen Erscheinungen“ gesetzmäßig zu erschließen. Was die Staatswissenschaft betraf, so ergab sich für ihn die Schwierigkeit, dass sie nicht den Tatsachen traute. Vielmehr wäre sie den „Täuschungen“ des „aufgezeichneten Staatsrechts“ (als Vereinbarung der „um Macht, Herrschaft und Vorrang kämpfenden Parteien“) aufgesessen, die sein „wahres Wesen“ verhüllten.579 Der Jurist Gumplowicz, der als Vater der Soziologie in Zentraleuropa bezeichnet wird, begriff den Staat soziologisch. Die Staatsfrage erschien ihm im Wesentlichen als eine Machtfrage. Ihm wurden dahingehend auch sozialdarwinistische Haltungen nachgewiesen.580 In seiner posthum erschienenen Sozialphilosophie im Umriss (1910) rekapitulierte er seine Vorstellung von einer wahrhaft wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Lehre vom Staat prägnant: „Mögen die Juristen darüber zetern, so viel sie wollen! Die Staatswissenschaft ist keine juristische Disziplin: sie ist eine reine Naturwissenschaft, die sich auf dem Gebiete der sozialen Erscheinungen bewegt.“581 Seine positivistisch-naturalistische (Staats-)Soziologie sollte Ludwig Gumplowicz international jene Anerkennung verschaffen,582 die er im deutschsprachigen Raum zeitlebens vermisste. In den USA genoss der Grazer Jurist schon um 1900 den Ruf, einer der Gründerväter der Soziologie sein. Lester F. Ward (1841–1913) und Albion W. Small (1854–1926) waren Weggefährten, durch deren Vermittlung seine Soziologie in Amerika große Breitenwirkung erfuhr.583 Auch in Italien fand er Resonanz, und selbst Durkheim hatte auf ihn Bezug genommen. Innerhalb der deutschsprachigen Juristenzunft beschwor sein soziologisches Staatsverständnis aber die schärfste Missgunst und Ablehnung herauf.
579 Ebenda, S. 6, S. 4, S. 10. 580 Vgl. Uta GERHARDT, Darwinismus und Soziologie. Zur Frühgeschichte eines langen Abschieds, Heidelberger Jahrbücher 45 (2001), S. 183–215. 581 Ludwig GUMPLOWICZ, Sozialphilosophie im Umriss, Innsbruck 1910 (Neuauflage: Aalen 1969), S. 34f. 582 Vgl. Harry Elmer BARNES, The Social Philosophy of Ludwig Gumplowicz. The Struggles of Races and Social Groups, in: An Introduction of the History of Sociology, ed. by Harry Elmer Barnes, Chicago 1948, S. 191–206, hier S. 193, S. 204. 583 Vgl. Karl ACHAM, Ludwig Gumplowicz und der Beginn der soziologischen Konflikttheorie im Österreich der Jahrhundertwende, in: Britta RUPPEISENREICH, Justin STAGL (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918, Wien–Köln–Weimar 1995 (Ethnologica Austriaca 1), S. 170–207, hier S. 199–201.
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4.15.3.1 Zur Biografie Als sich der Sohn eines jüdischen Krakauer Buchdruckers Ludwig Gumplowicz im Jahr 1875 in Graz als Verteidiger in Strafsachen niederließ, blickte er auf eine Karriere als Jus-Student, Anwalt, Journalist und Herausgeber einer nationalen Zeitschrift in Krakau zurück. Die akademische Laufbahn vor Augen veröffentlichte er in den nächsten drei Jahrzehnten ein umfangreiches Œuvre: Der noch jungen und umstrittenen Soziologie wandte sich Gumplowicz nach seiner Sicherstellung als außerordentlicher Professor des Allgemeinen Staatsrechts und der Verwaltungslehre in Graz im Jahr 1882 zu. Seine soziologischen Hauptwerke veröffentlichte er im darauffolgenden Jahrzehnt: Der Rassenkampf. Sociologische Untersuchungen (1883), Grundriß der Sociologie (1885) und Die sociologische Staatsidee (1892). 1893 wurde Gumplowicz zum ordentlichen Universitätsprofessor der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechts ernannt.584 Als Jurist war er „bis zur Überspitzung“585 Positivist, allerdings nicht im Sinne des Staatsrechtspositivismus Labandscher Prägung. Auch als Soziologe, als der er sich sah, bevorzugte er die positivistische Methode, und er begriff sich als Empiriker. In seinen Analysen zog er empirisches Material allerdings nur zu illustrativen Zwecken heran. Wiederholt wurde seine Stellung zwischen Soziologie und Jurisprudenz mit seiner Außenseiterposition als Jude, Pole und Soziologe in Verbindung gebracht.586 Zu dieser Einstufung haben seine Selbstdarstellungen und das Charakterbild, das sein Schüler Franz Oppenheimer (1864–1943) von ihm 1926 zeichnete, Anlass gegeben: Er sieht als Jude und Pole die Dinge doppelt ‚von unten‘, er erkennt die ‚partie honteuse‘ der Gesellschaft und des Staates, in dem er lebt, mit voller Deutlichkeit […]; aber er bleibt doch als akademisch Gebildeter immer ein Bürgerlicher. […] Weil er ‚von unten‘ sah, kam er dem Staat hinter seine Schwächen: weil er noch allzuviel ‚von oben sieht‘, vermag er nicht, an Besseres zu glauben und wirft sich dem soziologischen Pessimismus in die Arme.587
584 Zur wissenschaftlichen Biografie Ludwig Gumplowiczs vgl. Bernd WEILER, Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz: Materialien zur Habilitation und Ernennung zum Extraordinarius (1876–1882), in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter (Graz) 21 (2001), S. 3– 19. DERS., Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz. Analysen und Materialien aus der Zeit von der Ernennung zum Extraordinarius bis zur Emeritierung (1883-1908), Teil I, in: Newsletter (Graz) 24 (2003), S. 21– 42, und Teil II, in: Newsletter (Graz) 25 (2004), S. 3–54. 585 Franz OPPENHEIMER, Zur Einführung, in: GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie (Original 1885), S. VII–XXIV, S. X. 586 Vgl. WEILER, Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz, Teil I, S. 23. Bernd Weiler liefert eine ausführliche Bibliografie zu den Arbeiten über Gumplowicz, Bernhard Zebrowski zu Gumplowiczs Arbeiten, vgl. DERS., Ludwig Gumplowicz. Eine Bio-Bibliographie, Berlin 1926 (Bio-Bibliographische Beiträge zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften 7). 587 OPPENHEIMER, Zur Einführung, S. XXII.
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Dieser Pessimismus, dem Gumplowicz in seiner naturalistischen Soziologie Ausdruck verlieh, wurde mehrfach auf das mit der Multikulturalität verbundene Marginalitätsproblem im Vielvölkerreich Österreich-Ungarn zurückgeführt.588 Die Stärken seiner Soziologie und seiner Sozialphilosophie hat vor allem der Grazer Soziologe Gerald Mozetič aufgezeigt.589 Gumplowiczs Biografie wird aufbauend auf den Arbeiten des jung verstorbenen Grazer Soziologen Bernd Weiler (1971–2006) weiter erarbeitet. Weniger erforscht ist allerdings das Verhältnis seines soziologischen Staatsbegriffs zur positivistischen Staatsrechtslehre seiner Zeit. Angesichts seiner Definition des Staats als einer „naturwüchsigen Organisation der Herrschaft von Menschen über Menschen“590 erinnerten Gumplowicz die juristischen Staatsdefinitionen anderer „an das Sprüchlein: Er stieg auf einen Birnenbaum, wollt’ gelbe Rüben graben.“591 Die zeitgenössischen Wiener Juristen kritisierten seinen Staatsbegriff – der Staat als Ordnung durch Herrschaft und Zwang – heftig. Da er die Asymmetrien der Machtverhältnisse als notwendig, unaufhebbar und für den Staat konstitutiv einstufte, unterwanderte seine Theorie letztlich die Versuche mancher österreichischer Juristen, vordemokratische Herrschaftsformen durch juristische Konstruktionen zu delegitimieren bzw. zu beschränken. Konflikte waren vorprogrammiert. 4.15.3.2 Zur Soziologie Wollte die Soziologie eine Wissenschaft sein, so hatte sie Gumplowicz zufolge naturgesetzliche Abläufe in der sozialen Welt zu erkunden. Hierfür bedurfte sie der induktiven Methode sowie eines spezifischen Gegenstands, durch den sie sich von anderen Wissenschaften (Psychologie bzw. Staatslehre) abgrenzte. Als ein solches Objekt erkannte Gumplowicz die Gruppe, in der sich für ihn der spezifisch soziale Prozess manifestierte. Sie allein ver-
588 Vgl. u.a. Peter STACHEL, Die Anfänge der österreichischen Soziologie als Ausdruck der Multikulturalität Zentraleuropas, in: ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 3.1, S. 509–546. 589 Vgl. Gerald MOZETIČ, Ludwig Gumplowicz. Das Programm einer naturalistischen Soziologie, in: Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, hg. von Kurt Freisitzer [u.a.], Graz 1985, S. 189–210. DERS., Ein unzeitgemäßer Soziologe. Ludwig Gumplowicz, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), S. 621–647. DERS., Sozialphilosophie in Graz am Beginn des 20. Jahrhunderts: Der Außenseiter Ludwig Gumplowicz, in: Thomas BINDER [u.a.] (Hg.), Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie an der Universität Graz, Amsterdam–New York 2001, S. 333–346. Jürgen HOHMEIER, Zur Soziologie Ludwig Gumplowicz’, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 22 (1970), S. 24–38. Gertraude MIKL-HORKE, Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorieentwürfe, München–Wien 52001, S. 88–91. 590 GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht, S. 16. 591 Ludwig GUMPLOWICZ, Edmund Bernatzik. Die juristische Persönlichkeit der Behörden. Zugleich ein Beitrag zur Theorie der juristischen Personen. Freiburg im Breisgau. 1890 [Rezension], in: Deutsche Literaturzeitung 12, 7(1891), S. 246f.
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körperte das handelnde Subjekt, und nicht das Individuum, das er als eine „soziale Sinnestäuschung“ bezeichnete.592 Gumplowicz verstand sich als ein konsequenter Anti-Individualist; er wird daher auch als Vertreter des Soziologismus eingestuft. Da er die Gruppen („Gemeinwesen“) so auffasste, „als ob sie einheitlich wollende Wesen wären“,593 verfiel für ihn jede individualistische Psychologie infolge der Annahme, „der Mensch denke“, dem größten Irrtum: „Denn […], was im Menschen denkt, das ist gar nicht er – sondern seine sociale Gemeinschaft.“594 Hier nahm er in Ansätzen vorweg, was später der Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs – auf das Gedächtnis gemünzt – als den sozialen Rahmen („cadres sociaux“) bezeichnete. Von der Auffassung ausgehend, dass die Menschheit ursprünglich in eine Vielzahl ethnischer Gruppen aufgegliedert gewesen sei („Polygenismus“), meinte er zeigen zu können, dass sich soziale Prozesse durch das Aufeinandertreffen verschiedener Gruppen ergaben. Im „Syngenismus“ (‚Wir-Identität‘) und im Hass auf die Anderen sah er den permanenten „Rassenkampf“595 begründet, in dem er ein zeitübergreifendes soziales „Entwicklungsgesetz“, „das Gesetz der Geschichte“ und „allen Lebens“ erblickte. Durch diesen „Naturprozeß“ seien bestimmte Herrschaftsverhältnisse zustande gekommen:596 „Im Wesen jeder Herrschaft liegt“ aber, meinte Gumplowicz, „dass sie immer nur seitens einer Minorität über eine Majorität geübt werden kann.“597 Diese Ansicht führte ihn zu seiner Auffassung vom Staat, der ausnahmslos zu dem Zweck entstanden sei, das Verhältnis der Sieger zu den unterworfenen Gruppen verschiedener ethnischer Herkunft in soziale Herrschaftsverhältnisse zu übersetzen: „Nie und nirgends sind Staaten anders entstanden“, versicherte Gumplowicz, „als durch Unterwerfung fremder Stämme seitens eines oder mehrerer verbündeter und geeinigter Stämme.“598
592 Ludwig GUMPLOWICZ, Sociale Sinnestäuschungen, in: Neue Deutsche Rundschau 6 (1895), S. 1–11. 593 GUMPLOWICZ, Soziologische Essays. Soziologie und Politik, S. 235. 594 GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 172. 595 Ludwig GUMPLOWICZ, Der Rassenkampf. Mit einem Vorwort von Gottfried Salomon, Aalen 1973, S. 177f. [Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1926: Ausgewählte Werke, hg. von Gottfried Salomon, in Verbindung mit Franz Oppenheimer, Franco Savorgnan, Max Adler 3] (Original 1883, zweite Auflage 1909, dritte Auflage 1926). Die Sekundärliteratur zeigt, dass Gumplowicz den Rassebegriff nicht rassistisch verwendete. Mit „Race“ erklärte er die Vielfalt menschlicher Gruppen aufgrund verschiedener sozialer, politischer und historischer Faktoren. Vgl. ebenda, S. 192. 596 GUMPLOWICZ, Soziologische Essays. Soziologie und Politik, S. 236f. 597 Ludwig GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee. Zweite, vermehrte Auflage, Innsbruck 1902 (Original 1892), S. 46. Die erste Auflage seiner Schrift Die sociologische Staatsidee war 1892 als Festschrift der k.k. KarlFranzens-Universität im Verlag Leuschner & Lubensky erschienen. 598 GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 99.
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4.15.3.3 Zum Staat Den Staat definierte Gumplowicz im Sinne seiner „sociologischen Staatsidee“ als eine „soziale Erscheinung“, „welche durch die naturgesetzliche Aktion sozialer Elemente zu stande“ kam. Die erste Aktion bestand für ihn „in der Unterwerfung einer sozialen Gruppe durch die andere und durch die Begründung einer Herrschaftsorganisation der einen Gruppe über die andere.“599 Allein mit diesen Kämpfen vollzogen sich für ihn Entwicklungen. Doch waren die Herrschaftsverhältnisse im Staat nicht notwendig statisch; sie waren vielmehr durch weitere soziale Aktionen dynamischen Veränderungsprozessen unterworfen. Auch wenn sich die Verhältnisse durch „Herrschaftsumwälzungen“ verkehrten,600 so zeichnete den Staat doch ein Wesenszug aus, nämlich, dass durch die Aufrechterhaltung einer Vielfalt sozialer Gruppen die Herrschaftsstruktur an sich, d.h. die Machtasymmetrie zwischen den sozialen Gruppen, naturgesetzlich-ewig gewahrt würde. Das Staatsrecht war Spiegelbild von dem, was er unter Staat verstand: „Herrscher und Herrschende“, so Gumplowicz, „das sind die ewigen, unabänderlichen und umwandelbaren (!) Merkmale der Staaten.“601 Die Vorstellung eines Staats-„Willens“ oder eines „Zwecks“ entlarvte er als Illusion.602 Mit seiner soziologischen Staatsidee widersetzte sich der Grazer Jurist und Soziologe vehement einer Theoriebildung, die den Staat juristisch konstruierte, dabei den sozialen Herrschaftsaspekt nicht akzentuierte und durch die Aufnahme neuer Merkmale in die Staatsdefinition Verwirrung stiftete. Mitunter wäre der Staat über eine Analogie als „ein lebendes Wesen“ und als ein dauernder „Organismus“ mit dem Zusatz „der Freiheit“603 oder als „die organisierte Volkspersönlichkeit (Bluntschli)“ definiert worden.604 Gumplowicz stellte zwar nicht in Abrede, dass „jede Organisation der Herrschaft“ von einer gewissen Entwicklungsstufe an bestrebt sei, die von den Staatslehrern in die Definition des Staates aufgenommenen Zwecke der Sicherung von Wohlfahrt, Realisierung von Recht usw. zu erfüllen, jede Staatsdefinition müsse aber von solchen spezifischen Zweckbestimmungen absehen, weil sie „die Tatsache [verdeckten], daß vorerst nur die Herrschaft der einen über die andern der alleinige Zweck der Gründung des Staates war“. Gumplowicz zufolge gab es nur zwei solcher wesentlichen Merkmale des Staates; zum einen: „all und jeder Staat ist ein Inbegriff von Einrichtungen, welche die Herrschaft der einen über die andern zum Zwecke haben“; zum anderen, dass „diese Herrschaft immer von einer Minorität über eine 599 600 601 602 603
Ebenda, S. 94. GUMPLOWICZ, Der Rassenkampf, S. 209. GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht, S. 16. GUMPLOWICZ, Sozialphilosophie im Umriss, S. 37. Als Hauptvertreter der organischen Theorie nannte er u.a. den von Thun nach Graz berufenen Heinrich Ahrens (1805–1874), der eine von der österreichischen Vernunftsrechtstradition völlig verschiedene Naturrechtsauffassung vertrat. Vgl. Heinrich AHRENS, Organische Staatslehre, Wien 1850. Zu Ahrens vgl. GOLLER, Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, S. 46–55. 604 GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 96.
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Majorität geübt“ werden würde. Der Staat blieb für ihn eine „Organisation der Herrschaft“. Darin erblickte er die „einzig richtige, allgemeinste, das heißt auf all und jeden Staat zutreffende und passende Definition desselben.“605 4.15.3.4 Zu Staatsrecht und Macht Da Gumplowicz den Staat als ein Produkt sozialer Machtkämpfe definierte, war die Schlussfolgerung nahe liegend, dass auch das Staatsrecht als „soziale Schöpfung“606 aufzufassen war: Seiner „sociologischen Staatsidee“ zufolge ergab sich das Staatsrecht weder „aus dem Geiste des Individuums“ noch „aus einem fictiven Gesammtwillen“, sondern „aus dem Kampf der socialen Bestandtheile, die den Staat bilden“. Das Staatsrecht war Ausdruck der „in diesem Kampfe zwischen dem einen Bestandtheil und dem oder den anderen jeweilig festgestellten Schranken ihrer Machtübung.“ Seine „sociologische Staatsidee“ stützte er auf seinen Standpunkt, „das jede wirtschaftliche und soziale Macht nach rechtlicher Herrschaft strebte und das Letztere nichts anderes ist, als der Ausdruck, die Form der ersten.“607 Die Theorie, dass der soziale Machtkampf zwischen den Gruppen das Substrat der juristischen Ordnung des Staates bildete, führte Gumplowicz zum Schlagwort des „Gruppismus“: „Das ist der soziologische Standpunkt, von dem aus der Staat als ein Inbegriff sozialer, wechselseitig sich bekämpfender Gruppen angesehen wird, welche seine wahren Elemente bilden, deren ‚Antagonismus‘ den Staat ins Leben rief und seine Entwicklung erzeugt.“ In dem Aufeinandertreffen heterogener sozialer Gruppen erkannte er nicht nur „den Naturprozeß der staatlichen Entwicklung“608, sondern auch die „erste Bedingung der Rechtserzeugung“: Der durch Gewalt begründete und von der unterlegenen Gruppe akzeptierte Zustand werde zur rechtlichen Ordnung, die Kräfteungleichheit gäbe jedem Rechte das Gepräge. Denn: „All und jedes Recht ist eine Ordnung der Ungleichheit.“609 Gumplowicz verstand das Recht, jene „Ordnung der Ungleichheit“, als ein Erzeugnis des Staates. Unter Staat begriff er – wie oben gezeigt – „eine über allem Rechte stehende Organisation der Herrschaft“. Mit der soziologischen Staatsidee entlarvte Gumplowicz den Staat als eine Institution der Sieger im „Rassenkampf“, die den einzigen Zweck verfolgte, Herrschaft über die Unterworfenen auszuüben. Im Staat verkleidete sich daher Macht als Recht. Letzteres, „das nur in der staatlichen Ordnung“ entstand, sei ihr Ausdruck, „die Norm, welche diese Ungleichheit fixiert.“610 Jene Rechtswissenschaft, die den Staat juristisch definierte, habe dieses Verhältnis umkehren und den Staat unter das Joch des Rechts beugen, ihn als Anstalt be-
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Ebenda, S. 98, S. 97. GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 204. GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee, S. 52. GUMPLOWICZ, Sozialphilosophie im Umriss, S. 36. GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 103. Ebenda.
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greifen wollen. Ihren Zweck erkannte Gumplowicz zwar in der Verwirklichung des Rechtsstaates,611 jenem Juristen, der „sich einbildete, der Stat [!] sei ein Erzeugnis des Rechts sowie eine Obligation“, warf er aber vor, „statblind“ [!] zu sein.612 Denn: „Mit der richtigen Erkenntnis der Natur des Staates und des Rechtes und ihres gegenseitigen Verhältnisses, muss die Fiction des Rechtsstaates als einer Anstalt […] zu existiren aufhören“:613 „Man kann vom statlichen [!] Standpunkt das Recht betrachten:“ der Rechtsstandpunkt allein sei aber zu eng und zu begrenzt, um von ihm aus den Staat zu begreifen.614 4.15.3.5 Zur zeitgenössischen Kritik Der soziologische Staatsbegriff, der Unterjochung und Ausbeutung zu konstitutiven Merkmalen des Staatswesens sui generis erklärte, musste den Horizont der juristisch-methodisch orientierten Staatsrechtslehre zwangsläufig überschreiten und von ihr verworfen werden. 1889 diagnostizierte Gumplowicz die Vorherrschaft dieser civilistisch-casuistischen Methode an Österreichs Universitäten, der zufolge jede philosophische oder historische Staatslehre auf Widerstände stoßen würde. Was eine soziologische Staatslehre daher erwartete, nämlich, dass sie jemanden, der diese vertrat, „in schlimmsten Mißkredit“615 zu bringen vermochte, erfüllte sich in der Tat bald. Gumplowiczs Theorien stießen auf massive Ablehnung. Die vernichtendste Kritik veröffentlichte Edmund Bernatzik im Jahr 1892 in der angesehenen Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart in einer umfassenden Rezension der Schriften von Gumplowicz.616 In ihr zeigte er eine Vielzahl methodischer Schwächen, Widersprüche und historischer Ungenauigkeiten auf. Schon zuvor hatte auch Felix Stoerk nicht mit Kritik gespart, und später sollte sich auch der Wiener Verwaltungs- und Staatsrechtsprofessor Adolf Menzel (1857–1938) wiederholt kritisch zur soziologischen Staatslehre äußern. Der Hauptvorwurf, der Gumplowicz traf, bestand darin, sich als Staatsrechtslehrer über die Methoden, Zwecke und Aufgaben seiner Wissenschaft hinweggesetzt, das öffentliche Recht „resolut aus dem Rahmen rechtswissenschaftlicher Betrachtung“ und ihm deshalb „jede principielle Basis für
611 Vgl. Ludwig GUMPLOWICZ, Allgemeines Staatsrecht, Innsbruck 1897 [Zweite Auflage des Philosophischen Staatsrechts, dritte Auflage 1907, Nachdruck 1972], S. 435. 612 GUMPLOWICZ, Edmund Bernatzik. Die juristische Persönlichkeit der Behörden, S. 246f. 613 GUMPLOWICZ, Allgemeines Staatsrecht, S. 436. 614 GUMPLOWICZ, Edmund Bernatzik. Die juristische Persönlichkeit der Behörden, S. 246f. 615 Ludwig Gumplowicz, hier zitiert nach Erk Volkmar HEYEN, Lorenz von Stein, 1815–1890, in: BRAUNEDER (Hg.), Juristen in Österreich, S. 160–165, hier S. 165. 616 BERNATZIK, Ludwig Gumplowicz. Einleitung in das Staatsrecht (1889) und Das österreichische Staatsrecht (1891) [Rezension], S. 761–781.
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die wissenschaftliche Erkenntniss“ entzogen zu haben. Die „schleierhafte Verweisung auf die Bahn der exacten Wissenschaften“ war für Stoerk „ein zu vages Auskunftsmittel“, das verhinderte, dass die Staatsrechtswissenschaft bei Gumplowicz einen „definitiven Bankbruch“ erleiden würde.617 Menzel zufolge war Gumplowicz, der das Wesen des Staates in einer ewiglich auf Ungleichheit beruhenden Herrschaft sah, einer Art nihilistischen Resignation vor den Aufgaben der Staatsrechtslehre verfallen.618 Der Wiener Staatsrechtler verschwieg seine Kritik an der methodischen Unschärfe der ‚Staatswesensschau‘ von Gumplowicz nicht: Er habe aus der Art der Entstehung des Staates einen „sicheren Schluss“ auf sein inneres Wesen gezogen. War diese Schlussfolgerung für Menzel an sich schon unzulässig, so übte er noch weitere Kritik: Jenem sei es nicht nachzuweisen gelungen, dass die Unterwerfung von „Volksstämmen“ den Staaten tatsächlich zu ihrer Entstehung verholfen habe. Menzel bezweifelte im Übrigen die Annahme, dass das Wesen des Staates zu allen Zeiten notwendig in der Herrschaft einer Gruppe bzw. der Unterwerfung einer anderen Gruppe bestanden habe; vielmehr habe die jüngste Geschichte gezeigt, dass immer wieder ausgleichende Kräfte (Dynastie, Bürokratie, Armee) gewirkt hätten.619 Die schärfste Kritik übte aber – wie erwähnt – der Wiener Staatsrechtsprofessor Edmund Bernatzik. Dieser war von Gumplowicz zuvor in einer Rezension angeschwärzt worden.620 Bernatzik warf ihm vor, dass er durch die Verwechslung der „wirtschaftlichen Übermacht mit der rechtlichen Herrschaft“ (als dem Kern seiner Theorie, „die auf der Identität von factischer Gewalt und rechtlicher Herrschaft beruht“621) den Zweck der Staatsrechtslehre vollends verkannt hätte: Während wir anderen Sterblichen also seit Aristoteles die einseitige Ausbeutung der staatlichen Gewalt im Interesse der Herrscher als mit dem Staatsbegriff unverträglich, als eine ‚Ausartung‘ desselben erkennen, während wir es als eine Aufgabe und Pflicht des Staates betrachten, die Ausbeutung der Schwachen durch die Starken zu verhindern, belehrt uns der Verfasser [Gumplowicz], dass umgekehrt gerade diese Ausbeutung das wesentliche Begriffsmerkmal des Staates ist!622
In einer Zeit, da manchen der Absolutismus noch in lebhafter Erinnerung war und sich Staatsrechtslehrer die Verantwortung auferlegt hatten, den ‚Machtstaat‘ nach Maßgabe der Verfassung, sobald eine solche vorhanden
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STOERK, Zur Methodik des öffentlichen Rechts, S. 39f. MENZEL, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 547. Vgl. ebenda, S. 548f. Vgl. die ausführliche Darstellung der Auseinandersetzung („wissenschaftlichen ‚Kriegsführung‘“) zwischen Gumplowicz und Bernatzik durch Bernd WEILER, Die akademische Karriere von Ludwig Gumplowicz in Graz, Teil I, S. 32–37. 621 BERNATZIK, Ludwig Gumplowicz [Rezension], S. 769. 622 Ebenda.
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war, in einen ‚Rechtsstaat‘ zu verwandeln, konnte eine Theorie, die den Staat als eine Ordnung durch Herrschaft definierte, nur als Ruf zurück oder als Aufruf zum Anarchismus verstanden werden. Bernatzik zufolge habe Gumplowicz den „Ausgebeuteten“ zugerufen: „Macht keinen Lärm, die Sache war immer so und wird immer so bleiben, die Ausbeutung liegt in der traurigen Natur der Sache, sie ist eine Nothwendigkeit, ergebt Euch mit Resignation in Eurer Schicksal!“ Doch: Wer könne es den „Ausgebeuteten“ verdenken, „wenn sie diese Rathschläge nicht befolgen und statt zur philosophischen Resignation zum – Dynamit greifen?“623 4.15.4 Resümee Gumplowicz gebührt zweifelsohne das Verdienst, mit seinem sozialen Staatsbegriff Abhängigkeitsverhältnisse, Herrschaft und Ausbeutung als charakteristische Merkmale des Staates als Institution aufgezeigt zu haben. Allerdings vermisste seine Theorie jeden heuristischen Ansatz für einen Ausgleich dieser Machtasymmetrien auf demokratische Weise: Das Staatsrecht blieb für ihn eine „Ordnung der Ungleichheit“,624 d.h. ein Spiegelbild der ungleichen Machtverhältnisse zwischen den sozialen Gruppen im Staat. Gumplowicz rückte die Dimension der Herrschaft in den Vordergrund. Er definierte den Staat dem Sinne nach als Organisation durch Herrschaft, und er bewertete das Staatsrecht – als Ausdruck der Abgrenzung sozialer Machtsphären und Machtverhältnisse – als notwendig asymmetrisch.625 Dass Gumplowiczs Theorie, dass Unterdrückung ewig, gleichsam naturgesetzlich notwendig und der Rechtsstaat sowie die Idee demokratischer Gleichheit und individueller Freiheit illusorisch wäre,626 unter jenen Juristen, die den ‚Machtstaat‘ juristisch zurechtrücken und der Staatsrechtslehre zur Autonomie verhelfen wollten, schwere Irritationen hervorrief, ist somit nicht weiter verwunderlich. Der ‚Begriffsjurisprudenz‘ warf er vor, staatsund machtblind zu sein. Ihr optimistischer Ausblick war vergebens: Die „unveräußerlichen Menschenrechte“ beruhten für ihn auf der „unvernünftigen Selbstvergötterung und Überschätzung des Wertes des Menschen“, Demokratie würde die herrschende Minorität zwingen, „volksnaher“, d.h. demagogisch zu handeln. Gumplowicz habe, so Bernd Weiler, für die „Götzen“ der Zeit – Demokratie, Parlamentarismus, unveräußerliche Menschenrechte sowie allgemeines Wahlrecht – nur Spott übrig gehabt.627 Was nicht
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Ebenda, S. 769f. GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht, S. 142. Vgl. GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee, S. 52. Vgl. Ludwig GUMPLOWICZ, Rechtsstaat und Socialismus, Innsbruck 1881, S. 503–505. 627 Vgl. Bernd WEILER, Sub Sole Nihil Novi: Zur Fortschrittskritik von Ludwig Gumplowicz (1838–1909) und Gaetano Mosca (1858–1941), in: Newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und
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verwundert, waren diese Institutionen doch notwendig mit einem Staat unverträglich, den Gumplowicz durch Herrschaft und Ausbeutung charakterisiert sah. Der Mensch stand daher vor der Wahl: „entweder den Staat mit seiner bis zu einem gewissen Grade notwendigen Unfreiheit und Ungleichheit – oder Anarchie.“ Tertium non datur! Zwischen diesen beiden sozialen Existenzmodalitäten – Staat oder Anarchie – zu wählen, war – wie er zugab – allerdings nicht schwer.628 Hiermit korrelierte auch Gumplowiczs Devise, dass die Soziologie „keine grundstürzende Umgestaltung“ anstreben würde. Sie „begnügt sich mit der Erkenntnis des Wesens des Staates“,629 zu vermeiden sei daher jedwede Verwechslung von „Soziologie und Sozialismus“. Jene „quasi-soziologische Literatur“, die sich mit der „Lösung der sozialen Fragen“ beschäftigte, stand für ihn außerhalb der Soziologie; die Erstere habe Letztere nur in Misskredit gebracht. Die Soziologie durfte nicht Sozialpolitik sein. Sie sei „Theorie, und keine [soziale] Therapie“.630 Die Vorstellung sozialer Veränderung im sozialistischen Sinne vertrug sich weder mit seiner Auffassung von Soziologie als Wissenschaft noch mit seiner Theorie: Die Zielvorstellung einer klassenlosen Gesellschaft verwarf Gumplowicz als naiv. In dem Kapitel „Die Irrthümer des Socialismus“ verwies er auf den naiv-utopistischen Staatsbegriff des Sozialismus.631 Denn: Wer einsah, dass es in der „unausrottbaren und unvertilgbaren Natur der Menschen und des Staates“ lag, dem Willen einer „herrschenden Minorität“ zu gehorchen, aber „Rechtstaat und Socialismus“ predigte, der trete für „die Auflösung und Vernichtung des Staates und Rückkehr zu staatslosen wilden Zuständen“ auf.632 Doch: „Zur primitiven Horde können wir nicht mehr zurückkehren“. Denn: „Es gehört eine bedeutende Dosis von Naivität dazu“, so Gumplowicz, „an die Rückkehr längst überwundener sozialer Daseinsformen zu denken.“633 Gumplowicz zufolge waren Herrschaftsverhältnisse für den Staat konstitutiv, soziale Unterschiede in ihm unaufhebbar. Er definierte ihn als eine „naturwüchsige Organisation der Herrschaft behufs Aufrechterhaltung einer bestimmten [Kursivierung J.F.] Rechtsordnung“.634 Die Wissenschaft davon bezeichnete er als „die große Werkstätte, in der das Material verarbeitet wird, aus dem dann im politischen Kampfe die Parteien ihre Waffen“ schmiedeten: Die Staatswissenschaft greife zwar nicht unmittelbar in den politischen Kampf
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Zentraleuropa um 1900. Sonderheft 2: Pluralität – Eindeutigkeit (2003), S. 17– 22, hier S. 20. GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 208. GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee, S. 51. GUMPLOWICZ, Soziologische Essays. Soziologie und Politik, S. 138f. Vgl. GUMPLOWICZ, Rechtsstaat und Socialismus, S. 496–505. Zur Auseinandersetzung von Ludwig Gumplowicz mit dem Marxismus vgl. MOZETIČ, Ludwig Gumplowicz. Das Programm einer naturalistischen Soziologie, S. 187f. GUMPLOWICZ, Rechtsstaat und Socialismus, S. 503f. GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 208. Ludwig GUMPLOWICZ, Allgemeines Staatsrecht. Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage des ‚Philosophischen Staatsrechts‘, Innsbruck 1897, S. 34.
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ein, doch liefere sie „das Material zu diesen Waffen“ und das sei – so Gumplowicz zustimmend – „ihr practischer Nutzen.“635 In seiner schmalen Schrift Naturrecht und Soziologie (1912) nannte der Wiener Jurist Adolf Menzel Gumplowicz neben anderen als ein Beispiel für seine These, dass im Besonderen die Vertreter der noch jungen Soziologie (in kaum geringeren Ausmaße als die Naturrechtslehre) „keine objektive Erkenntnis der Wirklichkeit“ angestrebt, sondern „nur politische Tendenzen mit dem Scheine der Wissenschaftlichkeit versehen“ hätten,636 oder wie er später schrieb: „keine wertfreie Erklärung“ sozialer Verhältnisse lieferten, sondern „Ideologie“ betrieben.637 Unter solchem Vorzeichen konnte die soziologische Staatsidee die Alternative ‚Staat oder Anarchie‘ nicht überschreiten; noch war jener ‚dritte Weg‘ bzw. Ausweg verstellt, der durch relative Autonomisierung den Weg zur Machtkritik und zu demokratischen Handlungsalternativen der Staatsrechtswissenschaft ebnete.638 Davon, dass das österreichische Staatsproblem – der so genannte ‚Nationalitätenkampf‘ – das Substrat seiner soziologischen Staatsauffassung darstellte, zeugen autobiografische Passagen im Werk des Krakauer Buchdruckersohnes sowie Äußerungen seines Schülers Franz Oppenheimer: Während Gumplowicz ein sozialer Aufstieg beschieden war, hätten die von ihm repräsentierten Gruppen – Juden und Polen – ihre marginale, sogar pariahafte Stellung unter den schwierigen nationalen Verhältnissen im Vielvölkerstaat nicht verwunden.639 Aus den „inneren Kämpfen Österreichs“ musste Gumplowicz zufolge „allmählich die Erkenntnis aufdämmern, daß die Lösung nur gefunden werden könne auf dem Grunde der Soziologie.“640 Stellte seine soziologische Auffassung des Staates, die soziologische Staatsidee, aber tatsächlich ein Verfahren bereit, das solch mehr oder weniger marginalen Gruppen einen Ausweg von Unfreiheit und Ungleichheit eröffnete, oder sah er die einzige Chance auf Ausgleich in Unterwerfung und Assimilation? Franz Oppenheimer, sein Schüler, antwortete posthum für Gumplowicz: Dem jüdischen Polen wäre der österreichische Nationalitätenstaat in dieser unvollkommenen Welt als „das Beste“ erschienen: „Entweder dieser Staat mit all seinen Schwächen [einer notwendigen Unfreiheit und
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GUMPLOWICZ, Philosophisches Staatsrecht, S. 7f. Adolf MENZEL, Naturrecht und Soziologie, Wien–Leipzig 1912, S. 6, S. 56–60. MENZEL, Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 568. Darauf bezieht sich KELSEN in seiner Staatslehre (1925), S. 16: „Kritische Untersuchungen der modernen soziologischen Systeme haben gezeitigt, daß sie alle unter dem Scheine kausalgesetzlicher Erklärung tatsächlichen Geschehens, in der Meinung ein natürliches, d.h. kausales Entwicklungsgesetz aufzuzeigen, ein universales Wertsystem zu begründen suchen, also doch wiederum nur Ethik, Theologie oder Naturrecht betreiben (Menzel).“ 639 Vgl. OPPENHEIMER, Zur Einführung, S. XXII. 640 Ludwig GUMPLOWICZ, Geschichte der Staatstheorien. Mit einem Vorwort von Gottfried Salomon, Aalen 1973 (Neuauflage der Ausgabe Innsbruck 1926: Ausgewählte Werke, hg. von Gottfried Salomon, in Verbindung mit Franz Oppenheimer, Franco Savorgnan, Max Adler 1), S. 433.
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Ungleichheit, J.F.] – oder vernichtende Anarchie: ein drittes gibt es nicht.“641 Denn, so Gumplowicz, „Freiheit und Gleichheit sind mit dem Staate unverträglich, sind geradezu die Negation desselben.“642 Doch waren sie es wirklich oder nur im Sinne der soziologischen Staatsidee? Was für Gumplowicz noch nicht vorstellbar war, setzte Jahre später Hans Kelsen mittels seiner juristischen, reflexiv-positivistischen Staatsidee, die er vor dem selben Hintergrund formulierte, um: nämlich einen Staatsbzw. Rechtsbegriff zu definieren, der einen Ausweg vorsah. Wie gezeigt, bedurfte dieser zweier Voraussetzungen: zum einen der relativen Autonomie der Staatsrechtslehre, zum anderen wissenschaftlich fundierter Machtkritik. Hierfür sollte Kelsen den Standpunkt wechseln. Der Zweck der Reinen Rechtslehre bestand nicht darin, den Staat als Ordnung durch Macht zu begreifen. Der Wiener Jurist führte ihn vielmehr auf das zurück, was er tatsächlich war: eine normative Ordnung der Macht. Durch seinen juristischen Staatsbegriff ebnete er – wie gezeigt werden soll – jenen ‚dritten Weg‘ jenseits von Machtstaat oder Anarchie, der durch wissenschaftliche Intervention zur Minimierung der Machtasymmetrien in der sozialen Wirklichkeit führen sollte, ohne aber das Prinzip der Herrschaft und insbesondere den Staat zu verwerfen. Die Minimierung von Machtdruck im Staat sollte durch eine symmetrisch partizipative Art von Herrschaft, d.h. durch ein Mitwirkungsverfahren der Normunterworfenen erreicht und durch die dafür vorgesehenen Institutionen abgesichert werden. In Anbetracht dieser grundlegenden Unterschiede zeigt sich klar, dass Erich Voegelin im Jahr 1936 völlig zu Unrecht eine Tradition von Ulbrich über Stoerk, Tezner und Gumplowicz zu Kelsen konstruiert hatte. Auf die politischen Motive dieses Traditionsbildungsversuches wurde verwiesen. Im Unterschied zu Kelsen, der die relative Autonomie der Wissenschaft innerhalb des Wissenschaftsfeldes zu erweitern versuchte, zögerten viele andere nicht, auf Ressourcen jenseits des wissenschaftlichen Feldes zurückzugreifen. Aufgrund ihrer Allianzen mit der Politik handelten sie nach Pierre Bourdieu heteronom. Ulbrich und Tezner verfochten die Idee einer österreichischen Staatsnation, allerdings aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Zielen: Ulbrich verteidigte in Prag als deutschliberaler Jurist letztlich den status quo der nationalen Machtverhältnisse. Die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts, d.h. der politischen Autonomie der Tschechen, hätte nicht nur den cisleithanischen Zentralstaat, sondern auch den mit ihm verknüpften Anspruch auf deutsche Vorherrschaft geschwächt. Letzteres war seine Befürchtung. Tezner, ein Wiener Jurist, der dem monarchischen System ergeben war, wies die politisch heiß debattierten Ansprüche der Ungarn auf staatliche Souveränität kraft seiner wissenschaftlichen Autorität zurück, um im Gegenzug über historische Argumente eine Art Reichssouveränität zu konzipieren. Gumplowicz, ein national-politisch engagierter pol-
641 OPPENHEIMER, Zur Einführung, S. XXII. 642 GUMPLOWICZ, Grundriss der Soziologie, S. 208.
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nischer Jurist, der in Krakau als Jude zweisprachig – deutsch und polnisch – aufgewachsen und als Mitdreißiger nach Graz übersiedelt war, entwickelte dort einen soziologischen Staatsbegriff, dessen praktischen, d.h. politischen Nutzen er angesichts des erbitterten Streits der Nationalitäten Cisleithaniens in der Stabilisierung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse sah. Gumplowicz versprach sich von der soziologischen Staatsidee eine beruhigend-besänftigende Wirkung, da sie im Unterschied zu „idealen Staatsideen“ die Aufgaben des Staates nicht in eine unrealisierbare Höhe hinaufschraubte, deren Nichtbewältigung nur die Erbitterung gegen den wirklichen Staat steigern konnte.643 Die Karriereverläufe von Ulbrich, Tezner und Gumplowicz zeigen, das ihnen ihre politische Involvierung berufliches Kapital verschaffte: Josef Ulbrich wurde im Jahr 1884 zum ordentlichen Professor des österreichischen öffentlichen Rechtes an der deutschen Universität in Prag ernannt. Zur Zeit der Badeni-Unruhen war er deren Rektor (1897/98), im Jahr 1905 wurde er ins Herrenhaus berufen.644 Tezner wurde zwar nicht zum Ordinarius, als außerordentlicher Professor aber zum Mitglied und ab 1921 zum Senatspräsidenten des Verwaltungsgerichtshofes bestellt. Gumplowicz wurde nach Anlaufschwierigkeiten im Jahr 1892 zum außerordentlichen und 1893 zum ordentlichen Professur der Verwaltungslehre und des Österreichischen Verwaltungsrechts in Graz ernannt. Gumplowicz war der resignative Zug, den Voegelin vernahm, sicher eigen, keineswegs jedoch Kelsen: Waren die Machtasymmetrien für den einen unveränderlich, so waren sie es für den anderen keineswegs. Um Anarchie zu vermeiden, wollte Gumplowicz wissenschaftliche Theorie nicht mit politischer Therapie verwechselt wissen. Kelsen vermittelte der Wissenschaft hingegen eine Theorie, die zu therapieren fähig war. Was das Verhältnis von Macht und Recht betrifft, vertraten sie zwei idealtypisch gegensätzliche Standpunkte: eine Art Identität und Differenz.645 Durch den Standpunkt, dass das Recht nichts anderes sei, als der Ausdruck wirtschaftlicher und sozialer Macht und aus dem Kampf der sozialen Bestandteile, die den Staat bildeten, hervorgehe,646 warf Gumplowiczs soziologische Staatsidee einen langen Schatten ohne absehbares Licht am Tunnelende. Aufgrund der Auffassung der Differenz von Macht und Recht, die Kelsen vertrat, ergab sich die Chance auf Veränderung. Wurde der Staat nicht als Verkörperung, sondern als juristische Ordnung der Macht aufgefasst, so bestand Hoffnung auf die demokratische Verbesserung der Staatsform. Trifft die von Pierre Bourdieu formulierte These zu, dass eine Wissenschaft, die Autonomie mit Verzicht auf soziales bzw. politisches Engage-
643 GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee, S. 57. 644 Zur Tätigkeit Ulbrichs in Prag vgl. Helmut SLAPNICKA, Die Juridischen Fakultäten der Prager Universitäten 1900–1939, in: LEMBERG (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz, S. 63–84. 645 Vgl. Adolf MENZEL, Zum Problem „Recht und Macht“, in: DERS., Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, S. 70–106. 646 Vgl. GUMPLOWICZ, Die soziologische Staatsidee, S. 52.
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ment verwechselte, genau diese zusehends einbüßte, so implizierte eine Staatsidee, der die Vorstellung unveränderlicher Machtasymmetrien anhaftete, zwangsläufig zweierlei: Zwar deskriptiv verfahrend, war ihr normativer Anspruch unübersehbar. War die soziologische Staatsidee auch nicht auf Therapie, d.h. auf Überwindung von Ungleichheit und Unfreiheit orientiert, so waren ihre Vertreter deswegen nicht weniger politisch involviert. Gumplowicz lief durch seinen Anspruch, Theorie nicht mit sozialer Therapie zu verbinden, vielmehr Gefahr, den Autonomisierungsprozess der Staatsrechtswissenschaft zu verzögern. Unter diesem Vorzeichen neigte Kelsen dazu, den vermeintlich autonomen Standpunkt aufzugeben, um vom Standpunkt der relativen Autonomie der Wissenschaft im Zeichen der Freiheit des Individuums in das Machtgefüge zu intervenieren.
C. D AS P RINZIP K ELSEN . O DER : D IE J URISPRUDENZ ALS W ISSENSCHAFT FÜR DIE D EMOKRATIE Anfang des 20. Jahrhunderts führte der Wiener Jurist Hans Kelsen die Jurisprudenz auf neue Wege. Dafür erntete er – wie gezeigt – heftige Kritik, dafür würdigten ihn aber auch Zeitgenossen wie z.B. der Harvard-Jurist Roscoe Pound (1870–1964) als „unquestionably the leading jurist of the time“, der der Rechtswissenschaft drei neue Ideen vermittelt habe: erstens „the idea of jurisprudence as a normative science, that is, one having to do with what ought to be in contrast with the natural sciences which have to do with what is, and hence depend upon observation and experiment“; zweitens „the idea of a body of laws resting upon some ultimate and legally unchallengeable norm – in most modern states a written constitution“; und drittens „the idea of the unity of the legal order“.647 Diesen Innovationen fügte Kelsen noch eine weitere hinzu, und zwar den juristischen Staatsbegriff, dem zufolge allein das relativ zentralisierte System von „Zurechnungen“ auf eine Grundnorm die Bezeichnung ‚Staat‘ verdiente. Mit dem juristischen Staatsbegriff wollte er der Staatsrechtslehre den Weg zur „wahren Rechtswissenschaft“ (RR, S. 17) ebnen. Da die positivistische Staatsrechtswissenschaft trotz der Trennung von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ noch heteronome Tendenzen aufwies, zielte Kelsen auf die Etablierung einer „von allem – als Politik oder Soziologie verkleideten – Naturrecht gereinigte[n] Wissenschaft vom positiven Recht“ ab,648 die mit der Verabschiedung des metarechtlichen Staatsbegriffs eine der Kernetappen auf dem Weg der Autonomisierung der Rechtswissenschaft absolvieren sollte. Allein als relativ autonome Wissenschaft war sie imstande, Akzente zur Überwin-
647 Roscoe POUND, Law and the Science of Law in recent Theories, in: Yale Law Journal 43, 4(1934), S. 525–536, hier S. 532. 648 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 253.
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dung autokratischer und/oder asymmetrischer Machtverhältnisse zu setzen. Mit diesem Ziel vor Augen – so zeigt es sich zumindest im historischen Rückblick – konzipierte er sein Fach als eine Wissenschaft für die Demokratie. Die Zurückweisung des dualisierenden Staatsbegriffs war für ihn ein wesentlicher Schritt in diese Richtung.
4.16 F UNKTIONEN
STATT
S UBSTANZEN
Hans Kelsen kritisierte manche der weitgehend anerkannten juristischen Allgemeinbegriffe als hypostasierte Termini. Er gab sie jedoch nicht auf, sondern unterlegte ihnen in Anlehnung an Ernst Cassirers Unterscheidung von Substanz- und Funktionsbegriff einen neuen Sinn. Dadurch machte er zentrale Konzepte der Staatsrechtslehre als verdinglichte Ansätze kenntlich, durch sie verdeckte Relationen wieder sichtbar und als Teil einer verhandelund veränderbaren Rechtsordnung zugänglich. Hierfür rückte er ältere Konzepte in den Vordergrund, die er neu bewertete: neben dem Staatsbegriff den des Volkes, neben dem Staatswillensbegriff das in der deutschen Staatsrechtslehre unterbewertete Konzept der volonté générale und neben der Idee der Ordnung durch Zwang die Vorstellung der Ordnung des Zwangs,649 womit Kelsen die ‚autokratische‘ Figur der ‚Selbstverpflichtung des Staates‘ durch die der einem demokratischen Rechtsstaat angemessenen Selbstkontrolle des Rechts ersetzte. Wieder zog Kelsen das Werk Jellineks heran, um sich von ihm durch eine Recodierung zentraler Begriffe aus ‚normwissenschaftlicher‘ Perspektive abzusetzen. Jellinek – und mit ihm viele Vorläufer und Kollegen – hatte den Staat in Kelsens Augen als ‚Organismus‘ mit einem „zu einer selbständigen Einheit verdichteten Willen“ definiert.650 Dieser Begriff verzerrte für den Wiener Juristen die Sicht auf das Analyseobjekt aus zwei Gründen: einerseits, weil er die unterschiedlichen, einander gleichsam widersprechenden „Wollungen, Strebungen, Zwecksetzungen“ der Bevölkerung, die „an sich ein Chaos, ein sinnloses Neben- und Nacheinander“ bildeten, verhüllte;651 anderseits, weil er die der Staatswillensdiskussion vorangegangene Debatte der Aufklärer über die Frage verschleierte, wie sich – wenn überhaupt – der für demokratische Verhältnisse notwendig zu eruierende Wille des Volkes, die volonté générale, ermitteln lasse. Kelsens Vorwurf war unmissverständlich: Jellinek habe die Willenstheorie als Machttheorie konzipiert und die tatsächlichen Machtverhältnisse mit juristischen Strukturen überformt, um in einem letzten Schritt die jeweils herrschende Ordnung „im Sinne von He-
649 Vgl. Tamara EHS, Die Reine Rechtslehre Hans Kelsens, in: der freidenker. geist und gesellschaft. Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung 3, 4(2004), S. 4–10. 650 JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 194. 651 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 123.
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gels objektivem Geist“ zu naturalisieren.652 Mit der Zurückweisung der zentralen Merkmale des Jellinekschen Staatsbegriffs revidierte Kelsen die Staatslehre des deutschen Spätkonstitutionalismus umfassend. Im Unterschied zu Jellinek verstand er unter ‚Staat‘ nicht „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“653, sondern allein die Summe positiver, vom Menschen aufgestellter und daher wandelbarer, d.h. relativer Verhaltensregeln.654 Letztere standen Kelsen zufolge in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Sie bildeten eine Hierarchie und fanden ihren „Zurechnungsendpunkt“ in der Grundnorm. Vor dem Hintergrund dieses Staatsverständnisses unterlegte Kelsen auch dem Volksbegriff einen neuen Sinn: So wie schon Kant das ‚Volk‘ weder als „ethnischen“ noch „soziologischen“, sondern als „staatsrechtlichen“ Begriff definiert hatte,655 verstand auch er darunter nichts anderes als eine abstrakte ‚Einheit‘: ‚Volkszugehörigkeit‘ war für ihn nicht substanziell (d.h. über Abstammung und Territorium), sondern nur funktional begründbar. Sie könne daher nur das Ergebnis individueller Willensakte, sich einer rechtsnormativen Ordnung zu unterwerfen, sein. Zusammengehörigkeit würde durch den Akt der Teilhabe am demokratischen Prozess gestiftet.656 Sprach Kant davon, dass „der souveraine Grund des Rechts […] eine Gesellschaft“ als solche konstituierte,657 so setzte auch für Kelsen das Recht nicht ein Volk voraus; jenes brachte dieses vielmehr hervor.658 In seiner Allgemeinen Staatslehre (1925) präzisierte er den Volksbegriff: Das Staatsvolk sei nicht als ein „seelisch-körperliches Konglomerat“ und damit als überrechtlich „existente Einheit einer Vielheit von Menschen“ zu begreifen, sondern als „durch die Einheit der Rechtsordnung konstituierte Einheit einer Vielheit von Tatbe-
652 KELSEN, Der Begriff des Staates und die Sozialpsychologie, S. 105. Jellinek hatte den Staat in seiner Elementenlehre als eine Macht- bzw. Gewaltinstanz vorgestellt, die über ein Territorium verfügte und ein Volk umfasste. Die drei klassischen Elemente staatlicher Einheitlichkeit sind nach Jellinek: Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Vgl. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 394– 434. 653 JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, S. 180f. 654 Vgl. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriffs, 1921. DERS., Staat und Recht. Zum Problem der soziologischen und juristischen Erkenntnis des Staates (Original 1922), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 149–170. DERS., Das Verhältnis von Staat und Recht im Lichte der Erkenntniskritik (Original 1921), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 1, S. 95–148. 655 MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, S. 606–611. Vgl. Jürgen BUSCH, Tamara EHS, EUropa als Rechtsgemeinschaft, in: EHS (Hg.), Hans Kelsen und die Europäische Union, S. 95–111, hier S. 97–99, und DIES., Kelsens normativer Volksbegriff nach Rousseau und Kant, in: DIES. (Hg.), Hans Kelsen. Eine politikwissenschaftliche Einführung, S. 153–169. 656 Vgl. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 14–25. 657 KANT, Reflexionen zur Rechtsphilosophie, S. 533. Vgl. inbesondere MAUS, ‚Volk‘ und ‚Nation‘ im Denken der Aufklärung, S. 604. 658 Vgl. EHS, Kelsens normativer Volksbegriff, S. 153–169, und LEPSIUS, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, S. 14f.
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ständen, und zwar als menschliches Verhalten qualifizierter, den Inhalt der Rechtsnorm bildender Tatbestände“. Darum sei „der Staat als ‚Volk‘ die Verbindung von Menschen, richtiger einzelmenschlicher Akte.“659 Teil des Staatsvolks war man Kelsen zufolge darum nicht wegen eines bestimmten ‚ethnos‘, sondern aufgrund des Beitritts zu einer „Rechtsgemeinschaft“ (RR2, S. 90): „Alle Versuche, ein anderes Band zu finden, das die möglicherweise nach Sprache, Rasse, Religion und Weltanschauung verschiedene, durch Klassengegensätze und mannigfache andere Interessenskonflikte getrennten Menschen zusammenhält, zu einer Einheit verbindet“, resümierte Kelsen, „müssen scheitern.“ (RR2, S. 290) Da mit der Vorstellung eines ‚einheitlichen Volkswillens‘ in der sozialen Wirklichkeit notwendig Assimilationszwänge oder Exklusionsprozesse verbunden waren, war für den Wiener Juristen jeglicher Versuch, staatliche Identität ‚metajuristisch‘ zu begründen, prekär. Umso radikaler verfuhr Kelsen daher mit dem Begriff des ‚Staatswillens‘, der als soziale bzw. psychologische Denkfigur nicht nur die tatsächlichen Willensverhältnisse im Staat verschleierte, sondern auch die aufklärerische Debatte über die volonté générale zudeckte. Kelsen recodierte den Begriff zu einer juristischen Denkfigur, um mit ihrer Hilfe jene staatliche Einheit zu erzeugen, die in Anbetracht der Vielzahl der seinsweltlichen Willensverhältnisse unerreichbar schien. Er definierte den Staatswillensbegriff als eine „unter dem Gesichtspunkt der Norm, des Sollens vollzogene Konstruktion“.660 War der Staat keine „von Einem machtvollen Willen getragene herrschaftliche Organisation“,661 so erübrigte sich seine rechtswissenschaftliche Legitimation als eine Ordnung durch Zwang. Als Recht verstanden, fungierte der Staat als eine Ordnung des Zwanges. Aus ‚normwissenschaftlicher‘ Perspektive definierte Kelsen konsequenterweise auch die Quelle aller Staatsmacht neu. So recodierte er den Terminus der ‚Souveränität‘ zu einem logisch-hierarchisierenden Ordnungsbegriff, der die Unableitbarkeit und Unabhängigkeit des juristischen Systems von anderen normativen Ordnungen bezeichnete.662 Die ‚Souveränität‘ bezog Kelsen auf eine innerweltliche Sollensordnung, nicht aber ein außerhalb oder über ihr stehendes Sein, eine soziale Autorität – sei es ein absoluter Herrscher, ein als Substanz begriffenes Volk oder eine als Übermensch vorgestellte Staatsperson. Im „normlogischen Sinne“ bezeichnete der Souveränitätsbegriff daher eine „in keiner anderen ‚enthaltene‘, weil aus keiner anderen ableitbare Ordnung“, er markierte also die Einheit und Ausschließlichkeit der „Rechtsordnung in ihrer Totalität“.663 Da der Begriff der souve-
659 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 150. 660 KELSEN, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 32. 661 JELLINEK, Gesetz und Verordnung, S. 190. 662 Vgl. KELSEN, Das Problem der Souveränität, S. 12f. 663 Ebenda. Zur Verdeutlichung seines Souveränitätsbegriffs des Staates verglich er ihn mit der Norm des Dekalogs: „Ich, der Ewige, dein Gott, bin einig und
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ränen Ordnung die innere normative Widerspruchslosigkeit anzeigte, schützte Kelsen mit ihm die juristische Ordnung vor Machtübergriffen aus dem ‚Jenseits‘ der Normenwelt, der Seinswelt. Wenn Kelsen für eine „Staatslehre ohne Staat“ auftrat, so hielt er den Juristen einen Spiegel vor, der ihnen zeigte, dass sie durch ihren ‚Methodensynkretismus‘ die immer stärker werdenden demokratiefeindlichen Kräfte stützten. Auf die Ideologieverhaftung seiner Disziplin antwortete Kelsen mit seinem Verwissenschaftlichungs- und Autonomieanspruch, den er durch die Umwertung der Substanz- in Funktionsbegriffe einzulösen versuchte. Mit dieser „Entsubstanzialisierungsstrategie“664 suchte er den Weg zur Demokratie zu ebnen.
4.17 D IE
NORMATIVE T HEORIE ZUR FAKTISCHEN D EMOKRATIE
Wenn Kelsen eine „Staatslehre ohne Staat“ konzipierte, so widersetzte er sich einer historischen Verflechtung von Staat, Macht und Recht, deren Auflösung in seinen Augen längst überfällig war. In seiner Schrift Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922) hatte er keinen Zweifel offen gelassen, worauf er abzielte: Mit seiner Kritik an der „Zwei-Seiten-Theorie“ des Staates unterwanderte er eine wissenschaftliche Tradition, die „verteufelte Aehnlichkeit mit dem Zylinder des Taschenspielers“ zeigte: Sie habe einen „doppelten Boden“, weshalb man aus ihr auch „hervorzaubern“ könne, was von „den jeweiligen politischen Bedürfnissen der ‚obersten Organe‘“ jeweils gewünscht werde.665 Der Staat, der als Begriff „in die deutsche Wissenschaft ursprünglich in der Bedeutung einer gegen die [...] demokratische Rechtsordnung gerichteten, auf die Interessen des Fürsten und seines Anhangs abgestellten, autokratischen Ordnung eingedrungen“ sei, sei als solche mit Hilfe der Staatsrechtslehre selbst zum neuen Staatsrecht geworden, das rechtswidrige Agieren der Machthaber durch das „Doppelstaatsrecht“ gedeckt worden.666 Mit ihm habe die Wissenschaft der Politik eine Hintertüre offen gehalten, um im Namen der Staatsraison in den Rechtsstaat einzugreifen. Interventionen dieser Art manifestierten sich für Kelsen in der Verletzung normativer Hierarchien und/oder in der Überschreitung der legalen Normsetzungsverfahren. Beides zu kontrollieren, erklärte er zu einer
einzig, und: Du sollst keine andern Götter haben neben mir.“ Der Gottes- und der Souveränitätsbegriff seien „nur der grandios-anthropomorphe Ausdruck für die Einheit und die ausschließliche Geltung, die jedes normative System immanent beansprucht.“ KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 225. 664 DREIER, Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 102. 665 KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 138. 666 Ebenda, S. 137f. „Auf MACHIAVELLIS Buch: Vom Fürsten und dessen ‚ragione di stato‘“, schrieb Kelsen, „geht die Terminologie zurück.“
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zentralen Aufgabe der Jurisprudenz. Schon sein ‚normwissenschaftlicher‘ Ansatz tangierte das Problem, dem Kelsen in den Jahren 1920 und 1929 zwei zentrale Schriften widmete, nämlich der Theorie und dem Schicksal der Demokratie. Da er mit seinen Überlegungen auf den Schutz des normunterworfenen Individuums abzielte, war die Weltverhaftetheit seiner ‚normativen Theorie‘ um vieles größer als es manche seiner schärfsten Kritiker wahrhaben wollten. In ihrer Wächterfunktion konnte Wissenschaft auf die soziale Wirklichkeit zurückwirken, ohne auf die Seite der Politik abzuweichen. Mitnichten war Kelsen daher das, was ihm viele seiner Kritiker vorwerfen sollten: ein Solipsist.
4.18 D IE J URISPRUDENZ
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W ÄCHTER
Die Rolle, die Kelsen der Staatsrechtswissenschaft zuwies, war keineswegs marginal. Letztere sollte als Wächter über die Widerspruchsfreiheit in der juristischen Ordnung, die er als eine Grundvoraussetzung der Demokratie ansah, fungieren: „Da es der Demokratie auf Rechtssicherheit, also auf Gesetzmäßigkeit und Berechenbarkeit der Staatsfunktion ankommt“, führte Kelsen aus, „besteht hier die starke Neigung zu Kontrolleinrichtungen, als Garantien für die geforderte Legalität.“667 Anderswo schrieb er: „An einer systematischen Ausgestaltung aller Kontrollinstitutionen hängt in hohem Maße das Schicksal der modernen Demokratie.“668 Dieser Überzeugung verlieh Kelsen in seinen Bundesverfassungsentwürfen der Jahre 1919/20 Ausdruck, die er so demokratisch gestaltete, wie „dies im Rahmen einer representativen Verfassung irgend moeglich war.“669 Sein Verfassungsplan sah daher eine Verfassungs- bzw. Verwaltungsgerichtsbarkeit vor, deren Aufgabe es war, verfassungswidrige Gesetze und Verordnungen aufzuheben und die Gesetzmäßigkeit der öffentlichen Verwaltungsvorgänge zu sichern.670 Die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichtshofs war die entscheidende Neuerung. Die Abschnitte über „Garantien der Verfassung und der Verwaltung“, die nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ sorgten,671
667 Hans KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933, bzw. DERS., Staatsform und Weltanschauung, in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 1923–1942, hier S. 1932. 668 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 76. 669 KELSEN, Autobiographie [1947], S. 65. 670 Vgl. STOURZH, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, S. 309–334. DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 131, und dazu auch Detlef LEHNERT, „Staatslehre ohne Staat“? Zum kritischen Auftrag der rechts- und demokratietheoretischen Konzeption von Hans Kelsen gegenüber deutschen Staatsvorstellungen, Neubiberg 1998 (IfS-Nachrichten 6), S. 38. 671 KELSEN, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, S. 158–164.
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stellen – so die einhellige Auffassung – Kelsens wesentlichsten Beitrag zur österreichischen Verfassung dar. Métall zufolge sind sie ihr „juristische[s] Kernstück“.672 In der Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit erkannte auch Kelsen selbst sein „persoenlichstes Werk“.673 Angesichts des hohen Stellenwerts, den er diesen demokratiesichernden judikativen Instanzen zuwies, ist anzunehmen, dass er die Wissenschaft, genauer die Reine Rechtslehre von einer Art Kontrollfunktion nicht ausnahm. Die demokratische Ordnung beruhte auf einer Verfassung, Verfassungsbrüche waren daher notwendig normativ ordnungswidrig, autoritär. Als ‚Normwissenschaft‘ konnte die Jurisprudenz Verletzungen der normativen ‚Einheit‘ durch (latente oder manifeste) politische Machtübergriffe sichtbar machen. Kraft ihrer relativen Autonomie konnte sie daher – neben dem verfassungsmäßig geregelten Prozedere der Vernichtung nichtsystemkonformer Akte durch den autonomen judikativen Kontrollapparat – eine ergänzende Wächterfunktion erfüllen und das objektive juristische System sowie das normunterworfene Individuum vor rechtswidrigen Machtakten schützen. Die Annahme, dass Kelsen auch die Rechtswissenschaft als eine Art „Hüter der Verfassung“674 gedanklich mitkonzipierte, lässt sich nicht zuletzt durch die Einwände mancher demokratiefeindlicher Wissenschaftler stützen, die an der Stelle der Verfassungsaufsicht die Herrschaft der Politik im Staat befürworteten: So argumentierte z.B. Erich Voegelin im Jahr 1936, dass angesichts des drohenden Verlusts der staatlichen Selbständigkeit ein Ausnahmefall gegeben wäre, der es einer „autoritären Staatsführung“ erlaubte, das „demokratisch-parlamentarische durch ein autoritäres Verfassungsrecht“ zu ersetzen. Voegelin, der – wie schon gezeigt – in seinem wissenschaftlichen Tun den autoritären Ständestaat unterstützte, trat sonach für etwas ein, was Kelsen vehement zurückwies, nämlich für die Aufgabe der Kontrollfunktion aus ‚Staatsraison‘ zugunsten eines „,politischen‘ Stils“.675 Auch der von Voegelin verehrte Carl Schmitt machte – allerdings im Tonfall der Nationalsozialisten – dem „führerfeindlichen“, „herrschenden Normativismus“ den „Aufsichtsbegriff“ zum Vorwurf. Das Ergebnis der „Verfassungsaufsicht“ wäre immer „Justiz statt politischer Führung.“676 Die Verhängung des „Ausnahmezustands“ sollte nicht Sache der Justiz, sondern der Politik, d.h. der jeweiligen Machthaber im Staat sein. Kelsen hatte die „Selbstverpflichtungstheorie“ des Staates als ein ideologisches Werkzeug verworfen und für die strengste Trennung wissenschaftlicher Erkenntnis von politischem Werturteil plädiert, während er die Vermengung als „die typische Methode moderner Ideologiebildung“ bewertete.677 Der Wert der Wissenschaft be-
672 MÉTALL, Hans Kelsen. Leben und Werk, S. 47. 673 KELSEN, Autobiographie [1947], S. 67. 674 Hans KELSEN, Wer soll Hüter der Verfassung sein? (Original 1930/31), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 1873–1922. 675 VOEGELIN, Der autoritäre Staat, S. 6. 676 SCHMITT, Staat, Bewegung, Volk, S. 39f. 677 KELSEN, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, S. 1922.
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stand für ihn in ihrer Kraft, sich der verlockenden Verbindung mit der Politik zu versagen. Allein als relativ autonome Wissenschaft konnte die Rechtslehre aus der erwähnten Kontrollperspektive eine demokratisierende Funktion erfüllen. War es nach Kelsen ihre Aufgabe, Normverstöße radikal aufzuzeigen, so handelte er natürlich auch politisch, allerdings auf eine andere Art. Auch Kelsen wollte die Welt verändern, dabei verletzte er als Jurist jedoch nicht die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes, und er setzte seine Interventionen nicht als Komplize der jeweiligen politischen Macht, sondern in dem Sinne, in dem Bourdieu von „scholarship with commitment“ sprach.678
4.19 D ER
JURISTISCHE
D EMOKRATIEBEGRIFF
Der juristische Staatsbegriff Kelsens, seine „Staatslehre ohne Staat“ (‚Identitätsthese‘) enthielt bereits implizit zentrale Argumente seiner Demokratietheorie, die er 1920 in erster und 1929 in zweiter wesentlich erweiterter Auflage unter dem Titel Wesen und Wert der Demokratie in einer Monografie ausformulierte. Horst Dreier und Oliver Lepsius weisen überzeugend nach, dass zwischen Kelsens Reiner Rechtslehre und Demokratietheorie eine enge Verbindung bestand: „Die Reine Rechtslehre ist die der Demokratie adäquate Rechtstheorie“, schreibt Dreier, „weil sie dem demokratisch legitimierten Willen der Mehrheit keine unverfügbaren Rechtsprinzipien verordnet.“679 Lepsius zufolge lieferte die Demokratietheorie jene Rechtserzeugungstheorie, von der Kelsens Staatsrechtslehre als ‚normative Theorie‘ absehen musste.680 Verfolgte Kelsen mit seinen ‚normwissenschaftlichen‘ Arbeiten also das Ziel, den in der zeitgenössischen Jurisprudenz verleugneten Antagonismus zwischen demokratischer und autokratischer Ordnung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu thematisieren und aufzuarbeiten, so setzte er sich in seiner Demokratietheorie mit den Kriterien einer wirklich demokratischen Ordnung auseinander: Sollte Staat sein, so musste auch Herrschaft sein.681 In jener Demokratie, die Kelsen als eine Staats- und Verfassungsform definierte, wurde die Herrschaft auf das sich selbst bestimmende Kollektiv verlagert. Unter Herrschaft verstand er daher nicht
678 BOURDIEU, Forschen und Handeln, S. 100. 679 DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 286. 680 Vgl. Oliver LEPSIUS, Zwischen Volkssouveränität und Selbstbestimmung. Zu Kelsens demokratietheoretischer Begründung einer sozialen Ordnung aus der individuellen Freiheit, in: Hauke BRUNKHORST, Rüdiger VOIGT (Hg.), Rechts-Staat. Staat, internationale Gemeinschaft und Völkerrecht bei Hans Kelsen, Baden-Baden 2008, S. 15–37, hier S. 33f. 681 Vgl. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 4.
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„government for“, sondern „by the people“.682 Diesen Herrschaftsbegriff erläuterte Kelsen wie folgt: „Müssen wir beherrscht werden, dann wollen wir nur von uns selbst beherrscht sein.“683 Die verbleibenden Differenzen zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektivem Willen sollten durch das Majoritätsprinzip überbrückt werden: „Der tiefste Sinn des demokratischen Prinzipes“ war für Kelsen die Freiheit, die das politische Subjekt nicht für sich, sondern auch für den Anderen wollte, weil das ‚Ich‘ das ‚Du‘ als wesensgleich empfinden würde.684 Das Charakteristikum der Demokratie sah er daher im Kompromiss zwischen „Freiheit und Gleichheit“. Von der formalen Gleichheit aller Individuen im rechtlichen System ausgehend, erblickte er das Ziel der Demokratie in der Idee der Freiheit. So forderte er, „daß nicht gerade dieser oder jener frei sein soll, […], sondern daß möglichst viele frei sein sollen“, kurz: „die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit.“ Die für die Demokratie konstitutive Rolle spielte das Majoritätsprinzip, nicht, weil die Mehrheit stärker sei als die Minderheit, sondern weil „möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten“ würden und daher in diesem Sinne ‚frei‘ wären.685 Im Jahr 1929 rückte der Wiener Jurist vom „Prinzip der absoluten Majorität“ als der relativ größten Annäherung an die Idee der Freiheit ab und sah im „Prinzip der qualifizierten Majorität“ unter gewissen Umständen eine noch größere Annäherung an diese Idee durch den stärkeren Schutz der Minderheiten.686 Kelsen gab den Standpunkt, dass die „Idee der Demokratie“ primär vom „Freiheitswert“ und nicht vom „Gleichheitswert“ bestimmt werde, nicht auf. Er diagnostizierte allerdings einen „Wandel des Freiheitsbegriffs“, der von der „Vorstellung eines Freisein des Individuums von staatlicher Herrschaft“ („Liberalismus“) zur „Vorstellung einer Beteiligung des Individuums an der staatlichen Herrschaft“ geführt hatte. Verändert hatten sich auch die Gegner der Demokratie: Ihre stärksten Widersacher waren nicht mehr auf Seiten der „monarchischen Autokratie“ zu finden, sondern in den „Parteidiktaturen“ – von links und von rechts.687
682 Hans KELSEN, Foundations of Democracy, in: Ethics. An International Journal of Social, Political, and Legal Philosophy LXVI 1, 2(1955), S. 1–101, hier S. 1–5. 683 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 4. 684 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1927. 685 Hans KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, S. 5, S. 9. 686 Vgl. Detlef LEHNERT, Der Beitrag von Hans Kelsen und Hugo Preuß zum modernen Demokratieverständnis, in: Christoph GUSY (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000 (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 16), S. 221–255, hier S. 234f. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 9. DERS., Ebenda, 21929, S. 55. 687 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 10, S. 2.
I DENTITÄT
4.20 D EMOKRATIE D EMOKRATIE
ALS
W ISSENSCHAFT I
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ALS I DENTITÄT VERSUS ALS D IFFERENZ
Vor dem Hintergrund der österreichischen Staatswirklichkeit hatte Kelsen das Ideal substanzieller staatlicher Homogenität als konfliktträchtige Illusion entlarvt. Da er seine Augen vor der sozialen Wirklichkeit nicht verschloss, zeigte ihm diese, dass weder Staat noch Staatsform auf der Vorstellung ‚ethnischer‘, klassenbezogener oder sozialpsychologischer Einheit begründet werden konnten, ohne dass dadurch die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Zusammengehörigkeitsgefühle verletzt werden würden. Unter diesem Vorzeichen setzte er seinen Demokratiebegriff von dem seines schärfsten Kontrahenten Carl Schmitt deutlich ab: Während der Antipluralist, Antiliberale und Antisemit Schmitt denjenigen als Souverän einer vorausgehenden ‚konkreten Ordnung‘ einstufte, der über das Monopol verfügte, den „Ausnahmezustand“ zu verhängen (also für die Suspendierung der Verfassung zuständig sei),688 war in Kelsens System die Suspendierung des Rechts denkunmöglich, kurz: nicht erlaubt. Insbesondere trennte beide aber ihre Ansicht in Bezug auf den Umgang mit sozialen Differenzen: Während der eine die Demokratie als eine Technik der Schlichtung von Differenzen auf der Sollensebene konzipierte, erblickte der andere in ihr ein Werkzeug, das auf der Seinsebene Homogenität versprach bzw. Unterschiede zum „Artfremden“ aufzeigte und vertiefte. Schmitt definierte ‚seine‘ Demokratie durch „Führertum“ und substanzielle „Artgleichheit“ von „Staat, Bewegung, Volk“ sowie von „organischen, biologischen und völkischen Verschiedenheiten“.689 Dieses Demokratieverständnis sah er idealtypisch im Nationalsozialismus repräsentiert. Während Kelsen im Parlamentarismus „die einzige reale Form [erblickte], in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit erfüllt werden“ konnte,690 lehnte Schmitt dieses liberale Repräsentationsprinzip für seine Führerdemokratie vehement ab. Sah der eine in der Demokratie eine Methode der Aushandlung, durch die jede Partei ein Stück weit frei sein konnte, so war sie für den anderen ein Schauplatz der Unterscheidung bzw. Trennung von „Freund“ und „Feind“. Carl Schmitt, der zuletzt als „gefährlicher Geist“691 eingestufte „Theorist for the Reich“692, sah in der „Identität von Herrscher und Beherrschten, Re688 SCHMITT, Politische Theologie, S. 9. 689 SCHMITT, Staat, Bewegung, Volk, S. 42–46, und Schlusswort des Reichsgruppenwalters Staatsrat Prof. Dr. Carl Schmitt, in: Das Judentum in der Rechtswissenschaft. Ansprachen, Vorträge und Ergebnisse der Tagung der Reichsgruppe Hochschullehrer des NSRB am 3. und 4. Oktober 1936. 1: Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist, Berlin 1936, S. 28–34. 690 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 27. 691 Jan-Werner MÜLLER, Ein gefährlicher Geist. Carl Schmitts Wirkung in Europa. Mit einem Vorwort von Michael Stolleis, Darmstadt 2007 (Original 2003). 692 Joseph W. BENDERSKY, Carl Schmitt. Theorist for the Reich, Princeton 1983, und STOLLEIS, Recht im Unrecht, S. 139–142, S. 144.
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gierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden“ das Kennzeichen der „nationalen Demokratie“.693 Sie beruhte „innerpolitisch“ auf Gleichheit, nicht auf Freiheit. Die „nationale Demokratie“ konnte aber nicht auf „irgendeine allgemeine und gleichgültige Gleichheit, die ohne Rücksicht auf Substanz oder Wert von selbst vorhanden ist“, sondern „nur auf einem spezifischen und substanziellen Begriff der Gleichheit begründet werden“: „Wie jeder echte politische Begriff“ nahm der demokratische Begriff der Gleichheit Schmitt zufolge auf die „Möglichkeit einer Unterscheidung“ Bezug: „Die politische Demokratie kann daher nicht auf der Unterschiedslosigkeit aller Menschen beruhen“, schrieb Schmitt schon in seiner Verfassungslehre (1928), „sondern nur auf der Zugehörigkeit zu einem Volk, wobei diese Zugehörigkeit […] durch sehr verschiedene Momente (Vorstellungen gemeinsamer Rasse, Glauben, gemeinsames Schicksal und Tradition) bestimmt sein“ konnte. Schmitt verstand das Volk als ‚ethnos‘, dem anzugehören für ihn die Voraussetzung von Staatszugehörigkeit war: „Wer nicht Staatsangehöriger ist, kommt für diese demokratische Gleichheit nicht in Betracht.“ Voraussetzung dieser Art Demokratie sei eine „substanzielle Gleichheit“, die „nationale Homogenität“, die durch ein „durch politisches Sonderbewußtsein individualisiertes Volk“ verkörpert würde. Die Basis dieser nationalen Einheit bildeten für ihn die „gemeinsame Sprache, gemeinsame geschichtliche Schicksale, Traditionen und Erinnerungen, gemeinsame politische Ziele und Hoffnungen“.694 Dem Verständnis von „Demokratie als Identität“ (Horst Dreier)695 folgend, setzte Schmitt substanzielle „Artgleichheit“696 (d.h. ein homogenes Staatsvolk) voraus: Würde diese nicht durch „friedliche Assimilierung an die herrschende Nation“ erreicht,697 so verbliebe – „nötigenfalls“ – noch die Möglichkeit der „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“.698 In diesem Zusammenhang berief er sich auf die Geschichte. Unter der Voraussetzung, dass die Nation als Substanz der demokratischen Gleichheit aufgefasst würde, erschien Schmitt „ein national homogener Staat […] als etwas Normales; ein Staat dem diese Homogenität [aber] fehlt, […] [als] etwas
693 SCHMITT, Verfassungslehre, S. 234, und DERS., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München–Leipzig 21926, S. 20 (Original 1923). 694 SCHMITT, Verfassungslehre, S. 224, S. 226, S. 227, S. 228, S. 231. 695 Horst DREIER, Kelsens Demokratietheorie. Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: WALTER, JABLONER (Hg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, S. 79–108, hier S. 89–93. 696 SCHMITT, Staat, Bewegung, Volk, S. 42–46, und vgl. DERS., Verfassungslehre, S. 228–238. 697 SCHMITT, Verfassungslehre, S. 232. 698 SCHMITT, Die geistesgeschichtliche Lage, S. 14. Weiter heißt es: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“
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Abnormes.“699 Die Koexistenz von Mehr- und Minderheiten zog er nicht in Betracht. Im Gegensatz zu Schmitt, dessen nationaler Demokratiebegriff die Auslöschung des Fremden und Ungleichen vorsah, wählte Kelsen einen „konstruktiven Umgang mit Inhomogenität“:700 Da er das Gleichheitsprinzip nicht substanziell, also im Sinne von völkischer, ethnisch-kultureller oder rassischer Gleichheit, sondern formal (gleiche politische Rechte) definierte, konnte er es mit den irreversiblen Differenzen in jeder sozialen Wirklichkeit verknüpfen: Inhomogenität war für Kelsen jeder Demokratie zumutbar. Ihr Ziel war nicht die Eliminierung des Fremden, sondern die Sicherstellung der individuellen Freiheit aller; ihm konnte sich der demokratische Rechtsstaat durch das Majoritätsprinzip nähern. In der sozialen Wirklichkeit war Kelsen zufolge jene „Artgleichheit“, von der Schmitt sprach, nicht ersichtlich: „Allein der Realität, die man als Volk bezeichnen kann, fehlt, was vor allem nötig ist, um eine Herrschaft ausüben zu können, die Einheit.“701 Da es nicht seine Intention war, substanzielle Homogenität sowie einen einheitlichen Willen durch Zwang zu erzeugen, konzipierte er Staat wie Demokratie normativ. Damit verlieh er seinem Standpunkt Ausdruck, dass die Mitglieder eines Staates nicht deshalb gleichberechtigt wären, weil sie aufgrund von Abstammung, Sprache und Kultur eine homogene Substanz bildeten, sondern weil sie Teil einer juristischen Einheit seien, die sich dadurch ergab, dass sie sich einer normativen Ordnung unterwarfen. Jede „Homogenitäts- oder Identitätsfiktion“702 des Volkes wies er aber entschieden zurück. In der Demokratie, von der Kelsen sprach, sollte soziale Heterogenität – Interessensvielfalt und unterschiedlichen Wertpräferenzen – nicht vernichtet, sondern konstruktiv genutzt werden; nämlich durch ein technisches Verfahren des Ausgleichs der vielfältigen Differenzen in der staatlichen Willensbildung, und zwar „nicht auf blutig revolutionärem Wege“, sondern durch Kompromiss, „friedlich und allmählich“.703 Das Schlagwort der ‚Demokratie als Differenz‘ – und nicht der ‚Demokratie als Identität‘ (Schmitt) – bezeichnet Kelsens Demokratiekonzept daher wohl am treffendsten. Der Sinn der Demokratie bestand für den Wiener Juristen in der selbstverantwortlichen Verhandlung von Interessen durch die sich selbst rational ‚beherrschenden‘ Individuen bzw. in einem Prozess, der die vielfältigen Differenzen in einem institutionalisierten Verfahren ausglich. Der versöhnende Anspruch dieser Staatsform manifestierte sich darin, dass sie jedem Staatsbürger – unabhängig von Nationalität und Klasse – politische Mitsprache
699 SCHMITT, Verfassungslehre, S. 231. 700 Gertrude LÜBBE-WOLFF, Homogenes Volk – Über Homogenitätspostulate und Integration, in: Zar. Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 4 (2007), S. 121–127, hier S. 124f. 701 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 26. 702 LEHNERT, „Staatslehre ohne Staat“?, S. 42. 703 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 361.
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und damit ein Stück Freiheit zusicherte. Da „Interessensharmonie“ nirgendwo vorauszusetzen war, erblickte Kelsen in der dialektischen Methode – in Rede und Widerrede – das demokratische Prinzip schlechthin. Während Schmitt die Parteien als „Machtgruppen“ und das ihm als „veraltete Institution“ und „statischer Apparat“ erscheinende Parlament als „eine künstliche Maschinerie“ denunzierte,704 die das angeblich homogene Staatsvolk zerstörte und seinen Willen mehr verdeckte als verwirklichte, wertete Kelsen die politischen Parteien zu „Organen der staatlichen Willensbildung“ auf. Das „auf dem Proportionalwahlsystem aufgebaute Parlament“ garantierte Kelsen zufolge, „daß nicht das Interesse einer einzelnen Gruppe zum Staatswillen“ würde, sondern „daß möglichst alle Parteiinteressen sich äußern und miteinander in Konkurrenz treten“ könnten.705 Der „objektive Sinn des kontradiktorisch-dialektischen Verfahrens“ war für ihn nicht „die Erreichung einer – stets unerreichbaren – absoluten Wahrheit, eines absolut richtigen staatlichen Willens“, sondern „die Erzielung einer mittleren Linie zwischen den Interessen der Majorität und der Minorität“,706 kurz: der immer wieder neu zu suchende und optimierende politische Kompromiss. Dieser konnte zwar nur annäherungsweise die Kluft zwischen individuellem und Mehrheits-Willen schließen, das Majoritätsprinzip konnte aber zumindest die schärfsten Interessenskonflikte durch Verhandlungen schlichten und verhindern,707 so dass sich kein partikularer, sondern der größtmögliche Mehrheitswillen durchsetzte. Die Anerkennung der Interessens- und Meinungspluralität als Voraussetzung des parlamentarischen Verfahrens staatlicher Willensbildung verknüpfte Kelsen mit einem spezifischen Schutz der Minderheiten, den so genannten „Grundrechten“. Sie bildeten den „Schutzwall gegen den Herrschaftsmißbrauch, der seitens eines absoluten Monarchen nicht mehr zu befürchten ist als seitens der Majorität, dem König der Demokratie.“708 Kurz: Sie bewahrten damit vor willkürlicher Majorisierung. Die parlamentarische Demokratie unterschied sich somit von jeder anderen Herrschaftsform darin, „daß sie eine Opposition – die Minorität – ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt“ und schützt:709 „So fungieren die Grundrechte der Demokratie als Minoritätsschutz und sichern die Gleichberechtigung auch demjenigen“, schrieb Kelsen in der ersten Auflage seiner Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie, „der nicht die politische, religiöse oder nationale Ueberzeugung der Mehrheit teilt.“710 704 SCHMITT, Die geistesgeschichtliche Lage, S. 21–23. 705 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 19, S. 63. 706 Hans KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, Wien–Leipzig 1926 (Soziologie und Sozialphilosophie. Schriften der Soziologischen Gesellschaft in Wien 3), S. 40, und DERS., Allgemeine Staatslehre, S. 359. 707 Vgl. KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, S. 36–39. 708 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 12. 709 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 101, und DERS., Allgemeine Staatslehre, S. 370. 710 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 12.
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Unter demokratischen Vorzeichen war die Wirklichkeit, d.h. die soziale Inhomogenität, für Kelsen – wie gesagt – zumutbar.
4.21 D AS I DEAL
DER
D EMOKRATIE
VERBLASST
Mit dem Bundesverfassungsgesetz von 1920 (Artikel 1) wurde Österreich als eine demokratische Republik konstituiert.711 Seit 1919 hatte Kelsen an der Konzipierung der Verfassung durch sechs Vorentwürfe entscheidenden Anteil gehabt. Die junge Demokratie stand in der Zwischenkriegszeit in Österreich und anderen zentraleuropäischen Ländern allerdings auf schwachen Beinen. Unter der „Wucht der Wirtschaftskrise und des Ansturms totalitärer Kräfte von ‚rechts‘ und ‚links‘“ schien sie bald gefährdet, sich selbst aufzuheben bzw. abzuwählen:712 „Das Ideal der Demokratie verblaßt“, diagnostizierte Kelsen 1932 in seiner Schrift Verteidigung der Demokratie, „und an dem dunklen Horizont unserer Zeit steigt ein neues Gestirn auf, dem sich die Hoffnung der Massen um so gläubiger zuwendet, je blutiger sein Glanz über ihr leuchtet: die Diktatur.“713 Dabei werde die Demokratie von zwei Seiten bekämpft: von der „immer weitere Kreise der Arbeiterschaft erfassenden bolschewistischen Bewegung“ sowie vom „Faszismus“, der in Deutschland als Nationalsozialismus bereits den „größten Teil des Bürgertums“ in sich vereinigte. In der Wissenschaft sah Kelsen dieselben Tendenzen wirken: „Immer geringer ist die Zahl jener Theoretiker geworden, die an dieser Staatsform irgendwelche Vorzüge zu finden vermögen, ja sogar immer geringer die Zahl jener, die ihr Wesen in objektiver Erkenntnis zu erfassen bemüht sind.“714 Dass die Demokratie sogar von Staatswissenschaftlern verachtet wurde, erfüllte Kelsen mit großer Sorge. Die politische Verteidigung der Demokratie „gegen eine Majorität, die in nichts anderem einig ist, als in dem Willen, die Demokratie zu zerstören“,715 war nicht zulässig, weil ihre normative Statuierung dem Mehrheitsprinzip widersprach und daher notwendig undemo-
711 Vgl. STOURZH, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, S. 309–334. Giorgio BONGIOVANNI, Rechtsstaat and Constitutional Justice in Austria. Hans Kelsen’s Contribution, in: Pietro COSTA, Danilo ZOLO (eds.), The Rule of Law. History, Theory and Criticism, Dordrecht 2008 (Law and Philosophy Library 80), S. 293–319. Norbert LESER, Hans Kelsen und die österreichische Bundesverfassung, in: 75 Jahre Bundesverfassung. Festschrift aus Anlaß des 75. Jahrestages der Beschlußfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz, hg. von der Österreichischen Parlamentarischen Gesellschaft, Wien 1995, S. 789–805. 712 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 12. 713 KELSEN, Verteidigung der Demokratie, S. 230. 714 Ebenda, S. 230f. Kelsen bezieht sich vornehmlich auf das „Reich der sozialen Theorie“, das für ihn „zum größten Teil nur ein Bereich der politischen Ideologie ist.“ 715 KELSEN, Verteidigung der Demokratie, S. 237.
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kratisch war. Dieses Dilemma war wohl nur theoretisch zu lösen.716 Die Institutionen der demokratischen Selbstkontrolle konnten zwar dafür sorgen, dass verfassungswidrige Normen aufgehoben wurden, die Aufhebung der Demokratie durch ein Mehrheitsvotum konnten und durften sie aber nicht verhindern. Mittlerweile hatte sich auch das Szenario ihrer Widersacher verändert: Die Demokratie, das Prinzip größtmöglicher individueller Freiheit, war bald weniger durch die Wiederkehr der monarchischen Autokratie als durch die aufkommenden kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Parteidiktaturen gefährdet. Da der Demokratie die Abschaffung ihrer selbst nicht verboten werden konnte, suchte Kelsen unermüdlich neue Wege, um dies zu verhindern: „Wie nur wenige seiner Zeitgenossen“, so erinnerte der Zeitzeuge und Philosoph Ernst Topitsch (1919–2003), verteidigte Kelsen „die gefährdete Demokratie […] mit einem Mut, einer Entschiedenheit und […] einer kühlen geistigen Souveränität“.717 In seiner Verteidigung suchte er nach Vorkehrungen, die eine Mehrheit vor Verblendung und Verführung schützen und das Individuum vor Verzicht auf Mitwirkung an der staatlichen Herrschaft bewahren sollte. Kelsen definierte die Demokratie daher auch inhaltlich: Zum einen zählte er zum „Lebensprinzip jeder Demokratie […] die geistige Freiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Prinzip der Toleranz und insbesondere: die Freiheit der Wissenschaft in Verbindung mit dem Glauben an die Möglichkeit ihrer Objektivität“718 – Voraussetzungen für eine offene, diskursive Meinungsbildung, die das Substrat jeder demokratischen Öffentlichkeit darstellten.719 Zum anderen bedurfte die Demokratie aber auch politischer Subjekte, die über ein bewusstes ‚Ich‘ und eine kritisch-relativistische Weltanschauung verfügten. Eine weitere, „dogmatische“ Grundvoraussetzung erblickte er darin, „alle Bürger zu den Staatsfunktionen geeignet zu machen“: „Die Erziehung zur Demokratie“ sei eine der „praktischen Hauptforderungen der Demokratie selbst“, auch wenn sich in einer solchen „Erziehung“ jenes „Verhältnis des Lehrers zum Schüler“ manifestierte, das er seinem innersten Wesen nach als „autokratisch-autoritär“ einstufte. Was er 1920 noch als ein „Erziehungsproblem allergrößten Stils“ eingestuft hatte,720 zeigte sich ihm 1933, mit der Etablierung des deutschen „Führerstaates“, auch als sozialpsychologisches Problem. Der deutsche Politikwissenschaftler Detlef Lehnert hat kurz auf die „bislang wenig beachtete psychoanalytische Flankierung“ der Demokra-
716 Vgl. DREIER, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, S. 270. 717 TOPITSCH, Hans Kelsen – Demokrat und Philosoph, S. 14. 718 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1930, und DERS., Wissenschaft und Demokratie, S. 241. 719 Vgl. DREIER, Kelsens Demokratietheorie, S. 94f. 720 KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920, S. 30.
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tietheorie Kelsens verwiesen.721 Diesem Hinweis wird im Folgenden weiter nachgegangen.
4.22 D IE V ERTEIDIGUNG DER D EMOKRATIE DURCH DIE W ISSENSCHAFT Wenn Kelsen und Freud auf ihre Analyseobjekte blickten, so stand für den einen das Kollektiv, für den anderen das Individuum an vorderster Stelle. Die Art, beide zu betrachten, war allerdings verwandter als es auf den ersten Blick erscheinen mag, ihr jeweiliger Standpunkt ein unterschiedlicher: Während der eine das Individuum aus juristischer Perspektive als Akteur und Unterworfenen in einem System von Zwangsnormen in den Blick nahm, analysierte es der andere im Lichte der Abhängigkeit des so genannten ‚Ich‘ von verschiedenen psychischen Instanzen. Was beide Wissenschaftler verband, war, dass sie in ihren jeweiligen Theorien Mechanismen der Unterdrückung und Befreiung erörterten, wobei sie dem (mehr oder weniger reflektierten) Verhältnis von Individuum und Kollektiv ein entscheidendes Gewicht beimaßen. So konnte ihre ‚autonom-engagierte‘ wissenschaftliche Position auch Perspektiven zur Verteidigung der Demokratie eröffnen. Zur Wahrung demokratischer Verhältnisse bedurfte es außer der judikativen Kontrollinstanz einer Instanz der wissenschaftlichen Analyse, die über die Spielregeln der Verfassung wachten, sowie weiters einer Handlungsinstanz, die den Individuen Wege des Umgangs mit der neuen Freiheit der ‚Selbst-Beherrschung‘ aufzeigte. Während Kelsen der Judikatur und Jurisprudenz den Auftrag auferlegte, den Demokratisierungsprozess ‚von oben‘ zu stützen – d.h. durch ein von Juristen kontrolliertes Verfahren der demokratischen Willensbildung, das jeden Eingriff durch Unbefugte wirksam zurückwies –, lieferte Freud demokratisierende Handlungsimpulse ‚von unten‘, indem er dem Individuum mehr Wissen über sich selbst anbot und ihm damit zugleich Perspektiven zu einer politischen Mündigkeit eröffnete. Beide Theorien setzten in Bezug auf die Verteidigung der Demokratie an gegenüberliegenden Enden an: die eine institutionell-rechtstechnisch, die andere handlungsleitend, nämlich durch Bewusstmachung der Wirkmächtigkeit unbewusster Vorgänge auf individuelle Vernunft und Unvernunft. Freud und Kelsen vertieften sich damit nicht nur in die Schwierigkeiten kollektiver Identitätsbildung, sondern sie zeigten auch Handlungsalternativen auf.
721 LEHNERT, „Staatslehre ohne Staat“?, S. 7, S. 40.
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4.23 D IE
WEHRLOSE
S TAATSFORM
In Staatsform und Weltanschauung (1933) und in anderen Schriften ordnete Hans Kelsen der Demokratie und der Autokratie Weltanschauungen zu, die über die seelische Struktur der jeweiligen Verfechter dieser Staatsformen Aufschluss geben konnten: „Der metaphysisch-absolutistischen Weltanschauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Haltung zugeordnet.“722 Jenen Charakter, in dessen politischer Anschauung „die Sehnsucht nach Freiheit durch das Gefühl der Gleichheit“723 modifiziert werde, verglich er mit dem „Typus des relativ herabgesetzten Ich-Gefühls“. Ihm entsprach Kelsen zufolge ein politisches Subjekt, welches das Grundprinzip der Demokratie – die Freiheit – nicht nur für sich, sondern auch für den Anderen wollte. Dieses ‚Ich‘ erkannte sich selbst im Anderen, empfände das ‚Du‘ als wesensgleich und fände sich in einer Staatsform wider, die Kelsen als „Minimisierung der Herrschaft“ charakterisierte. Die Stellung des Subjekts zur Herrschaft sah er im Wesentlichen von der Intensität bestimmt, in der der Wille zur Herrschaft im Stellung nehmenden Individuum selbst lebendig war: Je stärker der Wille zur Herrschaft sei, umso weniger schätze dieses die Freiheit wert. Die Idee der Autokratie negierte für ihn die Freiheit durch „Maximisierung der Herrschaft“ völlig, die radikale Ungleichheit zwischen Herrschern und Beherrschten war ihre apriorische Voraussetzung. Der autoritäre Charakter, der Typus des gesteigerten IchGefühls, verweigerte sich demnach, „das Du als ein seinem ursprünglich erlebten Ich gleichartiges Wesen anzuerkennen“.724 Das ‚Ich‘ erlebe das ‚Du‘ als wesensfremd. Gleichheit sei ihm ebenso wenig ein Ideal wie Freiheit ein politischer Wert. Der demokratische Charaktertyp neigte Kelsen zufolge indes zu einer relativistischen Grundanschauung:725 Insofern sich der Mensch absoluter Wahrheit und Werte verschließe und den gegenteiligen Standpunkt zumindest für möglich hielte, sei der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke notwendig voraussetzen würde.726 Der „philosophische Relativismus [wäre aber] zu jener dialektischen Methode gedrängt, die Meinung und Gegenmeinung allererst sich entfalten lassen muss, um dann
722 KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 370. Vgl. DERS., Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 101, und DERS., Staatsform und Weltanschauung, 1933. Kelsen antizipierte mit der Aufteilung in demokratische und autokratische Charaktertypen wohl Adornos Studien zum autoritären Charakter, die vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus entstanden sind. Vgl. Theodor W. ADORNO [u.a.], The Authoritarian Personality, New York 1950 (Studies in Prejudice) (deutsch: DERS., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1973). 723 KELSEN, Wissenschaft und Demokratie, S. 239. 724 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1928f. 725 Vgl. KELSEN, Wissenschaft und Demokratie, S. 241. 726 Vgl. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 101, und DERS., Staatsform und Weltanschauung, S. 1940.
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schließlich einen vermittelnden Ausgleich zwischen zwei Standpunkten zu suchen, von denen man sich keinen ganz und vorbehaltlos und unter völliger Negation des anderen zu eigen machen kann.“ Das hieß für Kelsen aber auch, dass es „nur eine kritisch-relativistische Grundeinstellung sein [könne], von der aus die Demokratie und insbesondere der demokratische Parlamentarismus postuliert wird.“727 Demokratie nannte er demnach jenes relativistische politische System, in dem „auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann.“728 Zwar stufte Kelsen den Relativismus und die „Minimisierung der Herrschaft“ als Voraussetzungen der Demokratie ein, er verschwieg aber deren Schattenseiten nicht: „Ihre Ideologie-Fremdheit läßt die Demokratie nicht so widerstandsfähig erscheinen wie die Autokratie, die jeden Gegner im Innern rücksichtslos vernichtet, während die Demokratie mit ihrem Prinzip der Legalität, Toleranz, Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz den eigenen Gegner geradezu großzieht.“ „Im ganzen“, schrieb Kelsen, sei „die Demokratie ein dem Führerideal, weil dem Autoritätsprinzip überhaupt nicht günstiger Boden.“ Sie sei – ihrer Idee nach – eine „vaterlose Gesellschaft“ und sie wollte eine „womöglich führerlose Genossenschaft Gleichgeordneter“ sein.729 Doch diese Vorzüge der Demokratie seien zugleich auch ihr Handicap, wäre sie doch auch diejenige Staatsform, „die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt.“730 So kam Kelsen zu dem Schluss, dass es das paradoxe Vorrecht der Demokratie gegenüber der Autokratie sei, dass sie mit den „ihr ureigensten Methoden der Willensbildung, also legal sich selbst aufheben kann“.731
4.24 W ISSENSCHAFT
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A NALYSE
Sollte das zentrale demokratische Prinzip der Mehrheitsherrschaft nicht verletzt werden, so durfte der Erhalt der Demokratie – wie erwähnt – von einer aufrechten Minorität nicht politisch verteidigt werden. Denn: „Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein“, vermerkte Kelsen in seiner Schrift Verteidigung der Demokratie (1932): „Eine Volksherrschaft kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, d.h. wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten.“732 727 728 729 730 731 732
KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, S. 40f. KELSEN, Allgemeine Staatslehre, S. 371. KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1934. KELSEN, Verteidigung der Demokratie, S. 237. KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1935. KELSEN, Verteidigung der Demokratie, S. 237.
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Dass die Demokratie politisch nicht zu verteidigen war, bedeutete für Kelsen aber nicht, die Suche nach wirksamen Methoden zur Erhöhung ihrer Akzeptanz einzustellen. Um zu verhindern, dass eine verblendete Mehrheit das Majoritätsprinzip als ein legales Mittel zur Aufhebung der Demokratie nutzte, suchte er Hilfestellung in den Wissenschaften außerhalb der Juristerei, und er fand sie in der Psychoanalyse. Der Jurist hatte dabei eine psychische Instanz vor Augen, das ‚Über-Ich‘, dessen Macht über das ‚Ich‘ er mit als Ursache für Demokratiefeindschaft und -verdruss entlarvte. Das ‚ÜberIch‘ definierte Sigmund Freud als einen Anteil des ‚Ichs‘, als eine Instanz, die sich im ‚Ich‘ differenziert habe und mit dem ‚Es‘ in „besonderer Beziehung“ stünde. Verabsäumte das ‚Ich‘ Freud zufolge die Verarbeitung des Verdrängten bzw. seine Zurückholung ins ‚Ich‘, so konnte das Verdrängte störend wirkmächtig werden. Das ‚Über-Ich‘ verinnerlichte auch den äußeren Zwang der elterlichen Autorität und es habe durch eine Identifizierung wesentliche Züge des Vatervorbildes, nämlich Macht, Strenge und die Neigung zur Beaufsichtigung und Bestrafung als Anforderungen aufgenommen: Wäre dieses „Ichideal“, das auf das ‚Ich‘ Druck ausübte, aber nicht „genügend unpersönlich“ geworden, so konnte sich das überforderte ‚Ich‘ Freud zufolge krankhaft ausbilden und psychische Störungen (Neurosen) hervorrufen. Was das Verhältnis des ‚Ichs‘ zum ‚Es‘ betraf: durch ein Trauma; was die Spannung zwischen dem ‚Über-Ich‘ und dem ihm unterworfenen ‚Ich‘ betraf: als überzeichnetes Schuldgefühl, das sich in einem Strafbedürfnis manifestieren konnte. Den Neurotiker überfiele ein „unbewusstes Schuldgefühl“, das ihn zur „Selbstbestrafung“ zwänge. Von daher stammte die „Konzeption des unerbittlich strafenden höheren Wesens“.733 In der Identifikation mit dieser von Freud gezeichneten Figur manifestierten sich für Kelsen die autokratischen Tendenzen, kurz: die Unfähigkeit zur Demokratie. Was Sigmund Freud für das Individuum zeigte, nahm er später auch für die Gruppe an: Er erkundete die Wege, die zur blinden Unterwerfung unter Autoritäten führten. In seiner Monografie Das Unbehagen in der Kultur (1930) zeigte er, dass jede Kultur (analog zum Individuum) unter dem Eindruck „großer Führerpersönlichkeiten“ ein „Kultur-Über-Ich“ entwickelt habe, das als Instanz der Moralität ambivalent wirkte: Das ‚Über-Ich‘ erfüllte – wie im ‚Ich‘ so in der Kultur – die Aufgabe der Triebversagung, die zur sozialen Konfliktvermeidung führte.734 Darin sah Freud seine „Hauptleistung“735. Durch den unlustvollen Triebverzicht erfüllte das ‚Ich‘ zwar den
733 Zum ‚Über-Ich‘ vgl. u.a. FREUD, Das Ich und das Es (bes. Abschnitt 5: „Die Abhängigkeiten des Ichs“), S. 277–289. DERS., Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen, S. 207–296, hier S. 253f. DERS., Das ökonomische Problem des Masochismus (Original 1924), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIII, S. 367–391, hier S. 381. DERS., Das Unbehagen in der Kultur, S. 482–506. 734 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 501f., S. 483. 735 Sigmund FREUD, Abriss der Psychoanalyse (Original 1938/1940), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XVII, S. 63–138, hier S. 70.
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Anspruch auf Moralität, allerdings verbliebe an ihm ein Unbehagen haften, das auch die Triebsublimierung nicht zu verhindern wüsste. Dieses Unbehagen äußerte sich in einem Schuldgefühl. Die im ‚Über-Ich‘ verinnerlichte Autorität würde „strenge Idealforderungen“ aufstellen, deren Nichterfüllung durch „Gewissensangst“ gestraft würde. So fragte sich Freud, ob nicht in Anbetracht dessen, dass die Kulturentwicklung so weitgehende Ähnlichkeit mit der des Einzelnen habe, man nicht zur Diagnose berechtigt sei, „daß manche Kulturen, – oder Kulturepochen, – möglicherweise die ganze Menschheit – unter dem Einfluß der Kulturstrebungen ‚neurotisch‘ geworden“ wären?736 Was den Neurotiker betraf, so stand „sein Über-Ich […] dem Ich noch immer gegenüber wie der strenge Vater dem Kind.“737 Identifizierte sich das ‚Ich‘ mit seinem ‚Über-Ich‘, so wäre dieses dem ‚Ich‘ eine unhinterfragte Autorität. Dieser anerkannten Strafinstanz unterwerfe sich das ‚Ich‘. Es empfände jede Anerkennung als einen befreienden Akt, seine Vorwürfe aber riefen Gewissensbisse hervor. (MM, S. 224) Das ‚Ich‘ fühlte sich durch jeden Triebverzicht – einer dem ‚Über-Ich‘ anstößigen Versuchung widerstanden zu haben – in seinem Selbstgefühl gehoben und stolz auf den Triebverzicht wie auf eine wertvolle Leistung.738 (MM, S. 224) Kurz: War die sich selbst verleugnende Unterwerfung unter die verschiedensten Autoritäten Freud zufolge das Ventil, das den Druck der Schuld entweichen ließ, so zeugte der Wahn ewig wiederkehrender neuer Väter – strafender sowie erlösender Götter – von einer durch Schuldgefühle motivierten blinden Unterwerfung. Ähnliche Vorgänge nahm auch Kelsen wahr, was die Ideologie des Staates betraf; er führte sie auf ein „Anbetungsbedürfnis“ zurück, „sich einem Höheren, Heiligen zu unterwerfen, sich aufzuopfern, kurz alle auf die Verkleinerung, Selbstentäußerung, ja Selbstvernichtung gerichteten Instinkte des Menschen“, die ihre Befriedigung in dem „bis ins Sinnlose gesteigerten Staatsfetischismus“, in einer „Vergöttlichung des Staates“, gefunden hätten.739 Diese „Staatstheologie“ konnte Kelsen zufolge den Weg in die Autokratie bahnen: „Denn nur solch Absolutem, das heißt aber dem Göttlichen gegenüber kann schweigender und dankbarer Gehorsam, kann jener rückhaltlose Verzicht auf Selbstbestimmung gefordert werden, der den Sinn der Diktatur bildet.“740 Das ‚Über-Ich‘ war Kelsen zufolge jenem politischen Subjekt, das den Verlust der Führerfigur bedauerte, eine unhintergehbare Autorität. In der Anfälligkeit für Allmachtsprojektionen auf Führerfiguren und Untertanengesinnung sah er einen zunehmenden Verlust der Fähigkeit des Individuums zu selbstverantwortlichem Wahrnehmen und Handeln: Zwar war die Demo736 737 738 739 740
FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 502, S. 504. FREUD, Die Frage der Laienanalyse, S. 254. Vgl. FREUD, Abriss der Psychoanalyse, S. 137. KELSEN, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, S. 250. KELSEN, Das Problem des Parlamentarismus, S. 41f.
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kratie „im ganzen […] ein dem Führerideal überhaupt nicht günstiger Boden“, aufgrund der Macht des „Über-Ichs“ konnte sich – in Abwandlung einer Aussage von Kelsen – aber die Diktatur vorübergehend durchsetzen.741 Der Jurist erblickte daher in der ‚Vergöttlichung‘ des Staates, insbesondere aber in der sich selbst verleugnenden Unterwerfung unter einen „Landesvater und Gottvater“, den entscheidenden Zug zum Autoritarismus:742 „Daß sich das Subjekt mit seinem Über-Ich […] identifiziert“, war für Kelsen in diesem Sinne einer der irreführenden, wohl aber „charakteristischen Wege der Erhöhung des Selbstbewußtseins“.743 Dieses Ideal-Ich, mit dem sich das Individuum versah, verkörperte der mit unbeschränkter Macht bekleidete Diktator. Der sich mit ihm identifizierende Subjekttypus schwärme nicht nur für schärfste Disziplin, sondern er würde sich auch blind seiner Autorität unterwerfen, um sich für sein schwaches ‚Ich‘ schadlos zu halten. In solcher Identifikation – der blinden Unterwerfung unter Vaterfiguren – zeigte sich aber für den Wiener Juristen sinnbildlich die autokratische Weltanschauung, die sich durch Hierarchie und Paternalität, sprich: „Kind-Vaterschaft“744 auszeichnete. Sigmund Freuds Analyse veranschaulichte für Kelsen das Dilemma, vor dem die Demokratie stand. Wie konnte aber die Sehnsucht nach Autoritäten vermindert und so die legale Machtergreifung der Autokraten in der Demokratie unterbunden werden?
4.25 W ISSENSCHAFT
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Hilfe versprach sich Kelsen von der Psychotherapie: Vor dem Hintergrund der Machtergreifung Hitlers, einer neuen Führerfigur, inkorporierte er in seine Theorie das, was er als Freuds Vermächtnis für das demokratische Prinzip auffasste, nämlich die Psychoanalyse, die sich den selbstverleugnenden Unterwerfungen unter die verschiedensten Autoritäten vom Standpunkt der Analyse näherte, aber auch therapeutische Impulse lieferte. Schon Freud verknüpfte mit der Zähmung des „Über-Ichs“ die „Schicksalsfrage der Menschenart“, „ob und in welchem Maße“ die Menschheit „der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“ vermag.745 Die Verhinderung von aggressiver Verblendung und Verführung war eines der Ziele Freuds, das er durch die Vertiefung der Selbsterkenntnis, die er durch die Vorherrschaft von ‚Über-Ich‘ und ‚Es‘ beeinträchtigt sah, zu erreichen hoffte. Das Individuum sollte so weit über sein ‚Ich‘ verfügen können, dass es sich nicht zur blinden Unterwerfung verführen und die Chance, sich selbst zu regieren, d.h. auf
741 742 743 744 745
Ebenda, S. 42. KELSEN, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 85. KELSEN, Wissenschaft und Demokratie, S. 240. KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1934. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 506.
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Demokratie, verstreichen ließ. Denn: Kelsen erkannte, dass für stabile demokratische Verhältnisse ein sich seiner selbst so weit wie möglich bewusstes ‚Ich‘ die unabdingbare Voraussetzung war. Die Autokratie beruhte Kelsen zufolge „auf der Verdrängung des politischen Affekts in eine Sphäre“, die er mit dem Unbewussten der ‚Individualpsychologie‘ verglich. Die Demokratie zielte zwar darauf ab, „den politischen Affekt der Masse […] über die Schwelle des sozialen Bewußtseins zu heben, um ihn so abreagieren zu lassen“,746 wegen der Identifikation der Subjekte mit ihrem ‚Über-Ich‘, dem ‚Ideal-Ich‘, die sich in der blinden Unterwerfung unter Vater-, Götter- und Führerfiguren manifestierte, sah Kelsen die Demokratie aber als stets gefährdet. Im Sinne Freuds hielt er jene Subjekte befähigt für die Demokratie, welche die Ansprüche ihres ‚ÜberIch‘ zu besänftigen wussten. Daher setzte Kelsen auf die Psychoanalyse als ein Instrument der sozialen ‚Therapie‘, das die Individuen dazu befähigte, sich nicht mit dem „Kind-Vaterschafts“-Verhältnis abzufinden, sondern sich die „mutterrechtliche Bruderschaft“ der Freien und Gleichen zuzumuten.747 Konfliktvermeidung und nötigenfalls -bewältigung durch im Bewusstsein weitgehend freie Bürger stellten für Kelsen den zentralen Wert der Demokratie dar; der Verzicht auf Selbstbestimmung führte für ihn aber notwendig zurück in die Diktatur. Vorboten dafür zeigten sich ihm, als im Jahr 1929 der demokratische Verfassungskompromiss in Österreich zugunsten autoritärer Verfassungsstrukturen aufgekündigt wurde: „Denn immer lauter und energischer wird von bürgerlicher Seite der Ruf nach einer Aenderung der Verfassung“, vermerkte Kelsen in seinem Artikel im StaatsrechtsHandbuch der Weimarer Republik, und in weiser Voraussicht fuhr er fort: „Worauf diese Bestrebungen im wesentlichen zielen ist: Verstärkung der Präsidialgewalt und Einschränkung oder Ersetzung des demokratischparlamentarischen durch ein berufsständisches System.“748 Angesichts dieser autoritären Unterwanderung der Demokratie ‚von oben‘, die sich in der Verpolitisierung des Verfassungsgerichtshofs und dem Volkswahlpräsidenten als monarchischem Übervater manifestierte,749 ist es nicht verwunderlich, dass Kelsen letzte Auswege suchte, wie man den Demokratisierungsprozess ‚von unten‘ auf eine andere als ‚rein‘ politische und juristische Weise stärken konnte: In einer Zeit, da sich der zunehmend autokratischer werdende Staat nach wie vor als legitimer präsentierte und die Staatsrechtslehre zu weiten Teilen versäumte, Einspruch zu erheben, rief er zur „Verteidigung der Demokratie“ auf. Die Mittel, die er aufwandte, um ihre Selbstzerstörung zu verhindern, waren jedoch nicht politischer Art: Die Wissenschaft, und
746 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1935, und DERS., Demokratie (Original 1927), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Band 2, S. 1743– 1776, hier S. 1767. 747 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1934. 748 KELSEN, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, S. 165. 749 Vgl. KELSEN, Autobiographie [1947], S. 67–77.
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zwar die Psychoanalyse, ließ ihn hoffen, „die Staatsform gegen revolutionären Umsturz zu sichern.“750
750 KELSEN, Staatsform und Weltanschauung, S. 1935.
5. Identität als Wissenschaft II
A. S IGMUND F REUD UND DER M ANN M OSES Sigmund Freud zählt zu den bedeutendsten Erforschern der Vorgänge individueller Identitätsbildung. Eine Handlung des ‚Ichs‘, so Freud, sei dann gelungen, „wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Überichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiss.“1 Da das ‚Ich‘ zwischen diesen drei Bereichen zu vermitteln habe, sei es „ein armes Ding“,2 zugleich jedoch die beste Instanz, das Unbewusste zu zähmen und Unterwerfungen unter verinnerlichte Zwänge abzuschütteln. Dem ‚Ich‘ zur Bewusstwerdung seiner Abhängigkeiten zu verhelfen, um es vor Aggression und Unterwerfung zu schützen, war für Freud das Ziel jeder Therapie, erreichbar durch ein Sich-unabhängig-Machen vom ‚Über-Ich‘ und durch die Aneignung neuer Bereiche des Unbewussten: „Wo Es war, soll Ich werden,“3 so lautet sein wahrscheinlich berühmtestes Credo. Als ‚Individualpsychologen‘4 wurde Freud international höchste wissenschaftliche Anerkennung zuteil, seine Rolle als Analytiker sozialer Vorgänge, als der er nicht nur dem Individuum, sondern auch sozialen Gruppen Wege zur reflektierten Selbstverfügung aufzeigte, blieb hingegen nur wenig beachtet. In seiner letzten Monografie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939)5 stellte er schließlich das Kollektiv in den Mittel-
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FREUD, Abriss der Psychoanalyse, S. 69. FREUD, Das Ich und das Es, S. 286. Sigmund FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Original 1933), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XV. Nachdruck der Ausgabe von London 1940, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 86. Der Begriff wird – wie bereits erwähnt – in dem Sinne verwendet, wie ihn Freud benutzte. Sigmund FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Amsterdam: Verlag Allert de Lange 1939, und in englischer Sprache: DERS., Moses and Monotheism. Translated from the German by Katherine Jones, London: Hogarth Press and the Institute of Psycho-Analysis 1939 [New York: Vintage Books 1939]. In dieser Arbeit wird auf die in den Gesammelten Werken (Band XVI) abgedruckte Ausgabe zurückgegriffen: DERS., Werke aus den Jahren
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punkt der Analyse. Das umstrittene Buch handelt von der jüdischen Identifikationsfigur des biblischen Moses, die Freud in ihr vermeintliches Gegenteil, einen Ägypter, verkehrte, der den Israeliten, so Freud, den Monotheismus vermittelt habe. Da die Letzteren dessen Anforderungen aber nicht gewachsen gewesen seien, hätten sie den Stifter ihrer Religion in der Wüste ermordet. Die Studie, die Freud selbst eine „Art von historischem Roman“ nannte,6 besteht aus drei Abhandlungen: Die beiden ersten Teile („Moses ein Ägypter“ und „Wenn Moses ein Ägypter war …“) hatte er schon 1937, als er noch in Wien lebte, in der Zeitschrift Imago publiziert,7 den dritten und provokantesten Abschnitt („Moses, sein Volk und die monotheistische Religion“) zunächst aber zurückgehalten. Im Jahr 1939 veröffentlichte er schließlich alle drei Teile unter dem Titel Der Mann Moses und die monotheistische Religion in Buchform, trotz vorhergehender Warnungen und großer Selbstzweifel an der argumentativen Stichhaltigkeit. Die Monografie provozierte nach ihrem Erscheinen heftige Kritik, geriet später aber eine Zeitlang aus dem Blick: Psychoanalytiker hielten das Werk für irrelevant, Religionswissenschaftler für zu spekulativ, und Historiker stuften seine Thesen als wissenschaftlich unhaltbar, abwegig und in ihrer Ausrichtung lamarckistisch ein. In den letzten anderthalb Jahrzehnten erlebt Der Mann Moses jedoch eine unerwartete Konjunktur.8 In Zeiten eines zunehmend schwieriger wer-
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1932–1939. Nachdruck der Ausgabe von London 1950, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 101–246. Im Folgenden im Haupttext zitiert als MM. Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt am Main 1966, S. 222–224. Vgl. Imago (23, 1937: Heft 1, S. 5–13 und Heft 4, S. 387–419). Die dritte Abhandlung lag auch schon im ersten Entwurf von 1934 vor, er veröffentlichte sie aber erst 1939 (mit den Teilen I und II). Die folgenden Titel zeugen in einer Auswahl von dieser Konjunktur: Ilse GRUBRICH-SIMITIS, Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Ein biographischer Essay, Weinheim 1991 (Die Sigmund-Freud-Vorlesungen 3). Yosef H. YERUSHALMI, Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992. Bluma GOLDSTEIN, Reinscribing Moses. Heine, Kafka, Freud, and Schoenberg in a European Wilderness, Cambridge, Mass.–London 1992. Jacques DERRIDA, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997 [Original: DERS., Mal d’archive. Une Impression Freudienne, Paris 1995]. Jan ASSMANN, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München–Wien 1998 [Original: DERS., Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in Western Monotheism, Cambridge, Mass. 1997]. Bernd WITTE, Die Schrift im Exil, Sigmund Freuds Der Mann Moses und die jüdische Tradition, in: Vittoria BORSÒ, Gerd KRUMEICH, Bernd WITTE (Hg.), Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, Stuttgart–Weimar 2001, S. 55–66. Wolfgang HEGENER, Wege aus der vaterlosen Psychoanalyse. Vier Abhandlungen über Freuds „Mann Moses“, Tübingen 2001. Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 56 (2002) [Themenheft: Freuds Moses]. Jan ASSMANN, Die Mosaische Unter-
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Abbildung 10: Sigmund Freud (1856–1939), 1939, ÖNB
scheidung oder der Preis des Monotheismus, München–Wien 2003. Peter SCHÄFER, Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds ‚Der Mann Moses und die monotheistische Religion‘, Berlin–Wien 2003. Carl E. SCHORSKE, Die ägyptische Ausgrabung: Freuds Psycho-Archäologie der Kulturen, in: DERS., Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne. Mit einem Geleitwort von Aleida Assmann, Wien 2004 (Wiener Schriften zur Historischen Kulturwissenschaft 2), S. 223–249 [Original: DERS., Thinking with History. Explorations in the Passage to Modernism, Princeton 1998]. Mario CIFALI, Le meurtre de Moïse. Freud et le monothéisme, Genève 2005. Franz MACIEJEWSKI, Der Moses des Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder, Göttingen 2006. Henri REY-FLAUD, ‚Et Moise créa les juifs ...‘. Le testament de Freud, Paris 2006. Ruth GINSBERG, Ilana PARDES (Hg.), New Perspectives on Freud’s ‚Moses and Monotheism‘, Tübingen 2006 (Conditio Judaica 60). Jeffrey K. OLICK, The ciphered Transits of Collective Memory: NeoFreudian Impressions, in: Social Research 75, 1(2008), S. 1–12. Richard J. BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, Hamburg 22008 [Original: DERS., Freud and the Legacy of Moses, Cambridge [u.a.] 1998]. Eveline LIST (Hg.), Der Mann Moses und die Stimme des Intellekts. Geschichte, Gesetz und Denken in Sigmund Freuds historischem Roman, Innsbruck [u.a.] 2008 (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 7), und zuletzt Sigmund FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, hg. von Jan Assman, Stuttgart 2010.
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denden Umgangs mit kultureller Heterogenität wird genau diese Arbeit Freuds wiederentdeckt und erst jetzt schrittweise in ihrer vollen Tragweite entschlüsselt: „Was haben wir davon, wenn wir den jüdischen Monotheismus vom ägyptischen ableiten?“ (MM, S. 169) – Diese schlicht wirkende, von Freud aufgeworfene Frage wird nach wie vor hoch kontrovers diskutiert. Der Wiener Historiker Wolfgang Schmale verlieh dem Text unlängst das Prädikat eines „Theorie-Schlüsseltexts der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts“.9 So wie das vorhergehende Kapitel umfasst auch das vorliegende drei Teile. Zunächst wird Freuds theoretischer Zugriff analysiert. Vor dem Hintergrund seiner ‚individualpsychologischen‘ Theorie wird Der Mann Moses als ‚sozialpsychologische‘ Studie im Hinblick auf ihre Interventionsfunktion in die verhängnisvollen Authentisierungsprozesse seiner Zeit untersucht, nicht aber auf ihren historischen Wahrheitswert überprüft. Dabei soll gezeigt werden, auf welche Weise Freud jene Vorgänge offenlegte, die kollektive Identitäten hervorbrachten, und neue theoretische Wege – oder vielmehr Auswege – für den Umgang mit ‚verletzten‘ Identitäten erkundete. Das theoretische Modell hierfür lieferte ihm die zu diesem Zeitpunkt längst voll ausformulierte Psychoanalyse. Das Material, auf das er seine Überlegungen stützte, bildete der auf Ablösungs- und Abgrenzungsprozessen beruhende ‚ewige Konflikt‘ zwischen Juden und Christen, der sich im Kontext nationaler Selbstvergewisserung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut zuspitzte und in einem mörderischen Antisemitismus manifestierte. Im zweiten Teil wird Freud im Kontext seiner unmittelbaren Gegner (wie z.B. des Ethnologen Wilhelm Schmidt) porträtiert, um zu zeigen, inwiefern sein Wissenschaftshandeln wegweisende Perspektiven für Fragen der kollektiven Identitätsbildung eröffnete. Vor dem Hintergrund eines Wissenschaftsbetriebs, der sich zusehends in destruktive nationale In- und Exklusionsmanöver verwickelte und immer aggressivere essenzialistische Identitätskonstrukte legitimierte, distanzierte sich Freud von dieser Komplizenschaft von Wissenschaft und Politik – insbesondere aber von Ressourcen, die der politische Rassismus und der epistemologische Essenzialismus füreinander bereitstellten. Sein reflexiver Zugriff auf die Identitätsproblematik basierte darauf, dass er die unheilvollen Verläufe der (Be-)Gründung nationaler Kollektive genau ins Visier nahm. Sie waren mit ideologischen Begriffen wie z.B. ‚Volk‘, ‚Kultur‘, ‚Nation‘ verbunden und wurden u.a. von einer vorurteilsbeladenen Sozialwissenschaft legitimiert. In Der Mann Moses
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Wolfgang SCHMALE, Die aktuelle Theoriediskussion der Geschichtswissenschaften und Freuds Mann Moses, in: LIST (Hg.), Der Mann Moses und die Stimme des Intellekts, S. 97–109, hier S. 98. Zur Art der Historisierung der Psychoanalyse und zur vergeudeten Chance, „psychoanalytisches Wissen“ für die historische Theoriebildung nutzbar zu machen, vgl. Lydia MARINELLI, Psychoanalytisches Wissen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 14, 2(2003) [Themenheft: ‚Psychoanalytisches Wissen‘], S. 5–9, hier S. 6f.
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zeigte sich Freud – wie Hans Kelsen – als einer jener ‚autonom-engagierten‘ Wissenschaftler, die – vor der Wahl zwischen einer verpolitisierten und selbstreferenziellen Wissenschaft stehend – einen ‚dritten Weg‘ einschlugen und wissenschaftliche Theoriebildung mit sozialer Verantwortung verknüpften. Im dritten Teil wird Freuds Analyse des Zusammenhangs von Gedächtnis, Erinnerung und Tradition dargelegt, die ihn zu seinem reflexiven Blick auf Identitätsbildungsprozesse hinführte und ihn mit nur wenigen zeitgenössischen Wissenschaftlern verband – umso mehr aber von älteren Ansätzen eines ‚Rassengedächtnisses‘ trennte. In der Mann-Moses-Schrift, einer Art psychohistorischen Analyse, spürte er einer Form von „historischer Wahrheit“ nach, die für ihn nicht darin bestand, was tatsächlich vorgefallen war, sondern, wie das Vorgefallene in die Gegenwart gekommen, kurz: überliefert worden war. Das Modell, das er entwickelte, zielte aber nicht vornehmlich auf das Medium, d.h. die Substanz der Übermittlung – sei es die ‚ererbte‘ Kultur oder ein vermeintlich „kollektives Unbewusstes“ (C. G. Jung) –, sondern auf die soziale bzw. psychologische Funktion bewusster und unbewusster Aspekte in Traditionsbildungen. Die „unbewußte Gemeinsamkeit“ binde ein Volk enger aneinander als „die bewußte Tradition“. Daher sei dieser „gemeinsame Geheimbesitz“, so der Freud-Vertraute Theodor Reik, „für den Fortbestand und die Weiterwirkung kultureller Faktoren wesentlicher als die bewußten Erinnerungen der Geschichte.“10 Die Ausbildung der monotheistischen Tradition lieferte Freud hierfür das überzeugendste Beispiel. Abschließend wird sein funktionsbezogenes Traditionsmodell mit anderen Gedächtniskonzepten (u.a. von Maurice Halbwachs und Aby Warburg) verglichen, um damit das produktive Potenzial des Mann Moses im Hinblick auf Probleme komplexer kultureller Systeme der Gegenwart zu entschlüsseln.
5.1 I DENTITÄT DURCH T RADITION , ANDERSHEIT DURCH K ULTUR Vor Freud hatte schon Max Weber manche der ‚Gemeinschafts‘-Entwürfe, die jener kritisch prüfte, neu bewertet. So ist es dem Heidelberger Soziologen zu verdanken, Wege aufgezeigt zu haben, um sich jüngeren wirkmächtigen sozialen Abgrenzungskonzepten nicht auf affirmative Weise, sondern analytisch-reflexiv zu nähern. Davon zeugt insbesondere der Abschnitt „Ethnische Gemeinschaften“11 in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft
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Theodor REIK, Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewußter Vorgänge, Leiden 1935, S. 133. Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, hg. von Wolfgang J. Mommsen. Teilband 1: Gemeinschaften, Tübingen 2001 (Max Weber Gesamtausgabe
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(1922), in dem Weber u.a. die Begriffe „Nation“, „Volk“ und „ethnische Gemeinschaft“ neu durchdachte und – so der Kern seiner Überlegungen – das „,ethnische‘ Sonderbewußtsein“12 nicht als etwas von der Natur Gegebenes, sondern als etwas Geglaubtes definierte. Was die so genannte „Rassenzugehörigkeit“13 betraf, waren Weber zufolge nicht objektive (d.h. biologische) Kriterien, sondern subjektive Imaginationen wie z.B. gemeinsame politische Schicksale konstitutiv. Auch das, was den ‚ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglauben hervorbrachte, war für ihn sozial vermittelt, daher aber auch veränderlich und kein Produkt objektiver „Rassenmerkmale“. In diesem Sinne definierte er ‚ethnische‘ Gruppen als „Gemeinschaften“, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ‚Sippen‘ darstellen, […] ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht.14
Diese konstruktivistische Sichtweise prägte auch seine Vorstellung von ‚Volk‘ und ‚Nation‘. In dem 1922 von seiner Frau Marianne posthum veröffentlichten Werk griff Weber das Thema der ‚Vergemeinschaftung‘, d.h. der Gemeinschaften im Kontext der Entwicklung moderner Gesellschaften, sonach in einer Weise auf, die völlig neue Horizonte erblicken ließ. Da er den Fokus auf das Imaginäre des Volks-, Nations- und Ethniebegriffs lenkte, wird er auch als ein Wegbereiter der jüngeren Nationalismusforschung im Sinne Benedict Andersons klassifiziert. Sonach stand der Heidelberger Soziologe in mancher Hinsicht sicherlich quer zu den verstiegenen völkischen Auffassungen seiner Zeit, allerdings – so sei angemerkt – überschritt er die Schwelle essenzialistischer Begriffsbildung noch nicht vollends.15 So zog
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Abteilung I: Schriften und Reden 22,1), S. 162–190, bzw. die von Johannes Winckelmann besorgte Ausgabe: Max WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Mit einem Anhang: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, hg. von Johannes Winckelmann. 1. Halbband, Tübingen 41956, S. 234–244. In den älteren Ausgaben (bis 51980, Studienausgabe) lautet der Titel des Kapitels: „Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen“. Ebenda, 2001, S. 169, bzw. 41956, S. 234. Ebenda, 2001, S. 168, bzw. 41956, S. 234. Ebenda, 2001, S. 174, bzw. 41956, S. 237. Als Max Weber in Deutschland wiederentdeckt wurde, zeigte der Historiker Wolfgang J. Mommsen (1930–2004) im Jahr 1959, dass der Mitbegründer der Soziologie zeitlebens ein überzeugter deutscher Nationalist gewesen sei, der nationale Machtstaatsvorstellungen vertreten und eine deutsch-völkische Kulturauffassung verfochten habe. Vgl. Wolfgang J. MOMMSEN, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. Dritte, verbesserte Auflage, Tübingen 2004, S. 37–72. Gregor Schöllgen, ebenfalls ein deutscher Historiker, kommentierte den Tonfall Webers in seiner Freiburger Antrittsvorlesung (1895) mit den Worten: „In nichts unterscheidet sich diese Analyse von den populären Rasse-
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Weber „für die Bildung ,ethnischen‘ Gemeinsamkeitsglaubens“ weiterhin so genannte „Rassenqualitäten“ in Betracht, die er zwar „nicht als positiv gemeinschaftsbildend“ bewertete, wohl aber als abgrenzende Kriterien („generell nur als Grenzen“).16 Die Ausbildung eines „,ethnischen‘ Gemeinsamkeitsgefühls“ und der „Nation“ beruhte für ihn zweifelsohne auf subjektiven Vorstellungen, allerdings bezweifelte er nicht, dass hierfür „rassenmäßige, durch Abstammungsgemeinschaft bedingte Momente eine Rolle spielen“ konnten.17 So schließe die Idee der „Nation“ und das „,ethnische‘ Gemeinsamkeitsgefühl“ die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft und von einer Wesensähnlichkeit (unbestimmten Inhalts) mitein. Die Abstammung sei zwar nicht ausreichend, aber auch nicht gleichgültig, denn „ethnisches Gemeinschaftsgefühl“ allein, so Weber, „macht noch keine ‚Nation‘“.18 Zweifelsohne stärker als die „Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft“ wirkten für ihn die durch „gemeinsame politische Schicksale“ geknüpften „Erinnerungsgemeinschaften“ in den „politischen Gemeinschaften“.19 In diesem Sinne zog Max Weber auch den Schluss, dass „hinter allen ‚ethnischen Gegensätzen‘ […] ganz naturgemäß irgendwie der Gedanke des ‚auserwählten Volks‘“ stünde.20 „Jedes Volk“, so schreibt der Gedächtnisforscher Assmann mit Bezugnahme auf Weber, „das sich als solches und im Gegensatz zu anderen Völkern sieht“, imaginiere sich „‚irgendwie‘ als auserwählt.“ Wenn aber Völker ihre Identität im Allgemeinen durch ethnische Gegensätzlichkeit stifteten, so sei Israel im Besonderen der ‚Verpflichtung‘ nachgekommen, seine Auserwähltheit zu bewahren. Es habe die Pflege der Erinnerungskultur als Auftrag verinnerlicht: „Aus dem Prinzip der Auserwähltheit“, schließt Assmann, „folgt das der Erinnerung.“ Israel habe sich als Volk unter dem Imperativ „Bewahre und Gedenke!“
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theorien der Zeit“. Vgl. das Kapitel ,„Last einer großen Nation.‘ Die Rassenlehre“, in: Gregor SCHÖLLGEN, Max Weber, München 1998 (Beck’sche Reihe 544), S. 105–114, hier S. 112. Vgl. Max WEBER, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede (Original 1921), in: DERS., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 51988 (UTB 1491), S. 1–25, und Fritz RINGER, Max Weber. An Intellectual Biography, Chicago–London 2004. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 2001, S. 179f. bzw. ebenda, 41956, S. 239. Was z.B. die „Intensität des Sexualverkehrs“ und die „Bildung von Konnubialgemeinschaften“ zwischen verschiedenen ethnischen Gemeinschaften betraf, waren für ihn noch die durch Abstammungsgemeinschaft bedingten Momente ausschlaggebend. Vgl. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 2001, S. 169, bzw. vgl. ebenda, 41956, S. 174f., S. 234, S. 237f. sowie den Abschnitt: „Machtprestige und Nationalgefühl“, in: WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 2001, S. 218–247, hier S. 242–244. Max WEBER, Machtprestige und Nationalgefühl, in: DERS., Wirtschaft und Gesellschaft, 2001, S. 243. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 2001, S. 200–217 [„Politische Gemeinschaften“], hier S. 206. Ebenda, 2001, S. 179, bzw. ebenda, 41956, S. 239.
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„konstituiert und kontinuiert“, um sich als „Prototyp der Nation“ zu kreieren.21 Im Volk Israel sah auch Sigmund Freud die einzige Gruppierung der Alten Welt, die ihre Identität über Jahrtausende zu bewahren vermocht habe. Die Ausbildung dieser Tradition erklärte er psychohistorisch. Freud zufolge verdankten sich jüdische Identität und Tradition der Dynamik eines „ideellen Moments“. (MM, S. 231) Dass der Monotheismus als Träger hierfür wirksam werden konnte, erklärte sich Freud durch einen Analogieschluss von der Individualpsyche auf die Gruppe, sah er doch in seinem Aufstieg Muster „der uns vertrauten neurotischen Symptome des Individuums“. (MM, S. 160) Spezifische Schockerfahrungen hätten zur Verletzung der ‚Wir-Identität‘ geführt, die sich nach Ablauf einer Zeitspanne – so wie im individuellen Trauma – in einer verspäteten Wirkung manifestierte. Wie im Zustand der traumatischen Individualneurose das Verdrängte zwanghaft wiederkehre, so sei im Judentum die Imagination der Vaterfigur, der Monotheismus, als identitätsstiftendes Moment zurückgekehrt. Die Ausbildung einer jüdischen Identität sei daher weder auf erblich-biologische Veranlagung (‚Blutsverwandtschaft‘) noch auf Erfindung, sondern auf eine besondere Form der „historischen Wahrheit“ zurückzuführen: auf die (angebliche) Tötung der Stifterfigur Moses durch sein Volk und die mit ihr verknüpfte traditionsstiftende traumatische Erfahrung. In dieser Konstruktion entdeckte Freud die Ursache dafür, dass der mosaische Monotheismus nach einer Zeit, in der er lediglich latent weitergewirkt habe, mit zwingender Macht wieder aufgelebt sei und sich – der Ätiologie traumatischer Neurosen vergleichbar – bis in die Gegenwart erhalten habe. Mit Hilfe dieser unglaublichen Theorie erklärte Freud, wie der „Mann Moses“ zu dem werden konnte, wofür er ihn hielt, nämlich zum „Schöpfer des jüdischen Volkes“ (MM, S. 208). Während sich Freud von der Wahrheit seiner Vorannahmen noch überzeugt gab, können diese im Folgenden nicht weiter verteidigt werden. Stattdessen soll die Funktion, die er mit seiner ‚Geschichte‘ anvisierte, in den Mittelpunkt gerückt werden. Sie lässt sich als vehemente Intervention in die prekären Vorgänge national-völkischer Selbstvergewisserung im zwischenkriegszeitlichen Zentraleuropa begreifen, deren Wortführer „das jüdische Volkstum“ durch „Blut – Rasse – Volk“ konstituiert sahen.22 Freud wehrte sich jedoch nicht nur gegen sozialbiologische Interpretationen des ‚Ethnischen‘, er interessierte sich wohl auch nicht für den das ‚nation-building‘ seiner Zeit bestimmenden Kulturbegriff als Trägermedium von Überlieferungsvorgängen und kollektiver Identität. Zeittypisch verstand man Kultur als in der ‚Volksseele‘ verwurzelt. Die Vorstellung nicht übersetzbarer, sich ausschließender, vereinheitlichter ‚Kulturkrei21 22
Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München 31999 (Original 1992), S. 30f. Wilhelm SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, in: Clemens HOLZMEISTER (Hg.), Kirche im Kampf, hg. im Auftrage der Katholischen Aktion, Hauptstelle Kunst und Wissenschaft, Innsbruck–Wien 1936, S. 43–81.
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se‘ war ihm daher ebenfalls zutiefst verdächtig; was nicht verwundert, wurde doch der Kulturbegriff von nationalen Aktivisten verwendet, um für sich jene Vorrechte zu reklamieren, die sie anderen verweigerten. Auf die unheilvollen soziokulturellen Dynamiken, denen die Vorstellung einer vererbbaren kulturellen Tradition Vorschub leistete, antwortete Freud sonach mit einer Theorie, nach der die jahrtausendealte jüdische Identität auf einer spezifischen psychischen Bewegung beruhte. Dabei verknüpfte er das „Auserwähltheitsnarrativ“ (Jan Assmann) mit dem Aspekt der „Vergeistigung“, die das Volk der Juden verbunden und vor Identitätsverlust bewahrt habe. Hiermit bot er in den 1930er-Jahren eine Alternative zur rastlosen Suche nach nationalkulturellen, ethnogenetischen und soziobiologischen Ursprüngen auf. Sein Ziel bestand darin, die spaltende Wirkmacht der mit Wertungen verknüpften Unterscheidung zwischen ‚Wir‘- und ‚Ihr-Gruppe‘ zu verringern. Der Mann Moses erregte aber auch deshalb großen Anstoß, weil Freud damit vorherrschende Traditionsvorstellungen unterwanderte. Was ihn zu dem letztgenannten Perspektivenwechsel motivierte, lässt sich vorerst nur vermuten: nämlich, dass es sein Unbehagen an der neuen, seit dem Zusammenbruch der Monarchie verstärkt ‚nationalisierten‘ Vorstellung von Kultur war, das ihn den Traditionsbegriff und das, was später als ‚Identität‘ bezeichnet werden sollte, auf völlig neue Grundlagen stellen ließ. Stimmt diese Annahme, so thematisierte Freud eine Problematik, deren Tragweite in den Zeiten schwieriger Selbstfindungsprozesse erst vollends sichtbar wird. Auf diesen Zusammenhang verweist insbesondere Jan Assmann, der auf seiner Suche nach Anzeichen für eine Aufhebung der so genannten „Mosaischen Unterscheidung“ auf Sigmund Freud gestoßen war. Allerdings wurde seine Interpretation mit heftiger Kritik bedacht. Wird die Perspektive leicht verschoben, so kann der Blick auf weitere gedächtnisrelevante Aspekte des Mann Moses, die der Heidelberger Ägyptologe weniger im Auge hatte, geschärft werden. Hierfür werden u.a. auch die Arbeiten von Yosef H. Yerushalmi, Jacques Derrida, Richard J. Bernstein, Jacques Le Rider und Edward Said zentrale Anknüpfungspunkte darstellen. 5.1.1 Die Mosaische Unterscheidung Jan Assmann, einer der führenden Ägyptologen der Gegenwart, prägte in seinem Buch Moses der Ägypter (1997/1998) den Begriff der „Mosaischen Unterscheidung“.23 Mit ihm nimmt er auf eine kulturelle Differenz im israelisch-ägyptischen Verhältnis Bezug, nämlich auf die mit der Mosesfigur verknüpfte Vorstellung eines unaufhebbaren Gegensatzes zwischen mosaischem Judentum und ägyptischer Vielgötterei. Kurz zusammengefasst lautet seine These zum „Mosesdiskurs“ – der „rekonstruktiven Imagination“ des Moses – wie folgt: Da zwischen den Göttern im Hinblick auf ihre Funktion in den verschiedenen Kulturen noch Ähnlichkeiten bestanden, habe der Po-
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ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 17–23.
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lytheismus der Alten Welt über Techniken wechselseitiger interkultureller Übersetzbarkeit verfügt. So sehr sich die jeweiligen Kulturen auch voneinander unterschieden, so verbindend wirkte die „funktionale Äquivalenz“ ihrer Gottheiten. Da im Polytheismus die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit keine Rolle gespielt habe, begreift ihn Assmann als ein Vehikel, das Toleranz vermitteln konnte. Der ägyptische Pharao Ikhnaton sei der Erste gewesen,24 der einen Monotheismus im Zeichen der Wahrheit gestiftet und andere Götter, das Vorhergehende, als unwahr verworfen habe.25 Im Ägypten des 14. Jahrhunderts v. Chr. habe man damit erstmals zwischen einer ‚wahren‘ und einer ‚unwahren‘ Religion unterschieden.26 Doch sei mit der Ausschließlichkeit der Verehrung eines einzigen, universalen Gottes und der Abschaffung der anderen Götter und Kulte zwangsläufig das Moment interkultureller Übersetzbarkeit aufgegeben worden. Assmann tritt hier in die Tradition einer Monotheismuskritik, von der u.a. David Hume (1711–1776), Arthur Schopenhauer (1788–1860) und Friedrich Nietzsche (1844–1900) Zeugnisse ablegten.27 Der exklusive Wahrheitsanspruch des Einen habe zu einer neuen Form bzw. Logik der Unterscheidung geführt, die von Assmann als die „mosaische“ bezeichnet wird: „Der jüdische, christliche und islamische Begriff des Einen ist exklusiv, er leugnet die anderen Götter. Der Begriff von Einheit, mit dem wir es in Ägypten und in der Isis-Religion zu tun haben, ist inklusiv, er umfaßt die anderen Götter.“28 Die u.a. im mosaischen Monotheismus wirksam werdende Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit sieht Assmann im ägyptischen Monotheismus vorgezeichnet: Wurde die Wahrheit mit der Anerkennung eines einzigen Gottes verknüpft, so wäre die Unwahrheit vom ikhnatonischen und mosaischen Monotheismus auf schärfste Weise bekämpft worden.29 Trotz allem unterschieden sich Assmann zufolge diese beiden Monotheismen gravierend: Im Gegensatz zu Ikhnatons Gott, der das Sein allein auf das Wirken der Sonne zurückführte, habe sich der mosaische Gott nicht mit der Anerkennung von Leben, Licht und Zeit zufrieden gegeben; vielmehr habe er dem von ihm auserwählten Volk Gesetze, eine Verfassung sowie eine politische Ordnung vermacht, ihm im Gegenzug aber Liebe, Treue und Gehorsam abverlangt.30 Hätten Ikhnatons Ägypter andere Götter verehrt, so wären sie einem Irrtum aufgesessen: Allein die Sonne spendete Licht. Wäre aber das Volk Israel von dem Einen abtrünnig geworden, so
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Freud verwendete anstatt Echnaton die Schreibweise „Ikhnaton“, die hier beibehalten wird. Vgl. Jan ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München–Wien 1996, S. 243–248, hier S. 246. Vgl. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 50 und S. 56f. Vgl. Bernhard LANG, Monotheismus, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Band IV, Stuttgart–Berlin–Köln 1998, S. 148–165, hier S. 159. ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, S. 467. Vgl. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 268. Vgl. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 57f.
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wäre dieses vertragsbrüchig geworden. Der ikhnatonische Monotheismus sei in seiner Ausrichtung kosmotheistisch und kognitiv gewesen, der biblische transzendental und im Kern politisch, sodass zwischen der „PhysikoTheologie“ Ikhnatons und der „politischen Theologie“ des Moses Welten gelegen haben.31 In den Augen Jan Assmanns berührte Sigmund Freud den entscheidenden Punkt der „Mosaischen Unterscheidung“. Die von Moses, dem Stifter eines exklusiven Monotheismus, getroffene Differenz sei durch die Semantik der Sünde untermauert worden. Sünde und Vergebung seien keine ägyptischen Themen gewesen.32 Erst mit der „Mosaischen Unterscheidung“ habe sich eine Welt geöffnet, in der sehnsüchtig nach Erlösung begehrt worden wäre: „Die ägyptische Religion gründet nicht auf schlechtem Gewissen; was ein Mensch an Schuld im Laufe seines Lebens auf sich lädt, wird ihm im Totengericht wieder abgenommen, so daß er im Zustand der Reinheit ins Jenseits eingehen kann.“33 Assmann zufolge ergibt sich der neue Begriff der Sünde aus dem Bruch des mit dem einzigen Gott geschlossenen Bündnisses durch das Volk: Sünde hieße demnach, untreu zu werden, was sich im Tanz um das Goldene Kalb versinnbildlichte.34 Das neue monotheistische GottMensch-Verhältnis sei gekennzeichnet durch ein Entweder-oder: entweder Treue oder Abfall. Assmann spricht bewusst von „Mosaischer“ und nicht von „Ikhnatonischer Unterscheidung“. Denn, was der Pharao Ikhnaton nicht wurde, das sei der historisch nicht nachweisbare Moses unzweifelhaft geworden – eine biblisch kodifizierte Erinnerungsfigur35 und ein Symbol einer revolutionären historischen Wende: Im Unterschied zur Atonreligion habe der machtvolle prophetische Monotheismus Ausgrenzungen hervorgerufen. In dieser „Mosaischen Unterscheidung“ sieht Assmann nicht ein „die Welt ein für allemal veränderndes historisches Ereignis“, er erblickt in ihr vielmehr „eine regulative Idee“, „die ihre weltverändernde Wirkung über Jahrhunderte und Jahrtausende hin in Schüben entfaltet“ habe.36 Die Unterscheidung sei immer neu getroffen worden, sie habe sich aber auch zusehends verschoben: Zunächst habe sie zwei Völker – Ägypten und Israel – (Bilderverehrung und Bilderverbot) voneinander getrennt, später habe die Spaltung dieselbe Kultur getroffen, um sich schließlich mit Sigmund Freud in die Topologie des Seelenlebens zu verlagern.37
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ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, S. 245–248, und DERS., Archäologie und Psychoanalyse. Zum Einfluß Freuds auf die Kultur- und Religionswissenschaft, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 60, 9/10(2006a) [Sonderheft: Sigmund Freud. Zum Zeitgemäßen eines unzeitgemäßen Denkens. Oder: Wider das Veralten], S. 1040–1053, hier S. 1046. Vgl. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 281. Ebenda. Vgl. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 157. Vgl. ebenda, S. 29. Ebenda, S. 13. Vgl. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 277.
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Da sich durch die „Mosaische Unterscheidung“ der Hass auf Heiden, – Häresien und das, was sich als Unwahres denunzieren, ausgrenzen und verfolgen ließ –, verbreitet habe, habe der Monotheismus die interkulturelle Kluft vertieft. Assmann sieht im mosaischen Monotheismus eine „explizite Gegenreligion“,38 die zu ihrer Selbstdefinition eines abwertenden Bildes vom Anderen bedurfte. Moses habe diese „antiägyptische“ Religion gestiftet und in ihr diese Unterscheidung eingeführt, die von der verschriftlichten Tradition vertieft worden und ständig in neuen, kleinteiligeren Spaltungen wiedergekehrt sei: von jener zwischen „Juden und gojim, Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen“, bis hin zu „Katholiken und Protestanten“, sodann jener zwischen „Lutheranern und Calvinisten“ usw.39 Mittels dieser Unterscheidungen habe sich nicht nur eine Welt voller Sinn, Identität und Orientierung, sondern auch voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt konstituiert. Die Unterscheidung habe sich in das monotheistische Seelenleben der Juden, Christen und Muslime eingeprägt und eine neue Logik von Inklusion und Exklusion hervorgerufen.40 Habe sich das Judentum durch die Verinnerlichung der Unterscheidung durch Moses von den Völkern selbst ausgegrenzt, so habe sich das Christentum diesen zunächst geöffnet, um aber bald jene Andersgläubigen, die sein Angebot ausschlugen, auszugrenzen oder – wie den Heiden – sein Konzept aufzuzwingen. Eine ähnliche Dynamik zeige sich auch im Islam. Assmann, der seine These von der „Mosaischen Unterscheidung“ nicht auf die historische Wirklichkeit Israels, sondern auf den im Alten Testament verankerten Monotheismus bezogen hatte, stand mit ihr bald im Kreuzfeuer der Kritik. Die einen bezichtigten ihn der Intoleranz, weil er dem biblischen Monotheismus eine nicht nachweisbare Ausgrenzung unterstellt habe,41 andere warfen ihm vor, die „Mosaische Unterscheidung“ aufheben zu wollen, um zu dem vermeintlich toleranteren polytheistischen System zurückzukehren. Im Jahr 2003 verdeutlichte Assmann in seiner Monografie Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, in der er auch mehrere Kritiker zu Wort kommen ließ, seinen Standpunkt dahingehend, dass er den Monotheismus nicht verwerfen, wohl aber auf seinen hohen Preis verweisen wollte. 5.1.2 Zur Entzifferung einer Gedächtnisspur In seiner Studie Moses der Ägypter nahm Jan Assmann im Besonderen auf die lange Tradition jener Gedächtnisspur Bezug, der zufolge Moses aus Ägypten abstammte. Der Gedächtnisforscher spürte Schriftsteller des
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ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 268f., und vgl. die Kritik des Alttestamentlers Rolf RENDTORFF, Ägypten und die „Mosaische Unterscheidung“, in: ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 193–207, hier S. 198f. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 17. Vgl. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 163. Vgl. RENDTORFF, Ägypten und die „Mosaische Unterscheidung“, S. 204.
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17. und 18. Jahrhunderts wie Ralph Cudworth (1617–1688), John Spencer (1630–1693), John Toland (1670–1722), William Warburton (1698–1779), Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Carl Leonhard Reinhold (1757– 1823) und Friedrich Schiller (1759–1805) auf, die die „Mosaische Unterscheidung“ zwischen Wahrheit und Unwahrheit angegriffen hatten, um den Antagonismus zwischen Ägypten und Israel zu überwinden und der Verunglimpfung Ägyptens entgegenzuwirken, kurz: „Ägypten von der Seite des Irrtums auf die Seite der Wahrheit herüberzuholen.“42 Sie hätten diese These vertreten, da sie seit dem 17. Jahrhundert „den ‚unsterblichen‘, der monotheistischen Idee als solcher eingeschriebenen Haß auf andere Religionen dadurch zu entschärfen suchten, daß sie Moses zu einem Ägypter machten.“43 Assmann spezifiziert: „Da die antagonistische Konstellation von Israel und Ägypten diese Unterscheidung in Form der Exodus-Erzählung symbolisierte, arbeitete die von Spencer zu Schiller fortschreitende Ägyptisierung der Moses-Gestalt darauf hin, die grundlegenden Unterscheidungen zu verwischen.“44 In diese aufklärerische Tradition der Aufhebung von konfliktuösen Unterscheidungen zugunsten von Toleranzmodellen ordnete Assmann auch Sigmund Freud ein. Da dieser Moses als einen Ägypter gezeichnet hatte, sah der Ägyptologe mit ihm diese Tradition vollendet. Freud habe sich als „der entschiedenste Zerstörer der Mosaischen Unterscheidung“ profiliert.45 Auch andere Autoren bezeugten die Rückgriffe des Psychoanalytikers auf die Aufklärung: „Sigmund Freud war ein loyaler Sohn der Aufklärung“, schrieb Peter Gay, der ihn auf der Grundlage vieler Selbstaussagen als Atheisten porträtierte, „und ihr letzter ‚philosophe‘“.46 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Sigmund Freud – so scheint es – sich nicht vollends darüber bewusst war, dass er sich mit der ‚Moses-der-Ägypter-These‘ in eine gefährliche Tradition gestellt hatte: Er
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ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 217, und vgl. DERS., Ägypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 17. und 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 264, 3(1997), S. 561–585. Jan ASSMANN, Tagtraumdeutung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.7.1999, S. 48. Ebenda. Die deutsche Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges zeichnete zuletzt ein ambivalenteres Bild von der Aufklärung: Aus ihrer Sicht auf Kant, Fichte und Hegel war der Aufruf zu Toleranz und Überwindung der Unmündigkeit und Ungleichheit mit neuen Vorstellungen der Ungleichwertigkeit verknüpft. Diese artikulierten sich u.a. in einem Antijudaismus, der zwischen dem Ausschluss und der Zwangsassimilation der Juden lavierte. Vgl. Gudrun HENTGES, Die Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Ts. 1999. Vgl. auch Micha BRUMLIK, Deutscher Geist und Judenhaß. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum, München 2000, und Shulamit VOLKOV, Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 22. Peter GAY, ‚Ein gottloser Jude‘. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1988, S. 48–80, hier S. 52.
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wusste zwar, dass schon viele vor ihm diese These vertreten hatten, jedoch „jedesmal ohne den Schatten eines Beweises.“47 Dass allerdings auch Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) in der Mosesfigur nicht einen Angehörigen Judas, sondern einen Josephiten oder „unsemitischen Ägypter“ identifiziert hatte,48 war Freud erst vor der Veröffentlichung des Mann Moses als Monografie klar geworden. Das belegt der Brief an Yisrael Doryon vom 7. Oktober 1938: „Voriges Jahr, als sie [die kleine Abhandlung „Moses ein Ägypter“ in der Zeitschrift Psyche, J.F.] bereits gedruckt vorlag, fand ich zu meiner Überraschung dieselbe Aufstellung in den berüchtigten Grundlagen des XIX. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain.“49 Der anglo-deutsche Verfasser dieser antisemitischen Schrift hatte Moses in diametraler Abkehr von den Anliegen der Aufklärung zum Josephiten oder Ägypter erklärt, mit dem Ziel, so Jacques Le Rider, „das Judentum seiner beachtlichen kulturellen Leistungen zu berauben, um diese einem anderen, in den Augen eines Antisemiten weniger unwürdigen Volk zuzuschreiben.“50 Die These vom „Ägypter Moses“ hatten außer Chamberlain noch andere Vordenker des radikalen Antisemitismus vertreten. Schließlich war die ägyptische Abkunft des jüdischen Religionsstifters schon seit der von Manethôs im dritten vorchristlichen Jahrhundert verfassten Geschichte Ägyptens immer wieder von judenfeindlichen Autoren aufgeworfen worden. Was im 18. Jahrhundert einen aufklärerischen Zweck erfüllt haben mochte, war im ausgehenden 19. Jahrhundert sonach zu einem „Gemeinplatz des Antisemitismus“ geworden.51 Im 20. Jahrhundert sollte dadurch Missverständnissen Tür und Tor geöffnet werden. Das zentrale Verdienst Assmanns besteht darin, in seinen Arbeiten zu ‚Moses den Ägypter‘ gezeigt zu haben, dass die erinnerte Vergangenheit jeweils Teil einer aktuellen, gegenwartsbezogenen Semantik ist. Der Heidelberger Ägyptologe hat nicht „die Vergangenheit als solche“ im Blick, sondern die „Vergangenheit, wie sie erinnert wird.“ Sie werde von der Gegenwart „rekonstruiert, modelliert und unter Umständen auch erfunden.“52 Durch seine Erkenntnis, dass Der Mann Moses mehr Licht auf die „kulturelle Semantik“ der 1930er-Jahre als auf eine historische Wirklichkeit des Al-
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Sigmund Freud an Yisrael Doryon, 7.10.1938, in: Sigmund FREUD, Gesammelte Werke. Nachtragsband. Texte aus den Jahren 1885–1938, hg. von Angela Richards unter Mitwirkung von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt am Main 1999, S. 786–788, hier S. 787. Houston Stewart CHAMBERLAIN, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1899, S. 495. Sigmund Freud an Yisrael Doryon, 7.10.1938, in: FREUD, Gesammelte Werke. Nachtragsband, S. 787. LE RIDER, Das Ende der Illusion, S. 330. Ebenda. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 27.
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tertums werfen würde,53 hat dieser deutsche Gedächtnisforscher der historisch-kulturwissenschaftlichen Analyse eine neue Tiefendimension eröffnet. Wird das Spätwerk Freuds aber aus diesem Blickwinkel studiert, so ergeben sich – speziell durch die von Assmann neu fokussierte ‚Moses-der-ÄgypterDebatte‘ der Aufklärung – viele neue Aspekte. Das Augenmerk richtet sich darauf, wie etwas erinnert wird, bzw. was der Zweck und die Funktion einer spezifischen Tradierung war und ist, kurz: was sie fundiert oder (noch schärfer) legitimiert bzw. umgekehrt, was sie delegitimiert. Aus dieser funktionalen Perspektive wird in dieser Arbeit Freuds Alterswerk im Hinblick auf prekäre Identitätsfindungsprozesse zu seiner Zeit analysiert.
5.2 S IGMUND F REUDS M ANN M OSES . D IAGNOSE , T HERAPIE UND K RITIK Mit der Ausgangsfrage, „Was haben wir davon, wenn wir den jüdischen Monotheismus vom ägyptischen ableiten?“ (MM, S. 169), verwies Sigmund Freud auf das Ziel, das er mit seiner Mann-Moses-Schrift verfolgte, nämlich durch Aufklärung des „Charakter[s] des Judentums“ und seines Herzstücks – des Monotheismus – die „tieferen Motive des Judenhasses“ (MM, S. 197) aufzudecken. Zu diesem Zweck erzählte er eine Geschichte, die seiner Ansicht nach zwar auf „tönernen Füßen“ (MM, S. 114) stehe, zugleich aber vielversprechende Ansätze einer ‚Therapie‘ zur Verringerung des Antisemitismus aufzeige. Ihr Kernstück war – wie erwähnt – die Verkehrung des „Mannes Moses“ in sein „Gegenteil“, einen Ägypter. Die Bewusstwerdung, die Freud seiner weiten Leserschaft mit diesem Akt der Umkehrung abverlangte, zielte m. E. auf die Auflösung dessen, was Assmann später in Bezug auf die spaltende Wirkkraft des Monotheismus als „Mosaische Unterscheidung“ bezeichnen sollte, nämlich auf die Verschiebung des durch die Bibel kodifizierten pejorativen Bildes vom Anderen in einen neuen Rahmen. Der von Freud aufgezeigte Perspektivenwechsel traf viele Zeitgenossen ins Mark, forderte er doch nicht weniger als die Überwindung zentraler Aspekte der vorherrschenden Vorstellung dessen, was Identität im Allgemeinen, eine jüdische aber im Besonderen sei; – und das zu einer Zeit, als das europäische Judentum schon massiver Verfolgung ausgesetzt war. 5.2.1 Diagnose Um das komplizierte Verhältnis von ‚Wir‘- und ‚Ihr-Gruppe‘ – uns und den Anderen – auf elaborierter theoretischer Stufe neu zu durchdenken, griff Freud auf die Art der Ausbildung der jüdischen Tradition zurück. Der sprin-
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Vgl. Jan ASSMANN, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München–Wien 2000, S. 248, und DERS., Ägypten. Eine Sinngeschichte, 1996.
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gende Punkt seiner Diagnose ist, dass er das Judentum dafür würdigte, in keiner ‚ethnisch-nationalen‘ Tradition verwurzelt zu sein.54 Die Titelwahl für sein Buch allein gibt Aufschluss, wer bzw. was Freud zufolge für die Ausbildung der jüdischen Identität verantwortlich war: „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“. Stimmt diese Annahme, so würdigte Freud die verbindende Kraft einer Religion, um zum vorherrschenden Modell völkischer, ethnisch-nationaler oder kultureller Identitätsfindung eine Alternative aufzubieten; und zwar in der Hoffnung, durch die Offenlegung einer verstellten Sicht auf das ‚Eigene‘ bzw. ‚Fremde‘ ein maßgebliches Motiv des mörderischen Antisemitismus, der bald nach seinem Tod in die Shoa münden sollte, von innen her zerfallen zu lassen. Freud wäre allerdings vollkommen missverstanden, würde dieses Argument gegen die Juden gewendet und ihnen die Schuld am Antisemitismus zugewiesen und angelastet werden. Die monotheistische Tradition des Judentums lieferte ihm lediglich das überzeugendste (und annehmbarste) Beispiel für einen Kontrapunkt zu den zerstörerischen Selbstvergewisserungsdynamiken seiner Zeit. Freud verfiel allerdings nicht der Illusion, den irrationalen Antisemitismus durch kognitive Aufklärung seiner Ursachen überwinden zu können. Hierfür bedurfte es vielmehr performativer Handlungen, denen er seine psychohistorische Analyse – den Mann Moses – vorausschickte. In seinem letzten Buch, das Freud als über Achtzigjähriger vollendete, wählte er zur Bestimmung der Spezifika jüdischer Identität einen ungewöhnlichen Weg, der ihn auf die Anfänge des Monotheismus zurückführte. Er widmete sich einer Vielzahl von Themen, die er in der dritten Abhandlung seiner Mann-Moses-Schrift untersuchte, und zwar: „Die historische Voraussetzung“, „Latenzzeit und Tradition“, „Die Analogie“, „Anwendung“, „Schwierigkeiten“. Nach einer Zusammenfassung und Wiederholung wandte er sich weiteren neuen Themenbereichen zu: „Das Volk Israel“, „Der große Mann“, „Der Fortschritt in der Geistigkeit“, „Triebverzicht“, „Der Wahrheitsgehalt der Religion“, „Die Wiederkehr des Verdrängten“, „Die historische Wahrheit“, „Die geschichtliche Entwicklung“. Zunächst traf Freud zwei riskante Annahmen: Zum einen wäre der jüdische Religionsstifter Moses kein Jude, sondern Ägypter und Anhänger des Pharao Ikhnaton gewesen. Um das Vermächtnis Ikhnatons zu bewahren, hätte Moses einen in Ägypten weilenden, unterdrückten semitischen Stamm zum Monotheismus bekehrt, ihn aus der Sklaverei geführt und ihm den Stempel der Vergeistigung aufgeprägt. Zum anderen traf Freud die Annah-
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Darauf haben zuletzt auch Jacques Le Rider, Sander Gilman und Wolf-Daniel Hartwich Bezug genommen. Vgl. Jacques LE RIDER, Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, Wien 2004. Sander L. GILMAN, Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt am Main 1994 [Original: DERS., Freud, Race, and Gender, Princeton 1993]. DERS., Freud et les concepts de Race et de Sexe, in: Revue germanique internationale 5 (1996), S. 99–122. Wolf-Daniel HARTWICH, Die Sendung Moses. Von der Aufklärung bis Thomas Mann, München 1997.
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me, dass der „Mann Moses“ von seinem Volk ermordet worden wäre, weil es den hohen Ansprüchen seines Stifters nicht gewachsen gewesen wäre. Aus diesen Grundannahmen folgerte er, „wie der Jude den ihm eigentümlichen Charakter erworben hat“: „Ich war überrascht“, schrieb Freud, „zu finden, daß schon das erste, sozusagen embryonale Erlebnis des Volkes, der Einfluß des Mannes Moses und der Auszug aus Ägypten, die ganze weitere Entwicklung bis auf den heutigen Tag festgelegt hat – wie ein richtiges frühkindliches Trauma in der Geschichte des neurotischen Individuums.“55 5.2.2 Therapie In der auf Christus verschobenen ‚Vatermordthese‘ sah Sigmund Freud eine wesentliche Voraussetzung, um der Ausbildung der jüdischen Tradition sowie des Hasses, den die Juden auf sich gezogen hatten, auf den Grund zu gehen. Die ‚Moses-der-Ägypter-These‘ wies ihm den Weg, auf dem er der leisen Stimme der Vernunft vielleicht doch Gehör verschaffen konnte: Mit Hilfe dieser beiden verblüffenden Vorannahmen definierte Freud die Juden als Teil des jeweils Anderen: durch die erste verband er sie mit den Christen, durch die zweite mit den Ägyptern. Mit den ersten Worten seiner MannMoses-Schrift formulierte er sein Programm, von dem er sich eine Verringerung des Antisemitismus erhoffte. Darin griff er die biblische Mosesfigur auf, um „einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt.“ (MM, S. 103) Der Jude, so Freud, sei eine Schöpfung des „Mannes Moses“, der von jenem jüdischen Volk verschieden war, das in ihm „den Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter“ sah. (MM, S. 103)56 Diesen Akt der Aberkennung vollzog Freud zwar nicht „gern oder leichthin“, „zumal“, wie er schrieb, „wenn man selbst diesem Volke angehört.“ In Anbetracht dessen, dass die Wahrheit nicht zugunsten „vermeintlicher nationaler Interessen“ verdeckt werden dürfe (MM, S. 103), führte für ihn allerdings kein Weg an der Zurückweisung trügerischer Authentisierungsprozesse vorbei. Sie manifestierten sich in den zu seiner Zeit vorherrschenden Nations-, Ethnie- oder Rassenkonzepten, die in Zentraleuropa bald Ausgrenzung und Unterdrückung, bald Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung heraufbeschwören sollten. Das Judentum gab für ihn das eindrucksvollste Beispiel dafür ab, dass sich Tradition anderer Momente verdankte als des Zerrbildes nationaler, ethnischer oder rassischer Authentizität. Die ‚Moses-der-Ägypter‘- und die ‚Moses-Mord-These‘ stellten für ihn sonach Mittel dar, durch Anerkennung der ‚shared histories‘ und der Schuld am Vatermord scharfe Abgrenzungsvorgänge in Bezug auf das jeweils An-
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Sigmund FREUD, Tagebuch 1929–1939. Kürzeste Chronik, hg. und eingeleitet von Michael Molnar. Übersetzt ins Deutsche von Christfried Tögel, Basel– Frankfurt am Main 1996, S. 391. Zu Moses vgl. auch Lexikon für Theologie und Kirche. Sonderausgabe, hg. von Walter Kasper. Band 7, Freiburg–Basel–Wien 32006, S. 486–492.
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dere zu hinterfragen, um eine neue, reflektierte Sicht auf das ‚Eigene‘ und ‚Fremde‘ wiederzugewinnen; ethnisch-kulturelle Selbstvergewisserungsprozesse hatten sie verstellt. Die Hypothese, die hier formuliert wird, lautet, dass Freud die offensive Mahnung, dass der mosaische Monotheismus ägyptischen Ursprungs war, aussprach, um Wege aufzuzeigen, auf denen das überwunden werden konnte, was der Kultur seiner Zeit den Stempel aufgeprägt hatte. Das Kulturelle war zu einem Vehikel prekärer Identitätsfindung geworden, das Selbstaufwertungen mit der Abwertung anderer verknüpfte und tiefe, scheinbar unüberbrückbare Klüfte hinterließ. Vor dem Hintergrund, dass die Mosesfigur in der Zeit der Aufklärung noch als überragende Vermittlergestalt gezeichnet worden war, ist Jan Assmanns These, dass der ‚Spätaufklärer‘ Freud diese Tradition wieder zu beleben versuchte, nicht von der Hand zu weisen: „Moses der Hebräer verkörpert [als „Figur der Erinnerung“] die Konfrontation und den Antagonismus zwischen Israel/Wahrheit und Ägypten/Unwahrheit, Moses der Ägypter dagegen vermittelt diese Gegensätze.“57 Wenn die „Ableugnung der jüdisch-nationalen Sagengeschichte“58 ein Anliegen Sigmund Freuds war, so hatte er noch kein Mittel „der historischen Beglaubigung“ seiner These gefunden. Da er sich nicht imstande sah, „für die Zuverlässigkeit seiner Annahmen einzustehen“, zauderte er eine Zeitlang, den Text zu veröffentlichen.59 1939 war die Zeit reif, sein Buch, von dem er annahm, dass es ebenso viel Aufsehen wie Ärger erregen würde, der Öffentlichkeit vorzustellen. 5.2.3 Kritik Bald nach dem Erscheinen der Mann-Moses-Monografie wurde Freud – wie er vorausgesehen hatte – Opfer heftiger Anfeindungen: „Der ‚Moses‘ ist weit vulnerabler“ als die „Traumdeutung“, schrieb er im März 1939 seinem Vertrauten Max Eitingon (1881–1943), „und ich bin auf den jüdischen Ansturm gegen ihn vorbereitet.“60 Viele Kritiker sahen in der These, dass das
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ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 29. Sigmund Freud an Ernest Jones, 3. März 1936, in: Briefwechsel Sigmund Freud. Ernest Jones 1908–1939. Originalwortlaut der in Deutsch verfaßten Briefe Freuds. Transkription und editorische Bearbeitung von Ingeborg MeyerPalmedo. Band 2, Frankfurt am Main 1993, S. 101. Ebenda. Sigmund Freud an Max Eitingon, 5.3.1939, in: Sigmund Freud. Max Eitingon. Briefwechsel 1906–1939. Band 2, hg. von Michael Schröter, Tübingen 2004 (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Psychoanalyse 1/2), S. 921. Am 24. Jänner 1939 berichtete Freud Margaret Stonborough, der Schwester Ludwig Wittgensteins, mit der er freundschaftlich verbunden war, in einem Brief aus seinem Londoner Exil, dass die im Februar selben Jahres bevorstehende Veröffentlichung von Moses and Monotheism ihn „alle Sympathien in der neuen Heimat kosten“ werde. Dieser Brief wurde von Gerhard Fichtner veröffentlicht, in: DERS., ‚Aus Dalles Weißbrod‘. Ein Brief Freuds an Marga-
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mosaische Gesetz indirekt auf einen ägyptischen Pharao zurückzuführen sei, einen offenen Angriff. Häufig wurde sie lediglich mit Verwunderung aufgenommen, mitunter auch als unerheblich verworfen. Zumeist jedoch rief Der Mann Moses mächtiges Befremden hervor. So verglich der polnischamerikanische Historiker Salo W. Baron (1895–1989) das Buch mit einem „prächtigen Luftschloss“ („magnificent castle in the air“):61 „In short, the cause of psychoanalytical interpretation of the history of religion, brilliantly initiated by Freud and his disciples several decades ago, seems to the present reviewer to have received a setback rather than to have made further progress through its present application to the historic career of Moses.“62 Dieses Urteil aus dem Jahr 1939 sollte für die weiteren Auslegungen richtungsweisend werden, was dazu führte, dass die Perspektivenvielfalt dieses Werks eine Zeitlang vollends aus dem Blick geriet. Der Schock saß tief, als die unbequeme Schrift erschien. Das Buch verstörte Laien ebenso wie Wissenschaftler. So mancher sah im Mann Moses ein Zeugnis des ‚jüdischen Selbsthasses‘, da sein Verfasser den Juden ihren Anführer geraubt habe, um ihnen bzw. sich einen Schlag zu versetzen.63 Jüngere Kritiker wiederum entdeckten darin eine Art „Tagtraum“, „zustandegekommen unter traumatischen Bedingungen extremer Not“, in dem Freud zum letzten Mal seine jüdische Identität in Frage gestellt habe.64 Für Dritte war Freuds Mosesschrift nur noch als ein psychologisches Dokument seiner selbst zu retten: „Rejected by historians and anthropologists alike, its psycho-Lamarckian assumptions in utter disrepute, for some time now it has seemed that the only way to salvage the book is to treat it primarily as a psychological document of Freud's inner life.“65 Andere versuchten wieder, die Juden von der angeblichen Schuld am Mosesmord reinzuwaschen.66 Auch wurde die Auffassung vertre ten, dass Freud auf eine Linderung des Antisemitismus gehofft haben könn-
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ret Stonborough-Wittgenstein aus dem Jahr 1939, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 50 (2005), S. 234–242, hier S. 237f. Salo Wittmayer BARON, Review. Moses and Monotheism, in: American Journal of Sociology 45 (1939–1940), S. 471–477, hier S. 477. Ebenda, S. 476. Vgl. die Wiedergabe der Grundzüge der Kritik durch JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 430–436, und BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 14f. GRUBRICH-SIMITIS, Freuds Moses-Studie als Tagtraum, S. 26. Yosef Hayim YERUSHALMI, Freud on the ‚Historical Novel‘: From the Manuscript Draft (1934) of Moses and Monotheism, in: International Journal of Psycho-Analysis 70 (1989), S. 375–394, hier S. 375. Vgl. Philippe LACOUE-LABARTHE, Jean-Luc NANCY, Le peuple juif ne rêve pas, in: Adélie RASSIAL, Jean-Jacques RASSIAL (Hg.), La psychanalyse est-elle une histoire juive?, Paris 1981, S. 57–92, hier S. 85. In einer Übersetzung von Jacques Le Rider (Freud – von der Akropolis zum Sinai, S. 221) schreiben sie: „Die Juden haben Moses nicht umgebracht, aus dem einfachen Grund, daß sie vor ihm nicht existierten; doch sind diejenigen, die Moses getötet haben, Juden geworden.“
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Abbildung 11: Titelseite Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1. Auflage, dt. 1939)
te, wenn nicht ein Jude, sondern ein Ägypter für diesen ursächlich verantwortlich sei. Anstößig wirkte vor allem die auf den mosaischen Monotheismus bezogene Theorie von der unbewussten Wirkkraft des Traumas, der zufolge in einem Akt des Verdrängens, Vergessens und Wiederaufarbeitens Vergangenheitsbilder erzeugt worden wären, die individuell und kollektiv identitätsstiftend wirkten. Yosef H. Yerushalmi zeigte sich darüber verblüfft, dass Freud zufolge nur bei den Juden das Verdrängte wiederkehrte oder, „daß sich nicht etwa die Juden ihre Religion geschaffen hatten, sondern umgekehrt ihre Religion die Juden.“67 Sigmund Freud stand nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Annahmen im Kreuzfeuer der Kritik: „Daß ein auf seinem Gebiet so bedeutender Gelehrter wie S. Freud sich entschließen konnte“, schrieb Martin Buber (1878–1965), „ein so völlig unwissenschaftliches, auf grundlosen Hypothesen haltlos gebautes Buch wie ‚Der
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YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 59.
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Abbildung 12: Titelseite Moses and Monotheism (1. Auflage, engl. 1939)
Mann Moses und die monotheistische Religion‘ (1939) zu veröffentlichen, ist verwunderlich und bedauerlich.“68 Der hartnäckige Vorwurf, dass Freud in seiner historischen Konstruktion jeden wissenschaftlichen Anspruch aufgegeben habe, ist nicht zurückzuweisen. Tatsächlich durchziehen spekulative Argumentation und verbindliche Schlussfolgerungen aus Vermutungen das Werk. Jan Assmann verweist z.B. darauf, dass u.a. die Auffassung von der direkten Übernahme der Atonreligion durch das Volk Israel längst widerlegt sei.69 In Israel hatte bis in das 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. der Polytheismus vorgeherrscht.70 Jahrhunderte
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Martin BUBER, Moses, in: DERS., Werke. Band 2: Schriften zur Bibel, München 1964, S. 9–230, hier S. 11. Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 196–228. Jan Assmann beruft sich u.a. auf Othmar KEEL, Christoph UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte
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waren verronnen, bevor der mosaische Gott als ein monotheistischer begriffen worden war. Unübersehbar waren auch die Widersprüche zwischen dem „sublimen ägyptischen Monotheismus“ und der „kruden Jahve-Verehrung“, die die historische Wissenschaft als Urform des biblischen Monotheismus erkannt habe. Denn: Die Sonnenreligion Ikhnatons habe keine ethische Dimension besessen.71 Der deutsche Ägyptologe zeigte auch auf, dass sich die zentrale Annahme Sigmund Freuds, dass zwischen Moses und dem späteren Auftauchen des mosaischen Monotheismus eine mehrhundertjährige Lücke klaffte, die so genannte „Latenzphase“, nicht nachweisen ließe.72 Freuds Latenztheorie habe die Annahme des chronologischen Vorrangs der vermeintlichen Sinai-Offenbarung vor dem Auftreten der Propheten zur Voraussetzung. Diese Abfolge sei aber nicht zutreffend, weil – historisch betrachtet – der Monotheismus zunächst von den Propheten verkündet worden, in einer noch weitgehend polytheistischen und synkretistischen Kultur aber auf Widerstände gestoßen sei und sich erst im und nach dem babylonischen Exil (nach 586 v. Chr.) vollends durchgesetzt habe. Die mosaische Offenbarung sei demnach als eine „Rückprojektion“ und „Inszenierung des Neuen als Wiedereinsetzung des Uralten“ aus viel späterer Zeit aufzufassen. Und schließlich sei auch die Annahme, dass Moses, würde er als eine historische Figur aufgefasst,73 von den Juden ermordet worden wäre, mehr als hypothetisch: Die Autoren der Bibel, die dem jüdischen Volk mehrfach die Absicht unterstellt hatten, Moses zu steinigen, hätten keinen Grund gehabt, den Vollzug der Tat zu verschweigen.74 Sinngemäß argumentiert Assmann weiter: Wenn Moses kein Ägypter war, so konnte es auch keinen Monotheismus in reiner Ausformung vor der Verkündigung durch die Propheten gegeben haben. Auf der Freudschen Annahme von der Stiftung des jüdischen Monotheismus durch den „Mann Moses“ beruhte aber seine These vom Mosesmord. Ohne Mosesmord konnte es weder Latenz noch Traumatisierung und auch keinen Wiederholungszwang
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Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen, Freiburg im Breisgau [u.a.] 52001. Jan ASSMANN, Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939 [1934–38]), in: Freud-Handbuch, S. 181–187, hier S. 183, S. 187, und DERS., Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 58 (2004), S. 1–25, hier S. 9f. Vgl. Jan ASSMANN, Nachwort, in: FREUD, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, 2010, S. 175–216, hier S. 204f. Schon am Anfang seiner Abhandlung bekräftigte Freud – wohl wissend, dass keine sicheren Beweise dafür vorlagen – die Historizität von Moses und des an ihn geknüpften Auszugs aus Ägypten: „Man behauptet mit gutem Recht, daß die spätere Geschichte des Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man diese Voraussetzung nicht zugeben würde.“ (MM, S. 104) Vgl. Jan ASSMANN, Archäologie und Psychoanalyse. Zum Einfluß Freuds auf die Kultur- und Religionswissenschaft, in: Wiener Zeitschrift für Geschichte der Neuzeit 5, 1(2006b), S. 73–87, hier S. 81, und DERS., in einem Aufsatz gleichen Titels, in: Psyche 60, S. 1044. Zu Moses vgl. Eckart OTTO, Mose. Geschichte und Legende, München 2006.
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geben. Demnach sei auch die psychohistorische Sequenz, die von der Verdrängung des Mordes zur Wiederkehr der verschollenen Vorgänge der Vergangenheit reichte, unhaltbar und die Analogie von der Ausbildung des Monotheismus und der Individualneurosentheorie zu verwerfen.75 Dass der Mann Moses fiktive Züge besitzt, ist für Assmann unstreitbar, jedoch betont er zugleich, dass der Verweis auf die mangelhafte historische Solidität allein unzureichend sei. Darauf hatte sich die Auslegung der Mann-Moses-Schrift lange Zeit beschränkt. Schon Ernest Jones (1879–1958), der Sigmund Freud tief verbunden war, hatte auf das große Unverständnis verwiesen, von dem viele zeitgenössische Auslegungen der Mosesstudie gezeugt hätten. Sich weiter auf die Widerlegung der Thesen Freuds zu beschränken, hieße, das latente Potenzial, das dieses Werk aufzubieten hat, zugunsten der Aufdeckung der historischen Schwächen ungenutzt verstreichen zu lassen. Sogar Freud selbst war sich des prekären Charakters seiner historischen Beweisführung bewusst. Trotz großer Anstrengungen hatte er die ägyptische Abkunft Moses nicht nachzuweisen vermocht. Aufgrund der Datierung des Auszugs war ihm nicht verborgen geblieben, dass die Übernahme der ikhnatonischen Ideen aus Ägypten nur durch indirekte Vermittlung stattgefunden haben konnte. Freud musste diese Tatsache – widerstrebend, aber doch – akzeptieren76 und sich eingestehen, dass seine historische Abhandlung „gleichsam wie ein ehernes Bild auf tönernen Füßen“ stand. (MM, S. 114) Als Der Mann Moses in einem ersten Entwurf vorlag, sprach er daher davon, eine „Art von historischem Roman“77 zu verfassen. Allerdings hatte er das Risiko seiner Veröffentlichung trotz dieser „Tarnung“ lange Zeit nicht in Kauf genommen. Daher liegt es auf der Hand, dass Freud mit der Publikation der Mann-Moses-Monografie im Jahr 1939 unzweifelhaft auch andere Ziele verfolgt haben musste, als ein solides historisches Werk vorzulegen. Wird das Buch für einen Augenblick nicht als wissenschaftlicher Missgriff des in die Jahre gekommenen Psychoanalytikers betrachtet und seine Argumentationsfigur akzeptiert, so eröffnen sich neue Perspektiven auf die Motive, die Freud zur hartnäckigen Verteidigung seiner historisch
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Vgl. ASSMANN, Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis, S. 9, und DERS., Archäologie und Psychoanalyse, 2006b, S. 80. Zur Entstehung des jüdischen Monotheismus vgl. LANG, Monotheismus, S. 161–163. Vgl. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 433. Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 222f. In einem Brief an Arnold Zweig schrieb Sigmund Freud am 30.9.1934: „… und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman.“ Sigmund Freud an Arnold Zweig (30.9.1934), in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, hg. von Ernst L. Freud, Frankfurt am Main 1968, S. 102. Später, am 6.11.1934, fügt er dem hinzu: „Ärger ist, daß der historische Roman vor meiner eigenen Kritik nicht besteht.“ (S. 108) Dasselbe schrieb er auch an seinen in Galizien geborenen deutschen Schüler Max Eitingon: „Ich bin doch nicht gut für historische Romane. Es bleibt für Thomas Mann.“ Sigmund Freud an Max Eitingon (13.11.1934), in: Sigmund Freud. Max Eitingon. Briefwechsel 1906–1939, S. 886.
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unhaltbaren Auffassung bewogen haben mochten. Ihnen wird im Anschluss an die Darstellung dessen, was er im Mann Moses ‚erzählte‘, Raum gewidmet.
5.3 E RZÄHLHANDLUNG UND ANALYSE 5.3.1 Zurückhaltung Die Mann-Moses-Studie lag seit 1934 durchkonzipiert vor. In den Abschnitten I („Moses ein Ägypter“) und II („Wenn Moses ein Ägypter war“) konstruierte Freud eine Geschichte, die er durch eine dritte Abhandlung („Moses, sein Volk und die Monotheistische Religion“), in der er sich dem Siegeszug des Monotheismus widmete, vervollständigte. In einem Brief an Arnold Zweig charakterisierte er die drei Abschnitte, den ersten: „romanhaft interessant“, den zweiten: „mühselig und langwierig“, den dritten aber: „gehalt- und anspruchsvoll“.78 Die ersten beiden Abschnitte hatte Freud in der Zeitschrift Imago im Jahr 1937 veröffentlicht, den dritten allerdings zurückgehalten. Die Zurückhaltung hatte er sich auferlegt, um nicht ein staatliches Verbot der Psychoanalyse zu riskieren,79 meinte er doch, dass die katholische Kirche den Juden in Österreich Schutz vor dem Nationalsozialismus gewährte und „der Ausbreitung jener kulturellen Gefahr, eine kräftige Abwehr entgegensetzt[e]“.80 „Äußerlich“ entschied er sich für diese ‚Zurückhaltung‘ wegen der im Text entfalteten Auffassung von der Religion als Illusion und kollektiver Zwangsneurose.81 Die „innere Schwierigkeit“ sah er
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Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30.9.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 102. Zur schrittweisen Veröffentlichung der Schrift liefern u.a. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 230–232, S. 257f., S. 277–287, YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 39–60, ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 213–220, und BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 45– 131 aufklärende Details. Die einzelnen Essays entstanden in der Zeit von 1934 bis 1938. In den beiden Vorbemerkungen zur dritten Abhandlung vergegenwärtigte Freud den soziopolitischen Rahmen, in den er seine Studie setzte. Die dritte Abhandlung wurde erst nach der Emigration Freuds nach London vollendet. Sigmund FREUD, III. Moses, sein Volk und die monotheistische Religion. Vorbemerkung I (Vor dem März 1938), in: DERS., Mann Moses, S. 156–158, hier S. 157. In der zweiten Vorbemerkung begründet Freud seinen Entschluss, den Essay III, „das letzte Stück meiner Arbeit“, doch zu veröffentlichen. Sigmund FREUD, Vorbemerkung II (Im Juni 1938), in: DERS., Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Band XVI, S. 159–160. In einem Brief an Arnold Zweig, seinen Freund, schrieb Freud im September 1934, dass er seinen historischen ‚Mosesroman‘ in Österreich nicht veröffentlichen wolle, um im autoritären Christlichen Ständestaat nicht das Verbot der Psychoanalyse zu riskieren: „Denn wir leben hier in einer Atmosphäre katholischer Strenggläubigkeit. Man sagt, daß die Politik unseres Landes von einem Pater Schmidt gemacht wird, der in St. Gabriel bei Mödling lebt, der Vertrauensmann des Papstes ist und zum Unglück selbst ein Ethnolog und Religions-
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in der Schwäche seiner „historischen Konstruktion“ des „ägyptischen Moses“. In einem Brief an Max Eitingon fügte er hinzu: „Wäre meine Überzeugung sicherer, so würde mich wahrscheinlich keine Gefahr von der Veröffentlichung abschrecken.“82 Freud war sich also darüber im Klaren, dass „die historischen Grundlagen der Mosesgeschichte nicht solid genug“ waren, um nicht von Fachleuten als „Hirngespinst des outsider’s“83 zerrissen zu werden.84 Als er das „zurückgehaltene Endstück“ (MM, S. 156) schließlich in der genannten Monografie veröffentlichte, hatten sich die Umstände grundlegend geändert: Mit dem Tag, an dem in Österreich die Nationalsozialisten die Macht ergriffen hatten, hatte die Wiener Psychoanalytische Vereinigung ihre Auflösung beschlossen. In den nächsten Monaten waren viele ihrer Mitglieder vertrieben worden.85 Sigmund Freud selbst befand sich seit
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forscher, der in seinen Büchern aus seinem Abscheu vor der Analyse und besonders meiner Totemtheorie kein Geheimnis macht. In Rom hat mein braver Edoardo Weiß eine psychoanalytische Gruppe gegründet und mehrere Nummern einer Rivista Italiana di Psicóanalisis herausgebracht. Plötzlich wurde ihm diese Veröffentlichung untersagt, und obwohl Weiß einen guten Zugang zu Mussolini hatte und von ihm eine günstige Zusage erhielt, konnte das Verbot nicht aufgehoben werden. Es soll direkt vom Vatikan ausgehen und der Pater Schmidt dafür verantwortlich sein. Nun darf man wohl erwarten, daß eine Publikation von mir ein gewisses Aufsehen machen und der Aufmerksamkeit des feindlichen Paters nicht entgehen wird.“ Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30.9.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 102f. Im November 1935 kündigte Freud Stefan Zweig brieflich an: „Der Moses wird niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken.“ Stefan Zweig. Briefwechsel mit Hermann Bahr, Sigmund Freud, Rainer Maria Rilke und Arthur Schnitzler, hg. v. Jeffrey B. Berlin, Hans-Ulrich Lindken und Donald A. Prater, Frankfurt am Main 1987, S. 207. Wilhelm Schmidt (1868–1954), der zu Lebzeiten bedeutende Wiener Völkerkundler, Ordenspriester (Styler-Missionare) und Direktor des Museo Missionario-Etnologico in der Vatikan-Stadt (1928–1938) hatte offensichtlich das Verbot der psychoanalytischen Zeitschrift in Italien erwirkt. In der Vorbemerkung II (S. 159) resümierte Freud im Juni 1938 rückblickend: „Ich lebte damals unter dem Schutz der katholischen Kirche und stand unter der Angst, daß ich durch meine Publikation diesen Schutz verlieren und ein Arbeitsverbot für die Anhänger und Schüler der Psychoanalyse in Österreich heraufbeschwören würde. Und dann kam plötzlich die deutsche Invasion, der Katholizismus erwies sich, mit biblischen Worten zu reden, als ein ‚schwankes Rohr‘. […] Ich fand die freundlichste Aufnahme in dem schönen, freien, großherzigen England. Hier lebe ich nun, […], atme auf. Ich wage es, das letzte Stück meiner Arbeit vor die Öffentlichkeit zu bringen.“ Dabei handelte es sich um „den Rest, der das eigentlich Anstößige und Gefährliche enthielt, die Anwendung auf die Genese des Monotheismus und die Auffassung der Religion überhaupt.“ (MM, S. 210f.) Sigmund Freud an Max Eitingon, 27.10.1934, in: Sigmund Freud. Max Eitingon. Briefwechsel 1906–1939, S. 883. Ebenda. Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 224. Vgl. Trauma der Psychoanalyse? Die Vertreibung der Psychoanalyse aus Wien 1938 und die Folgen, hg. von der Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Wien 2005. Elisabeth BRAININ, Samy TEICHER, Die Wiener Psychoanalyti-
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Anfang Juni 1938 in England. Die Zeit für Zurückhaltungen war für ihn damit vorbei. 5.3.2 Der ägyptische Ursprung des Monotheismus Die achtzehnte Dynastie hatte Ägypten in ein „Weltreich“ verwandelt. In diesem neuen „Imperialismus“, auf den der Chicagoer Ägyptologe James Henry Breasted (1865–1935) verwiesen hatte,86 tauchte – so Freud – der Monotheismus auf. Das neue politische Weltbild der Thutmosiden war ihm zufolge mit der universalistischen Idee des Sonnengottes vereinbar: War der Pharao der einzige unumschränkte Herrscher der den Ägyptern bekannten Welt, so musste auch der ägyptische Gott ein universeller sein: „Gott war die Spiegelung des ein großes Weltreich unumschränkt beherrschenden Pharao.“ (MM, S.168) Amenhotep IV. (1364–1347 v. Chr.), der sich nun Ikhnaton nannte, erhob die Verehrung des Gottes der „lebendigen Sonne“ zur Staatsreligion: „Alles, was man von anderen Göttern erzählt, ist Trug und Lüge.“ (MM, S. 161) Allein Aton durfte als die „Quelle alles Lebens auf der Erde“ verehrt werden, als Spender jener Energie, die durch Bewegung die Zeit und durch ihre Strahlung Licht und Sichtbarkeit hervorbrachte. Der Pharao war der einzige Hohepriester des „Einzigen Gottes“, dessen Zuständigkeit universell war. Durch die Ausschließlichkeit der Verehrung des einzigen allein wahren Gottes im ägyptischen Monotheismus wäre aber „wie unvermeidlich die religiöse Intoleranz geboren“ worden. (MM, S. 118) An anderer Stelle verwies Freud aber auch auf eine nicht unwahrscheinliche „ethische Seite der Atonreligion“. (MM, S. 152)87 Die Atonreligion, welche die Vorstellungen von Magie, Mystik, Zauber und Jenseits verworfen hätte, sei aber gestürzt, ihre Spuren sowie Ikhnatons Name aus den offiziellen Königslisten gestrichen, seine Inschriften getilgt und ihre Baudenkmäler zerstört worden. An dieser Stelle der Erzählung setzt die spekulative Argumentationsführung Sigmund Freuds ein, die jener der Bibel widerspricht: Er sprach von der „Einsicht, daß Moses ein vornehmer Ägypter war“. (MM, S. 113)
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sche Vereinigung und der Nationalsozialismus, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 32 (2004) [Themenheft: ‚Geschichte und Psychoanalyse‘], S. 274–296. Johannes REICHMAYR, ‚Anschluß‘ und Ausschluß. Die Vertreibung der Psychoanalytiker aus Wien. Materialien und Bemerkungen zur Wissenschafts- und Sozialgeschichte der Psychoanalyse vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich, in: Friedrich STADLER (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930–1940. Band 1, unveränderte Neuauflage, Münster 2004 (Original 1987– 1988), S. 123–181. Bernhard HANDLBAUER, Über den Einfluß der Emigration auf die Geschichte der Psychoanalyse, in: Forum der Psychoanalyse 15, 2(1999), S. 151–166. James Henry BREASTED, Geschichte Ägyptens, Berlin 1910 [Original: DERS., A history of Egypt from the earliest times to the Persian conquest, London 1906]. Die moderne Ägyptologie hat aufgezeigt, dass Freud hier historisch irrte: Aton war kein Gott der Gerechtigkeit. Vgl. ASSMANN, Nachwort, S. 198.
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5.3.3 Der Mann Moses. Das Kernstück jüdischer Identität Sigmund Freud stellte den historischen „Mann Moses“ als Spross einer ägyptischen Adelsfamilie, der dem Pharao nahe stand, und als überzeugten Anhänger der Atonreligion vor, der sich durch die Wiederaufrichtung der orthodoxen Tradition in Ägypten in seinen Hoffnungen vollends enttäuscht gesehen und sich für die Verschmähung Ikhnatons schadlos zu halten versucht hatte. Daraufhin hätte sich Moses an die Spitze der in Ägypten weilenden „kulturell rückständigen“ semitischen Stämme gestellt: „In der Not der Enttäuschung und Vereinsamung wandte er sich diesen Fremden zu, suchte bei ihnen die Entschädigung für seine Verluste. Er wählte sie zu seinem Volke, versuchte seine Ideale an ihnen zu realisieren.“ (MM, S. 115) Moses habe die Organisation ihres Auszuges aus Ägypten „mit starker Hand“ in Angriff genommen (MM, S. 127 f.), um in dem von ägyptischer Herrschaft befreiten Land Kanaan ein neues Königreich zu begründen. Schließlich wagte Freud die entscheidende Schlussfolgerung: „Wenn Moses ein Ägypter war und wenn er den Juden seine eigene Religion übermittelte, so war es die des Ikhnaton, die Atonreligion.“ (MM, S. 123) Zwar habe das jüdische Volk die Sonnenverehrung aufgegeben, in anderer Hinsicht stimmte die Atonreligion laut Freud aber in bemerkenswerter Weise mit dem jüdischen Monotheismus überein. Darin, dass beide Monotheismen durch die Abkehr von Jenseitsvorstellungen gekennzeichnet wären, sah er ein starkes Argument für seine Vermittlungsthese. Der „Mann Moses“ habe noch einen entscheidenden Aspekt hinzugefügt: Zwar hätte auch der jüdische Gott den Charakter eines universellen, über alle Völker waltenden Gottes nicht aufgegeben, neu sei aber das Prädikat der Auserwähltheit gewesen: Wenn das jüdische Volk von Gott auserwählt worden sei, so darum, weil Moses dieses erwählt habe. (MM, S. 167, MM, S. 213) Die Auserwähltheitsfigur war Freud zufolge erst mit dem Untergang des ägyptischen Monotheismus entstanden. Moses hatte sie den Juden aufgeprägt: „Sie waren sein ‚auserwähltes Volk‘.“ (MM, S. 146) Die Vorstellung, ein auserwähltes Volk zu sein, das dem einzigen, ewigen, allmächtigen Gott nicht zu gering war, um mit ihm einen Bund zu schließen, war für den Autor des Mann Moses Ausdruck einer Erhöhung wie auch ein Mittel der Absonderung; für Freud sollte sich die Auserwähltheitsidee als das Herzstück der ‚Identität‘ des späteren jüdischen Volkes erweisen. Die Schlussfolgerung, die er zog, lautete: „Da hinter dem Gott, der die Juden ausgewählt und aus Ägypten befreit hat, die Person Moses’ steht, die grade das, vorgeblich in seinem Auftrag, getan hatte, getrauen wir uns zu sagen: Es war der eine Mann Moses, der die Juden geschaffen hat.“88 (MM, S. 213)
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Dass Freud in Moses den Schöpfer und das Symbol des Judentums sieht, zeigt sich u.a. darin, dass er durchgehend von „Juden“ anstatt von Hebräern spricht.
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Die Idee der Auserwähltheit der Juden manifestierte sich Freud zufolge in zwei zentralen Momenten: in der Beschneidung und im Bilderverbot. Freud schrieb: „Nachdem er, begleitet von seinen Gefolgsleuten, mit ihnen Ägypten verlassen hatte, heiligte er sie durch das Zeichen der Beschneidung, gab ihnen Gesetze, führte sie in die Lehren der Atonreligion ein, die die Ägypter eben abgeworfen hatten.“ (MM, S. 163) Zum einen habe Moses den semitischen Stämmen die Sitte der Beschneidung auferlegt: „Sie fühlen sich durch sie erhöht, wie geadelt, und schauen verächtlich auf die anderen herab, die ihnen als unrein gelten.“ (MM, S. 128) Diese Auszeichnung habe er seinem Volk verordnet, um es den Ägyptern ebenbürtig zu machen; auch war sie ein Indiz für Moses’ ägyptische Herkunft: „Wenn Moses den Juden nicht nur eine neue Religion, sondern auch das Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Jude, sondern ein Ägypter.“ (MM, S. 126) In Ägypten, so Freud, wäre die Beschneidung eine „allgemeine Volkssitte“ gewesen, sodass es für ihn auf die Frage, „woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort geben konnte: aus Ägypten.“89 (MM, S. 125) Zum anderen gab Moses dem auserwählten Volk auch Vorschriften, deren bedeutungsvollste Freud zufolge das Verbot war, sich von Gott ein Bild zu machen, „also der Zwang, einen Gott zu verehren, den man nicht sehen kann“, man durfte „nicht einmal seinen Namen aussprechen.“ (MM, S. 116) Der mosaische Gott hatte „weder einen Namen noch ein Angesicht“. (MM, S. 220) Der einzige, allmächtige Gott war unnahbar und unsichtbar. (MM, S. 116) 5.3.3.1 Das mosaische Verbot. Oder: Die Verwerfung der Bilder Durch den Verzicht auf ein sinnlich wahrnehmbares Symbol hatte der „Mann Moses“ Freud zufolge den Monotheismus ikhnatonischer Spielart zu einem „großartig starren Monotheismus“ verschärft (MM, S. 116): Wurde mit dem Bilderverbot die sinnliche Wahrnehmung im Verhältnis zur abstrakten Vorstellung zurückgestuft, so wurde Gott zugleich auf eine höhere Stufe der Geistigkeit gehoben. Die Konsequenzen, die sich aus dem „Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ (MM, S. 220) ergaben, stufte der Psychoanalytiker als weitreichend ein: Mit ihm erhöhte sich der Anspruch auf ethische Vervollkommnung, in ihm sah Freud aber auch eine Ursache für den „unsterblichen Hass“90 auf die Juden. Der „Mann Moses“ hatte Freud zufolge den „Charakter des jüdischen Volkes“ geprägt. Er habe ihm eine großartige Gottesvorstellung vermittelt. Aber nicht nur Gott wäre durch das mosaische Verbot seiner bildlichen Verehrung auf eine höhere Stufe gehoben worden: „Wer an diesen Gott glaubte, hatte gewissermaßen Anteil an seiner Größe, durfte sich selbst gehoben füh-
89 90
Zum Argument der Beschneidung vgl. ASSMANN, Nachwort, S. 196. Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30.9.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 102.
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len.“ (MM, S. 220) Sah Freud im Monotheismus mosaischer Spielart den Ausgangspunkt, durch den die Juden einen „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ verzeichneten (MM, S. 221), so lautete seine Schlussfolgerung, „daß die Menschen sich durch jeden solchen Fortschritt stolz und gehoben fühl[t]en.“ (MM, S. 226) In Verbindung mit der Auserwähltheit habe die Vergeistigung (MM, S. 219–223) das Hochgefühl verstärkt, dank Moses habe es eine „religiöse Verankerung“ erfahren. (MM, S. 213) Das Bilderverbot war Freud zufolge für den „Kulturfortschritt“ in der Menschheitsentwicklung verantwortlich, es implizierte dreierlei: die Idee des einzigen Gottes, die „Ablehnung von Magie und Mystik“ sowie den Anspruch auf „Hochschätzung des Intellektuellen“ (MM, S. 191f.) und auf ethischen Fortschritt. Hierdurch erhöhte sich aber auch „das Selbstbewußtsein einer Person wie eines Volkes“, weshalb sich die Juden, so Freud, jenen Anderen, „die im Banne der Sinnlichkeit verblieben sind“, überlegen fühlen konnten. (MM, S. 222) Der „Mann Moses“ hatte seinem Volk ein „Ichideal“ aufgeprägt, das seine Zukunft entscheidend bestimmen sollte: „Das Ich fühlt sich gehoben, es wird stolz auf den Triebverzicht wie auf eine wertvolle Leistung.“ (MM, S. 224, S. 213) Der „Fortschritt in der Geistigkeit“ – das grundlegendste Merkmal des Judentums – entsprach dem, was Freud auf der Ebene des individuellen Seelenlebens als „Sublimierung“ des Verzichts auf Triebbefriedigung bezeichnete. Die Vergeistigung verdankte sich sonach nicht einem „inneren Trieb“, sondern im Gegenteil, dem „Triebverzicht“ bzw. dem Verzicht, Aggressionen auszuleben, zu dem der mosaische Monotheismus aufgerufen habe. Der „rastlose Drang zu weiterer Vervollkommnung“ ließe sich, so Freud, „als Folge der Triebverdrängungen verstehen, auf welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur aufgebaut ist.“91 Seine Schlussfolgerung lautete, dass die Religion, die mit dem Verbot, „sich ein Bild von Gott zu machen“, begonnen habe, im Laufe der Jahrhunderte immer mehr durch Triebverzicht beeinflusst worden wäre, was mit der Etablierung ethischer Werte Hand in Hand gegangen sei: „Gott wird […] zum Ideal ethischer Vollkommenheit erhoben.“ (MM, S. 226) Ethik war für Freud Triebeinschränkung, das Bilderverbot seine Grundlage. Davon hätten die mahnenden Stimmen der biblischen Propheten gezeugt. Sie hätten die Juden unermüdlich gemahnt, „daß Gott nichts anderes von seinem Volke verlange als gerechte und tugendhafte Lebensführung“. (MM, S. 226) Der mosaische Monotheismus war mit der Anforderung verknüpft, ethische Ideale, Wahrheit und Gerechtigkeit anzustreben, das Bilderverbot – „die Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells“ (MM, S. 170) – war die Voraussetzung für Gewaltverzicht, dieser wiederum die Grundvoraussetzung für ein gottgefälliges Verhalten: Die Vergeistigung „half, die Rohheit und die Neigung zur Gewalttat einzudäm-
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Sigmund FREUD, Jenseits des Lustprinzips (Original 1920), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIII, S. 1–69, hier S. 44.
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men, die sich einzustellen pflegen, wo die Entwicklung der Muskelkraft Volksideal ist.“ (MM, S. 223) 5.3.3.2 Ambivalenzen: Auserwähltheitsbewusstsein und der Fortschritt in der Geistigkeit Sigmund Freud verschwieg nicht die Zweischneidigkeit dessen, was Moses den Juden seiner Ansicht nach aufgeprägt hatte; im Gegenteil: Es war genau jener Punkt, den er anvisierte. Das Volk Israel verdankte seiner biblischen Gründerfigur die Voraussetzungen dafür, dass es als nahezu einziges Volk des Altertums „dem Namen und der Substanz nach“ am Leben geblieben sei (MM, S. 191, S. 212), sowie das Auserwähltheitsbewusstsein und den „Fortschritt in der Geistigkeit“, die beide eine „Steigerung des Selbstgefühls“ (MM, S. 219) bewirkt hätten: „Wir fanden, der Mann Moses hat diesen Charakter geprägt“, schrieb Freud, „dadurch, daß er ihnen eine Religion gab, welche ihr Selbstgefühl so erhöhte, daß sie sich allen anderen Völkern überlegen glaubten“. (MM, S. 231) Die Sonnenseite dieses „Charakterzug[s] der Juden“ sah Freud darin, dass sie „eine besondere Zuversicht im Leben, wie sie durch den geheimen Besitz eines kostbaren Gutes verliehen wird, eine Art von Optimismus“ beseelt habe: „Fromme würden es Gottvertrauen nennen.“ (MM, S. 212) Der Stolz der „Auserwähltheit“ und des „Fortschritts in der Geistigkeit“ habe aber auch einen Schatten auf die Juden geworfen: Ihretwegen hätten sie Missgunst, Verachtung und Hass auf sich gezogen – „psychologisch notwendige Folgen“. (MM, S. 220) Mit dem mosaischen Monotheismus wäre zwar das „Mythische, Magische und Zauberische“ (MM, S. 122) verworfen worden, die Juden hätten aber als Speerspitze dieses „Fortschritts in der Geistigkeit“, der „alle vor-monotheistischen Trost-, Illusions- und Regressionsmöglichkeiten […] beseitigt“ habe, Hass auf sich gezogen: Der im Antisemitismus zu Tage tretende Hass ist in der Interpretation des deutschen Psychoanalytikers Bernd Nitzschke „Hass auf den Fortschritt“. Der Judenhass war Ausdruck einer widerständigen Auflehnung gegenüber jener Kultur, die auf dem „Zwang, einen Gott zu verehren, den man nicht sehen kann“ (MM, S. 220), ruhte.92 Sigmund Freud stufte das mosaische Vermächtnis als zwiespältig ein, als konstruktiv und destruktiv zugleich: „Ihm dankt dieses Volk seine Zählebigkeit, aber auch viel von der Feindseligkeit, die es erfahren hat und noch erfährt.“ (MM, S. 213f.) Jacques Le Rider brachte diese Ambivalenz auf den Punkt, wenn er ein Ziel, das Sigmund Freud in der Schrift Mann Moses verfolgte, darin erkannte, „die Tyrannei des mosaischen ‚Über-Ich‘ ins Wanken zu bringen und das Judentum von seiner ‚Zwangsneurose‘ zu befreien, die zwar die Grundlage einer bemerkenswerten Ethik, aber auch für das
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Bernd NITZSCHKE, Freud, der Mann Moses und der Antisemitismus, in: DERS., Wir und der Tod. Essays über Sigmund Freuds Leben und Werk, Göttingen–Zürich 1996, S. 40–56, hier S. 51, und DERS., Judenhaß als Modernitätshaß. Über Freuds Studie „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1937/39), in: DERS., Wir und der Tod, S. 149–183, hier S. 167.
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störendste Unbehagen und die Feindseligkeit der anderen Kulturgemeinschaften verantwortlich sei.“93 Trotz dieser Ambivalenzen gab Freud seine Grundüberzeugung, der zufolge die jüdische Vergeistigung als ein Fortschritt einzustufen war, nicht auf. In Anbetracht der heraufziehenden NSVernichtungspolitik verkörperte für ihn der mit dem jüdischen Monotheismus verbundene „Fortschritt in der Geistigkeit“ die nicht aufzugebende Grundlage der Humanität. Dieses Vermächtnis, „der Vorrang, der durch etwa 2000 Jahre im Leben des jüdischen Volkes geistigen Bestrebungen eingeräumt war“ (MM, S. 223), habe unter den Juden „psychologisch notwendige Folgen“ gehabt. (MM, S. 220) So habe sie allein das Band der Geistigkeit vereint und ihnen trotz Verfolgung ihr Überleben gesichert: „Die Juden behielten die Richtung auf geistige Interessen bei, das politische Unglück der Nation lehrte sie, den einzigen Besitz, der ihnen geblieben war, ihr Schrifttum, seinem Werte nach einzuschätzen.“ (MM, S. 222f.) Mit diesem zentralen Vermächtnis, das sich im mosaischen Monotheismus manifestierte und das Judentum geprägt hatte, identifizierte sich auch Freud, trotz aller Religionskritik. 5.3.3.3 Mosesmord und Latenzzeit So wie früher die Ägypter hätten auch die Juden, die der anspruchsvollen Mosesreligion nicht gewachsen waren, – so die Argumentation Sigmund Freuds – ihren Anführer ermordet. Der aus Ägypten zurückgekehrte Stamm habe sich in der Zeit der Inbesitznahme Kanaans mit anderen verwandten Stämmen „im Landgebiet zwischen Palästina, der Sinaihalbinsel und Arabien“ vereinigt (MM, S. 163) und den midianitischen Jahve als Gott auserkoren: „ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutrünstig“. (MM, S. 151) Jahve habe dem Eroberungsdrang des jüdischen Volkes besser als die angeblich Wahrheit und Gerechtigkeit verkörpernde Religion des Aton entsprochen. Auch die Befreiungstat des Moses sei künftig dem rustikalen Vulkangott zugeschrieben und mit Ausschmückungen versehen worden, wie z.B. dem Versprechen, dem jüdischen Volk das Land zu geben, in dem „Milch und Honig fließt“. (MM, S. 151) Auch hätte es Versuche gegeben, die Sitte der Beschneidung, das angeblich gravierendste Anzeichen der Abhängigkeit von Ägypten, auszulöschen (MM, S. 145), und an die Stelle des „großherrlichen Ägypters“ sei schließlich ein (mit den Juden entfernt stammesverwandter) Midianiter, der ebenfalls Moses hieß, gerückt. Durch diese Verkehrung sei dem Andenken des „Mannes Moses“ schweres Unrecht zugefügt worden. Die Spuren der Mordtat wären verwischt, die „Tradition einer großen Vergangenheit“ halb vergessen, halb verdrängt und die angebliche Tatsache, dass der Monotheismus durch Moses (und nicht schon durch die sagenhaften Patriarchen) gestiftet worden wäre, verleugnet worden. Das Gedächtnis wäre aber nur halb verloschen, denn die Leviten hätten Moses’ Andenken durch „lebendige Erinnerung“
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LE RIDER, Das Ende der Illusion, S. 333.
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(MM, S. 165) vor dem vollständigen Vergessen bewahrt. Im Laufe von Jahrhunderten, die vom Auszug aus Ägypten bis zur Abfassung des Bibeltextes verflossen seien, hätte sich die Jahvereligion aber wieder zurückgebildet. Im jüdischen Volk hätte sich die Hoffnung ausgebreitet, „der so schmählich Gemordete werde von den Toten wiederkommen und sein reuiges Volk, […], in das Reich einer dauernden Seligkeit führen.“ (MM, S. 136) Schließlich sei die vergessene, tief vergeistigte mosaische Gottesvorstellung wieder aus dem Schatten des Jahve aufgestiegen und habe sich nach einer gewissen Zeit der Latenz vollends durchgesetzt. Von den beiden Traditionen, die auf Ikhnaton und auf den Vulkangott Jahve zurückführten und in den biblischen Monotheismus einflossen, hatte Freud zufolge die ägyptische gesiegt. 5.3.4 Die paulinische Wende Ausgehend davon, dass die wiederholte Tötung der Vaterfigur den Gründungsakt des jüdischen und christlichen Monotheismus dargestellt habe, zog Freud den Schluss: „Es ist, als ob die Genese des Monotheismus diese Vorfälle nicht hätte entbehren können.“ (MM, S. 208) Diese Schlussfolgerung bezog er auf die jüdische Vaterreligion wie auch auf die christliche Sohnesreligion: „Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen“, sei auch diese nicht entgangen. (MM, S. 245) War der Mosesmord eine machtvolle Wiederholung des Mordes am Urvater, so war „der vermeintliche Justizmord an Christus“ (MM, S. 208) ein weiteres Wachrufen der vergessenen Erinnerungsspur, „denn er war der wiedergekehrte Urvater der primitiven Horde, verklärt und als Sohn an die Stelle des Vaters gerückt.“ (MM, S. 196) Der Ursprung des Monotheismus war Freud zufolge mit dem Urvatermord verknüpft. Die Tat sei „bewahrend vergessen“94 oder, um es mit dem Wiener Schriftsteller Franz Schuh zu sagen, „aufgeschoben erinnert“ worden:95 Sie hätte ein unbewusstes Schuldgefühl zurückgelassen, das nicht nur für das Judentum, sondern auch für das Christentum konstitutiv geworden wäre. Der Urvatermord wäre in der Tötung der jeweiligen Stifterfiguren wiedergekehrt. Ausgehend davon zog Freud im Mann Moses weitgehende Schlussfolgerungen in Bezug auf die unterschiedlichen Umgangsweisen der Juden und Christen mit der Schuld am Vatermord. Paulus, „ein römischer Jude aus Tarsus“, habe das wachsende Schuldgefühl, das das jüdische Volk und alle Mittelmeervölker ergriffen hätte, erkannt und es auf eine urgeschichtliche Quelle, die er „Erbsünde“ nannte, zurückgeführt: „Es war ein Verbrechen gegen Gott, das nur durch den Tod gesühnt werden konnte. […] In Wirk-
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Jan ASSMANN, Der Fortschritt in der Geistigkeit. Sigmund Freuds Konstruktion des Judentums, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 56 (2002), S. 154–171, hier S. 162. Franz SCHUH, Memoiren. Ein Interview gegen mich selbst, Wien 2008, S. 179.
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lichkeit war dies todwürdige Verbrechen der Mord am später vergötterten Urvater gewesen.“ (MM, S. 192) Paulus wurde im Mann Moses als ein Jude vorgestellt, in dessen Seele die „dunklen Spuren der Vergangenheit“ (MM, S. 192) geschlummert hätten, um durch ihn wieder in bewusstere Regionen gehoben zu werden: „Wir sind so unglücklich“, schrieb Freud Paulus die Einsicht zu, „weil wir Gottvater getötet haben.“ (MM, S. 250) Diese Wahrheit habe Paulus nicht anders verkraften können, als sie positiv umzudeuten. So habe er die zündende Idee der Erlösung eingebracht, nämlich, dass sich ein unschuldiger Sohn Gottes geopfert hätte, um die Schuld aller auf sich zu nehmen. Durch diese „frohe Botschaft“ wäre das unbewusste Schuldgefühl, das dem Mord am Vater der Urhorde gefolgt sei, auf die Stufe des Bewusstseins gehoben worden: „Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer von uns sein Leben geopfert hat, um uns zu entsühnen.“ (MM, S. 244) Zwar ließ Freud keinen Zweifel darüber offen, dass die (im buchstäblichen Sinn erlösende) These, „daß sich der Erlöser schuldlos geopfert hatte, eine offenbar tendenziöse Entstellung“ war, „die dem logischen Verständnis Schwierigkeiten bereitete“ (MM, S. 192f.): Denn „es wurde nicht die Mordtat erinnert, sondern anstatt dessen ihre Sühnung phantasiert“ (MM, S. 192), trotzdem konnte dadurch dem verdrängten Schuldgefühl „zum Durchbruch in bewußtere Regionen“ verholfen werden. Im Christentum hätte das Verdrängte als imaginierte Sühnung durch den Messias einen Platz im „Vorbewussten“ einnehmen dürfen. So wären durch den Opfertod „eines anderen großen Mannes“, „den eine kleine Anzahl von Anhängern in Judäa für den Sohn Gottes und den angekündigten Messias hielt“, Erbsünde und Erlösung zu Grundpfeilern des Christentums geworden.96 (MM, S. 195) Im Judentum hingegen sei die mörderische Tat weiterhin verdrängt und die Schuld nicht eingestanden worden, mochte das unbewusste Schuldgefühl auch drückend gewirkt haben: „Es war [auch weiterhin, J.F.] ein Fall von ‚Agieren‘ anstatt zu erinnern“. Die Juden hätten sich so den Zugang zur Stelle versperrt, „an der später Paulus die Fortsetzung der Urgeschichte anknüpfen sollte.“97 (MM, S. 195) Dass sich der christliche Monotheismus rasch verbreitete, führte Freud in erster Linie auf die Tatsache zurück, dass Paulus „durch die Erlösungsidee das Schuldbewußtsein der Menschheit beschwor“ und dass er die Idee der Auserwähltheit seines Volkes aufgegeben habe. (MM, S. 194) In manchen Hinsichten, schrieb Freud, 96
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Jesus, die zentrale Figur des Christentums, hielt Freud für mythologiebehaftet, für ihn war Paulus offensichtlicher eine historische Gestalt und Gründer der christlichen Gotteslehre. Vgl. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 410f. Schon in Totem und Tabu hatte Freud den Standpunkt vertreten, dass sich „in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit“ bekannt habe. Sigmund FREUD, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (Original 1912/13), in: DERS., Gesammelte Werke. Band IX. Nachdruck der Ausgabe von London 1940, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 185.
424 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT bedeutete die neue Religion eine kulturelle Regression gegen die ältere, jüdische, wie es ja beim Einbruch oder bei der Zulassung neuer Menschenmassen von niedrigerem Niveau regelmäßig der Fall ist. Die christliche Religion hielt die Höhe der Vergeistigung nicht ein, zu der sich das Judentum aufgeschwungen hatte. Sie war nicht mehr streng monotheistisch, übernahm von den umgebenden Völkern zahlreiche symbolische Riten, stellte die große Muttergottheit wieder her [. …] Vor allem verschloß sie sich nicht wie die Atonreligion und die ihr nachfolgende mosaische dem Eindringen abergläubischer, magischer und mystischer Elemente, die für die geistige Entwicklung der nächsten zwei Jahrtausende eine schwere Hemmung bedeuten sollten. (MM, S. 194)
Mit dieser Öffnung habe das Christentum zugleich die „Höhen sublimer Abstraktion“, zu der sich das Judentum aufgeschwungen habe, wieder verlassen. Was mit einer Abwertung der Vergeistigung verknüpft war, konnte allerdings aus therapeutischer Sicht heilsam wirken: Wird das, was Sigmund Freud unter „Fortschritt in der Geistigkeit“ begreift, mit Max Webers Theorem von der „Entzauberung der Welt“ verglichen, so fiel das Christentum in eine „Wiederverzauberung“ zurück.98 Zusehends sei das Prinzip Geistigkeit in einen irrationalen Glauben abgedriftet, die Grenze zu Mystik und Magie wieder überschritten worden. Denn „später“, so Freud, „ereignete sich dann noch, daß die Geistigkeit selbst von dem ganz rätselhaften emotionellen Phänomen des Glaubens überwältigt wird. Das ist das berühmte Credo quia absurdum.“ (MM, S. 226) 99 Sigmund Freud brach aber ironisch mit der Vorstellung von der Entzauberung der Welt. Sie enthielt für ihn einen progressiven und einen regressiven Aspekt. In Die Zukunft einer Illusion (1927) hatte er noch kurz und bündig formuliert, dass es „keine Instanz über der Vernunft“ gäbe.100 Im Mann Moses entwickelte er hingegen die These, dass das Christentum zwar die höchste Instanz der Vernunft zugunsten von Glauben, Mystik und Magie aufgegeben, zugleich aber auch das einzulösen vermocht habe, was das Judentum schuldig geblieben wäre. Durch die Sühnung des unnennbaren Verbrechens, d.h. durch Abladung der Schuld auf einen Sohn, der selbst zu Gott erhoben wurde, seien tiefer liegende psychische Bedürfnisse befriedigt worden. In diesem Sinne ist auch seine Schlussfolgerung in Bezug auf das Christentum zu verstehen: „Und doch war das Christentum religionsgeschichtlich, d.h. in Bezug auf die Wiederkehr des Verdrängten [das zunehmend an die Oberfläche drängte, J.F.], ein Fortschritt“. (MM, S. 195) Die christliche Lehre habe die elitären Züge der Mosesreligion abgestreift. Sie hätte auf die Kennzeichnung durch Beschneidung verzichtet und sie durch die Taufe ersetzt. (MM, S. 198) An die Stelle des Auserwähltheitsprinzips 98
ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 141, und DERS., Der Fortschritt in der Geistigkeit. Sigmund Freuds Konstruktion des Judentums, S. 168. 99 „Ich glaube, weil es widersinnig ist.“ 100 Sigmund FREUD, Die Zukunft einer Illusion (Original 1927), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV, S. 323–380, hier S. 350.
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sei die befreiende Erlösung getreten. Auch das Bilderverbot sei aufgegeben, der „Rahmen des Judentums“ (MM, S. 245) gesprengt worden: „Die jüdische Religion war von da ab gewissermaßen ein Fossil“ (MM, S. 195), das Christentum aber auf der (niedrigeren) Stufe der ägyptischen Amun-Priester entwickelt worden: „Es war“, so kommentierte Sigmund Freud, „als ob neuerdings Ägypten Rache nähme an den Erben des Ikhnaton.“ (MM, S. 245) Die neue Lehre sei aber bloß von einem Teil des jüdischen Volkes aufgegriffen worden, der andere, der dem mosaischen Monotheismus verpflichtet geblieben sei, nenne sich noch jüdisch. Im Zuge dieser Scheidung habe sich die Absonderung der Juden verschärft. Das jüdische Volk, das nach Freud „mit gewohnter Hartnäckigkeit den Mord am Vater zu verleugnen fortfuhr“ (MM, S. 196), hätte von christlicher Seite heftige Vorwürfe getroffen: „Sie wollen es nicht wahr haben, dass sie Gott gemordet haben“ (MM, S. 245): „Wir haben freilich das selbe getan“, so fasste Freud den christlichen Standpunkt zusammen, „aber wir haben es zugestanden und wir sind seither entsühnt.“ (MM, S. 196) Zweifelsohne erblickte der Psychoanalytiker in der Aktualisierung unbewusster Gedächtnisspuren durch das christliche Schuldbekenntnis einen Fortschritt. Dieser beruhte für ihn allerdings auf einer Verzerrung, weil der Mord auf die Juden, die Väter des Christentums, verschoben worden sei. Was Freud daher von der Vorhaltung der Christen, „Sie wollen es nicht wahrhaben, daß sie Gott gemordet haben, während wir es zugeben und von dieser Schuld gereinigt worden sind“, hielt, zeigte sein lapidarer Kommentar: „Man sieht dann leicht ein, wieviel Wahrheit hinter diesem Vorwurf steckt.“ (MM, S. 245)
5.4 I CH -ANALYSE – K ULTUR -ANALYSE – R ELIGIONS -ANALYSE In seiner 1935 verfassten Nachschrift101 zur Selbstdarstellung (1925)102 legte Sigmund Freud davon Zeugnis ab, dass er „nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie“ zu jenen „kulturellen Problemen“ zurückgekehrt sei, „die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten.“ Diese Wendung zur Kulturanalyse, der er sich im Laufe der 1920er-Jahre zusehends widmete, belegen insbesondere seine Schriften Jenseits des Lustprinzips (1920), Die Zukunft einer Illusion (1927) und Das Unbehagen in der Kultur (1930). „Immer klarer erkannte ich“, so Freud weiter,
101 Sigmund FREUD, Nachschrift 1935, in: DERS., Gesammelte Werke. Band XVI, S. 31–34, hier S. 32. 102 Sigmund FREUD, Selbstdarstellung, in: DERS., Gesammelte Werke. Band XIV, S. 31–96.
426 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt.103
Bereits in Totem und Tabu (1912/13) hatte Freud begonnen, Analogien zwischen der Individualentwicklung (Ontogenese) und der Entwicklung der Arten (Phylogenese) zu untersuchen. In der Anwendung der ‚individualpsychologischen‘ Analyseverfahren auf das Kollektiv zeigte sich ihm, dass auch die Gruppe – analog zum Individuum – von ‚normalen‘ oder ‚krankhaft-pathologischen‘ Zügen geprägt sein konnte. Diese These untermauerte er mit dem Argument, dass die Religion als kollektive Neurose verstanden werden musste. Um diesen Analogieschluss verständlich zu machen, bedarf es näherer Ausführungen zum Freudschen Verständnis von Ich-, Kultur- und Religions-Analyse. Obwohl dazu psychoanalytische Spezialliteratur vorliegt, wird im Folgenden der Versuch einer (gewiss verkürzenden) Darstellung aus historisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive gewagt. In seiner Abhandlung Das Ich und das Es (1923) gliederte Freud die psychische Persönlichkeit in mehrere „Instanzen“, „Provinzen“ bzw. „Bezirke“, nämlich das ‚Es‘, das ‚Ich‘ und das ‚Über-Ich‘.104 Er verstand die Seele als „eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirre von Impulsen, die unabhängig voneinander zur Ausführung drängten, entsprechend der Vielheit von Trieben und von Beziehungen zur Außenwelt, viele davon einander gegensätzlich und miteinander unverträglich.“105 Die „Eigenart des Psychischen“ ließe sich nicht mittels „lineare[r] Konturen“ abbilden „wie in der Zeichnung oder in der primitiven Malerei“, wohl aber durch „verschwimmende Farbenfelder“ wie in der modernen Malerei. ‚Es‘, ‚Ich‘ und ‚Über-Ich‘ seien sonach nicht durch scharfe Grenzen, „wie sie künstlich in der politischen Geographie gezogen worden sind“,106 aufzutrennen, sie wirkten unablässig aufeinander ein. In dieser neuen Topik („Schichtenmodell“, „Instanzenlehre“, „Strukturtheorie“) wurde das ‚Es‘ als die älteste und tiefste Schicht der Seele definiert, die sich mit dem ‚Ich‘ und dem ‚Über-Ich‘ in Konflikt befand. Vorgänge im ‚Es‘ liefen unbewusst ab: „Die älteste und beste Bedeutung des Wortes ‚unbewußt‘ ist [laut Freud] die deskriptive; wir nennen unbewußt einen psychischen Vorgang, dessen Existenz wir annehmen müssen, etwa
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FREUD, Nachschrift 1935, S. 32. FREUD, Das Ich und das Es, S. 235–289. FREUD, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 3–12. FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 85f.
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weil wir ihn aus seinen Wirkungen erschließen, von dem wir aber nichts wissen.“107 Aus dem älteren ‚Es‘, der Heimat der Triebe, entwickelte sich für Freud das ‚Ich‘: Ein Teil der Inhalte des ‚Es‘ (triebhafte Affekt) würde vom ‚Ich‘ aufgenommen und auf den vorbewussten Zustand gehoben. Die Wissenschaft versteht darunter jenes „deskriptiv Unbewusste“, das jederzeit bewusst werden könnte. Andere Teile seien von dieser Übersetzung in das ‚Ich‘ nicht betroffen, sie verblieben im ‚Es‘ als das „eigentlich Unbewußte“. Das „dynamisch Unbewußte“ beinhaltete demgegenüber jene Vorstellungen, die der Verdrängung unterworfen seien. Das Verdrängte sei sonach dem ‚Es‘ zuzurechnen, wirke aber auf das ‚Ich‘ durch Symptome zurück. Teile des Unbewussten, die schon das Vorbewusste erreicht hätten und daher bewusstseinsfähig wären, würden in einem Abwehrprozess wieder auf das ‚Es‘ zurückgestuft, d.h. erneut verdrängt. Während Freud somit das ‚Es‘ als den Sitz des Verdrängten definierte, war für ihn das ‚Ich‘ der Ausgangspunkt für die Verdrängungen sowie für den Widerstand gegen die erneute Bewusstwerdung verdrängter seelischer Strebungen. Verdrängung und Widerstand seien als unbewusste Vorgänge zu verstehen.108 Zwar verdanken wir Freud nicht die Entdeckung des Unbewussten (dafür gab es Vorläufer von Leibniz über Kant und Herder, die die kognitiven Aspekte in den Vordergrund rückten, zu Theodor Lipps),109 seine Leistung bestand aber in der Aufdeckung jener Mechanismen, der „dunklen und verschlungenen Wege, auf denen es [das Unbewusste, J.F.] unterschwellig unser bewußtes Leben lenkt.“110 Freud verbannte die Vorstellung des „absolut Unbewußten“111 (Schelling, Carus, Eduard von Hartmann), da als solches wohl nicht erkennbar, in das Reich der Metaphysik; für ihn hinterließ das Unbewusste Spuren im Bewusstsein, und es war bewusstseinsfähig: „Es ist richtig“, schrieb Freud, „daß alles Verdrängte unbewußt ist, aber nicht mehr richtig, daß alles, was zum Ich gehört, bewußt ist. […] Wir sagen dann richtiger, das Ich ist wesentlich vorbewußt (virtuell bewußt), aber Anteile des Ichs sind unbewußt.“ (MM, S. 202) Das ‚Ich‘ definierte Freud als jenen Teil „der zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge“, der das vertrete, „was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann“.112 Das ‚Ich‘ sei aber von den Ansprüchen des ‚Es‘ sowie des ‚Über-Ichs‘ abhängig, genauer: Es habe zwischen dem ‚Es‘ und den Anforderungen der Außenwelt zu vermitteln; es helfe, unmit107 Ebenda, S. 77. 108 Vgl. FREUD, Das Ich und das Es, S. 243, und Christa ROHDE-DACHSER, Das Ich und das Es (1923), in: Freud-Handbuch, S. 121–123, hier S. 121f. 109 Vgl. Ludger LÜTKEHAUS, Einleitung, in: DERS. (Hg.), ‚Dieses wahre innere Afrika‘. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud, Gießen 2005, S. 7– 45, hier S. 19–44. 110 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 172. 111 Vgl. u.a. Carl Gustav CARUS, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846. 112 FREUD, Das Ich und das Es, S. 253.
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telbare Reaktionen auf interne triebhafte Impulse oder externe Reize zu unterbinden. Die primäre Aufgabe des ‚Ichs‘ bestünde daher in der Selbsterhaltung: Dem ‚Ich‘ fiele die Aufgabe zu, sich gegenüber der Außenwelt, dem ‚Über-Ich‘ und dem ‚Es‘, den „drei Zwingherren“113, zu behaupten. Das ‚Über-Ich‘ führte Freud als ein Novum ein. Diese dritte Instanz des Psychischen repräsentierte für ihn die gesellschaftlichen Regeln; es gäbe ein normatives Ichideal vor, an dem sich das ‚Ich‘ zu messen habe. Das ‚ÜberIch‘ war für ihn eine vorbewusste Instanz des ‚Ichs‘, die sich diesem beobachtend, kritisierend und verbietend aufprägte; es leitete sich ursprünglich von elterlichen Verboten ab, würde aber auch die Anforderungen der jeweiligen sozialen Milieus (Klasse, Nation) vertreten. Das ‚Über-Ich‘ verschaffe sich als Stimme des Gewissens Gehör und würde aktiv, sobald das ‚Ich‘ seinem Ichideal nicht standzuhalten vermöge. Während Freud das ‚Ich‘ „wesentlich“ als „Repräsentant[en] der Außenwelt“ (Realität) einstufte, stellte er diesem das „Über-Ich als Anwalt der Innenwelt (Psyche), des Es, gegenüber.“ Konflikte zwischen dem ‚Ich‘ und seinem Ideal spiegelten für ihn letztlich den Gegensatz von Außenwelt und Innenwelt wider. Die ‚ÜberIch‘-Entstehung definierte Freud als „das Ergebnis zweier höchst bedeutsamer biologischer Faktoren, der langen kindlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Menschen und der Tatsache seines Ödipuskomplexes [… .]“114 Das ‚Ich‘ balancierte Freud zufolge daher unsicher zwischen drei Bezirken, der Außenwelt, dem ‚Es‘ und dem ‚Über-Ich‘, die auseinanderdriften konnten. Eine Handlung des ‚Ichs‘ sei dann gelungen, so Freud, „wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Überichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiss.“115 Das ‚Ich‘ sei daher „ein armes Ding“, so paraphrasierte Peter Gay Sigmund Freud, hätte es doch das ‚Es‘ zu zähmen und das ‚Über-Ich‘ zu besänftigen; dennoch sei es das beste Instrument, das dem Menschen zu Verfügung stehe.116 Der therapeutische Zweck der Psychoanalyse lag für Freud letztlich in der Stärkung des ‚Ichs‘: durch ein Sich-unabhängig-Machen vom ‚Über-Ich‘, durch die Erweiterung seines Wahrnehmungsfeldes, des Ausbaus seiner ‚Organisation‘ und durch die Aneignung neuer Stücke des ‚Es‘: „Wo Es war, soll Ich werden.“117 Während das ‚Ich‘ im normalen Verlauf seiner Ausbildung zwischen ‚Es‘ und ‚Über-Ich‘ vermittelte, mündete der pathologische Verlauf für Freud in einen inneren Konflikt. Sein Auslöser konnten Aggressionen sein. Dem Aggressionstrieb widmete sich Freud eigens in seiner Arbeit Jenseits
113 FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 84. 114 FREUD, Das Ich und das Es, S. 263f. 115 FREUD, Abriss der Psychoanalyse, S. 69. 116 Vgl. GAY, Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, S. 465. 117 FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 86.
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des Lustprinzips (1920).118 Schon davor hatte er allerdings diagnostiziert, dass der Hass der „uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von Seiten des narzißtischen Ichs“ entsprang.119 Hassgefühle waren für Freud Ausdruck der Zurückweisung von Objekten, die das ‚Ich‘ für störende Reize verantwortlich machte. Die Aggression brachte er in Jenseits des Lustprinzips nicht nur mit den Strebungen, Schmerz zu bewältigen, in Verbindung, sondern auch mit dem ‚Wunsch‘, die Verdrängungen in ihrer Struktur zwanghaft zu wiederholen. War es die Aufgabe des seelischen Apparates, die auf ihn einströmenden Reize abzuwehren, so schloss er daraus, dass der Zwang zur Wiederholung triebhaft sei: „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte aufgeben mußte.“120 In Das Unbehagen in der Kultur (1930), der wichtigsten kultur- und zivilisationstheoretischen Schrift, diskutierte Freud den Antagonismus zwischen den individuellen Triebanforderungen und der Aufgabe der Kultur, diese in die Schranken zu weisen.121 Im Mittelpunkt stand für ihn der Aggressionstrieb, jene unableitbare individuelle Aggressionsneigung, welche jede Kultur herausfordere: Infolge dieser „primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander“ sei die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Der Zähmung der Aggressionslust diene die Kultur, deren Aufgabe nur darin bestehen könne, die Äußerungen dieses Abkömmlings des Destruktionstriebes durch „psychische Reaktionsbildungen“ niederzuhalten. Darin, ob und in welchem Maße es der Kultur gelingen werde, „der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, sah er „die Schicksalsfrage der Menschenart“.122 Hatte Freud anfänglich „den Kulturbesitz in den vorhandenen Gütern und den Einrichtungen zu ihrer Verteilung“ entdeckt, so erkannte er später, „daß die Güter selbst, die Mittel zu ihrer Gewinnung und Anordnungen zu ihrer Verteilung nicht das Wesentliche oder das Alleinige der Kultur“ sein konnten, sondern „daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht[e]“.123 Dieser Überzeugung, die er in der Zukunft einer Illusion (1927) artikuliert und im Unbehagen in der Kultur (1930) wiederholt hatte,124 verlieh er im Mann Moses (1939) nochmals beredt Ausdruck, wenn er es als „Frevel an der großartigen Mannigfaltigkeit des Menschenlebens“ bezeich118 Sigmund FREUD, Jenseits des Lustprinzips, S. 1–69. 119 Sigmund FREUD, Triebe und Triebschicksale (Original 1915), in: DERS., Gesammelte Werke. Band X. Werke aus den Jahren 1913–1917. Nachdruck der Ausgabe von London 1946, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 209–232, hier S. 231. 120 FREUD, Jenseits des Lustprinzips, S. 38. 121 Vgl. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 419–506. 122 Ebenda, S. 471, S. 506. 123 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 331. 124 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 457.
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nete, „nur Motive aus materiellen Bedürfnissen“ anzuerkennen. (MM, S. 154) So entlarvte Freud das Christentum und den Marxismus als utopische Projekte, weil sie die Wirklichkeit über die Verleugnung der Aggression einzufangen versuchten. Die christliche Idealforderung, die lautete „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“, stufte er – so wie den dem Marxismus zugeschriebenen Versuch, die Ursache der Aggressionstendenz auf die Besitzverhältnisse zurückzuführen, – als haltlose Illusion ein: „Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste.“125 Dieses sei zwar ein Werkzeug der Aggression, nicht aber ihre Ursache. „Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem“, schrieb Freud, sei, „daß der Mensch nicht ein sanftes, liebe[s]bedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf.“ Der Nächste sei nicht nur „möglicher Helfer“, „sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, […]. Homo homini lupus.“126 Die Aggressionsneigung zu zügeln sei nicht einfach, ein gängiger Weg der Aggressionsabfuhr unbefriedigend, und zwar die Aneinanderbindung „einer größeren Menge von Menschen in Liebe, wenn [in einer Kultur, J.F.] nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“ Freud sprach vom „Narzißmus der kleinen Differenzen“. In dieser Hinsicht – so seine sarkastische Haltung – habe sich „das überallhin versprengte Volk der Juden […] anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben.“127 Aufgabe der Kultur sei es daher, „der gefährlichen Aggressionslust der Individuen“ Schranken zu setzen und sie zu einer in sich libidinös verbundenen Gemeinschaft zu vereinigen.128 Hierfür bediene sich jene einer Instanz im Inneren des Menschen, nämlich des Gewissens bzw. psychoanalytisch: des ‚Über-Ichs‘.129 So nötigte die Kultur den Menschen zur Versagung von Triebwünschen, sie verdankte sich aber auch dieser Versagung: „Jede Kultur“, schrieb Freud, müsse „auf Zwang und Triebverzicht aufbauen“.130 Sie habe die „Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst was?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung“.131„Kulturfortschrit-
125 Ebenda, S. 473. Seine ausführliche Kritik der marxistischen Weltanschauung bringt Freud in seiner Vorlesung „Über eine Weltanschauung“ vor. Sigmund FREUD, Über eine Weltanschauung (Original 1933), in: DERS., Gesammelte Werke. Band XV, S. 170–197, hier S. 191–196. 126 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 470f. 127 Ebenda, S. 473f. 128 Ebenda, S. 499. 129 Vgl. ebenda, S. 483. Die Triebwünsche, denen sich der Mensch im Laufe der Jahrhunderte versagt habe, waren für Freud Inzest, Kannibalismus und Mordlust. 130 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 328. 131 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 457. Die Sublimierung des destruktiven Aggressionstriebes durch Verschiebung der Triebbefriedigung auf andere
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te“ seien daher durch „Glücksverlust“ erkauft: Jedes Stück Aggression, dessen Befriedigung wir unterließen, würde vom ‚Über-Ich‘ übernommen und vergrößere die Aggression (gegen das ‚Ich‘). In anderen Worten: Das ‚Ich‘ drohe unter seinen Anforderungen zu zerbrechen. Allerdings übernähme das ‚Über-Ich‘ auch die Anteile der Aggression des ‚Ichs‘ nach außen und übe „als Gewissen gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft“ aus, „die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte.“ Die unterdrückten Aggressionen manifestierten sich im ‚Ich‘ dynamisch als „Schuldgefühl“.132 Da Freud in den Kulturprozessen weitgehende Ähnlichkeiten zur Individualentwicklung identifizierte, nahm er auch in der Kultur ein ‚Über-Ich‘ – das so genannte „Kultur-Über-Ich“ – an.133 Das „Über-Ich einer Kulturepoche“ hatte Freud zufolge einen „ähnlichen Ursprung wie das des Einzelmenschen“: die große Autorität, „die man bewundern kann, der man sich beugt, von der man beherrscht wird“ (MM, S. 217), die aber auch „verspottet, mißhandelt oder selbst auf grausame Art beseitigt“ werden könne. Unter ihrem Einfluss vollzog sich für ihn die „Kulturentwicklung“. Auch das „KulturÜber-Ich“ erhebe strenge Idealforderungen, die als Ethik zusammengefasst werden könnten: Freud fasste sie als therapeutischen Versuch auf, „durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war.“ Sie zu erfüllen, bedeute narzisstische Befriedigung, die Nichtbefolgung dieser Forderungen würde aber durch „Gewissensangst“ bestraft. Anfangs sei „das Gewissen (richtiger: die Angst, die später Gewissen wird) Ursache des Triebverzichts“, später werde aber jeder Triebverzicht eine dynamische Quelle des Gewissens, jeder neue Verzicht steigere dessen Strenge und Intoleranz.134 Die Spannung zwischen den Anforderungen des ‚Über-Ichs‘ und dem ihm unterworfenen, unzulänglichen ‚Ich‘ bezeichnete Freud als „Schuldgefühl“,135 in dem er „das wichtigste Problem der Kulturentwicklung“ und die stärkste Triebfeder für den „Kulturprozeß“ erblickte. Freud zeigte, dass der „Kulturfortschritt“ daher unabdingbar mit dem Anwachsen der weitgehend unbewussten Schuldgefühle verknüpft sei, dass aber umgekehrt „der Preis für den Kulturfortschritt“ mit der „Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird.“136 Die Macht des „Kultur-Über-Ich“ zeigte sich ihm beispielhaft am Volk Israel. Freud war überzeugt, dass Moses, der das jüdische Volk auserwählte, ihm ein kulturelles ‚Über-Ich‘ verliehen habe. Das vom unersättlichen Schuldgefühl gequälte Volk habe sich ständig neue Triebverzichte auferlegt, was Freud zur folgenden erstaunlichen Schlussfolgerung führte: Das jüdi-
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Bereiche wie z.B. Kunst, Wissenschaft und Ideologie sei ein „hervorstechender Zug der Kulturentwicklung“. Ebenda, S. 488, S. 482f., S. 491. Ebenda, S. 502. Ebenda, S. 488, S. 501–503. Ebenda, S. 483, und vgl. DERS., Das Ich und das Es, S. 262–265. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 494, S. 501.
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sche Volk habe zweifellos unvergleichliche ethische Höhen, einen „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“, erreicht; allerdings ließe sich der Ursprung dieser Ethik in einem infantilen Schuldbewusstsein nicht leugnen. (MM, S. 243f.) Der Aggressionsverzicht habe zwangsneurotische Vorstellungen hervorgerufen, zur Aussöhnung mit jenen Opfern, die der Kultur zu erbringen gewesen wären, hätten aber die Religionen verholfen. Diese hätten nämlich die Rolle des Schuldgefühls in der Kultur nie verkannt, würden sie doch mit dem Anspruch auftreten, „die Menschheit von diesem Schuldgefühl, das sie Sünde heißen, zu erlösen.“ Die Religionen würden Ausgleich für die Glückseinbuße, das Unbehagen aufgrund der Versagungen, die die Kultur den Menschen abverlangte, versprechen. Sie konnten der Neurotisierungsgefahr kraft ihrer wunscherfüllenden und tröstenden Funktion entgegenwirken, der Preis, den der Gläubige dafür zu bezahlen habe, sei aber hoch, nämlich: „psychischer Infantilismus“, „Massenwahn“ und „Einschüchterung der Intelligenz“.137 Auf den zweifelhaften Wert jenes Versprechens kam Freud in seinen religionspsychologischen Arbeiten zu sprechen. In mehreren streitbaren Schriften – nämlich in Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), Die Zukunft einer Illusion (1927) und auch in Das Unbehagen in der Kultur (1930) – widmete sich Sigmund Freud speziell der Analyse der religiösen Vorstellungen, um zu zeigen, dass diese „wie alle anderen Errungenschaften der Kultur“ aus der Notwendigkeit der Verteidigung gegen „die erdrückende Übermacht der Natur“138 – die uneingeschränkten Triebkräfte – erfunden worden seien, ohne dass es für das Verständnis von Glaubensvorstellungen der Hinzufügung außerweltlicher Momente bedurfte. In seiner Abhandlung Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907) verwies er erstmals auf Ähnlichkeiten, die ihm zwischen Zwangshandlungen von Neurotikern und dem Zwang, der sich in der Verrichtung religiöser Zeremonien zeigte, aufgefallen waren. Unter Zwangsritualen verstand er Handlungen, die das ‚Ich‘ vor dem Auftreten aufsässiger Triebe schützten; zugleich sah er in ihnen aber auch ihren verschobenen Ausdruck. Daher wagte er diesen Analogieschluss. Die Übereinstimmung lag für ihn im Triebverzicht, der wesentlichste Unterschied in der Art der Triebe, die zurückgestuft wurden. Bei Neurotikern wären sie sexueller, unter Gläubigen egoistischer, d.h. sozial-schädlicher Herkunft: „Auch der Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen zugrunde zu liegen“, schrieb Freud: „Es sind aber nicht wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern eigensüchtige, sozialschädliche Triebe“. Der Triebverzicht schützte die Gläubigen zwar vermeintlich vor Gottes Strafe, in ihm erkannte Freud aber auch eine Triebfeder für die Ausbildung von Neurosen. In Bezug auf die Triebabwehr zog Freud daher den verwegenen Schluss, dass „die Religion als eine universelle
137 Ebenda, S. 495, S. 443. 138 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 343.
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Zwangsneurose zu bezeichnen“ sei.139 Das strafende ‚Über-Ich‘ dominierte den schuldbewussten Zwangsneurotiker ebenso wie den frommen Sünder. In den jeweils spezifischen Zwangsritualen sah er Handlungen zur Besänftigung des Schuldgefühls. In seiner Monografie Die Zukunft einer Illusion (1927) formulierte Freud die provokant-streitbare These, dass die Religion eine „Vatersehnsucht“ zu erfüllen verspreche, über die der Mensch seiner kindlichen Hilflosigkeit zu entfliehen versuche: „Wir wissen schon“, schrieb Freud, „der schreckende Eindruck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz – Schutz durch Liebe – erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von der Fortdauer dieser Hilflosigkeit durchs ganze Leben hat das Festhalten an der Existenz eines – aber nun mächtigeren Vaters – verursacht.“140 Verwahrte das ‚Über-Ich‘ die Vatersehnsucht, so stellte es für Freud „als Ersatzbildung“ den Keim dar, „aus dem sich alle Religionen gebildet haben.“ Die Unzulänglichkeit des Ichs im Vergleich mit seinem Ideal habe „das demütige religiöse Empfinden, auf das sich der sehnsüchtig Gläubige beruft“, hervorgerufen.141 Wer dieses väterliche Schutzversprechen der Religion aber ernst nähme, säße – wie Freud zu zeigen versuchte – einer Illusion auf. Unter Illusion verstand er ein Wunschdenken, das den Widerstand der Wirklichkeit brechen wollte: „Wir heißen also einen Glauben eine Illusion,“ schrieb er, „wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet.“142 Die religiösen Vorstellungen, „die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.“ Da sie weder beweisbar noch widerlegbar wären, glichen sie „Wahnideen“,143 deren Ablösung durch den „Primat des Intellekts“ er für die Zukunft optimistisch voraussah: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat.“144 Von diesem Standpunkt wich Freud im Wesentlichen nicht mehr ab. Das Attribut einer kollektiven Zwangsneurose blieb für ihn an der Religion haf-
139 Sigmund FREUD, Zwangshandlungen und Religionsübungen (Original 1907), in: DERS., Gesammelte Werke. Band VII. Werke aus den Jahren 1906–1909. Nachdruck der Ausgabe von London 1941, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 127–139, hier S. 137–139. 140 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 352. Vgl. auch DERS., Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (Original 1910), in: DERS., Gesammelte Werke. Band VIII. Werke aus den Jahren 1909–1913. Nachdruck der Ausgabe von London 1943, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 127– 211, hier S. 195, und DERS., Das Unbehagen in der Kultur, S. 430. 141 FREUD, Das Ich und das Es, S. 265. 142 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 354. 143 Ebenda, S. 352f. 144 Ebenda, S. 377.
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ten, er sah in ihr auch künftig einen „Massenwahn“145 und den Überrest primitiver Denkformen, die eine Stütze zur Bewältigung der „Sinneswelt“ durch die Vorstellung einer illusionären „Wunschwelt“ abgaben.146 Was sie angeblich zu leisten vorgab, blieb für ihn auch für die Zukunft Illusion: „Aber die Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die Götter.“147 Doch die Tröstungen der Religion verdienten kein Vertrauen. Stritten die einzelnen Religionen darüber, welche von ihnen im Besitz der Wahrheit sei, so bekräftigte er seinen Standpunkt, „daß der Wahrheitsgehalt der Religion überhaupt vernachlässigt werden darf.“148 Im Hinblick darauf vollzog er in seinem Alterswerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) allerdings eine entscheidende Wende: In ihm sprach er von einer „historischen Wahrheit“ der Religion. In Die Zukunft einer Illusion (1927) hatte sich die Weichenstellung schon abgezeichnet, Freud vollzog sie schließlich im Mann Moses (1939): In der Illusionsschrift hatte er die Religion als einen Teil der Kultur eingeführt, der für den kulturell auferlegten Triebverzicht entschädigte. Mit dem Argument, dass die Kultur – und nicht Gott – die religiösen Vorstellungen geschaffen habe,149 hatte er den Offenbarungsursprung der Religion als Imagination entlarvt und sie als eine „infantile Menschheitsneurose“ und Illusion eingestuft. Mit zunehmendem Alter erweiterte sich sein Gesichtsfeld: Im Mann Moses wich er von seiner distanzierten Haltung zur Religion einen Schritt weit ab. Er präsentierte sie in schillerndem Licht, als er zeigte, dass mit dem mosaischen Monotheismus die werthafte Dimension der Ethik in die Welt gekommen sei: Stand „die eine Religion primitiven Phasen [noch] sehr nahe“, so habe sich die andere „zu den Höhen sublimer Abstraktion aufgeschwungen.“ (MM, S. 117) Sonach bemaß er den Wert der Letzteren als grundlegend für den „Fortschritt in der Geistigkeit“. Jacques Le Rider zog im Sinne Freuds den Schluss, dass der mosaische Monotheismus aufgrund seiner ethischen Tragweite nicht nur „mit den Ansprüchen der wissenschaftlichen Rationalität vereinbar“ war, sondern noch vielmehr „die Propädeutik für eine wissenschaftliche Weltauffassung“ darstellte.150 In der Zukunft einer Illusion und in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933) hatte Freud den Standpunkt vertreten, dass der reale Wahrheitsgehalt der Religionen über die Welt und das Jenseits vernachlässigt werden durfte. Von dieser Auffassung wich er auch künftig nicht ab. Im Mann Moses differenzierte er aber seine Haltung, als er in der Religion eine „historische Wahrheit“ identifizierte, die noch weitgehend verborgen lag, in der er aber die Ursache religiöser Wirkmacht erkannte. Am 27. Oktober 1934 teilte er Max Eitingon brieflich mit, dass er
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Ebenda, S. 367, und DERS., Das Unbehagen in der Kultur, S. 440. FREUD, Über eine Weltanschauung, S. 181. FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 339. FREUD, Über eine Weltanschauung, S. 181. Vgl. FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 342. LE RIDER, Freud – von der Akropolis zum Sinai, S. 220.
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in seiner Mann-Moses-Schrift „eine Ergänzung zur ‚Illusion‘“ hinzugefügt hätte: „Hieß es dort, die Religion ist nur Illusion, so wird hier zugestanden, sie hat auch einen Wahrheitsgehalt.“151 Die Kürzeste Chronik, eine Art Tagebuch der Jahre 1929 bis 1939, verzeichnet, dass Freud seinem Besucher Thornton Wilder (1897–1975) im Oktober 1935 mitgeteilt habe, „I like god […]. Just these last weeks I have found a Formulierung for religion […]. Hitherto I have said that religion is an illusion; now I say it has a truth – it has an historical truth.“152 Unter der „historischen Wahrheit“ verstand er aber neben dem, was der Historiker damit bezeichnen würde, nämlich die Historizität vergangener Vorfälle, auch die mit ihnen verkoppelte Wirkung: das Vergessen, die Traumatisierung und die zwanghafte „Wiederkehr des Vergessenen“. (MM, S. 190) In seinem letzten Buch, das er mit dem Ziel vollendete, die „großartige Macht [der Religion] in der gleichen Weise [aufzuklären, J.F.] wie den neurotischen Zwang bei den einzelnen unserer Patienten“ (MM, S. 157), nahm er in der „Vorbemerkung I“ des dritten Essays das Ergebnis seiner Arbeit vorweg: Die Religion habe Züge einer „Menschheitsneurose“, man dürfe sie als „Wahn“ bezeichnen. „Insofern sie [aber] die Wiederkehr des Vergangenen bringt“, so Freud im vorletzten Abschnitt, „muß man sie Wahrheit heißen.“ (MM, S. 239)
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Die verlockende Aufgabe, der sich Sigmund Freud in der dritten Abhandlung des Mann Moses annahm, bestand darin, darüber Aufschluss zu geben, dass die versunkene mosaische Tradition nach dem Mord an ihrem Stifter nicht dauerhaft vergessen, sondern nach einer Zeit wiedererweckt worden sei. Diese Entdeckung führte den Psychoanalytiker zur Massenpsychologie zurück, die er um einen neuen Aspekt erweiterte. Um zu zeigen, worauf die zwingende Macht des mosaischen Monotheismus beruhte, formulierte er die These, dass jede lebendige Tradition auf Transmissionsvorgängen beruhe. Diese erschöpften sich allerdings nicht notwendig in direkter zwischenmenschlicher Kommunikation – face-to-face – und in der Weitergabe bewusster verbaler und nonverbaler Mitteilungen, in ihnen konnten auch Dynamiken des Unbewussten wirksam werden. Zur Verifikation seiner These zog er den gewagten Analogieschluss, dass ein Vorfall, der in der Individualpsyche ein neurotisches Symptom hervorruft, im Seelenleben eines Volkes eine Tradition stiften konnte. Die Ursache hierfür war für Freud jedoch nicht der Vorfall selbst, wie z.B. der Mosesmord, sondern die hiermit verbundene traumatische Erfahrung. Sie manifestierte sich in der zwanghaften „Wiederkehr des Verdrängten“, was Freud zufolge den „schicksals-
151 Sigmund Freud an Max Eitingon, 27.10.1934, in: Sigmund Freud. Max Eitingon. Briefwechsel 1906–1939, S. 883. 152 FREUD, Tagebuch 1929–1939. Kürzeste Chronik, S. 331.
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schwersten Inhalt“ der monotheistischen Tradition darstellte:153 „Wir haben alle diese psychologischen Exkurse unternommen“, schrieb er, „um es uns glaubhafter zu machen, daß die Moses-Religion ihre Wirkung auf das jüdische Volk erst als Tradition durchgesetzt hat.“ (MM, S. 236) In der Aufklärung dieser Vorgänge der Tradierung erblickte er das „wichtigste Stück des Ganzen“ (MM, S. 115), dieses Thema hatte ihn seinem Vernehmen nach sein „ganzes Leben durch verfolgt“.154 Auf diesen maßgeblichen Aspekt hat zunächst Yosef H. Yerushalmi verwiesen. Der New Yorker Historiker bezeichnete in seiner Studie Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum (1991) „das Problem der Tradition“ als den „eigentliche[n] Dreh- und Angelpunkt des Buches“, in dem Freud nicht nur nach ihrem „Ursprung, sondern vor allem […] nach ihrer Dynamik“ gesucht habe.155 Später identifizierte Richard J. Bernstein, ein Philosoph, ebenfalls aus New York, die Aufdeckung der „produktive[n] Kraft religiöser Traditionen“156 als das wichtigste Stück der Mann-MosesSchrift, mit der Sigmund Freud unser Verständnis der Überlieferung von Traditionen vertieft und theoretisch neu fundiert habe.157 Ähnlich argumentiert auch Jan Assmann in seiner schon angesprochenen Studie Moses der Ägypter.158 Um die nichtkommunikativen Transmissionsvorgänge der monotheistischen Tradition zu erkunden, hatte Freud die These gewagt, dass der ägyptische Moses noch vor der Vereinigung mit den midianitischen Stämmen vom aufbegehrenden jüdischen Volk ermordet worden wäre. Diese Annahme, die der biblischen Erzählung widerspricht, stützte er auf Andeutungen in der Bibel und auf das theologische, philologische und historische Wissen seiner Zeit.159 Die ‚Moses-Mord-These‘ stand zwar – wie er selbstkritisch zugab –
153 Vgl. hierzu vor allem WITTE, Die Schrift im Exil. Sigmund Freuds Der Mann Moses und die jüdische Tradition, S. 60–62. 154 Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 224. 155 YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 52. 156 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 107. 157 Vgl. ebenda, S. 108. 158 Vgl. ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 278. 159 In den Untersuchungen des Berliner Althistorikers Eduard Meyer (1855–1930) (DERS., Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Untersuchungen, Halle an der Saale 1906) stieß Freud auf die These des anderen, midianitischen Moses. In der Abhandlung des Alttestamentlers Ernst Sellin (1867–1946) (DERS., Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte, Leipzig [u.a.] 1922) fand er die These von der Tötung des Moses durch die Juden in der Wüste bestätigt: „Wir entlehnen von Sellin die Annahme, daß der ägyptische Moses von den Juden erschlagen, die von ihm eingeführte Religion aufgegeben wurde.“ (MM, S. 136) Als Freud im Jahr 1938 erfahren hatte, dass Sellin diese These, die unter jüdischen Gelehrten auf heftigen Widerstand gestoßen war, angeblich zurückgezogen hätte, habe er achselzuckend gesagt: „Es könnte trotzdem wahr sein.“ Ernest Jones zufolge hatte Sellin seine ursprüngliche Ansicht auch in einer 1935 veröffentlichten Schrift vertreten. Allein im privaten Kreis habe er zugegeben, sich in seiner Interpretation der Stelle im Buch Hosea
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„auf tönernen Füßen“, sie war aber die Voraussetzung dafür, um in jene von der verschriftlichten Tradition bewusst zugedeckten Tiefenbereiche des Seelenlebens des Volkes Israel vorzustoßen, in denen er den Schlüssel für die Weiterbildung der jüdischen Tradition suchte und auch finden sollte. 5.5.1 Die verschlungenen Wege in der Überlieferung: Tradition und traumatische Neurose Die ‚Moses-Mord-These‘ bahnte Freud den Weg zur Entdeckung, dass sich Traditionen auf verschlungeneren Wegen als durch bewusste Überlieferung ausbilden konnten. Sie könnten von unbewussten Dynamiken aufgrund traumatischer Erfahrungen überlagert werden. In seinem topischen Modell von ‚Ich‘, ‚Es‘ und ‚Über-Ich‘ hatte er das Zusammenspiel von bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen für das Individuum aufgeklärt. Was er für das Individuum zeigte, nahm er analog auch für das Kollektiv an. Diese Annahme übertrug er im Mann Moses auf die monotheistische Tradition. Zuletzt hat Richard J. Bernstein diesen zentralen Aspekt in der Theorie Sigmund Freuds erneut hervorgekehrt.160 In seiner Mann-Moses-Schrift spürte Freud den tieferen Ursachen dafür nach, dass der mosaische Monotheismus nach dem Mosesmord und seiner Überlagerung durch den Jahvedienst nicht in den dunklen Archiven des Vergessens versunken sei, sondern sich in einer Art zweitem Anlauf in einem glänzenden Siegeszug durchgesetzt habe. Hierfür traf er die Annahme, „daß im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen“ (MM, S. 186), nämlich eine Traumatisierung durch einen Vorfall: „Es ereignet sich“, schrieb Freud, daß ein Mensch scheinbar unbeschädigt die Stätte verläßt, an der er einen schreckhaften Unfall […] erlebt hat. Im Laufe der nächsten Wochen entwickelt er aber eine Reihe schwerer psychischer und motorischer Symptome, die man nur von seinem Schock, jener Erschütterung oder was sonst damals gewirkt hat, ableiten kann. Er hat jetzt eine ‚traumatische Neurose‘. (MM, S. 171)
Dass das Individuum, in dem Freud ein erinnerndes Wesen sah, Vorfälle dieser Art vergaß, bedurfte eines Aufwandes, mitunter auch aktiver Verdrängung. In seiner Individualneurosenlehre zeigte er, dass sexuell-
auch geirrt haben zu können. Vgl. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 435. Jacques Le Rider verweist darauf, dass auch Goethe die Hypothese von der Ermordung Moses’ durch Josua in seinem Aufsatz „Israel in der Wüste“ (1797) vertreten hatte. Freud zitierte Goethes Studie in Der Mann Moses (MM, S. 195f.). Vgl. LE RIDER, Freud – von der Akropolis zum Sinai, S. 229f. DERS., Das Ende der Illusion, S. 326f. Johann Wolfgang von GOETHE, Israel in Ägypten (Original 1797), in: DERS., Werke. Band 2, München 2000 (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden), S. 207–225. 160 Vgl. BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 99–108.
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aggressive Vorfälle, die als abstoßend empfunden wurden und nach Abfuhr strebten, abgewehrt, in das Unbewusste verschoben und vergessen wurden. Solange diese verdrängten seelischen Vorgänge unbewusst waren,161 konnten sie nach einer Zeit der Latenz als verdrängter Affekt wieder auftauchen und neurotische Symptome hervorrufen. Diese Art des Vergessens machte also krank. Die Traumatisierung manifestierte sich in einem dynamischen Prozess, der für Freud nach folgendem Schema ablief: „Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten“. (MM, S. 185) Diese psychische Dynamik lieferte ihm den Ausgangspunkt für den Analogieschluss zwischen der Ausbildung von Individualneurosen und dem mosaischen Monotheismus: Wir haben aus den Psychoanalysen von Einzelpersonen erfahren, daß ihre frühesten Eindrücke, zu einer Zeit aufgenommen, da das Kind noch kaum sprachfähig war, irgend einmal Wirkungen von Zwangscharakter äußern, ohne selbst bewußt erinnert zu werden. Wir halten uns berechtigt, dasselbe von den frühesten Erlebnissen der ganzen Menschheit anzunehmen. Eine dieser Wirkungen wäre das Auftauchen der Idee eines einzigen großen Gottes. (MM, S. 238)
Da für ihn „die Übereinstimmung zwischen dem Individuum und der Masse in diesem Punkt eine fast vollkommene“ war, nahm er an, dass „auch in den Massen […] der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren“ (MM, S. 201) erhalten bliebe. Die Analogiebildung zwischen traumatischer Individualneurose und der Ausbildung einer Tradition in einem Volk war Freud zufolge daher zulässig: Was im Individuum eine Neurose hervorrufen konnte, konnte im Kollektiv den Lauf einer Tradition entscheidend beeinflussen. Die Anwendung der Individualneurosenlehre auf die Gruppe führte ihn zur Schlussfolgerung, dass aggressive Vorgänge, die verdrängt werden würden, im kollektiven Seelenleben symptomähnliche Folgen zeitigen konnten, kurz: „daß die religiösen Phänomene nur nach dem Muster der uns vertrauten neurotischen Symptome des Individuums zu verstehen sind“. (MM, S. 160) Allerdings verkannte Freud nicht die Schwierigkeiten dieser Analogiebildung:162 „Es wird uns nicht leicht, die Begriffe der Einzelpsychologie auf die Psychologie der Massen zu übertragen“. (MM, S. 241) Die größte Schwierigkeit bereitete ihm scheinbar die Aufgabe, die „Vorstellung des Unbewußten in die Massenpsychologie einzutragen“ (MM, S. 235): „In
161 Als unbewusst definierte Freud einen psychischen Vorgang, „dessen Existenz wir annehmen müssen, etwa weil wir ihn aus seinen Wirkungen erschließen, von dem wir aber nichts wissen.“ FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 77. 162 Auf die Schwierigkeiten dieser Analogiebildung verweist er in den Abschnitten „Schwierigkeiten“ (S. 198–209) und „Die geschichtliche Entwicklung“ (S. 240– 246) im Mann Moses. Vgl. BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 78–81.
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welcher psychischen Form dies Vergangene während der Zeit seiner Verdunkelung vorhanden war“, schrieb Freud, „wissen wir zunächst nicht zu sagen.“ (MM, S. 241) Von der Annahme eines „kollektiven Unbewussten“ nahm er dabei bewusst Abstand. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Sigmund Freuds Versuch der Analogiebildung wurde lange Zeit heftig kritisiert. Dennoch nahm er in der Mann-Moses-Schrift unbestreitbar Aspekte vorweg, die in der Traumaforschung nach dem Holocaust erneut bittere Relevanz erfahren. Als sich in der zweiten Generation der Angehörigen von Holocaustopfern zeigte, dass das Trauma der Shoa-Überlebenden auf Enkel und Großenkel weitergegeben wurde, erkannte die Traumaforschung neben der verbalen und nonverbalen Kommunikation „unbewusste, habitualisierte Praktiken der leiblich-interaktiven Reinszenierung, des Agierens bzw. Enactment, interaktiv relevante Fehlleistungen und klinisch-symptomatische Äußerungen (wie Zwangssymptome), das mitteilsame Schweigen, beiläufige Ausdrücke oder auch die figurative, indirekte Rede, z.B. mittels Metaphern“163 als wirkmächtige Modi generationenübergreifender Vermittlung. Die Familie blieb dem deutschen Sozialpsychologen Jürgen Straub zufolge jedoch nicht der einzige Ort „transgenerationeller Tradierung“. In Bezug auf die Erforschung kollektiver Traumatisierungen erkannte auch Jan Assmann „vielversprechende Anknüpfungspunkte zwischen Psychoanalyse und einer psychoanalytisch informierten Kulturtheorie“; allerdings unter der Einschränkung eines „begrifflich noch näher zu fassenden ‚kulturellen Unbewussten‘“.164 5.5.2 Latenz. Oder: Das bewahrende Vergessen Die auf Ernst Sellin zurückreichende ‚Mord-These‘ bildete für Freud den Anknüpfungspunkt, um das Mosesnarrativ in eine Theorie über den Ursprung der Kultur einzufügen, die er in Totem und Tabu entwickelt hatte. Hier griff er auf seine spekulative Theorie von der Tötung des Urhordenvaters durch seine Söhne zurück, der zufolge der Vatermord in der Urhorde unauslöschliche Spuren zurückgelassen hätte, welche durch den Mosesmord wieder aufgenommen worden wären. Für Freud war durch die Ermordung des biblischen Moses das Ursprungsereignis der Kultur wiedergekehrt. Die Vatermordfigur war grundlegend, um jenes „Stück der Religionsgeschichte“ aufzuarbeiten, das nach Freud für „die Einsetzung des Monotheismus im Judentum und dessen Fortsetzung im Christentum“ zentral
163 Jürgen STRAUB, Transgenerationelle Tradierung, in: Nicolas PETHES, Jens RUCHATZ (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek b. Hamburg 2001, S. 592–594, hier S. 593. Vgl. Kurt GRÜNBERG, Jürgen STRAUB (Hg.), Unverlierbare Zeit. Psychosoziale Spätfolgen bei Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus, Tübingen 2001 (Psychoanalytische Beiträge aus dem Sigmund-Freud-Institut 6), und RÜSEN, STRAUB (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit, 22001. 164 ASSMANN, Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis, S. 1.
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war. In den religiösen Lehren und Riten erkannte er „neben Fixierungen an die alte Familiengeschichte und Überlebsel derselben“ den bisher übersehenen Anteil des „Wiederkehrens des Vergessenen nach langen Intervallen.“ (MM, S. 190) Hier zeigte sich ihm die Analogie zwischen der traumatischen Individualneurose und dem Siegeszug des Monotheismus am deutlichsten. Er kam zum Schluss, daß jedes aus der Vergessenheit wiederkehrende Stück sich mit besonderer Macht durchsetzt, einen unvergleichlich starken Einfluß auf die Menschenmassen übt und einen unwiderstehlichen Anspruch auf Wahrheit erhebt, gegen den logischer Einspruch machtlos bleibt. Nach der Art des credo quia absurdum. Dieser merkwürdige Charakter läßt sich nur nach dem Muster des Irrwahns der Psychotiker verstehen. Wir haben längst begriffen, daß in der Wahnidee ein Stück vergessener Wahrheit steckt, das sich bei seiner Wiederkehr Entstellungen und Mißverständnisse gefallen lassen mußte, und daß die zwanghafte Überzeugung, die sich für den Wahn herstellt, von diesem Wahrheitskern ausgeht und sich auf die umhüllenden Irrtümer ausbreitet. Einen solchen Gehalt an historisch zu nennender Wahrheit müssen wir auch den Glaubenssätzen der Religionen zugestehen, die zwar den Charakter psychotischer Symptome an sich tragen, aber als Massenphänomene dem Fluch der Isolierung entzogen sind. (MM, S. 190f.)
Im ägyptischen Monotheismus, dessen Auftauchen Freud zunächst auf die pharaonische Weltherrschaft zurückführte, seien die Vorstellungen von der Herrschaft des Urvaters zunächst wiedererweckt geworden. Der erste Versuch eines Monotheismus wäre aber der „fanatischen Rachsucht“ der unterdrückten Priesterschaft und eines „unbefriedigten Volkes“, das der polytheistischen Volksreligion verhaftet geblieben war, zum Opfer gefallen. (MM, S. 121) Das Andenken Ikhnatons, der mit den Traditionen gebrochen hatte, sei als das eines Verbrechers geächtet und ein für alle Mal ausgelöscht worden. Moses habe den Monotheismus nach Ikhnatons Sturz wiederaufgefrischt. Da sein Volk die tief abstrakte und vergeistigte Religion aber nicht ertragen habe, hätte ihn dasselbe Schicksal ereilt. Freud bewertete die Tötung des Moses sonach als eine weitere machtvolle Wiederholung des Urvatermordes. Habe schon der Urvatermord tiefe Spuren zurückgelassen,165 so
165 Sigmund Freud stellte seine Theorie von den Uranfängen der Kultur und der Vergesellschaftung sowie von Religion, Recht und Moral in dem Vorwort des Buches von Theodor Reik über Religionspsychologie kurz und bündig dar. Den Ursprung der Kultur führte er auf einen Konflikt zurück, den der Ödipuskomplex unter den Menschen heraufbeschworen habe: „[…] daß Gottvater dereinst leibhaftig auf Erden gewandelt und als Häuptling der Urmenschenhorde seine Herrschermacht gebraucht hat, bis ihn seine Söhne im Vereine erschlugen. Ferner, daß durch die Wirkung dieser befreienden Untat und in der Reaktion auf dieselbe die ersten sozialen Bindungen entstanden, die grundlegenden moralischen Beschränkungen und die älteste Form einer Religion, der Totemismus. Daß aber auch die späteren Religionen von demselben Inhalt erfüllt und bemüht sind, einerseits die Spuren jenes Verbrechens zu verwischen oder es zu sühnen,
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habe der Mosesmord diese „archaische Erbschaft“ durch eine „rezente reale Wiederholung des Ereignisses“ erneut heraufgerufen. (MM, S. 208) Das Schicksal hatte dem jüdischen Volke die Großtat und Untat der Urzeit, die Vatertötung, näher gerückt, indem es dasselbe veranlaßte, sie an der Person des Moses, einer hervorragenden Vatergestalt, zu wiederholen. Es war ein Fall von ‚Agieren‘ anstatt zu erinnern, wie er sich so häufig während der analytischen Arbeit am Neurotiker ereignet. (MM, S. 195)
Urvater- und Mosesmord waren Freud zufolge nicht vollkommen vergessen worden, sie waren „halb erloschen“ und daher auch nur halb zugänglich gewesen. Zurück geblieben seien unbewusste „Erinnerungsspuren“. (MM, S. 206–208) Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Bluma Goldstein notiert: „By murdering their leader and father figure, the slayers of Moses repeated an unremembered, indeed unknown, event which, preserved as archaic inheritance in the psyche, apparently weighs heavily on the unconscious lives of all civilized people.166 Jan Assmann spricht vom „bewahrenden Vergessen“.167 Die Verfasser der Bibel waren Freud zufolge bemüht gewesen, „die auffälligste Tatsache der jüdischen Religionsgeschichte“ zu verhüllen, nämlich „daß zwischen der Gesetzgebung des Moses und der späteren jüdischen Religion eine Lücke klafft[e], die zunächst vom Jahvedienst ausgefüllt und erst später langsam verstrichen“ worden wäre (MM, S. 169): „Die priesterliche Bearbeitung hat hier ähnliches versucht wie jene entstellende Tendenz, die den neuen Gott Jahve zum Gott der Väter machte.“ (MM, S. 169) Da die zurückgelassenen Spuren die „historische Wahrheit“ mehr verstellt als aufgedeckt hätten, griff Freud zum Mittel der psychoanalytischen Konstruktion, um das durch die biblische Überlieferung Unterdrückte, Verborgene, Verleugnete und Verhüllte wieder ins Bewusstsein zu heben. In der historischen Anwendung seiner ‚individualpsychologischen‘ Theorie von der Latenzperiode erblickte er sonach eine Voraussetzung zur Aufklärung der „merkwürdigen Tatsache“, dass die mosaische Tradition „anstatt sich mit der Zeit abzuschwächen, im Laufe der Jahrhunderte immer mächtiger“ wurde. (MM, S. 173) Die hier wirksamen Mechanismen dechiffrierte er als eine zwanghafte Wiederholung. In ihr manifestierte sich das Trauma, mit ihr lebte der durch den Mosesmord aktualisierte Urvatermord wieder auf. Das
indem sie andere Lösungen für den Kampf zwischen Vater und Söhnen einsetzen, anderseits aber nicht umhin können, die Beseitigung des Vaters von neuem zu wiederholen.“ Sigmund FREUD, Vorrede zu Probleme der Religionspsychologie von Dr. Theodor Reik, I. Teil: Das Ritual (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. V), Leipzig und Wien 1919, in: DERS., Gesammelte Werke. Band XII, S. 325–329, hier S. 328. 166 GOLDSTEIN, Reinscribing Moses, S. 118. 167 ASSMANN, Der Fortschritt in der Geistigkeit. Sigmund Freuds Konstruktion des Judentums, S. 162.
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Trauma fiel daher nicht mit der Tat, die dieses auslöste, zusammen, für Freud zeigte es sich vielmehr in einer dynamischen Abfolge von der Tat über ihre Verdrängung zur „Wiederkehr des Vergessenen“. Die Zeit, die zwischen dem Abfall und dem Wiederauftauchen des mosaischen Monotheismus verflossen und in der „von der Verschmähung des Zeremoniells und von der Überbetonung des Ethischen“ (MM, S. 171f.) nichts verspürt worden sei, bezeichnete er als „Latenzzeit“. In dieser „Inkubationszeit“ – einer jahrhundertelangen Spanne zwischen der Zeit Moses, der Zeit der Propheten, die die mosaische Idee wach hielten, und der machtvollen Wiederkunft des mosaischen Monotheismus im Sinne der „Wiederkehr des Verdrängten“ – erblickte Freud eine wesentliche Übereinstimmung zwischen der Ätiologie der Individualneurose und der Ausbildung des jüdischen Monotheismus. Das Phänomen der Latenz im Kollektiv erklärte er sich dadurch, dass die mosaische Tradition trotz der späteren Verleugnung der Tatbestände durch die „offizielle Geschichtsschreibung“ der biblischen Autoren nicht spurlos verschollen war, sondern im Volke weitergewirkt habe. Freud stützte sich auf Ernst Sellin, der seiner Ansicht nach versichert habe, dass über den „Ausgang Moses’“ eine Tradition vorhanden gewesen wäre, die der offiziellen Darstellung widersprochen habe, aber der Wahrheit näher gekommen sei. (MM, S. 173) Sellin zufolge sei der Mosesmord von Priestern überliefert worden, und auch die prophetische Tradition habe die monotheistischen Ideale im Volk wach gehalten: „Die Stimmen der Propheten wurden nicht müde zu verkünden“, notierte Freud, „daß der Gott Zeremoniell und Opferdienst verschmähe und nur fordere, daß man an ihn glaube und ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit führe. Und wenn sie die Einfachheit und Heiligkeit des Wüstenlebens priesen, so standen sie sicherlich unter dem Einfluß der mosaischen Ideale.“ (MM, S. 167) Sigmund Freud, der zwischen der Ätiologie von Individualneurosen und dem Trauma, das Kollektiven widerfuhr, einen Analogieschluss zog, richtete das Augenmerk auf jenes komplizierte Zusammenspiel von bewussten und unbewussten Erinnerungsspuren, das die Traditionsbildung vorantrieb: Was ein Volk verdrängen würde, schreibt Richard J. Bernstein, sei niemals ,total‘ verdrängt – im Sinne von hermetisch unserem bewussten Leben entzogen.168 Immer blieben unbewusste Erinnerungsspuren zurück; da aber die Verdrängungen, das Vergessen und/oder Verleugnen nur unvollständig waren, konnte das Verdrängte, Vergessene und/oder Verleugnete wiederkehren, um sich danach mit großer Stärke zu entladen; nach Freud galt dies ebenso für das Individuum wie für das Kollektiv. Durch sein Konzept des Zusammenspiels bewusster Überlieferung und unbewusster psychischer Vorgänge konnte Freud das Verständnis von Traditionsbildungen, insbesondere der monotheistischen, maßgeblich erweitern. Dieses kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der Monotheismus als der Ankerpunkt der jüdischen Tradition verdankte sich zumindest zwei-
168 Vgl. BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 101f.
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erlei: der biblischen Überlieferung sowie dessen, was Freud in Analogie zur Ätiologie der Individualneurose neu hinzufügte, einem frühen Trauma, das einen Zwang destruktiver Wiederholung hervorrief. Der im Unbewussten verwahrte traumatisierende Vorfall hatte zwei Schichten, den Urvatermord („archaische Erbschaft“) und den Mosesmord. Der Mosesmord hatte Freud zufolge traumatisch gewirkt; die Mordtat hatte eine Erinnerungsspur, nämlich jene des Urvatermordes, wiedererweckt. Eine solche Wiederholung sah Freud auch im „vermeintlichen Justizmord an Christus“. (MM, S. 208) War der Monotheismus in Ägypten wieder verworfen worden, weil kein traumatisierender Vorfall dieser Art vorgelegen habe, so habe sich die „bewahrend vergessene“ Mosesreligion im späteren Volk Israel unter zwanghaftneurotischen Vorzeichen machtvoll als „Wiederkehr des Verdrängten“ durchgesetzt. Die unterste Schicht bestand für Freud darin, was er „archaische Erbschaft“ nannte.169 Mit diesem Schlagwort bezeichnete er das unbewusste psychische Inventar, das mit dem Mord an Moses wieder aus dem Unbewussten aufgetaucht sei. War der Mord an Moses der Auslöser, so war ein dynamischer Prozess im Sinne der „Wiederkehr des Verdrängten“ Freud zufolge die wahre Ursache, welcher der mosaische Monotheismus seine einzigartige Wirkung verdankte: Sie [die Tradition, J.F.] muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann zwingen kann, wie wir es an der religiösen Tradition mit Erstaunen und bisher ohne Verständnis gesehen haben. (MM, S. 209)
Die Schlussfolgerung, die Freud zog, liegt auf der Hand: Die mosaische Tradition hätte nicht jene mächtige Wirkung auf das Seelenleben eines Volkes ausüben können, wäre sie allein durch bewusste verbale oder nonverbale Weitergabe („Mitteilung“) überliefert worden. Da die religiöse Tradition aber „das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht“ habe, konnte sie „bei der Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten“, dass sie „die Massen in ihren Bann zwingen“ konnte. (MM, S. 209) Dass die Religion mit unbewussten Konflikten, der „psychologischen Wahrheit“, von der er sprach, in Verbindung stand, war für Freud offenkundig. In seiner Mann-Moses-Schrift richtete er das Augenmerk daher auf ihre „historische Wahrheit“. Diese bezog er aber nicht auf die Historizität des Moses, sondern auf eine Wahrheit, welche zur „Wiederkehr des Vergangenen“ geführt hatte: „Die Religionen verdanken ihre zwingende Macht der 169 Diesen Begriff verwendet Freud erstmals in der Traumdeutung (51919; hier 1999), S. 554: Das Träumen gäbe „Einblick“ in die „individuelle“ und „phylogenetische“ Kindheit. Durch die Analyse der Träume könnten die „archaischen Erbschaft“, das „seelisch Angeborene“, erkannt und „die ältesten und dunkelsten Phasen des Menschengeschlechts“ rekonstruiert werden.
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Wiederkehr des Verdrängten, es sind Wiedererinnerungen von uralten, verschollenen, höchst effektvollen Vorgängen der Menschengeschichte. Ich habe das schon in Totem und Tabu gesagt, fasse es jetzt in die Formel: ‚Was die Religion stark macht, ist nicht ihre reale, sondern ihre historische Wahrheit.‘“170 Sie zeigt sich im „Zwangscharakter“ des Auftauchens „der Idee eines einzigen großen Gottes“. (MM, S. 238f.) Kurz: Dass die angeblichen Wahrheitsaussagen der Religionen über die Welt und das Jenseits „materiell“ unwahr seien, war für Freud nicht der springende Punkt; er sah diesen vielmehr darin, dass ihre Wirkmächtigkeit auf der unbewussten, aufgeschobenen Erinnerung an tatsächliche Vorfälle beruhte, die bewahrend vergessen worden waren. So sei die halb erloschene Tradition des mosaischen Monotheismus im Sinne der „Wiederkehr des Verdrängten“ neu aufgelebt. Was Sigmund Freud in Mann Moses zeigte,171 war, dass der herkömmliche Traditionsbegriff zur theoretischen Aufklärung des Wiederauflebens erloschener Traditionen unzureichend sein konnte. Oftmals beruhten machtvolle Traditionen nicht allein auf mündlicher und/oder symbolischer bzw. medialer (verbaler und/oder nonverbaler) Vermittlung. Dadurch könnten sie nach einer Zeit kognitiv zergliedert und bald aufgegeben werden. Zur Aufdeckung jener Mechanismen, denen Traditionen tatsächlich unterworfen seien, bedurfte es Freud zufolge vielmehr der Voraussetzung unbewusster Vorgänge; insbesondere, was seine These betrifft, „daß die Moses-Religion ihre Wirkung auf das jüdische Volk erst als Tradition durchgesetzt hat“. (MM, S. 236) Die Wirkmächtigkeit dieser Tradition ist für Freud der Beweis dafür, „daß die Dinge wirklich so vorgefallen sind, […] oder wenigstens so ähnlich.“ (MM, S. 209) Freuds Schlussfolgerung war definitiv: „Alle diese Phänomene […] haben Zwangscharakter.“ (MM, S. 201) Und weiter: Sie haben das Privileg der „Befreiung vom Zwang des logischen Denkens.“ (MM, S. 209) Jan Assmann schreibt: So wie die Ermordung des Urvaters dem System der Urhorde ein Ende setzte und zum Gründungsakt bzw. Gründungsmord der Kultur und der totemistischen Religion wurde, so setzte die Ermordung des Mose der polytheistischen Religion ein Ende und wurde zum Gründungsmord des Monotheismus. Jede wirklich zwingende, die Seelen
170 Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 222–224. In der „Nachschrift 1935 zur ,Selbstdarstellung‘“ schrieb er: „In der ‚Zukunft einer Illusion‘ hatte ich die Religion hauptsächlich negativ gewürdigt; ich fand später die Formel, die ihr bessere Gerechtigkeit erweist: ihre Macht beruhe allerdings auf ihrem Wahrheitsgehalt, aber diese Wahrheit sei keine materielle, sondern eine historische.“ Sigmund FREUD, Nachschrift 1935, S. 33. 171 In dem Brief an Yisrael Doryon, für dessen Buch Lynkeus’ New State (Jerusalem 1940) Sigmund Freud eine Einführung verfasst hatte, schrieb Letzterer: „Das Neue an meiner Arbeit ist nicht das Ergebnis, sondern das Stückchen psychoanalytischer Bekräftigung desselben, […].“ Sigmund Freud an Yisrael Doryon, 7.10.1938, in: FREUD, Gesammelte Werke. Nachtragsband, S. 787.
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in Bann schlagende Überlieferung beruht auf Verdrängung und hat, um es salopp auszudrücken, eine Leiche im Keller.172
5.5.3 Das neue Traditionsmodell Im Mann Moses bewertete Freud ältere Vorstellungen, in denen die Vernunft zum Widerpart einer starren, sich als Magd der Theologie verstehenden Tradition stilisiert worden war, neu. Sollte Adorno später unter Tradition wieder das „am Weg liegen Gebliebene, Vernachlässigte, Besiegte, das unter dem Namen des Veraltens sich zusammenfaßt“,173 verstehen, manifestierte sich für Freud in ihr ein dynamisches Moment, laut Jan Assmann ein „von der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragender Imperativ“.174 Freud zufolge erstreckte sich der Traditionsbegriff sowohl auf bewusste als auch unbewusste Transmissionsvorgänge. Mit ihm vermittelte er der Wissenschaft ein Werkzeug zur Entschlüsselung des im Bewusstsein verdunkelten, aber unbewusst wirksamen Vergessenen, Verschollenen und Verschütteten. Zugleich vertiefte er damit das Verständnis von zeitübergreifenden identitätsstiftenden Prozessen. Auch Maurice Halbwachs verwendete den Traditionsbegriff in dem Sinne, dass er nicht mehr das längst überholte Irrationale damit bezeichnete. Auf den maßgeblichen Anteil, den beide – Freud und Halbwachs – an der Ausformulierung des Traditionsbegriffs hatten, wird noch zurückzukommen sein. Die Psychoanalyse lieferte Sigmund Freud Mittel zur Erkundung der „historischen Wahrheit“ des im Mosesmord wiederkehrenden Urvatermordes. Der Mord an Moses stellte für ihn das unentbehrliche Versatzstück der Verbindung „zwischen dem vergessenen Vorgang der Urzeit und dem späten Wiederauftauchen in Form der monotheistischen Religionen“ dar. (MM, S. 196) Das „bewahrende Vergessen“ (Jan Assmann) dieser Tat, der traumatische Schock und die „Wiederkehr des Vergessenen“ wurden für Freud zur Grundvoraussetzung, dass Moses zu dem wurde, was er seiner Ansicht nach war: „der Schöpfer des jüdischen Volkes.“ (MM, S. 208) Um nachzuweisen, dass jene Dynamik, die er in seiner ‚Individualpsychologie‘ zunächst für das Individuum aufgezeigt hatte, auch für das Kollektiv wirksam war, erweiterte Freud das konventionelle Traditionsmodell um den Aspekt zeitenübergreifender Transmission durch zwanghafte, unbewusste Vorgänge. Dass Freud als Zeuge gegen die gängige Sicht auf Traditionen auftrat, machte ihn allerdings zur Zielscheibe der Kritik. In den 1980er- und 1990er-Jahren entfachte die Annahme einer „mémoire involontaire“ (Marcel Proust) eine heftige Kontroverse. Im Zent-
172 ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 131. 173 Theodor W. ADORNO, Über Tradition, in: DERS., Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 2 1996 (Gesammelte Schriften 10.1), S. 310–320, hier S. 317. 174 ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 108.
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rum der Auseinandersetzung stand das Medium der Überlieferung. Yosef H. Yerushalmi beschäftigte sich u.a. mit einem Aspekt der Traditionstheorie Sigmund Freuds, den er in seinen Büchern Zakhor, Jewish History and Jewish Memory (1982/89)175 und Freud’s Moses (1991) als den „PsychoLamarckismus“ Freuds bezeichnete. Der Psycho-Lamarckismus-Vorwurf brachte Freud in Verdacht, seine Theorie von der auf traumatischer Erfahrung beruhenden Ausbildung des Monotheismus auf die Annahme der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gestützt zu haben. Im Zentrum der Analyse stand die von Freud explizit gegen das verfügbare Wissen der „biologischen Wissenschaft“ aufgestellte These, „daß die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt, Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen“, die „unabhängig von direkter Mitteilung und von dem Einfluß der Erziehung durch Beispiel“ weitergeführt worden wären. Diese „Erinnerungsspuren“, die jedes individuelle Unbewusste prägten, waren Freud zufolge von bewusster kultureller Überlieferung unbeeinflusst. Dieses Argument verleitete manche Kritiker zur Annahme, dass Freud Traditionsbildungen auf Vererbung zurückgeführt haben könnte. Freuds angeblicher Lamarckismus erregte Anstoß: Yerushalmi übersetzte ihn, „ins Jüdische dekonstruiert“, als nichts anderes als „das starke Gefühl, daß man […] nicht aufhören kann, Jude zu sein, […] weil man im Blut hat, was man am tiefsten und dunkelsten empfindet.“176 An dieser Zuschreibung entzündete sich die erwähnte Auseinandersetzung: Yerushalmi verdächtigte Freud (mit Verweis auf Ilse Grubrich-Simitis) der Unterstützung der Lamarck’schen Grundidee, wonach die Psychoanalyse ein biologisch vererbtes Urgedächtnis postuliert habe.177 Jacques Derrida (1930–2004) warnte allerdings vor der Vorstellung, dass sich Sigmund Freud in den Bahnen eines biologischen Gedächtnisses Lamarck’scher Spielart bewegt haben könnte, und er plädierte dafür, jene Aspekte, die Freud den Lamarckismusvorwurf einbrachten, neu zu untersuchen. Der New Yorker Philosoph Richard J. Bernstein verwarf schließlich den dichotomen Ansatz, den er im Lamarckismusvorwurf ausmachte. Das, was Freud in seiner subtilen Analyse anstatt der Gegenüberstellung von biologischer und bewusster Überlieferung als dritte Möglichkeit aufzuzeigen versucht habe, nämlich dass Erinnerungsspuren auch unbewusst überliefert
175 Yosef Hayim YERUSHALMI, Postscript: Reflections on Forgetting. An address delivered at the Colloque de Royaumont, June 3, 1987, in: DERS., Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, New York 1989 (Original 1982), S. 105–117, hier S. 109. In der deutschen Ausgabe – DERS., Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996 (Original 1988) – ist dieses Postskriptum nicht abgedruckt. 176 YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 55. 177 Vgl. ASSMANN, Archäologie und Psychoanalyse. Zum Einfluß Freuds auf die Kultur- und Religionswissenschaft, 2006b, S. 87. DERS., Archäologie und Psychoanalyse. Zum Einfluß Freuds auf die Kultur- und Religionswissenschaft, 2006a, S. 1051. DERS., Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis, S. 7.
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werden konnten, wäre unversehens mit der von der Biologie verworfenen Theorie von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ gleichgesetzt und als psycho-lamarckistisch etikettiert worden: Tertium datur?! 5.5.4 War Freud ein Psycho-Lamarckist? Richard J. Bernstein berief sich auf Derrida, um zu zeigen, dass Freud nicht auf ein biologisch konzipiertes Gedächtnis, sondern „schlicht auf die ‚Erinnerungsspuren‘ des mosaischen Ideals in der prophetischen Tradition“ verwiesen haben könnte.178 Derrida zeigte in seiner Schrift Dem Archiv verschrieben (1997), dass „diese Eigenschaften und diese Spuren“ dem Freudschen Modell zufolge Überlieferungswege beschreiten konnten, für die der Wissenschaft seiner Zeit noch keine Begriffe zur Verfügung gestanden wären.179 Jene Wege hätten aber nicht zwangsläufig zu Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829) zurückgeführt, da Freud zwischen den beiden Gedächtnistypen – der biologisch erworbenen Eigenschaft oder der Erinnerung einer auf die Vorfahren zurückreichenden Erfahrung – bloß Analogien vermutet habe, wenn er schrieb: „Aber es wird wohl sein, daß wir uns im Grunde das eine nicht ohne das andere vorstellen können.“ (MM, S. 207) Weiters unterstrich Derrida, dass Freud zwar auf den Bezug auf die biologische Evolution nicht verzichten wollte, sich aber in der Ausführung seines Arguments um vieles zurückhaltender, vor- und umsichtiger gezeigt habe, als es der PsychoLamarckismus-Vorwurf nahelegte. Derrida verwies überzeugend auf die Unvereinbarkeit von Freuds vermeintlicher „Zustimmung zu einer biologischen Doktrin erworbener Eigenschaften – kurz gesagt, des biologischen Archivs“ – mit all dem, was er auf der anderen Seite anerkannt hatte: „das Gedächtnis der Erfahrung vorangegangener Generationen, die Zeit der Bildung der Sprachen und einer Symbolizität, die die bestehenden Sprachen und die Diskursivität als solche transzendiert.“180 Der springende Punkt in der Theorie der Transmission aufgrund traumatischer Erfahrung scheint aber darin zu liegen, dass Freud Individuen und keineswegs ein organisches Kollektiv, gar ein ‚Volk‘, als den Akteur der Verdrängung identifiziert hatte. Auch in seinem Spätwerk war der Psychoanalytiker nicht von jener hypostasierungskritischen Haltung abgewichen, die er auch in seinen anderen ‚individual‘- und sozialpsychologischen Schriften vertreten hatte. Die Annahme eines „kollektiven Unbewußten“, die Carl Gustav Jung (1875–1961) vertrat, hatte er daher mit tiefer Skepsis verworfen. Davon legte er auch im Mann Moses Zeugnis ab: „Ich glaube nicht, daß wir etwas erreichen, wenn wir den Begriff eines ‚kollektiven‘ Unbewußten einführen.“ (MM, S. 241) Sonach konnte auch nur das indivi-
178 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 90, und vgl. ebenda, S. 99, S. 176. 179 DERRIDA, Dem Archiv verschrieben, S. 63. 180 Ebenda, S. 62.
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duelle Unbewusste jener Ort sein, an dem sich das ‚kollektiv‘ Verdrängte ablagerte. Die Inhalte des Unbewussten waren Freud zufolge von vornherein aber durch Kollektive gerahmt, d.h. allgemeiner Besitz der Menschen. Hier zeigt sich schon, dass Freud das, was ihn für Yerushalmi des Psycho-Lamarckismus verdächtig machte, keineswegs vertreten hatte, nämlich dass er die Gruppe angeblich als einen „Organismus“ aufgefasst habe, „endowed with a collective psyche whose functions correspond in every way to that of the individual“,181 oder dass er den Volksbegriff182 nicht metaphorisch verwendet hätte. Als Yerushalmi die Psychoanalyse bezichtigte, „die ganze Überlieferungsgeschichte in ein hypothetisches Gruppenunbewußtes zu verlagern,“183 warf er Freud in einem fiktiven Dialog etwas vor, – nämlich eine „kollektive Psyche“ postuliert zu haben, um sie mit der des Individuums gleichzusetzen – was dieser wohl niemals im Sinn gehabt hatte, im Gegenteil: Zwar wusste Freud, dass auch „in den Massen […] der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren erhalten“ geblieben sei (MM, S. 201), jedoch hatte er über die Art der psychischen Verankerung und Überlieferung dieser Spuren im Kollektiv in der Zeit der Latenz keine Aussage getroffen: In welcher „psychologischen Form“ jenes im Völkerleben Unbewusste, „das wir dem Verdrängten im Seelenleben des Einzelnen gleichzustellen wagen“, „während der Zeit seiner Verdunkelung“ vorhanden war, versicherte Freud seinen Lesern, „wissen wir zunächst nicht zu sagen.“ (MM, S. 241) Die Anspielungen Sigmund Freuds auf ‚die Vererbung erworbener Eigenschaften‘ sind in der Tat missverständlich und von Kühnheit gespickt, meinte er doch, „diesen Faktor in der biologischen Entwicklung nicht entbehren“ zu können. (MM, S. 207) Auch Derrida zufolge ist seine phylogenetische Sichtweise irreduzibel. Allerdings hatte Freud eine unmissverständliche Unterscheidung zwischen „hier“ – den „Erinnerungsspuren an äußere Eindrücke“ – und „dort“ – den „erworbenen Eigenschaften, die schwer zu fassen sind“, – getroffen. (MM, S. 207) Folglich reduzierte er nicht das eine auf das andere, sondern meinte nur, sich das eine nicht ohne das andere vorstellen zu können. Derrida zufolge führte Freud seine Frage nach der Phylogenese (Artenentwicklung) nicht notwendig zu Lamarck’schen Schemata zurück. Was Freud primär vor Augen hatte, waren nicht die Medien der Überlieferung – wie etwa Vererbung, sondern die Ursachen für die ungeheure, „die Massen in ihren Bann“ zwingende Wirkung. (MM, S. 209) Sein Standpunkt war der des Therapeuten: „Der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen.“184 Da er den Anstoß zur Überlieferung in den „‚Erinnerungsspuren‘
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YERUSHALMI, Postscript: Reflections on Forgetting, S. 109. Vgl. ebenda, und YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 130. Ebenda, S. 132. Sigmund FREUD (Einleitung gem. m. Josef BREUER), Studien über Hysterie (Original 1895), in: DERS., Gesammelte Werke. Band I. Werke aus den Jahren
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des mosaischen Ideals, die in der prophetischen Tradition“ weiterwirkten (bewusste Überlieferung), sowie in dem im Vatermord grundierenden Trauma (unbewusste Übermittlung) sah, ist trotz seiner irreführenden metaphorischen Sprachverwendung („das seelisch Angeborene“185) die Schlussfolgerung nicht zwingend, dass er die Ausbildung der monotheistischen Tradition auf Vererbungsprozesse zurückführte. Zwar erinnerte auch Ernest Jones, dass für Freud „sehr wahrscheinlich die Vererbung eine wichtige Rolle“ gespielt habe (Jones sprach mit Verweis auf Freud von der „Vererbung der Tradition“),186 die Vorstellung einer „organic memory“187 in Bezug auf Kollektive lässt sich an seinem Werk aber schwer ablesen. So bezog er auch den unglücklichen Begriff der „archaischen Erbschaft“, der auf die ‚Vererbung‘ psychischer Bilder verweisen konnte, auf den Einzelnen188 und auf die spezifische Art seiner Aufbewahrung traumatischer Eindrücke im Unbewussten. Zu Recht verwies Jones daher darauf, dass Freud die Anschauungen von einem vererbten ‚kollektiven Unbewussten‘ nicht geteilt habe. Als „Träger der Tradition“ ermittelte Letzterer im Jahr 1933 das ‚Über-Ich‘, jene mit dem ‚Es‘ verbundene Instanz der Identifizierung mit dem Ichideal elterlicher bzw. väterlicher Autorität.189 Dabei zeigte sich aber, dass nach Freud die Wirkmacht des Vergangenen nicht notwendig eines hereditären Speichers bedurfte, da Traditionsbildung auf psychischen Vorgängen beruhte, durch welche die aus der Vergangenheit rührenden Komplexe von einer Generation zur anderen jeweils neu aufgerufen und vermittelt würden: „In den Ideologien des Über-Ichs“, schrieb Freud, „lebt die Vergangenheit“ weiter. Sie würde den Einflüssen der Gegenwart nur langsam weichen.190 Sonach sah auch Jones „keine Notwendigkeit, Freuds Theorie von der Übertragung durch die Tradition zu verwerfen.“191 Zwar wäre es Freud durch die Voraussetzung des Lamarckismus in der Tat leichter gefallen, seine analogische Theorie weiterzubilden, die Kluft zwischen ‚Individual‘- und Massenpsychologie zu überbrücken, und „die Völker […] wie den einzelnen Neurotiker“ zu ‚behandeln‘. (MM, S. 207) Allerdings spricht vieles dafür, dass er auf diese Hilfestellung verzichten konnte. Über die Modi der Übermittlung des Unbewussten im Kollektiv traf er jedenfalls keine explizite Aussage. Freud hatte sich zwischen 1912 und 1920 zwar aus-
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1892–1899. Nachdruck der Ausgabe von London 1952, hg. von Anna Freud [u.a.], Frankfurt am Main 1999, S. 75–312, hier S. 86. FREUD, Traumdeutung, S. 554. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 338. Laura OTIS, The Memory of Race. Organic Memory in the Works of Emile Zola, Thomas Mann, Miguel de Unamuno, Sigmund Freud and Thomas Hardy, PhD Dissertation, Cornell University 1991, S. 160–198. FREUD, Das Ich und das Es, S. 265. FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 73. Ebenda. JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 436.
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führlich mit Lamarck beschäftigt,192 namentlich bezog er sich in seinem Werk aber nirgendwo direkt auf ihn (im Unterschied zu Darwin).193 Sigmund Freud argumentierte sehr bedacht und differenziert: Was er in der ‚Individualpsychologie‘ als das für das ‚Ich‘ unannehmbare „Verdrängte“ bezeichnete, verwendete er im kollektiven Zusammenhang „im uneigentlichen Sinn“. Er nannte es „als etwas Vergangenes, Verschollenes, Überwundenes im Völkerleben“. (MM, S. 241) Mitunter sprach er in diesem Zusammenhang vom „Wiederkehren des Vergessenen [!] nach langen Intervallen.“ (MM, S. 190) Auch in seinen anderen Werken hatte er Zeichen gesetzt, die zeigen, dass Yerushalmi Freud überinterpretierte: Der New Yorker Historiker zieht in seinem „Monolog mit Freud“ diesen für etwas zur Rechenschaft, was er so nicht vertrat: Sigmund Freud postulierte keineswegs eine als Organismus begreifbare „kollektive Psyche“; im Gegenteil, er verwarf Hypostasierungen (wie z.B. die „Massenseele“) als metaphysische Annahmen. In Anbetracht dessen, dass er jede als organisch aufzufassende Begrifflichkeit zurückwies, betrieb er die Massenpsychologie auch als ‚Individualpsychologie‘. So wie es Freud zufolge die „Kollektivseele“ nur als begriffliche Abstraktion gab, für etwas, das in der Wirklichkeit so nicht anzutreffen war, so gab es für ihn auch weder einen als Gruppe aufzufassenden Organismus noch ein greifbares „kollektives Unbewußtes“ bzw. „Gruppenunbewußtes“. Für Freud war das Unbewusste sui generis individuell, nicht aber für seinen Schweizer Weggefährten Carl Gustav Jung. Sein abtrünniger Schüler sollte die Psychologie des Unbewussten auf vermeintlich „neue Bahnen“ lenken, auf die ihm Freud jedoch keinesfalls folgte. Diese im 19. Jahrhundert vorgezeichneten Wege waren im Besonderen durch den Topos der Vererbbarkeit gesäumt. Jung vollzog eine Abkehr von der Auffassung der subjektiven Ausformung des Unbewussten, die sein väterlicher Mentor vertreten hatte. Freud zufolge war es sexuell verursacht; für Jung, seinen Protegé, schien diese Vorstellung aber unannehmbar zu sein, sodass er den Standpunkt vertrat, dass sich die dem Unbewussten zur Verfügung stehenden Materialien nicht nur in den individuellen Infantilreminiszenzen, sondern „auch [in den] über die Grenzen des Individuums hinausgreifende[n] [vererbbaren, J.F.] ,Erinnerungen der Rasse‘“ manifestierten.194 In den Träumen zeigte sich C. G. Jung zufolge daher nicht nur das bewusstseinsfähige „persönliche Unbewußte“, sondern auch die auf das Seelenleben der Menschheit Einfluss ausübende mächtige Tiefenschicht des
192 Zum lamarckistischen Umfeld Sigmund Freuds in Wien vgl. Eliza SLAVET, Racial Fever. Freud and the Jewish Question, New York 2009, S. 72–78. Zu Freuds „Suspiciously Bolshevik Lamarckism“ vgl. ebenda, S. 78–85. 193 Vgl. Sigmund FREUD, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Band XVIII. Gesamtregister zusammengestellt von Lilia Veszy-Wagner, Frankfurt am Main 1999. 194 C. G. JUNG, Neue Bahnen der Psychologie (Original 1912), in: DERS., Gesammelte Werke, hg. von Marianne Niehus-Jung [u.a.]. Band 7, Solothurn– Düsseldorf 1995, S. 251–274, hier S. 270.
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„unpersönlichen“ oder „kollektiven Unbewußten“. Darunter verstand er jenen „Inhalt des Unbewußten […], der aus den unbewußten Wahrnehmungen äußerer realer Vorgänge einerseits, und andererseits aus allen Residuen phylogenetischer Wahrnehmungs- und Anpassungsfunktionen“ bestand. Das Unbewusste enthielt für ihn auch „Unpersönliches, Kollektives in Form vererbter Kategorien oder Archetypen“.195 Das kollektive Unbewusste war für Jung „ein historisches Spiegelbild der Welt“.196 Diese zeitlosen überindividuellen seelischen Triebkräfte standen der „bewußten Seele“ und sogar den „unbewußten Oberschichten“ (Vergessenes, Verdrängtes, Sinneswahrnehmungen von geringer Intensität und daher vorbewusst) ‚manifest‘ gegenüber. Zusammen ergaben sie die Kollektivpsyche: „Insofern es der Rasse, dem Stamm oder gar der Familie entsprechende Differenzierungen gibt“, konstatierte Jung, so gäbe es auch eine „auf Rasse, Stamm und Familie eingeschränkte Kollektivpsyche über das Niveau der ‚universalen‘ Kollektivpsyche hinaus.“197 Hatte er zunächst (1916/1928) die Hypothese aufgestellt, „daß das Unbewußte, in seinen tieferen Schichten gewissermaßen, relativ belebte, kollektive Inhalte besäße“, so war es Jung – nicht Freud –, der diese „gewaltige geistige Erbmasse der Menschheitsentwicklung“ später als ein „natürliches Organ mit einer ihm spezifischen produktiven Energie“ bezeichnete.198 Dieses Konzept erlaubte Jung schließlich die Trennung der „psychischen Erbmasse“ in das „jüdische“ und in das „arische Unbewußte“. Wertunterschiede standen für ihn außer Zweifel: „Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische“, vermerkte Jung 1934 in dem Aufsatz „Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie“.199 C. G. Jung hatte von 1933 bis 1940 das Amt des Präsidenten der internationalen „Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie“ inne, deren Ausrichtung eindeutig nationalsozialistisch war. Als Herausgeber der Verbandszeitschrift
195 C. G. JUNG, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten (Original 1928), in: DERS., Gesammelte Werke. Band 7, S. 127–247, hier S. 146. Mit dem Archetypenbegriff bezeichnete Jung den in der Seele der Menschheit vererbten, archaischen Symbolschatz. Archetypen manifestierten sich in Mythen, Märchen, Träumen usw. Sie verkörperten unbewusste „Urbilder“, die als psychische Strukturdominanten auf das Individuum prägend wirkten. 196 C. G. JUNG, Die Struktur des Unbewussten (Original 1916), in: DERS., Gesammelte Werke. Band 7, S. 275–320, hier S. 314f. 197 Ebenda, S. 285. 198 C. G. JUNG, Analytische Psychologie und Weltanschauung (Original 1931), in: DERS., Seelenprobleme der Gegenwart, Leipzig–Stuttgart 1931 (Vorträge und Aufsätze. Psychologische Abhandlungen 3), S. 296–335, hier S. 307, und DERS., Die Struktur der Seele (Original 1927/28), in: Seelenprobleme der Gegenwart, S. 144–175, hier S. 175. 199 C. G. JUNG, Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie, in: Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der medizinischen Psychologie und Psychischen Hygiene. Organ der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, hg. von C. G. Jung 7 (1934), S. 1–16, hier S. 9 [wieder abgedruckt in: DERS., Gesammelte Werke. Band 10, Solothurn–Düsseldorf 1995, S. 181–199, hier S. 191].
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Zentralblatt für Psychotherapie hatte Jung in seinem Geleitwort (1933) von „den schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie“ gesprochen, die im Sinne der Wissenschaft „nicht mehr verwischt werden“ sollten.200 Der bekannte Schweizer Therapeut hatte völkerpsychologische Stereotypen des 19. Jahrhunderts wiederaufgegriffen. Hierbei stand ihm sein Konzept des „kollektiven Unbewussten“ hilfreich zur Seite: „Jung kehrte einfach zu seinen bürgerlichen und antisemitischen Vorurteilen zurück“, schreiben Josef Rattner und Gerhard Danzer, die er vorübergehend seinem väterlichen Mentor Freud zuliebe scheinbar abgelegt hatte.201 Sigmund Freud lehnte Jungs Konzept des „kollektiven Unbewussten“ im Mann Moses wie erwähnt strikt ab. Trifft das, was Yerushalmi Freud und der Psychoanalyse vorwarf, aber in dieser Überspitzung nicht zu, dass Letzterer nämlich die Gruppe als einen Organismus aufgefasst habe, „der mit einer kollektiven Psyche ausgestattet ist, deren Funktionsweisen in jeder Hinsicht mit der des Individuums korrespondieren“,202 so relativiert sich zwangsläufig auch der PsychoLamarckismus-Vorwurf. Ist es angesichts der Tatsache, dass Freud die Konzepte eines „kollektiven Unbewußten“, einer „Massen- bzw. Rassenseele“ und „Kollektivpsyche“ verwarf, noch plausibel anzunehmen, dass er sich auf ein organisches Gedächtnis berief, das angeblich die traumatischen Erfahrungen einer Gruppe, eines Volkes oder einer Masse hereditär speicherte? Wohl nicht, denn: Wurde die Gruppe nicht als ein Organismus begriffen, sondern, wie Freud notierte, als „eine Vereinigung von Einzelnen“, die eine Autorität in ihr ‚Über-Ich‘ eingeführt hätten und sich aufgrund dieser Gemeinsamkeit in ihrem ‚Ich‘ miteinander identifizierten,203 so konnte sich in ihr auch kein kollektives Unbewusstes manifestieren. Das Unbewusste konnte daher nicht organisch – weder ‚arisch‘ noch ‚jüdisch‘ – sein. Freud definierte es als eine Kategorie der Individualpsyche; das Problem, das ihn berührte, war das seiner „Erhaltung im Psychischen“204 und Derrida zufolge – wie erwähnt – nicht notwendig das des „biologischen Archivs“. Was Freud, nicht aber seinen Hauptfeind, den Wiener Völkerkundler Wilhelm Schmidt, – wie weiter unten gezeigt werden wird – betrifft, so ist der Lamarckismus-Vorwurf in dieser scharfen Ausprägung wohl überzogen. Stattdessen wäre zu überlegen, ob Freud den Traditionsbegriff nicht in einem völlig neuen Sinn verwendete. So interessierte er sich weniger für die Medien (Rituale, Erzählungen, Schriftstücke) als vielmehr für die komple200 C. G. JUNG, Geleitwort, in: Zentralblatt für Psychotherapie 6 (1933), S. 139. 201 Josef RATTNER, Gerhard DANZER, Carl Gustav Jung oder die Gegenaufklärung in der Tiefenpsychologie, in: DIES., Europäische Kulturbeiträge im deutsch-schweizerischen Schrifttum von 1850–2000. Essays über Bachofen, Burckhardt, Keller, Meyer, Spitteler, Jung, von Salis, Frisch, Dürrenmatt, Würzburg 2003, S. 155–177, hier S. 159. 202 YERUSHALMI, Postscript: Reflections on Forgetting, S. 109. 203 FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 74. 204 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 426.
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xen Mechanismen epochenübergreifender Transmissionsprozesse. Zweifelsfrei innovativ war seine Annahme, dass sich Traditionen über das Zusammenspiel von bewussten und unbewussten Vorgängen ausbildeten. Über die Ausformungen der unbewussten Erinnerungsspuren im Kollektiv äußerte sich Freud aber ausdrücklich nicht. Hier erhoffte er sich von der Wissenschaft der Zukunft Aufschluss. Jan Assmann argumentiert in diesem Zusammenhang, dass das „kulturelle Gedächtnis“ in der Theoriebildung Sigmund Freuds einen „blinden Fleck“ dargestellt habe.205 Demgegenüber wäre allerdings zu überlegen, ob es für Freud nicht noch einen weiteren Grund gab, die Kultur nicht als Medium der Überlieferung ins Spiel zu bringen. Im folgenden Abschnitt zu den Authentizitätsdiskursen in Österreich wird zu zeigen sein, dass der Kulturbegriff insbesondere (neben dem der Ethnie) nicht jene unverfängliche Bedeutung besaß, die diesen Begriffen heute in analytischer Verwendungsweise zugewiesen wird. So hat insbesondere der Kölner Journalist, Autor und Rassismusforscher Mark Terkessidis auf jene „kulturalistische Wende“ in den 1920er-Jahren verwiesen, mit der rassisch-biologische Abgrenzungsmuster in neue Begrifflichkeiten gehüllt worden seien.206 Der Sache nach wurde Kultur in jenen Jahren, als Freud sein Spätwerk verfasste, als eine Stütze völkischer Identitätspolitik – als Ideologie der Separierung von ‚Wir‘- und ‚Ihr-Gruppen‘ – verwendet. Hierfür werden im nächsten Abschnitt Belege angeführt. War die Kultur in den Tiefen der ‚Volksseele‘ verwurzelt, so leistete sie einer Art Authentisierung Vorschub, die in einer kollektiven Selbstaufwertung durch Abwertung anderer bestand. Daher ist es dem weitsichtigen Freud nicht zu verdenken, dass er – der Psychoanalytiker – weniger die Speichermedien Kultur und Vererbung als vielmehr dynamische Prozesse psychischer Art als traditionsstiftende und -bewahrende Momente im Blick hatte. Walter Benjamins Thesen in Über den Begriff der Geschichte (1942) fokussieren auf die Funktion der kulturellen Überlieferung. Denn, so sprach Benjamin offen aus: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.“207 Benjamin hatte das
205 ASSMANN, Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis, S. 7. Ein „phylogenetisches Gedächtnis, das sich biologisch vererbt“, schreibt Jan Assmann 2007 zu Recht, könne daher nicht in die kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie aufgenommen werden: „Die Kultur, und nicht die Biologie“ sei „das Medium der Übertragung“. DERS., Sigmund Freud als Kulturtheoretiker. Archäologie und Psychoanalyse, in: Wolfgang HEGENER [u.a.] (Hg.), Erinnern und Entdecken. Zur Aktualität Sigmund Freuds, Gießen 2007, S. 55–73, hier S. 61, und S. 69. 206 TERKESSIDIS, Wir selbst sind die Anderen, S. 232–242. 207 Walter BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte (Original 1940), in: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I, 2, Frankfurt am Main 1991 (stw 931), S. 691–704, hier S. 696. Dieser Essay wurde 1942 posthum in einer Sonderausgabe der
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Ziel verfolgt, Baudelaire als Zeugen einer bestimmten Art der Überlieferung aufzubieten. Analog dazu bot Freud eine „Art von historischem Roman“208 auf, um die Mechanismen der Ausbildung der monotheistischen Tradition aufzuzeigen.
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In seinem Spätwerk analysierte und würdigte Sigmund Freud die traditionsbildende Funktion des Monotheismus, ohne dabei aber die unreflektierte Sinnproduktion, die für ihn ein Grundmerkmal der Religionen darstellte, aus den Augen zu verlieren. In ihr zeigt sich sinngemäß das, was in den Sozialund Kulturwissenschaften heute als ‚Authentisierung‘ bezeichnet wird. Die Konstruktion eines unzweifelhaften ‚Ur‘-sprungs verschafft Sicherheit: Wenn Freud Moses aber als einen Ägypter vorstellt, so dekonstruiert er das, was authentisch erscheint. Somit erkannte schon Freud, dass die Annahme tief verwurzelter, unveränderlicher, also stabiler Identitäten zwar Sinn stiftete, zugleich aber ihre Vorläufigkeit ausblendete. So wie Identitäten historisierbar sind, so war auch das Verhältnis der Mosesfigur zu Ägypten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich akzentuiert worden. Wurden diese ‚Gedächtnis- bzw. Erinnerungsspuren‘ aber in Zeiten nationaler Identitätsfindung verdeckt, so war Spaltungs-, Entzweiungs- und Ausgrenzungsprozessen Tür und Tor geöffnet. Dem Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz zufolge zeigt sich in solchen Authentisierungsvorgängen ein spezifisch antimoderner Affekt.209 In Österreich manifestierte er sich insbesondere im Antisemitismus, der sich vor dem Hintergrund seiner Vernationalstaatlichung nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie beträchtlich verschärfte. In seinem Spätwerk versuchte Sigmund Freud, – so das Argument – beispielhaft Auswege von solch prekären Identitätsfindungsprozessen, die mit der Ausgrenzung der Juden verknüpft waren, aufzuzeigen. Mit der Zurückweisung dieser Art kollektiver Selbstvergewisserung führte er vielen seiner Leser zunächst zwar einen undenkbaren Sachverhalt vor Augen, jedoch gab er den in diese unheilvollen Abläufe verstrickten nationalistischen Akteuren zu erkennen, wie sie von der Seite zwanghaft neurotischer Authentisierung auf die einer bewusst reflexiven ‚Ich‘- bzw. ‚Wir-Identität‘ wechseln konnten.
Zeitschrift für Sozialforschung durch das Institut für Sozialforschung in Los Angeles veröffentlicht. Vgl. BENJAMIN, Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band I, 2, S. 1223–1228. 208 Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 222f. 209 Vgl. Norbert BOLZ, Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung, in: Anne-Kathrin REULECKE (Hg.), Fälschungen. Zu Autorenschaft und Beweis in den Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main 2006 (stw 1781), S. 406–417, hier S. 416.
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5.6 S IGMUND F REUD . D ER AUTHENTIZITÄTSKRITIKER Als Analytiker des Sozialen setzte sich Sigmund Freud zeitlebens mit dem Thema kultureller Konstruktionen auseinander, und er bezog hierzu eine kritisch-distanzierte Haltung. Das „Dreieck Männlich/Weiblich/Jüdisch“ und die Auflösung kulturell konstruierter Gegensätze, die Jacques Le Rider in seinem Buch Modernité viennoise et crises de l’identité (1990) als zentrale Momente der Psychoanalyse identifiziert, sind für Sander Gilman nicht weniger signifikant. Der amerikanische Kulturhistoriker schreibt, dass „Freud die offensichtliche Dichotomie des Männlichen und Weiblichen in Frage [stellte], indem er ein allgemeines Kontinuum zwischen den beiden Polen“ annahm. Und weiter: Der Wunsch Freuds, sich im Bereich der Geschlechterpsychologie von solch rigiden Unterscheidungen zu lösen, sei mit seinem Wunsch, den er als integrierter Jude hegte, gleichzusetzen, ähnliche Unterscheidungen im Bereich der Rassenbiologie fallen zu lassen.210 Von dieser dekonstruktivistischen Art des Zugriffs wich der Psychoanalytiker zeitlebens nicht ab: Um 1900 hatte er die Vorstellung vom ‚Ich‘ als einem autonomen Wesen verworfen, Jahrzehnte später erteilte er ebenso der von ‚Identitätswissenschaftlern‘ der Zeit vertretenen Auffassung von einer ‚Wir-Substanz‘ eine Absage. In der Mann-Moses-Schrift wird dies besonders deutlich. Das „Kernstück“ dieser Arbeit erblickte Freud darin, das in der Bibel kodifizierte und durch sie mächtig wirkende Bild von Ägypten als das Andere des jüdisch-christlichen Monotheismus aufzulösen. Zu diesem Zweck zeichnete er Moses nicht als Juden, sondern als Ägypter. Was Freud hiermit eindrucksvoll zeigte, war die „Abhängigkeit des jüdischen Monotheismus von der monotheistischen Episode in der Geschichte Ägyptens“ (MM, S. 130). Sein damit verbundenes Ziel war es, „die Gestalt eines ägyptischen Moses [wieder] in den Zusammenhang der jüdischen Geschichte [sowie unausgesprochen wohl auch in die des Christentums, J.F.] einzufügen“ (MM, S. 154), keineswegs jedoch, den Juden ihre Tradition bzw. Identität streitig zu machen. Aus dieser Perspektive erscheint Sigmund Freuds Bemerkung, dass die Mann-Moses-Schrift dieser „einzigen Absicht“ (MM, S. 154) dienen sollte, aufschlussreich, war mit ihr doch eine zentrale Frage seiner Zeit verknüpft: Verfolgte er, der im „Mann Moses“ nicht nur eine historische, sondern auch eine Figur der Erinnerung identifizierte, mit der symbolischen Überbrückung der tradierten Spaltung nicht das Ziel, ihren verhängnisvollen Auswirkungen, die sich u.a. im wachsenden Antisemitismus manifestierten, entgegenzusteuern? Für den Historiker, der das Schaffen Sigmunds Freuds
210 GILMAN, Freud et les concepts de Race et de Sexe, S. 99–122, hier S. 122, weitgehend in der Übersetzung von Jacques LE RIDER, Jüdische Identität in Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, in: Literatur und Kritik 317/318 (1997), S. 25–32, hier S. 26. Vgl. DERS., Das Ende der Illusion, 1990, und DERS., Freud – Von der Akropolis zum Sinai, S. 215.
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im Lichte der zeitgenössischen Authentisierungsprozesse untersucht, liegt das, was sich dieser von der Veröffentlichung seiner unhaltbaren historischen Thesen versprach, auf der Hand. Ich interpretiere: Zu einer Zeit, als sich in Zentraleuropa soziale In- und Exklusionsprozesse zusehends verschärften, sollten sowohl die angefeindeten Juden als auch die Christen vom Zwang befreit werden, sich als wesensverschieden, d.h. als jüdisch oder arisch, definieren zu müssen. In jedem Anspruch auf Wesenhaftigkeit lauerte für Freud eine explosive Gefahr – war es das Zerrbild von einem deutschen Wesen, das angeblich in der Kultur, im Volk oder in der Rasse verborgen lag, oder eben die Vorstellung von einer genuin jüdischen Rasse. Unter Identität (einem Begriff, den Freud in seinem wissenschaftlichen Werk allein in Bezug auf das ‚Ich‘ verwendete) verstand er etwas völlig anderes als das, was der essenzialistische Selbstvergewisserungsdiskurs anderer wissenschaftlich tätiger Zeitgenossen verschiedenen Kollektiven vorzugeben versuchte. Jacques Le Rider ist zuzustimmen, wenn er in Bezug auf Freud von einer „radikalen Dekonstruktion“211 und einer „radikalen Überschreitung der Auffassung von der jüdischen Rasse“ spricht.212 Im Hinblick auf das Ziel, das Freud verfolgte, erwies sich die Mosesfigur als besonders attraktiv, erfüllte sie doch die Voraussetzung, als verbindende Gestalt der „Gedächtnisgeschichte“ jenseits ethnisch-nationaler Trennungen gezeichnet zu werden. So konnte Jan Assmann zeigen, dass schon die ‚Moses-der-Ägypter-Debatte‘ „auf einen Ort jenseits dieser Unterscheidung“ verwiesen habe.213 In diesem Sinne sollte sich auch Freud in seiner Analyse nicht ausschließlich auf das Judentum beziehen, sondern im Kapitel „Anwendung“ der Theorie vom kollektiven Trauma (MM, S. 185–198) auch das Christentum als „monotheistische Religion“ in den Blick nehmen.214 Die ‚Moses-der-Ägypter-Debatte‘ griff Freud auf, um seinen Lesern die verdunkelte Verwobenheit der jüdisch-christlichen Tradition neu vor Augen zu führen und um in ihrer Verleugnung die wesentliche Ursache des ‚unsterblichen‘ Judenhasses aufzudecken. In dieser Arbeit wird das Moses-Buch in diesem Sinne als eine Intervention seines Autors in die unheilvollen Dynamiken nationalistischer „(self)-authentication“ (Birgit Schaebler) verstanden.
211 LE RIDER, Freud – Von der Akropolis zum Sinai, S. 214, S. 218. 212 LE RIDER, Jüdische Identität in Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, S. 26. 213 ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 220. 214 Yerushalmi minimalisiert diesen Sachverhalt: Zwar habe Freud den Begriff „jüdisch“ im Titel vermieden, „andererseits geht es natürlich bei ‚die monotheistische Religion‘ eindeutig um das Judentum.“ Sein Argument lautet: Da das Christentum nach Paulus als heidnisch einzustufen war, konnte Freud den Monotheismus nicht darauf bezogen haben. (YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 84) Auf Freud trifft diese Einschätzung Yerushalmis aber nicht voll zu. Jener erkannte auch im Christentum einen Monotheismus, bezeichnete diesen aber als „nicht mehr streng monotheistisch“. (MM, S. 194)
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Die Verwandlung des „Mannes Moses“ in einen Ägypter stellte für Freud den letzten Akt der Offenlegung von Vorgängen unreflektierter Selbst- und Fremd-Authentisierung dar, deren Überwindung der dem integrativen Ideal der Aufklärung verpflichtete Analytiker in seinem religionsund sozialpsychologischen Werk unbeirrt verfolgte. In der Mann-MosesSchrift berichtete er von der durch den Monotheismus getroffenen Unterscheidung: Moses habe die Juden als auserwähltes Volk definiert, von den christlichen Antisemiten seien sie aber als „grundverschieden“ (MM, S. 197) eingestuft worden. Aus dieser Trennung habe sich der Antisemitismus genährt. Um diesen zu bekämpfen, schlug Freud einen ‚dritten Weg‘ ein, nämlich den der Analyse und Therapie. Von der Zurückweisung des Anspruchs auf kulturelle Wesenhaftigkeit, d.h. von der Verwerfung traditionalistischer Identitäts- und Alteritätskonzepte, die er als Schimäre entlarvte, versprach er sich – wie weiter unten gezeigt werden wird – eine Verringerung der Judenfeindschaft.
5.7 W ILHELM S CHMIDT UND O SWALD M ENGHIN ALS W IDERSACHER S IGMUND F REUDS Als in Österreich die Vorstellung vom Wesen der Nation zu einem Zentralwert aufstieg, lebte auch das „Denken der Trennungen“215 – und diesmal in soziopolitischer Hinsicht – verstärkt auf. Solchen Denkvorgängen widersetzte sich im Besonderen Sigmund Freud, der in seiner Theorie das Zusammenwirken von ‚Es‘, ‚Über-Ich‘ und Außenwelt im ‚Ich‘ analysierte sowie den Massen ihre Seelen und den Seelen, Völkern und Monotheismen ihre Substanz ‚entwendete‘. Akte dieser Art erwiesen sich in Zeiten verstärkter kollektiver Abgrenzung und Selbstvergewisserung als radikal; daher fand Freud nur wenige Mitstreiter. Sein Antiessenzialismus war jedenfalls grundverschieden von dem, was die ‚Identitätswissenschaft‘ seiner Zeit in Österreich kennzeichnete. Der Wiener Völkerkundler Wilhelm Schmidt (1868–1954) war einer ihrer Wortführer. Die Kluft, die sich zwischen Freud und Schmidt im wissenschaftlichen Handeln auftat, vertiefte sich durch persönliche Aversionen weiter. Während Freud, der sich selbst als „gottlos“216 bezeichnete, den Begriff der Seele abstrakt verwendete, um mit ihm den psychischen Spannungen im ‚Ich‘ Ausdruck zu verleihen, verkörperte der Seelenbegriff für Schmidt, einen geweihten Priester und Mitglied der ‚Gesellschaft des Göttlichen Wortes (Societas Verbi Divini)‘, eine „wesentlich vom Körper verschiedene Sub-
215 Wolfgang WELSCH, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt am Main 1996, S. 767. 216 FREUD, Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871–1881 [Eintrag von „Wien, Nov. 8. 1874“], S. 82.
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stanz“.217 Schmidt war Essenzialist, die aristotelisch-scholastische Herkunft seines Seelenbegriffs unübersehbar. Ähnlich argumentierte auch der Wiener Prähistoriker Oswald Menghin (1888–1973), was die Begriffe von Rasse, Sprache, Kultur und letztlich auch von Volkstum betraf. Menghin, ein Katholik Südtiroler Herkunft mit deutschnationaler Orientierung, versuchte die von Schmidt vertretene Variante einer antievolutionistischen ‚Kulturkreislehre‘ auf die Urgeschichte anzuwenden. Vice versa nahm auch Schmidt so manchen ‚wissenschaftlichen‘ Impuls von Menghin auf. Die Anstrengung beider bestand darin, die unaufgebbare Vorstellung von der jüdischen „Rasseverschiedenheit“ vorderhand nicht biologistisch, sondern völkisch-kulturell zu untermauern. Dieser Versuch zeugte von ihrem Anliegen, den ‚deutschen Volkscharakter‘ vor Verwässerung zu bewahren. Hierfür bedienten sie sich ihrer jeweiligen Wissenschaften. Als ‚Kulturkreislehrer‘ beharrten sie auf dem, was Sigmund Freud in seiner Mann-Moses-Schrift zu überwinden versuchte, nämlich auf der scharfen Trennung zwischen einem vermeintlich jüdischen und christlich(-deutschen) Wesen. Dieses zeigte sich für Schmidt und Menghin zunächst weniger in der „Rasse“ als vielmehr in der „Kultur“, in der „dem Seelischen der Primat über das Körperliche“ zukam.218 Freud und Schmidt bzw. Menghin trennten im Besonderen diametral verschiedene Auffassungen über die Anfänge der Religion: Setzte Freud den Monotheismus zeitlich nach dem Polytheismus an, so vertrat Schmidt, ein Antisemit sondergleichen, in seinem zwölfbändigen Monumentalwerk Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie (1912/1926–55) die Thesen vom „Ur-Monotheismus“ und von der „Uroffenbarung“,219 und er verwarf den Polytheismus als dekadent. Hierfür lieferte der Prähistoriker Menghin dem Spiritus Rector der ‚Wiener Schule der Kulturkreislehre‘ entsprechende Argumente. Schmidt versuchte die Abfolge
217 Wilhelm SCHMIDT, Rasse und Volk. Ihre allgemeine Bedeutung. Ihre Geltung im deutschen Raum. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage, Salzburg–Leipzig 1935, S. 188, und DERS., Rasse und Volk. Eine Untersuchung zur Bestimmung ihrer Grenzen und zur Erfassung ihrer Beziehungen, München 1927. 218 MENGHIN, Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, S. 66f. 219 Zu Schmidts „Urmonotheismus“ vgl. Paul SCHEBESTA, Das Problem des Urmonotheismus. Kritik einer Kritik, in: Anthropos 49 (1954), S. 689–697. Hans WALDENFELS, Wilhelm Schmidt (1868–1954), in: Axel MICHAELS (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, S. 185–197. Josef F. THIEL, Der Urmonotheismus des P. Wilhelm Schmidt und seine Geschichte, in: Britta RUPPEISENREICH, Justin STAGL (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780– 1918, Wien–Köln–Weimar 1995 (Ethnologica Austriaca 1), S. 256–267. DERS., P. Wilhelm Schmidt S.V.D., in: Christian F. FEEST, Karl H. KOHL (Hg.), Hauptwerke der Ethnologie, Stuttgart 2001 (Kröners Taschenausgabe 380), S. 418–423. Bernd WEILER, Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der ‚jungen‘ Anthropologie, Bielefeld 2006, S. 434–444.
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von ‚Kulturkreisen‘ als universellen Tatbestand nachzuweisen, um sich auf diesem Wege die vermeintlich jahrtausendelange Konstanz kultureller „Ganzheiten“ zu erklären. Zwar vermischten und verbreiteten sich kulturelle Vorräte durch Diffusionsvorgänge, jedoch überdauerte ein in sich gleich bleibender Zusammenhalt der jeweiligen ‚Kulturkreise‘ aufgrund signifikanter, d.h. originärer und unveränderlicher, Anteile in den kulturellen Vorräten.220 Auffassungen dieser Art, weltanschauliche Divergenzen und Schmidts antisemitische Haltung vergrößerten die Kluft zwischen Schmidt und Freud, sodass Letzterer im Wiener Völkerkundler bald auch den „Hauptfeind“ der Psychoanalyse erblickte.221 Im Jahr 1938, mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich, trennten sich die Wege von Menghin und Schmidt: Oswald Menghin stieg zum Unterrichtsminister des ‚Anschluss‘-Kabinetts von Seyss-Inquart (1892–1946) auf. Dieses Amt hatte er bis zu seinem Rücktritt am 31. Mai 1938 inne. Als Minister war Menghin für die erste ‚Säuberungswelle‘ der österreichischen Universitäten von jüdischen Wissenschaftlern sowie exponierten politischen Widersachern hauptverantwortlich.222 Opfer dieser ‚Bereinigungsmaßnahmen‘ wurde neben hunderten anderen nicht nur der Uni-
220 Einen zusammenfassenden Überblick zur Schmidt’schen ‚Kulturkreislehre‘ gibt Walter DOSTAL, Von der Ethnologie zur Sozialanthropologie. Das Werden einer jungen Wissenschaft in Österreich, in: Karl ACHAM (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Band 4: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 447–497, hier S. 415–464. Zur ‚Kulturkreislehre‘ aus theoretischer und wissenssoziologischer Perspektive vgl. Ulrich BRAUKÄMPER, ‚Kulturkreis‘, in: Wörterbuch der Völkerkunde, begründet von Walter Hirschberg, Berlin 22005, S. 223–224, und Karin R. ANDRIOLO, Kulturkreislehre and the Austrian Mind, in: Man. New Series 14, 1(1979), S. 133–144. 221 Sigmund Freud an Arnold Zweig, 17.6.1936, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 140–141, hier S. 141. 222 Oswald Menghin wurde 1922 als Ordinarius an die Wiener Universität berufen, 1935/36 hatte er das Amt des Rektors inne. Er wurde auch zum Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften (1927 kM., 1936 wM.) gewählt und am 12. März 1938 zum Unterrichtsminister der Regierung Seyss-Inquart ernannt. Später übte er seine Professur wieder aus. Im Jahr 1940 trat Menghin der NSDAP bei. Nach Kriegsende wurde er zwei Jahre lang interniert, 1948 übersiedelte er nach Argentinien. Vgl. FEICHTINGER, UHL, Die österreichische Akademie der Wissenschaften nach 1945, S. 313–337, und MÜLLER, Dynamische Adaptierung und ‚Selbstbehauptung‘. Die Universität Wien in der NS-Zeit, S. 597. Zur ideologischen und wissenschaftlichen Positionierung Menghins vgl. Otto H. URBAN, ‚Er war der Mann zwischen den Fronten‘. Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologica Austriaca 80 (1996), S. 1–24. John HAAG, Marginal Men and the Dream of the Reich. Eight Austrian National-Catholic Intellectuals, 1918– 1938, in: Stein Ugelvik LARSEN, Bernt HAGTVET, Jan Petter MYKLEBUST (eds.), Who were the Fascists. Social Roots of European Fascism, Bergen– Oslo–Tromsø 1980, S. 239–248. Richard S. GEEHR, Oswald Menghin, ein Vertreter der katholischen Nationalen, in: Isabella ACKERL (Hg.), Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik, Wien 1986, S. 9–24.
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versitätsprofessor Sigmund Freud, der im Juni 1938 zur Auswanderung nach England gezwungen wurde, sondern auch Menghins Weggefährte Wilhelm Schmidt. Diesem wurde am 23. April 1938 aufgrund seiner zutiefst nationalsozialismusfeindlichen Haltung, die er öffentlich (u.a. in der Zeitschrift Schönere Zukunft) zum Ausdruck gebracht hatte, nach kurzem Hausarrest in St. Gabriel (Mödling/Wien) die Lehrbefugnis entzogen; noch im April selben Jahres verließ er Österreich, um nach einem Zwischenaufenthalt in Rom seine wissenschaftliche Tätigkeit in der Schweiz (Fribourg) fortzusetzen.223 Zwar verlor somit die klerikal- und kulturrassistische Völkerkunde, die sowohl den politischen Katholizismus als auch den Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit wissenschaftlich geprägt hatte,224 ihr Haupt, Menghin und der völkisch-national orientierte Orientalist Viktor Christian (1885–1963) sollten aber als Anhänger der Wiener Schule das Zerrbild von der kulturellen ‚Wesensverschiedenheit‘ der Juden weitertragen.225 Wilhelm Schmidts Aversion gegenüber der Psychoanalyse manifestierte sich in Angriffen auf zentrale wissenschaftliche Standpunkte Sigmund Freuds.226 Seine Kritik entzündete sich zunächst daran, dass Freud die Religion „in ihrer psychologischen Natur“ als Illusion entlarvt, „seine Theorien [aber] nicht als bloße Theorien“ begriffen, sondern mit diesen angeblich vielmehr einen normativen Anspruch verfolgt habe.227 Schmidt zufolge hatte
223 Zur Biografie Wilhelm Schmidts vgl. P. Joseph HENNINGER, P. Wilhelm Schmidt S.V.D. 1868–1954. Eine biografische Skizze, in: Anthropos 51 (1956), S. 19–60, hier S. 44. Wilhelm KOPPERS, Professor Pater Wilhelm Schmidt S.V.D. Eine Würdigung seines Lebenswerkes, in: Anthropos 51 (1956), S. 61– 80. Ernest BRANDEWIE, When Giants walked the Earth. The Life and Times of Wilhelm Schmidt, Fribourg 1990, S. 217. DERS., Wilhelm Schmidt den Politics during the First World War Joseph, in: RUPP-EISENREICH, STAGL (Hg.), Kulturwissenschaft im Vielvölkerstaat, S. 268–283. Zur Bibliografie Schmidts vgl. Fritz BORNEMANN, Verzeichnis der Schriften von P. W. Schmidt S.V.D. (1868–1954), in: Anthropos 49 (1954), S. 385–432. Zu Wilhelm Schmidts völkerkundlichem Werk vgl. GINGRICH, Erkundungen, S. 124–125, S. 151, S. 156, S. 271. DERS., Fredrik BARTH, Robert PARKIN, Sydel SILVERMAN, One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology. The Hall Lectures, Chicaco 2005, S. 79–139. Alan BARNARD, History and Theory in Anthropology, Cambridge 2000, S. 51–52. 224 Vgl. Thomas HAUSCHILD, Christians, Jews, and the Other in German Anthropology, in: American Anthropologist 99, 4(1997), S. 746–753, hier S. 747, S. 749. 225 Vgl. Brigitte FUCHS, ‚Rasse‘, ‚Volk‘, ‚Geschlecht‘. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960, Frankfurt am Main–New York 2003, S. 278–324. 226 Vgl. Ritchie ROBERTSON, Freud und Pater Wilhelm Schmidt, in: Jürgen NAUTZ, Richard VAHRENKAMP (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende, Wien 21996, S. 349–359, und DERS., „My True Enemy“: Freud and the Catholic Church 1927–1939, in: Kenneth SEGAR, John WARREN (eds.), Austria in the Thirties. Culture and Politics, Riverside, CA 1991, S. 328–344. Vgl. auch YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 50–53. 227 Vgl. dazu u.a. WEILER, Die Ordnung des Fortschritts, S. 461–480, und DERS., Zur Kritik von Pater Wilhelm Schmidt und seinen Schülern am sozia-
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Freud „konsequent und tatkräftig“ das Ziel verfolgt, „aus seiner Theorie die weittragende Konsequenz abzuleiten, daß die Religion als Illusion, die sie sei, von der Realität der Kultur völlig eliminiert werden müsse.“228 Doch wäre Sowjet-Russland laut Schmidt schon der blassen These „Religion ist Illusion“ zuvorgekommen. Die bolschewistische Herrschaft zeigte dem katholischen Pater die Konsequenzen solcher Vorstellung am anschaulichsten. Schmidt kritisierte in seiner „wissenschaftlichen Abrechnung mit der Psychoanalyse“229 zweierlei scharf: zum einen die Methode, nach der Freud die psychoanalytische Theorie, insbesondere ihr Kernstück, den Ödipuskomplex, ethnologisch zu begründen versucht hatte. Der Ethnologe beanstandete dabei den angeblichen Versuch, „gewisse Befunde, die er [Freud] durch die Individual-Analyse, allerdings nur weniger Fälle, gewonnen zu haben meinte, durch die Verwertung eines breiten ethnologischen Materials zu stützen und zugleich die Gültigkeit und Fruchtbarkeit der psychoanalytischen Gedankengänge für die Geisteswissenschaften überhaupt, nachzuweisen“.230 Zum anderen war Schmidt von der Haltlosigkeit der Totemtheorie an sich überzeugt. Sigmund Freud hatte den Ödipuskomplex in Verbindung mit den Anfängen des Totemismus als Ursprung von Religion, Sittlichkeit und sozialer Ordnung verstanden. Da Schmidt im Totemismus aber keinesfalls den Anfang der Kultur erblickte, waren für ihn auch der Ödipuskomplex, die Urhorde, der Vatermord, die Totemmahlzeit, die Verbindung von totemistischem Uropfer und christlichem Kreuzesopfer als neuerlicher Inszenierung der zu sühnenden Tat „reine Luftgebilde“.231 Auch begriff er die „voll und klar entwickelte Einzelehe“ als die älteste, also vortotemistische Familienform.232 Oswald Menghin hatte ihm hierfür das Argument geliefert, indem er die angebliche „Tatsache“ nachgewiesen zu haben glaubte, dass es schon „vortotemistische, aber wahrhaft menschliche Stufen der Kultur“ gegeben habe.233 Wilhelm Schmidt, der den Ursprung der Kultur im Urmonotheismus und in gottgegebener Urmonogamie sah, verschwieg seinen großen affektiven Widerstand nicht. Für ihn stand außer Zweifel, dass die The-
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listischen Erziehungsideal des „Neuen Menschen“ oder Die „Objektivität“ ethnologischer und sozialpolitischer Erkenntnis, in: CSÚRI, FÓNAGY, MUNZ (Hg.), Kulturtransfer – Kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, S. 235–251. Wilhelm SCHMIDT, Prof. Dr. Freuds psychoanalytische Theorie zum Ursprung der Familie und der Religion. Eine kritische Prüfung ihrer ethnologischen Grundlagen, in: Schönere Zukunft 4 (1928/29), S. 308–310, hier S. 309. Wilhelm SCHMIDT, Eine wissenschaftliche Abrechnung mit der Psychoanalyse, in: Das neue Reich. Wochenschrift für Kultur, Politik und Volkswirtschaft 11, 15(1928/29), 12.1.1929, S. 266–267. SCHMIDT, Prof. Dr. Freuds psychoanalytische Theorie zum Ursprung der Familie und der Religion, S. 263–265, hier S. 263. Ebenda, S. 287–289, hier S. 288. Ebenda. Zur Verteidigung der Familie als wichtigster kultureller Institution durch Schmidt vgl. WEILER, Die Ordnung des Fortschritts, S. 475–477. SCHMIDT, Prof. Dr. Freuds psychoanalytische Theorie zum Ursprung der Familie und der Religion, S. 288.
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orie Sigmund Freuds keinesfalls Aufschluss geben konnte über die Ursprünge der Religion, der Sitte und der Gesellschaft.234 5.7.1 Zur katholischen Rassenlehre Die beiden Kontrahenten trennte – wie erwähnt – im Besonderen eine unterschiedliche Auffassung von ‚Seele‘: War für Freud die Annahme seelischer Substanzhaftigkeit reine Illusion, so verkörperte die Seele für Schmidt „in ihrem innersten eigentlichen Sein“ eine „selbständige“, „wesentlich vom Körper verschiedene Substanz“, die nicht nur „mit keinem Körper, sondern auch mit keiner anderen Seele in irgendeinem erblichen Zusammenhang stünde, sondern jedes Mal, für jedes Individuum, neu von Gott geschaffen“ würde:235 „Gottes Schöpferhand“ stattete „jede einzelne Seele mit ihrer personalen Würde“ aus.236 Die „Seele ‚an sich‘“ war für Schmidt allerdings nicht das, was ein Teil der Scholastiker in ihr sah, nämlich ein „allgemeines, inhaltsloses, formales Bewegungsprinzip“, sie besaß vielmehr eine „innere eigene Ausstattung im Denken, Wollen und Fühlen“.237 Als „selbständige Substanz“ konnte die Seele Schmidt zufolge von Vererbung nicht berührt sein. Von dieser Auffassung legte er in seinem Buch Rasse und Volk (1927/1935) Zeugnis ab.238 Wesenhaft und substanzförmig war für Schmidt aber nicht nur jede Seele, sondern auch jedes „Volkstum“ und jede „Rasse“ verfasst, „die beiden bedeutungsvollen Wirklichkeiten“:239 Dabei nahm er den Stellenwert des „Volkes“ als weltanschauliche Grundlage als im Sinken begriffen wahr, während er die „Rasse zum Zentralgedanken seines ganzen Programms“ durch den Nationalsozialismus aufgewertet sah: „Es wurde gelehrt, die Rasse sei das Dauernde und Unzerstörbare, das Volk etwas in ewigem Fluß Befindliches und Vergängliches.“240 Darüber hinaus sei von „besserwissenden“, „blutigen Dilettanten“, die seiner Ansicht nach der „wirklichen Rassenwissenschaft“ unkundig waren, die Anschauung propagiert worden, „daß alles Geistige am tiefsten im Rassischen verwurzelt, daß es ,blutbedingt‘
234 Vgl. ebenda. 235 SCHMIDT, Rasse und Volk, S. 41f., S. 187–190. Vgl. DERS., Blut – Rasse – Volk, S. 67, und das Kapitel „Rasse und Seele“, in: DERS., Die Stellung der Religion zu Rasse und Volk, Augsburg 1932, S. 12–16. 236 Wilhelm SCHMIDT, Freiheit und Bindung des Christen in der Gesellschaft, in: Schönere Zukunft 8, 4(1933), 22.10.1933, S. 86–88, hier S. 86. 237 SCHMIDT, Rasse und Volk, S. 41f. 238 In der Vorrede der dritten, erweiterten und veränderten Auflage nahm er auf die Umstände der Veröffentlichung der ersten beiden Auflagen Bezug. Vgl. Wilhelm SCHMIDT, Rassen und Völker in Vorgeschichte und Geschichte des Abendlandes. Band 1: Die Rassen des Abendlande, Luzern 1946. 239 SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, S. 45. 240 Ebenda, S. 48.
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sei“.241 Diese von Anthropologen, vergleichenden Sprachwissenschaftlern und anderen zwecks Unterscheidung zwischen Semiten und Ariern aufgestellte und vertretene These, die das deutsche Volk gespalten habe, verwarf Schmidt als unwissenschaftlich; nicht aber die grundsätzliche Auffassung von der „Rasseverschiedenheit“, die sich für ihn in der „Judenfrage“ aktualisierte.242 Wilhelm Schmidt verfolgte mit seiner ‚katholischen Rassenlehre‘ das Ziel einer neuen Theorie, die den „biologischen Materialismus“,243 als den er die neue Rassenlehre brandmarkte, widerlegte, dabei aber die Auffassung von der Grundverschiedenheit der Juden nicht in Zweifel zog. In manchen Aspekten stimmte er mit den führenden deutschen Rassenforschern (Erwin Baur, Eugen Fischer und Walter Scheidt), die er anführte, überein. Allerdings passte das jüdische Volk seiner Ansicht nach „rassisch […] in keine der üblichen Kategorien“, weil das „Judenproblem“ für ihn „in seiner Grundlage nicht auf materiellen, sondern auf geistigen Faktoren [nicht auf dem physischen Faktor des ‚Blutes‘, sondern auf dem geistigen Faktor einer geschichtlichen Willenstat]“ beruhte.244 So habe auch der deutsche Anthropologe und Eugeniker Walter Scheidt (1895–1976) darauf verwiesen, dass das, was mehrfach vertreten worden wäre, „daß die Rassenforschung alles Geistige für blutbedingt erklärt“ habe, nicht richtig wäre und sich „die mit der Erblichkeit der seelischen Rassenmerkmale befassende Forschung ‚noch in den allerersten Anfängen‘“ befände.245 Wenn sich Schmidt auf ihn berief, so nur, um die Vorzüge seines abweichenden Ansatzes durch die Zweifel eines ausgewiesenen Rassenforschers hervorzuheben. 5.7.2 Seelenverschiedenheit durch Volk und Kultur Ausgehend vom Standpunkt, dass zwar die Körper, nicht aber die Seelen – als „wesentlich vom Körper verschiedene Substanzen“ – von Rassefaktoren bestimmt wären, diagnostizierte Schmidt eine Verwurzelung der seelischen Seite des Menschen im dauerhafteren Prinzip ‚Volk‘. Dieses war für Schmidt und seinen Seelenbegriff primär, die Rasse sekundär. Oswald Menghins Konzepte aufgreifend, vertrat er die Auffassung, „daß bei der Seele die Umwelteinwirkungen besonders wirkungsvoll“ wären.246 Menghin verstand unter „geistiger Umwelt“ die Erziehung und die Einflüsse der Kultur. Schmidt bewertete die Kultur als ein „Gut des Volkes“, das durch Er-
241 Ebenda, vgl. auch Wilhelm SCHMIDT, Das Rassenprinzip des Nationalsozialismus, in: Schönere Zukunft 7, 43(1932), 24.7.1932, S. 999–1000, und DERS., Rassen und Völker in Vorgeschichte und Geschichte des Abendlandes, S. 13. 242 Wilhelm SCHMIDT, Zur Judenfrage, in: Schönere Zukunft 9, 17(1934), 21.1.1934, S. 408–409. 243 SCHMIDT, Das Rassenprinzip des Nationalsozialismus, S. 1000. 244 SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 408. 245 SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, S. 64. 246 Ebenda, S. 65, und vgl. SCHMIDT, Rasse und Volk, S. 50.
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ziehung, also durch Umwelteinflüsse, weitergegeben werden würde: „Das Wesen der Kultur aber liegt im Geistigen“,247 verdeutlichte Schmidt, um zu betonen, dass das Materielle nur insofern Kultur sei, als es vom Geiste erfasst und gestaltet werde. Mit Menghin teilte Schmidt zwei zentrale Auffassungen: zum einen den Standpunkt, dass die Kultur „das körperliche Substrat einer geistigen Veranlagung in nachhaltiger Weise“248 verändern konnte; zum anderen die Auffassung der „Tatsächlichkeit sekundärer Bedingtheit des Kulturellen durch das Rassische.“249 Für beide war der Standpunkt der „vergröberten Populäranthropologie“ mit ihrer These von der „primären Blutbedingtheit geistiger Anlagen“ unannehmbar.250 Der Geist würde „das Blut bezwingen“, schrieb Menghin in seinem Aufsatz „Geist und Blut“.251 Auch Schmidt zufolge konnte die Seele auf das körperliche Substrat, auf „die physische Rasse“ und „die Wesenheit des Volkes“, wirken und sie verändern.252 Worauf Schmidt insbesondere abzielte, war die Aufweichung der Vererbungslehre. Das zeigt sich in der Vorstellung, dass er nicht die physischen, wohl aber die psychischen Eigenschaften eines Volkes als dauerhaft und unveränderlich begriff. Die Stabilität „geistiger Rassenmerkmale“ beschwor auch Menghin.253 Die Vorstellung von der Statik der Seelen und der Wandelbarkeit der Körper lieferte Schmidt jenes zentrale Argument, das die Seele vor einem Aufgehen in der Vererbungstheorie schützte: „So bleibt also die Seele selbst,“ schrieb er, „in ihrem innersten Kern und Wesen, außerhalb des Erbganges überhaupt, um so mehr außerhalb des rassischen Erbganges.“254 Schmidts Standpunkt lautete lapidar: „Die Seele als solche hat keine Rasse, wie sie auch keine irdische Heimat hat.“255 Er sah „für die Vererbung rein geistiger Veranlagungen“ keine „Möglichkeit“.256 Veränderungen durch Erblichkeit bezogen sich auf das Blut, und nicht auf Geist und Seele. In seiner Schrift Rasse und Volk (1935) erweiterte Schmidt diese Theorie. Sein Argument lief darauf hinaus, die angebliche Stabilität physischer Eigenschaften zu widerrufen, um dieses Attribut dem Volk und der Seele zuzuschreiben. Es sei „längst nicht das ererbte Rassische, was im Seelenle-
247 SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, S. 55. 248 Ebenda. 249 MENGHIN, Geist und Blut. Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, S. 67. 250 Ebenda, S. 49 bzw. S. 148–172, und DERS., Geist und Blut. Zur Rassenfrage, in: Schönere Zukunft 9, 24(1934), 11.3.1934, S. 595–597, hier S. 596. 251 MENGHIN, Geist und Blut. Zur Rassenfrage, S. 596. 252 SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, S. 43–81. 253 Was die Vererbbarkeit geistiger Merkmale betrifft, zog sich Menghin durch Mehrdeutigkeit aus der Affäre, vgl. MENGHIN, Geist und Blut. Zur Rassenfrage, S. 596. 254 SCHMIDT, Blut – Rasse – Volk, S. 68. 255 Ebenda, S. 67. 256 Ebenda.
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ben allein ausschlaggebend wäre.“257 Die Seele sei beständiger, die Rasse aber ein „unsicheres, labiles Element“.258 Dass sogar führende Rassenforscher wie Eugen Fischer (1874–1967) auf die Unzuverlässigkeit der körperlichen Eigenschaften als Rassenmerkmale verwiesen und eine Aufwertung der seelischen Dispositionen gefordert hatten, bewertete Schmidt als Beleg für die Unhaltbarkeit der ‚materialistischen‘ Rassenlehre, die alles Geistige als ,blutbedingt‘ bezeichnet habe.259 Wenn sich Schmidt auf den Artenwandel bezog, so griff er auf die Lamarck’sche Theorie von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ zurück. Worauf sich Lamarck bezogen habe, um die rassischen Unterschiede der Völker zu erklären, war Schmidt zufolge die Vererbung „umweltbedingter Mutationen“.260 Beispielsweise verwies er auf die Verrundung langköpfiger Schädel in der so genannten nordischen Rasse innerhalb weniger Jahrhunderte, während der das deutsche Volk als solches konstant geblieben wäre.261 In Bezug auf das Seelische vertrat Schmidt jedoch beharrlich die Auffassung, dass dieses primär und nicht vererbbar sei. Allerdings ließ er sich eine Hintertüre offen: Da die Seele auf den mit ihr organisch verknüpften Körper wirke, könne ein Teil dieser Wirkungen mit den körperlichen Veranlagungen doch weitervererbt werden. Wenn sich aber die „Spuren der Seelentätigkeit früherer Generationen“ erblich vermittelten, so würde „nicht geistige Veranlagung direkt, unmittelbar als solche, sondern ihre körperliche Auswirkung, insofern sie da ist“, vererbt, sodass „die als Erbschaft überkommenen seelischen Einwirkungen“ auch auf die neue Seele, die einen neuen Körper formten, wirkten. Als vererbbar bezeichnete er aber nur solche seelischen Veranlagungen, die durch die „materielle oder geistige Umwelt“ „aktuiert“ werden würden.262 Was Schmidt durch diese Konstruktion zu zeigen versuchte, war, dass der ‚materialistische‘ Rassebegriff keineswegs zureichte, Grundlage einer totalen Weltanschauung zu sein. Rassen wären nicht von absoluter Konstanz und damit vor Umwelteinflüssen keineswegs gefeit. Waren aber das Volk und die Seele das Dauerhaftere, so prägte die Seele der Rasse ihren Stempel auf und nicht umgekehrt. Die Seele war zwar „für jedes Menschenwesen von Gott unmittelbar selbst neu geschaffen“263, aber in Verbindung mit dem Körper für Umwelteinflüsse offen. Waren umweltbedingte Mutationen (Lamarck sprach von ‚erworbenen Eigenschaften‘) aber vererbbar, so mochten sie auch auf den Körper wirken und rassische Unterscheidungen, die von 257 Wilhelm SCHMIDT, Rasse und Weltanschauung (Original 1935), in: DERS., Wege der Kulturen. Gesammelte Aufsätze, hg. vom Anthropos-Institut, St. Augustin/Bonn 1964, S. 269–284, hier S. 278. 258 Ebenda, S. 274. 259 SCHMIDT, Rasse und Volk, S. 33. 260 Ebenda, S. 32. 261 Vgl. ebenda: „Die Rassen des deutschen Volkes“, S. 103–114, und vgl. SCHMIDT, Rasse und Weltanschauung, S. 272–274. 262 SCHMIDT, Rasse und Weltanschauung, S. 278. 263 Ebenda, S. 277.
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Gott zunächst nicht getroffen worden waren, vertiefen. Was die Konstruktion von Verschiedenheit betraf, gaben Schmidt und Menghin dem SeelischGeistigen und der Kultur den Vorrang vor Rasse und Natur. Ähnlich argumentierte auch Othmar Spann: Er identifizierte sich mit der Auffassung, dass das „Wesen des Volkstums im Geistigen beschlossen liegt“, sich in einem ‚Kulturkreis‘ entfaltete und sich die Seele (Volkstum) ihren Körper (Staat) baute.264 Volk und Kultur bildeten sonach eine Art Container, von welchem die Substanz der Seele umfasst werde. Dieser Konstruktion zufolge hatte die ‚Seelenverschiedenheit‘ einen Sitz im ‚Leben‘; sie konnte als Trennungsgrund zwischen den Angehörigen eines Volkes bzw. einer Kultur und den angeblich Fremden, insbesondere den Juden, angeführt werden. 5.7.3 Schmidts Essenz: Rasseverschiedenheiten, aber doch nicht so ganz Die Absicht, die Schmidt mit der von ihm konzipierten ‚katholischen Rassenlehre‘ verknüpfte, liegt auf der Hand: Seine Art, Verschiedenheiten zu konstruieren, war für ihn das Vehikel, um das „Judenproblem“ aus scheinbar nichtbiologistischer Perspektive neu zu bewerten. Jedes „Volkstum“, so auch das Judentum „in seiner Gesamtheit“, war für ihn durch spezifische, (sogar) vererbbare Merkmale markiert. Die Verschiedenheit der Juden führte er aber letztlich auf ihre unterschiedliche „seelische Struktur“ zurück.265 Diese Haltung, die sich geschmeidig in die Logik seiner Argumentation einfügte, bezog er, um mit ihr zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen: In Bezug auf die Juden konnte er zum einen seine Prämissen, die er von seinem katholischen Hintergrund bezog, beibehalten, zum anderen die Juden aber auch als „rasseverschieden“ klassifizieren. Waren sie für ihn ‚nur‘ wegen ihrer seelischen Struktur „anderswertig“,266 so gab es dennoch „Rasseverschiedenheiten“, die auch durch die Taufe nicht überbrückt werden konnten. Kurz gesagt erfüllte seine Theorie den Zweck, die Andersheit der Juden zu beweisen, ohne auf die Seite der ‚materialistischen‘ „Rassenpropheten“ des Nationalsozialismus abzuweichen.267 Sein antisemitisches Argument untermauerte Schmidt anhand von biblischen Vorkommnissen, die dem jüdischen Volk den Stempel der Andersartigkeit aufgeprägt hätten: Das jüdische Volk habe die höchste Berufung er-
264 Othmar SPANN, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch? Vortrag, Eger [u.a.] 21922, S. 20. 265 SCHMIDT, Das Rassenprinzip des Nationalsozialismus, S. 999. 266 SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 409. 267 In seinem Buch Rasse und Volk (1927, 21935) bezog sich Schmidt u.a. umfassend auf das unwissenschaftlich-tendenziöse Vorgehen des führenden nationalsozialistischen Rassenforschers Hans F. K. Günther (1891–1968) (‚Rassengünther‘). Vgl. auch Allan A. LUND, Rassenkunde und Nationalsozialismus, in: BRUCH, KADERAS (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik, S. 324–338.
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fahren, „dem Heiland der Welt die menschliche Natur vorzubereiten“.268 Dieser Auftrag habe den Juden zwar eine einzigartige Stellung verschafft, sie hätten aber ihren „nationalen Beruf“ als Volk verfehlt,269 weil sie sich geweigert hätten, Jesus als den Messias anzuerkennen. Dadurch habe sich ihre „seelische Struktur“ tiefgreifend verändert: Die Juden wären „ein im tiefsten Seelengrund ihrer Nation entwurzeltes Volk“270 geworden, das zur Strafe für die Verfehlung dieser hohen Berufung von seinem „Heimatboden“ vertrieben und in seinem Wesen aufgerieben worden sei. Oswald Menghin urteilte darüber lapidar: „Das im Judentum schlummernde religiöse Genie war sein Glück und sein Fluch, seine Macht und sein Fall.“271 Wenn die Seelen aber nachhaltig die Körper verändern konnten – und davon waren Schmidt und Menghin überzeugt –, dann war die Schlussfolgerung, die Schmidt zog, naheliegend, nämlich dass „diese jetzt fast zwei Jahrtausende dauernde Verzerrung und Entwurzelung […] sich dann aber auch in ihrer physischen Rasse, sekundär, aber tatsächlich, ausgewirkt“ habe.272 Der Wiener Völkerkundler klassifizierte die Juden zwar nicht als völlig verschieden, die Verfehlung jener Aufgabe habe sie jedoch „rasseverschieden“ gemacht:273 „Der Jude“ könne zwar versuchen, „die tiefste Ursache seines Andersseins“ durch Konversion zu beseitigen, „die rassischen Auswirkungen dieser Ursache“ verflüchtigten sich jedoch auch nicht durch die Taufe. Sonach gehörte er zwar „zu uns“ (d.h. zur katholischen Kirche, wie Schmidt klarzustellen versuchte), „aber nicht so wie unsere deutschen Volksgenossen.“274 Allerdings schloss der Ethnologe für Konvertiten die Möglichkeit des „Hineinwachsens in das deutsche Volkstum“ nicht grundsätzlich aus. Sie ergäbe sich aus ihrem Wesen und Wirken; letztlich stünden nämlich die Konvertiten den Germanen doch noch näher als andere: „Die Judenchristen gehören wohl zu uns, aber doch nicht so ganz“. Andere Vergleichsbeispiele lieferten Schmidt die christlichen Afrikaner, Pygmäen, Chinesen, Inder usw.: „Ich habe nie unseren katholischen deutschen Volksgenossen zugemutet“, schrieb er, „die christlichen Afrikaner, christlichen Pygmäen (deren es so gut wie keine gibt), christlichen Chinesen, Inder [usw.] in ihre Volksgemeinschaft aufzunehmen.“ Er sah zwar in allen von ihnen Christen, aber dennoch keinen Teil des deutschen Volkes. Auf dieser Stufe seien sie zwar nicht „minderwertig“, aber doch „anderswertig“.275
268 269 270 271
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SCHMIDT, Rasse und Weltanschauung, S. 277. SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 408. SCHMIDT, Das Rassenprinzip des Nationalsozialismus, S. 999. MENGHIN, Geist und Blut, S. 159. Die Diaspora bzw. „Zerstreuung“, von der Menghin in seiner Abhandlung „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Judenfrage“ spricht, war für ihn der „geheimnisvolle Vollzug einer göttlichen Strafverheißung, vor dessen Tragik sich der Gläubige in Ehrfurcht beugt.“ Ebenda, S. 148. SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 409. Vgl. SCHMIDT, Das Rassenprinzip des Nationalsozialismus, S. 999. SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 409. Ebenda.
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Da Schmidt selbst in der Taufe kein Mittel sah, das die Juden ‚gleichwertig‘ machte, stimmte auch er lautstark in den Chor der Rasseantisemiten ein. Davon legen auch manche seiner öffentlichen Äußerungen zwischen 1918 und 1938 Zeugnis ab: Auf dem Katholikentag der Wiener Inneren Stadt am 26. September 1920 rief er in kämpferischem Ton zur „Befreiung [‚des deutschen‘] Wiens [‚von der schmachvollen Fremdherrschaft des‘] jüdischen Bolschewismus“ auf.276 Die „minderwertigen Fremdstämmlinge“, als die er die Juden in seiner Katholikentagsrede bezeichnete, belegte er auch in seiner Abhandlung „Zur Judenfrage“ (1934, ein Vortrag vor der Katholischen Aktion in Wien) mit dem Attribut „rasseverschieden“, um sie nicht in das katholisch deutsche Volkstum aufnehmen zu müssen. Schmidt bediente sich so wie Menghin der Autorität der Wissenschaft, um vor den Auswirkungen einer Verwässerung der „Rasseverschiedenheit“ zu warnen: „Die Aufnahme des Judentums in das Deutschtum“, wetterte Oswald Menghin, „würde bei dem gegebenen Stand der beiderseitigen Wesenheiten zweifellos die Gefahr einer Abänderung des deutschen Volkscharakters nach sich ziehen.“277 „Gibt es ein Recht dem Judentume als Gesamtheit den Eintritt in die deutsche Volksgemeinschaft zu verwehren?“ Zweifelsohne, so Menghin, der sein „Volk“ in appellativem Tonfall an seine sittliche Pflicht ermahnte, das deutsche Volkstum gegenüber den Juden zu verteidigen. Von hier war der Schritt zur nationalsozialistischen ‚Judenhetze‘ ein kleiner. Schmidt schrieb in seinem Traktat zur Judenfrage, das er 1934 in der Schöneren Zukunft veröffentlichte, „daß Zustände, wie sie bisher herrschten, nicht länger bleiben können“: „Die bisherige Vormacht der Juden in den kulturellen Institutionen“ könne „nicht länger ertragen“ werden, „weil so viele unserer jungen Leute ihr Brot finden, eine Familie gründen, ihre Fähigkeiten in den Dienst des Volkes und Staates stellen wollen und nun arbeitslos und darbend zusehen müssen, wie so unverhältnismäßig viele dieser Stellen von Juden besetzt gehalten werden.“278 Weitere Schlussfolgerungen zog Schmidt nicht. Worauf seine weitere Argumentation aber abzielte, liegt auf der Hand: „Die wahre Bekehrung zum Judentum“ sei „für keinen Menschen so natürlich, aber auch so stark verpflichtend wie für einen Angehörigen des jüdischen Volkes.“ In seinem Appell war jedoch implizit verborgen, dass „trotz der Möglichkeit eines kulturellen Hineinwachsens in das deutsche Volkstum“, – von seinem Standpunkt aus gesehen – die „Rasseverschiedenheiten“ weder überwindbar waren279 noch überwunden werden durften.
276 Befreiung Wiens vom jüdischen Bolschewismus. Eine Katholikentagsrede von Professor Dr. Wilhelm Schmidt S.V.D., in: Das Neue Reich. Wochenschrift für Kultur, Politik und Volkswirtschaft 3, 2(1920), S. 42–43. 277 MENGHIN, Geist und Blut, Wien 1934, S. 171f. 278 SCHMIDT, Zur Judenfrage, S. 408. 279 Ebenda, S. 409.
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5.8 S IGMUND F REUD . ALTERNATIVE W EGE DER S ELBSTVERGEWISSERUNG Die Stärke Sigmund Freuds war es zweifelsohne, nicht auf die Seite der wissenschaftlichen Untermauerung der Volkstums-, Kulturkreis- und Rassenlehre abgewichen zu sein. Vielmehr analysierte er dieses Handeln einer heteronomen ‚Identitätswissenschaft‘ im Zeichen der Vernunft, die er vehement verteidigte, und er zeigte jener auch einen Weg zur relativen Autonomie. Das mit der Mosesfigur verknüpfte Argument des „Fortschritts in der Geistigkeit“ nutzte er, um am Beispiel der Juden modellhaft jene Identitätsstiftungsprozesse aufzuzeigen, die völkischen Vorstellungen völlig zuwiderliefen. Seine Geschichte des „Mannes Moses“ war für Freud ein Mittel, um in die mit Vorgängen der „(self)-authentication“ verknüpften Ausgrenzungsprozesse zu intervenieren. Das Wagnis, „einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt“ (MM, S. 103), unternahm er sonach, um eine zentrale Ursache der Spaltungen, mit deren verheerenden Auswirkungen er und seine Zeitgenossen konfrontiert waren, analysierend zu beseitigen. Sein Anliegen war es keineswegs, den Juden ihre Identität bzw. Tradition streitig zu machen; vielmehr versuchte er, Vorgänge der jüdisch-christlichen Selbstfindung neu zu durchdenken, um Wege der Abschwächung des Antagonismus zwischen ‚eigen‘ und ‚fremd‘ zu finden. Freud verleugnete nicht, dass es ohne das „Fremde“ kein „Eigenes“ gab,280 allerdings bewertete er das, was Juden- und Christentum charakterisierte, gänzlich anders, und zwar im Wissen darüber, dass die jeweiligen Selbstversicherungsvorgänge eine Ursache aggressiver Übergriffe und Selbst-Zerstörungen sein konnten.281 Vor diesem Hintergrund verfolgte Freud das Ziel, die verhängnisvollen Authentisierungsvorgänge bewusst zu machen, um die verstellten Ideale der Aufklärung, denen er Zeit seines Lebens verpflichtet war, neu zu beleben. Sein überparteilich-reflexiver Standpunkt bildete die Voraussetzung, um sich nicht selbst in die destruktiven Dynamiken, deren Aufdeckung er sich zum Ziel setzte, zu verstricken. Er hatte sonach das Juden- und das Christentum im Auge, deren Konfliktgeschichte aufgrund von schwieriger Abgrenzung nicht allein durch wechselseitige Annäherung beigelegt werden konnte. Zur Unterbrechung der Authentisierungslogik bedurfte es vielmehr einer Analyse ursächlicher Traumata und eines dem Therapieprozess analogen Vorgangs. In der Mann-Moses-Schrift führte Freud seinen Lesern die Schwierigkeiten von Identitätsstiftungsprozessen vor Augen: Das Authentizitätsversprechen zielte auf Ausgrenzung des jeweiligen Anderen ab. In dieser Schleife hatten sich Freud zufolge sowohl Juden als auch Christen verfan-
280 Vgl. Bernd NITZSCHKE, Der eigene und der fremde Körper. Bruchstücke einer psychoanalytischen Gefühls- und Beziehungstheorie, Tübingen 1985. 281 Vgl. NITZSCHKE, Judenhaß als Modernitätshaß, S. 163f.
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gen. Die Ablösung vom jeweils Anderen war mit aggressiven Akten verknüpft, für die er auf beiden Seiten eine Ursache nannte: auf Seite der Juden das Auserwähltheitsprinzip; auf Seite der Christen das verzerrte Schuldbekenntnis. Die Juden hätten ihre Schuld für den Mosesmord nicht einbekannt, die Christen ihre Schuld durch den Tod Jesu zwar vermeintlich gesühnt, die Sühnung aber mit einer Verschiebung des Mordes auf die Juden verknüpft, ohne sich einzugestehen, dass auch sie Juden und die Christusmörder daher nicht in den Reihen der anderen zu suchen wären. Da diese Authentisierungsvorgänge unbewusst geblieben seien, hätten sie sich im Sinne der zwanghaften Wiederkehr längst vergessener bedeutsamer Vorgänge in der Vergangenheit wiederholt. Zeichen der Verdrängung der Vatermorde waren für Freud die ständig neuen Abspaltungen ‚einheitlicher‘ Monotheismen mit jeweils verschiedenen Stiftern. Jeder Monotheismus imaginierte sich einen neuen Vater, einen Gott, der strafte und erlöste wie ursprünglich der Vater der Urhorde. Die traumatisierenden Vorfälle kehrten nach dem vertrauten Muster neurotischer Symptombildung verzerrt wieder: die verdrängte Armana (Ikhnaton)-Episode in der neurotischen Kompensation durch die Figur des Auserwähltseins, die verdrängte MosesEpisode als Ermordung von Christus durch die Juden. Zur Unterbrechung der Dynamik der jeweils neurotisch-verzerrenden „Wiederkehr des Verdrängten“ schlug Freud von seinem unparteiischen Standpunkt im Mann Moses eine Art kollektive Therapie vor. Sie bezog sich auf Juden und auf Christen und forderte zweierlei: die Anerkennung der historischen Verflechtungen der Monotheismen sowie die Hebung der verschütteten, unbewussten Tiefenschichten der Verschuldung auf die Bewusstseinsstufe. Der Spiegel, den der Analytiker sowohl Juden als auch Christen vorhielt, zeigte ihnen, dass der jeweils Andere ein unverzichtbarer Teil des jeweiligen Selbst war: Juden und Christen waren Freud zufolge auf einer Tiefenschicht ebenso verwandt wie der mosaische Monotheismus mit dem ikhnatonischen: Jeder Versuch, sie voneinander zu trennen, konnte nur Aggressionen, Ausgrenzung, Stigmatisierung und – wie wir heute wissen – Genozide hervorrufen. Ausgehend von dieser Analyse zeigte Freud, dass die identitätsstiftende Gründerfigur der Christen Jude und die der Juden Ägypter war, die jeweiligen Ursprünge aber verdrängt und zum Zweck der Authentisierung verzerrt und verdunkelt worden waren. Schließlich verschloss Freud seine Augen aber auch nicht vor den ambivalenten Ursprüngen des ikhnatonischen Monotheismus, sah er doch im ‚Original‘ einen Effekt des Imperialismus. Die Therapie, die Freud vorschlug, bestand in der ‚Wieder-holung‘ (d.h. in der Bewusstmachung) der mit Aggressionen verknüpften Ursprünge der Monotheismen: Was die Christen betraf, war der verzerrte Blick auf die Tötung des Messias durch angeblich andere, nämlich die Juden, zu korrigieren; was die Juden betraf, war die Schuld für den Mosesmord anzuerkennen, die Vorstellung von der Auserwähltheit als Akt der neurotischen Wiedergutmachung zu akzeptieren und damit „der ‚Wahn der Erwähltheit‘ zu beenden,
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der die Juden der Eifersucht und bald dem Haß der Nichtjuden“ ausgesetzt habe.282 Schließlich wäre Moses aus Ägypten ausgezogen, um seine Ächtung zu verdrängen; unter den ebenfalls verachteten semitischen Stämmen hätte er Entschädigung für seine Verluste gesucht und sie zu Auserwählten gemacht. Das Christentum hätte das Auserwähltheitsprinzip aufgegeben und sich dadurch universalisiert, nicht ohne aber eine neurotische Verzerrung der „historischen Wahrheit“ vorzunehmen: Sie hätten zwar – wie erwähnt – die Schuld einbekannt, diese aber – um sich abzugrenzen – auf die Juden, die sie in Wahrheit selbst waren, verschoben und dadurch Hass auf die mutmaßlichen Täter gestiftet. Dieses Argument entwickelte Freud, um die Trennung, die Assmann als „Mosaische Unterscheidung“ bezeichnet, verarbeitbar zu machen. Hierfür enthüllte er das Bild vermeintlich jüdischer, christlicher, deutscher oder anderer völkischer Authentizität als ein Trugbild und Illusion. Aus dieser konstruktiv-versöhnenden Perspektive wird vielleicht annehmbarer, dass Freud auch einen jüdischen Anteil am Judenhass, nämlich die Verweigerung, sich den Ur-Vatermord einzugestehen, erblickte. Manche späteren Interpreten wiesen diesen Vorwurf als absurd zurück,283 andere nahmen diese unkonventionelle Antisemitismustheorie, welche „die Wurzel des Übels auf der Seite der Juden selbst anzusetzen“ scheint,284 leichter an.285 Sigmund Freud war sich der begrenzten Beweisbarkeit seiner ‚Mosesder-Ägypter-These‘ schmerzhaft bewusst. Der Wert seines Arguments liegt aber woanders, und zwar in der Enttarnung des nationalen Authentizitätsbegehrens als Schimäre. Davon versprach er sich die Überbrückung der Kluft zwischen Juden und Christen. Das war wohl auch sein Antrieb, den Mann Moses als Monografie zu veröffentlichen: „Der Mann, und was ich aus ihm machen wollte, verfolgt mich unablässig“, teilte Freud 1934 Arnold Zweig mit: „I lack historical verification for my construction“, schrieb er seinem Schüler Ernest Jones, „and I do not want to expose them to the facile
282 Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 222f. 283 Jan Assmanns These von der „Mosaischen Unterscheidung“ angreifend, notierte der Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser: „Aber niemand wird behaupten wollen, Sünde und Schuld seien die Folgeerscheinung der Weltspaltung durch die Mosaische Unterscheidung – eine Folgerung, die zudem in letzter absurder Konsequenz den Juden die Verantwortung für den Antisemitismus aufbürden würde. Die Juden wären die Outcasts, die mit ihrem Exklusivgott den Haß der Völker auf sich gezogen und sich ins Unheil gestürzt hätten.“ Gerhard KAISER, War der Exodus ein Sündenfall?, in: ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, S. 239–271, hier S. 267. 284 LE RIDER, Freud – von der Akropolis zum Sinai, S. 222. Jacques Le Rider führt darauf, dass für Freud „die Hauptursachen des Antisemitismus im Judentum selbst“ gelegen wären, die Schockwirkung der Mosesschrift zurück. LE RIDER, Das Ende der Illusion, S. 332. 285 Zur Historiografie des Antisemitismus und zur Rolle der Juden in diesem vgl. Steven BELLER, Antisemitismus, Stuttgart 2009 [Original: Ders., Antisemitism. A Very Short Introduction, Oxford–New York 2009], S. 12–15.
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criticism of opponents“, „since my results seem very important to me“,286 da er in ihnen Grundlagen für die Zurückweisung des nationalen Mythos erblickte. Die Aussicht, den in seiner Zeit unaufhaltsam anwachsenden Antisemitismus auf diesem Umweg zu zügeln, war ihm schließlich das Wagnis wert, „ein erschreckend großartiges Bild auf einen tönernen Fuß zu stellen“, „so daß jeder Narr es umstürzen kann.“287 Vom Anspruch der Unparteilichkeit wich Freud auch nicht ab, als er sich in die Ursachen des Antisemitismus vertiefte. Seine christlichen Ursprünge standen für ihn außer Zweifel. Daher ist es bemerkenswert, dass er „angesichts der neuen Verfolgungen“ zunächst nicht nach den Motiven der Antisemiten, sondern umgekehrt fragte, „wie der Jude geworden ist, und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat.“288 Dafür fand er „mehr als nur einen Grund“. (MM, S. 196) Die manifesten Ursachen waren ihm geläufig, neu waren aber jene „tieferen Motive des Judenhasses“, die Freud „in längst vergangenen Zeiten“ (MM, S. 197) ausfindig machte. Den offenkundigsten Grund für den Aufstieg des modernen Antisemitismus sah er in dem, was er als den „Narzißmus der kleinen Differenzen“ bezeichnete und womit er den Umstand meinte, dass aufgestaute Aggressionen zunächst auf nahe Außenstehende abgeführt würden. Bezeichnenderweise, so fügte Freud hinzu, äußere sich die Intoleranz der Massen stärker, sobald die Unterschiede zwischen dem, was als eigen bzw. fremd empfunden würde, nicht gravierend, sondern gering seien. (MM, S. 197) In den unverhüllt hervortretenden Abneigungen und Abstoßungen gegen nahestehende Fremde können wir den Ausdruck einer Selbstliebe, eines Narzißmus, erkennen, der seine Selbstbehauptung anstrebt und sich so benimmt als ob das Vorkommen einer Abweichung von seinen individuellen Ausbildungen eine Kritik derselben und eine Aufforderung, sie umzugestalten, mit sich brächte. […] Es ist aber unverkenn-
286 Sigmund Freud an Ernest Jones, 3.3.1936, in: The Complete Correspondence of Sigmund Freud and Ernest Jones 1908–1939, ed. by R. Andrew Paskauskas. Band 1, London 1993, S. 751. Ernest Jones zitierte den Brief von Freud wie folgt: „Ich habe im vorigen Jahr eine Arbeit geschrieben ‚Der Mann Moses, ein historischer Roman‘ und [Stefan] Zweig bei seinem letzten Besuch davon erzählt. Aber schon der Titel verrät, warum ich dieses Werk nicht veröffentlicht habe und nicht veröffentlichen werde. Es fehlt mir an der historischen Beglaubigung für meine Konstruktion, und da mir meine Resultate sehr wichtig scheinen, die eine Ableugnung der jüdisch-nationalen Sagengeschichte enthalten, mag ich sie nicht der bequemen Kritik der Gegner aussetzen. Das Buch würde viel Aufsehen machen, und ich bin nicht imstande, für die Zuverlässigkeit seiner Annahmen einzustehen.“ JONES, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band 3, S. 247f. 287 Sigmund Freud an Arnold Zweig, 16.12.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 108f. 288 Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30.9.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 102.
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bar, daß sich in diesem Verhalten der Menschen eine Haßbereitschaft, eine Aggressivität kundgibt, […] der man einen elementaren Charakter zusprechen möchte.289
Zu diesem Mechanismus käme noch hinzu, dass die Abfuhr der Aggressionen auf eine ‚andere‘ Gruppe den Zusammenhalt der ‚eigenen‘ stärke: So sei es möglich, „eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“290 Diesbezüglich hätte sich das überallhin versprengte Volk der Juden anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen jener Völker, unter denen sie Aufnahme fanden, erworben, so Freuds zynischer Kommentar. Davon, dass diese Thesen Freuds alles andere als ‚weltfremd‘ waren, zeugt u.a. der (insbesondere nach 1918) zunehmende Antisemitismus in Österreich. Allerdings grub Freud nicht nach einer Wurzel des Judenhasses. Den tieferen Grund für den „unsterblichen Haß“291, den die Juden auf sich zogen, entdeckte er vielmehr in dem, was Richard J. Bernstein als das zentrale Thema der Mann-Moses-Schrift bezeichnet hat: „die drängende Kraft religiöser Tradition“,292 d.h. in unaufgearbeiteten Traumata und missglückten Abgrenzungsversuchen seitens der verschiedenen Monotheismen: Man sollte nicht vergessen, daß alle diese Völker, die sich heute im Judenhaß hervortun, erst in späthistorischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie sind alle ‚schlecht getauft‘, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was Ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. (MM, S. 198)
Ihr Judenhass sei „im Grunde Christenhaß“, jeder Juden hassende Christ hasse sich zugleich auch selbst. Beide verbinde also eine ‚innige Beziehung‘, die sich, so Freuds bissiges Resümee, zuletzt noch in der „feindseligen Behandlung beider“ Religionen durch den Nationalsozialismus deutlich spiegle – oder räche. (MM, S. 198) Als Freud diese Zeilen niederschrieb, stand der mörderische Höhepunkt noch bevor.
5.9 Z WISCHENRESÜMEE Das Jahr 1918 stellte in Österreich eine prägnante Zäsur dar. Während in der Habsburgermonarchie die sprach- und kulturnationale Ideologie noch durch das staatsnationale Narrativ sowie durch eine Politik der asymmetrischen Balance gezügelt werden konnte, setzte sie sich in der Ersten Republik voll-
289 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 111. 290 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 473. 291 Sigmund Freud an Arnold Zweig, 30.9.1934, in: Sigmund Freud. Arnold Zweig. Briefwechsel, S. 102. 292 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 133.
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ends durch: Österreich wurde als ein ‚deutscher‘ Nationalstaat konzipiert. So wie anderswo war das ‚nation-building‘ in dem jungen Staat mit In- und Exklusionsvorgängen verbunden und auch in diesem weiterhin hoch komplexen kulturellen „Kommunikationsraum“293 zielte die nationale Homogenisierungspolitik nicht auf die völlige Verwerfung des bzw. der Anderen ab. Sie wurden vielmehr klassifiziert, um eine Schablone für die Ausbildung einer ‚Wir-Gruppe‘ abzugeben. Zu diesem Zweck wurden Differenzen verschiedener Art zu vermeintlich ‚natürlichen‘ Tatsachen überhöht. Im Besonderen lieferte die naturalisierte Kultur Indikatoren für Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit. In der Politik, der Wissenschaft und im Bereich der Kultur verfolgten deutschnationale Aktivisten das Ziel, zweihunderttausend jüdischen Österreichern, hunderttausenden Wiener Tschechen, zehntausenden Vertretern ungarisch, kroatisch, slowakisch und anders slawischsprachiger Minoritäten ihr nationales Narrativ aufzuprägen oder ihnen dieses zu entwenden. Die österreichische Staatswirklichkeit legte beredt Zeugnis davon ab, was der Wiener Staatsrechtslehrer Edmund Bernatzik im Jahr 1912 als ein signifikantes Merkmal „jeder ihrer selbst bewußt gewordenen Nationalität“ bezeichnet hatte, dass in ihr – gegebenenfalls der deutschen – nämlich der „Trieb“ stecke, „die übrigen zu beherrschen“.294 In Abhandlungen, Zeitungsartikeln, Wahlaufrufen usw. wurden vor allem die österreichischen Juden als kulturell ‚anderswertig‘ eingestuft. Die Kehrseite der Vorstellung jüdischer Wesensverschiedenheit war, dass jede ‚Vermischung‘ verhindert werden sollte. Die jüdische Assimilation, die nun angeblich das „Wesen des Volkstums“ verdarb,295 wurde zum zentralen Übel stilisiert, das allein durch eine ‚Absonderung‘ der Juden vom deutschen ‚Volkstum‘ zu überwinden gedacht wurde. Der theoretischen Absicherung dieses dissimilatorischen Vorhabens widmeten sich vor allem auch die katholisch-nationalen Speerspitzen der Wissenschaft. Zu diesem Zweck wurden u.a. die Begriffe ‚Volk‘, ‚Seele‘ und ‚Kultur‘ in substanzialistischer Weise verwendet: Die christlich-deutsche Mehrheit wurde zum ‚Volk‘ erklärt, dessen ‚Seele‘ im deutschen ‚Kulturkreis‘ durch die Assimilation der Juden angeblich ‚verunreinigt‘ zu werden drohte. Diese verkehrten Logiken zu durchbrechen, war ein zentrales Ziel, das Freud verfolgte. Dafür bot er seine Schrift Der Mann Moses auf.
293 Vgl. CSÁKY, Culture as a Space of Communication, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. 294 BERNATZIK, Die Ausgestaltung des Nationalgefühls im 19. Jahrhundert, S. 7. 295 SPANN, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch?, 21922, S. 20.
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5.10 ANTISEMITISMUS Zur spezifischen Ausprägung des Antisemitismus in Österreich im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert liegen mittlerweile wichtige Arbeiten vor. Peter Pulzer296, Marsha L. Rozenblit297 und andere298 stuften ihn als „Integrationsformel“ und weniger als Tat- und Aktionsprogramm ein. Spezifika des österreichischen Antisemitismus diagnostizierte u.a. der erwähnte Oxforder Historiker Pulzer: seine vergleichsweise späte Ausformung, seine schon unvergleichlich große Intensität vor 1914 und seinen überwiegend christlich-konservativen Charakter.299 Andere Autoren widmeten sich insbesondere auch dem Antisemitismus in den Zwischenkriegsjahren.300 Die Beziehungsgeschichte zwischen seiner ausgrenzenden Funktion und der Ausbildung der Nationalstaatsidentität in Österreich harrt jedoch weiterhin einer vertieften Analyse. Ausgehend von bereits vorliegenden Arbeiten301 werden
296 Vgl. Peter G. J. PULZER, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914. Mit einem Forschungsbericht des Autors, Göttingen 2004 [Original: DERS., The rise of political anti-semitism in Germany and Austria, New York [u.a.] 1964], und DERS., Spezifische Momente und Spielarten des österreichischen und Wiener Antisemitismus, in: Gerhard BOTZ [u.a.] (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 22002, S. 129–144. 297 Vgl. Marsha L. ROZENBLIT, Die Juden Wiens 1867–1914. Assimilation und Identität, Wien–Köln–Graz 1988 (Forschungen zur Geschichte des Donauraumes 11) [Original: DIES., The Jews of Vienna. 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany 1983], und DIES., Segregation, Anpassung und Identitäten der Wiener Juden vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: BOTZ [u.a.] (Hg.), Eine zerstörte Kultur, S. 227–239. 298 Vgl. u.a. Bruce PAULEY, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. 299 Zum Antisemitismus im Allgemeinen und zu Deutschland vgl. Shulamit VOLKOV, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 22000. DIES., Das jüdische Projekt der Moderne, 2001. DIES., Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 1994. 300 Vgl. u.a. Albert LICHTBLAU, Antisemitismus 1900–1938. Phasen, Wahrnehmung und Akkulturationseffekte, in: Frank STERN, Barbara EICHINGER (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938, Wien–Köln–Weimar 2009, S. 39–58. DERS., Antisemitismus. Rahmenbedingungen und Wirkungen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, in: Emmerich TALÓS [u.a.] (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, S. 454–471. Bruce PAULEY, Politischer Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit, in: BOTZ [u.a.] (Hg.), Eine zerstörte Kultur, S. 241–260. Helmut WOHNOUT, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich, in: Geschichte und Gegenwart 13, 1(1994), S. 3–16. Thomas ALBRICH, Vom Vorurteil zum Progrom. Antisemitismus von Schönerer bis Hitler, in: Rolf STEININGER, Michael GEHLER (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Von der Monarchie bis zum Zweiten Weltkrieg. Band 1, Wien 1997, S. 309–366. 301 Vgl. u.a. Michael JOHN, National Movements and Imperial Ethnic Hegemonies in Austria 1867–1918, in: Dirk HOERDER (ed.), The Historical Practice of Diversity. Transcultural Interactions from the Early Modern Mediterranean
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im Folgenden diese Wechselwirkungen beleuchtet, wobei den akademischen Milieus besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. In Bezug auf Deutschland wurde zuletzt aus historisch-wissenschaftssoziologischer Perspektive die These verifiziert, dass sich „der moderne Antisemitismus […] vor allem anderen durch seine Verknüpfung mit dem Nationalismus konstituiert“ habe.302 So zeigt die Politikwissenschaftlerin Gudrun Hentges am Beispiel des Antijudaismus idealistischer deutscher Philosophen des 18. Jahrhunderts (Kant, Fichte und Hegel) auf, dass der Aufschwung des „Antisemitismus parallel […] zur Entstehung moderner Nationalstaaten und Rassentheorien“ verlief.303 Der Soziologe Klaus Holz weist in seiner „Wissenssoziologie einer Weltanschauung“ nach, dass der „nationale Antisemitismus“ seit dem 19. Jahrhundert zu einem der zentralen Abgrenzungsvehikel avancierte. Seiner Analyse zufolge war das nationale Selbstbild integral mit dem antisemitischen Fremdbild verknüpft und „der Nationalismus […] für den modernen Antisemitismus konstitutiv.“ Diesen Befund argumentiert Holz wie folgt: Im Antisemitismus dient das Judenbild dazu, eine Wir-Gruppe semantisch zu formieren. Selbst- und Fremdbild sind zwei Seiten einer Medaille. Deshalb kann das Judenbild nur als Gegenbild analysiert werden, durch das sich eine Wir-Gruppe ein Bild von sich macht. […] Dem modernen antisemitischen Judenbild entspricht ein Selbstbild als Volk/Staat/Nation. Diese Muster sind eine semantische Tradition, die sich in die moderne Gesellschaft eingeschrieben hat. Der moderne Antisemitismus bildet ein Ensemble dieser Muster, das mit dem Begriff „nationaler Antisemitismus“ treffenderweise bezeichnet werden kann.304
Diesen sowie weiteren Stimmen, die seit dem 18. Jahrhundert eine Affinität zwischen Judenhass und ‚Nationswerdung‘ bezeugen, ist nicht zu widersprechen, wenn sich der Blick auf den neuen österreichischen Nationalstaat des 20. Jahrhunderts richtet.
to the Postcolonial World, Oxford–New York 2003, S. 87–105. DERS., Skizzen zur Problematik der kulturellen und nationalen Identität in Österreich 1848–1937, in: Michael JOHN, Oto LUTHAR (Hg.), Un-Verständnis der Kulturen. Multikulturalismus in Mitteleuropa in historischer Perspektive, Klagenfurt–Ljubljana–Wien 1997, S. 55–86. DERS., ‚We Do Not Even Possess Our Selves‘. On Identity and Ethnicity in Austria 1880–1937, in: Austrian History Yearbook 30 (1999), S. 17–64. 302 Klaus HOLZ, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, S. 12. 303 Gudrun HENTGES, Das Janusgesicht der Aufklärung. Antijudaismus und Antisemitismus in der Philosophie von Kant, Fichte und Hegel, in: Samuel SALZBORN (Hg.), Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart, Giessen 2004, S. 11–32, hier S. 31. 304 HOLZ, Nationaler Antisemitismus, S. 540.
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5.10.1 Die Erste Republik Österreich: christlich – deutsch – antisemitisch Die Erste Republik definierte sich als deutscher Staat.305 Der Salzburger Historiker Ernst Hanisch verweist darauf, dass in ihr aber ein „österreichisches Staatsbewußtsein“ vorhanden war,306 das sich – so die Historiker Dieter Binder und Ernst Bruckmüller – mit meist „traditionell gefärbten österreichischen Bewusstseinslagen“ und dem Bekenntnis zum deutschen ‚Volkstum‘ vermengte. Im Allgemeinen schwankte der Identifikationsgrad der Bevölkerung mit dem neuen Österreich: Im Laufe der 1920er-Jahre hatten sich die Österreicher zwar zunehmend mit ihrem neuen Staat identifiziert, dieses Vertrauen wurde jedoch durch die Weltwirtschaftskrise (1929) wieder zutiefst erschüttert.307 Vor 1918 war die deutschnationale Orientierung in den einander konkurrierenden politischen Fraktionen unterschiedlich stark verankert, und sie zeigte sich in unterschiedlichen Zielsetzungen. Sie manifestierte sich u.a. an den so genannten ‚Sprachgrenzen‘, d.h. in den mehrsprachigen, aber vielfach deutsch dominierten Teilen der Monarchie.308 Nach 1918 waren sich die drei verfeindeten politischen Lager – das deutschnationale, christlich-konservative und marxistisch-sozialdemokratische – im Wesentlichen darin einig, dass die deutschsprachigen Österreicher Teil des deutschen Volkes seien. In der Republik machte sich die „staatsoffizielle nationale Selbstnegation“309 insbesondere in der Bildungslandschaft bemerkbar: Von der Beamtenschaft wurde ein national deutsches Bekenntnis auf der Grundlage der Volkszählung von 1910 abverlangt,310 im Schulunterricht ‚gesamtdeutsche‘, nicht ‚österreichisch-vaterländische‘ Geschichte vermittelt und durch die Amtskirche die katholisch-großdeutsche Tradition neu belebt;311 besonders an den Universitäten war das deutsche Nationalbe-
305 Vgl. BINDER, BRUCKMÜLLER, Essay über Österreich, S. 101–103. Die „Provisorische Nationalversammlung“ erklärte Österreich am 12. November 1918 zu einem „Bestandteil der Deutschen Republik“. Der ‚Anschluss‘ Österreichs an Deutschland war eine Zeitlang den Sozialdemokraten, vor allem aber der Großdeutschen Volkspartei ein zentrales programmatisches Anliegen. Vgl. u.a. Rolf STEININGER, 12. November 1918 bis 13. März 1938: Stationen auf dem Weg zum „Anschluss“, in: STEININGER, GEHLER, Österreich im 20. Jahrhundert. Band 1, S. 99–151, hier S. 100–107. 306 Ernst HANISCH, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Studienausgabe, Wien 2005 (Österreichische Geschichte. Studienausgabe), S. 157–161. 307 BINDER, BRUCKMÜLLER, Essay über Österreich, S. 102f. 308 Vgl. Pieter M. JUDSON, Versuche um 1900 die Sprachgrenze sichtbar zu machen, in: Moritz CSÁKY, Peter STACHEL (Hg.), Die Verortung von Gedächtnis, Wien 2001 (Orte des Gedächtnisses), S. 163–173. 309 BINDER, BRUCKMÜLLER, Essay über Österreich, S. 102. 310 Vgl. ebenda. 311 Vgl. ebenda, und Ernst BRUCKMÜLLER, Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse. Zweite, ergänzte und erweiterte Auflage, Wien–Köln–Graz 1996, S. 303–310, hier S. 306f.
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wusstsein stark verankert. An ihnen gab u.a. eine klerikal-konservativ und deutsch ausgerichtete Kultur- und Gesellschaftslehre eine ideologische Stütze der nationalen Staatspolitik ab. Othmar Spann war einer ihrer Vorreiter. Die Erste Republik wurde mehr als ein Jahrzehnt lang (1920–1932) von einer konservativ-katholischen und deutsch orientierten Koalition regiert, welcher jahrelang der schon erwähnte Ignaz Seipel als Bundeskanzler vorstand. Zu seiner Zeit verstärkten sich bald völkische, bald ständische, jedenfalls aber demokratiefeindliche Haltungen: Revolution, Republik und Demokratie wurden zutiefst gehasst. Davon zeugt u.a. das Werk des heute vergessenen Wiener ‚Soziologen‘ Anton Orel (1881–1959). In seinem Pamphlet Das Verfassungsmachwerk der „Republik Österreich“ (1921) verwarf der von der christlichsozialen Tradition Karl Vogelsangs (1818–1890) tief beeinflusste Antisemit die Verfassung des „Unstaates“ der „demokratischen Republik“ Österreich als ein „abscheuliches Machwerk der Empörung gegen die ewige Ordnung“ und wies hierfür dem „jüdischen Professor Kelsen (Kohn)“ die Schuld zu.312 Den Kern des Übels erblickte er in der republikanischen Staatsform, mit der die werthafte Abstufung der sozialen Schichten, Kulturen und konfessionellen Überzeugungen relativiert worden sei. Unter der „Maske“ der Volkssouveränität versteckte sich Orel zufolge der „unsichtbare wahre absolute Suverän (!) unserer elenden Judenrepublik“: „das Gesicht des herrschenden Juden“. In der Hoffnung, dass der von „der geistigen jüdischen Schnapspest erzeugte ‚republikanische‘ Rausch der österreichischen Völkerschaften“ verrauchen würde, trat er für die Wiederherstellung einer ‚organisch gewachsenen‘ Ordnung auf.313 Anton Orel stand als ‚Intellektueller‘ in den 1920er-Jahren mit dieser Haltung keineswegs im Abseits, sein ‚wissenschaftlicher‘ Standpunkt deckte sich vielmehr mit programmatischen Äußerungen seitens der führenden Parteien. So rief z.B. die Christlichsoziale Partei schon 1919 „das deutschösterreichische Volk zum schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr“ auf,314 und auch die Großdeutsche Volkspartei, die sich als schlagkräftigster deutschnationaler, antijüdischer und sozialdemokratiefeindlicher Akteur profilierte, sagte dem „verderblichen Einfluß des jüdischen Geistes“ den Kampf an – ein Argument, mit dem die Verfechter deutschnationaler Politik die „Notwendigkeit des Rassenantisemitismus“ begründen.315 Bald
312 Anton OREL, Das Verfassungsmachwerk der „Republik Österreich“ von der Warte der immerwährenden Philosophie aus und im Lichte von Idee, Natur und Geschichte Österreichs geprüft und verworfen, Wien 21921, S. 6. 313 Ebenda, S. 30, S. 17. 314 ‚Wahlprogramm‘ der Christlichsozialen Partei auf einem Flugblatt zur Nationalratswahl vom 16. Februar 1919, in: Flugblätter (Erste Republik, 1918– 1933), Karton 6 und 7 (ÖNB, Flugblättersammlung Wien). Dieses Dokument ist zitiert nach Julia SCHÄFER, Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918–1933, Frankfurt am Main 2005, S. 105. 315 Eduard PICHL, Georg Schönerer, hg. mit Unterstützung des Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschlands. Band 5: 1897–1921, Oldenburg–Berlin 1938, S. 289f.
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ritten Antisemiten jeder Couleur ihre Verbalattacken gegen Juden unter dem Vorwand ihrer angeblich unterschiedlichen ‚Abstammung‘. Unter diesem Vorzeichen konnte die so genannte „Rasseverschiedenheit“ (Wilhelm Schmidt) ‚kulturell‘, d.h. durch Assimilation, zwar nicht überbrückt, durch die Vorstellung von ‚Kulturverschiedenheit‘ aber akzentuiert werden. Slogans, die militante Antisemiten zur Zeit Georg von Schönerers (1842–1921) auf Wiener Bauwerke, Mauern und Wände geschmiert hatten, wie z.B.: „Die Religion ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei“, wurden in der Ersten Republik mitunter sogar von staatstragenden Politikern lautstark vertreten. So stimmte u.a. Emmerich Czermak (1885–1965), der letzte Obmann der Christlichsozialen Partei, Unterrichtsminister (1929–1932) und Landesschulratspräsident für Niederösterreich, in seiner Schrift zur Ordnung in der Judenfrage (1933) wortgewaltig in den Chor der Assimilationsfeinde und Rassenantisemiten ein, wenn er die Juden nicht als Teil des deutschen Volkes in Österreich ansah: Wir Deutsche begegnen dem jüdischen Volk und auch seiner nationalen Religion gerne mit voller Achtung, wir wollen sie geschützt sehen, aber auch uns schützen. […] [Die Juden] werden uns in Hinkunft in einigen Belangen unter uns lassen müssen. […] In unserer nationalen Kultur sollen sie nicht anders denn als Gäste sprechen dürfen. […] Der religiöse Deutsche [muß] die Annahme der Taufe als ‚Entreebillett‘ für die Juden mit größter Entschiedenheit ablehnen.316
Da der Antisemitismus der nationalen Politik ein wirksames Segregationsvehikel darbot, büßte die jüdische Assimilation317 auch in der Alltagspraxis ihre soziale Integrationsfunktion zusehends ein. Diese Segregationsfunktion hatte der Antisemitismus teilweise auch im 19. Jahrhundert erfüllt. Schon damals hatten sich ‚Wir-Gruppen‘ durch die Verunglimpfung anderer als Juden ihrer Zusammengehörigkeit versichert: „Schließlich hatten sich alle gegenseitig als Juden und Judenknechte gebrandmarkt“, berichtete der Jurist
316 Emmerich CZERMAK, Oskar KARBACH, Ordnung in der Judenfrage. Dokumente, zusammengestellt von der Schriftleitung der Berichte zur Kultur- und Zeitgeschichte, Wien–Leipzig 1933, S. 47, S. 66, S. 44. 317 Das Ziel der jüdischen Assimilation bestand im Wesentlichen in einer Integration durch Akkulturation, was aber nicht notwendig mit der Selbstaufgabe kultureller Traditionen, Sitten und Wertvorstellungen verbunden war. Assimilationsvorgänge waren oftmals auch mit ökonomischen Zwängen verbunden. Um Anpassungsvorgänge unter „Beibehaltung der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit zum Judentum“ zu beschreiben, wird heute der Begriff der Akkulturation verwendet. Dieter J. HECHT, Zwischen Feminismus und Zionismus. Die Biografie einer Wiener Jüdin. Anitta Müller-Cohen (1890–1962), Wien–Köln– Weimar 2008 (l’Homme Schriften 15), S. 21. Vgl. auch Klaus FISCHER, Jüdische Wissenschaftler in Weimar. Marginalität, Identität und Innovation, in: Wolfgang BENZ, Arnold PAUCKER, Peter PULZER (Hg.), Jüdisches Leben in der Weimarer Republik. Jews in the Weimar Republic, Tübingen 1998, S. 89–116, hier S. 100f., und Jacob KATZ, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, Frankfurt am Main 1988.
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Edmund Bernatzik dem in Heidelberg wirkenden Kollegen Jellinek: „Es wirkt komisch, daß bei uns Jeder einen Anderen, der politisch nicht so denkt wie er, als Juden bezeichnet – auch Schönerer u. seine Leute traf dieß Schicksal – aber niederschmetternd ist es zu sehen, daß dieß das Mittel des politischen Kampfes ist. Seit Schönerer von den Christl. Socialen als ,Kälberjude‘ hingestelt worden ist, kann man einen erheblichen Verlust seines Einflußes constatiren!“318 Solches Vorgehen konstatierte auch der Brünner Soziologe Ernst Grünfeld (1883–1938) für die Zeit nach 1918: In vielen Konfliktfällen hätten sich Kontrahenten nicht nur als solche gegenseitig angegriffen, sondern auch noch wechselseitig als Juden diffamiert; und bald sei an allen Orten „jüdischer Geist“ vernommen worden, wo es überhaupt Konflikte gab. Alles Unliebsame sei als jüdisch abgestempelt worden: der Sozialismus, der Kommunismus, der Liberalismus und die Republik, und in dieser der „Judenliberalismus“, die „Judenpresse“, die „verjudete Sozialdemokratie“ und – last but not least – die „Judenrepublik“.319 5.10.2 Akademischer Antisemitismus In intellektuellen Berufen tätige Juden stellten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich eine wichtige Zielscheibe antisemitischer Anfeindungen dar. In studentischen Verbindungen und der Jungakademikerschaft setzte sich seit den 1870er-Jahren eine völkisch-rassistische Variante des Antisemitismus durch, die nach 1918 auch an den österreichischen Universitäten zunehmend salonfähig wurde.320 Die antisemitischen Angriffe zielten nicht nur auf die jüdischen Studierenden ab, deren Zahl z.B. durch einen Numerus Clausus beschränkt werden sollte,321 sondern auch auf ihre 318 Edmund Bernatzik an Georg Jellinek, 25.12.1897, in: Nachlass Georg Jellinek (Bundesarchiv Koblenz, 1136/2). Dieser Briefauszug ist abgedruckt in: GOLLER, Österreichische Staatsrechtswissenschaft um 1900, S. 244. 319 Ernst GRÜNFELD, Die Peripheren. Ein Kapitel Soziologie, hg. von Erie Grünfeld, Amsterdam 1939, S. 58f. 320 Vgl. Robert HEIN, Studentischer Antisemitismus in Österreich, Wien 1984 (Beiträge zur österreichischen Studentengeschichte 10). Erika WEINZIERL, Hochschulleben und Hochschulpolitik zwischen den Kriegen, in: Aurelius FREYTAG, Boris MARTE, Thomas STERN (Hg.), Geschichte und Verantwortung, Wien 1988, S. 53–71. George G. IGGERS wirft einen Blick auf den internationalen Hochschulantisemitismus, insbesondere auf die Situation in Deutschland, in: Academic Anti-Semitism in Germany 1870–1933, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 27 (1998), S. 473–489. Notker HAMMERSTEIN, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt am Main–New York 1995. DERS., Universitäten in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Antisemitismus, in: Wilfried BARNER, Christoph KÖNIG (Hg.), Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933, Göttingen 2001 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3), S. 25–34. 321 Mit der Aufhebung der „Gleispachschen Studienordnung“ durch den Verfassungsgerichtshof (1931) schlugen die Verbalattacken auf jüdische und ausländische Studierende und Professoren an der Wiener Universität in eine Serie tätlicher Übergriffe um. Vgl. FEICHTINGER, Wissenschaft zwischen den Kultu-
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Lehrer. Akademische Karrieren jüdischer Absolventen wurden zusehends blockiert. Der Wiener Radiologe Franz Urbach (1902–1969), ein Schüler des namhaften Radiumforschers Karl Przibram (1878–1973), war eines der Opfer, deren akademische Laufbahnen durch den wachsenden Antisemitismus an den Universitäten blockiert wurden: Als ich meine Studien (1921) begann, war in Österreich die akademische Laufbahn für einen Juden zwar etwas erschwert, aber durchaus zugänglich; als ich sie beendete (1926, also lange vor Ausbruch des deutschen Nationalsozialismus) war sie praktisch bereits fast unmöglich, und zwei Jahre nach dem Doktorat, als ich ,habilitationsreif‘ war, war [daran] nicht mehr zu denken. Es war damals eine staatliche Anstellung für einen Juden so gut wie unerreichbar geworden, und besonders die Universität und technische Hochschule waren Zentren des schärfsten Antisemitismus. Ich war so dem lautlosen österreichischen Hochschulantisemitismus ausgeliefert.322
Der starke Antisemitismus verstellte Juden aber nicht nur den Zugang zum akademischen Beruf, Assistenten jüdischer Herkunft wurden von der Universität auch wieder verdrängt. Zudem wurde jüdischen Privatdozenten ein Weiterkommen auf der universitären Karriereleiter verwehrt.323 Daran erinnerte sich auch Eric Voegelin, der selbst nicht als Jude angefeindet wurde: Als ich zu studieren anfing, war eine beträchtliche Anzahl der Ordinarien Juden. Sie vertraten die liberale politische Tradition der Monarchie. 1918 und in der Zeit danach wurden jedoch keine weiteren Juden zu Ordinarien ernannt; die jüngeren jüdischen Wissenschaftler hatten somit keinerlei Chance, jemals über den akademischen Grad des Privatdozenten hinauszukommen.324
Auf diese rassistische Diskriminierung reagierten viele assimilierte jüdische Jungforscher zumeist zurückhaltend. Zwar fand der Zionismus zu dieser Zeit verstärkt Zulauf, für viele jüdische Wissenschaftler – ob jung oder alt – bot er letztlich aber kein attraktives Identifikationsangebot.325 So war z.B.
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ren, S. 364f. FUCHS, ‚Rasse‘, ‚Volk‘, ‚Geschlecht‘, S. 236f. Michael JOHN, Albert LICHTBLAU, Schmelztiegel Wien. Einst und Jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien 21993, S. 368–371. LICHTBLAU, Antisemitismus 1900–1938, S. 44f. Franz Urbach an Esther Simpson [Sekretärin der Londoner Akademikerhilfe Society for the Protection of Science and Learning], 31.12.1934, in: Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Fasc. 342/5. Vgl. Bruno KREISKY, Antisemitismus an der Universität in den 1920er und 1930er Jahren, in: L’Autriche 1918–1938. Recueil de textes civilisationnels réunis et édités par Jeanne Benay, Rouen 1998, S. 197–198 [Original: DERS., Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Wien 1986, S. 168– 173]. Eric VOEGELIN, Autobiographische Reflexionen, München 1994, S. 24. In Österreich bildeten vielmehr außeruniversitäre Wissenschaftszirkel ein zentrales Auffangbecken für universitär diskriminierte Wissenschaftler. Zur Rolle
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Sigmund Freuds Verhältnis zum Zionismus mehr als distanziert, da er jeder Spielart des nationalen Prinzips misstraute, und Karl Popper (1902–1994), ein Sprössling des jüdischen Wiener Bürgertums, verglich den Zionismus retrospektiv sogar mit dem Nationalsozialismus.326 Der Grund für die defensive Haltung vieler Juden lag auf der Hand: Hätten Intellektuelle offensiv gehandelt, so hätten sie den Antisemiten zu verstehen gegeben, dass sie die über Kultur, Volkstum und Rasse argumentierte Differenz anerkannten. Zwangsläufig nahmen sie daher die Blockade ihrer universitären Laufbahnen in Kauf. Drei Symptome markierten ihr defensives Handeln: So gaben manche – erstens – ihre beruflichen Karrierewünsche preis. Karl Popper entschied sich schon im Jahr 1925 – wohl auch aus Sympathie für die nach dem Wiener Stadtschulratspräsidenten benannte Glöckel’sche Reform – für die Schullaufbahn: „I understood that circumstances in Austria could not permit me to obtain an official position at the university. I therefore decided to prepare myself for a post at public school.“327 Zweitens erblickten Juden, die noch auf die Assimilation vertrauten, in der Konversion eine aussichtsreiche Strategie, um sich der Stigmatisierung zu entziehen: „The anti-Semitism was an evil, to be feared by Jews and non-Jews alike, and that it was the task of all people of Jewish origin to do their best not to provoke it.“328 Da das Jüdisch-sein mitunter keine Kategorie der Selbst-, sondern der Außenzuschreibungen war,329 stellte der Konfessionswechsel für viele keine Gewissensfrage dar. Auch Karl Poppers Vorfahren hatten – so wie viele andere Intellektuelle – auf die Konversion, die den Abschluss der Assimilation markierte, vertraut: „After much thought my father had decided that living in an overwhelmingly Christian society imposed the obligation to give as little offence as possible – to become assimilated.“330 Anpassung, Integration und Taufe hatten die beruflichen Chancen erhöht:331 „Baptized Jews could rise to the highest positions in the
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der wissenschaftlichen Kreise in Wien vgl. Johannes FEICHTINGER, Zur Migration, Akkulturation und Identität österreichischer Intellektueller und Wissenschaftler 1900–1945, in: Jeanne BENAY, Alfred PFABIGAN, Anne Saint SAUVEUR (Hg.), Österreichische Satire (1933–2000). Exil – Remigration – Assimilation, Bern 2003 (Convergences 29), S. 15–38, und DERS., Kulturelle Marginalität und wissenschaftliche Kreativität, S. 321–328. Vgl. Malachi Haim HACOHEN, Karl Popper in Exile. The Viennese Progressive Imagination and the Making of The Open Society, in: Philosophy of the Social Sciences 26, 4(1996), S. 452–492, hier S. 472f. Karl POPPER, Details of Educational Career and University Training and Decrees and Teaching Experience, in: Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Fasc. 319/4. Karl POPPER, Unended Quest. An Intellectual Autobiography, London 1993, S. 105, und vgl. Malachi Haim HACOHEN, Dilemmas of Cosmopolitanism. Karl Popper, Jewish Identity and „Central European Culture“, in: The Journal of Modern History 71, 1(1999), S. 105–149. Vgl. GOMBRICH, Zum Wiener Kunstleben um 1900, S. 46. POPPER, Unended Quest, S. 105. Vgl. ROZENBLIT, Die Juden Wiens 1867–1914, S. 137–151.
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civil service.“332 Die Taufe konnte sich aber auch als kontraproduktiv erweisen, da die Konvertiten von jüdischen Zeitungen namentlich genannt wurden. Daher suchten viele Juden nach einem ‚dritten Weg‘: Während die einen antisemitische Angriffe bagatellisierten, versuchten andere die Sichtbarkeit ihres Judentums nach außen hin zu minimieren oder ihren jüdischen Hintergrund ganz und gar zu verschweigen. Vor dem so genannten ‚Anschluss‘ Österreichs (März 1938) hatte keine staatliche Autorität einen ‚rassischen‘ Herkunftsnachweis von der Bevölkerung verlangt. Auf welch massives Schweigen selbst der mit dem akademischen Milieu vertraute Kunsthistoriker, Psychoanalytiker und getaufte Jude Ernst Kris (1900–1957) stieß, als er im Jahr 1936 Wiener Wissenschaftler zu ihrer ‚Herkunft‘ interviewte, um sich vom Antisemitismus an Österreichs Universitäten ein Bild zu machen, verdeutlicht folgende Notiz: „It is moreover almost impossible to ascertain the race of the people concerned, as in most cases they refuse to give information even to friends, and only those who see no prospect of being able to conceal their race are ready to give information.“333 Aufgrund des Rassenantisemitismus wurde für viele der einmal als Juden ‚enttarnten‘ Konvertiten das Verschweigen der Herkunft aber widersinnig – so auch für Karl Popper. Als Jude angefeindet, bekannte er sich offen zu seinen jüdischen Vorfahren: „I am as my father was a Protestant but of Jewish origin. My grandparents having been Jews. And although these affairs are certainly of very private nature I never would hide my origin under present Austrian circumstances.“334 Bezeichnend ist allerdings der Zeitpunkt dieses offensiven Bekenntnisses, das er in jenem Augenblick ablegte, als er sich definitiv zur Auswanderung entschlossen hatte. In der Zeit des so genannten ‚Austrofaschismus‘ (1934–1938) verschlechterte sich die Situation für jüdische Intellektuelle weiter. Im Jahr 1934 wurde eine neue ständische Verfassung proklamiert, die den ‚christlich-deutschen‘ Charakter des Staates untermauerte.335 Unter den Intellektuellen hinterließ die autoritäre Staatsführung einen auffallend ambivalenten Eindruck. Dass sich der Kanzler Schuschnigg die Unabhängigkeit Österreichs programmatisch auf seine Fahnen heftete, musste angesichts der einsetzenden Verfolgung in Deutschland auf die österreichischen Juden beruhigend wirken. Offiziell wurde die antisemitische Agitation – u.a. um sich vom nationalsozialistischen Deutschland abzugrenzen – von den Ständestaateliten verurteilt. So durften Juden, die sich zum „christlichen Staate“
332 POPPER, Unended Quest, S. 105. 333 Ernst W. Kris to Fritz Saxl, 22.10.1936, in: Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Fasc. 140. 334 Karl Popper to A. E. Duncan-Jones, 8.8.1936, in: Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, Bodleian Library, Oxford, Fasc. 319/4. 335 Vgl. Dieter A. BINDER, Der „christliche Ständestaat“. Österreich 1934–1938, in: STEININGER, GEHLER (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Band 1, S. 203–256.
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bekannten, auch Mitglieder der Vaterländischen Front werden.336 Allerdings scheute die öffentliche Verwaltung nicht vor antisemitischer Ausgrenzung und systematischer sozialer Diskriminierung zurück. Sie war alles andere als frei von Antisemitismus, worauf Franz Werfel (1890–1945) in seiner Erzählung Eine blaßblaue Frauenschrift (1941) verwies. In ihr schilderte er den Widerstand, der sich formierte, als ein Jude zum ordentlichen Universitätsprofessor für Medizin ernannt werden sollte. Ungeachtet seines Weltruhmes als „Nobelpreisträger für Medizin, Ehrendoktor von acht europäischen und amerikanischen Universitäten und als Arzt der Könige und Staatsoberhäupter“ ginge es „in heutiger Zeit nicht“, so Werfel in böser Überspitzung, diesem jüdischen Bewerber, „möge er auch die größte Kapazität sein“, „einen so wichtigen Lehrstuhl anzuvertrauen“337. Der Antisemitismus manifestierte sich im medizinischen Bereich auch in der Kündigung jüdischer Ärzte nach dem ‚Arbeiteraufstand‘ im Februar 1934. So sah z.B. die städtische Verwaltung Wiens vor, Juden solange auszuschließen, bis nur noch 20% der praktizierenden Ärzte jüdisch waren. 1937 beschäftigte die Stadt Wien 22.600 Personen – nur 154 von ihnen waren Juden.338 Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Botschafter der Vereinigten Staaten, George S. Messersmith (1883–1960), im November 1935 seiner Sorge über die Lage der Juden in Österreich Ausdruck verlieh.339 Da im Ständestaat der Auswanderungsdruck auf Juden allerdings nicht annähernd so groß war wie im nationalsozialistischen Deutschland, entschied sich so mancher als Jude angefeindete Österreicher nicht leichtfertig dazu, sein Land zu verlassen. Im ersten Moment erschien vielen die Option sich zu ‚arrangieren‘,340 der „Rückzug in den faulen Kompromiss“341, wie es die Schriftstellerin Hilde Spiel (1911–1990) rückblickend nannte, als opportun. Sucht man nach den Ursachen dafür, dass der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit rasant zunahm – und dies trotz der fortschreitenden Assimilationsbemühungen342 – so wird man bald fündig: Offenbar hatte die Assimilation in den Augen der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung ihre überbrückende Integrationsfunktion verloren. Im neuen Nationalstaat sollten innere Differenzen kultureller Art nicht aufgehoben, sondern zu unüberwindbaren Gegensätzen aufgewertet, d.h. naturalisiert, werden. Der Illusion
336 337 338 339 340
Vgl. LICHTBLAU, Antisemitismus 1900–1938, S. 46. Franz WERFEL, Eine blaßblaue Frauenschrift, Frankfurt am Main 1990, S. 80. Vgl. PAULEY, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus, S. 329. Vgl. WOHNOUT, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich, S. 13f. Vgl. Hilde SPIEL, Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911– 1946, München 1989, S. 114. 341 Ebenda, S. 115. 342 Vgl. Albert LICHTBLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn. Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Eveline BRUGGER [u.a.], Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2007, S. 447–565, hier S. 465–469 und S. 507–513, und DERS., Partizipation und Isolation. Juden im Österreich der „langen“ zwanziger Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), S. 231–154.
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nationaler Authentizität verfallend, warfen daher national-klerikale Wortführer jenen Juden, die an der Assimilation festhielten, vor, die ‚Nationalkultur‘ zu ‚verunreinigen‘. So zeigt sich im Rückblick, dass nationale Antisemiten das Assimilationskonzept zum Vorwand nahmen, um den Juden selbst die Schuld für den Antisemitismus anzulasten: Mit der Assimilation zerfiel nämlich das nicht völlig zu verwerfende, aber sichtbar zu verdrängende Andere, welches für die Ausbildung und Aufrechterhaltung der Vorstellung einer rein deutschen Nation so dringend gebraucht wurde. Unter diesem Vorzeichen verbündeten sich Politik und Wissenschaft, um den jüdischen Assimilationsprozess anzufeinden und die Juden als Zerstörer der authentischen Ordnung zu diffamieren. 5.10.3 Assimilation und Antisemitismus Wien war seit Jahrhunderten eine vielsprachige Stadt gewesen.343 Sogar Karl Lueger (1844–1910), der spätere Bürgermeister, war zunächst nicht offensiv für die ‚Verdeutschung‘ der Reichshaupt- und Residenzstadt aufgetreten.344 Als christlichsozialer Parteiführer hatte er sich von den deutschnationalen Attitüden der anderen wahlwerbenden Fraktionen abzugrenzen. Zugleich verfolgte er aber das Ziel, den deutschen Charakter Wiens trotz der massiven Zuwanderung zu wahren. Den Antisemitismus wusste er als politische Waffe einzusetzen. Auch im Amt des Wiener Bürgermeisters (1897– 1910) bediente Lueger das (und sich des) Feindbild(es) Jude. Die Assimilierung verordnete er aber vor allem für die Zuwanderer aus den slawischen Teilen der Monarchie. Die weitaus größte Migrationsgruppe stellten Böhmen und Mährer dar. Vor dem Ersten Weltkrieg verstand sich Wien als eine gewaltige „Assimilationsmaschine“,345 wie es in einer amtlichen Darstellung aus dem Jahr 1913 heißt. Diese mechanistische Metaphorik ist wohl kein Zufall, stellte doch die Assimilation der slawisch sprechenden Wiener Bevölkerung über das Ableben Luegers hinaus ein zentrales kommunalpolitisches Ziel dar. Sobald sich die Slawen in Wien als deutsche Wiener dekla-
343 Vgl. u.a. CSÁKY, Pluralistische Gemeinschaften, S. 44–56. 344 Vgl. John W. BOYER, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago, Ill.–London 1981, S. 41, S. 215. DERS., Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897–1918, Chicago, Ill.–London 1995. DERS., Karl Lueger (1844– 1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, Wien–Köln–Weimar 2009 (Studien zur Politik und Verwaltung 93). 345 Die Stadt Wien. Eine amtliche Darstellung, Wien 1913, S. 41, zitiert nach Michael JOHN, Ethnizität und Ambivalenz. Krisen um Mehrfachidentitäten im Wien der Jahrhundertwende, in: Traude HORVATH (Hg.), Die Maschekseite. Doppel- und Mehrfachidentitäten von ÖsterreicherInnen, Mattersburg 1997, S. 14–41, hier S. 20–22.
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rierten, wurden sie weitgehend akzeptiert, während Juden ungeachtet aller Assimilation auch weiterhin angefeindet wurden.346 Viele österreichische Juden, die dank der Staatsgrundgesetze vom 21. Dezember 1867 individualrechtliche Anerkennung genossen,347 hatten in der Assimilation die Chance sozialer Anerkennung und auch eine Verpflichtung erkannt.348 Wiener Juden assimilierten sich um 1900 unterschiedlich stark: Während sich die einen auf die Akkulturation beschränkten, verknüpften andere mit der Assimilation oftmals auch den Wechsel ihrer Konfession. Politisch vertreten sahen sich viele Wiener Juden von der liberalen Rathausfraktion, die sich als deutsch definierte. So erinnerte sich Peter Drucker (1909–2005), dass „Freuds Generation der zentraleuropäischen (und insbesondere österreichischen) Juden […] in ihrer Kultur, ihrer Identifikation und ihren politischen Neigungen zu total überzeugten, hundertfünfzigprozentigen Deutschnationalisten geworden“ wäre.349 Zwar übertreibt hier der amerikanische Managementpionier mit Wiener Hintergrund, was aber nicht heißen soll, dass sich die Juden der Monarchie der nationalen Sache ganz und gar verschlossen hätten: Als ‚Nationalität‘ nicht anerkannt, unterstützten viele Juden in Böhmen zunächst die national deutsche Bewegung; später stützten tschechisierte Juden böhmische Machtansprüche. In Galizien untermauerten Juden die polnische Vorherrschaft und in Ungarn traten viele jüdische Mitbürger als Anhänger der magyarischen Nation auf.350 Angriffe der jeweiligen nationalen Minderheiten auf ‚die‘ Juden blieben daher nicht aus, obzwar sich viele von ihnen weiterhin als Angehörige eines übernationalen Volks begriffen. Der Grundpfeiler der jüdischen Assimilation hieß ‚Bildung‘: So suchten sich viele österreichische Juden ihre Vorbilder in der Aufklärung, im deutschen Idealismus und in der Weimarer Klassik. In ihr stellte Goethe den zentralen Referenzpunkt dar: „Mostly among the middle classes, Allgemeinbildung fulfilled for many generations the function of a religion.“351
346 Vgl. ROZENBLIT, Segregation, Anpassung und Identitäten der Wiener Juden vor und nach dem Ersten Weltkrieg, S. 234. 347 Vgl. Wolfdieter BIHL, Die Juden, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918: Die Völker des Reiches, hg. von Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. Band III, 2, Wien 1980, S. 880–948, hier 894f., und den Abschnitt: Rudolf von HERRNRITT, Juden, in: Oesterreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesammten österreichischen öffentlichen Rechtes, hg. von Ernst Mischler und Josef Ulbrich. Band 2, erste Hälfte, Wien 1896, S. 168–196. 348 Vgl. JOHN, ‚We Do Not Even Possess Our Selves‘, S. 17–64. 349 Peter F. DRUCKER, Schlüsseljahre. Stationen meines Lebens, Frankfurt–New York 2001, S. 127 [Original: DERS., Adventures of a Bystander, New York 1979]. 350 Vgl. BELLER, Antisemitismus, S. 30–33, S. 94–96. 351 GOMBRICH, Goethe. The Mediator of Classical Values, S. 586. Vgl. GOMBRICH, Zum Wiener Kunstleben um 1900, S. 42. Andernorts definierte Gombrich das „snobistische“ Gut „Allgemeinbildung“, das u.a. die Kenntnis der russischen und skandinavischen Schriftsteller, nachgeordnet die Kenntnis der französischen Literatur sowie die Beherrschung der klassischen Literaturen und
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Durch die Bildung erhoffte man sich insbesondere stärkere Akzeptanz. Mit der Assimilation sollten kulturelle Differenzen überbrückt und dadurch Angriffsflächen verkleinert werden.352 In der Tat: „Assimilation showed every sign of success“, so vermerkte rückblickend der österreichisch-englische Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich (1909–2001), der von seinen jüdischen Vorfahren Folgendes berichten konnte: My grandfather, the one who was born in 1813 had already discarded his Jewish faith. My mother who was born in 1873 went to a non denominational school and had no religion on her documents. The intellectual middle classes looked upon the Jewish tradition as a deplorable superstition. […] The best thing that could happen to the Jews was that they would be absorbed into the population […]. This was the attitude of very many middle-class people.353
Das Selbstbild der Juden war allerdings noch um vieles differenzierter und die Bezeichnung ‚Jude‘ vieldeutig: Gombrich zufolge bezeichnete der Begriff des ‚Judentums‘ eine religiöse Tradition, andere Verwendungen schienen ihm unzulässig. Die Annahme, dass es in Wien und Österreich um 1900 eine ‚jüdische Kultur‘ gegeben habe, dechiffrierte er als ein Zerrbild, das Antisemiten und Zionisten zu Abgrenzungszwecken geschaffen und verbreitet hätten. Dass auch Teile der jüdischen Bevölkerung Wiens zur Jahrhundertwende die ‚Hochkultur‘ – sei es die Literatur, die Musik oder die Wissenschaft – wesentlich bereichert hatten, bestritt Gombrich keineswegs; jedoch verwehrte er sich davor, diese Leistungen in offensichtlich wohlmeinender Absicht retrospektiv zu ‚ethnisieren‘, zumal ‚Kultur‘, ‚Abstammung‘ und ‚Volk‘ naturalisiert verwendet und zu einem Vehikel der Ausgrenzung aufgewertet worden waren. In Zeiten nationaler Selbstvergewisserung hatte die soziale ‚Ordnungs‘-Funktion nur noch unzureichend über die Hervorhebung konfessioneller Unterschiede erfüllt werden können. Dass Gombrichs These – trotz Steven Bellers Interventionen354 – nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, wird weiter unten anhand der wissenschaftlichen
Sprachen umfasste. Vgl. Ernst H. GOMBRICH, Die Kunst, Bilder zum Sprechen zu bringen. Ein Gespräch mit Didier Eribon. Vom Autor durchgesehene und erweiterte Ausgabe, Stuttgart 1993, S. 15. 352 Vgl. GOMBRICH, Zum Wiener Kunstleben um 1900, S. 42, und DERS., Goethe. The Mediator of Classical Values. Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt im Jahre 1994, in: Richard WOODFIELD (ed.), The Essential Gombrich. Selected Writings on Art and Culture, London 1996, S. 585–590. 353 Interview des Verfassers (J.F.) mit Ernst H. Gombrich, 10.2.1994, Warburg Institute, London und Ernst H. GOMBRICH, Ref. 004521/03 (Interview), in: Imperial War Museum, Oral History Recordings, Britain and the Refugee Crisis, 1933–1947. 354 Vgl. zuletzt Steven BELLER, Was nicht im Baedeker steht. Juden und andere Österreicher im Wien der Zwischenkriegszeit, in: Frank STERN, Barbara EICHINGER (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938, Wien–Köln– Weimar 2009, S. 1–16, hier S. 1f.
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Antisemitismusdiskurse der 1930er-Jahre zu zeigen sein. So hatte z.B. Oswald Menghin das spezifische Moment der „Wesensverschiedenheit“ des „jüdischen Volkstums“ in seiner unterschiedlichen „Kultur“ entdeckt.355 Die Hoffnung auf verstärkte sozioökonomische Partizipation hatte Gombrich zufolge viele Juden dazu bewegt, „ihre Religion zu wechseln und damit den Prozeß der Assimilation abzuschließen.“356 Mit der Assimilation war aber nicht zwingend die Aufgabe der Identifikation mit dem Judentum verknüpft. Viele assimilierte Juden definierten sich – unabhängig von ihrem Anpassungsgrad – selbst weiterhin als Juden und wurden auch von ihrer nichtjüdischen Umgebung als solche wahrgenommen. In diesem Zusammenhang erinnerte sich Friedrich August Hayek (1899–1992), der weder ein Antisemit war noch auf jüdische Vorfahren zurückblickte, jedoch mit vielen Juden verkehrte, wie folgt: There were several things which I must confess I resented among our Jewish friends. The worst was that I was not allowed to speak about Jewish things; they did that all the time. Even the theme of ,Has he a Jewish accent?‘ was constantly discussed among them; if I would have said a word about it, it would have been bitterly resented.357
Während sich Hayek zufolge selbst jüdische Konvertiten im vertrauten Kreis noch als Juden sahen, distanzierten sich viele jüdische Intellektuelle Außenstehenden (wie z.B. Hayek) gegenüber von solchen Zuschreibungen vehement. In der jungen Republik stieß die Assimilation – wie erwähnt – allerdings bald auf Widerstände, wonach der Ruf in Österreich nach der Setzung von Zeichen der Unterscheidung auf solider ethnisch-biologischer, kultureller und auch konfessioneller Grundlage zusehends lauter wurde. Was im Vielvölkerstaat selbstverständlich gewesen war – Wiener, Österreicher, Deutscher und Jude zugleich zu sein – wurde im neuen Nationalstaat als sonderbar und bald verwerflich erachtet.358 Unter nationalkulturellem Vorzeichen störten Mehrfachidentifikationen bald ebenso wie das Überschreiten kultureller Grenzen durch Assimilation.
355 MENGHIN, Geist und Blut, S. 148–172. 356 GOMBRICH, Zum Wiener Kunstleben um 1900, S. 46. 357 Stephen KRESGE, Leif WENAR (ed.), Hayek on Hayek. An Autobiographical Dialogue, London 1994, S. 61f. 358 Vgl. Marsha L. ROZENBLIT, Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford [u.a.] 2001.
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5.11 K ULTUR ALS DAS ANGEBLICHE W ESEN JÜDISCHEN V OLKSTUMS Im Allgemeinen blickte die national-konservative und antisemitische Wissenschaftlerelite der Vermischtheit der ‚Völker der Gegenwart‘ in der Zwischenkriegszeit illusionslos ins Auge. Allerdings vermeinte sie, in dem unübersichtlichen Völkergemisch Ordnung schaffen zu müssen. Dafür bediente sie sich essenzialistischer Begriffssysteme. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Kulturbegriff, den sie räumlich fasste (‚Kulturraum‘), um mit ihm das deutsche Volk in Österreich aus jeder transkulturellen Verflechtung herauszulösen. So verwendete z.B. Oswald Menghin den Begriff des „Kulturkreises“, mit dem Kultur als „ein absolut autonomes Wesen für sich“ vorgestellt werden konnte.359 In Österreich bildete dieser Terminus u.a. die Basis für Joseph Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1923–1928),360 für Hans Sedlmayrs völkisch-kollektivistische Kunstauffassung und nicht zuletzt für Wilhelm Schmidts ethnologische ‚Wiener Schule der Kulturkreislehre‘. Von der in- und exkludierenden Verwendung des Kulturbegriffs legten zwei weitere einflussreiche Wortführer in Wissenschaft und Politik beredt Zeugnis ab: zum einen der schon erwähnte Wiener Prähistoriker Oswald Menghin, zum anderen der christlichsoziale Politiker Emmerich Czermak. Ihre rassistischen Auswürfe werfen ein gleißendes Licht auf den ‚wissenschaftlichen‘ Antisemitismusdiskurs der 1930er-Jahre in Österreich. Das Ergebnis ihrer ‚Analyse‘ der „wissenschaftlichen Grundlagen der Judenfrage“ lautete, dass sich die angebliche ‚jüdische Wesensverschiedenheit‘ am deutlichsten in der ‚Kultur‘ zeigte. Das von einem ‚Kulturkreis‘ umzirkelte ‚Volkstum‘ war hierfür die grundlegende Vorstellung: Es umschloss alles, „was einer organisch gewachsenen Gruppe von Menschen eigentümlich sein kann“.361 5.11.1 Oswald Menghin In seinem Buch Geist und Blut (1934), das von jener Haltung zeugt, die sein Titel vermuten lässt, definierte Menghin die Juden als ein Volk, das solange existieren werde, wie es seine Religion ernst nehmen und seiner „großartigen nationalen Tradition“ Ehrfurcht entgegenbringen würde. Das jüdische Volkstum werde „zusammengehalten durch Religion, Kult, Sitte, Gesinnung und rassische Gemeinsamkeiten“,362 jedoch hätten die Juden durch die Zerstreuung „den sprachlichen Zusammenhang“ verloren; sie wären „überall in
359 MENGHIN, Geist und Blut, S. 70. 360 Joseph NADLER, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. 4 Bände, Regensburg 1923–1928. 361 MENGHIN, Geist und Blut, S. 149. 362 Ebenda, S. 166.
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die Redegemeinschaft der Wirtsvölker“ eingetreten: „Wenn Sprachgemeinschaft [daher] wirklich ein unter allen Umständen notwendiges Merkmal für den Bestand des Volkstums wäre, dann wäre das heutige Judentum kein Volk“, sondern „rassisch ein Gemenge“, „wie viele andere Völker Europas und des nahen Orients, doch in einem ganz anderen Verhältnissatze gemischt.“ […] „Wie ja nicht anders zu erwarten“, akzentuierte Menghin, „spielt bei ihnen der Blutanteil der europäischen Südrassen die Hauptrolle, nordrassische Elemente sind in ihnen dagegen nur bescheiden vertreten.“ Das Judentum bestünde, „der Hauptsache nach aus einer Kreuzung orientalischer und vorderasiatischer Rasse.“ „Wie dem auch sei“, folgerte er, „durch die Entwicklung sind nordische und orientalische Rasse auseinander getreten, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.“ Das Judentum besaß Menghin zufolge aufgrund seiner bestimmten „rassischen Physiognomie“ zwei allgemeine Eigenschaften, die es mit allen Völkern der Gegenwart teilte: zum einen „eine blutbedingte Gemeinsamkeit der seelischen Struktur“, zum anderen Spannungen aufgrund der Verschiedenartigkeit der in jedem Volk zusammentretenden „Rassenelemente“ – Eigenschaften, die allerdings „im Judentume“ beide besonders hoch wären.363 Diese für ihn „grundlegenden Tatsachen“ zeigte Menghin auf, um „das Verständnis des Verhältnisses zwischen den Juden und ihren europäischen Wirtsvölkern“ zu erhellen. Tatsache sei, „daß die Spannungen zwischen den Juden und den europäischen Völkern im großen und ganzen zunehmen“ würden. Zwar hätten die Spannungen in diesen rassischen Tatsachen ihren „Urgrund“, jedoch könnten Letztere das missliche Verhältnis nicht ausreichend erklären. Als Grund dafür führte er an, dass es nahezu unmöglich wäre, die „erb- und umweltbedingte Geistigkeit eines Volkstums auseinanderzuhalten“, da die Grenzen fließend verliefen.364 Die „Ursache des Andersseins der Völker“ zeigte sich ihm daher vornehmlich in der „Kultur“: Sie war für ihn Ausdruck der „Auseinandersetzung des Geistes mit der Umwelt“ und lieferte ihm auf diese Weise das zentrale Argument für die These von der jüdischen „Wesensverschiedenheit“ als Ursache für die ‚Spannungen‘ mit anderen Völkern. Die spezifischen Merkmale, die den Juden das „Wesen eines Volkstums“ aufprägten, seien kultureller, sozialer und religiöser Art: So wären die Juden beispielsweise vom „Geist des Ghettos“ gezeichnet, den Menghin als das wesentli-
363 Ebenda, S. 149–151, S. 151f., S. 155. 364 Ebenda, S. 153, S. 155. Seinem organischen Kulturbegriff zufolge war „die Kultur […] nur eine, wie [auch] der Menschengeist nur einer“ wäre. Doch habe sich die Kultur „in tausend Äste, Kulturkreise, Kulturgruppen und -grüppchen“ verzweigt. Diesen Tatbestand fasste er metaphorisch im Bild des Baumes. Angemessen erschien es ihm, weil „der Ast […] nur einer Stelle des Baumes [entspringt] und […] sich nur durch diese [nährt]; er ist außerstande, sich Nährstoffe von einem andern Aste her anzueignen.“ Ebenda, S. 69. Der ‚Kulturkreis‘ stand für Menghin immer auf den Schultern einer älteren Kultur, alle Kultur entfaltete sich in der äußeren Form von ‚Kulturkreisen‘ „von fest umrissenem Eigenleben“. Ebenda, S. 71.
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che Band begriff, welches das Judentum umschloss und dem selbst getaufte Juden nicht vollkommen entfliehen konnten. Ihr „charakterologisches Wesen“ erblickte Menghin zusammengefasst in der „Übersteigerung des Verstandeslebens“ und in „übertriebener Erwerbssucht.“ Und wenn sonst nichts bliebe, „so bleibt doch wenigstens eine seelische Gleichgewichtsstörung, ein Minderwertigkeits-, Kompensations- oder Abwehrkomplex.“ Weiters diagnostizierte der Prähistoriker einen wesentlichen Unterschied in Bezug auf die soziale Organisation und die „religiöse Sphäre“ als archimedischen Punkt der jüdischen Tradition. Mochte ihnen die hebräische Bibel auch „ein Buch mit sieben Siegeln“ sein, so konnten sie sich seiner Ansicht nach der „traditionsgetränkte[n] jüdische[n] Umwelt“ doch nicht entziehen. Oswald Menghin identifizierte innerhalb des Judentums demnach drei Typen: „den orthodoxen Juden“, der das Ghetto aufrechtzuerhalten wünsche, „den zionistischen Juden“, der das jüdische Volk in menschenwürdiger Freiheit wiedererwecken wolle, und „den Assimilationsjuden“. Während er die beiden ersten Typen als volksbewusst einstufte, verkörperte für ihn der letztere einen Typus, der sich zum Volkstum seiner jeweiligen Umgangssprache bekannte. Allein dieser stellte für ihn die eigentliche Gefahr dar, denn durch ihn konnte das deutsche Volk seinen Charakter verlieren. Deshalb seien die „Assimilationsjuden“ auch „oft genug zurückgestoßen“ worden – ein Argument, mit dem Menghin antisemitische Attacken jeder Art rechtfertigte.365 Das Werk des Prähistorikers zeugt davon, dass die jüdische Assimilation in der Zeit der Ersten Republik neu bewertet wurde, nämlich negativ: Was im übernationalen Nationalitätenstaat – der Staatsnation – noch als ein Mittel zur Überbrückung kultureller Differenz befürwortet worden war, wurde im neuen Nationalstaat vehement bekämpft. Sigmund Freuds analytisches Konzept des „Narzißmus der kleinen Differenzen“, die These, dass sich die Aggressionsneigung mit Abnahme der Verschiedenheit vergrößerte und unter verwandten Gruppen Abstoßungen stärker hervortraten,366 bestätigte sich in der Argumentationsführung Menghins: „Der nördliche Mitteleuropäer empfindet rein vorderasiatische und noch mehr negride Typen naturgemäß als fremdartig; aber geradezu unangenehm [!] können ihm gewisse Mischtypen werden, weil sie für ihn eine Art Verzerrung der eigenen Erscheinung bedeuten.“ Denn, wie er erklärend hinzufügt: „Die orientalische Rasse hat für den Nordländer dagegen nichts Abstoßendes, im Gegenteil.“ 367 Oswald Menghin ‚analysierte‘ die Juden als „Volksorganismus“, „ethnische Menschengruppe“ und „Mischrasse“, wobei alle Aspekte der Markierung nur einen Zweck erfüllten, nämlich den, zu zeigen, „daß die Juden rassisch und kulturell etwas anderes sind als die verschiedenen Völker Euro-
365 Ebenda, S. 155f., S. 161, S. 164, S. 165f., S. 163. 366 Vgl. FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 474. DERS., Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 111. 367 MENGHIN, Geist und Blut, S. 154.
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pas, […] und ebenso, daß sie um so fremdartiger empfunden werden, je weiter man in unserem Erdteile gegen Norden geht“.368 Angesichts der angeblichen jüdischen ‚Wesensverschiedenheit‘ war für Menghin und andere Antisemiten die Assimilation der verkehrte Weg: „Der volksbewußte Jude, der Zionist, der eine Regelung der Judenfrage von Volk zu Volk wünscht“, war für sie daher bald weniger anstößig als der „Assimilationsjude“: „Denn für das Assimilationsproblem kommt nicht nur der Israelit in Frage“, erklärte Menghin, „sondern auch der getaufte oder konfessionslose Jude, da Volkstum eben nicht nur durch das religiös-kulturelle Bekenntnis, sondern auch durch Traditionen und rassische Grundlagen mitbedingt wird.“ Mit der verallgemeinernden Ausdrucksweise („der Israelit“ bzw. „der Jude“) und der zeitlichen Unbegrenztheit („kommt“) wurde hier schon auf sprachlicher Ebene eine Abgrenzung vorgegeben, mit der sich Unterschiede reduktionistisch überzeichnen ließen. Durch Berufung auf Rasse, Kultur und Tradition wurde ein Wunschbild von Authentizität imaginiert, das politisch handlungsleitend werden sollte. So verschwieg Menghin nicht, dass die Assimilation der Juden ein „Politikum ersten Ranges für jedes davon betroffene Volk“ wäre, das sich mit der „inneren Gegensätzlichkeit zu einem Volkstum“ verschärfte, „also in Europa von Süden nach Norden und von Osten nach Westen.“369 5.11.2 Emmerich Czermak In einem Buch und Aufsatz mit dem Titel Ordnung in der Judenfrage (1933) trat auf Seiten der Politik u.a. Emmerich Czermak als scharfer Gegner des „jüdischen Assimilantentums“ hervor, so die Schriftleitung der Schöneren Zukunft, „welches das Vorhandensein einer Judenfrage bestreitet und damit den Antisemitismus erst recht fördert.“370 Der österreichische Unterrichtsminister (1929–1932) und letzte Obmann der Christlichsozialen Partei sah in der Anerkennung der Juden als „gesonderte Nationalität“ („als Provinz der Gemeinschaft außerhalb unserer eigenen“) durch die europäischen „Wirtsvölker“ eine unabdingbare Voraussetzung und „den einzig richtigen Weg“,371 um „Ordnung in der Judenfrage“ zu schaffen. Die Argumentation des katholisch-konservativen Politikers lief auf dasselbe Ziel hinaus, das auch der Wissenschaftler Menghin verfolgte, nämlich auf eine Verhinderung der „Abänderung des deutschen Volkscharakters“ durch die jüdische Assimilation. Jede Vermischung verminderte Czermak zufolge den Wert jedes nationalen Wesens und sie zerstörte das „gesunde, organisch gegliederte Volk“.372 Die jüdische Assimilation wurde als Hindernis auf dem Weg
368 Ebenda, S. 169. 369 Ebenda, S. 169f. 370 Emmerich CZERMAK, Ordnung in der Judenfrage, in: Schönere Zukunft 8, 11(1933), 10.12.1933, S. 266–268, hier S. 266. 371 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 31. 372 Ebenda, S. 70.
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zum idealisierten Wesen deutschen ‚Volkstums‘ aufgefasst: Der „Assimilationsjude“ (Oswald Menghin) wurde als „Fremdkörper“ im nationalen ‚Organismus‘ identifiziert, den es abzusondern oder auszuscheiden galt. Wenn Czermak umgekehrt den Juden vorwarf, „Verrat an ihrem jüdischen Blut und Wesen“ zu begehen, wann immer sie versuchten, „gute Deutsche zu mimen“, so verknüpfte er damit die Hoffnung, dass diese wieder zur Kultur ihrer Väter zurückfinden, sich von „der Illusion der Gleichschaltung mit den Deutschen“ befreien und sich selbst in einer Nation vereinen würden. Die Argumentation, dass das deutsche Volk nicht vor den „Bekennern der jüdischen Nation und Religion“ zu beschützen sei, „sondern vor den national und religiös heimatlos gewordenen Schädlingen, welche die Zersetzung des eigenen wie des Gastvolkes in vielen Fällen sogar als Beruf und Lebensaufgabe“ betrieben,373 gleicht exakt dem, was auch Menghin vertrat. In der Zwischenkriegszeit wurde die Schimäre völkischer Authentizität handlungsleitend. So war es Menghin zufolge „nicht nur das Recht, sondern auch die sittliche Pflicht [jedes Volkes, J.F.], sein Volkstum zu verteidigen.“374 Ausgehend von dem Standpunkt, „daß die Verschmelzung des Judentums mit dem deutschen Gastvolk […] zum Unsegen für beide Teile gereichen müßte“, sollte „der Aufsaugung, der Assimilation der jüdischen Rasse ein Ende gemacht werden.“375 Das Motiv hierfür lag für Menghin und Czermak auf der Hand: Da „der Versuch einer Einschmelzung und Vermischung mit den Gastvölkern“ misslungen sei, schoben sie die „instinktive Ablehnung einer Mischung“ vor, um den Anstieg des Antisemitismus zu rechtfertigen: „Eben diese berufsmäßigen Zerstörer alles gesunden Volkstums und aller Sitte sind die größten Förderer eines auch in unserer Zeit über alle Volksschichten ausgebreiteten, wenngleich vielfach noch schlummernden Antisemitismus.“ Auf die Sicherung der Authentizität des Deutschtums beharrend, verwies Czermak auf einen Weg, auf dem der Judenhass vermindert werden könnte: Dieser sah „die entschiedene Abwehr des überwiegenden Einflusses volksfremder Elemente“ vor; sein Ziel war „der Kampf gegen das wurzellose, gegen das entartete Judentum […], gegen jenes Judentum, das nicht nur mit seinem Wesen, mit seiner Herrschaft dem Gastvolk lästig und unerträglich ist, das vielmehr sich selbst, das eigene Volk so unsäglich gerne gehässig mißhandelt.“376
373 Ebenda, S. 47f., S. 66f, und vgl. CZERMAK, Ordnung in der Judenfrage, S. 268. 374 MENGHIN, Geist und Blut, S. 171. 375 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 9, S. 32. 376 Ebenda, S. 28, S. 48.
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5.11.3 Die Vereinnahmung des Zionismus durch Antisemiten Die assimilatorische Praxis vieler Juden stieß jedoch nicht nur unter Antisemiten, sondern auch unter Zionisten auf Ablehnung. Letztere unterschieden sich allerdings im Tonfall, in den Motiven und in ihren Zielen. Theodor Herzl (1860–1904) hatte mit den Worten: „Wir wollen den Grundstein legen zu dem Haus, das dereinst die jüdische Nation beherbergen wird“ im Jahr 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel eröffnet und präzisiert: „Der Zionismus ist die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland.“377 Da Zionisten wie z.B. Jakob Klatzkin (1928–1934) einen wachsenden „Widerwillen der Nationen“ vernahmen, was die Angleichung der Juden betraf, plädierten sie immer vehementer für die Anerkennung ihrer „nationalen Individualität“,378 ohne aber für das „Rassenprinzip“ aufzutreten. Klatzkin, der Herausgeber der unvollendeten Encyclopaedia Judaica in Berlin, forderte beispielsweise die Anerkennung der „volksmässigen Daseinsberechtigung“ der Juden durch völkerrechtlich verbürgte nationale Minderheitsrechte,379 um dadurch das „nationale Martyrium“ abzuwehren: „Gleichberechtigung, nationale Minderheitenrechte in bestimmten Ländern und eine jüdische Heimstätte in Palästina“ waren für Klatzkin das Kernstück eines „sittlich gerichteten Nationalismus“, „der aus der Wurzeltiefe schöpferischer Bodenständigkeit eine Höherentwicklung in übernationaler Richtung anstrebt[e]“.380 Von so manchem österreichischen Antisemiten (wie z.B. Menghin und Czermak) wurden zionistische Auffassungen vereinnahmt, um mit ihnen ihre assimilationsfeindliche Haltung zu untermauern. Hierfür lieferte Klatzkin dem Christlichsozialen Czermak ein willkommenes Argument. Er 377 Theodor HERZL, Eröffnungsrede zum ersten Kongreß (Basel, 29. August 1897), und DERS., Der Baseler Congress, Wien 1897. 378 Jakob KLATZKIN, Die Judenfrage der Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Albert Einstein, Vevey 1935, S. 26f, und vgl. DERS., Probleme des modernen Judentums, Berlin 1918; 31930. 379 Jakob Klatzkin kritisierte 1933/34 das Ansinnen führender deutscher Juden, in der nationalsozialistischen Ideologie Anknüpfungspunkte für die ‚nationale Emanzipation‘ der Juden zu finden, als logisch unhaltbar und moralisch verwerflich: Auch wenn „viele von ihnen gewillt waren, mit der nat.soz. Ideologie sich zu befreunden und die jüd.-nat. Denkart in sie einzuordnen“, sah er in der „Verherrlichung des Nationalprinzips“ durch die NS-Machthaber für die Juden nur Schaden: Würden die Juden als Volkstum anerkannt, so doch nur, „um es als Fremdkörper teils zu vernichten teils auszuscheiden oder […] in der Nazisprache: nach Unschädlichmachen – als qualité négligeable zu verdauen.“ Dieser Nationalismus könne nicht jene Qualität erfahren, die „unsere nationale Sonderart mit entsprechenden Rechten einer nationalen Minderheit ausstatten würde.“ So warnte er vor der verhängnisvollen Verwirrung mancher Kreise, die „diesen Sieg als eine Ueberwindung des a- oder antinationalen Liberalismus und als eine günstige Konjunktur für die Stellung des Nationaljudentums gegenüber dem jüdischen Assimilantentum“ begrüßten. KLATZKIN, Die Judenfrage der Gegenwart, S. 10–13, S. 15. 380 Ebenda, S. 31f., S. 35f.
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zitierte ihn daher – zweifellos bewusst verkürzend – in seinen Schriften zur Ordnung der Judenfrage, die er mit dem jüdisch-nationalen Wortführer und Schriftsteller Oskar Karbach (1897–1973) verfasste: Die Assimilanten […] sind in der Assimilation zu aktiv und werden lästig. – Sie sind in den ersten Stadien der Assimilation ein Schaden, nicht nur ihrem angestammten Volkskörper, dem Judentum, von dem sie sich nicht völlig loslösen, sie sind es auch dem Volkskörper, an den sie sich beherrscht-herrschend anzugliedern bemüht sind. Sie trüben oft die Quellen der fremden Kultur, verfälschen sie, auch wenn sie tief im Innern zu bohren scheinen; sie verletzen ihre Ursprünglichkeit, verkümmern ihre Urwüchsigkeit. (Aus: Probleme des modernen Judentums, 1930)381
In der Assimilation erblickte Czermak zwei Gefahren, nämlich die der Verwässerung des „Volkscharakters“ und die des Verlusts der Vorherrschaft der „Wirtsvölker“. Das hieß für ihn umgekehrt zweierlei: zum einen, dass „das Judentum […] seine richtige Heimat doch in Palästina“ hätte,382 zum anderen, dass ein „von uns völkisch verschiedenes jüdisches Volk, das uns achtet“, nicht bekämpft werden würde. Wäre dieses loyal „gegen unseren Staat“, schrieb Czermak weiter, so hätten auch „wir Deutsche“ keine Ursache zu leugnen, „daß die seit Jahrhunderten unter uns wohnenden Söhne des jüdischen Volkes ihren Teil beigetragen haben zu dem Reichtum und zur Fülle auf allen Gebieten kultureller Leistungen und wirtschaftlichen Aufstieges.“383 Das Bemerkenswerte ist, dass die Juden von Antisemiten wie Czermak nicht als subaltern, sondern als kulturell ebenbürtig, vielleicht sogar höher stehend, jedenfalls aber – assimiliert oder nicht – als ‚anders‘ klassifiziert wurden, womit sie eine Gefahr für die angeblich authentische nationale Ordnung darstellten. Dieses Argument zeugte von beharrlicher Kontinuität, denn schon im Jahr 1919 hatten die Christlichsozialen folgende Devise annonciert: „Als eigene Nation anerkannt, sollen die Juden ihre Selbstbestimmung haben; die Herrn des deutschen Volkes aber dürfen sie nicht sein.“384 Anderthalb Jahrzehnte später ließ auch Czermak keinen Zweifel darüber aufkommen, wer im Staat herrschen sollte: „Führen wollen wir ihn schon selber.“385 Das Ziel, das Czermak mit seiner Schrift verfolgte, sah er darin, zu verhindern, dass die Deutschen, „zu einem bloßen wesen- und willenlosen Werkzeug des alles überragenden jüdischen Genies“ verkommen würden.386 Die Juden wurden für die ‚Auswüchse' der Modernisierung verant-
381 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 38f, und CZERMAK, Ordnung in der Judenfrage, S. 267. 382 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 67. 383 Ebenda, S. 71, S. 67, S. 69. 384 ‚Wahlprogramm‘ der Christlichsozialen Partei auf einem Flugblatt zur Nationalratswahl vom 16. Februar 1919. 385 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 67. 386 Ebenda, S. 69, und CZERMAK, Ordnung in der Judenfrage, S. 268.
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wortlich gemacht: „Diesen schädlichen Einfluß des Judentums zu bekämpfen und zu brechen ist nicht nur gutes Recht“, hieß es in dem Hirtenbrief des Linzer Bischofs Johannes Maria Gföllner (1867–1941) vom 21. Jänner 1933, den Czermak in seinem Buch Ordnung in der Judenfrage wiedergab, „sondern strenge Gewissenspflicht eines jeden überzeugten Christen, und es wäre nur zu wünschen, daß auf arischer und auf christlicher Seite diese Gefahren und Schädigungen durch den jüdischen Geist […] noch nachhaltiger bekämpft […] würden.“387 Die Motive für die Assimilationsfeindschaft der Antisemiten lagen auf der Hand, Oswald Menghin spitzte sie zu: Die Aufnahme des Judentums in das Deutschtum würde bei dem gegebenen Stand der beiderseitigen Wesenheiten zweifellos die Gefahr einer Abänderung des deutschen Volkscharakters nach sich ziehen, eine Gefahr, die um so dringender wäre, als die eigenartige soziale Struktur des Judentums keine homogene Vermischung zuließe, sondern lediglich eine Einkreuzung in die Oberschicht des Deutschtums.388
5.12 R ESÜMEE Das Judenbild der national orientierten Antisemiten war insbesondere in Österreich von einer dichotomen Semantik geprägt: Die Juden wurden als ein ‚andersartiges‘ Volk, eine ‚anderswertige‘ Kultur oder Rasse vorgestellt. Dieses Zerrbild von einer ‚Ihr-Gruppe‘ nährte zum einen den Hass auf sie; zum anderen gab es aber eine Schablone ab, über die sich die nationale ‚Wir-Gruppe‘ konstituieren konnte. So konnte Ernst H. Gombrich – auf diese Art nationaler Selbstvergewisserung rückblickend – mit analytischem Gespür von der „Erfindung“ einer „spezifisch jüdischen Kultur“ sprechen.389 Von den Juden sei das Bild eines kulturell grundverschiedenen Volkes gezeichnet worden, um ihnen unterstellen zu können, dass sie durch ihre Assimilation die für die ‚Wir-Gruppe‘ konstitutive Differenz zersetzten und durch Vermischung den Charakter anderer Völker verdarben. Mit Hilfe der Figur „des Assimilationsjuden“ (Oswald Menghin) wurden die Juden jedoch zugleich zu Vertretern eines gefährlichen ‚In-betweens‘ stilisiert, einer Nichtposition und Ortlosigkeit, von der aus sie die (inter-)nationale soziale Ordnung unterwanderten: ‚Der Jude‘ wurde stereotypisierend als „Nations“und „Weltfeind“ imaginiert, um – wie Klaus Holz analysiert – als der „große Antagonist aller Wir-Gruppen, […] und Zersetzer aller Ordnung“ aufge-
387 Aus dem Hirtenbrief des Bischofs Gföllner, des Oberhirten der Linzer Diözese, vom 21. Jänner 1933, in: CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 137–139, hier S. 139. 388 MENGHIN, Geist und Blut, S. 171f., und vgl. Wilhelm SCHMIDT, Rassen und Rassenpflege im Bereich des deutschen Volkes, in: Schönere Zukunft 11, 17(1936), 26.1.1936, S. 425–427. 389 GOMBRICH, Zum Wiener Kunstleben um 1900, S. 33.
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fasst zu werden.390 So wie in Deutschland beruhte der Antisemitismus auch in Österreich auf einer doppelten Stigmatisierung der Juden. Während ein Teil der Antisemiten sich weigerte, im Judentum ein Volk oder gar eine Nation zu sehen, war für einen anderen seine nationale, rassisch-ethnische und/oder kulturelle Wesensverschiedenheit unhinterfragbar. Am lautesten waren jedoch – u.a. mit Menghin und Czermak – jene Stimmen, die in dem Weg, „den die Zionisten zu gehen entschlossen sind“, das geringste Übel sahen. „Merkwürdig“ und unannehmbar war für sie vielmehr, dass sich viele Juden der „nationalen Renaissance“ verschlossen und sich vom deutschen Volk nicht absonderten, sondern unbeirrt den Weg der Assimilation verfolgten.391 Mit dieser ‚Logik‘ war der Weg zur ‚Endlösung der Judenfrage‘ vorgezeichnet. Von den Vorgängen der nationalen Selbstfindung im Österreich der Zwischenkriegszeit und der Tragik der jüdischen Assimilation legte u.a. – sichtlich verbittert – Isidor Sadger (1867–1942), ein Wiener Nervenarzt, Psychoanalytiker und Schüler Sigmund Freuds, Zeugnis ab. Die Juden hätten sich zunehmend ihrer christlichen Umgebung anzugleichen versucht. Dafür hätten auch viele die Taufe in Kauf genommen. Doch seien sie durch „solche Anbiederungsversuche“ den Christen nicht lieber, sondern – wie die Alltagserfahrung gezeigt habe – „höchstens zum Gegenstand der Verachtung“ geworden. „Die Besten unter ihnen“ seien, so Sadger, „von ihren Feinden zum Judentum zurückgeprügelt“ worden. Er vermerkte zwar, dass „der Zionismus Wandel gebracht [und] aus den ewig furchtsamen Angleichungsjuden einen aufrechten, volksbewußten Juden geschaffen [habe], dem selbst die Feinde, wenn auch zähneknirschend, die Achtung wider Willen nicht versagen konnten“,392 unerwähnt ließ er aber, dass so manchem Wiener Antisemiten der Zionismus nur recht war, weil er ihm als der einzig richtige Weg erschien, „Ordnung in der Judenfrage“ (Emmerich Czermak) zu schaffen. Das Bild, das nationale Autoren dieser Zeit von jüdischen Assimilanten zeichneten, ist ein Indiz dafür, dass die Assimilationsfigur mit der nationalen Ideologie unvereinbar war. Das Assimilationsideal verstellte vielen die Sicht auf eine soziale Wirklichkeit, die sich an der Illusion nationaler Authentizität orientierte. Mit den Worten „Assimilation showed every sign of success“ umschrieb Gombrich die Haltung vieler Wiener Juden. In späteren Jahren, vom Schicksal der Auswanderung bzw. Vertreibung gezeichnet, erkannten auch höchst assimilierte jüdische Österreicher – wie z.B. der eben erwähnte Wiener Kunsthistoriker, der im Jahr 1936 in England einen siche-
390 Klaus HOLZ, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005, S. 30–37, hier S. 36. 391 CZERMAK, KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, S. 30. 392 Isidor SADGER, Sigmund Freud. Persönliche Erinnerungen, hg. von Andrea Huppke, Michael Schröter, Tübingen 2006 (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Psychoanalyse 4) , S. 72. (Original 1930)
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ren Hafen fand, – einer Illusion aufgesessen zu sein: „Now, in retrospect, we know that it was perhaps quixotic.“393
5.13 S IGMUND F REUD . O DER : D IE Z UKUNFT EINER I LLUSION Das sozialpsychologische Werk Sigmund Freuds darf als Warnung vor jeder Spielart des Nationalismus verstanden werden, der ihm zweifelsohne als ein Weggefährte des Antisemitismus erschien. Er erkannte die verhängnisvolle Dynamik, die den Versuchen, der Illusion nationaler Authentizität nachzujagen, anhaftete. Wurden in den Abgrenzungsprozessen „kleine Unterschiede“ aufgewertet, so war die Gefahr, dass sich eine mächtigere ‚Wir-Gruppe‘ eine „außenstehende Minderzahl“ schuf, deren „numerischen Schwäche“ Anlass zur Unterdrückung bot, größer als in einer Situation des Aufeinandertreffens „fundamentaler Differenzen“.394 Die nationalen Wortführer gaben die Art der Abgrenzung vor. Das Zerrbild von den Juden als einer grundverschiedenen Kultur und eines „Gastvolkes“ stärkte nicht nur die ‚Wir-Identität‘, sondern es verschärfte auch den Hass auf sie. So lieferte Österreich ein anschauliches Beispiel für die befremdlich klingende Theorie, dass das „Volk der Juden“ in der Rolle der Außenseiter „anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben“395 habe. Was die Assimilation betraf, erscheint das, was Sigmund Freud in hohem Alter aufzeigte, von dem, was die Antisemiten skandierten, auf den ersten Blick nicht grundverschieden: Was Freud aber unter dem Schlagwort des „Narzißmus der kleinen Differenzen“ als wissenschaftliche Erkenntnis präsentierte, die Anlass bot, Auswege zu suchen, stellte für Menghin, Schmidt, Czermak und viele andere das normative Idealziel sozialer Vergemeinschaftung dar. Die assimilatorische Praxis war als Integrationsvehikel für beide Seiten unannehmbar geworden, das Motiv der Ablehnung aber war zutiefst unterschiedlich: Was für den einen, den ‚liberalen‘ Juden, nicht ausreichte, war für die anderen, die verstockten Nationalisten, noch zu viel. Sigmund Freud bot sein optimistisches Husarenstück Der Mann Moses auf, um jene Vorgänge der Authentisierung zu analysieren, denen Schmidt, Menghin und Co. mit ihrem Wissenschaftshandeln Vorschub leisteten. In weiser Voraussicht auf die heraufziehende NS-Vernichtungspolitik weigerte sich Freud standhaft, dem vorherrschenden Selbstvergewisserungsmodell den Vorzug zu geben: Dieses spiegelte sich doppelt wider, im zionistischen und im national-antisemitischen Angriff auf die Assimilation der Juden. Da er scharfsichtig erkannte, dass Juden und Christen von ähnlichen Authentizi-
393 Ernst H. GOMBRICH, Ref. 004521/03 (Interview), in: Imperial War Museum, Oral History Recordings, Britain and the Refugee Crisis, 1933–1947. 394 FREUD, Mann Moses, S. 197f. 395 FREUD, Das Unbehagen in der Kultur, S. 474.
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tätsidealen verblendet waren, erweiterte er den Traditionsbegriff: Das Material lieferte dazu der Monotheismus, die Psychoanalyse das theoretische Grundmodell. Die unheilvolle Art kollektiver Selbstvergewisserung war wohl ein Teil dessen, was in Bezug auf den Mann Moses als ‚context of discovery‘ bezeichnet werden kann. Freud analysierte diese Vorgänge, die mit Aggressionen verknüpft waren, im Spiegel seiner Theorie zur Transmission der monotheistischen Religion. Die „historische Wahrheit“, die er offenlegte, bestand in Vorfällen, deren traumatische Wirkungen und neurotische Manifestationen aufgearbeitet werden mussten. Er bezog sie auf Juden und auf Christen. Die Aufarbeitung zielte auf zweierlei ab: auf die unverzerrte Anerkennung der Verflochtenheit der jüdisch-christlichen Monotheismen und auf die Bewusstwerdung der verschütteten, unbewussten Tiefenschichten der jeweiligen Verschuldung. Konnte diese analytische Arbeit beides bewusst machen, so hätte das Werk das Potenzial gehabt, den Weg für eine Unterbrechung der Authentisierungsdynamiken und für ein konfliktfreies Miteinander zu ebenen. In ihren Tiefenschichten waren Juden und Christen miteinander verwandt. Die identitätsstiftende Gründerfigur der Juden war für Freud Ägypter und die der Christen Jude. Diese Verflechtungen seien aber durch die Auserwähltheitsvorstellung und Verschiebung der Schuld auf den Anderen verzerrt und verdunkelt worden. Da Freud im jeweils Anderen einen konstitutiven Teil des Eigenen erkannte, erwies sich jeder Trennungsversuch notwendig als verhängnisvoll, weil selbstverletzend. Die radikale Wiederkehr der Spaltung manifestierte sich besonders im gefährlichen Zerrbild nationaler Authentizität. In diese Projektion intervenierte er, als er mit seiner Theorie die seit dem 19. Jahrhundert vorgezeichneten Wege der nationalen Selbstfindung verließ und am Beispiel der Juden ein alternatives Traditionsbildungsmodell entwarf, das auf Argumentationsfiguren, die das Trennende zur Norm erklärten, verzichtete. So rief er den „Mann Moses“ in einer Zeit, als sich die Schlinge um die Juden zuzog, als Zeugen gegen die Illusion an, dass Identitäten auf der Trias von „Blut – Rasse – Volk“ (Wilhelm Schmidt) beruhten: Das, „was sie zusammenhielt“, notierte Freud, „war ein ideelles Moment, der gemeinsame Besitz bestimmter intellektueller und emotioneller Güter“, „Blutvermischungen störten dabei wenig“. (MM, S. 231) Gegenüber den Versuchen der antisemitischen Wissenschaftseliten, die Juden als ‚seelen‘-, ‚volks‘- und ‚rasseverschieden‘ zu klassifizieren, nahm Freud den Standpunkt des reflektierenden Analytikers ein. Der Blick auf die Ambivalenzen jüdischer Tradition und Identität zeigte ihm dreierlei: erstens, dass der aberwitzige Versuch, Identitäten über „Blut – Rasse – Volk“ zu konstruieren, notwendig auf Spaltungen abzielte, dass nationale Authentisierungsprozesse zweitens eine weitere Episode im Verlauf der schwierigen Abgrenzungsversuche von Juden und Christen darstellten, und drittens, dass der Königsweg zur Analyse und Unterbrechung dieser Dynamiken über die Psychoanalyse führte. Von der psychohistorischen Beweisführung ausgehend, revidierte Freud jenes unzureichende Modell, das eine jüdische Identi-
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tät auf Abstammung (und Kultur) zurückführte, zugunsten eines dynamischeren Traditionskonzepts, das sich auf bewusste Erinnerungs- und unbewusste Gedächtnisspuren bezog und den Horizont in Bezug auf Entstellungsvorgänge durch schriftliche Überlieferung und Vergessenes, Verschollenes und Verschüttetes, das verdunkelt, aber wirksam war, erweiterte. Vor diesem Hintergrund wird Richard J. Bernsteins Verwunderung über Yerushalmis Annahme, dass Freud das Judentum für „unendlich“ gehalten habe, da es „gleichsam biologisch weitergegeben werde“, nachvollziehbar.396 Mit dem Vorwurf des „unendlichen Judentums“397 korrelierte Yerushalmi auch den Lamarckismusverdacht: „Was ist denn, ins Jüdische dekonstruiert, der Lamarckismus anderes als das starke Gefühl, daß man, ob man will oder nicht, im Grund nicht aufhören kann, Jude zu sein,“ so Yerushalmi, „und zwar nicht nur angesichts von Antisemitismus und Diskriminierung und bestimmt auch nicht wegen der ‚Traditionskette‘, sondern weil das eigene jüdische Schicksal vor langer Zeit durch die Väter bestimmt wurde, weil man im Blut hat, was man am tiefsten und dunkelsten empfindet.“398 Bernstein warnt Yerushalmi vor der Gefahr, die der Vorwurf der „phylogenetischen Weitergabe erworbener jüdischer Eigenschaften“ in sich birgt: Die Annahme von „in der jüdischen Seele verankerten Charakterzüge[n]“,399 die Yerushalmi Freud unterstellt, könne nämlich nachträglich auch „eine biologische Basis für die Vernichtung der Juden“400 schaffen. Wenn Bernstein den Versuch, Freud einer „Art von Rassismus“ zu beschuldigen,401 als Absurdität verwarf, so ist das ernst zu nehmen: Wäre Freud nämlich tatsächlich in den 1930er-Jahren Lamarck gefolgt, so wäre er auf die Seite seines „Hauptfeindes“, des Antisemiten Wilhelm Schmidt, abgewichen: eines verkappten Lamarckisten, dessen Ziel darin bestanden hatte, Argumente für die ‚Seelen‘-, ‚Volks‘- und ‚Rasseverschiedenheit‘ der Juden zu finden, ohne auf die Seite der NS-Rassenlehre abzuweichen. Während Schmidt eine Theorie der indirekten Vererbung geistiger Anlagen über ihre körperlichen Auswirkungen entwickelte, spielte für Freud im Mann Moses das ‚Blut‘, d.h. der biologische Faktor, in der Ausbildung jüdischer Identität keine vordringliche Rolle. Stattdessen versuchte er, das jüdische Selbstverständnis neu zu verorten – nicht in trennender Blutsverwandtschaft, Ethnizität und Rasse, sondern in dem verbindenden Stück vergeistigter Vernetzung. In der Mann-Moses-Schrift „entzieht sich Freud“ – wie Jacques Le Rider schreibt – „dem Schema einer Definition der jüdischen Iden-
396 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 177. 397 Der Untertitel von Yerushalmis Buch Freuds Moses lautet: „Endliches und unendliches Judentum“. 398 YERUSHALMI, Freuds Moses, S. 55. 399 Ebenda, S. 80. 400 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 178. 401 Ebenda.
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tität durch Abstammung“.402 Freud erwähnte in seiner fiktiven Arbeit einen für ihn wesentlichen Ankerpunkt jüdischer Identität, der darin bestand, dass sich das von unersättlichen Schuldgefühlen gequälte Volk ständig neue Triebverzichte auferlegt und dadurch unvergleichliche ethische Höhen, einen „Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“, erreicht habe. Diesem Vermächtnis verdankte das Judentum Freud zufolge seinen Zusammenhalt und das Rüstzeug, Jahrtausende überdauert zu haben. Der „Fortschritt in der Geistigkeit“ beruhte für ihn auf zwei Säulen: dem Bilderverbot und dem unbewältigten Trauma des Vatermordes. Während dieser im Judentum hartnäckig verdrängt worden wäre, hätten die Christen den Vatermord zwar bewusst eingestanden (für Freud ein Fortschritt), die Schuld dafür jedoch zugleich zurückgewiesen und für die Tötung des Messias die Juden verantwortlich gemacht. Den „Fortschritt in der Geistigkeit“, mit dem sich Freud selbst identifizierte, verstand er als einen Auftrag, sich der unbewussten Tiefenschichten der Schuldzuweisungen bewusst zu werden. Judentum sollte „Arbeit am Vatermord“ sein,403 die Psychoanalyse ein Mittel, die „historische Wahrheit“ zu finden, um die Illusion der christlich-jüdischen Grundverschiedenheit und die mit ihr verknüpften Dynamiken zu zerstören. War es den nationalen Aktivisten der so genannten ‚Identitätswissenschaften‘ ein Anliegen, zwischen Juden und Christen einen Keil zu treiben, so intervenierte Freud in diese Prozesse durch seine psychohistorische Analyse Der Mann Moses und die daraus resultierenden Vorschläge. Wenn die Ausbildung individueller und kollektiver Identitäten aber auf Handlungen der Vergeistigung beruhte (mochten diese auch durch ein Trauma hervorgerufen sein) und nicht auf dem Sein angeblicher ethnischkultureller oder biologisch-erblicher Unterschiede, so erwiesen sich auch Assimilation und Dissimilation als Vorgaben eines überlebten essenzialistischen Volks-, Kultur- und Nationsverständnisses. Sie fußten auf der Illusion, dass ein Volk in einem umzirkelten geografischen Raum über eine Kultur verfügte (‚Kulturkreis‘), die vor jeder Verunreinigung geschützt und bewahrt werden musste. Wenn kollektive Selbstfindung aber ohne diesen Anspruch auskäme, weil anerkannt werden würde, dass die Vorstellung von der „Artgleichheit“ (Carl Schmitt) von Kulturen und Völkern eine Illusion sei, die sich der nationalen Idee verdankte, so erübrigte sich zweierlei: der Zwang, sich einer anderen Kultur anzugleichen, und der Antrieb – so das Argument nationaler Antisemiten – zur „Ausscheidung oder Vernichtung des Hetero-
402 Jacques LE RIDER, Joseph und Moses als Ägypter. Sigmund Freud und Thomas Mann, in: Peter-André ALT, Thomas ANZ (Hg.), Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Berlin–New York 2008 (spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature 16), S. 157–167, hier S. 162. 403 BRUMLIK, Sigmund Freud, S. 255.
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genen“,404 um das Verderben des ‚Volkscharakters‘ zu verhindern. Das Ziel, nationale Authentizität als Illusion zu entlarven und damit bewältigbar zu machen, verfolgte Freud nach Kräften. Er erreichte es mithilfe seiner psychohistorischen Argumentation, durch die er in seinem Alterswerk ein Zeichen setzte, das für die Verteidiger des Authentischen unter den Wissenschaftlern schwer decodierbar und unannehmbar war. Damit hat Sigmund Freud der Welt, um es mit den Worten Jacques Le Riders auszudrücken, ein „Buch der Weisheit“405 vermacht.
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Im Mann Moses zeichnete Sigmund Freud ein ambivalentes, vielschichtiges, zugleich auch widersprüchliches und diskontinuierliches Bild der jüdischchristlichen Geschichte: Moses, der Gründervater des Judentums, war für ihn sowohl von nichtjüdischer als auch nichteuropäischer Herkunft. Diese Grundannahme ist von mehrfacher Relevanz. Sie ist erstens als eine bewusst provokante Mahnung aufzufassen, nicht der Illusion angeblicher Homogenität auf Kosten von einer komplexen Wirklichkeit aufzusitzen: Freud legte sein Augenmerk auf die Vielfachcodierung und ‚Geschichtetheit‘ der jüdischen Identität, die er wieder freizulegen versuchte: Spuren christlicher, Edward Said (1935–2003) zufolge aber auch arabischer Schichten. Identität verstand Freud im Plural. Er begriff sie als ein Palimpsest, das jedweder Reduktion auf eine ‚Urschicht‘ oder Zurückführung auf einen nationalen (oder singulär religiösen) Bezugsrahmen widerstrebte. Dass Freud die jüdische Identität nicht in nationaler, ethnischer oder biologisch-erblicher Wesenhaftigkeit aufgehen ließ, war der springende Punkt. Das, was er für das Judentum aufgezeigt habe, galt Said zufolge auch für andere ‚belagerte‘ Identitäten.406 Zur Zeit Freuds waren in Zentraleuropa die Versuche, kollektive Identitäten in nationale bzw. rassisch-ethnische Korsette zu zwängen, um anschließend aus ihnen Argumente für Ausgrenzung, Abstoßung und Verfolgung abzuleiten, Legion. So setzte er ein bemerkenswertes Zeichen, als er in einer Zeit schärfster Angriffe auf das Judentum die angebliche Authentizität seiner kulturellen Tradition nicht verteidigte, sondern seine Verflechtungen, Überschichtungen und Wechselbeziehungen mit dem alten Ägypten und den Christen offenlegte. Durch seine ‚Grabungstätigkeit‘ wurden jene verschütteten Schichten der Vergangenheit wieder sichtbar, die, so Said, von einer Archäologie, die nach Wurzeln grub, außer Acht gelassen worden waren. 404 SCHMITT, Die geistesgeschichtliche Lage, S. 14. Weiter heißt es: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“ 405 LE RIDER, Jüdische Identität in Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, S. 31. 406 Vgl. Edward W. SAID, Freud und das Nichteuropäische, Zürich 2004, S. 68.
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Sigmund Freud versuchte zum einen das durch die Bibel kodifizierte Bild von Ägypten zurechtzurücken. Zum anderen legte er die komplexen Gedächtnisschichten, die im 19. Jahrhundert im Zuge nationaler Authentisierungsvorgänge407 ängstlich verdeckt worden waren, wieder frei. Edward Said würdigte Freud daher als einen, der den „revisionistischen Versuch“, „eine neue glatte Struktur jüdischer Geschichte“ zu entwerfen, heftiger Kritik unterzog. Der Vordenker der postkolonialen Studien verweist ausdrücklich auf die „komplexeren und diskontinuierlichen Bemühungen“ Freuds, dem er die Einsicht verdanke, dass das historische Judentum eine „höchst problematische Angelegenheit“408 gewesen sei. Trifft Saids Diagnose zu, so zeigt sich, dass der Königsweg zur Nationalidentität von der Auslöschung identitärer Mehrfachcodierung gesäumt war. Freud sah darin zweifelsohne einen Irrweg, von dem er mutig abwich, als er in seiner Analyse aufzeigte, dass in den jüdischen und christlichen Identitäten auch andere Ablagerungen – im Judentum ägyptisch-arabische Schichten, im Christentum jüdische Schichten – aufzufinden wären. Zweitens wirkte er mit der Öffnung der jüdischen Identität wegweisend im Hinblick auf die Unterminierung konstruierter Gegensätze. Mittel zum Zweck war sein Beharren auf die Vielfachcodierung jüdischer und christlicher Identitäten sowie auf die außereuropäische Herkunft von Moses. Stein des Anstoßes war der Umstand, dass Christen und auch manche Juden zu seiner Zeit im Zerrbild der nationalen Authentizität ein Ideal erblickten. Die Nationalisierung war mit Vorgängen kollektiver Selbstaufwertung durch Abwertung anderer verbunden, sie manifestierten sich insbesondere im Antisemitismus: „Genauso wie heute“, notierte Freud, „hielt sich auch damals jede Nation für besser als jede andere.“ (MM, S. 213) Drittens verfolgte Freud mit dem Versuch, die „Mosaische Unterscheidung“ (Jan Assmann) aufzuweichen, sein wichtigstes Ziel, das der Intervention: Sie hatte den Zweck, dem zunehmenden Antisemitismus zumindest etwas entgegenzusetzen. Die Psychoanalyse ermöglichte es, den tieferen, spezifischen und unbewussten Motiven des Judenhasses auf die Spur zu kommen, z.B. der „[unüberwundenen] Eifersucht auf das Volk, welches sich für das erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab“. (MM, S. 197)409 Zugleich lieferte sie Argumente, um den antisemitischen Vorwurf, dass die Juden „verschieden“ von ihren „Wirtsvölkern“, also landfremd, wären, zurückzuweisen. Freuds Ziel bestand darin, diese vermeintlichen Beweggründe durch die Dekonstruktion der Dichotomie zwischen Juden und Christen für grund- und haltlos zu erklären. Er konterte, dass die Juden keineswegs
407 Bezeichnenderweise verwendet Freud in seinem Mann Moses nicht die historisch korrekten Termini „Hebräer“ oder „Israeliten“, sondern er spricht durchgehend von „Juden“. 408 SAID, Freud und das Nichteuropäische, S. 40. 409 Auf S. 213 schreibt Freud im Mann Moses: „Wenn man der erklärte Liebling des gefürchteten Vaters ist, braucht man sich über die Eifersucht der Geschwister nicht wundern.“
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„grundverschieden“ wären. (MM, S. 197) Sie repräsentierten für ihn kein „absolut Anderes“410, ihre Verschiedenheit beruhte allein auf der Konstruktion nationaler ‚Wir-Gruppen‘, die sich jene als ‚Ihr-Gruppe‘ vorstellten, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Als ein Kriterium hierfür verwendeten sie die Kultur bzw. die kulturelle Tradition. Im Mann Moses versuchte Freud die mit Werturteilen aufgeladenen Gegenbesetzungen aufzuweichen; er schrieb: „Sie sind nicht fremdrassige Asiaten […], sondern zumeist aus Resten der mediterranen Völker zusammengesetzt und Erben der Mittelmeerkultur.“ (MM, S. 197) Der humanistisch-aufklärerischen Tradition und dem eurozentrischen Kulturbegriff seiner Zeit verpflichtet, blieb auch Freud trotz aller Reflexivität noch in dichotomen Vorstellungswelten verhaftet, die zwischen der europäischen ‚Zivilisation‘ und einer vermeintlich außereuropäischen ‚Primitivität‘ unterschieden: Said zufolge fand sich bei Freud zwar die beiläufige Annahme, „daß Semiten wohl gewiss keine Europäer seien“,411 allerdings gestand er ihnen zu, durchaus in der Lage zu sein, solche zu werden. In diesem Sinne wich er nicht auf die Seite der orientalistischen und rassistischen Ab- und Aufwertungsdiskurse seiner Zeit ab. Während Orientalisten, Philologen und Historiker damals häufig versuchten, die Unvereinbarkeit von Juden, Arabern und dem „griechisch-germanisch-arischen Kulturkreis“ nachzuweisen, weigerte sich Freud vehement, zwischen Europa und dem Nichteuropäischen unüberwindliche Barrieren aufzubauen.412 Im Gegenteil, so Said: Er habe sich aufgrund des sich unheilvoll auf Europa senkenden Schattens des Antisemitismus verpflichtet gefühlt, „die Juden sozusagen fürsorglich unter dem schützenden Dach des Europäischen zu versammeln.“413 Waren aber die Juden in Europa ‚verwurzelt‘,414 so war das Judentum unverkennbar und unzweifelhaft ein Teil des Eigenen.
5.15 D IE L OGIK DES AUSSENSEITERS . Z UR AUFHEBUNG DER U NTERSCHEIDUNG IM Z EICHEN DES S YNKRETISMUS Sigmund Freud sah im Monotheismus beides: das Privileg der Juden, sich ihrer Identität versichern zu können, ohne hierfür auf biologisch-erbliche bzw. ethnisch-völkische Argumente zurückgreifen zu müssen; aber auch eine Ursache für den unauslöschlichen Hass, den zunächst Ikhnaton, später aber Moses und die Juden auf sich gezogen hatten. Freud machte es sich zur
410 Emmanuel LÉVINAS, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg–München 31998, S. 209–213. 411 SAID, Freud und das Nichteuropäische, S. 20. 412 Ebenda, S. 21, S. 25. 413 Ebenda, S. 50. 414 Vgl. ebenda, S. 20.
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Aufgabe, das Verbindende wiederzufinden. Zu diesem Zweck deckte er die mehrfachen Ursprünge und die Verflechtungen von Juden- und Christentum auf. Sein Appell lautete, sich Kraft der Vernunft selbst als einen Anderen zu erkennen: „Ich ist ein anderer“ (Arthur Rimbaud) oder im Sinne Sigmund Freuds: „Wir Christen sind Christen“, wie es die Wiener Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller formulierte, „weil wir Juden sind, wir Juden sind Juden, weil wir Ägypter sind.“415 Freud zeigte damit einen Ausweg aus dem Dilemma zwanghafter kultureller Authentisierung durch die wertende und verkürzte Wahrnehmung des Anderen auf: Wer Moses in Ägypten entdeckt, – so könnte auf Jan Assmann bezugnehmend das auf den Punkt gebracht werden, was Freud anvisierte – „hebt diese Unterscheidung auf.“416 So ist zu hoffen, dass klar geworden ist, was Freud bezweckte, als er in seiner Monografie Der Mann Moses (1939) die Frage aufwarf: „Was haben wir davon, wenn wir den jüdischen Monotheismus vom ägyptischen ableiten?“ (MM, S. 169) Die Antwort könnte lauten, dass Sigmund Freud mit seinem umstrittenen Werk, das er zunächst als eine „Art von historischem Roman“417 konzipiert hatte, eine aufklärerische Kulturtheorie verfasst hat, deren Erzählung sich als ein Antidoton gegen die sich anbahnende historische Katastrophe des 20. Jahrhunderts verstand. Die Geschichte ist eine exemplarische, ihr religionshistorischer Gegenstand aber signifikant: Auf jeden Fall regt die als Traktat abgefasste Abhandlung dazu an, das Verhältnis zu Führerfiguren und kulturellem ‚Erbe‘ neu zu überdenken. Die Hoffnung des Autors war es, das kritische und selbstkritische, eigenverantwortliche und ethische Denken seiner Zeitgenossen zu stärken: „Die Stimme des Intellekts ist leise“, schrieb Freud in Die Zukunft einer Illusion, „sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat.“418 Aber genau deshalb ist die von Freud konstruierte Mosesgeschichte trotz ihrer historischen Unzulänglichkeiten vielleicht annehmbar.
415 Sabine MÜLLER, Diesseits des Diskurses. Die Geburt der Diskursanalyse aus dem Geiste der Latenz, in: Franz X. EDER (Hg.), Historische Diskursanalysen, Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 131–150, hier S. 146. 416 ASSMANN, Moses der Ägypter, S. 282. 417 Sigmund Freud an Lou Andreas-Salomé, 6.1.1935, in: Sigmund Freud und Lou Andreas-Salomé. Briefwechsel, S. 222f. Zu bedenken ist, dass der „historische Roman“, als den Freud seine Mosesstudie in einem Brief an Arnold Zweig annoncierte, eines der verbreitetsten und beliebtesten literarischen Genres der Zeit darstellte. Ein Beispiel hierfür liefern etwa die ersten beiden Josephsromane von Thomas Mann (erschienen 1933, 1934), deren Lektüre Freud „den entscheidenen Anstoß“ zur Abfassung der Mosesschrift gab. ASSMANN, Nachwort, S. 176, und ein Hinweis der Wiener Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller. 418 FREUD, Die Zukunft einer Illusion, S. 377.
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Mit dem Mann Moses hat Sigmund Freud nicht weniger vollbracht, als einen vernünftigen Weg für die Bewältigung der drängendsten kulturellen Herausforderung seiner Zeit aufzuzeigen. Doch konnte sich die ‚leise Stimme des Intellekts‘ kaum noch Gehör verschaffen. Seine Vorschläge fanden wenig Anklang: Auch Teile der jüngeren Auslegung des Mann Moses weigerten sich, das Werk als weise Intervention in ein höchst konfliktträchtiges, wirkmächtiges Kulturverständnis zu begreifen. Sie tappten mitunter in jene Authentisierungsfalle, deren Konfliktpotenzial Freud hellsichtig erkannt hatte und zu überwinden mahnte: Zweifelsohne ist es das Verdienst Yosef H. Yerushalmis, die „traurige Rezeptionsgeschichte“ des Mann Moses beendet und mit seiner Schrift in der Auseinandersetzung ein bislang nicht erreichtes Reflexionsniveau erlangt zu haben,419 jedoch säumt der Authentisierungsdiskurs bis zuletzt die Wege seiner Auslegung. Die Ausführungen haben gezeigt, dass Freud besonders darauf bedacht war, die Vorstellung, dass sich der Erhalt des jüdischen Volkes biologischer Vererbung verdankte, zu entkräften; er hob daher die unverzichtbare Berücksichtigung des „ideellen Moments“, „des gemeinsamen Besitzes bestimmter intellektueller und emotioneller Güter“, hervor, „Blutvermischungen störten dabei wenig“. (MM, S. 231) In diesem Kapitel wurde die Mann-Moses-Schrift auf ihre Interventionsfunktion überprüft, die darin bestand, in die ungebrochene Dynamik des in Fronten erstarrten kulturellen Konfliktfelds eingegriffen zu haben. Jan Assmann spricht von der Aufhebung der „Mosaischen Unterscheidung“, die sich Freud durch die ‚Ägyptisierung‘ von Moses zum Ziel gesetzt habe. Dass der Psychoanalytiker diesen Akzent vor dem Hintergrund unreflektierter Selbstvergewisserungsprozesse in Zentraleuropa setzte, wurde hier dargelegt. Freud intervenierte mittels einer reflexiv-positivistischen Theorie, die er aus seiner psychohistorischen Perspektive entwickelte. Er vergegenwärtigte die trennenden Vorgänge und lieferte mit seinem alternativen Modell identitätsstiftender Tradition einen wegweisenden, nach 1945 aber wenig genutzten Ansatz. Über ein halbes Jahrhundert lang verdeckte der „lange Schatten der Vergangenheit“420 das Potenzial, das Freuds Konzept für die Zukunft aufbieten kann. In unserer Gegenwart werden seine substanzkritischen Überlegungen zur Problematik kollektiver Identität angesichts der in der globalisierten Welt komplexer werdenden Kulturproblematik zunehmend relevant. Sein im Zeichen der Vernunft und Toleranz unternommener Versuch der Überwindung von Dichotomien, die keine waren, sondern zu solchen gemacht wurden, findet neue Aufmerksamkeit. Jacques Le Rider
419 BERNSTEIN, Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 145. 420 ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006.
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hat Freuds Mann-Moses-Schrift daher zu Recht „als eines der wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts“421 gewürdigt.
C. G EDÄCHTNIS , E RINNERUNG UND T RADITION . W ANDLUNGEN EINES P ARADIGMAS Die jüngere Beschäftigung mit der Problematik der Transmission kollektiv geteilter Gedächtnisinhalte über größere Zeiträume hat eine Vorgeschichte:422 Schon um 1900 hatten sich Hirnforscher, Evolutionsbiologen und Kulturhistoriker mit dem ‚Gedächtnis‘ als Vehikel kollektiver Identitäten auseinandergesetzt und dieses als ein vererbbares, d.h. als „Rassengedächtnis“423 konzipiert. Den Hintergrund der Ausbildung einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Gedächtnisforschung in der Zwischenkriegszeit stellte der Versuch dar, diese biologistischen Konzepte zu überwinden und ihnen konkurrierende Ansätze entgegenzustellen. Wesentliche Akzente setzten dabei Maurice Halbwachs (1877–1945) und Aby Warburg (1866–1929) mit ihren Modellen eines „kollektiven“ bzw. „sozialen Gedächtnisses“ und der „kommunikativen“ bzw. „symbolischen“ Überlieferung. Sigmund Freud erweiterte diese Theorien durch Hinzufügung psychologischer Aspekte. So wie Halbwachs zielte auch Freud vornehmlich nicht auf einen mit sich selbst identischen, kompakten Träger der Überlieferung, sei es ‚die Kultur‘, ‚das Volk‘ oder ein vermeintlich „kollektives Unbewusstes“, sondern auf den sozialen bzw. psychologischen Funktionszusammenhang von Traditionsbildungen. Diesen wesentlichen Aspekt analysierten beide im Rahmen ihrer jeweiligen Wissenschaft: Halbwachs als Soziologe; Freud als ‚Individual‘- und Sozialpsychologe. Seit den 1980er- und 1990er-Jahren haben allen voran Jan und Aleida Assmann der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung neue Impulse verliehen. Sie ist nach wie vor Gegenstand intensiver Verhandlungen. Die meisten westlichen Sprachen erlauben es, zwischen einer ‚objektiven‘ bzw. erzählten Geschichte sowie zwischen Gedächtnis und Erinnerung zu unterscheiden. Die Begriffe ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘ werden im Allgemeinen zwar oft synonym verwendet, im Besonderen wird Gedächtnis aber als ein Sammelbegriff verstanden für den in einer Kultur, Nation und Epoche archivierten Vorrat an Bildern, Symbolen, Texten und Ritualen. Als Erinnerung werden Akte des Zugriffs auf diesen Vorrat bezeichnet, deren
421 LE RIDER, Jüdische Identität in Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, S. 28. 422 Vgl. u.a. Astrid ERLL, Ansgar NÜNNING (Hg.), Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifizität, Berlin–New York 2004 (Medien und kulturelle Erinnerung 1). 423 Ernst H. GOMBRICH, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg 2006, S. 323–347, hier S. 325 [Original: DERS., Aby Warburg. An intellectual biography, London 1970].
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Formen sich im Laufe der Zeit verändern. Die selektive Vergegenwärtigung vergangener Vorfälle stiftet Identität. Hierbei fungieren Medien wie z.B. Texte, Bilder, Monumente, Rituale, Jahrestagsfeierlichkeiten usw. als Erinnerungsstützen.424 Die Zugriffe auf die Vergangenheit finden allerdings unter jeweils spezifischen, sich wandelnden sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnissen statt. In der kulturellen Praxis des Erinnerns erblickte schon Friedrich Nietzsche die Funktion der strategischen Stabilisierung kultureller (genauer: moralischer) Überzeugungen, zu deren Kritik er seine Methode der „Genealogie“ entwickelte.425 In diesem Sinne gaben u.a. auch Halbwachs, Warburg, Freud, Cassirer sowie zuletzt Jan und Aleida Assmann die Konstrukteursrolle auf, um als reflektierende Analytiker den Blick der Kulturwissenschaften auf die Zusammenhänge von Erinnerung, Macht und Kultur zu erweitern. Dieser Perspektivenwechsel verdankte sich vornehmlich zweier Entwicklungen: wissenschaftsintern der weitgehenden Aufgabe der Abbildtheorie zugunsten der Vorstellung der Arbitrarität der Relation von Zeichen und Bezeichnetem; wissenschaftsextern der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, durch die eine unreflektierte Fixierung vergangener Narrative untragbar wurde. Sind die Anfänge dieses Wandels bereits auf die 1920er-Jahre zu datieren, so beschleunigte er sich durch die schmerzhaften Erfahrungen der Shoa.
5.17 M AURICE H ALBWACHS . O DER : D AS G EDÄCHTNIS IN THE GROUP UND NICHT OF THE GROUP Das Werk von Maurice Halbwachs war im deutschen Sprachraum nahezu in Vergessenheit geraten, bevor ihm Jan Assmann in den 1980er-Jahren neue Aufmerksamkeit schenkte. Der Heidelberger Ägyptologe rückte die Arbeiten des französischen Soziologen in den neuen kulturwissenschaftlichen Analysezusammenhang und verwendete sie als Bezugspunkt für sein Konzept des kulturellen Gedächtnisses.426 Um die Jahrtausendwende konnte
424 Vgl. Otto Gerhard OEXLE (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121). DERS., Memoria und Erinnerungskultur im Alten Europa – und heute, in: Alexandre ESCUDIER, Brigitte SAUZAY, Rudolf von THADDEN (Hg.), Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns, Göttingen 2001 (Genshagener Gespräche 4), S. 9–33. Aleida ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 425 Vgl. Friedrich NIETZSCHE, Zur Genealogie der Moral (Original 1887), in: DERS., Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 5, Berlin–New York 2005 (= 21988), S. 245–412. 426 Vgl. Jan ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, 31999 (Original 1992) und DERS., Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: DERS., Tonio HÖLSCHER (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9–19, hier S. 9. Anlässlich der deutschen Übersetzung von Halbwachs’ Hauptwerk
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Aleida Assmann das Gedächtnis zu einem „Leitbegriff der Kulturwissenschaften“ erklären.427 Heute versäumt kein Autor, der sich mit ‚Gedächtnis‘, ‚Erinnerung‘ und ‚Tradition‘ befasst, auf den Begriff der „mémoire collective“ zurückzugreifen, den der Durkheim- und Bergson-Schüler Halbwachs geprägt und in den folgenden drei Monografien ausformuliert hat: Les cadres sociaux de la mémoire (1925, dt. 1966, 1985, 2006); La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective (1941; dt. 2003); und La mémoire collective (1950, posthum, weitgehend in den 1930er-Jahren verfasst; dt. 1967, 1985).428 Halbwachs hatte zunächst als Soziologieprofessor in Strasbourg (1919–1935), später in Paris (Sorbonne, 1938–1944) gewirkt.429 Unmittelbar vor seiner Deportation war er auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie am Collège de France berufen worden. Am 16. März 1945 wurde Halbwachs als politischer Häftling im Konzentrationslager Buchenwald (Weimar) ermordet.430 Das zentrale Argument, das Halbwachs in seinen Studien zur Kollektivpsychologie des Gedächtnisses vorbrachte, besteht darin, dass das individuelle Gedächtnis in soziale Bezugsrahmen („cadres sociaux“) eingefasst sei, innerhalb derer es eine Funktion erfülle. Sonach definierte er das Sicherinnern als einen bewussten sozialen, d.h. durch Kollektive geprägten Akt. Diese Schlussfolgerung zog er, nachdem er erkannt hatte, dass sich ausgerechnet im Schlaf keine Erinnerungen einstellten. Denn der Traum beruhte für Halbwachs nur „auf sich selber“, während „unsere Erinnerungen sich auf
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zur Gedächtnisforschung: Les cadres sociaux de la mémoire (Berlin–Neuwied 1966) war eine umfassende Besprechung von Rudolf Heinz (Düsseldorf) erschienen. DERS., Maurice Halbwachs’ Gedächtnisbegriff, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 23 (1969), S. 73–85. Aleida ASSMANN, Gedächtnis als Leitbegriff der Kulturwissenschaften, in: Lutz MUSNER, Gotthard WUNBERG (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 27–45. Maurice HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main 2006 (stw 538). DERS., Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003 (Original 1941). DERS., Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. Zu Halbwachs vgl. u.a. Annette BECKER, Maurice Halbwachs. Un intellectuel en guerres mondiales 1914–1945, Paris 2003. Stephan EGGER, Auf den Spuren der „verlorenen Zeit“. Maurice Halbwachs und die Wege des „kollektiven Gedächtnisses“, in: HALBWACHS, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, S. 219–268. Jan ASSMANN, Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, in: Hermann KRAPOTH, Denis LABORDE (Hg.), Erinnerung und Gesellschaft. Mémoire et Société. Hommage à Maurice Halbwachs (1877– 1945), Wiesbaden 2005 (Jahrbuch für Soziologiegeschichte), S. 65–83, hier S. 69. ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006. Hubert CANCIK, Hubert MOHR, Erinnerung/Gedächtnis, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Band II, Stuttgart–Berlin–Köln 1990, S. 299–323, hier S. 209–311, 321f. Vgl. BECKER, Maurice Halbwachs, S. 413–450. Jorge SEMPRUN, Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 21995, S. 55–58. ASSMANN, Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, S. 66.
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die aller anderen und auf die großen Bezugsrahmen des Gesellschaftsgedächtnisses“ stützten.431 Erinnerungsvorgänge bedurften ihm zufolge notwendig der Hilfestellung anderer, deren Erinnerungen in Summe jene sozialen Rahmen bildeten, welche zwar je nach Gesellschaft, Klasse oder Gruppe variierten, aber für das Gedächtnis an sich konstitutiv waren.432 Die Bezugsrahmen schlossen laut Halbwachs „unsere persönlichsten Erinnerungen“ ein und verknüpften sie miteinander. Das Individualgedächtnis definierte er zwar als einen „Aspekt des Gruppengedächtnisses“,433 allerdings sah er in jeder erinnernden Vergegenwärtigung notwendig eine individuelle Aktivität: Der Einzelne erinnerte sich als Angehöriger verschiedener sozialer Gruppen. Da für Halbwachs das individuelle Gedächtnis ein ständig wechselnder „Ausblickspunkt“ auf ein kollektives Bezugssystem war,434 steht fest, dass er von einem Gedächtnis „in the group“ und nicht von einem „of the group“ sprach.435 Er ließ sonach keine Zweifel darüber aufkommen, wer sich erinnerte: „Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, daß es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern.“436 Somit zeigt sich, dass Halbwachs das „Kollektiv-“ oder „Gruppengedächtnis“ nicht als hypostasierten Abkömmling des von Freud verworfenen Jungschen „kollektiven Unbewussten“ konzipierte, sondern diese Begriffe als Metapher, d.h. abstrakt, verwendete. Die Vorstellung eines zum Individualgedächtnis analogen Gedächtnisses der Gruppe, des Kollektivs (was ihm mitunter zu Unrecht vorgeworfen wird), war ihm sonach völlig fremd. Sein Kollektivgedächtnisbegriff bezog sich definitiv und unmissverständlich auf das individuelle Erinnern in der Gruppe. Aber auch der „kollektive Bezugsrahmen“ war für ihn „nur das Ergebnis, die Summe, die Kombination der individuellen Erinnerungen vieler Mitglieder einer und derselben Gesellschaft.“437 Allein sie – und nicht eine als Subjekt begriffene Kollektivsubstanz – bildeten die titelgebenden und den individuellen Erinnerungsprozess steuernden „cadres sociaux“. Im Besonderen zeigte Halbwachs, der in seinen Untersuchungen neurophysiologische Aspekte in den Erinnerungsprozessen außer Acht ließ,
431 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 72. 432 „Jede noch so persönliche Erinnerung, selbst von Ereignissen, deren Zeuge wir alleine waren, selbst von unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen, steht zu einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele andere außer uns besitzen, mit Personen, Gruppen, Orten, Daten, Wörtern und Sprachformen, auch mit Überlegungen und Gruppen, zu denen wir gehören und gehört haben.“ Ebenda, S. 71. 433 Ebenda, S. 201. 434 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31f. 435 Frederic C. BARTLETT, Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology, Cambridge 1972 (Original 1932), S. 294–296. 436 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31. 437 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 22.
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dreierlei: erstens, dass der Einzelne seine Erinnerungen mit Hilfe des erwähnten sozialen Bezugsrahmens aufrufe, ohne den er nicht zur Erinnerung fähig wäre. Mit einem Wort: Der Einzelne würde all das vergessen, was nicht durch die Erinnerung der anderen gestützt werde. Individualerinnerungen seien insofern sozial determiniert, als sie im kommunikativen Austausch durch andere ins Gedächtnis zurückgerufen würden,438 mit einer Ausnahme: nämlich im Schlaf, in dem er sich im isolierten Zustand befände und sich nicht mehr auf den Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses stützen könne (bzw. brauche). Zweitens zeigte Halbwachs, dass der Einzelne aufgrund seiner vielfältigen Vernetzungen im Erinnerungsprozess ein Bild von der Vergangenheit entwerfe, das er jenen Vorstellungen anpassen würde, von denen die jeweiligen sozialen Gruppen geprägt seien. Drittens wies er nach, dass die Vergangenheit in der Erinnerung nicht ‚wiedergefunden‘, sondern jeweils neu konstruiert, verformt und manipuliert werde, um sie nach Maßgabe der sozialen Rahmen der Gegenwart in einen kohärenzstiftenden Sinnkomplex einzuordnen. Da Halbwachs im Gedächtnis kein Aufbewahrungsmedium, keinen Speicher, sah, war für ihn auch das Erinnerte etwas völlig anderes als ein Abbild der Vergangenheit. In der Erinnerung würde die Vergangenheit im Lichte der Gegenwart ständig neu konzipiert. Der Soziologe Heinz Maus (1911–1978) brachte Halbwachs’ Grundauffassung auf den Punkt: „Tradiertes bleibt sich nicht gleich und das Neue ist im Vergangenen enthalten.“439 In diesem Sinne bezog Halbwachs auch den Traditionsbegriff nicht allein auf das, was gewesen war, sondern auch auf das, was zum Zeitpunkt der Vergegenwärtigung real war oder sein sollte. Analog dazu besaßen auch die „sozialen Überzeugungen“ für Halbwachs einen „doppelten Charakter“: Sie seien einerseits „kollektive Traditionen oder Erinnerungen“, anderseits aber „Ideen oder Konventionen“, die auf „der Kenntnis des Gegenwärtigen“ beruhten. Daher gebe es keine „soziale Idee“, die nicht zugleich auch eine Erinnerung der Gesellschaft sei. Umgekehrt – so der Schlusssatz der Schrift Les cadres sociaux de la mémoire – bliebe auch nur das ‚erinnert‘, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.“440 „Zusammengefaßt gesagt“, resümierte Halbwachs, sei festzustellen, „daß das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis ist, und daß dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen besteht“; weiters,
438 Halbwachs schrieb im Kapitel „Kollektives und individuelles Gedächtnis“ seiner Schrift Das kollektive Gedächtnis (S. 2) folgendes: „Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen – selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um Gegenstände, die allein wir gesehen haben. Das bedeutet, daß wir in Wirklichkeit niemals allein sind.“ 439 Heinz MAUS, Geleitwort, in: HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. V–VII, hier S. VII. 440 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 389f.
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dass es „kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen [gibt], deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“ Sie verwendeten vielmehr die vorhandenen Bezugsrahmen, nämlich das „Gedächtnis der anderen“ und den „unveränderten Anblick der Sachen“ innerhalb eines Menschenlebens, als Instrument, um sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen. Und schließlich habe sich in Bezug auf die kollektiven Erinnerungen bzw. Traditionen gezeigt, dass „nur diejenigen von ihnen und nur das an ihnen bleibt, was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.“ Die Gesellschaft ließe nur das zu, „was sich im Einklang mit den [in ihr] herrschenden Gedanken“ befände:441 Wenn es stimmt, dass der individuelle Akt des Sicherinnerns sozialer Bezugsrahmen bedarf, so sind diese durch die zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe vorgegeben. Das kollektive Gedächtnis ist demzufolge von jenem Zeitraum geprägt, über den sich das Gedächtnis der Gruppenmitglieder erstreckt. Laut Halbwachs vermag dieses die „Dauer eines Menschenlebens“ nicht zu überschreiten,442 denn mit dem Ableben oder der Absonderung von Gruppenmitgliedern würde es sich zwangsläufig zersetzen und verformen: Verwandelten sich die „cadres sociaux“, so veränderte sich Halbwachs zufolge notwendig auch der Sinn einer Tradition. Mit der Zurückweisung der Annahme einer unveränderlichen Vergangenheit, die sich für ihn ideologisch im Anspruch auf Wahrung von Besitzständen und damit von Herrschaftsverhältnissen manifestierte, schärfte Halbwachs den Blick für die unheilvolle Rolle, die ein essenzialistisches Traditionsverständnis und die Vorstellung einer biologisch ‚ererbten Kultur‘ spielen konnten.443 Weiters warnte Halbwachs davor, das kollektive Gedächtnis mit Geschichte zu verwechseln, die sich durch Verschriftlichung auszeichne. Zum Zeitpunkt ihrer Aufzeichnung sei die Geschichte kein „lebendiges Gut“ mehr. Halbwachs setzte sie mit dem Augenblick an, „in dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt.“ Verschriftlichung war für ihn „das einzige Mittel, solche Erinnerungen [die keine Gruppe mehr zum Träger haben, J.F.] zu retten, d.h. sie schriftlich in einer fortlaufenden Erzählung festzuhalten.“444 Durch diesen Modus werde die Vergangenheit aber nicht als „lebendiges Gut“, sondern in einer medial vermittelten Auswahl und Ordnung überliefert. Er grenzte daher die „Geschichte“ in zumindest zweierlei
441 Ebenda, S. 390, S. 121, S. 50, S. 390, S. 22f. 442 „Viele Erinnerungen entgleiten uns nicht nur deshalb, weil das Intervall zwischen dem einstigen Abschnitt unserer Existenz und der Gegenwart mit dem Ablauf der Zeit größer wird, sondern weil wir nicht mehr unter den gleichen Personen leben“. Ebenda, S. 50. 443 Hubert Cancik verweist darauf, dass Halbwachs im Anschluss an Max Weber die herrschaftsstabilisierende Funktion des Traditionsbegriffs bewusst gemacht hat. Vgl. Hubert CANCIK, Tradition, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl. Band V, Stuttgart–Berlin–Köln 2001, S. 244–251. 444 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 66.
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Hinsicht vom kollektiven Gedächtnis ab: Zum einen unterschied er die ‚Künstlichkeit‘ der Geschichte von der kontinuierlichen Denkströmung des kollektiven Gedächtnisses, die nur das aus der Vergangenheit vergegenwärtige, was von ihr noch ‚lebendig‘ und fähig sei, im Bewusstsein einer Gruppe weiterzuwirken.445 Zum anderen gab es für Halbwachs zwar mannigfaltige Gedächtnisse, jedoch nur eine Geschichte. Denn der Historiker unterwerfe das Vergangene einer neuen „Wertungsart“, weil die Geschichtsschreibung der Abkoppelung der vergangenen Ereignisse vom Gedächtnis jener Gruppen bedürfe, die sie in der Erinnerung wachhielten. Daher fehlte der Historiografie die Vielschichtigkeit der lebendigen Überlieferung. Kennzeichen des „Gedächtnisses“ sei, „daß derjenige, der sich erinnert […], das Gefühl hat, auf seine Erinnerungen in einer kontinuierlichen Bewegung zurückzugehen“. Allerdings, so fragt sich Halbwachs, wie könnte dann die Geschichte ein Gedächtnis sein, wenn in ihr genau diese Kontinuität aufgehoben sei?446 Zwar könne die Geschichte als das „universale Gedächtnis“ der Menschheit erscheinen, „dem Wortsinn nach“ gebe es ein solches aber nicht. Die Geschichte liefere ein Bild der Wandlungen, sie verzeichne die Unterschiede und Veränderungen; das kollektive Gedächtnis beziehe sich aber auf die Ähnlichkeiten. Da jede Gruppe danach strebe, aus dem Gedächtnis alles auszuschalten, was ihre Mitglieder voneinander trennen könnte, erfülle das kollektive Gedächtnis die Aufgabe, Bilder der Vergangenheit für den Zeitraum eines Menschenlebens aufzubewahren. Durch das Wiedererkennen in diesen aufeinander folgenden Teilbildern wirke es verbindend. Daher würden Erinnerungen in jeder Epoche auch deformiert, manipuliert und neu konstruiert.447 Halbwachs zufolge zeige die Geschichte hingegen den Wandel und die Brüche auf; sie zeichne ein (wahrheitsgetreueres) „Bild der Ereignisse“. In anderen Worten: Markierte die Geschichte die Traditionsbrüche, so bildete das kollektive Gedächtnis den „Sitz der Traditionen“.448 5.17.1 Halbwachs’ Innovation vor dem Hintergrund zeitgenössischer Gedächtniskonzepte Maurice Halbwachs eröffnete der Theorie vom Gedächtnis eine völlig neue Perspektive: In einer Zeit, in der der Gedächtnisbegriff noch mit Vorstellungen von biologischer Vererbung assoziiert wurde, konzipierte er das Gedächtnis als soziales Gruppenphänomen.449 Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war von lamarckistisch orientierten Wissenschaftlern die Theorie verfochten worden, dass jeder auf einen Organismus einwirkende Reiz sich in 445 Vgl. ebenda, S. 68. 446 Ebenda, S. 66f. 447 Vgl. ebenda, S. 71–77, und HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 381–383. 448 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 71. 449 Vgl. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9–19.
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diesen physiologisch einschriebe und in ihm Spuren hinterließe:450 So wurde „Mneme“ als das Bewahrende innerhalb des organisch Wandelbaren definiert.451 Diese Theorie der „Erblichkeit“ als „Gedächtnis der Gattung“,452 die im 19. Jahrhundert weit verbreitet war und auf das Konzept des „Rassengedächtnisses“ aufbaute,453 wies Halbwachs entschieden zurück, um sonach die biologische Fundierung durch eine kommunikativ-funktionale zu ersetzen. In diesem Zusammenhang erinnerte Ernst H. Gombrich 1970 in seiner kritisch-distanzierten „intellectual biography“ Aby Warburgs an die seinerzeitigen wissenschaftlichen Anstrengungen, die Stärke gewisser Traditionen über die Vererbbarkeit von Anlagen zu erklären. Warburg hatte die Kunst als ein „soziales Erinnerungsorgan“ und Kunstwerke als Manifestationen erkannt, welche die ursprünglichen „Ausdrucksenergien“ wach hielten.454 In seiner Fragment gebliebenen Theorie des sozialen Bildgedächtnisses habe er jedoch – dem kritischen Ernst Gombrich zufolge – das „Nachleben“ antiker Ausdruckformen (in der Kunst der Renaissance) noch im Spiegel einer „fest in der Biologie verankerten Sozialpsychologie“ betrachtet.455 Der vielleicht beste Kenner des Warburg-Schriftnachlasses verwies dabei auf dessen Rede von den „unbewussten Erbanlagen“, in der Gombrich sogar Verbindungslinien zu verschiedenen „Aposteln des Rassismus“ wahrnahm, u.a. zu Arthur Moeller van den Bruck (1876–1925), Ewald Hering (1834–1918) und Richard Semon (1859–1918), einen „begeisterten Anhänger von Hering“.456
450 Vgl. Thomas JUNKER, Uwe HOSSFELD, Die Entdeckung der Evolution. Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte, Darmstadt 2001, S. 152–154. 451 Vgl. Ernst CASSIRER, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 22007, S. 84 [Original: DERS., An Essay on Man, New Haven–London 1944]. 452 Richard SEMON, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904, S. III. 453 GOMBRICH, Aby Warburg, S. 325. 454 Michael DIERS, Mnemnosyne oder das Gedächtnis der Bilder. Über Aby Warburg, in: OEXLE (Hg.), Memoria als Kultur, S. 79–94, hier S. 92. 455 GOMBRICH, Aby Warburg, S. 330. 456 GOMBRICH, Aby Warburg, S. 325f. Der Leipziger Physiologe Ewald Hering hatte in seiner ‚legendären‘ Rede „Über das Gedächtnis als eine allgemeine Function der organisirten Materie“ [Almanach der Akademie 20 (1870), S. 253–278] vor der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien in der feierlichen Sitzung am 30. Mai 1870 den organisch-lamarckistischen Ansatz der „Forterbung von erworbenen Eigenschaften“ (S. 269) referiert. Herings Gedächtnisbegriff kannte die „mündliche und schriftliche Überlieferung“ sowie eine Art „unbewußte“ Übermittlung, die er – im Unterschied zu Freud, der darüber keine Aussage traf, – als einen „materiellen“, d.h. physiologischen Vorgang begriff (S. 265). Dieser Vortrag wirkte ein halbes Jahrhundert lang wegweisend in Bezug auf das „Reproductionsvermögen“ oder „unbewußte Gedächtnis der organisirten Materie“ (S. 260, S. 273). Das Akademiemitglied Ernst Mach (kM 1867, wM 1880) bewertete die Rede Herings als „eine der schönsten und aufklärendsten Ausführungen im Sinne einer psychologischphysiologischen Anwendung der Entwicklungslehre“. MACH, Analyse der Empfindungen, S. 59. In jungen Jahren hatte Sigmund Freud die Chance, Herings Assistent in Prag zu werden, ergriff sie aber nicht. Vgl. Christian BAU-
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Insbesondere entdeckte Gombrich in Warburgs Theorie Anleihen bei Herings Vorstellung vererbter Anlagen, durch die er sich die Stärke gewisser Tradition erklärte, sowie bei Semons Annahme von einer „Gedächtnisenergie“, die in „Engrammen“ bewahrt und nahezu physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen würde.457 Semon zufolge hinterließ jedes Ereignis, das auf lebende Materie einwirkte, eine physiologische Spur. Das in diesen „Engrammen“ bewahrte Energiepotenzial könne unter günstigen Voraussetzungen reaktiviert und entladen werden: „Wir sagen dann“, so Gombrich, „der Organismus verhält sich auf eine bestimmte Weise, weil er sich an das vorangegangene Ereignis erinnert.“458 Wenn Warburg von einer organischen, d.h. biologisch verankerten Funktion des Gedächtnisses überzeugt war, so gab Semons Engramm-Konzept den Rahmen für seine historische Psychologie ab.459 In Anlehnung an diesen lamarckistisch argumentierenden Evolutionsbiologen sprach Warburg von „Engramme[n] leidenschaftlicher Erfahrung als gedächtnisbewahrte[m] Erbgut“, die „den Umriß bestimmen, den die Künstlerhand schafft“.460 Daher verwundert es nicht, dass er im sozialen Bildgedächtnis eine Art „Erbgutverwaltung“ (Aby Warburg) erblickte.461 „Von Freud wollte Warburg nichts wissen“, notierte Gombrich, „während Jungs Ansatz ihm gewiß nicht unsympathisch war.“462 Zwar hätte Warburg in seinen Notizen nie auf Jungs Schriften Bezug genommen, dennoch sah Gombrich „eine Parallele zwischen Warburgs Gedanken und den Ideen C. G. Jungs über Archetypen und das Rassengedächtnis“.463 Dem Kirchenhistoriker und Warburgkenner Roland Kany zufolge war es für Aby Warburg aber „nicht primär eine biologische Substanz, sondern vielmehr die
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MANN, Der Physiologie Ewald Hering (1834–1918). Curriculum Vitae, Frankfurt am Main [u.a.] 2002 (Deutsche Hochschulschriften 1216), S. 48–50, und Erna LESKY, Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert, Graz 1965, S. 530–534. GOMBRICH, Aby Warburg, S. 325, S. 327. Ebenda, S. 326. Vgl. GOMBRICH, Aby Warburg, S. 327. CASSIRER, Versuch über den Menschen, S. 84. SEMON, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 1904. DERS., Die mnemischen Empfindungen in ihren Beziehungen zu den Originalempfindungen, Leipzig 1909. DERS., Der Engrammschatz des Gedächtnisses (Original 1904), in: Uwe FLECKNER (Hg.), Schatzkammern der Mnemosyne, Dresden 1995, S. 206–212. Aby WARBURG, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (Original 1929), in: Ilsebill Barta FLIEDL, Christoph GEISSMAR (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg 1992, S. 171–173, hier S. 171. Aby WARBURG, Grundbegriffe 1929 I. § 86, 20.5.1929 (unveröffentlicht), zitiert nach Roland KANY, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 129–185, hier, S. 176. GOMBRICH, Aby Warburg, S. 380, und vgl. Peter GORSEN, Zur Problematik der Archetypen in der Kunstgeschichte. Carl Gustav Jung and Aby Warburg, in: Kunstforum International 127 (1994), S. 238–244. GOMBRICH, Aby Warburg, S. 326.
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Sprache der Symbole“, in die sich intensive Erfahrungen der Vergangenheit „engraphisch“ eingeprägt hätten und in denen die mnemischen Energien – Erinnerungsbilder – konserviert waren, auf die der Künstler zurückgreifen konnte.464 Aber selbst in Bezug auf seine Symbolkonstruktion konstatiert der Grazer Kunsthistoriker Götz Pochat eine „Geistesverwandtschaft“ mit bzw. eine „große Ähnlichkeit“ – „Parallelerscheinungen“ – zu Jung.465 Bei Warburg habe das Symbol „dieselbe Funktion“ erfüllt „wie der Archetypus in der Lehre Jungs“, wie auch „das soziale Gedächtnis bei Warburg […] dem kollektiven Unbewussten“ geähnelt habe.466 Zeigt das Mnemosynekonzept Aby Warburgs, dass selbst auf Seiten der progressiven Intelligenz noch Spekulationen über ein vererbtes soziales Gedächtnis zu finden sind, so ist es umso bemerkenswerter, dass in dieser Zeit Maurice Halbwachs ein völlig neues Verständnis von dem Gedächtnis schuf.467 In der Tat markierte sein Konzept der kommunikativen Transmission jene Wende, dank der das Gedächtnis schrittweise aus dem Zusammenhang des biologisch Vererbbaren gerückt und in einen erweiterten ‚individual‘- und sozialpsychologischen Funktionszusammenhang geführt wurde. Für dieses durch Halbwachs stimulierte Umdenken ist Ernst Cassirer als ein Beispiel zu nennen, der 1942/43 das Phänomen der Erinnerung als einen „Vorstellungsprozeß von überaus komplexer Natur“ würdigte, der sich keineswegs in der Vererbung erschöpfte und mit ihr hinreichend erklären ließe, sondern auch „Wiedererkennen und Identifizieren“, Abbildung, Bewahrung sowie schöpferische, d.h. konstruktive Akte umfasste. Cassirer begriff Erinnerung demnach nicht als Wiederholung bzw. schwachen „Abglanz früherer Eindrücke“, sondern als ein „neu Zusammenstellen, Organisieren und Synthetisieren“ von Daten aus vergangener Erfahrung.468 Eine andere Manifestation dieses Wandels stellt der Gedächtnis-, Erinnerungsund Traditionsbegriff Sigmund Freuds dar. 5.17.2 Halbwachs und Freud Während Halbwachs das kollektive Gedächtnis als Summe individueller Erinnerungen, das individuelle Gedächtnis aber als eine „représentation collec-
464 KANY, Mnemosyne als Programm, S. 176. 465 Götz POCHAT, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 115f., und DERS., Das Symbol in der Kunst aus der Sicht der Philosophie, Ästhetik und Kunstwissenschaft, in: Heinrich SCHMIDINGER, Clemens SEDMAK (Hg.), Der Mensch – ein „animal symbolicum“? Sprache – Dialog – Ritual, Darmstadt 2007, S. 259–286, hier S. 274f. 466 POCHAT, Der Symbolbegriff, S. 116. 467 Zuletzt wurden Warburgs theoretische Überlegungen wieder mit Halbwachs’ Theorie des „sozialen Gedächtnisses“ in Verbindung gebracht. Vgl. dazu Peter GORSEN, Zur Problematik der Archetypen in der Kunstgeschichte. Carl Gustav Jung und Aby Warburg, S. 240, S. 244, und KANY, Mnemosyne als Programm, S. 176. 468 CASSIRER, Versuch über den Menschen, S. 84–86.
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tive“, also als Surrogat sozialer Teilhabe begriff, konzeptualisierte Sigmund Freud den Gedächtnis-, Erinnerungs- und Traditionsbegriff im Hinblick auf das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem neu. Beide bezogen sich in ihren jeweiligen Ansätzen jedoch weniger auf das Medium, als auf die Gedächtnis- bzw. Erinnerungsfunktion: „Die Funktion des Gedächtnisses“, schrieb Theodor Reik (1888–1969) in Anlehnung an seinen Lehrer Freud im Jahr 1935, „ist der Schutz der Eindrücke; die Erinnerung zielt auf Zersetzung. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die Erinnerung […] [aber] destruktiv.“469 Im Sinne dieser Unterscheidung, die Reik (nicht aber Freud) zwischen Gedächtnis und Erinnerung traf, bildete das Gedächtnis ein Reservoir verdrängter unliebsamer Eindrücke, Vorstellungen und Triebregungen; es sei „seiner Natur nach unbewußt“, während jener kleine Teil, der bewusst gemacht werden könnte, uns als Erinnerung entgegen treten würde. Die einzelne Erinnerung bedeutete demnach eine „Durchlöcherung des unbewußten Gedächtnisses als Ganzes“, seine Auflösung im Bewusstwerden: „Erst wenn wir ein Erlebnis oft genug und klar genug erinnert haben, kann es unserem Gedächtnis entschwinden. Das Nichterinnerte ist psychisch unsterblich.“ Die Erinnerung aber rücke die Vergangenheit in helles Licht, „aber sie beleuchtet sie so wie die untergehende Sonne eine Landschaft, die bald im Dunkel sinken wird.“470 Theodor Reik, ein Schüler und Vertrauter von Freud, bezog sich in seiner Argumentation auf jene „Spekulation“, die sein Lehrer zunächst in der Traumdeutung geäußert und 1920 in seiner Abhandlung Jenseits des Lustprinzips wiederholt hatte, nämlich dass „das Bewußtsein […] an Stelle der Erinnerungsspur“ (‚Gedächtnisspur‘) entstünde.471 Der Akt der Bewusstwerdung durch Erinnerung sei also „durch die Besonderheit ausgezeichnet, daß der Erregungsvorgang […] gleichsam im Phänomen des Bewußtwerdens verpufft“, während die Spuren der Vergangenheit aufgrund traumatischer Schockerfahrungen „oft am stärksten und haltbarsten [wirkten], wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist.“ Durch Bewusstwerdung der unbewussten Gedächtnisspuren sei jene Reizbewältigung nachzuholen, deren Unterlassung zur Ursache der traumatischen Neurose geworden sei: „Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System [seien] miteinander unverträglich“.472 Wäre der Zwang zur Wiederholung, das Wiedererleben oder Agieren der ursprünglichere, archaische Versuch zur Erledigung traumatischer Erlebnisse, so bildete die Erinnerung den Auftakt zur psychischen Bewältigung. Erinnern sei sonach der beste Weg zum Vergessen: „Was man [umgekehrt aber, J.F.] behalten will, muß man vergessen, um es zu besitzen.“473
469 REIK, Der überraschte Psychologe, S. 132. 470 Ebenda, S. 132, S. 132f., S. 133. 471 FREUD, Jenseits des Lustprinzips, S. 25. Freud verwendet hier den Begriff der Erinnerung in der Bedeutung von Gedächtnis. 472 Ebenda, S. 25, S. 24, S. 32, S. 24. 473 REIK, Der überraschte Psychologe, S. 141.
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Die Auflösung des Wiederholungszwangs durch die bewusste Erinnerung bezog Freud zunächst auf die Individualpsyche, später auf Aspekte des kollektiven Gedächtnisses, namentlich – wie oben gezeigt wurde und weiter unten spezifiziert wird – auf die Ausbildung von Traditionen. Auf sein traumatisches Traditionsmodell, ein Modell des Unbewussten, bezog sich auch Theodor Reik, als er davon sprach, dass nicht gemeinsame Erinnerungen, sondern eher der „gemeinsame Geheimbesitz von Gedächtnisspuren, geteilter Leiden und Freuden […] die Mitglieder einer Familie, eines Volkes enger aneinander bindet und nach außen verbindet als die bewußte Tradition.“ Die „gemeinsamen Gedächtnisspuren“ und „nicht gemeinsame Erinnerungen“ seien „ein haltbares Band in den menschlichen Beziehungen.“474 Von diesem Traditionsverständnis, das Sigmund Freud in seinem Spätwerk erneuerte, setzte sich der Halbwachs’sche Traditionsbegriff – wie schon gezeigt – in mehrfacher Hinsicht ab: Während Halbwachs das soziale Gedächtnis auf die Bewusstseinsebene verlagerte und auf unbewusste Prozesse nicht Bezug nahm, bildeten Freud zufolge gerade unbewusste „Gedächtnisspuren“ das Kernelement einer aufgeschobenen Erinnerung. „Zusammengefaßt“, schrieb Halbwachs: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“ Diese Rahmen seien „aus Erinnerungen gebildet“. Sie entwickelten sich aus dem „Gedächtnis der anderen“ und dem „unveränderten Anblick der Sachen“ im Bezugsrahmen.475 In seiner individuellen Ausformung sei es eine „représentation collective“, die sich im Traum verflüchtige.476 Sigmund Freud hingegen formulierte einen Gedächtnisbegriff, der neben den bewussten Überlieferungsvorgängen auch unbewusste, unwillkürliche Modi der Transmission einbezog. Hierfür weitete er seine ‚individualpsychologische‘ Theorie auf soziale Prozesse aus. Seine Annahme bestand im Wesentlichen darin, dass Erregungsvorgänge in unbewussten Systemen „Dauerspuren als Grundlage des Gedächtnisses“477 hinterließen, die solange nicht verblassten, als sie nicht die Schwelle zum Bewussten überschritten. Diese Hypothese, die auf die Traumdeutung zurückreichte, verifizierte Freud in seiner Mann-Moses-Schrift schließlich für die Gruppe: Was die unbewussten Aspekte betraf, zeigte sich ihm nämlich, dass die auf Moses zurückreichende Tradition, anstatt mit der Zeit schwächer zu werden, immer mächtiger geworden wäre, um sich letztlich als „verschollene Tradition“
474 Ebenda, S. 133. 475 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 121, S. 144, S. 50. 476 „Der Traum beruht nur auf sich selber, während unsere Erinnerungen sich auf die aller anderen und auf die großen Bezugsrahmen des Gesellschaftsgedächtnisses stützen.“ Und wenn die Träume auch Bilder ins Spiel brächten, die den Anschein von Erinnerungen hätten, so blieben diese doch zuweilen fragmentarisch. Ebenda, S. 72. 477 FREUD, Jenseits des Lustprinzips, S. 24.
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durchzusetzen. Diese merkwürdige Tatsache führte Freud nicht allein auf bewusste Mitteilung, d.h. auf eine Art kommunikative Überlieferung zurück, sondern zudem auf eine psychische Dynamik, nämlich auf ‚Verdrängung‘ (im uneigentlichen Sinn), den Zustand des Verweilens im Unbewussten und die zwanghafte Wiederkehr des Verschollenen, kurz: auf den traumatischen Schock. Anhaltspunkte für bewusste, d.h. kommunikative Überlieferungsvorgänge im Kollektiv sah Freud darin, dass dem Alttestamentler Ernst Sellin zufolge „die Tradition vom Mord an Moses in den Priesterkreisen immer vorhanden“ gewesen sei. (MM, S. 200) Die Erinnerung daran sei durch das Gedächtnis der anderen – also im Sinne von Maurice Halbwachs durch den „sozialen Bezugsrahmen“ – geweckt worden: „Das habe ich eigentlich immer gewußt“, schrieb Freud, ‚nur nicht daran gedacht.“478 Zwischen Halbwachs und Freud als Theoretikern der Tradition zeigen sich in der Ausformulierung ihres Gedächtnis- und Traditionsbegriffs jenseits der verschriftlichten Geschichte auch Übereinstimmungen. So wie Halbwachs unterschied auch Freud zwischen „schriftlicher Fixierung“ und „Tradition“. (MM, S. 172) „Die Tradition“, so argumentierte Letzterer, „war die Ergänzung und zugleich der Widerspruch zur Geschichtsschreibung.“ Denn: „Was in der Niederschrift ausgelassen oder abgeändert worden war, konnte sehr wohl in der Tradition unversehrt erhalten geblieben sein. […] Sie war dem Einfluß der entstellenden Tendenzen weniger unterworfen, vielleicht in manchen Stücken ganz entzogen, und konnte darum wahrhaftiger sein als der schriftlich fixierte Text.“ (MM, S. 173) Freud bezog sich mit diesem Urteil auf die Motive des jüdischen Volkes, die Erinnerung an den angeblichen Mosesmord auszublenden, und auf die Absicht, den neuen Gott Jahve zu verherrlichen, die von Moses gestiftete Religion aber gleichzeitig zu verleugnen: „So kam jenes [!] erste Kompromiß zustande, das wahrscheinlich bald eine schriftliche Fixierung fand“. Die Geschichtsschreibung habe ihre Berichte nach ihren jeweiligen Bedürfnissen und Tendenzen verfasst, „unerbittliche Wahrhaftigkeit“ wäre für sie kein Auftrag gewesen. (MM, S. 172) Freud erblickte in der Tradition die Ursache dafür, dass jene Tatbestände, die „von der sozusagen offiziellen Geschichtsschreibung absichtlich verleugnet“ worden wären, im Volk weiterlebten, nämlich der wahre „Ausgang Moses“, von dem sich die Kunde im Volk erhielt, „die der offiziellen Darstellung glatt widersprach und der Wahrheit weit näher kam.“ (MM, S. 173) War das kollektive Gedächtnis für Halbwachs der „Sitz der Traditionen“, so verwendete auch Freud den Traditionsbegriff, um mit ihm das Gedächtnis von der Schrift (Geschichte) abzugrenzen. Hier erfüllte die Mündlichkeit einen delegitimierenden Zweck. Die mündliche Überlieferung war im Wesentlichen wahrhaftiger, während Geschichte für ihn manipulierend wirken konnte. Letztlich genügten aber beide – Halbwachs und Freud –
478 Sigmund FREUD, Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (Original 1914), in: DERS., Gesammelte Werke. Band X, S. 126–136, hier S. 127f.
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dem, was Marc Bloch (1886–1944) als „Leitgedanken“ der cadres-sociauxSchrift bezeichnete:479 nämlich aufgezeigt zu haben, was Kollektive eine Zeitlang zusammenhält bzw. was sie trennt. Ihre Wege waren aber verschieden: Was die „mémoire collective“ betrifft, konstituierte sich für Halbwachs „jedes individuelle Gedächtnis […] in der Kommunikation mit anderen“, war also notwendig sozial vermittelt. Das Individuum war damit nur in dem Maße sich zu erinnern fähig, als es von cadres sociaux umgeben war. Das vermittelnde Soziale stellte allerdings „nur das in Rechnung, was existiert, nicht was gewesen ist“,480 nämlich die sozialen Überzeugungen in der Gegenwart, unter deren Schirm sich das Individuum seine Vergangenheit rekonstruierte. Diese verbindende Klammer – was Halbwachs als kollektives Gedächtnis oder als Tradition bezeichnete, die für ihn das umfassten, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“481 – sah auch Sigmund Freud. Allerdings versteifte sich dieser nicht auf den präsentischen Konstruktionscharakter, d.h. auf die Erfindung von Gedächtnis bzw. Tradition. Sein Traditionsbegriff beinhaltete – wie erwähnt – auch eine Art Verwahrung in Form von unbewussten „Gedächtnisspuren“. Daneben hatte die Tradition aber immer auch „ein auf normale Weise mitgeteiltes Wissen zur Grundlage […], das vom Ahn auf den Enkel übertragen“ wurde. (MM, S. 200) 5.17.3 Viae Regiae zu Gedächtnis, Erinnerung und Tradition Wenn Sigmund Freud den Individuen und Gruppen über Theorie und Therapie neue Wege zur Selbstverfügung aufzeigte, so verfolgte er als ‚autonomengagierter‘ Wissenschaftler, als der er hier vorgestellt wird, auch das Ziel, in die unheilvollen sozialen Authentisierungsvorgänge seiner Zeit einzugreifen. Unter diesem Vorzeichen entwickelte er sein neues Traditionsmodell, in dem er sein ‚individualpsychologisches‘ Latenzkonzept auf die Gruppe anwandte: Vor Freud wurde die ‚Individualpsychologie‘ methodisch strikt von der Sozial- bzw. Massenpsychologie unterschieden. Äußerungen des Sozialen wurden auf einen nicht weiter zurückführbaren, „ursprünglichen“ und „unzerlegbaren“ Sozialtrieb bezogen.482 Diese Spaltung überbrückte Freud
479 „Jede soziale Gruppe bezieht ihren geistigen Zusammenhalt aus Traditionen, die den eigentlichen Inhalt des kollektiven Gedächtnisses ausmachen, und aus ‚Vorstellungen oder Konventionen, die aus dem Wissen der Gegenwart stammen‘.“ Und weiter: „Die Gesellschaft kann die Vergangenheit nur deuten oder gar erkennen, indem sie die Gegenwart betrachtet; und die Gegenwart besitzt ihrerseits nur einen konkreten Sinn und einen emotionalen Wert für die Gesellschaft, weil hinter ihr eine gewisse Dauer aufscheint.“ Marc BLOCH, Kollektives Gedächtnis, Tradition und Brauchtum, in: DERS., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hg. von Peter Schöttler, Frankfurt–New York 2000, S. 241–251, hier S. 244. 480 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 383. 481 Ebenda, S. 390. 482 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 74.
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in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921): Im „Seelenleben des Einzelnen“ wirkte „der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner“. Er würdigte das „Verhältnis des Einzelnen zu seinen Eltern und Geschwistern, zu seinem Liebesobjekt, zu seinem Lehrer und zu seinem Arzt“, also jene Beziehungen, die er als Gegenstand der Psychoanalyse bezeichnete, als „soziale Phänomene“,483 die er von „narzißtischen“ („autistischen“) Vorgängen unterschied. Dieser Gegensatz fiel für Freud aber in den Bereich der ‚Individualpsychologie‘. Da es für ihn keine Kollektivseele gab, behandelte er auch kollektive soziale Akte ‚individualpsychologisch‘. Weiters zeigte er in seiner Schrift Das Ich und das Es (1923) auf, dass das Ichideal (oder ‚Über-Ich‘) durch die Verinnerlichung der Vaterfigur und anderer Zensur ausübender sozialer Autoritäten bewahrt werden würde. In der Erfüllung der vom ‚Ich‘ verinnerlichten Idealforderungen des ‚Über-Ichs‘ sah er eine wesentliche Voraussetzung der narzisstischen Befriedigung, jedoch bedurfte es zur Vervollständigung des Narzissmus noch eines ständigen Sichvergleichens mit anderen. Waren die individuellen seelischen Akte aber sozial determiniert, so waren sie nicht nur Gegenstand der ‚Individual‘, sondern notwendigerweise auch einer Sozialpsychologie. ‚Individual‘- und Sozialpsychologie – außer in begrifflicher Hinsicht – voneinander zu trennen, erachtete Freud daher für unzulässig. In seiner Gedächtnisschrift von 1925 hatte sich Halbwachs indirekt auf die Traumdeutung (1900) bezogen, das jüngere Werk Sigmund Freuds aber offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Seine verkürzte Wahrnehmung der Psychoanalyse hatte weitreichende Konsequenzen: Halbwachs stufte sie als ‚sozialfrei‘ ein, als er – wohl auf Freud gemünzt – bemerkte: „Man wundert sich bei der Lektüre psychologischer Abhandlungen, in denen vom Gedächtnis die Rede ist, daß der Mensch dort als ein isoliertes Wesen betrachtet wird. Danach scheint es, als ob es zum Verständnis unserer geistigen Operationen nötig sei, sich auf das Individuum zu beschränken und zunächst alle Bindungen zu durchtrennen, die es an die Gesellschaft von seinesgleichen fesseln.“484 Wenn Freud im Hinblick auf die Ausbildung von Traditionen bewusste Stränge der Überlieferung mit unbewussten Vorgängen verknüpfte, so blieb für ihn der Eindruck der Vergangenheit – „Erinnerungsspuren“ von Vergangenem, Verschollenem, Überwundenem (dem Verdrängten „im uneigentlichen Sinn“) – in den Gruppen über das Individuum erhalten. (MM, S. 200f.) Die unbewusste Dimension verdankte sich Freud zufolge der Latenz, die eine Schnittstelle zwischen der Individualneurose und – wie am Beispiel seines Werkes Der Mann Moses gezeigt – der Religionsgeschichte darstellte. Die Verbindung zwischen monotheistischer Tradition und Latenz erklärte er hier durch den Mosesmord: Ohne Vatermord kein traumatischer Schock, ohne diesen aber keine aufgeschobene Erinnerung bzw. kein „be-
483 Vgl. ebenda, S. 73. 484 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 20.
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wahrendes Vergessen“ (Jan Assmann), ohne die Letzteren keine Latenz und somit auch keine zwanghafte „Wiederkehr des Vergessenen“ (Sigmund Freud). In der Traumdeutung zeigte er für das Individuum, dass „unsere [individuellen] Erinnerungen“ „an sich unbewußt“ seien. Spuren jener Eindrücke, die auf Individuen wirkten, könnten aber bewusst gemacht werden; hätten sie einmal das Bewusstsein erreicht, so zeigten sie „keine sinnliche Qualität“ (Symptome) mehr. Denn „alle ihre Wirkungen“ entfalteten sie im unbewussten Zustand:485 Die Bildungen des Unbewussten wirkten im Traum, in neurotischen Symptomen und in Fehlleistungen usw. Was ‚verdrängte‘ Erfahrungen betraf, so diagnostizierte Freud dasselbe für Kollektive, nämlich dass sich „der Eindruck der Vergangenheit in unbewußten Erinnerungsspuren“ (MM, S. 201) erhalten habe, um nach Jahrhunderten mit großer Vehemenz hervorzubrechen und in eine Tradition zu münden. Denn „eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter erzeugen, der den religiösen Phänomenen zukommt.“ (MM, S. 208) So nahm nicht nur Maurice Halbwachs, sondern auch Sigmund Freud die sozialen Zusammenhänge der Traditionsbildungen neu in den Blick. Letzterer vertiefte die Analyse noch durch die Hinzufügung wesentlicher psychologischer Komponenten. Beiden zufolge wurde das Wissen nicht als unveränderliche Masse verwahrt und überliefert: Für Halbwachs aktualisierte sich die Überlieferung jeweils neu, sofern dafür Bedarf bestand; für Freud konnte sie sich zwar auf bewusste Mitteilungen – mitunter Akte der Willkür – stützen; ihre machtvolle Wirkung entfaltete sie aber unwillkürlich, in Verbindung mit unbewältigten Vorfällen in der Vergangenheit, zwanghaft und unvermittelt, durch die Wiederkehr dessen, was halb vergessen wurde, aber auch nur halb bewusst war. War für Freud das Nichterinnerte psychisch unsterblich, so war die Vergegenwärtigung der beste Weg zum Vergessen. Freud und Halbwachs bezogen den Traditionsbegriff daher weniger auf Speicher- und Tradierungsvorgänge als vielmehr auf den Akt der jeweiligen Aktualisierung des Gedächtnisses: „So erklärt sich“, schrieb Halbwachs (durchaus in Konvergenz zu Freud), „daß die Traditionen und die gegenwärtigen Ideen übereinstimmen können: nämlich weil die aktuellen Ideen in Wirklichkeit auch Traditionen sind“.486
485 FREUD, Die Traumdeutung, S. 545. 486 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390. Der Augsburger Romanist Till R. Kuhnle hat darauf verwiesen, dass diese Art von Traditionsbegriff von der kritisch-rationalen Wissenschaftstheorie und in der poststrukturalistischen Theoriebildung aufgegriffen wurde. Diesen Strömungen zufolge vollziehe sich die Erneuerung auf dem Boden einer Tradition. Da sich das Neue letztlich immer als Tradition erwiesen habe, habe Paul Feyerabend z.B. die Innovation nicht als Maßstab begriffen. Analog habe Thomas S. Kuhn argumentiert, der die Veränderung einer Aufgabenstellung in den Wissenschaften – das, was später als Paradigmenwechsel bezeichnet wurde – auf Traditionen innerhalb von Teilsystemen zurückgeführt habe. Schließlich habe sich auch die Derridasche Dekonstruktion, die dieser an die Stelle von metaphysischer Sinnkonstituierung setzte, nicht von Traditionen verabschiedet. Die Bewegung
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Was Halbwachs für die Tradition im Allgemeinen zeigte, stellte Freud noch differenzierter dar. Halbwachs sprach davon, dass das Gedächtnis die soziale Funktion der Manipulation, Deformation und Entstellung individueller Erinnerungen in jeder Epoche erfüllte, um in der Gesellschaft alles auszuschalten, „was die einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte.“487 In jeder Gegenwart würden Traditionen unter der Kontrolle der Vernunft modifiziert. Das nahm auch Freud für die auf Mitteilung gegründete Tradition an. So gab es auch für ihn keine unverfälschten Bilder der Vergangenheit, die nicht dem Selektionsfilter der Vernunft unterworfen wären: „Sie [die Mitteilung, J.F.] würde angehört, beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede andere Nachricht von außen.“ Sie „erreichte [aber] nie das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens.“ (MM, S. 208f.) Da Freud das identitätsstiftende Moment aber jenseits willkürlicher Überlieferungen dieser Art verortete, entzog er die Tradition biologistisch-ethnischer Fundierung. Das, was soziale Gruppen seiner Ansicht nach zusammenhielt, waren nicht „Blut – Rasse – Volk“ (Wilhelm Schmidt), sondern unbewusste Vorgänge, die Wirkung zeigten und in denen er die Tradition verankerte. In diesem Kapitel wurde der Vorwurf zu entkräften versucht, dass sich Freud in seiner Theorie zur Ausbildung der monotheistischen Tradition auf das Vererbungsargument bezogen haben könnte. Da er (wie Halbwachs) nicht das Medium, sondern den Funktionszusammenhang von Traditionsbildungen im Auge hatte, bestand hierfür kein Anlass. Bislang habe ich meine Argumentation vornehmlich auf Freuds Äußerungen gestützt, allerdings geben auch seine Handlungen dahingehend Aufschluss: Zum einen hat Freud Teile der Massenpsychologie Gustave Le Bons radikal zurückgewiesen, zum anderen mit seinem Schüler Carl Gustav Jung gebrochen. Le Bon hatte in seinen Schriften zur Massen- und Völkerpsychologie die Auffassung von der „Rassenseele“ vertreten, die in jedem Einzelnen unbewusst wirkte und seine Individualität unabdingbar überformte: „Die bewusste Aktivität der Individuen“ träte zurück, schrieb Le Bon in seinem Werk Die Psychologie der Massen (1895), an ihre Stelle aber – als ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart – die „unbewusste Massenwirksamkeit“.488 Sie verdankte sich der „Massenseele“, die sich Le Bon zufolge „auf dem unveränderlichen und herrschenden Rassenuntergrunde“ ausbilden und gewisse neue Merkmale (Eigenschaften) aufweisen würde, die die Individuen vorher nicht besessen hätten. In der „Kollektivseele“ verwischte sich die Individualität. Massen wiesen sonach „Spezialcharaktere“ auf, die sich in
des Neuen ließe sich für ihn nur auf der Grundlage des diskursiv Vorgegebenen denken: creatio non ex nihilo. Vgl. Till R. KUHNLE, Tradition – Innovation, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. Karlheinz Barck [u.a.]. Band 6, Stuttgart–Weimar 2005, S. 74–117, hier S. 111–117. 487 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 382. 488 LE BON, Die Psychologie der Massen, S. V.
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bewussten Akten der „Kollektivseele“ zeigten, aber auf dem überwiegend „unbewussten Seelenleben“ beruhten. Die bewussten Akte leiteten sich von einem „durch Vererbungseinflüsse geschaffenen unbewussten Substrat“ her. Letzteres beinhaltete Le Bon zufolge „die zahllosen Ahnenspuren, aus denen sich die Rassenseele konstituiert[e].“ So wären es vornehmlich „die der Rassenseele zugrunde liegenden unbewußten Elemente, wodurch sich alle Individuen dieser Rasse ähneln“, und die „außerordentliche Erblichkeit“, wodurch sie sich voneinander unterschieden.489 In seiner Massenpsychologie griff Le Bon Argumente auf, die er schon ein Jahr zuvor in seiner Schrift Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung (1894) vertreten hatte, nämlich die Verknüpfung von Unbewusstem, Rasse, Vererbung und Kollektiv: Die Rasse bildete für ihn das Substrat der Völker. Die „Völkerentwicklung“ sei nicht von Institutionen bestimmt, und die Gemeinsamkeit der Glaubenslehren, Ideen, Künste wäre bloß der sichtbare Ausdruck einer unsichtbaren Seele. Die „Rassenseele“ – so auch der Titel seines ersten Kapitels – wäre durch „langsame Anhäufung erblich gewordener Eigenschaften“490 über Jahrhunderte hinweg unveränderlich geworden. Sie verschaffe sich im unterschiedlichen „Charakter“ der Völker als „Volksseele“ oder „Nationalcharakter“ Ausdruck und lenke das Geschick der Völker. Im lebenden Individuum erblickte Le Bon ein Produkt der Rasse, deren „Dauerwesen“ er durch die „lange Reihe der Toten“ begründet sah: „Sie beherrschen das gewaltige Reich des Unbewußten, das unsichtbare Reich, aus dem alle Kundgebungen des Verstandes und des Charakters stammen.“491 Von Le Bons Vorstellung einer „Massenseele“, die auf unveränderlichem „Rassenuntergrunde“ als provisorisches Wesen auftrat und vom „Reich des Unbewußten“ determiniert war, wich Sigmund Freud in seiner Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) deutlich ab: Sein unmittelbarer Kritikpunkt waren weniger die „Hauptmerkmale“, die Le Bon für das sich in der Masse befindende Individuum aufgezeigt hatte – das Individuum als hypnotisierter, „willenloser Automat“, „der Schwund der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft der unbewußten Persönlichkeit, Orientierung der Gedanken und Gefühle in derselben Richtung durch Suggestion und Ansteckung, [und] die Tendenz zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen“ –,492 als vielmehr Le Bons Vorstellung von einem hereditären Unbewussten und einer „Rassenseele“. Freud konzipierte das Unbe489 Ebenda, S. 13. 490 Gustav[e] Le BON, Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung. Berechtigte Übertragung aus dem Französischen nach der 14. Auflage (1919) von Arthur Seiffhart, Leipzig 1922, S. 12 [Original: DERS., Lois psychologiques de l’evolution des peuples, Paris 1894]. Zur Kritik an Le BON vgl. Mercedes VOLAIT, De l’anthropologie physique à ‚l’ethnographie artistique‘: Gustave Le Bon et sa ‚Civilisation des Arabes‘ (1884), in: Histoire de l’art 60 (Avril 2007), S. 101–111. 491 Le BON, Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, S. 11. 492 LE BON, Die Psychologie der Massen, S. 16.
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wusste subjektbezogen, d.h. jenseits kollektiver Heredität und rassischer Spezifizierbarkeit: „Eine gewisse Differenz zwischen der Anschauung Le Bons und der unserigen stellt sich dadurch her“, so Freud, „daß sein Begriff des Unbewußten nicht ganz mit dem von der Psychoanalyse angenommenen zusammenfällt“: „Das Unbewußte Le Bons“, notierte er, „enthält vor allem die tiefsten Merkmale der Rassenseele“, welche „für die individuelle Psychoanalyse“ nicht in Betracht zu ziehen seien.493 Das „unbewußte Verdrängte“ war in der Le Bon’schen Massenpsychologie kein Thema. Derselbe Auffassungsunterschied, der Freud von Le Bon Abstand nehmen ließ, störte auch sein Verhältnis zu Carl Gustav Jung. Das so genannte ‚Schisma‘ brach im Jahr 1913 herein. John Kerr hat diese seit 1911 sichtbar werdende Grunddifferenz zwischen Freud und Jung plastisch umschrieben: Jung scheint immer ein ‚Unbewußtes‘ gewollt zu haben, mit dem er sprechen konnte, das ihn beraten und führen und ihm sogar helfen konnte, die Spaltungen in seiner Persönlichkeit zu heilen. Freud hingegen […] scheint […] immer ein ‚Unbewußtes‘ gewollt zu haben, das er studieren konnte, wie einen geheimnisvollen Text, ein Unbewußtes, das man entziffern und auslegen mußte.494
Der Schweizer Psychiater hatte Freud in seiner Vorstellung von der subjektiven, kindlichen Ausprägung des Unbewussten widersprochen und in das Unbewusste nicht nur verdrängte Infantilreminiszenzen, sondern auch die „über die Grenzen des Individuums hinausgreifenden ,Erinnerungen der Rasse‘“ miteinbezogen.495 Jungs ‚kollektives Unbewusstes‘ war durch so genannte „Archetypen“ repräsentiert, der archaische Symbolschatz ruhte auf Vererbung und spiegelte einen mythischen Urgrund wider. Was Sigmund Freud zufolge „für die individuelle Psychoanalyse eigentlich außer Betracht“ lag, zog Jung unverkennbar in Betracht, nämlich die Vorstellung eines „Rassenunbewußten“. So ließ sich auch seine Archetypenlehre für nationalistische, chauvinistische und rassistische Zwecke verwenden und durch den Nationalsozialismus in eine völkische Interpretation überführen.496 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Freud den Königsweg zum Verständnis von kollektiver Identität durch Traditionsbildungen darin erblickte, dass unbewusste Gedächtnisspuren, solange sie nicht ins Bewusstsein gehoben würden, ein besonders haltbares Band menschlicher Beziehungen darstellten. Freuds Theorie war wohl weniger ‚sozialfrei‘ als vielmehr ‚biologiefrei‘. Die Vorstellung von einem vererbbaren „Rassenge-
493 FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 79. 494 John KERR, Eine höchst gefährliche Methode. Freud, Jung und Sabina Spielrein, München 1994, S. 406 [Original: DERS., A Most Dangerous Method. The Story of Freud, Jung and Sabina Spielrein, New York 1993]. 495 C. G. JUNG, Neue Bahnen der Psychologie, S. 270. 496 Vgl. WEGENER, Unbewußt/das Unbewußte, S. 230f., und SCHOENL, William (ed.), Major Issues in the Life and Work of C. G. Jung, Lanham, Md.– New York–London 1996.
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dächtnis“ wies er – im Unterschied zu Gustave Le Bon, Carl Gustav Jung oder Wilhelm Schmid – vehement zurück. Erklärungsbedürftig bleibt die immer wieder auftauchende Idee, dass Freud von der Vorstellung der Vererbbarkeit von Gedächtnisspuren nicht Abstand genommen habe.
5.18 H ALBWACHS
UND DAS KULTURELLE
G EDÄCHTNIS
Dank Jan und Aleida Assmann hat sich die Gedächtnisforschung in den letzten Jahrzehnten zu einem ungeheuer produktiven Schwerpunkt in den Kulturwissenschaften entwickelt. Sie darf heute den Anspruch eines theoretisch gut fundierten Forschungsparadigmas mit Methode erheben. Das mit dem Namen Assmann untrennbar verbundene Konzept des kulturellen Gedächtnisses konzentriert sich auf die Kultur als das Medium der Überlieferung. Jüngst bezeichnete Aleida Assmann das kulturelle Gedächtnis als ein Phänomen, das „von seinen lebendigen Trägern abgelöst“ existiere,497 auf materiellen symbolischen Stützen, d.h. auf materiell fixierten und institutionell stabilisierten Zeichen, ruhe, kontinuierlich übermittelt und „nicht von Epoche zu Epoche neu konstruiert wird, sondern sich über die Jahrhunderte hinweg fortsetzt.“ Seine Reichweite sei potenziell unbegrenzt, sofern die Speichertechniken standhielten und die Institutionen zuverlässig seien: „Auf diese Weise“, schreibt sie, „können Erinnerungen [auch] über die Generationsschwelle hinweg stabilisiert werden.“498 Diese Kurzdefinition verweist schon darauf, dass der Begriff des kulturellen Gedächtnisses von Halbwachs’ Kollektivgedächtnis abweicht. Halbwachs habe diese Art von Gedächtnis, so vermutet Jan Assmann, „nicht im Sinn“ gehabt. Und, so fügt er hinzu, er hätte sie „auch nicht als eine Gedächtnisform gelten gelassen.“499 Der Heidelberger Gedächtnisforscher nannte die Gründe hierfür selbst: zum einen den abgezirkelten Zeit- und Raumhorizont („ein Menschenleben“, soziale Gruppen), zum anderen dessen rekonstruktivistisch-präsentische Vergangenheitsvorstellung, d.h. den Vorrang der jeweiligen Gegenwart gegenüber der Vergangenheit. Halbwachs zufolge konnte das Gedächtnis tatsächlich die Dauer eines Menschenlebens nicht überschreiten, da für ihn der kommunikative Horizont der Tradierenden sozial, räumlich und zeitlich begrenzt war. Assmann grenzt das kulturelle Gedächtnis von Halbwachs’ Modell auf mehrfache Weise ab: Zum einen definiert er es in Bezug auf das Überlieferungsmedium. Die Wirkmächtigkeit der Vergangenheit beruht für ihn nicht notwendig auf kommunikativem Austausch von face-to-face, sondern auf materiell fixierten Zeichen und Symbolen als Medien der Überlieferung. Zu diesen zählt er von lebendiger Kommunikation entkoppelte mate-
497 ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34. 498 Ebenda, S. 53, S. 34. 499 ASSMANN, Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, S. 69, und vgl. DERS., Das kulturelle Gedächtnis, S. 34–48.
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rialisierte Texte, Bilder, Artefakte und anderes. Assmanns kultureller Gedächtnisbegriff zeugt von einer Affinität zur Schriftlichkeit, er umfasst allerdings auch andere Objektivationen wie z.B. Tänze, Spiele, Feste und Rituale. Zum anderen kann sich das kulturelle Gedächtnis nicht zuletzt aufgrund materieller Überlieferungsformen über mehr als ein Menschenleben, mitunter sogar über Jahrhunderte oder noch größere Zeithorizonte erstrecken. Die weiteren Unterschiede (Geformtheit, Zeremonialität), die Assmann nennt, können hier nicht näher ausgeführt werden.500 Differenzen sind auch in den Terminologien feststellbar: Definiert Assmann sein Zeit und Raum überschreitendes, durch kulturelle Symbole, Monumente, Jahrestage, Texte usw. objektivierbares Gedächtnis, so spricht er von kulturellem (oder kollektivem) Gedächtnis. Was Halbwachs hingegen unter kollektivem (bzw. sozialem) Gedächtnis verstand, bezeichnet Assmann als soziales Gedächtnis, dessen Reichweite er als raum-zeitlich gebunden definiert. Das kollektive Gedächtnis ist für Assmann ein Oberbegriff, es tritt für ihn als kommunikatives und kulturelles Gedächtnis hervor. Jan Assmann hat den heuristischen Horizont von Halbwachs’ Kollektivgedächtnis mit Hilfe des kulturellen Gedächtnisbegriffs beträchtlich erweitert. Im Folgenden werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten kurz erörtert. Sie zeigen sich in der Stabilität, in der zeitlichen Reichweite und der Art der Abgrenzung von Gedächtnis, Tradition und Geschichte. Halbwachs war der Auffassung, dass sich Erinnerungen nicht fixieren ließen, es sei denn als Geschichte. Das Gedächtnis besaß für ihn keine zeitenübergreifende Dimension, weil sich alles Vergangene, das den Zeithorizont eines Menschenlebens überschritt, im Akt des Sicherinnerns nicht wieder ‚verlebendigen‘ ließe. Der Blick auf das ‚Bewahrte‘ veränderte sich notwendig durch den kommunikativen Austausch in den sich fortwährend wandelnden „cadres sociaux“. Aus der funktionalen Perspektive, aus der Halbwachs das Gedächtnis untersuchte, ist der Zeithorizont der Erinnerung relativ. Werde in einer Gegenwart auf die Vergangenheit zurückgegriffen, so verschiebe sich der Zeitraum der Erinnerung mit den sich erinnernden Menschen. Daher kennt das Gedächtnis Halbwachs zufolge keine in der historischen Tiefe schimmernden Orientierungs- oder Fixpunkte. Weit zurückliegende Ereignisse, auf die immer wieder zurückgegriffen werde, seien u.a. durch die Historiografie, nicht durch das Gedächtnis fixiert. Halbwachs hatte die „Macht der Gegenwart über die Vergangenheit“ im Blick. Assmann hingegen erblickt in der „reinen Rekonstruktivität“ und dem „Präsentismus“ nicht „die ganze Wahrheit“. Daher stellt er dieser Gedächtnisform eine andere zur Seite, die der „Macht der Vergangenheit über die Gegenwart“ Rechnung trägt.501 Sie ma500 Vgl. u.a. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9–19, und die Überblicksdarstellung zum kulturellen Gedächtnis durch Nicolas PETHES, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung, Hamburg 2008, S. 59–70. 501 ASSMANN, Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, S. 79.
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nifestiert sich in unverrückbaren „Erinnerungsfiguren“, „Fixpunkten“,502 „schicksalshaften Ereignissen der Vergangenheit“, die medial durch „kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und ständige Aktualisierung durch institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung)“ wach gehalten werden. Im kulturellen Gedächtnis zeigt sich die zeitenübergreifende Wirkmacht der Vergangenheit. Es habe seine „Fixpunkte, sein Horizont wandert nicht mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt“ mit.503 Wenn Assmann von stabilen „Erinnerungsfiguren“ spricht, so heißt das nicht, dass sich die Art und Weise ihrer Aktualisierung nicht verändern würden. Auch im kulturellen Gedächtnis werde die Vergangenheit nicht als solche bewahrt, es verfahre ebenso wie das kommunikative Gedächtnis bei Halbwachs rekonstruktiv. Zwar sei es an unverrückbaren Figuren wie z.B. welthistorische, schicksalhafte Vorkommnisse, Mythen usw., an die sich Erinnerung heftet, fixiert, die Art ihrer Aneignung sei aber ebenfalls von den Anforderungen der jeweiligen Gegenwart bestimmt. Trotz der unterschiedlichen Ausgangspunkte stimmt Assmann mit Halbwachs darin überein, dass der Vorgang der Aktualisierung von Gedächtnis ein identitätsstiftender und -sichernder Akt ist. Während Halbwachs diese Gedächtnisfunktion allerdings für den kommunikativen Alltag aufzeigte, erweitert Assmann mit dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses den Blick auf die zeremonialisierte Kommunikation, d.h. ‚Erinnerungspflege‘ durch Feste und Feierlichkeiten.504 Die Vergangenheit wird dabei jeweils neu in Besitz genommen: Halbwachs zufolge in der Alltagskommunikation, für Assmann auch ohne individuellen Erfahrungsbezug. Das, was erinnert werde, ist Halbwachs zufolge immer etwas anderes, als das, was es de facto einmal war. Erinnerung lässt sich daher mit der Metapher des Palimpsests – mehrfach überschriebener Codices – verdeutlichen, da in ihr die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes ständig ‚neu beschrieben‘ wird. Sie kann nicht wiedergefunden („retrouvé“), sondern nur neu konzipiert bzw. rekonstruiert („reconstruit“) werden – und sofern dafür in einer Gegenwart Bedarf besteht, geschieht dies auch. Kurz zusammengefasst lässt sich sagen: Während Jan Assmann zufolge „Fixpunkte“ in der Vergangenheit durch das kulturelle Gedächtnis auf die Gegenwart Macht ausüben können, definierte Halbwachs die Wirkungsweise des kollektiven Gedächtnisses genau umgekehrt. So bedurfte Halbwachs’ sozial-kommunikativer Gedächtnisbegriff nicht unverrückbarer „Erinnerungsfiguren“, anerkannte er doch ein von „lebendigen Trägern“ abgelöstes, medial vermitteltes Gedächtnis nicht als Gedächtnisform. Während Assmann seinen kulturellen Gedächtnisbegriff von Tradition und Geschichte abgrenzt, Geschichte aber zugleich auch als ein Gedächtnis begreift, zirkelt 502 ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12. DERS., Das kulturelle Gedächtnis, S. 52. DERS., Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, S. 75. 503 ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12. 504 Vgl. ebenda, S. 14, und DERS., Das kulturelle Gedächtnis, S. 52.
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Halbwachs das kollektive (bzw. soziale) Gedächtnis zwar von Geschichte, nicht aber von der Tradition ab. Was Assmann als ein signifikantes Merkmal von Halbwachs’ Konzept eruiert – „das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift“ –, trifft insoweit die Halbwachs’sche Vorstellung, als dieser unter Körper die neurobiologischen Aspekte, die er ausblendet, und unter Schrift ‚histoire‘, aber nicht ‚tradition‘ begreift. Letzterer stellt die Tradition nicht dem kollektiven Gedächtnis gegenüber,505 sondern er begreift im Gegenteil das kollektive Gedächtnis als den „Sitz von Traditionen“. Sie seien ein „lebendiges Gut“, würden aber in dem Augenblick vergehen (aufgegeben, modifiziert und verformt werden), in dem sich der soziale Rahmen veränderte. Der Halbwachs’sche Traditionsbegriff bezeichnet dynamische Konstruktionsprozesse, die in jeder Gegenwart einem Wandel unterworfen sind. War Vergangenheit nicht im Gedächtnis lebender Individuen abrufbar, sondern in alten Texten, Bildern und Symbolen objektiviert, so sprach Halbwachs von Geschichte, und zwar in selektiver Auswahl und spezifischer Anordnung, nicht aber von Gedächtnis oder Tradition. Traditionen, welche die aktuellen Anforderungen nicht erfüllten, würden so sehr verblassen wie das kollektive Gedächtnis. „An dem Tage“, schrieb Halbwachs, da die Gesellschaft sich zu sehr von dem unterschiede, was sie einst gewesen war, als diese Traditionen entstanden, würde sie in sich nicht mehr die nötigen Elemente zu ihrer Rekonstruktion, ihrer Befestigung und Wiederherstellung finden. Sie wäre dann wohl gezwungen, sich an neue Werte zu hängen, d.h. sich auf andere Traditionen zu stützen, die die gegenwärtigen Bedürfnisse besser erfüllten. Ein solches Wertungssystem hätte sich dann aber im Rahmen ihrer alten Vorstellungen und unter dem Deckmantel ihrer traditionellen Ideen allmählich entwickelt.506
So deckte sich Halbwachs’ präsentischer Traditionsbegriff weitgehend mit dem, was er der Gedächtnistheorie vermachte, nämlich einem nichtbiologischen, auf das Individuum bezogenen, kollektiven (bzw. sozialen) Gedächtnisbegriff. Assmann zieht den Begriff des kulturellen Gedächtnisses dem Traditionsbegriff vor, um mit ihm auf „das Kontinuum“ aufmerksam zu machen, das die verschiedenen Gedächtnisformen, das individuelle, das sozial vermittelte, kollektive oder kommunikative sowie das kulturelle Gedächtnis, miteinander verknüpft.507 Nur weil es „erfundene Traditionen“ gäbe, so argumentiert Assmann zu Recht, seien Traditionen jedoch nicht grundsätzlich erfunden, gäbe es doch Vergangenheiten, „die sich schlechterdings weder vergessen noch verschleiern“ ließen, so „störend“ und „so wenig lebensdienlich sie der sich erinnernden Gegenwart erscheinen mögen.“508
505 506 507 508
Vgl. u.a. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 45. HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 350. ASSMANN, Das kollektive Gedächtnis zwischen Körper und Schrift, S. 80. Ebenda, S. 77.
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5.19 R ESÜMEE Maurice Halbwachs und Sigmund Freud erblickten im Gedächtnis die Stütze des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die sich durch die „cadres sociaux“ bzw. durch das besonders haltbare Band unbewusster „Gedächtnisspuren“ als tragfähig erwies. Der Wert dieser Modelle besteht im Versuch, Mittel aufzubieten gegen das, was von diskursprägenden Teilen der Wissenschaft ihrer Zeit als identitätsstiftendes Vehikel betrachtet wurde, nämlich gegen das Bestreben, Gemeinsamkeit auf ‚Blut‘ zu gründen oder die ‚Kultur‘ so zuzurichten, dass sie ein ‚natürliches‘ bzw. substanzielles Unterscheidungsmerkmal darstellte. Gustave Le Bon nahm noch eine Unterscheidbarkeit der Individuen aufgrund der Erblichkeit der „Rassenseele“ an, und Freuds antisemitische Zeitgenossen Schmidt und Menghin sprachen von der „Wesenverschiedenheit“ der Juden infolge von kultureller Differenz. Halbwachs und Freud konzipierten das Gedächtnis weitgehend funktional. Ihr Augenmerk richtete sich vornehmlich auf zweierlei: auf das Individuum als erinnerndes Subjekt und auf die Gedächtnisfunktion, die auf der Grundlage spezifischer Theorien soziologischer und psychologischer Art untersucht wurde. Beide verloren dabei die jeweiligen Träger bzw. Akteure der Übermittlung nicht aus dem Blick. Die kollektive Dimension des Gedächtnisses ergab sich für Halbwachs durch die kommunikativen Akte. Auch für Freud war es kein vererbtes „kollektives Unbewusstes“, das Traditionen hervorbrachte und auf zeitlicher Schiene voneinander entfernte Subjekte miteinander verband: „In welcher psychischen Form dies Vergangene während der Zeit seiner Verdunkelung vorhanden war“, so notierte Freud, „wissen wir zunächst nicht zu sagen.“ (MM, S. 241) Ihre Ansätze blieben damit einerseits fragmentarisch (Freud), anderseits zeitlich und auf soziale Gruppen beschränkt (Halbwachs). Durch das Konzept des kulturellen Gedächtnisses haben Jan und Aleida Assmann der Gedächtnisforschung neue heuristische Impulse gegeben und sie im kulturwissenschaftlichen Feld fest verankert. Sie definierten das Gedächtnis als einen „Fundus von Erfahrung und Wissen“, der „von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger übergegangen ist“.509 Diese Speicherfunktion wird durch ein „Funktionsgedächtnis“ erweitert, das dafür Sorge trägt, dass ein ausgewähltes Inventar durch Institutionen der Kanonisierung, Vermittlung und öffentlichen Inszenierung dem individuellen Gedächtnis nicht entschwindet.510 So erfüllt das kulturelle Gedächtnis eine identitätsstiftende und -sichernde Schlüsselfunktion, die für verschiedene Untersuchungsbereiche analysiert wurde. Die Gedächtnisforschung ist mittlerweile etabliert, sie hat viele Defizite in der Aufarbeitung
509 ASSMANN, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34. 510 Vgl. ebenda, S. 54–58, und Aleida ASSMANN, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 32006 (Original 1999), S. 130–145.
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der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts offengelegt und behoben. Im 21. Jahrhundert steht sie wieder auf dem Prüfstand: Davon zeugt zum einen die medial geführte provokative Debatte um die so genannte „Pflichtübung“ „Erinnerungsdienst“ (Martin Walser)511, zum anderen werden neue wissenschaftliche Herausforderungen zu bewältigen sein: Im Besonderen wäre – nicht zuletzt aufgrund vieler von tiefsitzenden kollektiven Feindbildern geprägten Handlungen in der Gegenwart – zu fragen, welche Akteure auf welcher sozialen, politischen oder juristischen Grundlage mit welcher Motivation, mit welchem Ziel und zu welchen Zeiten „Objektivationen sprachlicher, bildlicher und ritueller Formung“ (Jan Assmann) auswählten und Diskurse darüber aktualisierten, um sie den nachfolgenden Generationen als handlungsleitende kulturelle Mitgift vorzugeben.512 So wie Freud Traditionsbildungsmechanismen neu reflektierte, um zerstörerische Authentisierungsprozesse zu unterwandern, könnte auch die Gedächtnisforschung auf der Grundlage der erbrachten Vorleistungen die Chance ergreifen, den reflexiven Zugriff auf Vorgänge sozialer Selbstvergewisserung, die nicht zuletzt auch in EUropa zunehmend wieder mit Wertkonstruktionen (Selbstaufwertungen durch Abwertung anderer) verknüpft werden, zu verstärken. Ist es daher nicht an der Zeit, den Zusammenhang von Identitätsbildung und Historiografie als Wissenschaft im Hinblick auf seine Erinnerungsfunktion neu zu durchdenken, zu diskutieren und zu bewerten?
511 Martin WALSER, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1998, Frankfurt am Main 1998, S. 7–28, hier S. 17–20. 512 Vgl. Gabriele DOLFF-BONEKÄMPER, Erinnerungstopographien und Gedächtniskollektive, in: Moritz CSÁKY, Elisabeth GROSSEGGER (Hg.), Jenseits von Grenzen. Transnationales, translokales Gedächtnis, Wien 2007, S. 63– 73, hier S. 69.
6. Schluss
6.1 D IE B EGLAUBIGUNGS - UND ANREGUNGSFUNKTION DER I DENTITÄTSWISSENSCHAFTEN „Geschichte und Gedächtnis“, schreibt der Historiker Peter Burke, „sind offenbar in zunehmendem Maße problematisch geworden“,1 da sowohl die Erinnerung an die Vergangenheit als auch das Schreiben darüber kaum noch jene Unschuld besäßen, die ihnen einst zugestanden worden sei. In beiden Vermittlungsarten werde Vergangenes im zeitlichen Abstand zum Ereignis im Hinblick auf eine Gruppe, die sich selbst zu ‚finden‘ versucht, selektiv vergegenwärtigt, gedeutet und entstellt. Während Maurice Halbwachs noch der Ansicht war, dass die Historiografie objektiver als das Gedächtnis verfahren würde, und Pierre Nora die Opposition von ‚histoire‘ und ‚mémoire‘ weiter aufrechterhält,2 wird Geschichte heute vielfach nicht anders als das Gedächtnis behandelt: Burke zufolge vermittelt sie ein „soziales Gedächtnis“. Sie sei ein Produkt sozialer Gruppen, die darüber bestimmten, was andenkenswert sei und wie es erinnert werde. Als identitätsstiftende Akteure hätten Historiker unterschiedlicher Zeiten und Räume die verschiedenen Aspekte der Vergangenheit „je nach der in ihrer Gruppe vorherrschenden Optik“ bewahrt.3 Auch Jan Assmanns Theorie des „kulturellen Gedächtnisses“ zielt insbesondere darauf, die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis zu überwinden, indem er in ihr „von der unaufgebbaren Perspektivität bzw. Identitätsbezogenheit jeder sinnproduzierenden Form von Vergangenheitsbezug“ ausgeht. In diesem Sinne bewertet er die Geschichtswissenschaft als eine „Form des ‚sozialen‘ oder ‚kollektiven‘ Ge-
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Peter BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis (Original 1989), in: Aleida ASSMANN, Dietrich HARTH (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289–304, hier S. 289 und vergl. DERS., Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt am Main 2005, S. 97–100 [Original: DERS., What is cultural history, Cambridge 2004]. Vgl. Pierre NORA, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998 (Original 1984). BURKE, Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 290.
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dächtnisses“.4 Im 21. Jahrhundert steht der Funktionszusammenhang von Historiografie, Gedächtnis/Erinnerung und Identität, d.h. auch mit der Politik, wieder auf dem Prüfstand.5 Insbesondere die Geschichtswissenschaft ist als die ‚offizielle Hüterin‘ des Gedächtnisses herausgefordert. Ihre Funktion der Identitätsbeglaubigung und -sicherung steht seit geraumer Zeit außer Zweifel. Vor diesem Hintergrund soll hier daher auf ein weiteres Potenzial der Historiografie verwiesen werden, nämlich auf ihre „Anregungsfunktion“6. In der jüngeren Vergangenheit wurden kollektive Identitäten häufig national gefasst.7 Die nationale Identität sei, so Burke, „zweifellos ein wichtiges Forschungsgebiet“, dennoch sei es offenkundig, „daß selbst in unserer modernen Welt der Nationen andere Arten kultureller Identität weiter Bedeutung haben“, wie z.B. Identitäten regionaler, sozialer und geschlechtsspezifischer Art, die „bisweilen als ‚postmodernes‘ Phänomen“ klassifiziert worden seien. Diese Identitätskonzepte bewertet Peter Burke als „Rivalen der nationalen Identität“ von historischer Tiefe und Tragweite.8 Ausgehend vom „Paradigma Zentraleuropa“ zeigt Moritz Csáky, dass die mit dem nationalen Narrativ rivalisierende – und dieses subversiv unterwandernde – unsichere, verdächtige und dubios hybride Verfasstheit der Kultur von einer im Sinne der „nationalen Teleologie“ verfahrenden Historiografie weitgehend übersehen wurde. Mit ihr seien sprachlich-kulturelle Eigenarten, die keineswegs nationale Spezifika darstellten, in der Vergangenheit national verklärt worden. Ebenso sei auch das Gedächtnis (d.h. identitätsstiftende Zeichen, Symbole, Codes), das per se von übernationaler Provenienz und Relevanz sei, im nationalen Bezugsrahmen aktualisiert und von der Historiografie bis heute in dieser Form überliefert worden. Auch die Geschichtsschreibung habe das Narrativ einer Identität der Nation zur Stabilisierung kollektiver Selbstbilder beglaubigt und die Sicht auf die tatsächliche soziale Praxis pluralistischer, der Nationalisierung widerstrebender Identitätsentwürfe verstellt.9 Dem Historiker, der sich der Problematik der identitätsstiftenden Funktion der Wissenschaften zuwendet, bieten sich mehrere Ausgangspunkte:
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Jan ASSMANN, Gedächtnis, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Stuttgart 2003 (Universal-Bibliothek 503), S. 97–101, hier S. 97, S. 100. Vgl. Helmut KÖNIG, Politik und Gedächtnis, Weilerswist 2008. Jürgen HABERMAS, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: DERS., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt am Main 1976 (stw 154), S. 92–126, hier S. 107f. Vgl. u.a. ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 32005. GELLNER, Nationalismus und Moderne, 1991. Eric HOBSBAWM, Nationen und Nationalismus, Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt am Main 32005. BURKE, Sprache und Identität im Italien der Frühen Neuzeit, S. 9. Vgl. CSÁKY, Culture as a Space of Communication, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung].
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Zum einen kann er die Auffassung vertreten, dass es nicht seine Aufgabe sei, Orientierungen für das, was erinnernswert ist, zu liefern. Mit dieser Haltung steht er zumeist auf dem Standpunkt, dass Wissenschaft und Politik unverträglich seien, läuft dabei aber Gefahr, die „Beglaubigungsfunktion“10 der modernen ‚Identitätswissenschaften‘ aus dem Blick zu verlieren oder – überspitzt gesagt – sich selbst unversehens in der Rolle des Steigbügelhalters der Politik wiederzufinden. Zum anderen kann sich der Historiker als Wissenschaftler bewusst als ein – politische Inhalte beglaubigender – Identitätskonstrukteur profilieren. Nahmen österreichische Wissenschaftler in der Vergangenheit das Angebot der Politik an, so waren sie zunächst vor eine Entscheidung gestellt: Sie konnten entweder das zentralistische Identitätsnarrativ der so genannten ‚Staatsnation‘ stützen oder jenes der ‚Kulturnation‘, d.h. der Aufspaltung der kulturell verflochtenen Welt in vermeintlich natürliche, in sich ‚artgleiche‘ Parzellen. Das mit der Anteilnahme an der Stiftung einer staatsnational-inklusiven oder kulturnational-exklusiven Identität verbundene Risiko des Autonomieverlusts war allerdings zugleich auch mit der Chance politischer Ressourcenmobilisierung verknüpft. Schließlich kann sich der Historiker der „Beglaubigungsfunktion“ der Wissenschaft auch analytisch nähern und aufzeigen, was der Anteil der Wissenschaft an der Modellierung nationaler Identitäten durch reduktive, verzerrende und affirmative Aneignung der Vergangenheit war; wie und wie sehr die Wissenschaften als Konstrukteure wirkten, worin die mit dieser Tätigkeit verbundenen Konfliktlinien bestanden bzw. (umgekehrt) welche integrationsfördernde bzw. konflikthemmende Alternativen sie gegen unheilvolle Identitätsprojektionen aufboten. Im Hinblick darauf könnte die Wissenschaftsgeschichte die eingangs erwähnte „Anregungsfunktion“ durch eine kritisch distanzierte Aufarbeitung des beglaubigenden Wissenschaftshandelns erfüllen. Diese Arten des Zugriffs ergeben sich, weil zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit Analogien feststellbar sind: In der Vergangenheit standen der Wissenschaft zumindest drei Wege mit der Politik umzugehen offen, nämlich – wie in der Einleitung dieser Arbeit aufgezeigt – der absolut autonome, der heteronome und der ‚autonom-engagierte‘ Weg. Die Untersuchung hat gezeigt, dass allein jene Wissenschaftler, die Politik und Wissenschaft als zwei verschiedene Handlungsfelder auffassten, die (relative) Autonomie der Wissenschaft am weitesten zu steigern und damit zugleich wissenschaftsinterne Akzente von eminenter politischer Tragweite zu setzen vermochten. Dieser Typus ‚autonom-engagierter‘ Wissenschaftler, dem hier verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet wurde, intervenierte, indem er innerhalb des Feldes der Wissenschaft Mittel aufbot, um in einer Art „Politik der Anti-Politik“ machtpolitischen Asymmetrien angemessen fundiert beizukommen und den heraufziehenden antidemokratischen Tendenzen Wi-
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HABERMAS, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, S. 107f.
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derstand zu leisten:11 Hans Kelsen konzipierte eine Theorie, der zufolge staatliche Identität keineswegs der substanziellen Homogenität eines Volks, sondern vielmehr bestimmter Handlungen der demokratischen Rechtserzeugung bedurfte. Sigmund Freud zeigte mittels seiner ‚individualpsychologisch‘ verfahrenden Sozialpsychologie Wege auf, Vorgänge kollektiver Identitätsbildung, die ebenfalls mit Vorstellungen von substanzieller Gleichheit bzw. Wesensverschiedenheit sowie aggressiven Übergriffen verbunden waren, über Bewusstmachung zu schwächen. In dieser Arbeit wurden die Positionen von Freud und Kelsen als exemplarische Markierungspunkte in einem Feld kritisch-reflexiver Theoriebildung den dominierenden Auffassungen in den jeweiligen Disziplinen gegenübergestellt: Der juristische Ansatz Kelsens, der einen Weg aufzeigte, in plurikulturellen Staaten Identität zu stiften, ohne ausgrenzend zu wirken, wurde diachron und vergleichend in den Staatsrechtsdiskurs eingebettet, Freuds sozialpsychologische Theorie in einer synchronen Kontextualisierung mit den tonangebenden wissenschaftlichen Identitäts- bzw. Alteritätsmodellen seiner Zeit konfrontiert. Die ausgewählten Theorien wurden weniger auf ihren Wahrheitsgehalt als vielmehr auf den gesellschaftlichen ‚Mehrwert‘ ihrer Ausbildung überprüft. Auch wenn Kelsen und Freud ihr Ziel zunächst nicht erreichten, so agierten sie doch verantwortungsvoll und reflexiv. Sich der Ambivalenzen wissenschaftlicher Autonomisierung bewusst, – dass nämlich die durch eine ‚erlaubte‘ Autonomie verbesserte Forschung auch eine Ressource für autokratische Machthaber darstellen konnte (Mitchell G. Ash) – setzten sie im wechselvollen, langwährenden Ablösungsprozess der Wissenschaft von der Politik einen entscheidenden Schritt: Sie agierten unbeschadet des vorherrschenden „methodologischen Nationalismus“ (Anthony D. Smith) nicht als Handlanger der Herrschenden – also nationale Identitäten beglaubigend –, sondern anregend, selbstbewusst und relativ autonom. Zum Ergebnis dieser Untersuchung führten mehrere Perspektivenwechsel in der historischen Analyse: zum einen die Zurückweisung der verkürzenden ‚vulgärmarxistischen‘ Folgerung – von den soziokulturellen Verhältnissen auf das Handeln zu schließen – zugunsten des Modells des relativ autonomen Wissenschaftsfeldes, dem zufolge jeder einzelne Forscher für sich selbst entscheidet, mit anderen Mächten (wie z.B. der Politik, der Wirtschaft, der Kirche) als heteronomer Akteur Allianzen zu schließen oder die Autonomie unter machtkritischem Vorzeichen so weit wie möglich aufrechtzuerhalten bzw. auszudehnen. Dadurch wurde der Blick auf Handlungsspielräume im Wissenschaftsfeld erweitert. Zum anderen wurde durch den Rückgriff auf das Paradigma der ‚Verflechtungsgeschichte‘ und auf das, was aus postkolonialer Perspektive als ‚plurikultureller Ansatz‘ (Anil Bhatti) definiert wird, jene vielfach unterbeleuchtete wissenschaftliche Pra-
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Vgl. FEICHTINGER, MÜLLER, Kelsen im wissenschaftshistorischen Kontext, S. 212.
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xis zu konturieren versucht, die sich nicht dem nationalen Bezugsrahmen methodischer Letztbegründung fügte, sondern im Zeichen eines ‚methodologischen Plurikulturalismus‘ ganz anders geartete, am Dialogischen orientierte Beschreibungssysteme entwickelte. In dieser Arbeit wurde ein Handlungsmodell einer Wissenschaftlergruppe rekonstruiert und ‚erinnert‘, das die Wissenschaften auf neue Wege führte mit dem Ziel des konstruktiven Umgangs mit Vielfalt, Identität und Differenz. Durch die Vergegenwärtigung solch vergangenen Wissenschaftshandelns könnten die historischen Wissenschaften jenseits ihrer früheren „Beglaubigungsfunktion“ eine „Anregungsfunktion“ erfüllen und etwas wiederentdecken, das – in Anbetracht der Herausforderungen, vor denen ein plurikulturelles Europa steht – heute genauso aktuell ist wie schon damals.
6.2 E UROPA UND DER METHODOLOGISCHE
N ATIONALISMUS
Europa befindet sich im Wandel: Beruhte es lange Zeit auf der wirtschaftlichen Kooperation souveräner Nationalstaaten, so wird es seit einem Jahrzehnt – spürbar insbesondere seit der Einführung einer gemeinsamen EUWährung – auch als nationenübergreifende ‚Identitäts-‘ bzw. ‚Wertgemeinschaft‘ vorgestellt. Auffallend ist, dass in der eifrigen Suche nach einer europäischen ‚Wir-Gruppe‘ wieder Denkfiguren auftauchen, die von der jüngeren Nationalismusforschung als nicht ungefährliche Charakteristika der Nationalisierungsprozesse enthüllt wurden: ein organizistisches Kulturverständnis, das nach Wurzeln gräbt, ein essenzialistischer Identitätsbegriff, der auf ‚substanzielle Gleichheit‘ abzielt, und die Kongruenz einer solcherart naturalisierten Kultur mit dem scharf umgrenzten Territorium EUropa.12 Während rein ideelle, raumentbundene Europabegriffe, wie u.a. jener von Paul Valéry, vergessen scheinen, wird wieder an Vorstellungen eines „umzirkelten Raums Europa“ angeknüpft, die eindeutig nationalistischer Provenienz sind und nicht zuletzt im Nationalsozialismus auf fatale Weise Verwendung fanden.13 Die politische Aufgabe, ein vereintes Europa zu ‚bauen‘, bringt das Problem auf den Punkt. Im Artikel 1-5 des Vertrags über eine Verfassung für Europa (2004) heißt es: „Die Union achtet […] die nationale Identität der Mitgliedstaaten […]. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und unterlassen alle Maßnahmen, welche die
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Vgl. dazu Johannes FEICHTINGER, Europa, quo vadis? Zur Erfindung eines Kontinents zwischen transnationalem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, in: Moritz CSÁKY, Johannes FEICHTINGER (Hg.), Europa – geeint durch Werte? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007, S. 19–43. Vgl. Victor KLEMPERER, LTI. Notizbuch eines Philologen, Stuttgart 2007 (Original 1947), S. 213–222, hier S. 219.
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Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“14 Die erste Bestimmung der ‚Einheit‘ scheint dem Ziel gewidmet, im Vereinigungsprozess klare Grenzen nicht zu überschreiten. Die „nationale Identität“ ist für die „Mitgliedstaaten“ der EU ein schützenswertes, nicht anzutastendes Gut. Daher bleibt der Balanceakt der Koexistenz des Europäischen mit dem Nationalen eine fortwährende Herausforderung, Ängste vor dem Verlust der allzu lieb gewonnenen Nationalstaatsidee verlangen Zugeständnisse. Waren seit dem 19. Jahrhundert Sprache, Kultur und Volk symbolische Mittel zur Markierung der nationalen Grenzen, so sind es im jüngsten Diskurs zusätzlich ‚transnationale‘, als europäisch klassifizierte Werte – „emotional stark besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte“15, mit denen Identität und Verbindlichkeit gestiftet werden.
6.3 E UROPA UND
SEINE
W ERTE
Die Aufgabe, Europa neu zu bauen, scheint für manche Intellektuelle keine Herausforderung zu sein. Man habe sich doch nur an historischen Vorbildern zu orientieren: „Alle suchen nach Werten – dabei sind sie längst da!“ Das Buch, dem dieser Satz entnommen ist, bemüht sich um ein „Gegenbild“ zur „grassierenden Beliebigkeit“ „partikularer Interessen“ und präsentiert in „zwanzig spannenden Entdeckungsreisen [...] quer durch Epochen und Nationen, durch Mythologie und Philosophie, Literatur und Theologie, Folklore und Popkultur“ einen „Kanon europäischer Werte“. Es „entführt“ den Leser „in den Wertekosmos der europäischen Geistesgeschichte“, weil dort die „Seele unserer Kultur“ zu finden sei.16 Die europäische „Seelensuche“ hat Konjunktur wie selten zuvor,17 steht es doch – hochrangigen Europapolitikern zufolge – nach wie vor an, „Europa eine Seele“ zu geben.18 Sind ‚gemeinsame Werte‘ aber tatsächlich ein brauchbares Mittel, um die Zielvorgabe einer „friedlichen Zukunft“ zu erreichen, oder wird mit der Idee der Wer-
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Artikel I-5: Beziehungen der Union und den Mitgliedstaaten (Teil I, Titel I), in: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Veröffentlicht am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 310). Hans JOAS, Die kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung, in: DERS., Klaus WIEGANDT (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 22005, S. 11–39, hier S. 15, und vgl. DERS., Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997. Peter PRANGE, Frank BAASNER, Johannes THIELE, Werte. Von Plato bis Pop. Alles, was uns verbindet, München 2006 (Klappentext). Vgl. Tamara EHS, Im Zweifel. Über die Suche nach der europäischen Seele, in: Peter CASNY (Hg.), Zur Zukunft der europäischen Integration. Wahrheiten über Europa, Hamburg 2008 (Politica – Schriftenreihe zur politischen Wissenschaft 72), S. 119–130. Vgl. die Initiative „Europa eine Seele geben“. José Manuel BARROSO, A Soul for Europe, Rede gehalten bei der Konferenz „Europa eine Seele geben“, Berlin 17. November 2006, www.asoulforeurope.eu [Zugriff: 01.03.2010], und Erhard BUSEK, Eine Seele für Europa. Aufgaben für einen Kontinent, Wien 2008.
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tegemeinschaft nicht ein älteres Integrationsmodell neu aufgegriffen, mit dem durch die wechselseitige Verstärkung von nationalen und europäischen Strängen die aus dem ‚nation-building‘ des 19. Jahrhunderts bekannte, überwunden geglaubte Identitätslogik von Inklusion und Exklusion im neuen ‚doppelbödigen‘ politischen Gefüge wieder belebt wird? Die Anzeichen sind unübersehbar, dass mitunter auch Vertreter der Wissenschaften an diese mehr als prekären Vorläufer anknüpfen, wenn auch mit dem ‚kleinen‘ Unterschied, Werkmeister einer nun ‚transnationalen‘ Nation namens Europa zu sein. Damit sind jedoch Konflikte regelrecht vorprogrammiert: Im Inneren Europas geraten beispielsweise die so genannten Immigrant Communities durch die Art, wie der Wertediskurs zurzeit geführt wird, in Gefahr, zur Bedrohung erklärt und der Assimilations- und Dissimilationslogik unterworfen zu werden. Was das europäische Außen betrifft, so besteht für eine nach dem Modell der Nation gebaute EU, die ihre Werte verabsolutiert, das Risiko, Afrika und Asien bestenfalls zu ignorieren, schlechtestenfalls aber, sich ihm gegenüber zu verriegeln. Das Argument der angeblichen Unvereinbarkeit europäischer Werte mit der überwiegend moslemischen Türkei ist das sichtbarste Beispiel hierfür. Die Rede von der „Festung Europa“19 ruft vielleicht nicht zu Unrecht Erinnerungen an die Sprache des Dritten Reiches wach. Die wichtigsten Topoi, auf die in der europäischen Wertedebatte rekurriert wird, lauten Rationalität und Säkularisierung einerseits, Zivilgesellschaft, Individualautonomie und Gleichberechtigung anderseits. Offiziell beruft sich EUropa auf die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“20, die zu unverwechselbaren „Werten der Union“ stilisiert werden, weil sie – wie es in der Präambel des Verfassungsvertrages heißt – „aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas [stammen], aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ als „universelle Werte entwickelt“ hätten.21 Die Haltung, die hier zum Ausdruck kommt, scheint jener des deutschen Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) nicht unähnlich, der auf einer Tagung über „Reason and Ima-
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KLEMPERER, LTI. Notizbuch eines Philologen, S. 219. Artikel I-2: Die Werte der Union (Teil I, Titel I), in: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Veröffentlicht am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 310). Die „Werte der Union“ werden in dem Verfassungsvertrag zum Kriterium für den Beitritt zur Union erhoben (Titel IX, Zugehörigkeit zur Union, Artikel I-58). In den Schlussbestimmungen (Titel VI) der Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Juni 2007) heißt es: „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.“ (Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Brüssel, 21.–22. Juni 2007. Änderungen des EU-Vertrags, Anlage 1, Titel I.) Präambel, in: Vertrag über eine Verfassung für Europa. Vgl. auch Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Brüssel, 21.–22. Juni 2007. Änderungen des EUVertrags, Anlage 1, Titel VI.
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gination“ im Jahr 1991 die „europäische Rationalität“ zu definieren versuchte und „am Thema Rationalität die distinkte Einheit einer europäischen Tradition“ aufzeigte, in der er das, „was sich als spezifisch modern abzeichnet“, repräsentiert sah. Konnte Luhmann vor mehr als anderthalb Jahrzehnten noch weitgehend gefahrlos vom „Reflexionsvorteil der europäischen Rationalität“ sprechen,22 so müsste er sich heute wohl den Vorwurf des ‚Eurozentrismus‘ gefallen lassen. Der Vertrag von Lissabon (2007) hält an der Vorstellung der im „Erbe Europas“ verankerten „universellen Werte“ fest.23 Der renommierte Cambridger Sozialanthropologe und Kulturwissenschaftler Jack Goody verweist darauf, dass es „einer der beunruhigendsten Mythen des Westens“ sei, dass sich die Werte „unserer jüdisch-christlichen Zivilisation“, die Europa entscheidend prägten, von jenen des Ostens im Allgemeinen und denen des Islam im Besonderen unterschieden.24 Im Gegenteil, so Goody: „Western Democracy has hijacked many of the values that certainly existed in other societies, humanism, and the triad individualism, equality, freedom as well as the notion of charity that has been seen as a particularly Christian virtue.“ Und – so fügt er hinzu: „rationality“. Wertvorstellungen dieser Art seien weder ausschließlich mit der modernen Demokratie noch mit dem Westen verknüpft.25 So stellt sich die Frage, ob der Wertediskurs, der für Europa vereinnahmt, was sich auch anderswo entfaltete und heute von globaler Relevanz ist, nicht nur einen weiteren Baustein im Gebäude des Eurozentrismus darstellt. Zweifelsohne haben Demokratie, Individualismus und Humanismus unter spezifischen Herrschaftsverhältnissen in Europa signifikante Ausformungen erfahren, zu überlegen wäre allerdings, ob mit der Annahme „basaler kultureller Werte Europas“ nicht die außereuropäischen ‚Anderen‘, denen Säkularität, Gleichheit, Freiheit, Solidarität usw. ebenso wertvoll waren und sind, um diese Werte „bestohlen“ wurden, wie es Jack Goody formuliert.26 Was die wertbezogene Inklusions- und Exklusionslogik kennzeichnet, ist die Hoffnung, durch „Werte“, die als europäisch, und solche, die als nichteuropäisch betitelt werden, klare Grenzen ziehen zu können. Diese dichotomen Konstruktionen, die Europa wieder prägen und zuweilen nur ungenügend reflektiert werden, hat Benedict Anderson schon im Titel seiner berühmten Studie Die Erfindung der Nation27 auf den Punkt gebracht.
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Niklas LUHMANN, Europäische Rationalität, in: DERS., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 51–91. Den Hinweis auf dieses Zitat von Luhmann verdanke ich der Kulturwissenschaftlerin Sabine Müller. Vgl. Präambel, in: Vertrag von Lissabon. Veröffentlicht am 17.12.2007 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 306). Jack GOODY, The Appropriation of Values. Humanism, Democracy, and Individualism, in: DERS., The Theft of History, Cambridge 2006, S. 240–266, hier S. 240. DERS., The East in the West, Cambridge 1996. DERS., Islam in Europe, Cambridge 2003. GOODY, The Appropriation of Values, S. 240, S. 266. Vgl. Jack GOODY, The Theft of History, 2006. ANDERSON, Die Erfindung der Nation, 32005.
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6.4 ‚N ATION ‘ E UROPA ? Die EU-Integration wurde und wird zwar im Zeichen des ‚Transnationalen‘ betrieben, die aktuelle ‚Erfindung‘ Europas ist allerdings – wie erwähnt – von Anleihen beim nationalen Modell keineswegs gänzlich frei. Das ist nicht verwunderlich, hat sich doch der Ansatz der ‚Transnationalität‘ – wie gezeigt wurde – nicht allzu weit von der Nation entfernt: Die Nation spielt auch für sie „eine bedeutsame, sogar eine definierende Rolle“.28 Zugleich wird der Ruf nach Europa-Geschichten, die von verbindlichen Werten erzählen, zusehends lauter. Und nicht selten werden Letztere in einer vornehmlich christlichen Tradition, in der Aufklärung und der so genannten Moderne gefunden. Was heute von globaler Bedeutung ist (wie z.B. die Unverletzbarkeit von Grund- und Menschenrechten), wird als spezifisch europäisch deklariert, um zwischen Europa und seinem Anderen neue Mauern aufzuziehen. In Bezug auf die Schaffung eines neuen europäischen Selbstverständnisses sind zwei Europabegriffe fest etabliert: ein raum- und ein identitätsorientierter. Beiden ist der Blick von innen nach außen, auf die Grenzen eigen. Sie sind ‚Wir-Begriffe‘. In diesem Sinne kann Europa geografisch-kulturell (östlich der polnischen Ostgrenze, nordöstlich der Türkei, nördlich des Maghreb) oder diskursiv (als Raum der Latinität, als Aktionsfeld der Aufklärung und der Moderne) definiert werden. Gemeinsam laufen sie auf eine Vorstellung hinaus, die der Historiker Jürgen Osterhammel als das „Essenz-Modell“ Europas bezeichnet, das sich auf „distinkte kulturelle Wesenszüge“29 konzentriert. Aus diesem essenzialistischen Blickwinkel wird Europa als „Wiege der Zivilisation“ verstanden und als „Leitkultur“ entworfen. Zugleich kehren bekannte Authentisierungsnarrative wieder: Wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert das Konzept der Abstammung – ‚Volkstum‘, ‚Ethnizität‘, ‚Rasse‘ – sowie Sprache und Kultur als Argumente angeführt, um beispielsweise „deutsch“ von „nichtdeutsch“ abzugrenzen,30 so wird diese Abgrenzungsfunktion im EUropa des 21. Jahrhunderts von aufgewerteten ‚Werten‘ übernommen. In diesem Diskurs schwingt die Vorstellung eines räumlich umgrenzten, „autarken“ Europas mit. Sie manifestiert sich in den wieder gebräuchlichen Begriffen der „Festung“ oder des „Bollwerks“ Europa, welche auch in der „Lingua Tertii Imperii“ verbreitet waren. Die „Ordnungsmacht“ Deutschland, die sich „aus aller kulturellen Verflechtung und Verpflichtung“ heraushob, so Viktor Klemperer (1881– 1960), verteidigte im Nationalsozialismus Europa vor dem „jüdisch asiatischen Bolschewismus“.31 Im europäischen Wertediskurs liegt die Gefahr verborgen, das Trennende vor das Verbindende zu stellen und (mehr oder
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PATEL, Nach der Nationalfixiertheit, S. 5. OSTERHAMMEL, Europamodelle und imperiale Kontexte, S. 157–181, hier S. 166. SPANN, Vom Wesen des Volkstums. Was ist deutsch?, 1920. KLEMPERER, LTI. Notizbuch eines Philologen, S. 216f.
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weniger offen) Hierarchisierungen sowie In- und Exklusionen Vorschub zu leisten. Wieder wird das, was vermeintlich nicht dazu gehört, an die Außengrenzen EUropas zurückgewiesen.
6.5 G LOBALEUROPA EUropa steht vor der Alternative, die Geschichte des Nationalismus auf übernationaler Ebene zu wiederholen, oder sich jenseits dieses Modells plurikulturell zu konstituieren. Allein das Ende des Nationalstaats zu verkünden, reicht hierbei nicht, denn trotz der „postnationalen Konstellation“32 sind nationale Narrative ungebrochen wirksam. Will ein künftiges europäisches Gedächtnis nicht in einen „rückwärts gewandten Illusionismus“ verfallen, der – so Ulrich Beck – „die Welt nicht mehr versteht“,33 so müsste sich Europa wieder seiner vornationalen Schichten und seiner weitreichenden kulturellen Verflechtungen bewusst werden und diese als konstitutiv erachten.34 Europa müsste – kurz gesagt – als Globaleuropa begriffen werden. In diesem Zusammenhang spricht der indisch-amerikanische Historiker Sanjay Subrahmanyam von den „connected histories“, die von einer spezifischen historischen Ethnografie verdeckt worden seien: „The thrust of such ethnography has always been to emphazise difference […], in order to preserve it […] or to further a civilizing mission of acculturation.“35 In Zeiten des Kolonialismus konstatierte die Wissenschaft ebenfalls Differenzen im Geschichtsverlauf, ein Bild, das sich im so genannten ‚Orientalismus‘ weiter verfestigte.36 So ruft noch Luhmanns Äußerung von der „europäischen Rationalität“ unvermittelt das reduktive Bild des ‚unvernünftigen‘ Nichteuropäers hervor. Gerade die viel zitierte Vernunft gebietet es daher allerdings, im 21. Jahrhundert einen Weg einzuschlagen, der die unzweifel-
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Jürgen HABERMAS, Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt am Main 1998 (es 2095). Ulrich BECK, Warum Europa?, in: Henning SCHULTE-NOELLE, Michael M. THOSS (Hg.), Abendland Unter? Reden über Europa, München 2007, S. 187– 193, hier S. 190. Vgl. Anthony PAGDEN, Europe: Conceptualizing a Continent, in: DERS. (ed.), The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union, Cambridge [u.a.] 2007, S. 33–54. SUBRAHMANYAM, Connected Histories, S. 761. Vgl. Edward SAID, Orientalism, New York 1978. Anouar ABDEL-MALEK, L’orientalisme en crise, in: Diogène 44 (1963), S. 109–142 [eng. transl. DERS., Orientalism in Crisis, in: Alexander Lyon MACFIE (ed.), Orientalism. A Reader, New York 2000, S. 47–56]. A[bdul] L[atif] TIBAWI, English-Speaking Orientalists: A Critique of Their Approach to Islam and Arab Nationalism, in: Islamic Quarterly 8 (1964), S. 25–45, und S. 73–87 [DERS., English-Speaking Orientalists, in: Alexander Lyon MACFIE (ed.), Orientalism. A Reader, New York 2000, S. 57–76].
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haft „geteilte Geschichte Europas“37 mit Außereuropa – im Doppelsinn von „shared“ und „divided“ (Shalini Randeria) – anerkennt. Die zahlreichen Verflechtungsgeschichten mit den Amerikas,38 dem kolonisierten Afrika und Asien waren für Europa zweifelsohne konstitutiv. Was den ‚Orient‘ insbesondere betrifft, waren sie allerdings janusköpfig, denn die „connected histories“ manifestierten sich in zweierlei: einerseits in Verwerfungen, die der Wiener Sozialanthropologe Andre Gingrich besonders im Hinblick auf Zentraleuropa als „Grenzorientalismus“ („frontier orientalism“) bezeichnet – eine Variante kultureller Abschottung, die sich mit dem Nationalismus und dem Rassismus verbinden kann, um für die „eigene ‚Mission‘“ zu mobilisieren,39 anderseits in der verlernten Alltagskompetenz reziproker Aneignung und Aushandlung in den „Übergangsgebilden“, die von einer „zeitweiligen Verwischung der Grenzen“ gekennzeichnet waren.40 Was Europa von Außereuropa trennte und was es mit ihm verband, war in der Vergangenheit Kontingenzen unterworfen. Wird Europa aber als fundamental christlich konzipiert, so wird ignoriert, dass „Christen, Juden [und] Muselmanen“ Lebensstile, Kultur und Politik in Europa wesentlich bereicherten und weiter bereichern.41 Was die staatliche Anerkennung der jüdischen und moslemischen Religion betraf, nahm insbesondere das
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CONRAD, RANDERIA, Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, S. 9–49, und Shalini RANDERIA, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn RÜSEN, Hanna LEITGEB, Norbert JEGELKA (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt am Main– New York 2000, S. 87–96. Vgl. u.a. Michael RÖSSNER, Mestizaje und hybride Kulturen. Lateinamerika und die Habsburger-Monarchie in der Perspektive der Postcolonial Studies, in: FEICHTINGER, PRUTSCH, CSÁKY (Hg.), Habsburg postcolonial, Innsbruck [u.a.] 2003, S. 97–109. Andre GINGRICH, Nahe Grenzen. Nationalismus, Frontier Orientalism & Rassismus, in: Die Maske. Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 3 (2008), S. 5–8, hier S. 5f. Vgl. DERS., Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k.u.k. Monarchie, in: FEICHTINGER [u.a.] (Hg.), Schauplatz Kultur – Zentraleuropa, S. 279–288. DERS., Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular Cultures of Central Europe, in: Bojan BASKAR, Borut BRUMEN (eds.), MESS. Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Volume 2, Ljubljana 1998, S. 99–127. Vortrag des Dr. R[udolf] von SCALA, Privatdocenten an der k.k. Universität Innsbruck, Über die wichtigsten Beziehungen des Orientes zum Occidente in Mittelalter und Neuzeit, gehalten im Orientalischen Museum am 26. Jänner 1887, Wien 1887, und Oesterreichische Monatsschrift für den Orient, hg. vom Orientalischen Museum in Wien [Monatlich eine Nummer] 1 (1875)–44 (1918). Michael BORGOLTE, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes, 300–1400 n. Chr., München 2006 (Siedler Geschichte Europas 2). Vgl. DERS., Europa entdeckt seine Vielfalt 1050–1250, Stuttgart 2002 (Handbuch der Geschichte Europas 3), und DERS., Die Geburt Europas aus dem Geist der Achsenzeit, in: CSÁKY, FEICHTINGER (Hg.), Europa – geeint durch Werte?, S. 45–60.
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Habsburgerreich europaweit eine Vorreiterrolle ein: So wurde der Islam hanefitischen Ritus’ im Jahr 1912 in der österreichischen und 1916 in der ungarischen Reichshälfte als ‚Staatsreligion‘ anerkannt. Der jüdischen Bevölkerung der Monarchie war im Jahr 1867 der Gleichberechtigungsstatus zuerkannt worden, in Österreich durch die ‚Staatsgrundgesetze‘, in Ungarn durch das ‚Emanzipationsgesetz‘. Schließlich regelte das ‚Israelitengesetz‘ von 1890 die „Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“ zum Staat. In Ungarn wurde die jüdische Religion 1895 staatlich anerkannt.42 Unzureichend ist es jedoch, den Gegensatz ‚Abendland‘/‚Morgenland‘ lediglich als einen ideologischen Anachronismus zurückzuweisen, ohne aus diesem Wissen resultierende Handlungen zu setzen. Ließe man die Vorstellung von kultureller Verwurzelung und von authentischen Ursprüngen des Eigenen zurück, so könnte die in Europa verfeinerte, aber vergessene Kunst der wechselseitigen Aushandlung von Konflikten, wie sie für Grenzzonen zum arabischen und osmanischen Reich lange Zeit konstitutiv war, schrittweise wiederentdeckt werden. Den Kulturwissenschaften wäre es aufgegeben, Vorstellungen des Eigenen und Fremden, die eine vergangene Wissenschaft durch den Einsatz politisierter Begriffe wie ‚Volk‘, ‚Kultur‘, ‚Ethnie‘ oder ‚Rasse‘ suggeriert, neu zu überdenken. Die Herausforderung hierbei liegt Anil Bhatti zufolge darin, den Anspruch auf Diversität mit dem Recht auf Ähnlichkeit zu koppeln. Würde Europa nicht als ein abgezirkelter, wertbesetzter Raum, sondern als raum-zeitliches ‚Gefüge‘ vorgestellt, dessen Ausläufer zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich weit reichten, so wäre ein Anfang gemacht. Zweifelsohne benötigt jede Identität ihr Anderes. Allerdings können Abgrenzungsvorgänge missglücken, wenn Unterschiede überzeichnet und mit einer Abwertung dieses Anderen verbunden werden. Zu diskutieren wird sein, inwieweit sich die (mehr oder weniger) ungebrochene Salonfähigkeit der ältesten antisemitischen und orientalistischen Stereotype unbewältigten Abgrenzungsvorgängen in der Vergangenheit verdankt, aber auch, wieweit ein Sichverschließen vor den Herausforderungen einer zunehmend vernetzten Welt diese Tendenzen verstärkt. Das einzige Mittel, das der Wissenschaft bleibt, um nationalistische Ikonografien aufzubrechen, ist daher, die Rolle der affirmativen Teilhabe an der Selbstaufwertung durch Abwertung anderer („self-authentication“) aufzugeben und stattdessen auf Basis kritisch distanzierter Reflexion zu handeln. Sigmund Freud hat – wie in dieser Arbeit gezeigt – ein Zeichen gesetzt und die mit dem nationalen Narrativ verknüpfte Vorstellung eines grundbzw. wesensverschiedenen Anderen schärfstens zurückgewiesen. In seiner Monografie Der Mann Moses und die monotheistische Religion, erschienen 1939, zeichnete er in einer Zeit, als ,Abstammung‘, ‚Volkstum‘ und ‚Rasse‘ zu – je nachdem lebensbedrohlichen oder verteidigungswürdigen – Werten
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Vgl. LICHTLAU, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn. Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, S. 455–460.
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aufstiegen, den biblischen Moses als eine ‚Urvaterfigur‘ anderer als geglaubter, kurz: ‚fremder‘ Herkunft. Freud erschien die Vorstellung authentischer Her- und Abkünfte tief trügerisch, und er führte sie auf ein getrübtes Bewusstsein zurück, das von missglückten Ablösungs- und Abgrenzungsprozessen sowie unaufgearbeiteten Traumata herrührte. Sein Antrieb war es, bewusst zu machen, dass der jeweils Andere ein konstitutiver Teil des Eigenen ist: die Gründerfigur der Juden ein Ägypter und die der Christen ein Jude. Da alle Trennungsversuche (wie sie sich im Kontext nationaler Authentisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut zuspitzten) das Grundproblem nur verschärfen konnten, zeigte er, dass sich der jüdische Monotheismus vom christlichen keineswegs von Grund auf unterschied. So weigerte er sich auch vehement, unüberwindbare Barrieren zwischen Europa und einem angeblich nichteuropäischen Judentum aufzurichten. Im Gegenteil: Angesichts des sich unheilvoll auf Europa senkenden Schattens des Antisemitismus versuchte Freud, die Juden, wie ihn Said interpretierte, „fürsorglich unter dem schützenden Dach des Europäischen zu versammeln“.43
6.6 G EDÄCHTNIS -
UND
E RINNERUNGSORTE
Die Suche nach Gedächtnis- und Erinnerungsorten gewinnt seit einem Viertel Jahrhundert sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in einer größeren medialen Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung. Das neue Interesse hat jedoch nicht zwingend zur Voraussetzung, dass dabei nicht auf ältere Vorbilder zurückgegriffen wird. Schon um 1900 hatte z.B. der deutsche Kunsthistoriker Georg Dehio die deutschen Kunstdenkmäler im Hinblick auf „das Verhältnis der Nation zur Kunst in seiner Ganzheit“ rekonstruiert und dokumentiert.44 Wie damals, so sind es auch heute wieder ‚Erinnerungszeichen‘ – allerdings solche im weiteren Sinne –, mit deren Sammlung Teile der Gedächtnisforschung nun Europa in seiner Einheitlichkeit erfassen wollen. Auch wenn heute hierfür oftmals virtuelle Symbole gebraucht werden (so genannte Gedächtnis- und Erinnerungsorte), so erfüllen sie dennoch dieselben zwei zentralen Aufgaben, die schon Dehio herausstellte: das angeblich Gleiche zusammenzuführen, aber diejenigen, die der ‚Erinnerungszeichen‘ unkundig sind, auszuschließen. Orte, Artefakte, Monumente und Heroen werden in der VergangenheitsRepräsentation der jüngsten Zeit wieder in ihrer ,authentisch‘ nationalen Aufladung zurechtgerückt und als ‚europäische‘ Erinnerungsorte neu implementiert.45 Den Zwang zur Verörtlichung erklärt sich der Mediologe 43 44 45
SAID, Freud und das Nichteuropäische, S. 50. DEHIO, Deutsche Kunstgeschichte und deutsche Geschichte, S. 74. Vgl. Pierre NORA (Hg.), Les lieux de mémoire. I: La République. II: La Nation (3 Bände). III. Les France (3 Bände), Paris 1984–1992. Mario ISNENGHI (Hg.), I luoghi della memoria. Simboli e miti Dell’Italia Unita, Roma–Pari 1996. Etienne FRANÇOIS, Hagen SCHULZE (Hg.), Deutsche Erinnerungsor-
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Régis Debray mit folgender Gleichung: Da inzwischen allein das Sichtbare das Wahre sei, würden vom Verschwinden bedrohte Motive zu Objekten der Abbildung. Was im „Zeitalter der Videokratie“ nicht visualisiert werde, verschwinde.46 Vielleicht sind es also die Ängste vor dem Verlust der allzu lieb gewonnenen nationalen Identität, die dazu verleiten, das Abstrakte und Unsichtbare – die Nation – neu zu inszenieren, zu verbildlichen und zu verörtlichen? Die ‚Orte‘ (der Erinnerung) wären dann der Mythos, der die ‚Europäer‘ an ‚das Europäische‘ zurückbinden soll, und zwar auf dem Fundament der Nation. Würden diese ‚lieux de mémoire‘ (Orte, Denkmäler, Plätze, Straßen usw.) heute als Schlüsselmedien kollektiver Selbstvergewisserungsprozesse in der Vergangenheit dechiffriert, so wären solche Analysen von beträchtlichem Wert. Allerdings muss in weiten Bereichen nach wie vor im Konjunktiv gesprochen werden. Denn – darauf weist Moritz Csáky hin – ihren Herausgebern zufolge seien z.B. die Deutschen Erinnerungsorte (2001) weit davon entfernt, „bloße Belehrung“ zu sein, sie wollten vielmehr zur „Belebung“ beitragen und verstünden sich (nach Nietzsche) als „Aufruf zu ‚Tat‘“.47 Der mit dem angesprochenen Konzept der Erinnerungsorte verbundene normative Schluss liegt nahe, dass auch ein künftiges Europa als Sammlung nationaler Erinnerungen ‚neu‘ erfunden werden soll. Was aber die nationalen Gedächtnisse nicht einschließen, das soll auch das vereinte Europa ausschließen. So wird mit der Anstrengung, ein ‚virtuell-museales‘ europäisches Gedächtnis zu erzeugen, Europa exklusiv konstruiert. Zugleich wird aber das in politischen Setzungen ‚manifeste‘ Gedächtnis, das sich mit der virtuellen Repräsentation überwirft, weitgehend verstellt: „Gedächtnisorte muss man in Europa nicht erfinden“, schreibt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Sabine Offe kritisch; man könne sie finden, jedoch an anderen Orten als den gesuchten: Das Gedächtnis Europas trete nicht in den Museen und in monumentaler Architektur zum Vorschein, sondern an viel marginaleren Orten; nämlich in den Abschieberäumen von Flughäfen und Anhalte- und Aufnahmelagern für Bootsflüchtlinge, dokumentiert in den Akten und Archiven der Einwanderungs- und Gesundheitsbehörden oder der Justiz.48 Die in der Literatur gängigen Gedächtnisentwürfe – oftmals mythische Orte des 19. Jahrhunderts wie z.B. „Am deutschen Wesen“, „Der deutsche
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te. 3 Bände, München 2001. Reflexiver: Pim DEN BOER, Willem FRIJHOFF (Red.), Lieux de mémoire et identités nationales. La France et les Pays-Bas, Amsterdam 1993. Régis DEBRAY, Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland, Berlin 22007, S. 341f. [Original: DERS., Vie et mort de l’image. Une histoire du regard en Occident, Paris 1992]. FRANÇOIS, SCHULZE (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte I, S. 24, und vgl. CSÁKY, Culture as a Space of Communication, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. Sabine OFFE, Opfererzählungen. Europäische Gedächtnisorte, in: CSÁKY, FEICHTINGER (Hg.), Europa – geeint durch Werte?, S. 133–143, hier S. 140f.
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Wald“, „Die ‚Germania‘“49 – belegen indes, dass das, was uns in die ‚Welt von gestern‘ blicken lässt – materielle Zeichen (Symbole, Artefakte, Mythen) – auch das ist, was uns oftmals für die Herausforderungen der Welt von heute blind macht. Schon Sigmund Freud entlarvte die als Traditionen aktualisierten Mythen als Träger von „zeitbeständigen Wertungen“.50 Die Wiederbelebung ‚bedrohter‘ nationaler Identitätsstiftungsmodi ist aber nicht nur für EUropa konstitutiv, auch anderswo wirken heute die Wissenschaften am Nationalismus tatkräftig mit. Die postkolonialen Theoretiker Edward Said und Anil Bhatti berichten z.B. von analogen Aktivitäten der Wissenschaft in Israel und Indien. In Indien griff in postkolonialer Zeit der religiöse Nationalismus die kolonialistische Variante der Geschichtsbetrachtung, die einen Gegensatz zwischen Hindus und Muslims konstruiert hatte, ideologisch auf. So verbreitete sich die Vorstellung einer vermeintlich altindischen (hinduistischen) Glanzzeit und der Zeit jahrhundertelanger islamischer Knechtschaft. Der Hindu-Nationalismus verwendete diese Vorstellungen, um Ansätze einer überlappenden sozio-religiösen Praxis aufzulösen, während im Gegenzug kulturelle Unterschiede zu essenzialisierten Dichotomien überhöht worden seien. Eine ideologieverhaftete Archäologie habe die von Nehru gestiftete Tradition untergraben, Indiens kulturelle Vielfalt als Palimpsest zu begreifen. Sie habe die Aufgabe übernommen, Indiens authentische Wurzeln freizulegen, um seine Urschicht zu rekonstruieren, und wurde damit zusehends zur Hagiografie. Islamische Monumente, die angeblich auf dem Fundament von zerstörten hinduistischen Tempeln errichtet wurden, entwickelten sich zu wissenschaftlichen Streitobjekten und bald auch zur Zielscheibe realer Angriffe und Zerstörung.51 Auch am Schauplatz Israel/Palästina sei es die Archäologie, die den Königsweg zur nationalen Identität gefunden zu haben meint. Sie legitimiere, wie Said schreibt, den „außergewöhnlichen, revisionistischen Versuch“, „eine neue glatte Struktur jüdischer Geschichte“ an die Stelle viel komplexerer Schichtungen zu setzen. Arabische Namen und Spuren anderer Kulturen würden verwischt; wären sie aber evident (wie z.B. in der Jerusalemer Architektur, „einem riesigen Palimpsest von Byzantinern, Kreuzrittern, Hasmoniten, Israeliten und Muslimen“), so würde ihre Sichtbarkeit als Indiz einer liberalen Kulturpolitik Israels gedeutet.52 Im Jahr 2002 verurteilte der World Archaeological Congress (WAC) den Staat Israel wegen der „Zerstörung archäologischer und kultureller Stätten in Palästina“ durch militärische 49 50 51
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FRANÇOIS, SCHULZE (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, I: S. 290–304. II: S. 187–200. III: 569–586. FREUD, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 73. Vgl. Anil BHATTI, Der koloniale Diskurs und Orte des Gedächtnisses, in: Moritz CSÁKY, Monika SOMMER (Hg.), Kulturerbe als soziokulturelle Praxis, Wien 2005 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 6), S. 115–128, und Michael MANN, Sinnvolle Geschichte. Historische Repräsentationen im neuzeitlichen Südasien, Heidelberg 2009. SAID, Freud und das Nichteuropäische, S. 17–74, hier S. 58f.
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Aktionen, speziell in Bethlehem, Hebron und Nablus. Umgekehrt verurteilte der Staat Israel die Palästinensische Autonomiebehörde eines ähnlichen Vorgehens, was jüdische archäologische Spuren betraf. Sonach handelte Said zufolge auch die „palästinensische Archäologie“, die sich als „praktischer Bestandteil des Befreiungskampfes“ des letzten Vierteljahrhunderts begreift, nicht minder glättend.53 Diese Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, dass auch am Anfang des 21. Jahrhunderts Teile der Wissenschaft (u.a. Archäologie und Gedächtnisforschung) historisch nachweisbare (synchrone) Verflechtungen und (diachrone) Schichtungen für vernachlässigbar erklären, um dem nationalen Prinzip zum Vorrecht zu verhelfen. Die Suche nach kulturellen Wurzeln lässt erhoffen, dass die wahre, authentische Kultur gefunden wird. Dass diese ‚Ausgrabungstätigkeit‘ mit dem Nationalismus eng in Verbindung steht, zeigte unter anderem Ernest Gellner auf. Sollten daher in der ‚Erfindung‘ Europas nicht die Erkenntnisse über die „Erfindung der Nation“ berücksichtigt werden? Nicht zuletzt deshalb, weil – wie Gellner in einer seiner Nationalismusstudien zeigte – der Nationalismus zuerst da war, und dieser die Nation hervorbrachte, und nicht umgekehrt.54
6.7 R EFLEXIVE E RINNERUNGSPROJEKTE Die Historiografie ist zu reflexivem Handeln aufgerufen. Bei vielen Erinnerungsprojekten erscheint ein Positionswechsel sinnvoll. Der Vorzug sollte einer kritisch distanzierten Haltung gegeben werden, in der Historiografen die Orientierungs- und Selbstversicherungsfunktion erinnerungsaktualisierender und gedächtniskonstituierender Vorgänge in der Vergangenheit, die unter jeweils spezifischen Machtverhältnissen stattfanden, neu überprüfen. Dieser Ansatz wurde zuletzt z.B. anhand des Wiener ‚Türkengedächtnisses‘ zu exemplifizieren versucht:55 Die zelebrierte Erinnerung an die so genannte ‚Zweite Wiener Türkenbelagerung‘ (1683) zeigt, dass mit dem Schlagwort „So wie damals, so auch heute“ über das Bild der ‚Türken‘ im Laufe der Geschichte unterschiedliche Feindbilder gestützt werden konnten. Von Zeit zu Zeit wurde die Folie etwas verrückt, um sie für neue ‚Angreifer‘ nutzbar zu machen: „1783 wurde mit dieser historischen Parallele zum Kampf gegen
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Ebenda, S. 60. Vgl. G.J. ASHWORTH, Brian GRAHAM, J.E. TUNBRIDGE, Pluralising Pasts. Heritage, Identity and Place in Multicultural Societies, London–Ann Arbor, MI 2007, S. 104. Anna MINTA, Israel bauen. Architektur, Städtebau und Denkmalpolitik nach der Staatsgründung 1948, Berlin 2004. Ahmad H. SA'DI, Lila ABU-LUGHOD (eds.), Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York 2007. Vgl. GELLNER, Nationalismus und Moderne, S. 87. Vgl. Johann HEISS, Johannes FEICHTINGER, Wiener „Türkengedächtnis“ im Wandel. Historische und anthropologische Perspektiven, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 2 (2009), S. 249–263.
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die Aufklärer aufgerufen, 1883 gegen die Liberalen.“56 Hinzuzufügen wäre, dass das Türkenfeindbild auch 1933 politisch auf verschiedene, mitunter widersprüchliche Weise eingesetzt wurde: von den Christlichsozialen gegen die Nationalsozialisten und ‚Bolschewiken‘, aber auch umgekehrt. Das von polnischen katholischen Aktivisten dominierte Wiener ‚Türkengedenken‘ des Jahres 1983 stand im Zeichen des Antikommunismus und einer Selbstverortung Polens in der römisch-katholischen, westlichen Hemisphäre. Seit 1989 und 2001 verspricht man sich von der Wiederaufnahme des ‚abendländischen‘ ‚Bollwerk‘-Mythos [„Dritte Türkenbelagerung“ (Kurt Krenn)] Schutz vor dem Islam. Diese Beispiele zeigen, dass zu verschiedenen Zeiten neue Anlässe und Anwendungen für das Türkenfeindbild gefunden werden. Erinnerung findet nicht jenseits von Machtdiskursen – sozusagen sozialfrei – statt. In einer reflexiv verfahrenden Gedächtnisforschung müsste daher neben der „Substanz der Dinge“, d.h. den Speichern des Gedächtnisses, seinem jeweiligen Gebrauch, d.h. der „sozialen Organisation der Erinnerung“,57 vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden, wird doch das Gedächtnis in den unterschiedlichen „Zeitschichten“58 jeweils neu – entlang spezifischer politisch-diskursiver Anforderungen – aktualisiert. Im europäischen Zusammenhang bedeutet dies für die Wissenschaft – und hier insbesondere die Historiografie – nicht zuletzt, dass sie sich verstärkt der Machtstrukturen innerhalb jener Diskurse annehmen müsste, in denen ausgehandelt wird, was andenkenswert ist, wie dies erinnert und somit für die nähere Zukunft vorgegeben werden soll. Wird die jeweils vergegenwärtigte Vergangenheit als raumzeitlich geprägte Episode zergliedert, so werden auch die auf sie zurückreichenden Wertvorstellungen in ihrer Kontingenz sichtbar und für einen reflexiven Umgang in der Gegenwart verfügbar gemacht. Dadurch wären Ansätze einer selbstreflexiven „Theorie des erinnerungsgestützten oder Erinnerung erzeugenden und stützenden Handelns in der Gegenwart“ und für die Zukunft geschaffen, wie sie zuletzt von der Berliner Denkmalpflegerin Gabriele Dolff-Bonekämper gefordert wurden.59
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Michael MITTERAUER, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: Emil BRIX, Hannes STEKL (Hg.), Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien–Köln–Weimar 1997, S. 23–89, hier S. 88. DOLFF-BONEKÄMPER, Erinnerungstopographien und Gedächtniskollektive, S. 70. KOSELLECK, Zeitschichten, 2003. Vgl. auch Harald WEINRICH, Europäische Palimpseste, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 30, 1– 2(2006), S. 1–10. Anil BHATTI, Cultural Homogenisation, Places of Memory, and the Loss of Secular Urban Space, in: Helmuth BERKING [u.a.] (Hg.), Negotiating Urban Conflicts. Interaction, Space and Control, Bielefeld 2006, S. 67–81. DOLFF-BONEKÄMPER, Erinnerungstopographien und Gedächtniskollektive, S. 70.
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Der Weg dahin scheint geebnet: So widersetzen sich heute Historiker, Soziologen, Anthropologen und andere insbesondere den Versuchen, die ‚Modernisierung‘ und die ‚Rationalität‘ als europäische, d.h. westliche Spezifika, zu reklamieren und – damit verbunden – das nichteuropäische Andere als rückständig zu erklären.60 Vorstellungen dieser Art werden als kolonialistische Strategie imperialer Herrschaftssicherung und der Verteidigung eines „europäischen Universalismus“ entlarvt und durch alternative Zugänge ersetzt, wie z.B. durch das Konzept der „multiple modernities“61 oder durch das Modell eines „universellen Universalismus“.62
6.8 I DENTITÄT – EINE K ATEGORIE NICHT DES S EINS
DES
H ANDELNS ,
Sollte in Europa daher nicht die (Ziel-)Vorstellung eines Wertekonsenses verabschiedet und stattdessen darüber nachgedacht werden, was es realiter zusammenhält bzw. zusammenhalten könnte? In der Tat lässt sich Europa kaum als Einheit begreifen, umfasst es doch eine Vielzahl verschiedener, sich überlappender sozialer, kultureller, regionaler und nationaler Traditionen, Gedächtnisse und Identitätsvorstellungen. Sogar seine geografischen Grenzen verliefen und verlaufen fließend, keiner vermag sie ausreichend zu definieren. So verwundert es nicht, dass die europäische Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch nationale, rassischethnische und kulturelle ‚Reinheitskonzepte‘ geprägt und mit scharfen Grenzziehungen sowie mit Auf- und Abwertungen der jeweils Anderen verknüpft war. Angesichts der gewaltsamen Dynamik, die in der Vergangenheit durch die Versuche, Kulturen und letztlich Menschen zu bewerten, ausgelöst wurde, ist zu fragen, ob Europa nicht auf andere Weise zu seiner kollektiven Identität gelangen könnte als durch ein normatives Modell des sozialen Miteinanders, das die Vielfalt in eine kohärente Ordnung zwängt und – wie schon in der Einleitung erwähnt – soziale Bindung durch „inhaltlich definierte, kollektiv geteilte und lokal fixierte Normen“ sowie ‚Einheit‘ durch „sozialkulturelle Homogenität“ zu erreichen versucht.63 Sind verbindliche Normensysteme dieser Art für den Zusammenhalt nicht überhaupt verzichtbar? Der deutsche Medienwissenschaftler Uwe Sander verweist auf namhaf-
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Vgl. Hans VAN DER LOO, Willem VAN REIJEN, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992. Shmuel N. EISENSTADT (ed.), Multiple Modernities, New Brunswick– London 2002. DERS., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. DERS., Multiple Modernities. Der Streit um die Gegenwart, Berlin 2010 (Kulturwissenschaftliche Interventionen 8) [im Erscheinen]. Immanuel WALLERSTEIN, Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007, S. 61–97 [Original: DERS., European Universalism. The Rhetoric of Power, New York 2006]. SANDER, Die Bindung der Unverbindlichkeit, S. 10.
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te Sozialwissenschaftler, die einst die Vorstellung gemeinsamer Normen als notwendiges „soziales Band“ wissenschaftlich untermauerten: Talcott Parsons (1902–1979) sprach von „normativer Kohärenz“, Émile Durkheim (1858–1917) analysierte ein Abweichen als „Anomie“ und Alfred Schütz (1899–1959) erhob die „sedimendierten, unhinterfragten Normalitätskonstruktionen zum Fundament der Lebenswelt“ und zur Stütze der „Sinnsicherheit“.64 Die europäische Geschichte lehrt jedoch, dass jeder Versuch, kollektive Identität auf der Basis kulturell kohärenter Wertsysteme – gruppiert um Konzepte wie ‚Nation‘, ‚Ethnizität‘ und ‚Kultur‘ – zu schaffen, als Akt der Homogenisierung zugleich Prozesse der Ausgrenzung des Unintegrierbaren in Gang setzt. Wirkt der Versuch, für die europäische „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“65 einen Wertekonsens anzustreben, daher nicht eher destruktiv als integrativ? In der globalisierten Welt, in der sich das Bedürfnis nach individueller und kollektiver Abgrenzung verstärkt („Neue Ethnizitäten“), weil sich die Distanz zum Anderen durch die verdichtete Kommunikation zunehmend verringert und Ich-Identitäten verunsichert werden, wäre es wohl angezeigt, den Europäern neue reflexive Wege zu einer Identität zu ebnen, die von der Forderung nach substanzieller Übereinstimmung von Territorialität, Abstammung und Kultur abweichen. Einen Ausweg zeigt vielleicht der „posttraditionale“ Identitätsbegriff66 auf, der sich weder auf eine nationale noch kulturelle Art der Selbstvergewisserung bezieht, sondern auf die Sicherung einer „politischen Kultur“.67 Darauf hinführen könnte das, was – wie gezeigt – für Anil Bhatti „Plurikulturalität“ darstellt und was Uwe Sander als die „Bindung der Unverbindlichkeit“ bezeichnet: Die beiden Entwürfe beziehen sich auf konstruktive Techniken des Miteinander-Auskommens, die eine „operative Kunst des Aneignens“ von Unbekanntem in alltäglichen Handlungszusammenhängen an die Stelle eines gemeinsamen Verstehens der Welt setzen. Handlungszusammenhänge zu konstatieren, so Anil Bhatti, sei in einer plurikulturellen Welt konstruktiver als Verstehenszusammenhänge zu suchen.68 Für ein ähnliches Konzept plädiert auch der deutsche Soziologe M. Rainer Lepsius, dem zufolge sich Identität nicht mehr auf ein „schick-
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Ebenda, S. 10. Artikel II-82: Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Teil II, Titel III), in: Vertrag über eine Verfassung für Europa, 2004. HABERMAS, Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität, S. 105– 123. Jürgen HABERMAS, Staatsbürgerschaft und nationale Identität (Original 1990), in: DERS., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 41994 (stw 1361), S. 632–660, hier S. 651–660. BHATTI, Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung, S. 58. DERS., Heterogeneities and Homogeneities. On Culture and Diversity, in: FEICHTINGER, COHEN (eds.), Understanding Multiculturalism and the Central European Experience, 2011 [in redaktioneller Bearbeitung]. DERS., Aspekte gesellschaftlicher Diversität und Homogenisierung im postkolonialen Kontext, S. 41.
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salsträchtiges und übermächtiges Kollektiv“ wie z.B. die Nation beziehen dürfe, sondern allein auf institutionell strukturierte Funktionszusammenhänge. Identität in Europa bedürfe sonach keiner verbindlichen Wertvorstellungen, sondern einer „europäischen Handlungsorientierung“, die durch die Partizipation an europäisch verfassten Institutionen entsteht.69 Den Ansatz einer „vernünftigen Identität“ im Handeln und in Bezug auf „komplexe Gesellschaften“ verdeutlichte Jürgen Habermas wie folgt: Zwar seien Ich- und Gruppenidentitätskonzepte nicht aufzugeben, kollektive Identität dürfe allerdings weder auf ein „Territorium“ bezogen noch auf eine „Organisation“ gestützt werden. Sie sei nicht mehr durch Zugehörigkeit, sondern nur noch in reflexiver Gestalt denkbar, nämlich so, „daß sie im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen der Teilnahme an solchen Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitätsbildung als kontinuierlicher Lernprozeß stattfindet.“70 Wenn diese Voraussetzung formal erfüllt sei, könnten auch komplexe Gesellschaften eine „vernünftige Identität“ ausbilden, in der sich ihre Mitglieder wiederfinden, reziprok anerkennen und achten. Die identitätsverbürgenden Deutungssysteme müssten in ihrer Inhaltlichkeit aber revisionsfähig bleiben und dürften nicht präjudiziert werden: Zu einer „vernünftigen Identität“ fänden jene Kollektive, die ihr „identitätsbezogenes Wissen über konkurrierende Identitätsprojektionen“ „diskursiv und experimentell“ ausbildeten: aus einer kritischen Aneignung von Traditionen und von popularisierungsfähigen Ideen der Wissenschaften, die um den Menschen, das Kollektiv und beider Identität kreisen. Genau hierfür hätten reflexiv verfahrende Wissenschaften, Philosophie und Kunst die eingangs erwähnte „Anregungsfunktion“ zu übernehmen.71 Mit dem „posttraditionalen“ Identitätskonzept plädiert auch Habermas für jene Position, die in der Einleitung zu dieser Arbeit als ‚dritter Weg‘ skizziert wurde, und auf den Mach, Freud, Kelsen und andere die ‚Identitätswissenschaften‘ in Habsburg-Zentraleuropa um 1900 zu führen versucht hatten. Als solche dürften sich die mit der Problematik der kollektiven Identität befassten Disziplinen nicht auf die erwähnte „Beglaubigungsfunktion“ zurückziehen. Sie müssten vielmehr von einem kritisch distanzierten Standpunkt ihre Kompetenz aufbieten, um die Voraussetzungen zu analysieren, die erfüllt sein müssten, damit Identitätsprojektionen nicht verhängnisvolle Dynamiken entwickeln. Im Sinne dieser „Anregungsfunktion“ handelte das in dieser Arbeit besprochene dritte Segment der Wissenschaft als räsonierender Kritiker essenzialistischer und organizistisch-substanzialistischer Vorstellungswelten: Mach erklärte das Ich als Substanz und essenzielles Zentrum für unrettbar; was verblieb, war eines, das er als funktionalen An-
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M. Rainer LEPSIUS, Identitätsstiftung durch eine europäische Verfassung, in: Robert HETTLAGE, Hans-Peter MÜLLER (Hg.), Die europäische Gesellschaft, Konstanz 2006, S. 109–127, hier S. 125f. HABERMAS, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, S. 116. Ebenda, S. 107f., S. 121.
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haltspunkt vorübergehender Orientierung begriff. Freud verweigerte sich, identitätsstiftende Traditionen auf Abstammung, nationales Sein und Kultur zurückzuführen. Beide Wissenschaftler zeigten für das ‚Ich‘ und das ‚Wir‘, dass das Selbst mehr durch ein Sich-Bewusstwerden jener Differenz zu dem, was es nicht sei – zur „Umgebung“ bzw. zum Anderen „als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner“ – geprägt sei als durch eine stabile „psychische Identität“.72 Kelsen nahm davon Abstand, ‚Staat‘, ‚Nation‘ und ‚Volk‘ mit der organischen Hülle einer hypostasierten „Staatspersönlichkeit“ zu umfassen, und er definierte die Demokratie nicht ausgehend von der Identität, sondern der Differenz. In ihr sollte soziale Heterogenität – Interessensvielfalt und unterschiedliche Wertpräferenzen – nicht vernichtet, sondern konstruktiv genutzt werden: Definierte man den Staat lediglich formal, d.h. als eine hierarchische Ordnung juristischer Normen, so ließe sich auch in einer von „Interessensgegensätzen“ zerklüfteten sozialen Welt Einheit erzeugen, ohne dass eine Gruppe das Wertgefüge einer anderen missachtete. Kelsen griff dabei auf Kant zurück, um zu zeigen, dass die Identität des Staates nicht auf dem Gleich-Sein seiner Bürger (Abstammung und Ansässigkeit auf einem Territorium) beruhen muss, sondern sich auch aus partizipativen Akten der Rechtserzeugung durch seine Bürger ableiten lässt. Zum ‚Staats-Volk‘ gehöre damit jeder, der unbeschadet seiner Abstammung dabei mitwirkt und sich dem Recht unterwirft. Jede andere Bindung zwischen Menschen wäre nach Kelsen ‚widerrechtlich‘. Rechtseinheit verbindet, während Kultur als Wertvorstellung trennt. Wenn Mach, Freud, Kelsen und andere genannte Vertreter der ‚autonomengagierten‘ Position nicht irrten, so verweist die Identitätsvorstellung auf nichts an sich Seiendes, sondern nur auf Namen, die wir uns geben, um uns vorübergehend ein Selbst zu erschaffen. Im Hinblick darauf revidierten diese Zentralfiguren der österreichischen Wissenschaft überkommene Konzepte des Ichs und des Sozialen. Freud entdeckte in der Seele eine Hierarchie von über- und untergeordneten Instanzen, ebenso begriff er die Masse nicht – wie in der Psychologie des 19. Jahrhunderts üblich – substanzialistisch, sondern abstrakt als eine Ansammlung vieler Ichs in libidinöser Bindung. Kelsen definierte die Gesellschaft als „normative Ordnung des gegenseitigen Verhaltens von Menschen“, welche sich im Recht manifestiert. (RR2, 79) Auf dem Prüfstand steht eine alternative Konzeption von Gemeinschaft, die ihre Identität nicht in überlebten Vorstellungen gemeinsamer Her- und Abkunft findet – wie dem ‚Volk‘ als ‚Kulturgemeinschaft‘, deren Mitglieder eine Sprache, Geschichte, ein Schicksal und ein kollektives Gedächtnis teilen –, sondern in der Praxis der aktiven Verfolgung gemeinsamer Ziele. War schon für Kelsen die Idee substanziell gleicher Lebensformen im Staat illusionär und daher keineswegs Voraussetzung der demokratischen Staatsform,
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MACH, Auszüge aus den Notizbüchern 1871–1910, S. 180, und vgl. FREUD, Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 73.
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so ist der Versuch, in einer Staatenunion wie der EU Identität durch verbindliche Werte zu stiften, nicht minder mit der Verschleierung der Diversität bzw. Unterdrückung abweichender Vorstellungen verbunden. Europa bedarf daher neuer identitätsstiftender Praktiken, denen zufolge sich seine Bürger weder über ‚Werte‘ noch über ‚Wurzeln‘, sondern über eine spezifische politische Kultur selbst vergewissern, der sie sich verbunden fühlen und an deren ständigen Transformation sie aktiv partizipieren. Das kulturelle Sein vermag kein europäisches Identitätsgefühl zu erzeugen, es bedarf des Handelns. Die individuelle Ausübung demokratischer Staatsbürgerrechte und das zumutbare Bewusstwerden der Mechanismen des Erinnerung erzeugenden und stützenden Handelns stellen seine Eckpfeiler dar. So könnte sich Europa im 21. Jahrhundert in Anlehnung an Rousseau, Kant und Kelsen zum einen als ‚Rechtsgemeinschaft‘ begreifen,73 die Identitätsfragen von nationaler ethnisch-kultureller Verwurzelung entkoppelt und daher Differenzen in den kulturellen Lebensformen akzeptiert, als Staatsbürgernation aber keine privilegiert. Zum anderen könnte Europa sich aber zumuten, eine ‚Erinnerungsgemeinschaft‘74 zu bilden, die sich auf das ‚geteilte‘ Erfahrungspotenzial besinnt und die „Abstiegserfahrungen“ (Jacques Derrida, Jürgen Habermas)75 der Shoa, des Kolonialismus und der verschiedenen Totalitarismen immer wieder neu in den Blick nimmt. Schließlich könnten die Europäer als ‚Reflexionsgemeinschaft‘ zu einer Identität finden, die nicht auf eine gemeinsame Sicht auf Europa zielt, sondern, die Vielzahl unterschiedlicher Wahrnehmungen Europas und Erfahrungen in ihm in ihrer Komplexität und mit der notwendigen Distanz akzeptiert, sich aneignet und als Surplus begreift. So würden alte Muster hinfällig, in denen zu wissen vorgegeben wird, was europäisch sei. Der Modus intellektueller Dauerreflexion in der Gegenwart über die Vergangenheit als Ausgangspunkt jener „Anregungsfunktion“, die dafür Sorge trägt, dass sich die Europäer ihrer selbst künftig ‚vernünftig‘ vergewissern, könnte daher lauten: Wer wir sind, hängt davon ab, wie weit wir es wagen, uns auf das Andere einzulassen und uns mit ihm und dem, was uns von ihm trennt und was wir mit ihm teilen, bewusst auseinanderzusetzen – auch wenn dieses Andere in einer anderen Zeit liegt oder – räumlich betrachtet – jenseits dessen, was wir zu sein glauben. Die Wissenschaften der Vergangenheit in Zentraleuropa zeigten hierfür Wege auf, an uns liegt es, sie neu zu erkunden.
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75
BUSCH, EHS, EUropa als Rechtsgemeinschaft, in: EHS (Hg.), Hans Kelsen und die Europäische Union, S. 95–111. Aby WARBURG, Die Wanderungen der antiken Götterwelt vor ihrem Eintritt in die italienische Hochrenaissance (Göttinger Vorlesung vom 29.11.1913, S. 2, unveröffentlicht), zitiert nach Roland KANY, Mnemosyne als Programm, S. 176. Jacques DERRIDA, Jürgen HABERMAS, Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Samstag, 31.5.2003, S. 33f.
7. Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis
7.1 V ERWENDETE ARCHIVE
UND
B IBLIOTHEKEN
Archiv für Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz Archiv und Bibliothek der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Bodleian Library, Oxford, Department of Western Manuscripts: Academic Assistance Council Archives British Library Cambridge University Library Duke University Library, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library Hoover Institution Library and Archives, Stanford University Imperial War Museum, London, Department of Sound Records New York Public Library, Manuscripts and Archives Division Österreichische Nationalbibliothek Rockefeller Archive Center, Sleepy Hallow, New York Universitätsarchiv Wien Universitätsbibliotheken Graz, Wien Wittgenstein Archive, Cambridge World Wide Web
7.2 L EXIKA, E NZYKLOPÄDIEN
UND
H ANDBÜCHER
Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. Karlheinz Barck [u.a.], Stuttgart–Weimar 2000–2005. Die Habsburgermonarchie 1848–1918, hg. Helmut Rumpler, Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch. 8 Bände (bisher erschienen), Wien 1973–2006. Encyclopedia of Postcolonial Studies, ed. by John C. Hawley, Westport, Conn. 2001. Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology, ed. by Alan Barnard, Jonathan Spencer, London 2004. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hg. von Jürgen Mittelstraß. 4 Bände, Stuttgart–Weimar 2004. Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, hg. von Helmut Engelbrecht. 5 Bände, Wien 1982–1988. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. 8 Bände, Stuttgart 1972–1997. Handbuch der Kirchengeschichte, hg. von Hubert Jedin [u.a.]. 7 Bände, Freiburg– Basel–Wien 1999.
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7.5 ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Alois Riegl (1858–1905), um 1890, ÖNB (BAA) Inventar: 421.531-B
191
Abbildung 2: Titelseite Die spätrömische Kunst-Industrie (1901)
203
Abbildung 3: Titelseite Logisch-Philosophische Abhandlung erschienen in der letzten Nummer von Ostwalds ‚Annalen der Naturphilosophie‘ (1921)
213
Abbildung 4: Ludwig Wittgenstein (1889–1951), 1943, ÖNB (BAA) Inventar: 280892-B
221
Abbildung 5: Titelseite der von Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath herausgegebenen Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929)
229
Abbildung 6: Der erste Band der Reihe ‚International Encyclopedia of Unified Science‘ [1938–1951(1970)] mit dem Titel Encyclopedia and Unified Science (1938)
230
Abbildung 7: Hans Kelsen (1881–1973), um 1930, ÖNB (BAA) Inventar: Pf 6505 C(3)
238
Abbildung 8: Titelseite Reine Rechtslehre (1. Auflage, 1934)
245
Abbildung 9: Ernst Mach (1838–1916), 1910, ÖNB (BAA) Inventar: Pf 174.007:C(1)
303
Abbildung 10: Sigmund Freud (1856–1939), 1939, ÖNB (BAA) Inventar: Pf 5642 C4
393
Abbildung 11: Titelseite Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1. Auflage, dt. 1939)
410
Abbildung 12: Titelseite Moses and Monotheism (1. Auflage, engl. 1939)
411
8. Personenregister
Acham, Karl 187 Adler, Alfred 311 Adler, Guido 200 Adler, Max 157 Adler, Viktor 70 Adorno, Theodor W. 32, 384, 445 Ahrens, Heinrich 359 Albrecht, Wilhelm Eduard 269 Althoff, Friedrich Theodor 30 Amenhotep IV., Pharao 416 Anderson, Benedict 83, 396, 540 Aristoteles 111, 362 Ash, Mitchell G. 19, 21, 22, 32, 37, 39, 58, 113, 536 Assmann, Aleida 507–509, 526, 530 Assmann, Jan 94, 397, 399–405, 408, 411–413, 436, 439, 441, 444, 445, 453, 456, 471, 503, 505–508, 522, 526–531, 533 Avenarius, Richard 299, 309 Bach, Alexander Freiherr von 59, 162, 164 Bach, Johann Sebastian 219 Bachtin, Michail M. 95 Bacon, Francis 162 Badeni, Kasimir 43 Bahr, Hermann 70, 91, 188 Baldus, Manfred 280, 281, 285 Barach, Carl Sigmund 147, 155– 157, 159 Baron, Salo W. 409 Bärsch, Claus-Ekkehard 264, 274 Barth, Fredrik 97 Bauer, Otto 70 Bauer, Roger 149, 153 Bauernfeld, Eduard von 154 Baur, Erwin 463 Beck, Ulrich 21, 98, 542 Beethoven, Ludwig van 219 Beidtel, Ignaz 331, 338
Beller, Steven 19, 487 Benjamin, Walter 195, 205, 207, 211 Bernatzik, Edmund 91, 248, 318, 353, 361–363, 474, 480 Bernfeld, Siegfried 169 Bernstein, Richard J. 399, 436, 437, 442, 446, 447, 473, 500 Bertalanffy, Ludwig von 187, 210 Bhabha, Homi K. 93 Bhatti, Anil 67, 71, 76, 99, 102, 536, 544, 547, 551 Bialas, Volker 22 Binder, Dieter 14, 477 Bloch, Ernst 76–78, 102, 107, 206, 207 Bloch, Marc 520 Bluntschli, Johann Kaspar 90, 318, 359 Boas, Franz 314 Bodi, Leslie 153 Böhm, Joseph Daniel 193 Bolzano, Bernard 61, 82, 117–119, 121–127, 129–131, 146–151, 158–160, 163 Bonitz, Hermann 143, 147, 149, 150 Borodajkewycz, Taras von 136 Bourdieu, Pierre 13, 14, 26–29, 32, 34–36, 39, 225, 235, 239, 315, 366, 367, 375 Brahms, Johannes 219 Bratranek, Thomas Franz 169 Braudel, Fernand 71 Breasted, James Henry 416 Brecht, Bertolt 15, 64 Brentano, Franz 114, 116, 152, 158, 159, 172–176, 178–183, 198 Broch, Hermann 66 Brubaker, Rogers 96 Bruch, Rüdiger vom 85
628 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT Brücke, Ernst Wilhelm von 171, 175–177 Bruckmüller, Ernst 477 Brumlik, Micha 185 Brunkhorst, Hauke 242 Brunner, Otto 338 Buber, Martin 410 Buckle, Thomas Henry 168, 172 Büdinger, Max 190, 199 Bühler, Karl 174 Burke, Peter 533, 534 Cancik, Hubert 512 Carnap, Rudolf 229–231, 234 Carus, Carl Gustav 427 Cassirer, Ernst 24, 25, 298, 299, 369, 508, 516 Chamberlain, Houston Stewart 404 Charcot, Jean-Martin 177 Christian, Viktor 460 Clausberg, Karl 178 Cohen, Gary B. 81, 132 Cohen, Hermann 277, 278 Comte, August 162, 163, 168, 169, 173 Coudenhove-Kalergi, Richard 73 Csáky, Moritz 14, 21, 71–73, 76, 81, 82, 93, 280, 534, 546 Cudworth, Ralph 403 Czermak, Emmerich 479, 489, 492– 498 Darwin, Charles 450 Daston, Lorraine 24 De Saussure, Ferdinand 95, 315 Debray, Régis 546 Dehio, Georg 54, 104, 105, 545 Delling, Johann Nepomuk von 153 Derrida, Jacques 95, 399, 446–448, 522, 554 Descartes, René 181, 223, 304, 310 Dilthey, Wilhelm 168 Diner, Dan 280 Doderer, Heimito von 79, 80 Dolff-Bonekämper, Gabriele 549 Dorer, Maria 179 Doryon, Yisrael 404 Dreier, Horst 253, 255, 283, 287, 294, 295, 375, 378 Dreyfus, Alfred 33 Drucker, Peter 486 Durdík, Josef 131, 147, 149, 150, 177, 197 Durkheim, Émile 314–318, 320, 355, 358, 551
Dvořák, Max 192, 198, 199, 210 Eder, Karl 133, 327 Edlauer, Franz 154 Egger, Franz von 330, 339 Ehrenfeld, Adolf 170 Ehrlich, Eugen 114, 253, 288 Ehs, Tamara 65 Einstein, Albert 176, 303, 309 Eisler, Rudolf 157, 316 Eissler, Kurt 322 Eitelberger, Rudolf 136, 140, 144– 146, 148, 166, 169, 171, 193 Eitingon, Max 408, 413, 415, 434 Eötvös, Joseph von 46, 90, 91, 266 Erikson, Thomas H. 98 Eugen, von Savoyen, Prinz 124 Evans, Robert 41 Ewald, Oscar 157 Exner, Franz (Serafin) 123, 130, 131, 143, 147, 149–151 Falke, Jacob 171, 172 Fechner, Gustav Theodor 121, 183, 309 Ferdinand I., Kaiser 330 Fesl, Michael Josef 119, 130 Feuchtersleben, Ernst von 154 Feyerabend, Paul 211, 522 Fichte, Johann Gottlieb 32, 57, 61, 103, 123, 127, 128, 146, 159, 160, 161, 173, 224, 403, 476 Fichtner, Gerhard 408 Fillafer, Franz L. 152 Fischer, Eugen 463, 465 Fließ, Wilhelm 183 Flir, Aloys 134, 135, 141, 147, 155, 156 Foucault, Michel 36, 75, 84, 315 Frank, Philipp 228, 232, 303, 306, 309 Frankfurter, Salomon Friedrich 133 Franz Josef, Kaiser 52 Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 228 Freud, Sigmund 14, 17, 47, 65–70, 87, 88, 91, 95, 108, 116, 122, 129, 157, 161, 169, 175–186, 211, 299–301, 310–313, 320– 325, 383, 386–389, 391–474, 482, 486, 491, 497–531, 536, 544, 545, 547, 552, 553 Gay, Peter 403, 428 Geertz, Clifford 92
P ERSONENREGISTER
Gellner, Ernest 83, 167, 548 Gerber, Carl Friedrich von 263–265, 267–271, 273, 290 Gföllner, Johannes Maria 496 Giesen, Bernhard 97 Gilman, Sander 406, 455 Gingrich, Andre 543 Glaser, Eduard 114 Gödde, Günter 179, 181, 183 Goethe, Johann Wolfgang von 56, 103, 437, 486 Goldstein, Bluma 441 Goller, Peter 248 Gombrich, Ernst H. 19, 201, 205, 206, 486–488, 496, 497, 514, 515 Gomperz, Elise 175 Gomperz, Heinrich 176, 198 Gomperz, Theodor 45, 116, 164, 165, 168–171, 173, 175–178, 198 Goody, Jack 540 Grillparzer, Franz 154 Grimm, Herman 168 Grössing, Helmuth 22 Grote, George 169 Grotius, Hugo 290 Grubrich-Simitis, Ilse 446 Grünfeld, Ernst 480 Gumplowicz, Ludwig 50, 114, 281, 317, 318, 345, 346, 354–368 Günther, Anton 146 Günther, Hans F. K. 466 Habermas, Jürgen 13, 33, 101, 104, 209, 276, 552, 554 Hagner, Michael 22, 23 Hahn, Hans 233 Halbwachs, Maurice 315, 358, 395, 445, 507–514, 516, 518–523, 526–530, 533 Hall, Stuart 93, 95, 96, 99 Haller, Rudolf 153, 157–159, 234 Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von 56 Hanisch, Ernst 477 Hanslick, Eduard 111, 150, 197, 198, 200, 205 Hanuš, Johann Ignaz 142 Harnack, Adolf von 113 Harrant, Bernadette 14 Hartel, Wilhelm von 171, 175 Hartmann, Eduard von 427 Hartwich, Wolf-Daniel 406 Hasner, Leopold von 142 Hassinger, Hugo 73 Hayek, Friedrich August 488
| 629
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 41, 58, 111, 123, 140–142, 144, 146, 149, 159–161, 163, 169, 173, 224, 266, 274, 314, 316, 370, 403, 476 Heinrich, Walter 226 Heinzel, Richard 171 Heiss, Johann 46 Helfert, Joseph Alexander von 145 Heller, Hermann 253, 347 Helmholtz, Hermann 112 Hemecker, Wilhelm H. 180 Hentges, Gudrun 403, 476 Herbart, Johann Friedrich 49, 61, 114, 117, 120–131, 141, 146– 150, 156, 160, 161, 168, 174, 175, 177–183, 195–199, 314 Herbst, Eduard 142 Herder, Johann Gottfried 57, 81, 104, 427 Hering, Ewald 514, 515 Hertz, Friedrich 86, 91 Herzl, Theodor 70 Hintze, Otto 345 Hippel, Ernst von 253 Hitler, Adolf 227 Höflechner, Walter 132 Höfler, Alois 179 Hofmannsthal, Hugo von 70, 73, 79 Holz, Klaus 476, 496 Horkheimer, Max 32 Hostinský, Otakar 197 Hromádko, Jan Nepomuk Norbert 50 Hübinger, Gangolf 32 Hugelmann, Karl Gottfried 47, 63 Hugo, Victor 101, 102 Humboldt, Wilhelm von 30, 31, 33, 48 Hume, David 162, 168, 228, 257, 299, 304, 400 Hyrtl, Joseph 48 Jabloner, Clemens 65, 242, 255, 322 Jacobi, Friedrich Heinrich 146, 155 Janik, Allan 18, 19, 233 Jarcke, Ernst Karl 135, 136, 139, 165 Jellinek, Georg 108, 115, 148, 156, 248, 251, 252, 260–267, 270, 271, 276, 277, 283, 288, 290, 293, 350–353, 369, 370 Jerusalem, Wilhelm 157, 183 Jestaedt, Matthias 254, 255 Jodl, Friedrich 157, 172
630 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT Johnston, William M. 18, 19, 156 Jones, Ernest 323, 413, 436, 449, 471, 472 Joseph II., Kaiser 41, 329–333 Judson, Pieter 87 Jung, Carl Gustav 447, 450–452, 510, 515, 516, 523, 525, 526 Kaiser, Gerhard 471 Kann, Robert 50 Kant, Immanuel 57, 117, 122–128, 130, 136, 137, 141, 149, 151– 161, 187, 196, 247–249, 256– 258, 273–278, 283, 286, 308, 316, 326, 336, 370, 403, 427, 476, 553, 554 Kany, Roland 515 Karahasan, Dževad 103, 104 Karbach, Oskar 495 Kelsen, Hans 13–15, 64–70, 86, 108, 126, 138, 157, 161, 211, 237–327, 342–389, 395, 478, 536, 552–554 Kerr, John 525 Keyserling, Hermann Alexander 77 Kink, Rudolf 156, 332 Klatzkin, Jakob 494 Klemperer, Viktor 541 Klimt, Gustav 70 Klüber, Johann Ludwig 336 Kollár, Ján 59, 154 Konrád, György 74, 81 Koselleck, Reinhart 74, 106 Krammer, Sabine 14 Krause, Karl Christian Friedrich 146 Kreil, Anton 153 Krenn, Kurt 549 Kris, Ernst 483 Kuhn, Thomas S. 22, 522 Kuhnle, Till R. 522 Kundera, Milan 73, 74 Künne, Wolfgang 149 Kunz, Josef Laurenz 86 Kuzmány, Karol 154 Kymlicka, Will 101 Laband, Paul 261, 264, 265, 268, 270, 271, 290, 346, 347, 349, 356 Lamarck, Jean-Baptiste 392, 409, 446–450, 452, 465, 500, 513–515 Lamprecht, Karl 171 Landerer, Christoph 220 Langbehn, Julius 30 Larenz, Karl 253 Lazarus, Moritz 121, 314, 319
Le Bon, Gustave 311, 313, 316, 323, 523–526, 530 Le Rider, Jacques 66, 80, 399, 404, 406, 409, 420, 434, 437, 455, 456, 471, 500, 502, 506 Lefebvre, Henri 75 Lehnert, Detlef 382 Leibniz, Gottfried Wilhelm 117, 121, 123–126, 128, 130, 146– 148, 158, 160, 223, 231, 427 Lentze, Hans 133, 142, 143, 146, 155 Leopold II., Kaiser 332 Lepsius, M. Rainer 34, 36, 551 Lepsius, Oliver 254, 255, 375 Lessing, Gotthold Ephraim 403 Lévi-Strauss, Claude 93, 315 Lewy, Casimir 222 Liebig, Justus von 163 Lilienfeld, Paul von 318 Lindner, Gustav Adolf 121, 150, 177, 179–181 Lipps, Theodor 183, 427 List, Friedrich 72 Littré, Émile 169 Locke, John 162, 290 Lorenz, Ottokar 171, 172 Lott, Franz Karl 150, 159, 177 Luca, Ignaz de 334 Lueger, Karl 18, 485 Luft, David S. 117 Luhmann, Niklas 539, 540, 542 Lustkandl, Wenzel 341, 351 Lyotard, Jean François 63, 211, 216–218, 301 Mach, Ernst 64–67, 70, 95, 107, 108, 114, 116, 131, 158, 159, 163, 172, 173, 176, 187, 211, 219, 228, 232, 299–310, 324, 325, 514, 552, 553 Malinowski, Bronislaw 314 Manethôs 404 Mann, Thomas 413, 505 Mannheim, Karl 77, 211 Maria Theresia, ‚Kaiserin‘ 327, 329, 330 Marinelli-König, Gertraud 50 Martini, Carl Anton Freiherr von 154, 327, 329, 330, 332, 333, 335, 339 Maus, Heinz 511 Mauthner, Fritz 300, 304, 324 Meinecke, Friedrich 33, 36 Meinl, Julius 73
P ERSONENREGISTER
Meinong, Alexius 179 Meltzl de Lomnitz, Hugo 56 Menger, Carl 115, 157, 158, 192, 335 Menger, Max 170, 175 Menghin, Oswald 63, 457–461, 463, 464, 466–468, 488–494, 496– 498, 530 Menzel, Adolf 361, 362, 365 Merkl, Adolf 285 Merton, Robert K. 315 Messersmith, George S. 484 Métall, Rudolf Aladár 281, 291, 374 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 133, 135, 139, 156, 327 Meyer, Eduard 436 Meyer-Lübke, Wilhelm 172 Meynert, Theodor 121, 170, 175– 177 Miklošič, Franc 59 Milde, Vincenz Eduard 154 Mill, James 162, 170 Mill, John Stuart 62, 162, 163, 165, 168–170, 173, 175, 176 Mischler, Ernst 49, 346, 348 Moeller van den Bruck, Arthur 514 Mohl, Robert von 343, 344 Molisch, Paul 143 Mommsen, Wolfgang J. 396 Morelli, Giovanni 193 Mozart, Wolfgang Amadeus 219 Mozetič, Gerald 357 Mulder, Henk L. 243 Müller, Sabine 14, 35, 505, 540 Munz, Volker 212, 215, 308 Musil, Alois 114 Musil, Robert 17, 18 Mussolini, Benito 227, 415 Nadler, Josef 77, 489 Náhlowsky, Joseph Wilhelm 150, 177, 197 Naumann, Friedrich 72 Neckel, Sighard 98 Nehru, Jawaharlal 102, 547 Neumer, Katalin 159 Neurath, Otto 14, 70, 108, 116, 152, 153, 157–159, 167, 211, 223– 225, 227–235, 242–244 Newton, Isaac 233, 302, 303, 305, 306 Niedermüller, Peter 87 Niethammer, Lutz 96 Nietzsche, Friedrich 186, 400, 508, 546
| 631
Nitzschke, Bernd 420 Nora, Pierre 533 Nothnagel, Hermann 175–177 Nyíri, Kristóf 63, 80, 113, 307 Oertzen, Peter von 265, 347 Oeser, Erhard 22 Oexle, Otto Gerhard 24 Offe, Sabine 546 Olechowski, Thomas 66 Ooyen, Robert Christian van 292, 295 Oppenheimer, Franz 275, 356, 365 Orel, Anton 478 Osterhammel, Jürgen 75, 541 Ostwald, Wilhelm 171 Pächt, Otto 199, 202, 210 Palacký, František (Franz) 42, 54, 55, 140, 154, 161 Paneth, Josef 178 Parsons, Talcott 315 Pauli, Gustav 105 Paulson, Stanely L. 255 Pauly, Walter 270, 271, 350 Philipps, George 139, 165 Piaget, Jean 315 Pillersdorf, Franz Freiherr von 337 Plé, Bernard 166 Pochat, Götz 516 Popovici, Aurel C. 90 Popper, Karl 28, 482, 483 Popper-Lynkeus, Josef 176 Pound, Roscoe 368 Pratobevera, Karl Joseph 337 Proust, Marcel 445 Przibram, Karl 481 Pufendorf, Samuel 290 Pulzer, Peter 475 Radbruch, Gustav 31 Randeria, Shalini 543 Ranke, Leopold von 24, 79 Ratzel, Friedrich 171 Ratzenhofer, Gustav 114 Redlich, Joseph 164, 266 Reik, Theodor 395, 440, 517, 518 Reinhold, Carl Leonhard 403 Reininger, Robert 157 Renan, Ernest 83 Renner, Karl 43, 46, 91 Rheinberger, Hans-Jörg 19 Riegl, Alois 14, 70, 105, 116, 187– 195, 198–211, 222, 223, 318 Riehl, Aloys 157
632 | W ISSENSCHAFT ALS REFLEXIVES P ROJEKT Rimbaud, Arthur 505 Ringer, Fritz 31 Rokitansky, Carl von 154, 157, 170, 175 Romier, Lucien 85, 86 Rosenkranz, Karl 149 Rössner, Michael 14, 102 Rothacker, Erich 168, 169 Rousseau, Jean-Jacques 274–276, 554 Rozenblit, Marsha L. 475 Russell, Bertrand 228 Sadger, Isidor 497 Šafařík, Josef 60 Said, Edward 93, 399, 502–504, 545, 547, 548 Sander, Uwe 68, 550, 551 Sapir, Edward 314 Sarasin, Philipp 22 Sauer, Werner 148, 152, 153 Sauerländer, Willibald 190, 194, 211 Savigny, Friedrich Carl von 329 Schäffle, Albert 318 Scheidt, Walter 463 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 123, 146, 161, 173, 224, 427 Schenk, Josef 348, 354 Scherer, Wilhelm 168, 170, 171, 175 Schiel, Jacob 163 Schiller, Friedrich 403 Schleiermacher, Friedrich 32 Schlick, Moritz 233, 305 Schlosser, Julius von 196, 199, 209 Schmale, Wolfgang 394 Schmidt, Manfred G. 255 Schmidt, Wilhelm 63, 394, 414, 415, 452, 457–468, 479, 489, 498–500, 523, 530 Schmitt, Carl 98, 103, 239, 252, 294, 374, 377–380, 501 Schmoller, Gustav von 33 Schnädelbach, Herbert 111 Schnitzler, Arthur 70 Schöllgen, Gregor 396 Scholz, Heinrich 127 Schönberg, Arnold 17, 70 Schönerer, Georg von 479, 480 Schopenhauer, Arthur 400 Schorske, Carl 18, 19, 169, 210 Schreyvogel, Joseph 154 Schrödinger, Erwin 299, 300, 304 Schuh, Franz 422 Schumpeter, Joseph A. 33, 34, 36 Schuppe, Wilhelm 299
Schurz, Gerhard 173 Schuschnigg, Kurt 483 Schütz, Alfred 551 Sedlmayr, Hans 136, 192, 199, 206, 207, 209, 318, 489 Seiler, Martin 193 Seipel, Ignaz 90, 91, 478 Sellin, Ernst 436, 439, 442, 519 Semon, Richard 514, 515 Semper, Gottfried 172, 190, 193, 195, 204, 205 Seyss-Inquart, Arthur 459 Sickel, Theodor von 140, 141, 190 Siegel, Karl 61, 122, 127, 157 Silberstein, Eduard 178 Simmel, Georg 24, 75, 211, 314, 318–320, 323, 324 Simonek, Stefan 44 Sloterdijk, Peter 218 Small, Albion W. 355 Smend, Rudolf 338 Smetana, Bedřich 82 Smith, Anthony D. 83, 106, 536 Sollors, Werner 98 Somek, Alexander 297 Sonnenfels, Joseph von 327, 329, 333–335, 338, 339 Spann, Othmar 159, 223–227, 316, 466, 478 Spencer, Herbert 169 Spencer, John 403 Spengler, Oswald 77, 220 Spiel, Hilde 484 Spivak, Gayatri C. 85, 99 Stachel, Peter 116 Stadion, Franz von 59, 150 Stadler, Friedrich 160, 227–235, 242 Stein, Lorenz von 140, 141, 334 Steinthal, Heymann 314 Stern, Fritz 29 Sternegg, Karl Theodor Inama von 334 Stieve, Felix 172 Stoerk, Felix 114, 345, 348–350, 361, 362, 366 Stöhr, Adolf 172 Stolleis, Michael 237, 251, 254, 255, 265, 336 Stonborough, Margaret 408 Stourzh, Gerald 45 Straub, Jürgen 439 Subrahmanyam, Sanjay 542 Surman, Jan 50 Taaffe, Eduard 53 Taine, Hippolyte 183
P ERSONENREGISTER
Taylor, Charles 101 Taylor, James 222 Terkessidis, Mark 97 Tezner, Friedrich 114, 345, 348, 350–354, 366, 367 Thausing, Moritz 171, 175, 190, 193 Thun-Hohenstein, Leo von 48–50, 52, 58, 116, 131–135, 137–151, 155, 156, 159, 161, 165, 166, 169, 327, 328, 330, 332, 339– 341, 359 Tietze, Hans 189, 210 Toland, John 403 Tomek, Václav Vladivoy 140, 141 Topitsch, Ernst 152, 154, 159, 382 Toulmin, Stephen 18, 19, 223, 231– 233 Twesten, Karl 163 Ulbrich, Josef 115, 172, 327, 341, 343, 345–348, 366, 367 Ule, Carl Hermann 253 Umlauft, Friedrich 46 Unger, Josef 140, 141 Urbach, Franz 481 Valéry, Paul 537 Van Swieten, Gerhard 330 Van Swieten, Gottfried 331–333 Vandrák, András 154 Vasold, Georg 194 Verdross, Alfred 62, 285, 288 Vischer, Friedrich Theodor 33 Voegelin, Erich 342–348, 354, 366, 367, 374, 481 Vogelsang, Karl 478 Vogt, Theodor 150, 177 Volkmann, Wilhelm 150 Volkov, Shulamit 82 Vorländer, Karl 130 Wahle, Richard 172 Walser, Martin 531 Walter, Robert 255, 323 Wangermann, Ernst 332 Warburg, Aby 395, 507, 508, 514– 516 Warburton, William 403
| 633
Ward, Lester F. 355 Weber, Marianne 396 Weber, Max 24–26, 31–33, 111, 211, 250, 262, 266, 395–397, 424, 512 Weiler, Bernd 356, 357, 363 Weiß, Edoardo 415 Werböczy, Stephan 328 Werfel, Franz 484 Werner, R[ichard] M[aria] 172 Weyr, Franz (František) 247, 248, 259 Whitehead, Alfred North 228 Wickhoff, Franz 188, 193 Wiesing, Lambert 199 Wilder, Thornton 435 Wilhelm II., Kaiser 85 Williams, Raymond 93 Willmann, Otto 150, 177 Winckelmann, Johann Joachim 190, 195 Winckelmann, Johannes 396 Windischgrätz, Alfred 43 Winter, Eduard 123, 129, 150, 154 Wittgenstein, Ludwig 14, 17, 18, 70, 108, 116, 211–223, 225, 228, 233, 292, 408 Wolff, Christian 117, 146, 151 Wright, Georg Henrik von 218 Wunberg, Gotthart 18, 187 Wundt, Wilhelm 121, 171, 314, 316 Yerushalmi, Yosef H. 399, 410, 436, 446, 448, 450, 452, 456, 500, 506 Zeiller, Franz von 137, 154, 335– 337, 339 Zimmermann, August 149 Zimmermann, Robert 61, 114, 117, 119, 121, 123–127, 129–131, 142, 147, 149–151, 156, 158, 160, 161, 163, 168, 173, 177, 178, 182, 190, 195–199 Žižek, Slavoj 100 Zola, Émile 33 Zweig, Arnold 413, 414, 471, 505 Zweig, Stefan 415, 472
Science Studies Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0
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