Von Hegel zu Kelsen: Rechtstheoretische Aufsätze [1 ed.] 9783428404094, 9783428004096


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German Pages 88 [89] Year 1963

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Von Hegel zu Kelsen: Rechtstheoretische Aufsätze [1 ed.]
 9783428404094, 9783428004096

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Ossi" K. Flec:htheim . Von Hegel zu Kelsen

Von Hegel zu Kelsen Remtstheoretisme Aufsätze

Von

Prof. Dr. Dr. Ossip K. Flemtheim

DUNCKER & HUMBLOT . BERLIN

Alle Rechte vorbebalten

© 1963 Dundth.i m

Recht und Gesellschaft bei Marx

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auch juristisch schlecht sein wird (preußisches Landrecht); wobei man aber auch, nach einer großen bürgerlichen Revolution, auf Grundlage eben dieses römischen Rechts, ein so klassisches Gesetzbuch der Bourgeoisgesellschaft herausarbeiten kann wie der französische code civil.« Immer wieder preist Engels diesen als "das Gesetzbuch, das allen neuen Kodifikationen in allen Weltteilen zugrunde liegt"34. Das Recht ist also aufs innigste mit dem Geflecht der Kultur und Gesellschaft verwoben. Es ist daher witzlos, ein absolutes Naturrecht oder eine ewige Gerechtigkeit stipulieren zu wollen. Das Recht kann nach Marx35 "nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft". Man dürfe nicht vergessen, "daß das Recht ebensowenig eine eigene Geschichte hat wie die Religion"36, "daß jede Form der Produktion ihre eigenen Rechtsverhältnisse ... erzeugt"37. In einer Schrift, die Jahrzehnte vor dem Beginn der Reinen Rechtslehre liegt, antizipiert Engels 38 die entscheidenden Argumente Kelsens gegen die Existenz der "ewigen Gerechtigkeit": Diese "ist immer nur der ideologisierte, verhimmelte Ausdruck der bestehenden ökonomischen Verhältnisse, bald nach ihrer konservativen, bald nach ihrer revolutionären Seite hin. Die Gerechtigkeit der Griechen und Römer fand die Sklaverei gerecht: die Gerechtigkeit der Bourgeois von 1789 forderte die Aufhebung des Feudalismus, weil er ungerecht sei. Für die preußischen Junker ist selbst die faule Kreisordnung eine Verletzung der ewigen Gerechtigkeit. Die Vorstellung von der ewigen Gerechtigkeit wechselt also nicht nur mit der Zeit und dem Ort, sondern selbst mit den Personen, und gehört zu den Dingen, worunter, wie Mülberger richtig bemerkt, ,jeder etwas anderes versteht' ... " Allerdings glauben Marx und Engels als historische Deterministen im Gegensatz zu Kelsen nicht, daß der Inhalt des Rechts im wesentlichen zufällig oder willkürlich ist. Da es ja letztlich vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterbau determiniert wird, ergibt sich unter Umständen so etwas wie ein "Naturrecht" oder besser: Rechtsmodell einer gegebenen Gesellschaftsordnung. So heißt es bei Marx39 durchaus folgeBrief an Schmidt, a. a. 0., S. 464. Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften. Bd. 2, S. 17. 38 Die deutsche Ideologie, S. 63. 37 Einleitung zu einer Kritik der politischen ökonomie, a. a. 0., S. 63. 38 Zur Wohnungsfrage, a. a. 0., S. 592 f. 39 Das Kapital, Bd. 3, Berlin (Ost) 1951, S. 372. 34

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richtig: " ... von natürlicher Gerechtigkeit hier zureden, ist Unsinn. Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktions agenten vorgehn, beruht darauf, daß diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen, worin diese ökonomischen Transaktionen als Willenshandlungen der Beteiligten, als J\ußerungen ihres gemeinsamen Willens und als der Einzelpartei gegenüber von Staats wegen erzwingbare Kontrakte erscheinen, können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht ... " "Die bürgerlichen Rechtsbestimmungen " können immer nur "die ökonomischen Lebensbedingungen der Gesellschaft in Rechtsform ausdrücken", - dies kann aber "je nach Umständen gut oder schlecht geschehen "40. In anderer Hinsicht stehen Marx und Engels dem Naturrecht noch antagonistischer gegenüber als etwa Kelsen. Immerhin übernimmt Kelsen für das positive Recht die Einheitlichkeit und Einheit, die Widerspruchsfreiheit und Geltung des Naturrechts. Hegel hatte die Welt inhaltlich rationalisiert: Alles wurde bei ihm zum Rechtsinhalt und damit zum Bestandteil der Vernunft und Freiheit (so z. B. auch der Krieg und die Eigentumsungleichheit). Die widerstreitenden Interessen von Verbrecher und Gesellschaft, von Regierung und Volk wurden als identisch deduziert: Man denke nicht nur an seine Staatstheorie, sondern auch an seine Straftheorie. Im Gegensatz zu Hegel war bei Kant - dem früheren Stadium der bürgerlichen Entwicklung gemäß - der Inhalt noch streng von der Form getrennt: Der Inhalt war als "Ding an sich" vorgegeben, nur die Form war der Vernunft entsprungen. Entsprechend stand hier alles im Zeichen der Antinomie von Sein und Sollen. Kelsen ist ausgesprochener Neukantianer: Dualismus von Sein und Sollen, von Form und Inhalt ist für ihn typisch - Sein "Rationalismus" beschränkt sich auf die Form des Rechts. Diese Rechtsform stellt für ihn eine rein technische Regelung dar, die in allen Gesellschaftsordnungen zu finden ist. Der Rechtsinhalt ist dagegen stets nur positiv gesetzt und kann sehr unvernünftig sein. Für Kelsen ist nämlich die gesellschaftlich-geschichtliche Welt im wesentlich amorph, gesetzlos, willkürlich. Die einzige Gesetzlichkeit in ihr ist die juristische. Diese ist für die Gesellschaft, was für die Natur die Naturgesetzlichkeit ist. 40

J*

Engels, L. Feuerbach ... , S. 369.

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Für Marx und Engels bleibt hingegen das Recht als ein entfremdeter und entmenschter Bereich auch in seiner Entfremdung und Verdingtlichung noch Bestandteil der geschichtlich-gesellschaftlichen Totalität. Kelsen glaubt die Widersprüche im Recht durch subtilere theoretische Konstruktion eliminieren zu können; nach Marx und Engels lassen sich die juristischen Antinomien nur mit dem Recht selber durch die praktisch-revolutionäre Aktion "aufheben"41. Sucht man die rechtstechnischen und ideologiekritischen Elemente der Reinen Rechtslehre mit der Marx'schen Gesamtkonzeption zu verbinden, so kann man im Recht nur eine soziokulturelle Sphäre sehen, die mit den anderen Lebensbereichen verbunden bleibt, obwohl sie sich ihnen auch immer wieder entfremdet. Der normative Charakter des Rechts ist diesem wesentlich das Recht ist auch insofern mehr als bloßer Zwang oder bloße Chance. Von Recht können wir überhaupt nur dort sprechen, wo neben die konkreten Maßnahmen auch ein System abstrakter Regeln tritt. Behauptet Carl Schmitt-Dorotic42 , die Eigenart der Rechtsform gegenüber der technischen und ästhetischen Form beruhe auf der "Dezision", so ist dieser Wille, wie Marx und Engels mit Recht betonen, stets gesellschaftlichgeschichtlich geformt. Kelsen hat darüber hinaus unterstrichen, daß die "Geltung" für die Rechtsform als generelle Norm typisch ist. Das Sollen der Rechtsnorm, die "gilt", kann man nun wiederum als zeitlich-räumlich fundierte Vergegenständlichung und Verdinglichung typisch menschlicher Verhaltensweisen im Sinne von Marx interpretieren. So ist die normative Rechtsordnung Produkt der menschlichen Gesellschaft und des historischen Prozesses, gewinnt aber, nachdem sie sich vom Bewußtsein derer 41 Grundlegend für die Auffassung von Marx und Engels ist, daß in den verschiedensten Sphären immer wieder Recht gegen Recht stehen kann - es entscheidet dann der Kampf um die Macht! Bei der Bestimmung der Grenze des Arbeitstages findet "eine Antonomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt". (Das Kapital, Bd.1, S.243) - Anläßlich des Kampfes des preußischen Königs mit der Nationalversammlung 1848 heißt es bei Marx (Marx/Engels, Gesamtausgabe I, Bd. 7, 1935, S. 424): "Sobald die bei den Souveräne sich nicht mehr vereinbaren können oder wollen, verwandeln sie sich in zwei feindliche Souveräne. Der König hat das Recht, der Versammlung, die Versammlung hat das Recht, dem Könige den Handschuh hinzuwerfen. Das größere Recht ist auf der Seite der größern Macht. Die Macht erprobt sich im Kampfe. Der Kampf erprobt sich im Siege. Beide Mächte können ihr Recht nur durch den Sieg bewähren, ihr Unrecht nur durch die Niederlage." 42 Politische Theologie, 2. Ausgabe 1934, insbesondere S. 25 ff. und S. 67 ff.

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löst, die sie geschaffen haben, ein Eigendasein, das zeitlos und ewig zu sein scheint. Hegel charakterisierte diese Seinsweise als "objektiven" und "absoluten Geist", als eine Art transzendentes überbewußtsein. Seit Freud können wir weniger geheimnisvoll erklären, daß diese zeitlosgeistigen Schöpfungen der menschlichen Seele im Unbewußten des Menschen aufgespeichert sind und bleiben. Wie der logische Satz, die ästhetische Form oder auch das Naturgesetz ist mithin auch die Rechtsnorm, die ihrerseits wohl auch auf Logik und Psychologie reduzierbar ist, zugegebenermaßen mehr als ein rein psychologischer Ablauf - sie ist nämlich, um es zu wiederholen, als Teil der soziokulturellen Tradition eine objektivierte und fetischisierte Vermittlung zwischen dem Menschen und der Natur-Gesellschaft- Geschehen-Sollendes-Seiendes in die menschliche Sprache übersetzt43 •

llI. Die Natur des Rechts wird noch deutlicher, wenn wir uns nun seinen Antinomien zuwenden. Hierbei ist es angebracht, das klassische innerstaatliche Recht mit dem klassischen Völkerrecht zu kontrastieren. Ist das Wesen der Rechtsnorm zunächst ihre generelle Abstraktheit, so müssen noch weitere Kriterien hinzutreten, bevor wir von einem vollentfalteten innerstaatlichen Recht sprechen können. Ein Minimum von "Abhebung", Loslösung und Differenzierung von der sozialen, politischen, ökonomischen Basis muß vorausgegangen sein. Diese Differentiation schlägt sich in der typischen Form des Rechts im Gegensatz etwa zur ästhetischen Form nieder. Ein Mindestmaß an Förmlichkeit oder Formalismus und "formaler Rationalität" im Sinne der Vorherberechenbarkeit (M. Weber) dürfte aus der Abstraktheit der Rechtsnorm resultieren. All das setzt voraus, daß die Arbeitsteilung der Gesellschaft entsprechend fortgeschritten ist, die sozialen Beziehungen eine bestimmte Regelmäßigkeit und Dauer aufweisen, eine stabile Instanz die Konflikte regelt (Apparatur im Sinne von Max Weber). Das allgemeine Bewußtsein muß sich bereits beträchtlich differenziert, ein besonderes "Rechtsbewußtsein" aus ihm ausgesondert haben. Die Verweltlichung der gesellschaftlichen Denkkategorien muß einen hohen Grad erreicht haben, an die Stelle - oder vielmehr neben! - den Gott oder die Götter muß der Staat getreten sein, der insoweit wirklich die Personifikation (= Verdinglichung) der Sozialordnung als Rechtsordnung darstellt. 43

Vgl. auch Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 380 und S. 596.

as

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Im Privatrecht der innerstaatlichen Rechtsordnung wird der Zwang direkt in den Dienst der Durchsetzung widerstreitender Privatinteressen gestellt. Im Strafrecht nimmt er als "Sühne", "Vergeltung" usw. eine eigentümlich irrationale, religiös-ethische Gestalt an. In seiner geschichtlichen Entstehung aus Blutrache und Achtung (Friedloslegung) spiegelt er den Interessenwiderstreit zwischen dem Individuum und der "Gesellschaft" bzw. deren tonangebenden Mitgliedern wider. Hingegen beruht der Zwang im klassischen Völkerrecht zwar auch auf Interessenwiderstreit, deckt sich aber hier unmittelbar mit der gesellschaftlich-politischen Gewalt und Macht, ist daher nicht eigentlich Rechtszwang. Fehlt doch jeder Rechtsapparat, jede Verselbständigung gegenüber der politisch-diplomatischen Basis, jede echte Unabhängigkeit der Form. So kommt es, daß hier das Typisch-Juristische mit dem "Ideologischen" par excellence im Sinne des Verhüllenden, Verzerrenden und die Macht Apologisierenden identisch ist. Das Völkerrecht ist Ideologie, der Völkerrechtstheoretiker Ideologe kat exochen. Zugegebenermaßen mag sogar in dieser Ideologie auch ein Stückchen fortschrittlich wirkender Eigendynamik stecken (so etwa bei Kelsen, den Monisten, Rechtspazifisten usw.). Wegen der fast vollständigen Kongruenz von Völkerrecht und Diplomatie hat jedoch der überbau nur ganz wenig Möglichkeiten, den Unterbau wirklich zu verändern. Statt dessen fungiert er im wesentlichen als Verklärung, Sanktionierung, Legitimierung des Unterbaus. Im innerstaatlichen Recht unterscheidet sich der Rechtszwang vom Unrechtszwang durch die verschiedene Stellung im Rechtssatz (Rechts folge - Rechtsbedingung). Diese Unterscheidung ist nur die methodisch-technische Spiegelung der Verschiedenheit von Normsubjekt und Normobjekt, von Normproduzenten und Normadressaten, von Rechtsorgan und Rechtsuntertan, von berechtigtem Machthaber - der aber auch zugleich sekundär Machtunterworfener ist! - und unberechtigtem Machtunterworfenem - der gleichzeitig sekundär Machthaber ist! Typisch ist hier die Konzentrierung, wenn nicht gar Monopolisierung der Gewalt beim Rechtsorgan, d. h. beim Staat. Hier kann nicht davon die Rede sein, daß der eine Zwang ohne weiteres in den anderen umschlägt. Vielmehr nimmt ein Apparat die Umsetzung mittels eines förmlich-geregelten Verfahrens vor. So verjährt zum Beispiel eine Straftat, bildet sich ein Gewohnheitsrecht - die Revolution kann so als komprimiertes Gewohnheitsrecht interpretiert werden! -, erwirbt ein Nichtberechtigter durch Ersitzung Eigentum erst nach einem bestimmten Zeitablauf. Während im Völkerrecht "Recht" und "Unrecht" ohne saubere Scheidung dauernd

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ineinanderübergehen, wird das Problem des Zusammenhangs von Gewalt, Straftat, Unrecht einerseits, Rechtssanktion andererseits im innerstaatlichen Recht so gelöst, daß nur unter vom Recht selber fixierten Voraussetzungen etwa ein Duell rechtsindifferent, die Selbsthilfe und Notwehr rechtmäßig, der Ehebruch straflos sind. Nur in der Feststellung der letzten Instanz, des Parlaments oder Obersten Gerichts, der "souveränen" Verwaltungs- oder Regierungsstelle, wird eine unrechtmäßige Handlung oder rechtswidrige Unterlassung etwa des Organs selber, z. B. das verfassungswidrige Gesetz, das gesetzwidrige Urteil, die rechtswidrige Verfügung, in ein rechtmäßiges Phänomen transformiert. Der Widerspruch von Recht und Rechtswidrigkeit löst sich im innerstaatlichen Recht so, daß jedes der beiden Glieder des Rechtssatzes vom anderen losgerissen und auf mindestens zwei "Rechtsorgane" verteilt wird, daß zwei Menschen oder Menschengruppen die Rollen des Rechts und des Unrechts spielen. Im Völkerrecht ballt sich dieser Widerstreit zum Widerspruch, der Konflikt zur Antinomie zusammen. Das klassische Völkerrecht kennt nur Staaten: Alle ihre Handlungen können zugleich Rechtshandlungen und Delikte sein: Jedes Delikt ist rechtmäßig und jede Rechtshandlung kann "rechtlos" sein - nach den Prinzipien der Effektivität, des Gewohnheitsrechts, der Verjährung, Ersitzung, Nichtigkeit usw. Es kommt nur auf die Macht an: Zur Rechtfertigung ("Ideologisierung") steht immer die eine von zwei einander widersprechenden Rechtsnormen zur Verfügung, die beide gleichzeitig " gelten" und von denen immer erst diejenige als "gültig" anerkannt wird, die sich durchgesetzt hat. Es fehlt daher auch die Möglichkeit rationaler Vorauskalkulation. Die Effektivität steht im Gegensatz zur Legitimität, der Grunds::ttz pacta sund servanda zur clausula rebus sic stantibus, die Theorie vom bellum iustum zur Idee der Kriegsfreiheit, die Souveränität zu den Verträgen zu Lasten Dritter, die Gleichheit aller Staaten zur Gesetzgebung des "Europäischen Konzerts" und zur Vormachtstellung der Großmächte, das Neutralitätsrecht zu den Völkerbundspflichten, das Verbot der Intervention zum Interventionsrecht usw. Der Staat soll zwar dies tun - tut er aber jenes, so ist es auch rechtens. Er hat sich verpflichtet, dieses zu tun; nun unterläßt er es und verstößt doch nicht gegen die Legalität. Die "Verträge", die "Willenserklärungen", die "Rechtsgeschäfte" des Völkerrechts sind immer nur zweiseitig, Ausdruck eines zurzeit vorhandenen politischen" Willens" und nie bindend. Jeder Staat ist frei, den anderen im Krieg zu vernichten, die Verträge zu brechen, "Delikte" zu begehen. Es steht immer nur Macht gegen Macht,

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nicht formalisierte und organisierte "Sanktion" gegen formlose und ungeregelte Gewalt. Das klassische Völkerrecht ist Spielregel, diplomatisme Courtoisie, religiöse oder profane "Ethik", schließlich auch "öffentlime Meinung" des Staates oder gar der" Welt". Es entsmeidet keine von der Politik "distanzierte" Instanz, sondern nur das Schicksal über die Politik - nicht vor dem Forum des Haager Gerimtshofs, sondern der" Weltgesmichte" . Heute ist diese alte "Erkenntnis" von praktismer Bedeutung, da sich sogenannte Demokratien und Diktaturen gegenüberstehen. Da das Völkerrecht in Wahrheit Völkermoral ist, so ist das Verhältnis der Staaten zur Völkermoral wesentlim. Die "demokratismen" Staaten sind dieser in Gestalt der "öffentlimen Meinung" (Weltmeinung, Gewissen des Landes qua Opposition, Parlament, Presse- und andere Freiheiten) viel stärker unterworfen als die fascistischen. Für diese ist jeder Vertrag nur macchiavellistisches Mittel zum Zweck, d. h. ideologische Verhüllung der eigentlimen Zielsetzung. Sie sind ganz anders von der "Eigenrnacht" juristischer Ideologien frei als die Demokratien, die, obwohl aum Machtstaaten, doch stets dahin tendieren, einer fatalen Selbsttäuschung zu erliegen. Aus diesen Gründen ist die Forderung von Mirkin-Getzewitsch, beide Staatstypen nicht als vor dem Völkerremt gleiche Subjekte zu identifizieren, sinnvoll. Versuchen wir zum Smluß unsere Analyse des Rechts zusammenzufassen. Im Gegensatz zu Kelsen sehen wir in der Rechtsordnung ein widerspruchsvolles und nach allen Seiten offenes System. Es stellt ein Kontinuum dar, das sowohl in der Dimension der historischen Zeit wie in der des sozio-kulturellen Raumes in andere Systeme und Sphären übergeht. Auf der einen Seite - näher dem Unterbau - verwandelt sim das Recht unmerklim in Sitte - Engels zufolge war die gemeinsame Regel für die Produktion und den Austausm zuerst Sitte, dann GesetzU - oder soziale und politische Macht, auf der anderen Seite im überbau in Gerechtigkeit und Freiheit, rationale Funktionalität und Führung. Während sich für Kelsen aum in der Zukunft, über die wir wenig wissen können, am Wesen des Rechts nichts ändern wird, war Marx45 zutiefst davon durmdrungen, daß in "der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" "der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden" würde, mit dem Staat auch das "gleiche Recht", das immer seinem Inhalt nam auch ein "Recht der Ungleichheit" sein müsse, da es stets in der Anlegung vom gleichen Maßstab an ungleiche Individuen bestehe, yerschwinden würde zugunsten einer freien solidarischen

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Fraternität der ganzen Menschheit. Ob sich diese Zukunftserwartung je realisieren wird, mag dahingestellt bleiben. Daß sich bereits in der spätbürgerlich-sozialkapitalistischen Gesellschaft ein tiefgehender Wandel in der Gestalt und Funktion des »bürgerlichen Rechts" anbahnt, wird kaum zu bestreiten sein.

U

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Zur Wohnungsfrage ... , S. 592. Kritik des Gothaer Programms, S. 17.

Recht und Gesellschaft: Einige pluralistisch-soziologische Randglossen zur Reinen Rechtslehre I. Heute - ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Kelsens .. Hauptproblemen der Staatsrechtslehre" - ist die rechtssystematische und rechtstechnische Leistung der Reinen Rechtslehre fast überall zum festen Bestandteil rechtstheoretischen Denkens geworden1• Ihre crux dürfte eher darin liegen, daß sie mehr zu leisten scheint, als überhaupt möglich ist. Sie neigt dazu, jene Tendenzen der Rechtsordnung zu verabsolutieren, die auf Widerspruchslosigkeit, Einheit und Eindeutigkeit, Geschlossenheit und Reinheit, Formalismus und Monismus, Normativität, Objektivität und Universalität abzielen. Die Reine Rechtslehre konstruiert einen Idealtypus des Rechts, was außerordentlich verdienstvoll ist. Die Frage ist nur, ob bei dieser Konstruktion nicht die Fühlung mit der geschichtlich-gesellschaftlichen, kulturell-zivilisatorischen Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle und Widersprüchlichkeit, Komplexität und Pluralität zu sehr verlorgengeht. Gerade heute im Zeitalter der terroristisch-totalen Herrschaftssysteme, des Militär- und Verwaltungsstaates und des globalen, totalen und lethaien Krieges können wir uns fragen, ob nicht eine andere idealtypische Konstruktion des Rechts, selbst wenn sie weniger rein, geschlossen und widerspruchsfrei ist, dafür aber die Verknüpfung von Recht, Gesellschaft und Kultur stärker betont, mehr zur Erhellung der Gesellschaft und Politik, des Staates und sogar auch des Rechts - seiner gegenwärtigen Problematik wie seiner zukünftigen Entwicklung - beizutragen vermag. Insbesondere beruht Kelsens Forderung nach Widerspruchslosigkeit ganz auf dem Wesen unserer klassischen Logik, die wiederum von unserer Denk- und Sprachstruktur abhängt. Nun kennen wir aber heute 1 So ist man darüber erstaunt, daß ein Kompendium wie Joachim HellmeT, Recht (Das Fischer-Lexikon, Bd. 12), 1959, im Text keinen einzigen Hinweis auf die Reine Rechtslehre oder Kelsen enthält. Ist auch in dieser Beziehung die Bundesrepublik ein" unterentwickeltes Land"?

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Sprachen mit einer sogenannten Mehrwertlogik. In der Sprache der Hopi-Indianer werden zum Beispiel die Worte gut und böse im Sinne von überwiegend gut bzw. böse gebraucht. Jedermann ist dort mehr oder weniger böse oder gut, kann heute böse und schon morgen wieder gut sein. Wir können uns sehr wohl fragen, ob eine solche "dialektische" Mehrwertlogik nicht in manchem der Natur eines so komplexen Kulturbereichs wie des Rechts gerechter wird als eine Zweiwertlogik. Es gäbe dann Normen und Normsysteme, die mehr oder weniger "rechtlich" wären. Zugegebenermaßen wird der praktische Jurist mit einer solchen Aussage nur wenig anfangen können. Er braucht ein klares Ja oder Nein für seine Entscheidungen. Gerade hierin zeigt sich aber der entfremdete und verdinglichte Charakter des Rechts. Die Rechtstheorie kann sich nun darauf beschränken, eine "Theorie des Rechts-Positivismus"22 im engeren Sinne darzustellen. In diesem Falle wird sie in der Tat so zu verfahren haben, wie es die Reine Rechtslehre tut. Sie kann aber auch darüber hinaus versuchen, "ihre Methode kritisch zu klären"3. Dann wird sie jedoch pluralistisch-soziologisch vorgehen und gerade die Widersprüche des Rechts und im Recht als einer verdinglichten Seinssphäre nicht zu beseitigen versuchen, diese vielmehr klar hervorheben müssen.

H. Beginnen wir mit einer system-immanenten Kritik einiger Grundbegriffe Kelsens. Kelsen legt großen Wert auf die "objektivistisch-universalistische Haltung" der Reinen Rechtslehre4 • Im Interesse der organischen Einheit und Widerspruchslosigkeit des Rechtsganzen löst er das sogenannte "subjektive Recht in allen seinen Erscheinungsformen: Berechtigung, Rechtspflicht, Rechtssubjekt als vom objektiven Recht verschiedene Wesenheit" auf und begreift es "nur als besondere Gestaltung oder personifikative Darstellung des objektiven Rechts"5. Kelsen glaubt, daß die Rechtspflicht primär, die Berechtigung sekundär sei6 : "Während jene als die eigentliche und ausnahmslose Funktion jeder Rechtsnorm, erscheint diese entweder - als privatrechtliche Berechtigung - nur als 2 S. 38 (Zitate ohne nähere Angabe beziehen sich immer auf Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934). 3 S.37. 4 S.60. s S.60. 6 S.51.

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Institution einer kapitalistischen oder - als ,politische' Berechtigung nur als Einrichtung einer demokratischen Rechtsordnung7 ." Indem die Reine Rechtslehre diesen in der Tat alten Antagonismus aufhebt, mag sie rechtstechnisch wirklich die Problematik klären und vereinfachen. Doch bewirkt sie zugleich politisch-historisch gesehen, daß die Rechtsposition des Menschen gegenüber der Macht geschwächt wird. Es geht dabei nicht nur um »die spezifische Technik der kapitalistischen Rechtsordnung"8, auch nicht nur um das Eigentum (Kelsens Analyse des Eigentums als eines Rechtsverhältnisses des Subjekts zu anderen SubjektenO ist weitgehend richtig), sondern um alle Bürger-, Grund- und Menschenrechte, wie sie sich im Verlaufe der Geschichte, insbesondere seit den großen Revolutionen, unter unendlich vielen Rückschlägen doch langsam durchzusetzen beginnen, wobei sogar Eigentums- und Besitzrechte eher hinter den Persönlichkeits- und Sozialrechten zurücktreten. Immer wieder stoßen die Bestrebungen der Machthaber, die Rechte der Untertanen einzuschränken, deren »Recht" in »Unrecht" zu verwandeln, mit dem Drang der Bürger, ihre Rechte auszubauen, ihr» Unrecht" in »Recht" zu verwandeln, zusammen - und diesen welthistorischen Kampf spiegelt der Dualismus zwischen subjektivem Recht und objektiver Rechtsordnung besser wider als ein noch so eleganter Monismus. Entsprechend dürfte das profane Rechtsbewußtsein diesem Antagonismus gerechter werden als die so subtile Reine Rechtslehre.

III. Kelsen zufolge ist das Recht eine Zwangsordnung, die mit einer bestimmten sozialen Technik arbeitet. Diese sucht das menschliche Verhalten durch die Entziehung eines Gutes zu einem normgemäßen Verhalten zu bewegen. Da nur der vernunft- und willensbegabte Mensch motiviert werden kann, beschränkt sich der Inhalt der Rechtsnormen stets auf das Handeln oder Unterlassen eines Menschen10• Das alles erscheint zunächst ganz unproblematisch - sowohl dem traditionellen Juristen wie auch Kelsen, da es aus der Tradition dessen stammt, was man mangels eines besseren Namens das »klassische" Recht und die »klassische" Rechtstheorie nennen könnte. Für diese stand stets der Mensch im Mit7 8

o 10

S. 51 f. S.48. S.45. S. 28 ff.

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telpunkt der Rechtsordnung. Zwar waren nicht alle Menschen "gleichberechtigt", ja, es gab immer wieder Menschen - Individuen oder gar ganze Gruppen (Klassen, Völker, Rassen usw.) -, die überhaupt nicht berechtigt waren, d. h. außerhalb der Rechtsordnung standen, für diese nicht als Rechtssubjekte, sondern nur als Objekte zählten - so wie das Vieh11 oder der Pflug. Ganz rechtlos waren zum Beispiel oft die "Barbaren" und die Sklaven. Diese galten dann aber in der Regel gar nicht als "Menschen". Guten Gewissens und ganz unverblümt wurden sie als Sachen behandelt. Die allgemeine Rechtsentwicklung geht dann dahin, den Kreis der Berechtigten auszuweiten und sogar eine, wenn auch noch so begrenzte, Annäherung in der Rechtsstellung der Menschen innerhalb einer staatlichen Rechtsordnung, ja, schließlich sogar in der ganzen Welt herbeizuführen. Diese Tendenzen sind so stark, daß gegen Ende des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung kaum jemand wagen kann, sie ganz zu negieren. Andererseits gehört es zum Bild unserer Epoche, daß in hochentwickelten Rechtsordnungen plötzlich ganze Menschengruppen wieder total entrechtet werden. Die Zwangsarbeit und "Säuberung" im stalinistischen System, die Verfolgung und Dezimierung der "Eingeborenen" in den Kolonien oder Südafrika, vor allem aber die nationalsozialistische Ausrottungspolitik im Dritten Reich sind aus der Rechtsgeschichte der Neuzeit ebenso wenig wegzudenken wie die Vernichtung der Zivilbevölkerung im zweiten (und dritten?) Weltkrieg. Wie wird die Reine Rechtslehre mit diesen Erscheinungen fertig? Wenn Kelsen davon ausgeht, daß die Rechtsordnung auf ein Verhalten mit einem Zwangsakt reagiert und diesen als Strafe und zivile oder administrative Zwangsvollstreckung umschreibe\ so wären alle die eben erwähnten "Zwangsakte" nicht erfaßbar. Selbst wenn man Zwangsakt weiterfaßt, wie Kelsen das an anderer Stelle tue 3, so bliebe immer 11 Selbst noch ein John Locke, Two Treatises of Government, 1690, stellt einmal in überraschender Naivität den Diener auf dieselbe Stufe wie das Pferd (hier zitiert nach W. Ebenstein, Man and the State, 1947, S. 332).

12

S.25.

S. 29. - Der Begriff des "Zwanges" oder "Zwangsaktes" leidet an einer beträchtlichen Unbestimmtheit. Es gibt neben dem unmittelbaren physischen Zwang auch psychischen Zwang (Drohungen und Strafen, Manipulierung materieller Vergünstigungen, Manipulierung immaterieller Vergünstigungen, Manipulierung von Worten, Gesten und Symbolen) (vgl. im einzelnen Flechtheim, Grundlegung der politischen Wissenschaft, 1958, S. 54 ff.). Nach Gustav Heckmann (Der nichtverletzende Widerstand, in: Frankfurter Hefte, 17. Jg., 1962, S. 808; ähnlich schon vorher Franz KobleT, Gewalt und Gewaltlosigkeit, 13

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noch der Einwand, daß in all diesen Fällen nicht das Verhalten geregelt wird. Auch können die Betroffenen nicht "bestrebt" sein, dem Zwangsakt durch "gegenteiliges Verhalten" auszuweichen14 • Die Bewohner von Lidice oder Oradour, die Insassen von Auschwitz oder Workuta hatten ebenso wenig eine Wahl wie die Einwohner von Rotterdam oder Warschau, Conventry oder Dresden, Hiroshima oder Nagasaki. Bei ihrer Ausrottung spielte auch "das für das gesellschaftliche Leben entscheidende Prinzip der Vergeltung, das in den Sanktionen vorschreibenden Normen des Rechts ... zur Anwendung kommt"15, nicht die geringste Rolle. Es bliebe also nur die Konstruktion der Kollektiv- und Erfolgshaftung aus dem Völkerreche 6 oder die, die Kelsen in bezug auf den Verwaltungsstaat anwendet17 • Hier beschränken sich die beamteten Organe nicht auf die Erzeugung und den Vollzug von Normen - sie "verfolgen den Staatszweck direkt, indem sie den sozial erwünschten Zustand unmittelbar setzen". Die Rechtsnorm bezieht sich nur auf die Beamten, andere Staatsorgane sind angewiesen, "gegen die pflichtwidrig sich Verhaltenden" (also etwa die Ausrottungsbefehle nicht befolgenden Beamten) "mit Zwangsakt zu reagieren"18. Sicherlich eine sehr ingeniose Konstruktion! Kann man bei ihr aber ein - nicht nur moralisches! - Unbehagen ganz unterdrücken? Sie führt doch dahin, daß die letztlich von den eigentlichen Zwangs akten Betroffenen überhaupt nicht mehr als Rechtssubjekte oder, um mit Kelsen zu sprechen, als "Zurechnungspunkte" existieren. In diesem Falle würde auch wohl Kelsen zögern, seinen "weiten und formalen Organbegriff" auf die Objekte der Ausrottungspolitik anzuwenden. Ganz wie HegeI betont Kelsen19, daß bei einem weiten und formalen Organbegriff auch Zürich und Leipzig 1928, S. 19 ff.) ist jeder Druck auf einen anderen psychischer Zwang oder "Gewalt". Diese Gewalt kann aber "verletzend" sein, wenn sie die Person des anderen nicht achtet und diesen "kampfunfähig" oder handlungsunfähig macht. Sie ist "nicht verletzend", wenn sie sich ausschließlich auf eine bestimmte Handlung oder Maßnahme des anderen beschränkt (z. B. Zwangsräumung oder Geldstrafe im Gegensatz zur Todesstrafe, Prügelstrafe, aber auch Freiheitsstrafe, Vermögenskonfiskation usw.). 14 S.29. 15 Hans Kelsen, Naturrechtslehre und Rechtspositivismus, in: Politische Vierteljahresschrift, 3. Jg., 1962, S. 318. 16 S. 27, 132. 17 S. 122. 18 S. 122. 19 Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht, m: Zeitschrift für öffentliches Recht, 12. Bd., 1932, S. 499 f.

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die Erfüllung einer Pflicht als Organ funktion der diese Pflicht statuierenden Ordnung gedeutet werden kann. Den Verbrecher als Organ des Staates zu qualifizieren, ein Organ gegen ein anderes vorgehen zu lassen, den Staat sich selbst strafen und exequieren zu lassen, sei kein rechtslogischer, höchstens ein teleologischer Widerspruch, obwohl "auch der Mensch, an dem die Strafe vollstreckt wird, als Glied des Staats ihn irgendwie repräsentiert". Sollen wir aber wirklich auch die Opfer von Auschwitz als "Glieder des Staats" ansehen, die auch "irgendwie" das Dritte Reich "repräsentieren"? Es bleibe dahingestellt, ob das nur ein politischer oder ethischer, nicht jedoch ein rechtstheoretischer Einwand ist. Hinzu kommt, daß auch die Rechtspflichten der "beamteten Staatsorgane" meist nicht offen stipuliert werden. Sie ergehen in der Form von Geheimbefehlen. Zum Teil handelt es sich eher um Ermächtigungen als um Verpflichtungen, um höchst unklare " Richtlinien ". Die Maßnahmen segeln unter falscher Flagge, sie spielen sich in einer Zone des Zwielichts ab. Sie stehen in krassestem Widerspruch zu anderen öffentlich statuierten Normen, etwa des Strafrechts oder Privatrechts, des Staatsrechts oder Völkerrechts, die nach außen weiterhin gelten. Die sogenannte "Sonderbehandlung" der Juden oder Euthanasieopfer wird wohl auch nur sehr bedingt als "Recht" empfunden - nicht nur bei den Opfern, auch bei der öffentlichkeit fehlt das Bewußtsein, daß Rechtsnormen angewandt werden. Ja, selbst die Machthaber und ihre Helfershelfer sind unsicher - sie sprechen oft von "Notmaßnahmen", "politischen Akten" usw. und lehnen es ab, sich zu ihnen in der öffentlichkeit zu bekennen. Im Gegenteil, jede öffentliche Erwähnung wird als "Greuelpropaganda" schärfstens verfolgt. Soll man unter diesen Umständen diese Maßnahmen wirklich als Bestandteil der Rechtsordnung qualifizieren, nur weil hinter ihnen die Macht jener steht, die über die Rechtserzeugung verfügen, weil, um mit Kelsen zu sprechen, sie Teil "einer bestimmten Ordnung (oder Organisation) der Macht"20 sind? Sollte man nicht doch höhere Anforderungen an den Charakter der "Machtordnung" oder ,,-organisation" stellen, bevor man sie als Rechtsordnung interpretiert, auch wenn man im Recht nur eine "Ordnung" sieht und glaubt, "daß daher alle Rechtsprobleme als Ordnungsprobleme gestellt und zu lösen sind"21? Handelt es sich hier nicht um einen Grenzfall einer Ordnung, die den Menschen total entmenscht und 20 S.70. 21

S.61.

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vernichtet? Gleicht die " Ordnung" , für die Auschwitz konstitutiv ist, nicht vielmehr um ein Haar einer "Unordnung" - ist sie nicht ebenso wenig eine echte Ordnung, wie die Ruhe des Friedhofs echter Friede ist? IV.

Wenn wir somit nicht schon in der bloßen Wirksamkeit einer Zwangsordnung ihren Rechtscharakter begründet sehen wollen22 , so heißt das andererseits nicht, daß wir die überlieferte Naturrechtslehre für befriedigend halten. Kelsens Ablehnung des Naturrechts23 ist begründet, soweit dieses als ideologische Rechtfertigung und Verhüllung, Legitimierung und Glorifizierung der schlechten Wirklichkeit - und jede Wirklichkeit ist u. a. auch schlecht! - fungiert. Insofern wirkt die Reine Rechtslehre ihrerseits als Ideologiekritik höchst positiv. Problematisch wird aber ihre Einschätzung des Naturrechts, insofern dieses auch einen ganz anderen Aspekt hat - eine kritische und utopische, die Wirklichkeit angreifende, reformierende oder gar revolutionierende Seite!4. Das Naturrecht ist wie alle menschlichen Bewußtseinsformen vieldeutig, schillernd, widerspruchsvoll - zugleich Ideologie und Utopie im Sinne von Karl Mannheim. Es widerstrebt einer eindeutigen Fixierung - es hat etwas Ambivalent-"Dialektisches". Es ist versucht, jeden Moment umzuschlagen: Kelsen, Naturrechtslehre ... , S. 326. Vgl. neuerdings seinen schon zitierten Aufsatz "Naturrechtslehre und Rechtspositivismus" . 24 Diesen Aspekt betont neuerdings Werner Maihofer, Naturrecht als Existenzrecht, Frankfurt 1963. - Der Versuch von Franz Neumann (Types of Natural Law, in: The Democratic and the Authoritarian State, 1957, S. 69 ff.), zu beweisen, daß jede Naturrechtstheorie, auch die konservative, die Unmöglichkeit impliziert, irgendeinen Menschen zum Sklaven zu degradieren, da er ein rationales Geschöpf sei, ist verfehlt. Dagegen hat sicher Kelsen recht, wenn er sich auf den katholischen Soziologen August M. Knoll (Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht, 1962, S. 31) beruft, demzufolge die scholastische Naturrechtslehre als "Magd der Theologie" "zuerst die Sklaverei, dann die Leibeigenschaft und dann die koloniale Zwangsarbeit in Verbindung mit Menschenhandel" wie auch das Feudalsystem als "gott- und naturgewollte Ordnung verteidigt" hat (Naturrechtslehre ... S. 326, Anm. 12). Kein Verteidiger des Naturrechts kann auch an der Tatsache vorbeikommen, daß die älteste und mächtigste Institution, die stets das Naturrecht postuliert hat, nämlich die katholische Kirche, seit bald zweitausend Jahren fast stets die Autorität gegen die Freiheit, die Ungleichheit gegen die Gleichheit und den Patriarchalismus gegen die Brüderlichkeit - auch gegen abweichende Strömungen in ihren eigenen Reihen! - gestützt hat. 22

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Was eben nom Kritik und Forderung war, kann im nächsten Augenblick schon Apologie und Remtfertigung sein. In der Tat vermag sogar das revolutionäre Naturrecht im Endeffekt auf eine Akkomodierung und Versöhnung mit der schlechten Realität hinauszulaufen, wenn die naturrechtlichen Ideale ganz transzendent, etwa in das Jenseits oder in eine ferne Vergangenheit oder Zukunft verlegt werden, ohne daß das Heute und Hier verändert werden soll. Ja, die Postulierung der Forderungen und Verheißungen des Naturrechts kann auch als Flucht aus der Gesellschaft und Kultur, als "escape" in eine reine Traum- und Idealwelt wirken, als Trost und "Opium". Kelsen verwirft mit Recht die naiv-unreflektierte Postulierung einer ewigen, unabänderlichen, absoluten "Natur"25 - handele es sich um die Natur des Menschen oder das Wesen der Natur selber oder die Essenz des Rechts. Gäbe es eine solche Essenz, so müßte sie ja evident sein. Wäre die Natur des Menschen eindeutig, so wäre sie ja ein für allemal entdeckt oder offenbart worden. Die Natur des Rechts würde die Existenz ganz verschiedenartiger und einander widersprechender Rechtsnormen und -ordnungen unmöglich machen. Die Gerechtigkeit müßte überall und immerdar ein und dieselbe sein - es könnte nicht, um mit Blaise Pascal zu sprechen, das, was in Frankreich gerecht ist, in Spanien ungerecht sein und umgekehrt. Fraglich ist aber, ob Kelsen deutlich genug sieht, wie eng Recht und Rechtfertigung zusammenhängen, wie bedeutend - im negativen, aber auch im positiven! - das Verlangen nach der Gerechtigkeit, das Suchen nach dem Naturrecht ist. "Das Recht besteht nie ohne Rechtsbewußtsein", betont neuerdings wieder N. Hartmann26. Zum Bewußtsein vom Recht gehört der Glaube an das "Rechte", an die "Gerechtigkeit". Das Recht als Ausdruck der Entfremdung und Verdinglichung kann mit seiner nur formalen Rationalität diese Sehnsucht nie ganz erfüllen, - ihr aber doch hier und da fragmentarisch näherkommen. Ein Rechtssystem kann auf der Höhe seiner Zeit stehen, oder es kann ihr hoffnungslos nachhinken. Auf eine solche Diskrepanz läßt sich der von der amerikanischen Soziologie in der Nachfolge von Müller-Lyer geprägte Begriff vom "social and culturallag" anwenden. Marx hat einmal behauptet27 , der "In25 Zur Vieldeutigkeit dieses Begriffes vgl. auch Flechtheim, Gibt es eine politische Anthropologie? in Die Frage nach dem Menschen in der politischen Theorie der Gegenwart (Tutzinger Beiträge zur politischen Bildung, Bd. 7), 1962, S. 73 f. 28 Hegel, 1929, S. 302. !7 Das Kapital, Volksausgabe 1951, Bd. 3, S. 372. 4

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halt der juristischen Form" sei "gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist. Er ist ungerecht, sobald er ihr widerspricht. Sklaverei, auf Basis der kapitalistischen Produktionsweise, ist ungerecht, ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware". Marx mag zwar übersehen, daß der "juristische überbau" so gut wie nie eindeutig bestimmt ist daß auch innerhalb derselben Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung meist widerstrebende Tendenzen aufeinanderprallen, daß es insbesondere im Kapitalismus einerseits dynamische Kräfte gibt, die über ihn hinausdrängen, andererseits "reaktive" Kräfte, die zum status quo ante zurückwollen. Immerhin könnte der Marxsche Gedankengang dazu dienen, doch ein theoretisches Modell eines mehr oder weniger adäquaten Rechtssystems zu konstruieren. Wenn Kelsen immer wieder betont, daß die Rechtsnormen willkürlich gesetzt werden, so ist das nur sehr begrenzt richtig. Die Naturgesetze kann der Gesetzgeber nicht außer Kraft setzen - er bleibt aber auch an die sozio-kulturellen Gegebenheiten, an die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse gebunden. Nur innerhalb dieser vielfältigen politischen und wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Schranken kann er mehr oder weniger "frei" oder »willkürlich" Recht setzen, das wirksam werden kann. Sogar die allmächtigen Bolschewiki haben die Religion in Rußland nicht abschaffen können - wie selbst die Nationalsozialisten ihre Vernichtungslager nicht im Herzen von Berlin oder Hamburg errichten konnten. Darüber hinaus kann man aber auch fragen, ob nicht gewisse Normen, selbst wenn sie wirksam sind, in Grenzfällen dennoch nicht Rechtscharakter haben, da sie in der Tat ethische und daher auch juristische Pseudooder "Unwerte" realisieren sollen. überall dort, wo sich die Machthaber nicht offen zu diesen "Unwerten" bekennen, ja, diese gar in der öffentlichkeit ablehnen, müssen Zweifel an der Legalität ihrer Handlungsweise auftauchen. Auch in der Vergangenheit haben die Herrscher zwar immer wieder grausam gehandelt, haben sie aus reiner Willkür gemordet und gebrandschatzt. Doch haben sie angesichts dessen, was Breasted als "Tbe Dawn of Conscience" im alten Kgypten beschrieben hat, sogar schon vor unseren Tagen zumindest gelegentlich ein solches Verhalten verheimlicht und beschönigt - ein Symptom dafür, daß sie die entgegengesetzten Werte und Normen doch für irgendwie verbindlich hielten, ein "schlechtes Gewissen" und wohl auch eine geringe Meinung von der "Rechtmäßigkeit" ihrer eigenen Handlungsweise hatten. In der modernen Welt - der Welt, die sich etwa seit den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen und der Franzö-

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sischen Revolution, der Revolution der Aufklärung und der Industriellen Revolution, langsam und schmerzlich entwickelt und morgen wohl den ganzen Globus erfaßt haben wird (immer vorausgesetzt, daß kein stets denkbarer katastrophaler Rückschlag erfolgt!) -, in dieser Welt, in der sich jeder zur Demokratie, zur Humanität, zur Wahrheit bekennen muß, können erst recht bestimmte Verhaltensweisen zwar noch praktiziert, nicht aber offen verkündet werden. Altehrwürdige Rechtsinstitute wie der Kannibalismus, die Sklaverei (auf wirtschaftlicher oder geschlechtlicher, rassischer oder religiöser Basis), die Folter, die Verstümmelung, die Polygamie, ja, sogar der Angriffskrieg - Kolakowski spricht in anderem Zusammenhang VOn "elementaren Situationen"28 - werden heute allgemein abgelehne9 • Wir haben schon angedeutet, welche Probleme immer dann entstehen, wenn solche widerrechtlichen Verhaltensweisen VOn Staats wegen praktiziert werden. Auch demjenigen, der um die Relativität der Normen weiß, werden Zweifel an der Legalität dieser Praktiken kommen. Können wir das noch als Recht ansehen, was im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur unmenschlich, sondern auch unaussprechlich ist? Gehört nicht zur Rechtsnorm wenigstens die eindeutige und offenkundige Formulierung? Kelsen selber erklärt, daß sich die Gerechtigkeit als Gegenstand der Erkenntnis in die Idee der Wahrheit verwandelt: "Diese Denaturierung des Problems ist die unvermeidliche Folge der Logifizierung eines von vornherein logosfremden Objekts30." Vielleicht ist aber die Rechtsordnung doch nicht absolut und total "logosfremd" . Im Begriff der "Geltung" der Rechtsnorm steckt u. a. auch ein logischer Kern. Ähnlich wie die ethische Norm ist auch die Rechtsnorm in Logik und Psychologie auflösbar. Man kann nämlich im logischen Urteil nicht nur Seinszusammenhänge, sondern auch Möglichkeiten, Wünsche, Anordnungen, Willenskundgebungen formulieren. In der Rechtsnorm wird die logische Form zwar nicht auf einen wirklichen Seinszusammenhang der Natur angewandt, sondern auf einen erst herzustellenden erstrebten "möglichen" Sozialtatbestand. " Wenn jemand stiehlt, so soll er ins Gefängnis", heißt: Der Richter qualifiziert einen konkreten Sachverhalt, der schon natürliches und gesellDer Mensch ohne Alternative, 1960, S. 248. Umgekehrt bekennt sich heute fast die ganze Welt zu den in der Satzung der Vereinten Nationen und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte niedergelegten Werten - selbst wenn das ein Lippenbekenntnis ist, kann man dieses nicht einfach ignorieren. !8

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schaftliches Sein ist, als Diebstahl. Das kann er nur, wenn er ihn als Inhalt der Norm erkennt, d. h. ihn unter einen Begriff subsumiert und der Norm weiter entnimmt, wie er sich verhalten soll. Er soll den Dieb ins Gefängnis werfen, nicht weil die Norm »ewig" gilt, sondern weil sie nur in objektiv-logischer Form ausspricht, was einmal jemand gewollt hat und was »gesellschaftlicher Wille" ist. Das gesellschaftliche Bewußtsein besteht ja nicht nur aus Vorstellungen, Illusionen, Begriffen, Urteilen, Theorien, Doktrinen, sondern auch aus Trieben, Strebungen, Wünschen, Willensregungen, Regulierungen, Vorschriften. Wo aber die Norm nicht mehr dem Gebot der Publizität als einer Form der Kommunikation und Wahrhaftigkeit entspricht, mag man ausnahmsweise ihren Rechtscharakter leugnen, ohne in die Widersprüche des traditionalen Naturrechts zu verfallen.

v. Wir möchten also im Recht nicht nur ein Aggregat von Zwangs be fehlen sehen, sondern idealtypisch eine Ordnung von Normen, die ein Minimum an logischer Konsistenz aufweisen, die bis zu einem gewissen Grade zugleich allgemein und spezifisch, relativ feststehend und dauerhaft sind und deren Verkündigung und Abänderung nur nach festgelegten, formalen Verfahrensweisen stattfinden kann: Daher sprechen wir von der »formalen Rationalität" des Rechts. Eine Rechtsordnung, bei der alle diese Merkmale besonders ausgeprägt sind, könnte man als »klassisches Recht" bezeichnen - ein System, das wie das nationalsozialistische immer stärker durch einander widersprechende, dauernd wechselnde, unspezifische Sonderrnaßnahmen, die geheimgehalten werden, charakterisiert ist, mag zumindest insoweit der Qualifikation als Rechtsordnung verlustig gehen. Die Merkmale des klassischen Rechts verbürgen zusammengenommen dem Individuum ein beschränktes Maß an Freiheit, Sicherheit und Voraussehbarkeit31 • Diese machtfremden Züge des Rechts zeigen sich am 31 So bezeichnet schon Plato (Die Gesetze, Buch IX, § 875) das Recht als die zweitbeste Wahl. - Vgl. zum folgenden auch Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie, 1936, S. 67 ff., ders. (ed.), Fundamentals of Political Seien ce, 1952, S. 42 f. (S. 89 ff. der deutschen Ausgabe von 1958) sowie insbesondere Pool, ebda., S. 173 ff. (deutsche Ausgabe S. 201 ff.) und F. 1. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1937, S. 542 ff.; vgl. jetzt auch ders., The Democratic and the Authoritarian State, 1957, insbesondere S. 22 ff. und S. 160 ff.

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deutlichsten im Privatrecht. Es wäre daher irreführend, im Privatrecht - oder auch im Strafrecht! - ausschließlich ein System von Befehlen oder Zwangsmaßnahmen zu sehen. In der Sphäre des Privatrechts "befiehlt" der Staat nicht, "daß ein Vertrag auf diese oder jene Weise abgeschlossen werden muß". Das Individuum hat die Freiheit, zu kaufen oder nicht zu kaufen, zu heiraten oder nicht zu heiraten. "Es werden einzig und allein bestimmte Bedingungen festgelegt, und zwar so, daß derjenige, der sie erfüllt, mit bestimmten Folgen rechnen kann ... Es liegt kein Grund vor, selbst die ,Verbote' des Strafrechts anders auszulegen. Bedingungen werden im Hinblick auf Folgen festgelegt, welche erlitten werden müssen, wenn jene verletzt oder mißachtet werden 32." Einfacher ausgedrückt: Der Mensch weiß vorher, daß er bestraft wird, wenn er bestimmte Handlungen begeht. Aber es steht ihm doch oft - relativ - frei, etwa nicht zu stehlen und so Konflikte mit dem Gesetz zu vermeiden. Sobald eine gesetzwidrige Handlung begangen wird, wirft jedoch der Staat seine organisierte Macht in die Waagschale, um die Beachtung seiner Gesetze zu erzwingen. Bei dieser Auffassung von Recht ist es selbstverständlich, daß viele Staats geschäfte über Gesetzgebung und Rechtsprechung hinausgehen und als Verwaltungstätigkeit oder Ausübung politischer Macht gekennzeichnet werden müssen. Obwohl die Rechtspflege eine der ältesten Staatsfunktionen und noch von hervorragender Bedeutung ist, ist der moderne Staat in erster Linie ein Verwaltungs- und Militärstaat. Zwar bedient er sich noch des Rechts als einer wichtigen Verfahrensweise. Jedoch haben viele seiner Funktionen nicht mehr den Charakter des "Rechts" im engeren Sinne - nicht einmal des Verwaltungsrechts. Soweit die Handlungen des Staates formal im Rahmen einer Rechtsordnung geschehen, sind sie zwar legal; sie sind jedoch nicht einfach "Recht", sondern höchstens "rechtens", d. h. gesetzlich oder vom Gesetz erlaubt. Kriegführung oder Unterdrückung eines Aufstandes sind keine Rechtshandlungen ebenso wenig wie die Münzprägung, der Straßenbau oder die Postverwaltung. Der Staat, der Krieg führt, der Staat, der Radiopropaganda sendet, der Staat, der die Neuverteilung von Besitz vornimmt, tritt nicht so sehr als Gesetzgeber, sondern eher als Verkörperung der politischen Macht in Erscheinung - wenn auch im Rahmen des Rechts. Das Recht trägt einen Januskopf. Es ist weder reiner Machtzwang noch unbedingte Freiheit. Im Gegensatz zu ethischen, technischen, sozialen Normen enthält es ein Mindestmaß, im Gegensatz zur reinen Macht 32

John Dewey, Tbe Public and Its Problems, 1927, S. 53 ff.

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aber auch ein Höchstmaß an Zwangsgewalt. Innerhalb dieser quantitativen Grenzen muß es sich halten, wenn es nicht qualitativ in seine Grenzbegriffe - Freiheit und Gewaltsamkeit - umschlagen will. Das Recht hat bisher weniger der Freiheit als der Gewalt gedient. Es wird von der allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Entwicklung abhängen, ob es in Zukunft einmal vor allem im Dienst der Freiheit aller stehen wird.

Die VölkerreChtstheorie von Korowin und PasChukanis I. In den zwei Jahrzehnten, die der Bolschewismus nunmehr in Rußland an der Macht ist und in deren Verlauf er als Staat mit den anderen Staaten völkerrechtliche Beziehungen unterhalten mußte, hat er eigenartigerweise nur drei größere Werke hervorgebracht, die seine völkerrechtliche Praxis theoretisch zu interpretieren unternehmen: "Das moderne Völkerrecht" (russisch 1926 erschienen) und "Das Völkerrecht der übergangszeit" (1. Aufl. russisch 1924, in 2. Aufl. 1929 auch deutsch erschienen) von Korowin und "Umrisse des Völkerrechts" von Paschukanis (russisch 1935). Während die bei den Arbeiten Korowins in den Beginn der zweiten Phase der russischen Außen- und Innenpolitik fallen und ihren übergang von der "heroischen" Epoche der permanenten Weltrevolution und des "Kriegskommunismus" zu der mehr national-reformerischen und revisionistischen Isolierungsdiplomatie und der "Neuen ökonomischen Politik" der Periode des "Sozialismus in einem Lande" spiegeln, steht das jüngste Werk von Paschukanis am Beginn der dritten Phase bolschewistischer Entwicklung, die sich nach außen als fast "konservative" status-quo und Bündnis-, nach innen als Industrialisierungs- und Bürokratisierungspolitik darstellt. Da beide Autoren die verschiedenen Etappen des Bolschewismus, und insbesondere seiner außenpolitischen Entwicklung ganz unvermittelt reflektieren, so ist es natürlich, daß sich ihre Doktrinen in entscheidenden Fragen scharf widersprechen. Wie aber gerade auch die bolschewistische Außenpolitik trotz allen Wandlungen in wesentlichen Zügen sich gleichgeblieben ist, so liegt auch den noch so verschiedenen Lehren der beiden Sowjetjuristen ein und dieselbe Ideologie zugrunde. Ist doch die bolschewistische Völkerrechtstheorie nicht nur wie etwa deutsches, französisches oder amerikanisches Völkerrechtsdenken als "sowjetrussisches Völkerrechtsdenken" nationalgefärbtes Denkenl l, sondern 1 So Kraus in der Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe von Korowin, S. IX ff.

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weit darüber hinaus die Ideologie einer selbständigen und eigenartigen Produktionsweise, die sich nicht nur als Nation und Staat von anderen Nationen und Staaten, sondern zugleich auch als Gesellschaftsformation von anderen Sozialordnungen unterscheidet. Solange nun trotz allen Wandlungen im politischen und ideologischen überbau die reale Basis dieser Gesellschaftsordnung dieselbe bleibt, so lange behalten auch ihre ideologischen Formen, so sehr sie sich sowohl als Folge der Wandlung der Basis wie auch unter dem Einfluß ihrer Eigengesetzlichkeit auseinanderentwickeln mögen, ihren gemeinsamen Grundzug. Und so mag es sinnvoll sein, die Doktrinen der beiden markantesten Vertreter auf den gemeinsamen Nenner »bolschewistische Völkerrechtstheorie" zu bringen und in kritischer Auseinandersetzung mit ihnen das Wesen und die wichtigsten Aspekte der völkerrechtlichen Ideologie des Sowjetstaates bloßzulegen. Bei einem solchen Versuch kann es sich weder darum handeln, die Wandlungen der sowjetischen Völkerrechtswissenschaft durch die Jahrzehnte hindurch zu verfolgen2, noch auch nur darum, die Lehren von Korowin und Paschukanis in ihrer Gesamtheit referierend zu entwickeln. So interessant ein solches Unterfangen auch wäre, es müßte den Umfang eines Revue-Aufsatzes sprengen. Der Verzicht darauf fällt um so leichter, als von Korowin wenigstens das »Völkerrecht der übergangszeit" in deutscher Sprache zugänglich ist und manches von dem Inhalt von Paschukanis' Werk, von dem einst seine Rechtslehre ins Deutsche übersetzt worden ist, in dem Aufsatz von Makarov resümiert wird3 • So soll hier nur versucht werden, den Grundcharakter der Theorie von Korowin und Paschukanis als Ausdruck der politischen und geistigen Lage der Sowjetunion verständlich zu machen und darüber hinaus deren Wahrheitsgehalt durch eine Gegenüberstellung mit den fortgeschrittensten Theorien der Völkerrechtswissenschaft des bürgerlichen Westens zu überprüfen.

ll. Das 1924, in ebendemselben Jahre, in dem Stalin die» Theorie vom Sozialismus in einem Lande" inaugurierte, in erster Auflage erschienene Z Einen knappen überblick gibt Makarov, Die Völkerrechtswissenschafl: in Sowjetrußland, in: Zeitschrifl: für Ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 6, 1936, S. 479 ff.; vgl. auch Hrabar, Das heutige Völkerrecht vom Standpunkt eines Sowjet-Juristen, in: Zeitschrifl: für Völkerrecht, Bd. 14, 1928, S. 188 ff. I a. a. 0., S. 488 ff.

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" Völkerred1t der übergangszeit" trägt noch deutlich die Züge des Kriegskommunismus, jener ersten Epoche des siegreichen Bolschewismus, die nur Episode bleiben sollte und bereits 1921 VOn der "NEP" abgelöst wurde. Während nun jene Morgenröte der Sowjetmacht die Zeitspanne ist, in der sich ihre politische Praxis am stärksten mit ihrer revolutionären Ideologie deckt, ist die viel länger dauernde NEP gekennzeichnet durch einen immer größer werdenden Widerspruch zwischen der weitgehend beibehaltenen und mehr und mehr erstarrenden revolutionären Ideologie einerseits, einer sich von ihr loslösenden reformistischen Politik andererseits. Und wenn auch die Völkerrechtstheorie VOn Korowin noch stark Unter dem Einfluß jener ersten Periode steht, so ist sie doch auch insofern eine Doktrin des übergangs, als sie bereits weitgehend den Bedürfnissen des neuen Zeitalters Rechnung trägt und so unter dem Zeichen eines doppelten Widerspruchs steht, unter dem, der der neuen Epoche als solcher eigen ist und unter dem Widerspruch zwischen neuer Phase und alter. Korowin geht von dem für einen revolutionären Bolschewisten sehr naheliegenden Gedanken aus, daß die Entstehung eines ganz neuartigen, die ganze bisherige Rechtsordnung negierenden sozialistisch-revolutionären Staates auch für das Völkerrecht den Anfang einer neuen Xra bedeuten muß (S. 6). Das bisherige "allgemeine" Völkerrecht kann insbesondere als bürgerliches Völkerrecht auf die Beziehungen Sowjetrußlands zu den kapitalistischen Staaten keine Anwendung finden, da es die Gemeinsamkeit der Wertungen seitens seiner Subjekte voraussetzt'. Hieraus müßte Korowin eigentlich im Sinne der ersten, dem Kapitalismus Kampf auf Tod und Leben ansagenden Xußerungen der Kommunistischen Internationale folgern, daß es zwischen dem sozialistischen Gemeinwesen und der kapitalistischen Umwelt überhaupt keine rechtliche Gemeinschaft geben könne. Doch 1924 hatte sich schon zu deutlich gezeigt, daß keins der beiden Systeme mächtig genug war, das andere zu vernichten, und daß sie auf Basis eines gewissen Gleichgewichts der Kräfte zumindest für eine "übergangsperiode" friedlich nebeneinander existieren mußten. Diese Koexistenz von sozialistischer Sowjetunion und kapitalistisch-imperialistischer Umwelt zu regeln, ist nach Korowin gerade die Funktion des "Völkerrechts der übergangszeit" (S. 7). Da diesem jedoch im Gegensatz zu den anderen Völkerrechtskreisen die intellek, Das moderne Völkerrecht, S. 7, zitiert bei Paschukanis, S. 17, Anm. 22. - Korowin (Soviet Treaties and International Law, in: American Journal of International Law, Bd. 22, 1928, S. 753).

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tu elle Einheit, die Ideensolidarität fehlt (S. 12 f.), ist es ein sehr labiles und provisorisches Recht, eine Art Notrecht. Das Gewohnheitsrecht, das "Gemeinschaft und Einheit" voraussetzt (S. 24), tritt im Völkerrecht der übergangsperiode hinter dem Vertrag, insbesondere dem zweiseitigen, zurück (S. 24 f.), der vor allem die Funktion hat, die Handelsund Wirtschaftsbeziehungen auf der Grundlage des Kompromisses zu regeln (S. 14). Aus dem geringen Grad von völkerrechtlicher Gemeinschaft, der zwischen der sozialistischen Republik und dem bürgerlichen Westen besteht, ergibt sich für Korowin die Unmöglichkeit völliger gegenseitiger Anerkennung (S. 20). Der Wegfall der sozialen Gemeinschaft oder der übereinstimmung der Staatsordnung im Falle der sozialen Revolution in einem Staate erlaubt die Berufung auf die clausula rebus sie stantibus als "kleine Verbesserung zu einer großen Revolution" (S. 112). Die Schwäche der Interessenübereinstimmung einerseits, die Stärke des Klassengegensatzes andererseits geben die Basis ab für das Recht Sowjetrußlands zur revolutionären Intervention zwecks Unterstützung der Arbeitenden in ihren Bestrebungen auf Errichtung der Sowjetrnacht (besonders 1. Auf}. S. 60). Aus der klassenmäßig-revolutionären Einstellung Korowins ergibt sich schließlich einerseits sein Widerstreben, den Klassenstaat als einheitliche juristische Person aufzufassen (S. 27 ff.) und in seinen diplomatischen Vertretern etwas anderes zu sehen als die Vertreter der herrschenden Klasse und der kommunistischen Partei (1. Auf}. S. 62), andererseits seine Tendenz, neben den Staaten noch anderen Arbeiterorganisationen Völkerrechts-Subjektivität zuzusprechen (S. 30 ff.). Der so bereits begonnenen "Dämmerung des Staates" (S. 33) wird aber auch früher oder später der Untergang des Völkerrechts der übergangszeit folgen: Mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus wird auch die Brücke, die es noch zwischen der bürgerlichen und sozialistischen Hälfte der Menschheit bildet, einstürzen und das "Intersowjetische Recht" als ein globales seine Nachfolge antreten (S. 142). Die Konzeption eines "Völkerrechts der übergangszeit" kann als ein typischer Ausdruck der NEP-Phase, und zwar insbesondere ihrer ersten Jahre, mit ihren widerstreitenden Tendenzen gelten. Der Beginn der NEP macht deutlich, daß in der weltrevolutionären Entwicklung ein Bruch eingetreten ist, die Permanenz der Revolution sowohl im Weltrnaßstabe wie innerhalb Rußlands eine Atempause erleidet, die Sowjetunion zumindest für einige Zeit mit den kapitalistischen Staaten friedlich zusammenleben muß und vor allem die Aufnahme von Wirtschaftsbeziehungen unumgänglich ist. Doch gleichzeitig wirkt die ursprüngliche re-

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volutionäre Ideenwelt noch ungeheuer stark nach und bewirkt eine scharfe politische und insbesondere ideologische Distanzierung. Sie hält die Hoffnung auf ein baldiges Wiederaufleben der Weltrevolution wach, zumal die weltpolitische Konstellation von sieh aus dazu beiträgt, die Sowjetunion nach wie vor von der übrigen Völkerrechtsgemeinschaft zu distanzieren. Wenn also Korowin einerseits von einer völkerrechtlichen Gemeinschaft zwischen Sowjetunion und kapitalistischer Umwelt ausgeht und andererseits den begrenzten und gebrechlichen Charakter dieser, der Wertgemeinschaft ermangelnden, Vergesellschaftung hervorhebt, so dient er damit durchaus den diplomatischen und ideologischen Bedürfnissen der NEP-Periode. Er unterliegt ihren revolutionären Illusionen insoweit, als er den vorübergehenden Wesenszug dieses Völkerrechtssystems betont. Von hier aus erhält auch das Festhalten an der clausula rebus sie stantibus nicht nur für die russische revolutionäre Vergangenheit, sondern auch für die revolutionäre Zukunft der anderen Länder und die Aufrechterhaltung des Interventionsrechts für die Zukunft ihren Sinn. Das Gewicht, das diese beiden Rechtsinstitute in der ersten Fassung des Korowinschen Völkerrechtssystems einnehmen, ist allerdings zugleich auch Ausdru