Ethos und Affekt: Geschichte der philosophischen Musikästhetik von den Anfängen bis zu Hegel [Reprint 2021 ed.] 9783112540329, 9783112540312


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German Pages 274 [273] Year 1971

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Ethos und Affekt: Geschichte der philosophischen Musikästhetik von den Anfängen bis zu Hegel [Reprint 2021 ed.]
 9783112540329, 9783112540312

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D É N E S ZOLTAI

E T H O S U N D AFFEKT

DfiNES ZOLTAl

ETHOS UND AFFEKT GESCHICHTE DER PHILOSOPHISCHEN VON DEN ANFÄNGEN BIS Z U

MUSIKÄSTHETIK HEGEL

AKADEMIE — VERLAG • B E R L I N AKADEMIAI KIADÖ • B U D A P E S T 1970

Titel der~ungarischen Ausgabe: A zeneesztétika tcirténete i. Ethosz és affektus Zenem&kìadó Villalat, Budapest 1966

Übersetzung von BÉLA WEINGARTEN

Lektor ÀRPÀD SZABÓ

Deutsche Bearbeitung von HEINZ PEPPERLE und KATHARINA OCHSENREITER Institut für Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin sowie F R A N K SCHNEIDER Zentralinstitut für Musikforschung Berlin

iE) 1970 by Akad&niai Kiadö, Budapest Der Vertrieb dieses Exemplars ist nur in der Deutschen Demokratischen Republik, der Deutschen Bundesrepublik und Westberlin, der Schweiz und in Österreich gestattet. Erschienen im Akademie—Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4, in Arbeitsgemeinschaft mit dem Akadimiai Kiadö, Budapest V., Alkotminy u. 21. Lizenznummer: 100/231/70 Bestellnummer: 5805 • ES 3 B 4 Preis: 25,— M

Printed in Hungary

INHALT

I. Musikästhetik in der Antike Magie und Mythos Der Weg der Musikmathematik Das Bedeutungssystem des Ethos Piaton Aristotelische Lösung: die musikalische Mimesis Die Zeit des Hellenismus — Verfall der Ethoslehre Anmerkungen II. Das Schicksal der Musikästhetik im Mittelalter

7 7 10 22 30 35 46 60 65

Historia facit saltus Das »pneumatische« Melos Moralisieren in der Hülle der Ethoslehre Allegorisieren und Musikmathematik Systematisieren: festhalten und befreien Musiktheorie als chiffrierte Ästhetik Polyphonie und »doppelte Wahrheit« Anmerkungen

65 66 71 79 84 88 93 102

III. Von der Renaissance bis zur Aufklärung

105

Zwischen »Gotik« und »Renaissance« Die Humanisierung der Formen und die Perspektivenlehre Tinctoris und die Theorie des »euphonischen Kontrapunktes« Die Rangordnung der Künste Die Florentiner Camerata Die Ästhetik der »Barockzeit« Anmerkungen IV. Die Affektenlehre der Aufklärung An der Grenze zweier Epochen Die Kunst und die Kunsttheorie des Klassizismus Die französischen Opern-Debatten Die weltanschaulichen Grundlagen der Affektenlehre

105 107 11 o 117 123 137 147 151 151 152 159 163 5

»Hermeneutisches« Wörterbuch 177 Dialektische Gedankenelemente in der Ästhetik der Aufklärung 193 Anmerkungen 210 V. Klassische Musik, klassische Musikästhetik Nach der Revolution Kant Herder und die Kritik des Kritizismus Die Moll-Debatte zwischen Goethe und Zelter Hegel, die Zusammenfassung Anmerkungen Personenverzeichnis

217 217 219 224 228 232 261 267

I. M U S I K Ä S T H E T I K

IN D E R

ANTIKE

MAGIE U N D M Y T H O S

Die Erforschung der Anfänge komplizierter geschichtlicher Vorgänge zählt zu den theoretisch schwierigsten Aufgaben des Historikers. Längst vergangene Zeiten sind zumeist im Lethe-Fluß der Vergessenheit versunken, und nur selten stehen uns zu ihrer Aufhellung direkte Mittel zur Verfügung. Die gedankliche Rekonstruktion wird hingegen durch jenes Moment der Relativität erschwert, welches für Ursprung, Anfang und Entstehen stets, und zwar notwendigerweise, charakteristisch ist. Wenn wir uns auf die Suche nach den Ursprüngen des musikästhetischen Denkens begeben, genügt es nicht festzustellen, wo die musiktheoretische Literatur ihren Anfang nimmt und wer als erster Wesen, Wert und Wirkung der Musik zum Gegenstand bewußter Reflexion gemacht hat. Die Quelle wird auch in diesem Fall aus unterirdischen Adern gespeist. Ihr »plötzliches« Auftreten bliebe ein unverständliches Rätsel, wenn wir ihre Herkunft nicht aufspüren. Die Vorgeschichte der Musikästhetik reicht bis in die Urzeit der Künste zurück. Die Musik wurde in diesen frühen Phasen der menschlichen Kulturgeschichte noch nicht zur selbständigen Kunst, und sie war ursprünglich wie die Kunst überhaupt — eine noch nicht differenzierte Einheit bildend —. mit anderen Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit verschmolzen. In ihren Anfängen ist die Kunst der Arbeit wesensgleich; ebenso wie auch der wirkliche Produktionsprozeß richtet sie ihr Bestreben auf die Beherrschung und Aneignung der fremden, kaum bekannten und daher furchtbar erscheinenden Natur, und darum gilt ihre vielleicht wesentlichste Funktion der Organisierung, Harmonisierung und Steigerung der physischen und geistigen Kräfte im Interesse der Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse der Gemeinschaft. Auf dieser primitiven Kulturstufe können wir natürlich ebensowenig von ästhetischer Bewußtheit reden wie von autonomem künstlerischen Schaffen und ästhetischen Genuß. Die auf ethnographische Angaben gestützte Konzeption von Levy-Brühl, die zwischen dem logischen Denken der entwickelten Kulturen und dem prälogischen Denken des primitiven Kollektivs eine Scheidelinie zieht, besitzt vom Gesichtspunkt der Geschichte der Ästhetik aus einen wahren Kern. Der primitiven Kunst fehlt noch das reflektierte Bewußtsein ihrer selbst. Keime der ästhetischen Reflexion sind allerdings bereits in der primitivsten künstlerischen Tätigkeit enthalten. Der Art, wie man sich der Kunst bedient, wie z. B. die aus Musik, Tanz und Poesie bestehende ursprüngliche Gesamtkunst in den verschiedenen Lebenssituationen zu verschiedenen Zwecken benutzt wird, wie ihre wirklichkeitspiegelnde Bedeutung interpretiert wird, entsprechen die primitiven Vorstel7

lungen über Wesen und Nutzen der künstlerischen Tätigkeit. Die uns zur Verfügung stehenden ethnographischen, archäologischen u. a. Angaben, wie auch jene uralten Mythen, die von den primitiven kulturellen Verhältnissen Zeugnis ablegen, belehren uns darüber, daß die anfängliche künstlerische Tätigkeit von magischen Nützlichkeitsvorstellungen begleitet und durch sie motiviert war. In den Kulturen der Urzeit wurden die Naturerscheinungen und Lebensvorgänge »nachgeahmt«, weil man daran glaubte, daß diese mimetische Reproduktion zauberkräftig auf die in der unbekannt-unheimllchen Außenwelt vermuteten Mächte, die mildtätigen Geister und bösen Dämonen, wirkt. Dies ist eine magische Vorstellung: sie vereint auf spezifische Weise Illusorisches mit richtiger Beobachtung .Wenngleich die magisch-künstlerische Tätigkeit — im Gegensatz zur realen Arbeitstätigkeit — auch keine unmittelbare Wirkung auf die objektive Außenwelt ausübte, so formte sie jedoch mit Hilfe der mimetischen Reproduktion die menschliche Natur, gestaltete, bereicherte sie die Gefühls- und Gedankenwelt des Menschen und ließ auf diese Weise nicht nur die produktive Tätigkeit erfolgreicher werden, sondern trug auch zur Entwicklung und Stärkung des menschlichen Wesens bei; sie ergänzte die primär zur Geltung kommende vermenschlichende Wirkung der unmittelbaren Arbeitstätigkeit und förderte die Entfaltung einer relativen Totalität der menschlichen Persönlichkeit. Eine ganze Reihe von Mythen spricht von der Zauberkraft der musikalischen Mimesis. Schi Da, der legendäre chinesische Harfenspieler, bändigt mit seinem fünfsaitigen Instrument die Winde und die Glut der Sonne, damit die Körner aufkeimen und die Lebewesen sich entwickeln können;' nach dem ägyptischen HathorMythos kann das wilde, unstete Gemüt der Tochter des Sonnengottes R é nur mit Hilfe von Musik und Tanz, die von Zauberworten begleitet sind, besänftigt werden; 2 die aus der Kalevala bekannten Wäinämöinen und Lemminkäinen sind geradezu allwissende Zauberer: mit Gesang und Musik vermögen sie die ganze Natur unter ihre Herrschaft zu bringen; die Laute des Orpheus wirkt auf Lebendige und Tote mit zähmender Zauberkraft, und der Zauber seines Kitharaspiels schlug selbst die Kräfte der Unterwelt in Bann. Die Grundformel ist überall dieselbe: die Klänge der Musik vergegenwärtigen und bändigen die dämonischen Naturkräfte. Diese Vorstellung von der vermenschlichenden Wirkung der magischen Mimesis gehört jedoch einer bereits entwickelteren Kulturstufe an. Beachtenswert ist, daß die Sagen über Ursprung von Musik und Instrumenten gewöhnlich organische Bestandteile von Mythen sind, die vom Ursprung des Ackerbaus, der Viehzucht, der Feuerbenutzung sowie von der Gründung der ersten Städte erzählen. Es scheint, daß die aus Urmythen bekannte Musikauffassung die Eigenart von Ackerbaukulturen ist, zu deren Charakteristika eine hochstehende Domestikation wild lebender Tiere gehört. Curt Sachs erbrachte den überzeugenden Beweis, daß dieser mythischen Interpretation der von der Kunst hervorgerufenen Wirkungen eine noch primitivere, in Extase mündende Musikmagie voranging, der gerade das Moment des Ausgleichs, der Beherrschung fehlt. 3 Laut dieser Magie sind in den Tönen und Instrumenten Geister und Dämonen verborgen, daher die aufwirbelnde, aufreizende Gewalt der Musik. Das Weltbild der uralten 8

Epen k a m über diese Stufe schon hinaus. Der erfinderische Odysseus hört das lockende Lied der Sirenen ohne einen moralischen Schaden an. Auf diese Weise begegnet m a n zwei geschichtlich einander folgenden T y p e n v o n ursprünglichen Reflexionen über die Musik: die eine glaubt in der elementaren W i r k u n g der Musik eine f r e m d e und unbezähmbare N a t u r k r a f t zu entdecken, die andere hingegen läßt in der Musik gerade die Beseitigung dieser Fremdheit, die B e z ä h m u n g dieser zügellosen Urelemente ins Bewußtsein treten. T r o t z d e m w ä r e es geschichtlich unbegründet u n d theoretisch verfehlt, die Unterschiedlichkeit dieser beiden Auffassungsarten als einen ausschließenden Gegensatz zu betrachten. In Musikkulturen, die festgelegte T o n h ö h e n kennen, bedeutet das B e w u ß t m a c h e n der »verfremdenden« u n d der vermenschlichenden W i r k u n g zwei verschiedene Seiten derselben Musikinterpretation. Das Abgrenzen der Tonqualitäten bedeutet nämlich — wie m a n dies aus der M o n o g r a p h i e von József Ujfalussy ersieht — eineBezogenheit innerhalb eines auf eine bestimmte logische Struktur hinweisenden Systems. »Das Gegenüberstellen v o n zwei Elementen . . . stellt in erster Linie den sehr einfach erscheinenden, in seinen logischen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen jedoch sehr weit weisenden U m s t a n d in den Vordergrund, daß die beiden nicht identisch sind, daß sie voneinander abweichen. Gesellt sich jedoch zu beiden n o c h ein Drittes, so w i r d sich dieses Dritte zu einem der beiden verwandtschaftlich hinzugezogen f ü h len, u n d diese beiden werden sich dann dem Dritten als f r e m d e r e n entgegenstellen...« 4 Bereits auf der Ebene dieser f r ü h e n Orientierungstätigkeit k a n n das Bedürfnis nach einer Abgrenzung der f r e m d e n und aneignenden, der feindlichen u n d freundschaftlichen, der aufreizenden und beruhigenden melodisch-rhythmischen Formeln g u t beobachtet werden. I m Zeichen der mythisch-magischen Musikauffassung beginnt also jene E n t w i c k lung, in deren Verlauf d e m Menschen die Bedeutung der verschiedenen musikalischen Formeln b e w u ß t wird. Selbstverständlich ist die natürliche signalisierende Funktion des Klangphänomens bereits im Zeitalter der Wildheit ein gewohntes Urerlebnis. Ihr B e w u ß t w e r d e n läßt sich jedoch erst nach der Entfaltung der Gentilgesellschaft beobachten. Diesen Prozeß kann m a n aus den überlieferten M y t h e n rekonstruieren. Die reife Gentilgesellschaft macht sich bereits ihr eigenes »Tonzeichen«, dieses »gentile Wappen«, bewußt; 5 sie unterscheidet ihre eigenen melodisch-rhythmischen Formeln v o n allem, was f r e m d , was v o n außen k o m m t u n d feindselig ist; endlich versucht sie — parallel mit der Auflösung der urgemeinschaftlichen Formation, der Entfaltung der Klassengesellschaft und des Staates •— die Festlegung des Tonsystems selbst, die Kanonisierung der aus der musikalischen Praxis abstrahierten melodisch-rhythmischen Formeln. Eine chinesische Legende beleuchtet auf besonders lehrreiche Weise die gesellschaftlichen Grundlagen dieser Kanonisierungsbestrebung. D e r mythische König Fu-Si, der »Erfinder« v o n Musikinstrumenten, der R e g e l n zur A n w e n d u n g der Tonsysteme aufgestellt hat, ist zugleich der große R e f o r m a t o r der Gesellschaft: er teilt das ganze Volk in hundert Stämme, er gibt j e d e m S t a m m einen besonderen N a m e n , er regelt die Art der Eheschließung, er bringt den Menschen die Domestikation der Tiere bei, er unterrichtet sie in der Zeitrechnung und in der Benutzung des Kupfergeldes. 6 Die Benennung der griechischen

9

Tonreihen hängt, wie bekannt, mit den Namen der einzelnen Stämme zusammen (dorisch, phrygisch, ionisch usw.). Die schon sehr früh anzutreffende Rangordnung und Werthierarchie der Tonreihen und Instrumente entstammt ebenfalls der höheren Bewußtheit in der Musikauffassung der Gentilgesellschaft.

DER WEG DER MUSIKMATHEMATIK Trotz alledem ist die magische Musikauffassung nur ein historisches Vorspiel. Die eigentliche Geschichte des ästhetischen Denkens — und damit der Musikästhetik — nimmt dort ihren Anfang, wo die Kunst — und damit auch die Musik — ihr eigenes Leben zu leben beginnt. Indem sich die Kunst von der unmittelbaren Arbeitstätigkeit trennt und die mit ihr verbundenen magischen Nützlichkeitsvorstellungen von Theorien abgelöst werden, die mit dem ästhetisch-gesellschaftlichen Wert der Kunst in Verbindung stehen, kommt es zum eigentlichen Beginn des ästhetischen Denkens. Demokrit wies — auf der Höhe der philosophischen Bewußtheit der Antike — auf diesen Zusammenhang hin. Während er die Genesis der menschlichen Gesellschaft — von den Naturzuständen bis zu den höheren Kulturstufen — schildert, betont er, frei von jedem Mythologisieren, die im Drang zur Befriedigung der Bedürfnisse liegende geschichtliche Antriebskraft: »Überhaupt sei bei allen Errungenschaften die Not die Lehrmeisterin des Menschen geworden . . .«7 Die einzelnen »Künste« (die verschiedenen Zweige der Techne, der in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wortes genommenen Produktionstätigkeit) kamen also im Interesse der Befriedigung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zustande. Dagegen sei »die Musik . . . eine jüngere K u n s t . . . , nicht die Not habe sie hervorgebracht, sondern sie sei erst aus dem Überfluß geboren . . .«8 Philodemos, ein Schüler Epikurs, der die Worte des Demokrit aufgezeichnet hatte, scheint die Worte des lachenden Philosophen nicht zu verstehen, wenn er aus ihnen ein musikfeindliches Verhalten folgert. Noch ärger ist die Mißdeutung bei den neueren Historikern der Musikästhetik, die den bekannten Satz des Abderiten als Antizipation der musikalischen Skepsis im Hellenismus deuten.9 Demokrit, der Verehrer Homers, faßte die Musik nicht als einen zu verurteilenden Luxus auf, sondern ließ vielmehr den zwischen Musik und Arbeitstätigkeit bestehenden Zusammenhang auf eine geniale Weise aufleuchten. Die Musik ist gerade deshalb eine »jüngere Kunst'-, weil sie nicht der Befriedigung der unmittelbaren physischen Bedürfnisse dient, sondern ein Phänomen ist, das auf Grund und als Ergebnis der Arbeitstätigkeit zustande gekommen ist und sich zugleich von ihr qualitativ unterscheidet. Unzweifelhaft ist, daß diese im Sinne Demokrits verstandene Interpretation der Entstehung der Musik im wesentlichen auf die der Urgesellschaft folgende Gesellschaftsformation mit der ihr eigenen Trennung der physischen und geistigen Arbeit zurückweist. Und in der Tat: die erste große Blütezeit der vom unmittelbaren Arbeitsprozeß losgelösten, allmählich spezifische ästhetische Qualitäten in sich aufnehmenden Kunst der Musik fällt sowohl in China wie auch in Indien, in Ägypten wie in der griechischen Polis mit der Epoche der Auflösung der Gentilgesellschaft, der Heraus10

bildung der die Barbarei ablösenden Zivilisation, der Sklavenhaltergesellschaft und des Staates zusammen. Nur die Teilung der physischen und geistigen Arbeit und mit ihr die Entfaltung der Klassengesellschaft hat die gesellschaftlichen Grundlagen dafür geschaffen, daß sich die Kunst mit ihrer primär ästhetischen Funktion herausbilden konnte. Dies ist der tiefste Sinn des Ausspruchs Demokrits: unerläßliche Bedingung, sozusagen logische Prämisse für die Entstehung der Musik als Kunst ist die relative Festigung der Herrschaft des Menschen über die Natur und die Entwicklung der die Befriedigung der unmittelbaren physischen Bedürfnisse voraussetzenden geistigästhetischen Genußfähigkeit. In der Urgesellschaft läßt sich zwar eine gewisse Häufung dieser Bedingung beobachten; die qualitative Wende wird jedoch erst durch die Klassengesellschaft herbeigeführt. An dieser weltgeschichtlichen Wende der kulturellen Entwicklung müssen wir die Anfänge der wissenschaftlichen Ästhetik suchen. Auch in dieser Beziehung bildet die Entwicklung der Produktivkräfte, der verhältnismäßig hohe Grad der gegenüber der Natur errungenen menschlichen Freiheit die Grundlage dafür, daß jetzt bereits die Differenzierung der einzelnen Bewußtseinsformen einsetzt — vor allem die Trennung von Wissenschaft und Religion — und daß die entmythologisierte Erforschung der Naturgesetze begonnen sowie überhaupt das magische Denken überwunden werden kann. In den allerersten musikästhetischen Systemen spielt sich gewissermaßen vor unseren Augen der dramatische Kampf der ästhetischen Bewußtheit mit dem religiös-magischen Weltbild ab. In diesem Kampf findet die Ästhetik in den sich entfaltenden Naturwissenschaften und in der mythologische Interpretationen überwindenden Naturphilosophie natürliche Verbündete. Dieser Vorgang wird uns durch die kulturelle Entwicklung der antiken Polis in der reinsten und »klassischen« Form vor Augen geführt. Die Grundtendenz ist jedoch auch in der Kultur der orientalischen Sklavenhalterstaaten im wesentlichen dieselbe: die allmählich bewußt werdende Philosophie der Musik richtet sich vor allem nach den ersten naturwissenschaftlichen Disziplinen, der Astronomie und Kosmologie, nach der Bodenvermessung, der Heilkunde und der aus praktischen Bedürfnissen entstandenen Arithmetik und Geometrie. Hier bilden sich — wie wir später sehen werden — im Orient und in Griechenland verschiedene Phasen und Stufen, verschiedene voneinander abweichende Formen heraus. Ebenso wie die Naturphilosophie kann sich auch die mit der Erkenntnis der Naturgesetze ins Bewußtsein tretende Musikästhetik nicht auf einmal von den verschiedenen phantastischen Spekulationen lossagen. Die entscheidende Frage, das punctum saüens der Entwicklung, ist jedoch überall dasselbe: Lossagung vom magischen Weltbild, bewußte Verbindung mit der sich entwickelnden wissenschaftlichen Weltanschauung. Eine besondere Bedeutung besitzt in dieser Entwicklung der Fortschritt der Mathematik. Bereits die frühesten Systeme der Musikästhetik sind vom Bestreben durchdrungen, das die Erscheinungen miteinander verbindende objektive »Urprinzip« in den der Höhe nach gegliederten Tönen und Tonsystemen zu erfassen und die klar abgegrenzten Tonqualitäten als die wesentlichsten Elemente der musikalischen Praxis auf ihre mit quantitativen Kategorien charakterisierbare Grundlage zurückzuführen. Mit Recht betont Ernst Bloch, daß die Musik die erste rationaliri

sierte Kunst war: hinter ihrer chthonischen, »unterirdischen« Formlosigkeit konnte nur die rationale Durchdringung den gesetzmäßig geordneten Kosmos ihres Materials und ihrer Gestaltungsprinzipien erschließen.10 Zweifellos kann hierfür aus der Antike Pythagoras als klassisches Beispiel angeführt werden. Die mit seiner legendenhaften Gestalt verbundene musiktheoretische Schule arbeitete die bis auf unsere Tage gültige Grundlage für die musikalische Akustik und die im Sinne der Antike genommene »Harmonielehre« aus. Aber wir stehen auch hier nicht einer vereinzelten griechischen Erscheinung gegenüber. Die Erforschung der mathematischen Grundlagen der Musik läßt sich bei fast allen orientalischen Kulturvölkern des Altertums beobachten, so bei den Chinesen, Indern, Babyloniern und Ägyptern. Die antike Uberlieferung betonte auch bei Pythagoras diesen Zusammenhang und dichtete ganze Legenden über die angeblichen Reisen des Weisen von Kroton. Was auch immer die moderne Philologie über diese orientalischen Verbindungen sagen mag — die wesentlichen Elemente der pythagoreischen Grundkonzeption bilden das gemeinsame Kulturgut des alten Orients. Worin besteht das Wesen dieser Grundkonzeption? Laut Aristeides Quintiiianus wollten die Musiker der Urzeit »das sich auflösende und keinesfalls dauerhafte Wesen des Körpers« und die UnZuverlässigkeit der sinnlichen Erkenntnis überwinden, weshalb sie die unveränderliche Determinante der nach Analogie des Kosmos aufgefaßten Musik suchen. 11 In der Zahl, den Zahlenverhältnissen entdeckten sie das Urprinzip: »Alles ist Harmonie und Zahl«. Die Grundtendenz ist unverkennbar: Sie wollten die Grundvorstellung der Musikmagie, die irrational erscheinende Tonqualität auf meßbare, rational kontrollierbare quantitative Verhältnisse zurückführen. Ihre Methode jedoch ist bis auf den heutigen Tag nicht einwandfrei geklärt. Die Literatur über Pythagoras vermutet bis zur Gegenwart hinter dieser Rationalisierung ein raffiniert kombiniertes, auf Zahlenmystik und astralen Phantasmagorien beruhendes spekulatives System. Was das als Ausgangspunkt dienende Grundproblem anbelangt, so ist darin keine Spur irgendwelcher Mystik zu entdecken. Der in der Antike als »Vielwisser« verherrlichte und getadelte Pythagoras wollte — ebenso wie die ionischen Naturphilosophen aus Milet oder Herakleitos, ihr Zeitgenosse aus Ephesos, — die Arche erforschen, jenes Grundprinzip, welches das formlose Chaos zu einem gesetzmäßigen Kosmos organisiert. Auch bei ihm ruht diese kosmische Ordnung auf Wirklichkeitsgesetzen von allgemeiner Gültigkeit, die für Natur und Mensch gleichermaßen wirksam sind und — der materiellen Arche der ionischen Hylozoisten entsprechend — eine Einheit in der Vielfalt, genauer: die Harmonie der gegensätzlichen Elemente und Tendenzen darstellen. Bereits bei dem »weinenden Philosophen« aus Ephesos bedeutet »Harmonie« kosmisches Seinsgesetz und musikalisches Ordnungsprinzip 12 , und auch später behält sie ihre eigenartige Doppelbedeutung. Es ist die Erforschung der kosmischen Grundgesetzlichkeit, die Pythagoras zur Untersuchung der Natur des Zahlbegriffs bringt. George Thomson -widerlegte auf überzeugende Weise jenes auch bei Marxisten auzutreffende philosophische Mißverständnis, demzufolge die Annahme der Zahl als Arche die pythagoreischen Konzeptionen zur mystisch-idealistischen 12

Spekulation entstelle.13 Es ist wahrscheinlich, daß die Kategorie der Quantität für den Krotoniaten und seine unmittelbaren Schüler das objektive Wesen der Dinge bedeutete und nur bei den späteren Pythagoreern zur überwirklichen Idee wurde. Auch die Arche-Funktion der Zahl mochte ursprünglich mit den ideologischen Bedürfnissen kaufmännischer Schichten im Zusammenhang gestanden haben: Aristoxenos soll betont haben, daß Pythagoras der erste war, der sich bei den Griechen für die Einführung einheitlicher Gewichts-und Hohlmaße einsetzte, ja, nach anderen Quellen kann es nicht als ausgeschlossen angesehen werden, daß die Vereinheitlichung der Geldarten ebenfalls mit seinem Namen verknüpft sei. Dieses ideologische Bewußtsein vom Ursprung und von dem objektiven Inhalt des Quantitäts-Prinzips verblaßt später. Der pythagoreische Gedankenkreis wird bereits von den ofigarchischen Schichten, die mit der Polisdemokratie allmählich in Konflikt geraten und die aristokratischen Positionen in Schutz nehmen, zur Befriedigung neuartiger ideologischer Bedürfnisse verwendet. In den späten Dialogen Piatons wird die Zahl zum Urtyp des der Wirklichkeit vorgeordneten und sie bestimmenden rein ideellen Seins, und die Existenz der objektiven sinnlichen Welt gewinnt Realität nur, soweit sie an diesem reinen und vollkommenen Sein teilnimmt. Auf solche Weise ist die Geschichte des Pythagoreismus mit der stufenweisen Immaterialisierung und der objektiv-idealistischen Umdeutung des Zahlbegriffs als Quantitätskategorie identisch. Die gleiche Entwicklungstendenz widerfuhr den musiktheoretischen Entdeckungen der Pythagoras-Schule. Unzweifelhaft hat die ontologische Strukturanalyse des materiellen Substrats der Musik, ihres Tonsystems, die grundlegende akustische Entdeckung ermöglicht: die theoretische Aufhellung harmonischer Zusammenhänge, die in der Reihe der nach Höhe gegliederten Töne zur Geltung kommt. Was nun den Ausgangspunkt und den Gang dieser Experimente anbelangt, so müssen wir in der Musikphilosophie der Antike und des Mittelalters verschiedene Interpretationen berücksichtigen. Die für die Musikmathematik charakteristische Erklärung hatte im 3. oder 4. Jahrhundert Gaudentius aufgezeichnet. Seines Erachtens war das Ziel des Pythagoras, die Zusammenhänge zwischen der Tonhöhe und der Länge der schwingenden Saite zu ermitteln. Deshalb spannte er die Saite des Monochords über eine in 12 Einheiten geteilte Linie, den Kanon, und untersuchte, in welchem Verhältnis der aus der Schwingung der ganzen Saite resultierende Ton zu jenen Tönen steht, die sich aus den Schwingungen der kanonisch festgelegten Teilstrecken der Saite ergeben. Es stellte sich heraus, daß drei Tonintervalle einen Symphon-(Konsonanz-) Charakter haben, insofern die zwei einander folgenden Töne der Höhe nach miteinander zusammenklingen. (Grundton und Oktave: — = - ; Grundton und Quinte:

; Grundton und Quarte: — = —.) Hinter den rational an0 2 9 3 scheinend nicht erreichbaren, flüchtigen sinnlichen Erscheinungen erschlossen sich auf diese Weise quantitativ-proportionale Relationen. Das exakte Messen der Tonhöhe mittels der Saitenlänge wurde möglich.

13

Die anschauliche Beschreibung von Gaudentius bedarf jedoch in einem Punkt einer weiteren Erläuterung. Fraglich ist nämlich, auf Grund welcher Kriterien der Symphon-Charakter selbst entschieden werden kann. Warum bestimmte Pythagoras bloß die Oktave, die Quinte und die Quarte als harmonisch? Warum galten die große Terz und die Sext nur als zur Not annehmbare, die Sekunde hingegen als eine von vornherein unannehmbare diaphonische Dissonanz? In der Antike waren beide möglichen Lösungen des Problems bekannt. Bei der Unterscheidung von symphonischen und diaphonischen Intervallen sind entweder die akustische Wahrnehmung oder die rationale Überlegung bestimmend. Dieser Unterscheidung entsprechen die zwei Hauptrichtungen der antiken Musiktheorie. Nach den Harmonikern wird durch das Musik genießende Ohr, durch die vom vernünftigen Gedächtnis unterstützte und geübte auditive Wahrnehmung über die harmonischen Tonintervalle entschieden. Die Kanoniker hingegen halten — sich auf die pythagoreische Grundvoraussetzung, die Arithmetisierbarkeit der Tonintervalle berufend — die mathematische Natur der in den aufeinander bezogenen Tönen zum Ausdruck kommenden Proportionen für den einzigen authentischen Zeugen; demzufolge sind jene Tonintervalle symphon, die mit Hilfe der einfachsten Saitenproportionen — in mathematischer n i j Formel: mit der Proportion

= Logos epimorios — ausgedrückt werden kön-

nen 14 (die Oktave mit der Saitenproportion 2 : I, die Quinte mit 3 : 2, die Quarte mit 4 : 3 ) . Die Mitteilung des Gaudentius steht offensichtlich dieser kanonischen Interpretation näher. Allerdings geraten wir im Verlauf der Untersuchung der kanonischen Konzeption an eine weitere offengelassene Frage. Wie konnte der auf dem Monochord experimentierende Pythagoras auf den Gedanken kommen, den Kanon seines Instruments von vornherein in 12 Teile aufzuteilen? Mit Recht betont Árpád Szabó, bei der Behandlung der geschichtlichen Probleme der griechischen Proportionenlehre, daß sich an diesem Punkte die Schilderung des Gaudentius als vollkommen ungeschichtlich erweist: er orientiert nicht über den faktischen Gang der Experimente, sondern er teilt nur das letzte Ergebnis mit. 1 5 Naheliegend ist auch jene Hypothese Árpád Szabós, die sich auf die Rekonstruktion des Ursprungs der Gliederung in 12 Teile bezieht. Ihrzufolge wurden die Experimente im Anfang nicht am Monochord, sondern an irgendeinem mehrsaitigen Instrument ausgeführt. Allem Anschein nach wurde zuerst unmittelbar wahrgenommen, daß Saiten unterschiedlicher Länge Töne unterschiedlicher Höhe hervorbringen. Dies konnte als Ausgangspunkt für die vergleichende Abmessung der Länge der Saiten gelten, die symphon apperzipierte Töne erklingen lassen. Nachdem jedoch die erwähnten grundlegenden Proportionen auf zwei oder mehreren Saiten entdeckt worden waren, ging man zu einer einzelnen, zwölf geteilten Saite über, da das kleinste gemeinsame Vielfache der in den bereits bekannten Proportionen vorkommenden Zahleneinheiten die Zahl 12 ist. Die Hypothese von Árpád Szabó wird auch durch Daten der Musikinstrumenten-, Philosophie- und Ästhetikgeschichte plausibel gemacht. Wir müssen vor allem auf das neuerdings von vielen Seiten bestätigte Faktum hinweisen, daß das bekannte Demonstrationsinstrument der Musikmathematik, das Monochord, im Zeital14

ter des Pythagoras überhaupt kein gebräuchliches Musikinstrument war. Es erscheint zuerst im hellenistischen Zeitalter, laut grundlegenden Feststellungen van der Waerdens 1 4 nach dem Jahre 300 v. u. Z . , und zwar ausschließlich im Dienste einer didaktischen Veranschaulichung, die mit der musikalischen Praxis kaum in Berührung stand (nach Ptolemäus ist der Kanon ein Hilfsmittel zur Erzielung der rationalen Exaktheit des Gehörs). 1 7 Dies ist zugleich die faktische Widerlegung der Mitteilung v o n Gaudentius. Was hingegen die Aufteilung der Saite anbelangt, so ist v o r allem bemerkenswert, daß die Kanoniker sie nur innerhalb einer gegebenen Grenze vornehmen, obwohl die auf rein mathematischen Prinzipien beruhende Aufteilung des Kanons — über die Gliederung in 1 2 gleiche Teile hinausgehend — im Prinzip bis zur U n endlichkeit weiterzuführen wäre. V o n diesem Gesichtspunkt aus ist es eine sehr wichtige wissenschaftshistorische Angabe, daß dem griechischen Denken neben der Leukipp-Demokritschen Voraussetzung des nicht weiter teilbaren, in der W i r k lichkeit vorhandenen Teilchens (a-tomos) das mathematische Problem der dem Unendlichen sich nähernden Teilung schon lange v o r Aristoteles bekannt w a r ; eine der berühmtesten Aporien Zenons argumentiert gegen die Möglichkeit der wirklichen Ausführung des Weges zwischen zwei Punkten, also für die logische W i d e r sprüchlichkeit der Bewegung mit der mathematischen Möglichkeit der unendlichen Zweiteilung. Auch der die Zenonsche Paradoxie kritisierende Aristoteles verwirft das Prinzip der unendlichen Teilbarkeit des Raumes nicht; er weist nur darauf hin, daß das Unendliche an sich Potentialität und nicht Aktualität, und der wirkliche R a u m durch die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität charakterisiert sei. Die durch Aristoteles korrigierte Fragestellung Zenons stellt auch f ü r die Theorie der Tonhöhen-Proportion ein Problem dar. Aristeides Quintiiianus packte dieses Problem an der Wurzel, indem er die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität im Substrat des höhengegliederten Tonsystems bewußt machte: »Da ferner die M a terie tausendfältige . . . Möglichkeiten darüber darbietet, ob sie zusammenhängend, kontinuierlich oder getrennt, disparat sei, zeigt die Musik ebenfalls in dieser Beziehung die Gegensätzlichkeit des Stoffes. Ihr Material nämlich, das eben Klangbewegung ist, hat sich als einerseits zusammenhängend, andererseits unterbrochen, intervallisch, erwiesen. W i e also die Macht der Vorsehung des Weltalls das allzu Zusammenhängende in Formen der Materie zerteilt und das Getrennte im abgemessenen V e r hältnis zusammenbringt, vereinigt, so verachtet auch die Musik die äußerst eng ineinander überßließende Folge der Stimme, des Klanges als unbrauchbar, verwirft auf der anderen Seite die zu große Abstandstrennung als unermeßlich und außerhalb der Erfahrung liegend und stellt in wohlabgemessenem mäßigem Abstand den melodischen Gesang auf.« 1 8 Aristeides Quintiiianus ist ein charakteristischer Vertreter der spätantiken, auch mystisch-neuplatonische und pythagoreische Elemente enthaltenden Musikauffassung. Vornehmlich ist sein Gedankengang deswegen lehrreich, weil er unbeabsichtigt den Beweis f ü r die immanente Widersprüchlichkeit des kanonischen Standpunktes erbringt. Piaton läßt im Staat durch Glaukon seine eigene vernichtende Meinung über die Feststellung des kleinsten Intervalls durch das Gehör verlauten:

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»... und gar lächerlich halten sie bei ihren sogenannten Heranstimmungen das Ohr hin, als sie den Ton von seinem Nachbar ablauschen wollten; da behaupten denn einige, sie hätten noch einen Unterschied des Tones, und dies sei das kleinste Intervall, nach welchem man messen müsse; andere aber leugnen es und sagen, sie klängen nun schon ganz gleich, beide aber halten das Ohr höher als die Vernunft.«19 Selbst Aristeides ist nicht anderer Meinung. Dennoch ist er dort, w o er den Maßstab der Diskontinuität der Tonreihe festsetzen muß, nolens volens gezwungen, sich dem Standpunkt zu nähern, der in bezug auf die Harmonie die vergleichende Tätigkeit des Gehörsinns betont, nämlich der musikalischen Erfahrung und Praxis selbst. Auf diese Weise durchbricht die sinnliche Erkenntnis, die Aisthesis, in der Messung der Tonintervalle und der Festlegung der Töne in ihrer Aufeinanderfolge die Schranken der rein rationalen arithmetischen Spekulation. Endlich müssen wir auch darauf hinweisen, daß die kanonische Lösung des Konsonanzproblems auf immanente theoretische Schwierigkeiten stößt. Aus der umfangreichen antiken Literatur zu diesem Problemkreis beschränken wir uns hier nur auf eine einzige Frage. Es ist Tatsache, daß der Logos epimorios | n

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| an sich nicht

— auch arithmetisch nicht — das Kriterium zweier Töne harmonischen Charakters sein kann, da doch auf bloß mathematischem Wege, auf Grund der gegebenen Formel, weitere Symphoniai bis ins Unendliche gebildet werden könnten. Piaton findet aus dieser theoretischen Schwierigkeit im Timaios lediglich einen mystischen Ausweg, indem er erklärt, daß nur Verhältniszahlen mit »absolut ideellen« Zahlen ( i , 2, 3, 4) zur Grundlage konsonanter Tonintervalle werden können. Durch jene Experimente, über die andere Autoren (darunter Aristeides Quintiiianus) berichten, gewinnen wir ein genaueres Bild über den Ursprung und die wahre wissenschaftliche Bedeutung der pythagoreischen Entdeckungen. Sie beruhen nicht auf dem Gebrauch des Monochords, sondern teils auf der Verwendung mehrsaitiger Instrumente (so z. B. des von Aristeides geschilderten Helikons), teils auf unterschiedlicher Saitenspannung mittels variabler Bewichtung. Die auf einer einzigen Saite vorgenommene Proportionsanalyse bedeutete — nach dieser Überlieferung — die späte, ausdrücklich abschließende Phase der Experimente. Als Symbol hierfür kann gelten, daß laut Aristeides der sterbende Pythagoras seinen Schülern ans Herz legte, auf dem Monochord zu spielen. Der letzte Wille des legendären Meisters wird zwar durch eine charakteristisch kanonische Auffassung motiviert: »Damit habe er offenbar machen wollen, daß der Gipfel der Vollendung in der Musik mehr rein geistig durch die Zahlen, als sinnlich durch das Gehör wiederzugewinnen sei.«20 Der angeblich »rein geistigen« Musik des Monochords ging jedoch — laut Aristeides — die Praxis des perzeptiven Vergleichs der Tonhöhen voran. Dieser Zweig der Überlieferung wird dann durch Boethius am entschiedensten vertreten. Sein Pythagoras wird zuerst in einer Schmiedewerkstätte durch die Schläge von Hämmern verschiedenen Gewichts auf den Zusammenklang (die Harmonie) der hierbei entstehenden Töne aufmerksam. Aus alledem ist ersichtlich, daß wir das Wesen der pythagoreischen Musikphilosophie nicht verstehen können, bevor wir die allmählich fortschreitende Umwand16

lung der sich in ihr ausdrückenden Ansichten, überhaupt die historischen Veränderungen der weltanschaulichen Grundhaltung der Schule, erkannt haben. Zwischen dem frühen und dem späten pythagoreischen Standpunkt tut sich zwar keine so große Kluft auf, wie dies von einigen Philologen angenommen wird. 2 1 Tatsache ist jedoch, daß die die irrationalen Elemente der magischen Musikauffassung bekämpfende, den Logos 22 des nach der Höhe gegliederten Tonsystems erforschende Musikmathematik eine regressive Entwicklung aufwies: nach Wandlung ihrer ursprünglichen Funktion sank sie trotz aller Kontinuität der Ansichten zu m y stischen Spekulationen herab. Die Keime dieser Metamorphose waren bereits am Anfang gegeben. Die pythagoreische Musikphilosophie stand auf einem innerlich widerspruchsvollen Boden. Ontologisch ergibt sich diese Widersprüchlichkeit aus der unbedingten Identifikation der Gesetzmäßigkeiten von Musik und Kosmos, der undifferenzierten Betrachtung der musikalischen Ordnung und der kosmischen Weltordnung. Die ionische Naturphilosophie verdankt ihre Größe der Erforschung der materiellen Arche der Natur; dies ist jedoch für sich genommen problematisch in bezug auf die adäquate Erkenntnis der spezifischen Gesetzmäßigkeiten der Kunst. Die physikalische Akustik hellt die natürlichen Grundlagen des Bedeutungssystems der Musik auf. Die Strukturanalyse des Tonsystems und daher auch die Lösung des Tonintervall- und des Konsonanzproblems ist undenkbar, wenn die quantitativ-proportionale Seite der jederzeit einen Vergleich involvierenden Tonqualität in Dunkel gehüllt bleibt. Unzweifelhaft ist, daß die Pythagoreer auf diesem Gebiet eine epochale theoretische Leistung vollbracht haben. Andererseits gerät die musikästhetische Analyse doch notwendigerweise in die Sackgasse, wenn sie auf der Ebene der mathematisch formulierten Naturgesetze steckenbleibt. Das Tonsystem, das die gesellschaftliche Vermitteltheit ausschaltet und unmittelbar in die Natur projiziert wird, läßt die ästhetische Wertung erstarren, es macht sie statisch und konservativ und verdinglicht die gesellschaftliche Objektivität des Bedeutungssystems. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die pythagoreische Konzeption von Anfang an nur die Existenz von drei Symphoniai akzeptiert hatte. Die Kommentarliteratur trachtete hingegen, diese auf dem Naturprinzip beruhende Konsonanzauffassung bereits — mehr oder weniger — mit Hilfe von mystischen, metaphysischen Gedankengängen als ewige Wahrheit festzulegen: Aristeides Quintiiianus beruft sich auf die »triadische Struktur des Weltalls«, die meisten späten Pythagoreer auf die »heilige Tetraktys« (die Zahl 10 als Summe der in Symphon-Proportionen vorkommenden, laut Piatons Timaios »absolut ideellen« Zahlen i , 2, 3, 4), endlich auf die in der Planetenbewegung zur Geltung kommende ewige »Sphärenharmonie«. Diese konservative Richtung erreicht — wie wir dies noch sehen werden — bei Piaton ihren Höhepunkt und führt zu der erstarrten, unabänderlichen kosmischen Gesetzmäßigkeit der Melodie- und Rhythmuskonstruktion selbst, des im weitesten Sinne genommenen Nomos, zur doktrinären Maßregelung der lebendigen musikalischen Praxis. Aus der Gleichsetzung von Musik und Natur ergeben sich jedoch auch gewisse naiv-materialistische Folgerungen. Wohl hat man die mit der Harmonie der Sphären 17 2 Zoltai: Ethos und Affekt

verbundenen phantastischen Spekulationen auf die Voraussetzung einer Art von Weltenmusik — Musica mundana — gebaut, aber dieser ging bei den frühen Pythagoreern, in erster Linie bei Alkmaion, dem Arzt aus Kroton, doch die Vorstellung von einer Musica humana voran. Auch der menschliche Organismus und die Seele seien eine Harmonie, die das Gleichgewicht von gegensätzlichen Kräften widerspiegele. In der Gesundheit käme die Harmonie zum Ausdruck, hingegen sei die Krankheil die Offenbarung einer unsinnigen Übertreibung und des Verlustes des Maßstabes. Hieraus ergibt sich die der weiteren Entwicklung für lange Zeit den W e g vorzeichnende Schlußfolgerung: beim Hören von Musik wirkt Ahnliches auf Ahnliches; daher die von der Musik hervorgerufene tiefe Wirkung und die Möglichkeit zur musikalischen Beeinflussung der Seele. Diese Vorstellung von der psychisch-ästhetischen Wirksamkeit der Musik befindet sich auf halbem W e g zwischen uralter Musikmagie und aristotelischer Katharsistheorie. Die einschlägigen Pythagoras-Legenden — z. B. bei Boethius: »daß Pythagoras einen trunkenen Jüngling..., welcher durch einen Gesang in phrygischer Tonart zur Raserei gebracht war, durch das Vorsingen eines in Spondeen gehaltenen Liedes die Gemütsruhe und Selbstbeherrschung wiedergegeben hat«23— sind formell mit den auf die heilende, »Geister bannende« und reinigende Macht der Musik bezogenen magischen Vorstellungen verbunden. Neu und v o r wärtsweisend ist jedoch die Erkenntnis, daß strukturell verschiedenartige Melodien eine unterschiedliche ethische Wirkung auf die Psyche haben. So ebnet die Musica humana der sich später entfaltenden Lehre v o m Ethos den W e g auch dann, wenn sie sich nur darauf beschränkt, die harmonische Ordnung der Seele wiederzugeben, und mit der eigentlichen lebendigen und wirklich ertönenden Musik, der Musica instrumentalis, nur in abstrakter Allgemeinheit in Verbindung steht. Dieses Motiv, die Trennung von Musiktheorie und musikalischer Praxis, kann natürlich unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen. Die Quelle eines eigenartigen Widerspruchs bildet jener Umstand, daß die epochale Strukturanalyse des Tonsystems im Pythagoreismus durchweg jeder Untersuchung der musikalischen Praxis entbehrt. Schäfke betont sehr richtig, daß die mathematisierende Noetik der Musik im wesentlichen ein intellektuelles Verhältnis zur Musik repräsentiert und daß sie aus prinzipiellen Überlegungen heraus die wirkliche gesellschaftliche Praxis des Musizierens verachtet. 24 Das Sinnbild des über sein Monochord gebeugten Pythagoras veranschaulicht recht gut diese eigenartig asketische Musikauffassung. Hier nun erscheint uns die erkenntnistheoretische Grundstellung des Pythagoreismus in einem neuen Zusammenhang. Hinter der Gegenüberstellung von Musica mundana und Musica instrumentalis steht nämlich die Diskreditierung der sensuellen Erkenntnis, der Aisthesis. Auf die erkenntnistheoretischen Wurzeln der zwischen Kanonikern und Harmonikern bestehenden Gegensätze — die unterschiedliche Bewertung der auditiven W a h r nehmung — haben wir bereits hingewiesen. Dieser Gegensatz ist bereits in der ursprünglichen pythagoreischen Grundkonzeption implizite enthalten, obwohl die Gegenüberstellung von Aisthesis und Logos erst später, bei Philolaos, und danach in den späten Werken Piatons eine prinzipielle erkenntnistheoretische Fundierung erhalten hat. Auf die ontologischen Beziehungen des Grundbegriffes Musica 18

mundana, der Sphärenharmonie, haben wir soeben hingewiesen. Gemäß der pythagoreischen Vorstellung lassen die Planeten, sich an dem »Äther« reibend wie jeder bewegliche Körper, Töne erklingen: da jedoch die Bahnradien der einzelnen Planeten der Länge der die Konsonanz hervorbringenden Saiten entsprächen, bringe das Drehen der Himmelskörper die Harmonie der Sphären zustande Die sphärische Harmonie ist also Musik, doch eine für das menschliche Ohr von vornherein unzugängliche, nur intellektuell zu erfassende und zu genießende »Weltenmusik«. Von hier aus ist es nur mehr ein Schritt bis zur Deduktion jener erkenntnistheoretischen Folgerung, daß die arithmetische Vollkommenheit der Musik um so makelloser sei, je mehr sie Gegenstand rein intellektuellen Genusses wird. Aristeides Quintiiianus erklärt die immanenten Schwierigkeiten der arithmetischen Musikdeutung mit dem charakteristisch platonisierenden Verweis auf die Unmöglichkeit, das Oktavintervall in gleiche Teile zu zerlegen, und er setzt die Existenz der Kommas als Beweis für die mangelhafte Geschlossenheit des Quintkreises. Das Tonsystem ist also nicht fähig, die idealen Zahlenverhältnisse in vollkommener Form aufzunehmen und zu verwirklichen; die göttliche Reinheit der Zahl ist also in der irdischen hörbaren Musik nicht restlos verkörpert. Auf einer solchen Grundlage ist die musikalische Praxis von vornherein minderwertiger als die philosophisch-kontemplative Bewußtmachung der abstrakten mathematischen Ordnung in der Musik. Die pythagoreische Musikphilosophie gipfelt daher letzlich in dem Paradoxon, wonach die arithmetische Betrachtung der Musik notwendigerweise ihr ureigenes Objekt, die hörbare Musik, zunichte macht. Hier begegnen wir zum ersten Male der eigenartigen Ungleichmäßigkeit in der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung: während die über die Unvermitteltheit der sensuellen Erkenntnis hinausgehende Naturphilosophie von Thaies und Heraklit bis Demokr t und Aristoteles zur entmythologisierten Erschließung der Gesetzmäßigkeiten der Natur gelangt, bedeutet derselbe desanthropomorphisierende Standpunkt für die Kunst noch bei weitem keine unbedingte Garantie dafür, daß der wesentliche Inhalt der ästhetischen Spiegelung erfaßt ist. Es genügt, wenn wir an die auf Homer und Hesiod bezügliche Kritik des Xenophanes oder sein Auftreten gegen den die griechischen Athleten verherrlichenden Nomos denken. Die rationale Bekämpfung der magischen Musikdeutung kann ebenso zur Bewußtmachung der ästhetischen Mimesis führen wie zur idealistisch-mystischen Negation der gesellschaftlichen Objektivität, der wirklichkeitspiegelnden Funktion und eines prinzipiell geschichtlichen Bedeutungssystems der Musik. W i r betonen nochmals: vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus kann man hier nur von den Möglichkeiten der gegensätzlichen weltanschaulichen Entwicklung reden. Die weitere Entwicklung der pythagoreischen Philosophie, das Schicksal ihrer epochalen Entdeckungen, wurde letztlich von ihren konkreten sozialen Grundlagen bestimmt. Leider sind uns diese gesellschaftlichen Grundlagen selbst nach den erwähnten Forschungen Thomsons nicht mit ausreichender Genauigkeit bekannt. Es ist bis auf den heutigen Tag nicht zur Genüge geklärt, wie die ersten Bearbeiter der Harmonielehre — die laut Thomson die Interessen der Mittelschichten der 19

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griechischen Kolonialstädte in Süditalien bewußt werden ließen und vor allem die charakteristischen Bedürfnisse der kaufmännischen Klasse befriedigten — eine Ethik und Ästhetik von asketischem Grundcharakter formulieren, die typisch konservative Deutung des im archaischen Zeitalter bereits bekannten Maßprinzips vornehmen und schließlich die Begründer der auf apollinisch-orphischem Kult beruhenden geheimen Sekten werden konnten. Es würde die Lösung der Frage erleichtern, wenn uns jene politischen Umwälzungen bekannt wären, die in den ersten Jahrzehnten nach der Wende v o m 6. zum 5. Jahrhundert v. u. Z . das gesellschaftliche Antlitz der Polisgemeinschaften in Großgriechenland umgestaltet und schließlich der Demokratie des klassischen Zeitalters zur Macht verholfen hatten. Es gilt jedoch auch auf dem gegenwärtigen Stand unserer geschichtlichen Kenntnisse als gesichert, daß die pythagoreischen Sekten sich alsbald die Weltanschauung der in die Opposition gedrängten aristokratischen Schichten zu eigen machten. Gewiß stammt das asketische Wertsystem ihrer Ethik daher, und dies kann die Erklärung für ihre wahrscheinlich allmählich fortschreitende Entfremdung von der künstlerischen Praxis sein. Jene teils kultischen, teils psychotherapeutischen morgendlichen und abendlichen Gesangsübungen, von denen Boethius berichtet, weisen auf eine betont esoterische musikalische Praxis hin. 25 Aber mag auch der Verfall der Gentilgesellschaft — worauf Janos Maröthy hinweist — zur Umgestaltung der griechischen Volksmusik des archaischen Zeitalters beigetragen haben, so konnte er doch weder deren Gesamtkunst-Charakter, noch ihren kollektiven Grundcharakter vernichten.20 Die Blüte der Musike in den antiken Polisgemeinschaften setzte die künstlerische Öffentlichkeit, die ununterbrochene Umwandlung des im engeren (kultischen) und weiteren (formalen) Sinne des Wortes genommenen Nomos voraus, seine die Lebensfülle spiegelnde Mannigfaltigkeit, die lebendige Einheit von überliefertem Bedeutungssystem und formenverändernder musikalischer Praxis, mit einem Wort: den gesunden Kreislauf der auf der relativ moralischen Autonomie basierenden Kultur der Polisgemeinschaft. Und hier befinden wir uns vor der Weggabelung: Während die Musikkultur der Polisdemokratie die wirklichen Werte des pythagoreischen Erbes theoretisch und praktisch weiterentwickelte, verlor sich die Musikmathematik selbst — nach aristokratisch-ideologischer Umdeutung — in abstrakten Spekulationen. Wir können ein vollständigeres Bild über die gesellschaftliche Bedingtheit dieser in zwei Richtungen verlaufenden Entwicklung gewinnen, wenn wir einen Blick auf die östlichen Quellen der pythagoreischen Musikdeutung werfen, auf die Systeme der antiken orientalischen Musikästhetik, die von der der Griechen abweicht. Auf die übereinstimmenden Züge hatten wir bereits hingewiesen. Die Strukturanalyse des Tonsystems weist auf eine engste Gemeinschaft zwischen früher griechischer Ästhetik und ägyptischem, babylonischem, indischem und chinesischem musikphilosophischen Denken. Da sowohl die orientalische als auch die hellenische Musikmathematik auf die Feststellung der naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten gerichtet sind, überrascht es nicht, die kaum je in unmittelbare Berührung miteinander gekommenen Systeme in enger Analogie zu finden. Das Quintensystem erscheint z. B. in seinen Hauptzügen im alten China und in den altgriechischen Polisgemeinschaften auf iden-

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tische Art: dem antiken Prinzip des musikalischen N o m o s entspricht die chinesische Theorie des regulierten Lü fast wörtlich usw. Aber dennoch: wie sich z w i schen den orientialischen und antiken Formen der Sklavenhaltergesellschaft ein wesentlicher Unterschied herausgebildet hat, so lassen sich auch in der musikalischen Praxis und der sie unmittelbar spiegelnden Musiktheorie abweichende Tendenzen nachweisen. W i r weisen nur auf die Musikphilosophie des alten China hin, wie sie bereits bei den Theoretikern der Tschou-Epoche erscheint. Allbekannt ist, daß die chinesische Musikästhetik v o n Anfang an durch die Idee strengster Regelung charakterisiert wird. Das Streben nach starrer Kanonisierung antizipiert in einer ganzen Reihe von Fragen den Pythagorismus. Die Akzente der Theorie, der Systembildung, sind jedoch bei weitem nicht identisch. Während der frühe Pythagorismus die mathematische Strukturanalyse des Tonsystems in den Vordergrund stellt, beschäftigt sich die chinesische Musikphilosophie vor allem mit der unbedingten Festlegung des Grundtons. Außerdem weist auch die Argumentation Abweichungen auf: die alte chinesische Musiktheorie konnte sich nur in geringerem Maße v o n den magischen Vorstellungen lossagen, ihre Argumentation verharrt zumeist auf dem Niveau der mythischen Ursprungstheorie. Lü-Pu-we, der die Sammlung Frühling und Herbst zusammengestellt hat, gibt z. B . die folgende Beschreibung der Entdeckung des grundlegenden Lü-Systems: Der mythische Kaiser Huang-ti, »Herr der gelben Erde«, befahl seinem Musikmeister, dem Gelehrten Ling Lun, die Tonleiterpfeife zu verfertigen. Nachdem der Musikmeister das Instrument aus sorgfältig gewählten Bambusröhren angefertigt hatte, blies er hinein und sagte: »Das stimmt!« D e r T o n stimmte mit seinem eigenen, v o n Leidenschaften freien Sprechton genau überein, und zugleich mit dem Rauschen des Hoang-Ho, dessen Quelle in der Nähe seinen Ursprung hat. Während Ling Lun unter dem Einfluß dieser Erscheinung »in innere Betrachtung versank«, erschien ihm der himmlische Phönixvogel mit seinem Weibchen. Die beiden Wundervögel sangen je 6 Töne: 6 männliche (jang) und 6 weibliche (jin) Töne. Der erste J a n g - T o n stimmte erneut mit dem T o n der Quelle des gelben Flusses überein. N u n begriff der Musikmeister das gesetzmäßige Verhältnis der 1 2 Töne zueinander, er verfertigte 1 2 Bambuspfeifen, um die Töne der zwei Phönixvögel nachzuahmen, und kehrte damit zu seinem Kaiser zurück. Auf seinen R a t ließ Huang-ti zwölf Glocken gießen und ihre Töne als heilige N o r m e n festsetzen. Der erste T o n wurde — da gelb die heilige Farbe des reifen Getreidekorns war — »gelbe Glocke« (Huang Tschung) genannt und als unabänderlicher Grundton jeder klingenden Musik kanonisiert. Der T o n der gelben Glocke wurde mit der V o r stellung von der Ewigkeit der kaiserlichen Macht identifiziert. 27 Die allbekannten Gedanken des Ji-king über die unbedingte Einheit v o n musikalischer Ordnung und Staatsordnung sind mit dieser halb magischen, halb mathematischen Vorstellung und der Festlegung der absoluten Tonhöhe unmittelbar verbunden. »Zur Zeit politicher Revolten verändern sich die Gebräuche und Riten. Die Musik wird zu solcher Zeit indezent. Den traurigen Tönen geht das Erhabene ab, den fröhlichen die R u h e . . . Diese Musik wirbelt die Kräfte auf, sie zermürbt sie und verletzt die Gesetze der Harmonie. Deshalb verschmäht der weise Mensch diese Musik . . .«28 Einensolschen Z u 21

sammenhang zwischen Musik und Staatspolitik umreißt mit aphoristischer Prägnanz der dem Konfuzius zugeschriebene berühmte Satz: »Will man erfahren, ob die Regierung eines Landes in Ordnung und seine Sitten rein seien, so lausche man auf seine Musik.« 29 Das Streben, eine geregelte Stimmung zu erreichen, ist natürlich jeder der frühen großen Musikkulturen eigen. Die Theorie der 1 2 Lü ist jedoch viel mehr als Definierung und Kodifikation von Pfeifen-Abmessungen. Die Festlegung der Tonhöhe geschieht hier in einer extremen Form, sie meldet sich als Kanon der absoluten T o n höhen, bewahrt die wesentlichen Elemente der magisch-kultischen Denkart der Gentilgesellschaft und bekleidet zugleich mit dem Kult des kaiserliche Macht repräsentierenden Grundtons — wie dies durch die neueren marxistischen Forschungen auch von anderer Seite her bewiesen wird 30 — die Funktion der Apologetik des auf der Berieselungswirtschaft ruhenden patriarchalischen Despotismus. Die Schilderung über das Entstehen der Ling-Lunschen Stimmungsmethode gibt ein einmalig anschauliches Bild der uralten chinesischen Symbiose der magischen und der mathematischen Musikauffassung und entziffert gewissermaßen selbst den eigenen ideologischen Gehalt. Die Musiktheorie erscheint hier als suggestiver Ausdruck der für unbeweglick gehalten erscheinenden irdischen Unvergänglichkeit, als eine Art von kosmischem Konservativismus.

DAS BEDEUTUNGSSYSTEM DES ETHOS Das moralisch-ästhetische Ideal der antiken Polis entstammte einem anderen Boden. Es enthält zwar als wesentliches Element das des rationalen Maßstabes und der Proportionalität; es macht jedoch das Kanonprinzip auf anthropomorphe Weise elastisch und bewegt, es wird dadurch im wahrsten Sinne des Wortes humanisiert. Das prägnanteste Beispiel hierfür ist die klassische griechische Interpretation des Kanons der bildenden Künste. Bereits im Altertum war bekannt und wurde entsprechend gewertet, daß Polykleitos, der Begründer der ersten plastischen Proportionenlehre, in seinen anderen Werken auch selbst von dem aus der Gestalt des Doryphoros abstrahierten Proportionssystem abwich; und Vitruv bekannte sich zum charakteristisch hellenischen ästhetischen Denken, als er hinter der anscheinend abstrakten Arithmetik der dorischen, ionischen und korinthischen Säulenordnung die selbst in der architektonischen Ordnung nicht fehlende Homo mensura, die menschlichen Maßstäbe des untersetzten männlichen Körpers, der kraushaarigen Frauengestalt und des schlanken Mädchenkörpers sichtbar werden läßt. Auf diese Weise gewinnt der Grundsatz des Protagoras, »der Mensch ist das Maß aller Dinge«, einen ästhetischen Inhalt. Das die starre Kanonisierung auflösende Prinzip des menschlichen Maßstabes konnte nur mit dem Sieg der Polisdemokratie als ästhetische Projektion der relativen Autonomie des Individuums zur Geltung kommen. Die Harmonielehre des Pythagoreismus ist eine Übergangsstation auf diesem aufsteigenden Wege der Entwicklung des ästhetischen Ideals: daher die ihn mit den Musiktheorien des alten Orients ver-

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bindende Gemeinsamkeit, aber auch die Verschiedenartigkeit, die ihn von ihnen trennt. Auf welchem gesellschaftlichen Boden kam dieser ambivalente Charakter des ästhetischen Ideals zustande? Die Analysen von Marx und Engels über das historische Schicksal der ursprünglichen patriarchalischen Dorfgemeinschaft bieten den Schlüssel zum Verständnis der voneinander abweichenden Tendenz der orientalischen und antiken griechischen Entwicklung. Die allgemeinste Grundlage der Entwicklung ist natürlich sowohl hier wie auch dort die Sklavenhaltergesellschaft. Im Orient konnte sich aber — worauf Marx hinweist — das Privateigentum am Boden nicht durchsetzen: im Interesse der Berieselungswirtschaften kamen starke despotische Reiche zustande, die auf der Besteuerung der zur Dorfgemeinschaft gehörenden Bauernschaft basierten, die in vielen Beziehungen die patriarchalischen Eigentumsverhältnisse konserviert hatten und den Spielraum der individuellen Tätigkeit des »vom Nabel der Gemeinschaft« noch nicht losgelösten Individuums auf ein Minimum beschränk-' ten. Als ideologischer Reflex von alledem wurde die Religion zur herrschenden Form des gesellschaftlichen Bewußtseins. In den antiken griechischen Polisstaaten vollzog sich dagegen der Verfall der Gentilgesellschaft, die Auflösung der Dorfgemeinschaft in raschem Tempo: das höhere Niveau der Produktivkräfte und des Tauschhandels ermöglichte die auf Warenproduktion beruhende Sklavenhalterei, das rapide Aufblühen des Handels, die Niederwerfung der Herrschaft der Gentilaristokratie und den politischen Sieg der freien Kleinproduzenten, des Demos. Deshalb betont Engels, daß die Sklavenhalterdemokratie der Hellenen eine viel entwickeltere Staatsform zustande gebracht hat als die despotischen Staaten des Orients. Auf dieser Welle der geschichtlichen Bewegung hebt sich die altgriechische Bildung empor, wird der gegen die Magie und die religiöse Mythologie geführte Befreiungskampf der Wissenschaft bewußt. Weltgeschichtlich kommen jetzt zum erstenmal — obwohl nur für die Mitglieder der Sklavenhalterklasse — die gesellschaftlichen Bedingungen für die Entfaltung der Totalität der mit der Gemeinschaft der Polis auf selbstbewußte Weise sich identifizierenden Persönlichkeit zustande. Dieser klassische Weg der altertümlichen Gesellschaftsentwicklung ist jedoch durchgehend auf Sklavenbesitz gegründet und wird nach einer verhältnismäßig kurzen Blüte — als die die Polisgemeinschaft am Leben erhaltende relative Gleichheit des Eigentums durch die Entfaltung der Warenproduktion und des Handels abgelöst werden—von der weiteren Entwicklung abgesperrt. Die weltgeschichtlich einmalige Klassizität der athenischen Sklavenhalterdemokratie wurde auf Grund derselben spezifischen Bedingungen geschaffen, an denen sie notwendigerweise zugrunde gehen mußte. In Blüte und Verfall wurde sie somit zur einmaligen und unvergleichlichen geschichtlichen Erscheinung. Natürlich können wir uns hier nicht einmal skizzenhaft mit jenen Konsequenzen der Entwicklung befassen, die sich aus den Eigenarten der Hauptlinie der griechischen und orientalischen Entwicklung ergeben. Wir möchten nur einen einzigen Fragenkomplex berühren: die Problematik der vom Gesichtspunkt der Tonkunst aus besonders lebenswichtigen Öffentlichkeit. Die Massenhaftigkeit der Musikkultur ist natürlich keine ausschließliche griechische Eigenart; jene üppige Ve23

getation der Melodieformen und der ihnen entspringenden Variationen, in der man einen der wesentlichsten Züge der uralten orientalischen »hohen Kulturen« sehen muß, ist »ohne die zusammenhaltende Kraft der Gemeinschaft« undenkbar (Bence Szabolcsi). 31 Die auf dem Maqam-Prinzip beruhende musikalische Praxis erhebt jedoch das Prinzip der Aktivität des im demokratischen öffentlichen Leben über eine relative Autonomie verfügenden Individuums, den relativen Gegensatz von Nomos 32 und Physis, den par excellence gesellschaftlich-moralischen Inhaltsreichtum des Nomos, nicht ins Bewußtsein—und, wie wir gesehen haben, kann sie es auch nicht erheben. Unzweifelhaft weist der Nomos auf die orientalische Vorgeschichte der griechischen Musik, zumal auf ihre uralte Maqam-Bezogenheit, hin: er war das Modell für eine Melodie von kultischem Charakter mit festgelegter Struktur. Piaton charakterisierte diese unpersönliche Objektivität des Nomos mit der dem archaischen Zeitalter entgegengebrachten Nostalgie: »Nicht so . . . stand es zur Zeit der alten Gesetze . . . , daß das Volk etwa Herr gewesen wäre über irgend etwas; vielmehr ließ es gleichsam freiwillig die Gesetze über sich herrschen . . . Zunächst diejenigen, welche sich auf die Musik in ihrer damaligen Gestaltung beziehen .. . und als eine Art heiligen Gesanges zeichneten sie schon durch den Namen selbst die Nomen, d. h. Gesetzesweisen aus, und zwar waren es kitharodische Gesänge, denen sie diese Bezeichnung gaben.«33 Die einzelnen Varianten wurden jedoch — auch nach ältesten Traditionen — alsbald zu individuellen Kompositionen einzelner Autoren mit den spezifischen Benennungen, die den musikalischen Charakter und textlichen Inhalt der künstlerischen Schöpfung ausdrückten (vgl. die für Aulos geschriebenen, nach den einzelnen Göttergestalten benannten Nomoi von Olympos, den Nomos Pythikos von Sakadas, den von Pallas Athene erfundenen und durch den Auleten Midas auf eigenartige Weise »variierten« Nomos Polykephalos usw.). Der gemeinschaftliche Charakter lebt hier in der bewußt komponierten, ästhetisch-ethisch entwickelten und eine charakteristische Gestalt annehmenden individuellen Variante weiter — und nicht nur in den spontanen Produkten des unpersönlichen Variationsinstinkts. Die die Nomos-Dichtung allmählich ablösende Choreia — insbesondere das hymnische Chorlied — und schließlich der zur Grundlage der griechischen Tragödie gewordene Dithyrambus bringen den persönlichen Charakter noch weit stärker zur Geltung. In der Tragödiendichtung zur Zeit des Perikles drückt der Dithyrambus bereits mimisch-mimetisch wirklichkeitsdarstellende Inhalte aus, und schließlich werden in der Atmosphäre der Polisdemokratie, auf dem Boden der einen beispiellosen Aufschwung gewährleistenden Öffentlichkeit, der gesellschaftliche Charakter der Musike, der Einzelnes und Allgemeines, Persönliches und Gemeinschaftliches miteinander verbindet, sowie ihr entmythologisiertes menschliches Ethos und ihre ethische Katharsis-Wirkung bewußt. Der Niedergang der Polisdemokratie führte auch notwendigerweise zur Auflösung der Öffentlichkeit des kulturellen Lebens, und dies ist nicht nur für das weitere Schicksal der dramatischen Dichtkunst der klassischen Epoche entscheidend, sondern es spiegelt sich auch unmittelbar in der neuartigen Tonkunst des 5. Jahrhunderts wider. Vor allem löst sich die alte Gesamtkunst auf. Jetzt erscheint zum

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erstenmal, daß das eigenartige Auflösungsprodukt der uralten Musike die sich verselbständigende Tonkunst ist. Der »neue Dithyrambus« von Philoxenos zeigt genau diese Entwicklungstendenz an, indem er das überlieferte Verhältnis von Gesang und Instrumentalmusik zugunsten der letzteren umkehrt. Die Invasion des barbarischen Aulos orientalischen Ursprungs geschieht jetzt gleichzeitig mit der Umwandlung der Technik des instrumentalen Spiels; die Neuerer vermehren nicht nur die Saitenzahl der Kithara, sie machen vielmehr auf immer freiere Art von den melodischen und rhythmischen Ausdrucksmitteln Gebrauch. Und während das Prinzip der moralischen Autonomie der Persönlichkeit von der Theorie und Praxis des SichAuslebens des Individuums abgelöst wird, verändert sich auch die gesellschaftliche Funktion der musikalischen Mimesis: die gemeinschaftlichen Ethos-Gehalte werden von dem die Alleinherrschaft übernehmenden, privat-subjektiven Genußprinzip in den Hintergrund verdrängt. In diesem zugleich gesellschafts- und musikgeschichtlichen Zusammenhang bildet zweifellos die Ethoslehre der Musik den gedanklichen Kern sowie die eigenwertigste theoretische Leistung der klassischen griechischen Musikästhetik. Diese Erkenntnis, daß das Ethos die Hauptkategorie der antiken Musikphilosophie verkörpert, ist seit den grundlegenden Forschungen Aberts eine anerkannte Tatsache.34 Der geistesgeschichtliche Idealismus hat jedoch diese Kategorie in ein starres Schema verwandelt. Schäfke konnte richtig beobachten — obwohl er in seiner großangelegten geschichtlichen Monographie mitunter auch selbst zum Ausbau gewisser geistesgeschichtlicher Konstruktionen neigt —, daß bereits in der grundlegenden Studie Aberts der Unterschied zwischen musikalischer »Noetik« orientalischen Ursprungs und der eigenartig hellenischen Ethoslehre verblaßt. 35 Noch augenfälliger ist diese Richtung bei Curt Sachs, dem übrigens vorzüglichen Historiker der musikalischen Praxis des Altertums. Mit Recht betont er in seinen Arbeiten, 36 daß wir die Wurzeln der Ethoslehre im Orient suchen müssen, obwohl er uns die Analyse der antiken hellenischen Spezifika der Kategorie schuldig bleibt. Der Grundfehler liegt hier bereits in der geistesgeschichtlichen Überspannung des Ethosbegriffs. Gerade deshalb ist seine genaue Fixierung an eine konkrete geschichtliche Epoche notwendig. Die Lehre vom musikalischen Ethos erschien als charakteristische Musikästhetik im Athen des perikleischen Zeitalters. Ihre Blüte fällt mit der Befestigung des Sieges des athenischen Demos zusammen; der im Jahre 4 1 1 v. u. Z . durchgeführte oligarchische Staatsstreich erschüttert ihre in der altgriechischen Demokratie wurzelnden gesellschaftlich-politischen Grundlagen, und als die Demokratie im Jahre 403 wiederhergestellt wird, ist sie nicht mehr imstande, den alten lebendigen Kontakt mit der zeitgenössischen musikalischen Praxis herzustellen. Sie erhält nur in den Werken von Aristoteles und Aristoxenos eine großangelegte, systematische Zusammenfassung reflektierenden Charakters. Die sogenannte »musikalische Skepsis« des hellenischen Zeitalters ist nichts anderes als der letzte Verfall der klassischen Ethoslehre. Behandeln Historiker der Musikästhetik — siehe Abert — die zwei bzw. vier Richtungen 37 der griechischen Musiktheorie deskriptiv nebeneinander, so geht hierbei gerade das wichtigste verloren: die historische Gebundenheit der Ethoslehre

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an Ort und Zeitalter, ihre gesellschaftliche Determiniertheit. Es genügt hier — das Spätere antizipierend — nur auf die von Abert formalistisch genannte und der Ethoslehre gegenübergestellte Richtung hinzuweisen. Die hellenistische Kritik der klassischen Musikphilosophie, die Ablehnung der Ethoskategorie, bedeutet bei den Kynikern, dem unbekannten Autor des Hibeh-Papyrus usw., nicht so sehr einen ontologisch begründeten, weltanschaulich bewußten Formalismus, sondern eher die offene Erkenntnis der Unlösbarkeit jener musikalischen Krise, deren Erscheinen im griechischen Musikleben mit der Auflösung der griechischen Polisgemeinschaft zusammenfällt. Eine diesbezügliche eingehende Analyse folgt später. W o begegnen wir nun der ersten authentischen Formulierung des Ethosgehaltes der Musik? Sowohl die antike Überlieferung als auch die moderne philologische Rekonstruktion lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Person des Atheners Dämon. Er war als Musikpädagoge der Lehrer von Perikles und Sokrates und galt bis zur Spätantike als fast uneingeschränkte Autorität, auf die auch in politischen und philosophischen Fragen oft Bezug genommen wurde. Schon daraus ist ersichtlich, daß er ein Sprößling jener außergewöhnlichen Epoche war, welche die musikalische Technik noch nicht als »Banausentum«, als verachtetes Handwerk, auffaßte und den aktiven Musiker auch noch in Sachen der Staatsführung zu Worte kommen ließ: Nach der Überlieferung faßte er seine Auffassung in jener — vielleicht fiktiven — Rede zusammen, die er an die Mitglieder des Areopags gerichtet hatte. Vor allem wollte er die politisch-sozialpädagogische Bedeutung der Musik bewußt machen. Seine Argumentation wirkte schulbildend. Er berief sich darauf, daß die verschiedenen Rhythmen und Melodien in der menschlichen Seele verschiedene Wirkungen auslösen. Seine Verbindung mit der wirklichen musikalischen Praxis kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß er die Musike nicht auf pythagoreische Art, in der Gestalt abstrakter Tonsysteme analysierte, sondern als ursprüngliche griechische Gesamtkunst, in der die eigenartigen musikalischen Elemente stets mit dem Text der Dichtung in Verbindung stehen. In Piatons Staat hält Sokrates die Konsultation mit Dämon in diesem Sinne für wichtig, von ihm erwartet er Antwort auf die Frage des Zusammenhangs von Gedicht, Rhythmus und menschlichem Charakter. »So wollen wir denn dies. . . erst mit dem Dämon beraten, was für Bewegungen wohl der Gemeinheit, dem Mutwillen, der Wildheit und anderen Schlechtigkeiten angemessen sind, und was für Zeitmaße wir für die entgegengesetzten aufbewahren müssen.. . denn es auseinanderzusetzen, ist keine kleine Sache.« 38 Die Erkenntnis des der Musike immanenten Ethosgehaltes führte Dämon zum Gedanken der musikalischen »Tugend«, der Paideia. Durch Veränderung der Musik können wir die Persönlichkeit bewußt gestalten; dies ist das wichtigste vorwärtsweisende Element der Damonschen Konzeption. Das »musikalisch Schöne« bildet hier mit dem »musikalisch Guten« eine unmittelbare Einheit. Daraus folgt die primär politische Bedeutung der Musik, was in der erwähnten Rede bewußt gemacht wird. Es kann nämlich für den Staat nicht gleichgültig sein, welcher menschliche Verhaltenstyp, welches Ethos und welcher Stil in den verschiedenen Formen der Musike zum Ausdruck kommen. Ist jedoch die musikalische Paideia im wesent-

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liehen nichts anderes als Erziehung zum Staatsbürger, Förderung des Aneignens der ethischen Gehalte der Gemeinschaft, so ist es verständlich, warum Dämon die sorgsame Auswahl der während der Erziehung benützten Musikwerke für notwendig hielt. Dem Schutz der Polisgemeinschaft hätte zweifelsohne jene vom PolisbürgerBewußtsein eingegebene Vorstellung gedient, die bereits Piaton zustimmend zitiert: »Denn Gattungen der Musik neu einzuführen, muß man scheuen, als wage man dabei alles, weil nirgends die Gesetze der Musik geändert werden, als nur zugleich mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen, wie Dämon sagt, und ich auch gern glaubte.«39 Schäfke vermutete also nicht ohne Grund, daß Dämon Vertreter einer Art von »vergleichender Musikkritik« im Altertum war. 40 Dieses selektierende Verhalten gehört zum Wesen der Ethoslehre. Ihre Vertreter schildern nicht den an und für sich genommenen »Charakter« der einzelnen musikalischen Werke und Formelemente. Sie wollten nicht die systematisierende Phänomenologie von »reinem« Stil- und Formkennzeichen, sondern jene Hermeneutik ausarbeiten, in der, auf ethischen Kriterien basierend, Differenzierung, Vergleich und Bewertung den primären Gesichtspunkt gebildet haben mögen, kurz: die Differenzierung zwischen nützlicher und schädlicher musikalischer Praxis unter dem Gesichtspunkt der Persönlichkeitsbildung. Die bürgerlichen Historiker der Ethoslehre lassen dieses M o tiv der bewußten Deutung entweder völlig verschwinden oder sie drängen es hinter die bloß phänomenologische Darstellung zurück. Nicht selten begegnet man auch jener Art von Interpretation, die — bei den einzelnen Mitteilungen der Kommentarliteratur steckenbleibend — die weltanschauliche Grundlage und die ethischen Kriterien der hermeneutischen Gegenüberstellung und Differenzierung auf den physiologisch-psychologischen Gegensatz von »Männlich-Weiblichem« reduziert. Im Lichte einer historisch-materialistischen Analyse aber stellt sich heraus, daß das Ethos als musikästhetische Kategorie auf dem Boden der athenischen Polisdemokratie erschien und in seiner ursprünglichen Form selbst ein organischer Teil der Ideologie der Polisgemeinschaft war. Die historische Größe der Ethoslehre liegt eben darin, daß sie, an die innere Einheit der griechischen Polis und die Öffentlichkeit ihres demokratischen Lebens appellierend, zur Offenbarung des ethischen Inhalts, der Gesellschaftlichkeit und des wirklichkeitspiegelnden Bedeutungssystems gelangte. Deshalb konnte sie in der Geschichte der Ästhetik der erste großangelegte Versuch zur Ausarbeitung der gesellschaftlich-ethischen Bedeutungslehre der Musik werden. Eigentliches Ziel und Grundlage der »vergleichenden Musikkritik« der DamonSchule werden dadurch verständlich. Das Kriterium der ästhetischen Bewertung ist hier das Verhältnis zur demokratisch-gemeinschaftlichen Sittlichkeit der Polis. Von den Musikwerken, musikalischen Formen, Instrumenten sind jene wertvoll, welche die Paideia fördern, durch welche das Individuum auf das Niveau der gemeinschaftlichen Empfindungen erhoben wird, damit es die innere Einheit der Polisgemeinschaft und deren inhaltsvolle Verbundenheit als seine eigene Welt genieße und sich bewußt mache. Der Gegensatz »griechisch—barbarisch« meintfür das Perikleische Zeitalter nicht bloß die Hervorkehrung irgendeiner leeren und selbstgefälligen kulturellen Überlegenheit, sondern die Differenzierung zwischen Eigenem und Fremdem, 27

zwischen dem menschlich Inhaltsvollen und dem moralisch Nicht-Humanisierten. Die Ethoslehre hat diese Differenzierung erschlossen und sie im Verlauf der philosophischen Erkenntnis der musikalischen Praxis konsequent durchgeführt. Wir betonen von neuem: diese Hermeneutik der einzelnen Formen der Musike ergreift die wirklichen Lebensvorgänge der Musik. Wenn also in ihrem Mittelpunkt die Analyse des Ethosinhalts der Tonleitern, der »Harmonien« im griechischen Sinne des Wortes steht, so ist hier von den abstrakten Konsonanz-Forschungen der Pythagoreer nicht mehr die Rede. Die Ethoslehre der Tonleitern nimmt nicht in der vom theoretisch-akustischen Gesichtspunkt primären Oktav-Symphonia, sondern von der Grundeinheit der wirklichen musikalischen Praxis —noch dazu der zugleich gesanglichen und instrumentalen Praxis —, von der abwärtsgleitenden TetrachordStruktur der auf dem Quartprinzip beruhenden Melodieformeln ihren Anfang und beachtet in ihren Analysen stets auch die über eine lange Zeit ungestörte Einheit der »musischen Künste« (Poesie, Musik, Tanz), den Gesamtkunst-Charakter der Musike. Übrigens bleibt die Untersuchung des Ethos der Tetrachorde lange Zeit eine lebendige Tradition auch in dem Falle, wenn aus dem »Zusammenkleben« der gleichartigen Tetrachorde, aus dieser eigenartigen »Synthese«, die auf das Oktavintervall ergänzten Systeme entstehen: Auch die spätere Hermeneutik der verselbständigten Tonkunst trägt die Spuren der einstigen Bedeutung der auf die frühere Gesamtkunst zurückweisenden Sprachintonation und des Tanzrhythmus an sich. Deshalb ist der Musikästhetik des klassischen Zeitalters jene Auffassung fremd, welche in den Tonleitern und Rhythmusformeln leere formale Behälter erblickt und die Wahl der Form und des Instruments im Hinblick auf den Inhalt des Musikwerkes für indifferent oder sekundär halten möchte. Die Ethoslehre kannte keine inhaltsleere Form, und sie kannte auch — wenigstens in ihrer ursprünglichen geschichtlichen Ausprägung — keine selbständige, rein instrumentale Musik. Dieser Standpunkt unterscheidet sie geradeso von der früheren pythagoreischen Tonsystem-Ontologie wie von dem die Dekadenz des Ethosprinzips anzeigenden ästhetisch-erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Eine seit Abert immer wiederkehrende Frage heißt :Woher gewannen die einzelnen Formen der Musike ihren konkreten Ethosgehalt? Da eine systematische Hermeneutik sich erst verhältnismäßig spät, bei Piaton, Aristoteles und den Musiker-Philosophen des Hellenismus meldet, kann die philologische Rekonstruktion ihrer anfänglichen Quellen und ihrer Entstehungsgeschichte jederzeit nur ein hypothetischer Versuch bleiben. Prinzipiell verhält es sich jedoch anders, wenn man in der Hermeneutik die Zusammenfassung der Blüte einer Praxis mit großer Vergangenheit erblickt. Wir erinnern an das früher Gesagte: die frühesten Formen gestalteten sich in der musikalischen Praxis selbst aus und entwickelten sich weiter: ihr Bewußtwerden ist nicht das Produkt der spekulativen Urzeugung der Theorie, sondern eine Abstraktion aus den Lebensvorgängen selbst und aus deren musikalischer Spiegelung. Auch die Unterscheidung des Ethos der einzelnen Tetrachorde ist ein Beweis hierfür. Es ist bekannt, daß laut griechischer Musiktheorie die Tetrachord-Strukturen durch die Reihenfolge der Ganzton- und Halbtonintervalle, die in ihnen plaziert sind, voneinander abgegrenzt werden. Das Halbtonintervall liegt im diatonischen dorischen Tetrachord 28

zwischen dem dritten und vierten, im phrygischen zwischen dem zweiten und dritten, im ionischen zwischen dem ersten und zweiten Ton. Die in diesem Sinne aufgefaßte dorische Harmonie drückte nach Piaton Männlichkeit und Standhaftigkeit, die phrygische friedliche Besonnenheit und Mäßigung, hingegen die ionische willenlosen Rausch und Weichlichkeit aus. Piatons Interpretation verrät eine merkwürdige dorische Orientierung; hiermit werden wir uns noch ausführlicher befassen. Es kann jedoch nicht überraschen, daß die Wertakzente von anderen Autoren und in anderen Zeitaltern mehr oder weniger modifiziert werden. Diese Erscheinung ist wieder ein Zeichen dafür, daß sich die Ethosdeutung als Bestandteil der musikalischen Praxis in einem historischen Prozeß und innerhalb der gesellschaftlichen Praxis entfaltete. Die annehmbarste Deutung der einschlägigen antiken Überlieferung vertritt unzweifelhaft Herakleides Pontikos, nachdem die Harmonien — wie es auch ihr Name zeigt — den Charakter der einzelnen griechischen Stämme widerspiegeln. W i r haben keinen Grund, die verhältnismäßige Stabilität der im Verlauf der spezifischen Entwicklung der einzelnen Stämme angehäuften Charakteristika zu bezweifeln. Die Stufe und der Charakter der Arbeitsteilung, die auch von der geographischen Umgebung beeinflußte Lebensweise, die militärischen und Tauschbeziehungen zu den Nachbarstämmen, das Niveau der materiellen und geistigen Kultiviertheit — sie alle sind geschichtlich-gesellschaftliche Faktoren, die bei der Ausgestaltung und Befestigung des Sittensystems und des geistigen Profils der einzelnen Stämme eine Rolle gespielt haben. Verbleiben wir bei dem Problem des Tonleiter-Ethos: Jenes Faktum z. B„ daß die Wanderung der Dören in südlicher Richtung erst im I i . Jahrhundert endete und mit der Verdrängung des bereits seßhaften ionischen Stammes zusammenfiel, läßt den kämpferischen, widerstandsfähigen, seine überlieferte Lebensweise pflegenden Charakter des dorischen Stammes verständlicher werden; hingegen beeinflußt den Charakter der an das kleinasiatische Meeresufer gedrängten Ionier als neuer Faktor die rasch aufblühende städtische Kultur und der entwickelte Seehandel. Dieser Unterschied kommt auch in der dorischen und ionischen Dichtung zum Ausdruck, wodurch wir den Schlüssel zum Verständnis dessen gewinnen, warum nicht in jeder Polis dieselbe Kunstart eine bestimmende Rolle spielt, warum die Lyrik eher in Ionien, das Drama hingegen in Athen beheimatet ist; warum die dorische Auffassung den Genuß der irdischen Freuden, eines der Hauptmotive des ionischen Lyrismus, selbst nach der Auflösung des Gentilwesens für Weichlichkeit, weibliche Sanftheit hält, und umgekehrt, warum das dorische Chorlied in Ionien eher steif und unfreundlich als feierlich erhaben erscheint usw. Das Ethos sämtlicher Elemente des »Gesamtkunstwerks« trug unmittelbar, oder durch Vermittlung der Charakteristika der Kunstart, den Stempel der Stammeseigenheiten an sich. Man denke z. B. an die allgemein bekannte antike Bedeutungsordnung der verschiedenen Versmaße, Rhythmusformeln, deren Analyse mit fast denselben Ethoskategorien geschieht, wie diejenige der Harmonien (nach der retrospektiven Zusammenfassung des Aristeides Quintiiianus wird der Rhythmus durch das Übergewicht der Längen erhaben bzw. maßhaltend, durch die Häufigkeit der Kürzen hingegen erregt bzw. unbändig; Träger ähnlicher Bedeutungen ist die 29

Rhythmusformel für Beginn und Schluß der Reihe, Platz und Zeitdauer der Pausen usw.). Noch augenfälliger ist die Abgrenzung des Stammescharakters im Zusammenhang mit dem Ethos der Instrumente, die noch in das Zeitalter der mythischen Musikdeutung zurückgreift. Die III. homerische Hermes-Hymne verbindet z. B . den apollinischen Kult mit der von Hermes erfundenen Kithara-Musik und begründet hierdurch die sich lange haltende Überzeugung, daß dieses alte Saiteninstrument des dorischen Volksstammes ein dem Wesen der ganzen hellenischen Kultur zutiefst entsprechendes Musikinstrument sei. Ebenso wird auch der Unterschied zwischen der griechischen Kithara und dem aus Kleinasien stammenden phrygischen Aulos schon frühzeitig bewußt: in dem einen Instrument erblickt man den Ausdruck der moralischen Mäßigung, in dem anderen den der ungezügelten Genußsucht. In diesem Sinne bedeutet die Unterscheidung zwischen dem Ethos von lütharistik und Aulosspiel zur Zeit der Polisdemokratie bereits eine alte Tradition. Die Trennung des klanglichen Charakters von »apollinischer« Kithara und »dionysischem« Aulos wirkte dann auf die weitere Festigung der harmonischen Charaktere zurück. Jener Bericht des Ptolemaios, demzufolge das Ethos der Tonreihen in erster Linie mit der Mechanik der Instrumente im Zusammenhang stünde, hat — trotz seiner Einseitigkeit — einen wahren Kern. Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei der Entfaltung und Akklimatisierung der spezifischen Tetrachordstruktur der drei Tongeschlechter (diatonisches, chromatisches und enharmonisches Genos) der Vergleich des Klangcharakters der Instrumente die Hauptrolle gespielt haben mag. Der v o m Orient »importierte« Aulos hat die Verbreitung des chromatischen Genos des »neuen Stils« im 5. Jahrhundert allem Anschein nach beschleunigt. Die stammesmäßigen Charakteristika übten in diesem Fall indirekt durch Vermittlung des charakteristischen Instrumententyps ihre Wirkung in bezug auf die Festigung des musikalischen Bedeutungssystems aus. Doch kann die Erschließung der Ethosgehalte aus dem Stammescharakter die Frage nicht beantworten, warum dieser auf einer frühen Stufe der Gentilgesellschaft begonnene Prozeß erst im Zeitalter der Polisdemokratie seinen Kristallisierungspunkt erreicht hatte. Die vollständige Antwort können wir nur von der konkreten philosophischen und geschichtlichen Analyse der auch in ihren Details erschließbaren zwei großen Systeme der Ethoslehre — des Platonschen und des Aristotelischen — erwarten.

PLATON Piatons Musikauffassung ist an zwei Punkten mit derjenigen der Damon-Schule verbunden. Einerseits betont Piaton — vielleicht auch von der pythagoreischen V o r stellung der Musica humana beeinflußt — die psychisch-pädagogische Wirksamkeit der Musike: »Beruht nun n i c h t . . . das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang vorzüglich in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen, indem sie Wohlanständigkeit mit sich führen und also auch wohlanständig machen, wenn einer richtig erzogen wird, wenn aber nicht, dann das Gegenteil.« 41 Andererseits ist die musikalische Paideia auch für Piaton mit

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der Ausbildung des staatsbürgerlichen Selbstbewußtseins wesensgleich. In der bereits zitierten Stelle i m Staat beruft sich Sokrates auf D ä m o n , indem er — den Staat in Schutz nehmend — jedwede Veränderung der Formen der Musike ablehnt. Die Gedankenreihen der platonischen Musikästhetik suchen eine Antwort auf die u n mittelbaren politischen Probleme; die Staatstheorie ist nicht bloß ein äußerer R a h men, nicht bloß eine zufällige Gelegenheit für die systematisierende Entfaltung der Ethoslehre, sondern eine ideologische Grundlage, ohne die selbst die ästhetische Konzeption ihren Sinn verliert. Es bleibt keinen Augenblick zweifelhaft, daß diese während der ganzen Antike zu beobachtende, doch bei Piaton besonders betonte Einheit v o n Musikästhetik und politischer Theorie durch die ideologischen Bedürfnisse zur Festigung und z u m Schutz des Sklavenhalterstaates ins Leben gerufen wurde. Die par excellence öffentlichpolitische Funktion der Musik hatte der in der Blütezeit der Polisdemokratie tätige D ä m o n geradeso bewußt gemacht wie die eindeutig aristokratische Positionen verteidigenden späteren Pythagoreer. U n d es ist nicht schwer, hier die orientalischen Vorfahren und Verwandten dieser Konzeption zu erkennen — es genügt, wenn wir an die bereits erwähnten Züge der chinesischen Musikästhetik erinnern. Deshalb ergibt sich die Frage: Was ist das spezifisch Platonische in einer derartigen Verflechtung der als Apologie der Sklavenhalterordnung funktionierenden Staatstheorie und der die politisch-pädagogischen Funktionen der Musik bewußt exponierenden Kunsttheorie? Piatons Staat ist die Utopie des »idealen«, vollkommenen Staates der die auf Klassenunterdrückung gegründete Ordnung am vollkommensten sicherstellt. Hinter dem utopistischen Sollen steht aber das unmittelbarste Sein: die Vorstellung des idealen Staates stammt aus der Idealisierung des wirklich gegebenen Klassenstaates. Piaton hat das spezifische P r o g r a m m der Sklavenhalterordnung in einer Zeit verkündet, in der die Dekadenz der athenischen Demokratie, die die antike Polis bedrohende Krise immer offenkundiger wurde. "Wir wiesen oben bereits daraufhin, daß die Krise auf derselben wirtschaftlichen Grundlage entstand, auf der auch die klassische Blüte zustande k a m : einerseits gelangte die Demokratie mit Hilfe der auf Sklavenhaltern gebauten kleinen Warenproduktion und des Handels zu einer relativ breiten Massenbasis, andererseits zersetzte die Warenproduktion ununterbrochen jene relative Gleichheit des Vermögens, die die gesellschaftliche Hauptgrundlage der politischen Macht der demokratischen Partei bildete. W i r sahen, daß hier die W u r z e l des Widerspruchs liegt, an dem die antike Demokratie zugrunde ging. Mit dieser Krise der athenischen Polis bringt Agnes Heller die »Platon-Tragödie« in Zusammenhang: Piaton ist der letzte Philosoph der Polis, der in der weltgeschichtlichen Sackgasse der Sklavenhalterordnung einen aussichtslosen Kampf f ü r die Erneuerung der Polis, für die Wiedererweckung der die Verhältnisse relativer Vermögensgleichheit spiegelnden öffentlichen Sittlichkeit führte und hierdurch das geschichtliche Krisenbewußtsein seiner Zeit auf höchstem Niveau z u m Ausdruck brachte. 42 Dies ist der Schlüssel zum Verständnis der offensichtlichen Widersprüche der platonischen Musikästhetik. Der Dualismus von Sein und Sollen, v o n Wirklichkeitserkenntnis und utopischer Träumerei, die oft hervorgehobene platonische W i d e r 31

sprüchlichkeit zwischen genialer Erfassung von wichtigen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten und der willkürlichen Mißachtung realer künstlerischer Entwicklungstendenzen wird man nur dann erschließen können, wenn man Piaton, den Musikphilosophen auf Grund der Kenntnis der widersprüchlichen Bewegungen seines Zeitalters beurteilt. Piaton, der die Bedeutung der musikalischen Paideia erkannt hatte, war der Fortführer der Damonschen Initiative, indem er die musikalische Praxis seiner Zeit mit kritischem Auge betrachtete und gerade vom erzieherischen Standpunkt aus die Trennung des Wertvollen vom Schädlichen betrieb. Seine Polemik gegen die Musik, die die Bildung des Menschen zum Staatsbürger gefährdet, war jedoch zugespitzter als diejenige irgendeines seiner Vorgänger. Der Ethosmusik mit positivem Inhalt stellte er als erster die neuartige Genußmusik entgegen, die den Hörer notwendigerweise demoralisiere, weil sie die Bande, die das Individuum mit der Gemeinschaft verbinden, lockert und durchschneidet. Die Differenzierung des Ethos in der Musik blieb jetzt nicht mehr auf die Abgrenzung der Grundcharaktere, die Unterscheidung von Griechen und Barbaren beschränkt, sondern sie erstreckte sich — viel entschiedener als bei Dämon — auf den Gegensatz des den gemeinschaftlichen Charakter bewahrenden Alten und des zum Individualistischen entarteten Neuen. Woher stammt diese Unerbittlichkeit in der Polemik gegen das Neue? Das ber eits erwähnte Spätwerk, die Gesetze, verbindet die Kritik der individualistischen Sittlichkeit und Kultur ausdrücklich mit der leidenschaftlichen Ablehnung der Demokratie, der demokratischen Staatsform. Nachdem er an der schon zitierten Stelle darauf hingewiesen hatte, daß zur Zeit des alten Nomos »das Volk in keiner Beziehung Herr und Gebieter war«, charakterisiert er mit tiefer Resignation das spätere demokratische Zeitalter, in dem—seiner Meinimg nach—die Verletzung der musikalischen Gesetze überhand nahm: »Sie verbreiteten... die lügnerische Meinung über die Musik, daß es ihr an allem und jedem sicheren inneren Merkmal des Richtigen fehle und die bloße Lust dessen, der sichanihr erfreue,... sei... so ward denn das bisher schweigsame Publikum zu einem lärmenden, als ob es in Sachen der Musenkunst über das Schöne und Unschöne ein zuständiges Urteil hätte, und an die Stelle der Herrschaft der Besten trat nun auf diesem Gebiete eine Art verderblicher Pöbelherrschaft, nämlich die des Theaterpublikums . . . So aber hat bei uns der Wahn, jeder sei weise und sachverständig für alles, und der gesetzwidrige Sinn seinen Anfang von der Musik genommen und die Freiheit stellte sich als Folge davon ein.«43 Hier offenbart sich die mit der Klassenstruktur des Staates verbundene tiefste gesellschaftliche Wurzel der EthosDifferenzierung, die weit über die Differenzen der Stammeseigenheit hinausreicht. Für die Pflege der Genußmusik macht Piaton in den Gesetzen eindeutig die Öffentlichkeit der Demokratie, die seines Erachtens unbefugte politische und kulturelle Aktivität der laienhaften Massen, verantwortlich. Deshalb erscheint in diesem Dialog als Ideal der musischen Erziehung die ägyptische Kunst, in der es »keinem Maler oder sonstigen Künstler, der Gestalten und Nachbildungen schafft, erlaubt war, Neuerungen einzuführen oder seine Erfindungskraft auf irgend etwas anderes zu richten, als auf das der heimischen Sitte Entsprechende. Und auch jetzt noch ist das nicht erlaubt, weder auf diesem Gebiet noch in der gesamten musischen Kunst. Bei 32

näherer Umschau wird man finden, daß dort die vor zehntausend J a h r e n . . . gefertigten Gemälde und Bildsäulen weder irgendwie schöner noch häßlicher sind als die der jetzigen Zeit, sondern ganz dieselbe künstlerische Behandlung zeigen.«44 Diese ästhetische Orientierung — es ist unmöglich, hinter ihr die politische zu verkennen, namentlich die athenische Idealisierung des ägyptischen Kastenwesens45 — öffnet dem sich allmählich völlig mystisch färbenden Pythagoreismus die Tore. Im Timaios konfrontiert Piaton vor allem die Vorstellung der Musica humana mit der vorherrschenden Genußästhetik: ». . . aber auch die musikalische Anwendung der Stimme ist uns deswegen verliehen, um uns außer dem Gehör die Harmonie zugänglich zu machen. Die Harmonie jedoch, die mit den Bewegungen unserer eigenen Seele verwandte Schwingungen hat, erscheint dem, der mit Vernunft und nicht nur zum bloßen sinnlichen Vergnügen, wie heutzutage, den Verkehr mit den Musen pflegt, als Helferin verliehen, um die ungeordneten Bahnen unserer Seele zur Ordnung und zum Einklang mit sich selbst zurückzuführen, ebenso ist uns auch der Rhythmus verliehen worden, um unsere Maßlosigkeit und das der inneren Anmut entbehrende Wesen der meisten von uns zu ordnen und zu bekämpfen.«46 Auch die spätpythagoriesche Theorie derWeltenmusik erscheint in diesem Dialog, mit all ihren bekannten mathematisch-astronomischen Requisiten (die aus der Tetraktys abgeleiteten Symphon-Proportionen, Harmonie der Sphären usw.). Hier geht Piaton so weit, daß er die Gesetzmäßigkeiten des Melodiebaues als Naturgesetze festlegen möchte: » . . . daß es auf solchem Gebiet nur eines mutigen Eingriffes bedarf, um eine feste gesetzliche Regelung von Sangesweisen herbeizuführen, die das naturgemäß Richtige bieten.«47 Derart degradiert er von vornherein — wie wir bereits gesehen haben — die wirkliche ästhetische Auffassung der Tonintervalle und Harmonien auf eine — im Vergleich zur mathematischen Erkenntnis — niedriger stehende Aisthesis. Im Staat gibt die ihre eigenen gesellschaftlichen Grundlagen zu erkennen gebende Ideenlehre dieser pythagoreischen Konstruktion eine erkenntnistheoretische Fundierung. Die bei den antiken Materialisten in ihrem materiellen Urprinzip einheitliche Wirklichkeit spaltet sich bei Piaton in eine materielle und ideale Welt: die eine ist das Reich des Scheins, die andere das des Wesens. Nur die Erkenntnis des Wesens kann natürlich eine dem Philosophen würdige Aufgabe sein. Deshalb wird die Welt der Erscheinungen zum »Schein« degradiert, der das menschliche Bewußtsein gefangensetzt. Künstlerische Produktion und Rezeption leben jedoch geradein diesem Schein. Es fällt Sokrates nicht schwer, Glaukon im Staat zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß die Kunst nicht die Wirklichkeit, sondern deren Schein nachahmt. Diesmal wird der Beweis durch die bildende Kunst erbracht: der Maler stellt keine wirklichen Gegenstände dar, sondern perspektivisch gesehene und schattiert erscheinende Gegenstände (Skenographie und Skiographie) ,4 8 weshalb er statt im Dienste der Wahrheit auf gauklerhafte Weise im Dienste der sinnlichen Täuschungen steht. Die ihr gegenübergestellte philosophische Erkenntnis verwirft hingegen den sinnlichen Schein und macht das Maß, das Rechnen zum Hauptinstrument bei der Suche nach Wahrheit. Auf dieser erkenntnistheoretischen Grundlage wird natürlich die Daseinsberechtigung der Künste im idealen Staat von vornherein problematisch. Nach Piaton ist das Kunstwerk die Kopie der Kopie; es kann somit nur ein Zerrbild der Ideen wiedergeben. 33 3 Zoltai: Ethos und Affekt

Allein die abstrakt geometrichén Formen und die abstrakt arithmetisierten Harmoniesysteme werden im Philebos als Gegenstände täuschungsfreien Wohlgefallens anerkannt. Die extreme Ablehnung des Illusorischen in bezug auf die sinnlich-ästhetische Erkenntnis legt die Hauptlinie für die platonische Kunstbetrachtung fest. Auf diesem Weg kann man nur zur asketischen Beschränkung des ästhetischen Genusses und letztlich zu seiner Leugnung gelangen. Dennoch begegnet man einer solchen radikalen Lösung nur im Gedankengang der auf extreme Weise pythagoreisierenden Dialoge. Der für die Wiederbelebung der Polis-Einheit kämpfende Piaton wußte nur allzugut, daß die staatsbürgerliche Tugend der persönlichkeitformenden Kraft der Künste nicht entbehren kann; wir sahen bereits, wie er über die menschliche Charaktere herausbildende Macht der Musiké dachte, über jene evokative künstlerische Kraft, die fähig ist, in »das Innere der Seele« einzudringen und sie umzuformen. Deshalb fand die Musik, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, Einlaß in den idealen Staat. Die Damonsche Richtung steht jedoch in krassem Gegensatz zu dem soeben skizzierten pythagoreischen bildkünstlerischen Geometrismus und der musikalischen Abstraktheit. Während Piaton auf der einen Seite die »gauklerhafte« Aisthesis mit den Kanonikern verurteilte, mußte er auf der anderen Seite zugeben, daß die ästhetischauditiv aufgenommene Musiké den ganzen Menschen formt. Wenn er hier im Einklang mit den Pythagoreern, die den Naturgesetzen analoge, nomothetische Ordnung der Melodie betonte, so ging er dort von dem primär öffentlichen gesellschaftlichen Wesen der Musik aus und leitete davon die ästhetische Bedeutungsordnung der einzelnen Formenelemente sowie den Ethosgehalt von Tonleitern, Rhythmen, Instrumenten usw. ab. Wenn er hier nur den intellektuellen Genuß von abstrakter Harmonie und Rhythmus duldete, so stellte er dort den GesamtkunstCharakter der Musiké in den Vordergrund und betonte stets: »Tonart und Takt müssen doch der Rede (Logos) folgen . . ,«49 Die platonische Ästhetik, insbesondere die Musikästhetik, hat also auch eine von der Hauptlinie abweichende, mit ihr in eigenartiger Polemik stehende Tendenz, die in der Konzeption von der gesellschaftlichen Funktion der Kunst zum Ausdruck kommt. Wir haben jedoch gesehen, daß diese Konzeption das ideelle Erbe des Perikleischen Zeitalters, der kulturellen Blüte Athens war. Kein Zweifel: auch hier breitet sich vor uns die »Platon-Tragödie« aus. Der letzte Philosoph der Polis konnte nur die eine Seite der Polisdemokratie erblicken: ihren Verfall, namentlich die zersetzende Wirkung der Warenproduktion und Geldwirtschaft auf die einstige Vermögensgleichheit und feste Sittlichkeit der Polisgemeinschaft. Die andere Seite, jene Zusammenhänge zwischen der politisch-kulturellen Blüte und der demokratischen Öffentlichkeit, konnte er nicht erkennen. Sowohl seine aristokratischen Vorurteile wie auch seine Zeit, die aus der Krise keinen Ausweg zu finden vermochte, hatten seinen Blick getrübt. Deshalb ist auch seine musikalische Orientierung widersprüchlich. Einerseits übernimmt und systematisiert er das ästhetische Erbe der Damon-Schule, die Idee der Ethoslehre und der musikalischen Paideia. Sein hermeneutischer Standpunkt spornt 34

ihn dazu an, die musikalische Praxis seiner Zeit zu untersuchen. Mit scharfem Auge erblickt er die neuen Erscheinungen: die Differenzierung der Gesamtkunst, die Entfaltung der rein instrumentalen Musik und virtuosen Instrumentaltechnik und das Genußprinzip, das in der Konfusion der reinen Genre-Charakteristika, in dem allzuhäufigen Wechsel der Tonarten und Harmonien und in der Vorherrschaft der die Kitharistik verdrängenden Aulosmusik und der »demoralisierenden« orientalischbarbarischen Harmonien zum Ausdruck kommt. Ferner wird er auch gewahr, daß die gesellschaftliche Grundlage der neuen musikalischen Praxis im Verfall der Polisdemokratie besteht. Aber er kann doch nicht einsehen, daß ohne die Polisdemokratie die musikalische Paideia ihren Sinn verliert, da das Anerkennen der Ethoswirkung die relative moralische Autonomie der Persönlichkeit voraussetzt. Daher rührt der Utopismus seines musikkritischen Progamms: Er möchte die Musik seiner Zeit zur starrsten ägyptischen Kanonisierung, zum archaisch Unpersönlichen des idealisierten, unveränderlichen Nomos zurückführen; er will also solche unwiederbringlich vergangenen Zustände neu erstehen lassen, denen die Möglichkeit einer Wahl zwischen verschiedenen musikalischen Ethosarten nicht bekannt war und die daher keinen Anspruch auf die Verwirklichung der musikalischen Paideia erhoben hatten. Deshalb ist in Piatons Hermeneutik die auf der Anerkennung der Gesellschaftlichkeit der Musik gebaute Ethoslehre mit dem normativen Konservativismus der auf den Naturgesetzen beruhenden Kanonisierung vermengt. Piaton vermochte seine Zeit, diese gewaltige geschichtliche Krisenperiode, weder in politischem noch in musikästhetischem Sinne zu bewältigen. In den Dialogen des Staates findet man in bezug auf die wesentlichen Gesetzmäßigkeiten der Tonkunst, den gesellschaftlichen Charakter und ethischen Inhalt der Musik geniale Formulierungen. Letztlich scheiterte jedoch die platonische Kunstbetrachtung an demselben Punkte wie die Gesellschaftstheorie über den idealen Staat: am doktrinären Idealismus. Somit wurde Piatons Kunstbetrachtung zum Prototyp einer jeden späteren idealistischen Ästhetik: Mag sie die Musik in der »Rangordnung« der Künste noch so hoch einschätzen, so wurde sie letztlich gerade durch ihre ideologischen Grundlagen gezwungen, die künstlerische Sphäre, das Ästhetische, und damit auch die musikalische Tätigkeit, in die niedrigeren Klassen einer konstruierten Seinshierarchie einzureihen.

ARISTOTELISCHE LÖSUNG: DIE MUSIKALISCHE MIMESIS

Die erste Systematisierung der Ethosästhetik der Musik verwirklichte sich also in paradoxer Form, noch dazu zu einem Zeitpunkt, in dem die Gärung der musikalischen Praxis den Schatten ihres Zerfalls der theoretischen Grundkonzeption schon vorausgeworfen hatte. Nur Aristoteles war fähig, auch auf dem Gebiet der Ästhetik eine höchststehende wissenschaftliche Lösung auszuarbeiten. Seine Musiktheorie bildet im vollsten Sinne des Wortes einen Wendepunkt, eine wahrhaft bahnbrechende Tat in der Geschichte der philosophischen Erkenntnis der Tonkunst. 35 3*

Kritisch schließt er sich unmittelbar an seinen Vorgänger und Lehrmeister an. Seine Kritik der Ideenlehre bleibt von philosophiegeschichtlicher Bedeutung und bis zum heutigen Tage eine gültige Widerlegung jener objektiv-idealistischen Ontologie und Erkenntnistheorie, welche die pythagoreische Hauptlinie der platonischen Musikauffassung bestimmt. Wenn nämlich die Hypostasierung der Welt der Ideen, ihre Ausstattung mit einem selbständigen Sein, mit der überflüssigen und unwissenschaftlichen Verdoppelung der Wirklichkeit identisch ist, dann erweist sich auch die platonisch-idealistische Betrachtung des Schönen, des Ästhetischen als unhaltbar. In dieser Beziehung berührt die Metaphysik unmittelbar die Frage der ästhetischen Eigenarten der Tonkunst. Während er jene pythagoreische Ansicht widerlegt, der zufolge die Gegenstände der Mathematik selbständig existierende ideale Wesenheiten seien, während er die Mystik der Ideenlehre ablehnt, der zufolge die wirklichen Gegenstände mit den Zahlen idealer Natur im Verhältnis der »Partizipation« stehen, stellt er der objektiv-idealistischen Deutung des Zahlenbegriffs eine Theorie von materialistischem Charakter entgegen: »Auch ist es klar, daß die mathematischen Dinge nicht abgesondert existieren . . .«50 Deshalb geht er anstelle des Partizipationsprinzips vom Abstraktionscharakter des Zahlenbegriffes aus. Diesem entsprechend ist die Mathematik, die Arithmetik, eine eigenartige wissenschatliche Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, in der das Denken von der konkreten »Aktualität«, der faktischen Wirklichkeiten der Objekte abstrahiert, um unabhängig von der materiellen Qualität in der Sphäre der Möglickheit des Seins die rein quantitativen Relationen der Wirklichkeit zu untersuchen. Nun aber kann die harmonische Untersuchung der Musik nicht auf derselben Abstraktion beruhen, da ihr Gegenstand die durchweg hörbare, wahrnehmbare Tonqualität ist; würde sie in der Art der Mathematik hiervon abstrahieren, dann dürfte die Abstraktion ihren Gegenstand der Untersuchung selbst vernichten. Aristoteles weist auf diese mit dem Grundbegriff der Musica mundana — der Harmonie der Sphären — verbundenen" Vorstellungen hin. Dem »scharfsinnigen, doch fehlerhaften« Satz der Pythagoreer stellt er in erster Linie wirkliche physikalische Gesetzmäßigkeiten entgegen. In den einschlägigen naturphilosophischen Erörterungen kommt auch seine ästhetische Grundauffassung zum Vorschein: für ihn ist jene Musik, die nicht hörbar ist, ganz einfach keine Musik. Jenen geistreichen, doch wissenschaftlich nicht bewiesenen späten pythagoreischen Einwand, dem zufolge die Harmonie der Sphären deshalb nicht zu hören sei, weil das menschliche Hörorgan den vom Augenblick der Geburt an gewohnten Reiz nicht wahrnimmt, widerlegt dieser »enzyklopädische Geist« der Antike anhand von naturwissenschaftlichen Gegenargumenten mit überlegener Sicherheit.51 Die ontologische Überwindung der Ideenlehre korrigiert die verfehlten Fragestellungen der platonischen Erkenntnistheorie natürlich von Grund auf. Bei Aristoteles kann von der überlegenen aristokratischen Verachtung der Aisthesis gar keine Rede mehr sein; die empirischen Forschungen verhelfen der Wahrnehmung, der Beobachtung und der sich auf sinnliche Daten stützenden, von der Mystik der platonischen Anamnese (die »Wiedererinnerung« an die Welt der Ideen, die vor der Geburt geschaut wurden) befreiten Erinnerung wieder zu ihrem Recht. Das Ver36

schwinden des pejorativen Wertakzents der Aisthesis verändert nun die Betrachtungsweise von Kunst und Ästhetischem. In derselben Richtung wirkt die Stellungnahme des Aristoteles im Zusammenhang mit den künstlerischen Bewegungen seiner Zeit. Das Rechnen mit der Wirklichkeit, die reale Beachtung der Tatsachen bilden das Leitmotiv seiner ganzen Philosophie. Die Wahrheit bedeutet für ihn nicht nur in der Logik eine Übereinstimmung von Gedanken und gegenständlicher Wirklichkeit, sondern sie verpflichtet in sämtlichen Sphären der wissenschaftlichen Tätigkeit — in der Staatstheorie genau so wie in der Kunsttheorie — zum objektiven Betrachten der Situation. Aristoteles geht von der ästhetischen Überzeugung seiner eigenen Zeit aus. Ziel und Sinn der Kunst liegen letztlich auch für ihn in der Förderung der Paideia, der Tugend. Zugleich ist er im Verlauf der Untersuchung in bezug auf die Nützlichkeit der Tonkunst bestrebt, die innerhalb der Einheit von ethischer und ästhetischer Sphäre vorhandenen Unterschiede zu erforschen. Deshalb weist er vor allem darauf hin, daß die Musik nicht unmittelbar wegen ihres praktischen Nutzens geübt wird: die Sittlichkeit gelangt in der Handlung zu unmittelbarer Wirklichkeit, für den ästhetischen Standpunkt bleibt jedoch stets die Kontemplation charakteristisch. Die Pflege der Musik weist deshalb nicht nur einen Weg zur Tugend, sondern sie dient auch der Zerstreuung und der Ruhe und füllt in organischer Einheit mit der ethischen Funktion die Freizeit aus. »Die Unterhaltung nämlich dient einerseits zur Erholung, d i e . . . notwendig Genuß bringt und die höchste Geistesbefriedigung, andererseits muß (sie) eingestandenermaßen nicht nur das Schöne in sich bergen, sondern auch die Lust. . .«52 Die des »freien Menschen würdige« Lebensweise enthält jetzt bereits auch organisch die Beschäftigung mit den Künsten. Da sich jedoch die starre platonische Gegenüberstellung und Rangordnung von Wahrnehmung und Vernunft aufgelöst hatte und die aus der Ideenlehre folgende hierarchische Auffassung von einer dialektischen Anschauung abgelöst wurde, die die Wechselwirkungen der einzelnen Phasen der Erkenntnis, der einzelnen Teile der Seele anerkennt, entstand hierdurch eine erkenntnistheoretische Grundlage für die wissenschaftliche Untersuchung des ästhetischen Wesens und Wertes der Musik. Ein ähnlicher Realitätsanspruch ist auch für des Aristoteles musikalische Orientierung im engeren Sinne charakteristisch. Im Gegensatz zu Piaton nimmt er die Trennung der einzelnen Elemente der Gesamtkunst ohne Resignation zur Kenntnis. Die Musike bekommt zum ersten Male bei ihm die Bedeutung der Tonkunst im engeren Sinne des Wortes. Daher anerkennt er auch die Berechtigung der rein instrumentalen Musik. Dieselbe besonnene Mäßigkeit kommt auch in seiner Auffassung über die Verwendbarkeit der Harmonien und Rhythmen zur Geltung. Er verzichtet auf die platonische doktrinäre Selektion: im wesentlichen spricht er keiner Harmonie und Rhythmusformel die Daseinsberechtigung im Instrumentarium des musikalischen Ausdrucks ab. Auf diese Weise beendet er den Windmühlenkampf gegen die vollendeten Tatsachen der neuen Musik. Seine wissenschaftliche Ambition spornt ihn nicht zur subjektiven Abänderung geschichtlicher Fakten an, sondern vielmehr zur Aufklärung deren innerer Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten. Die Konzession an das geschichtlich Gewordene bedeutet jedoch keinen Kompromiß: der Ethosgehalt der Musik ist auch für Aristoteles eine unbedingte 37

Gewißheit. Deshalb fehlt auch in seiner Musikästhetik nicht die Problematik der Erziehung. Pädagogisch ist auch er ein Anhänger der dorisch orientierten Auswahl, obwohl er in der Interpretation des Ethos der dorischen Harmonie von der platonischen Deutung abweicht. Was Piaton als phrygischen Charakter empfand—-Maßhalten, charakteristische ethische »Mitte« —, das taucht bei Aristoteles als dorische Eigenart auf und wird vom erzieherischen Gesichtspunkt aus zum vorteilhaftesten Ethos: ». . . alle geben zu, daß die dorische Tonweise am ruhigsten ist und den meisten männlichen Charakter hat. Auch loben wir die Mitte zwischen den Extremen und wollen sie angestrebt wissen, und die dorische Weise hat den anderen gegenüber diese mittlere Art, woraus denn erhellt, daß sich die dorischen Melodien für den Jugendunterricht besser eignen.«53 Derselbe pädagogische Gesichtspunkt motiviert die Beurteilung des Aulosspiels und der dem Aulos entsprechenden, »Leidenschaft entfachenden« phrygischen Harmonie sowie der aufregenderen Rhythmusformeln: Diese können bei der Erziehung der Jugend nicht verwendet werden. Endlich können wir hier noch erwähnen, daß Aristoteles die musikalische Praxis zwar nicht als niedriges Banausentum betrachtete und die über die bloße Theorie hinausgehende, aktive und regelmäßige Musik bei der Erziehung der Jugend geradezu unerläßlich fand, die modische instrumentale Virtuosität verurteilte er jedoch und erklärte sie gleich Piaton für eine den freien Menschen unwürdige Beschäftigung. Nach seiner Ansicht darf die musikalische Erziehung nicht als Vorbereitung zu musikalischen Wettstreiten dienen, weiter darf sie die Aneignung des staatsbürgerlichen Bewußtseins nicht durchkreuzen und nicht zu handwerklichem, berufsmäßigem Musizieren verleiten. Der Gesichtspunkt der Kindererziehung erhält bei Aristoteles jedoch den ihm gebührenden Platz und wird nicht mittels utopistischer Unmittelbarkeit im gesamtgesellschaftlichen Sinne gültig. Diese Unterscheidung läßt sich in den Erörterungen gut beobachten, die sich mit dem überlieferten Verbot des Aulos beschäftigen. Auch Aristoteles betont, daß der Aulos zu »Unbändigkeit verleitet«, daß sein Klang einen »dionysischen« Grundcharakter hat. In seiner attischen Akklimatisierung entdeckt er mit einzigartigem Scharfblick die bestimmende Rolle der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: »Als sie bei steigendem Wohlstand auch reichere Muße g e w a n n e n . . . , besonders... seit den Perserkriegen das Gefühl ihrer Taten sie mit Stolz erfüllte, da verlegten sie sich auf alle möglichen Bildungsmittel, ohne eine Auswahl zu treffen, vielmehr nur darauf bedacht, immer noch weitere ausfindig zu machen, und so zogen sie in den Bereich der Lehrfächer auch das Flötenspiel.«54 Das mit dem Aulos erscheinende Genußprinzip ist also das Produkt des Privatvermögens und der Zunahme der Freizeit. Gerade deshalb kann das Aulosspiel und seine harmonische Grundlage, die phrygische Tonart, nicht der Paideia dienlich sein. Doch ist, wie wir bereits gesehen haben, die Ausbildung des Charakters nicht das ausschließliche Ziel der Tonkunst. Infolgedessen sagt er: ».. . daß man alle Tonarten ohne Ausnahme anwenden darf, aber nicht alle auf gleiche Weise. Man soll vielmehr behufs Bildung zur Sittlichkeit die vorzugsweise ethischen Arten, dagegen von den für das bloße Anhören fremden Spieles die praktischen und enthusiastischen verwenden.« 55 Den vom pädagogischen Gesichtspunkt aus bemängelten Aulos sollte m a n » . . . für die Gelegenheiten ver-

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wenden . . . , wo bei dem Hörer mehr auf homöopathische Reinigung der Affekte (Katharsis) als auf Belehrung hingearbeitet wird.«5® Hier ist von der rigorosen R e gelung der wirklichen musikalischen Praxis gar keine Rede mehr. Die unmittelbare Verbindung von staatlicher Politik und musikalischem Leben macht definitives Verbot oder Erlaubnis der einzelnen Formenelemente oder Instrumente nicht erforderlich. Es ist nicht schwer, hinter dieser musikalischen Orientierung den vorgerückten Zersetzungsprozeß der geschlossenen und einheitlichen Polisgemeinschaft zu erblicken, der Piaton noch zu erbittertem Widerstand veranlaßte, für Aristoteles hingegen erkannte geschichtliche Notwendigkeit war. Es taucht jedoch von neuem die Frage auf, ob diese nüchterne Gegenüberstellung und Abstimmung von ästhetischer Konzeption und gesellschaftlicher Praxis der Zeit nicht zur Preisgabe der Grundprinzipien der Ethoslehre, zur Ablehnung der grundlegenden Gesellschaftlichkeit und des auf den Ethosarten fußenden inneren Gehaltes der Musik führte. Ein Beweis für die außergewöhnliche denkerische Größe von Aristoteles ist, daß er für die musikalisch-ästhetische Alternative seiner Zeit eine wissenschaftlich in die Zukunft weisende Lösung fand und die Scylla der unzeitgemäß und subjektiv gewordenen ethischen Strenge ebenso vermied wie die Charybdis der in nicht geringerem Maße subjektiven ethischen Skepsis. Er bewahrte den zentralen Kern der Ethoslehre, den Gedanken des Zusammenhangs der musikalischen Ausdrucksmittel und der menschlichen Charakterzüge. In der Ethosinterpretation überwand er nicht nur die immer mehr veralteten Uberlieferungen der Rückführung auf den Grundcharakter, sondern auch den Konservativismus der platonisch-utopischen Gegenüberstellung des Alten und Neuen. Auch hier ist sein Ausgangspunkt die objektive Wirklichkeit, die faktische Klassenstruktur und -Schichtung der Gesellschaft. Das Ethos der Musik hängt nun mittelbar oder unmittelbar mit dem typischen moralischen Verhalten und der Funktion der einzelnen Klassen und Schichten zusammen; in aristotelischer Terminologie: es ahmt die verschiedenen sozialen Verhaltens- und Gesinnungstypen nach. »Die Rhythmen und Melodien kommen als Abbilder dem wahren Wesen des Zornes und der Sanftmut, sowie des Mutes und der Mäßigkeit wie ihrer Gegenteile, nebst der eigentümlichen Natur der anderen ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe. Das zeigt die Erfahrung. Wir hören solche Weisen und unser Gemüt wird umgestimmt.« 57 »Dagegen sind in den Melodien an sich schon Nachahmungen ethischer Vorgänge enthalten, wie es jedem einleuchten muß. Denn die Natur der einzelnen Tonarten ist von vornherein so verschieden, daß der Hörer bei jeder von ihnen anders und nicht in gleicher Weise gestimmt wird . . .« 58 Aristoteles hat die Krise der Ethoslehre durch die Ausarbeitung des Prinzips der ästhetischen Mimesis, durch die Darlegung der noch heute gültigen Grundlagen der Abbildungstheorie gelöst. Die aristotelische Theorie der Mimesis nimmt natürlich nicht ohne jede geschichtliche Vorbereitung ihren Anfang. Jene Auffassung, der zufolge die Musike als Gesamtkunst die Nachahmung von wirklichen Lebenssituationen und Charakteren ist, entfaltete sich bereits in der Gentilgesellschaft, und ihre Wurzeln greifen auf uralte magische Vorstellungen zurück. Indem Georg Lukacs die ästhetische Theorie der 39

doppelten Widerspiegelung und der durch sie bewirkten, besonders in der Musik augenfälligen, unbestimmten Gegenständlichkeit skizziert, betont er — sich auf die Pindar-Interpretation von Georgiades als geschichtlicher Präzedenzfall berufend —, daß in der 12. pythischen Ode von Pindar jenes allgemeine Selbstverständnis der Antike einen mythischen Ausdruck gewann, nach dem die Musike nichts anderes als das »göttliche« — künstlerische — Spiegelbild von menschlichen Empfindungen wäre. 59 Die Poetik des Aristoteles erhob diese uralte hellenische Überzeugung in einer Zeit zum ästhetischen Bewußtsein, als aus der Musike einerseits der Logos (die Dichtung), andererseits die selbständige instrumentale Tonkunst (mit ihren Rhythmen und Harmonien) bereits ausgeschieden waren. »Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung, aber auch zumeist Flötenspiel und Zitherspiel, sie alle sind zunächst insgemein Nachahmungen: Sie unterscheiden sich jedoch voneinander in dreifacher Beziehung: einmal kann die Nachahmung verschiedene Mittel gebrauchen, zweitens können ihre Gegenstände verschieden sein, endlich kann die Art und Weise der Nachahmung verschieden sein. Wie man nämlich mancherlei Gegenstände durch Farben und Formen nachahmt und abbildet, sei es vermöge wirklicher Kunst oder vermöge häufiger Übung oder auch vermöge natürlicher Begabung, so ist es auch in den obengenannten Künsten. Sie alle nun bewerkstelligen die Nachahmung durch Rhythmus, Wort und Melodie, aber so, daß diese drei Stücke entweder einzeln oder verbunden zur Anwendung kommen. Z . B. verwenden nur Melodie und Rhythmus die Kunst des Flötenspiels sowie das Zitherspiel und Künste von ähnlicher Bedeutung, wie das Spiel auf der Hirtenpfeife. Nur Rhythmus ohne Melodie wendet die Tanzkunst an (auch der Tanzende ahmt vermittels rhythmischerBewegungen und Gestaltungen Charaktere, Gemütsstimmungen und Handlungen nach).«60 Man ersieht aus diesem Zitat, daß das Prinzip der Mimesis nicht nur das Grundproblem der auf der Ethoslehre beruhenden Musikästhetik löst, sondern auch eine allgemeine ästhetische Fundierung gibt und mit diesem Prinzip das systematische Verhältnis der sich voneinander differenzierenden Kunstarten und -gattungen mit Hegelscher Terminologie als Identität von Identität und Nicht-Identität aufgefaßt wird. Die spätbürgerliche Ästhetik benutzt die Kategorie der Mimesis als Synonym der naturalistischen Reproduktion; die bürgerlichen Musikästhetiker der Gegenwart betrachten den spezifisch nicht-mimetischen, nicht-darstellenden, ja sogar asemantischen Charakter der Musik als das Grundprinzip einer jeden echten musikästhetischen Konzeption, das keines weiteren Beweises bedarf. 81 Es lohnt sich, jenen modernistischen und vulgärmarxistischen Theorien, welche die Widerspiegelungstheorie im allgemeinen, das Prinzip der musikalischen Wirklichkeitsspiegelung im besonderen, als das Programm des naturalistischen platten Kopierens abtun möchten, das auf Mimesis gegründete aristotelische System der Künste entgegenzustellen. Aus den Ausführungen der Politik zu musikalischen Fragen ist zu ersehen, daß Aristoteles unter Mimesis nicht das Kopieren, nicht einmal — wie dies von den meisten Theoretikern auch heute noch angenommen wird — die Verallgemeinerung des plastischen Gestaltungsprinzips zum ästhetischen Grundgesetz sowie seine Ausdehnung auf die übrigen Kunstarten, sondern gerade umgekehrt die Darstellung der inneren Welt des Menschen, des Ethos der Persönlichkeit verstanden hat. 40

In dieser Auffassung ist anscheinend auch das Prinzip der Rangordnung der Künste enthalten, da die Gestalten (als Gegenstände der bildenden Kunst) »nicht eigentlich Bilder des Ethischen« sind; »vielmehr sind die Züge, die Stellungen und die wechselnden Farben, die man annimmt, nur dessen Zeichen, wie es denn auch der Leib ist, an dem sie im Affekt hervortreten«. Die Melodie hingegen (als Gegenstand der Tonkunst) — wie wir bereits gehört haben — enthält auch in sich selbst die Nachahmung des Ethischen. 82 Es ist unmöglich, hinter der latenten Rangordnung der Künste an diesem Punkte den bis heute bestehenden Anspruch auf Differenzierung zwischen den künstlerischen Darstellungsmethoden zu verkennen. Die aristotelische Wertordnung der Darstellungsmethoden beruht eindeutig auf dem ästhetischen Grundprinzip der Einheit von äußerer Erscheinung und innerem menschlichen Gehalt. Die Plastik kann sich daher mit der räumlichen Wiedergabe der [äußeren Gestalt nicht begnügen: die bildende Kunst veranschaulicht durch die Vergegenständlichungj des Gesichtsausdrucks und der Körperformen menschliche Charaktere. Und an diesem Punkte, in bezug auf das gestaltete menschliche Wesen, treffen sich sowohl bildende Kunst wie Dichtung in geschwisterlicher Eintracht mit der Musik, dieser charakteristisch »musischen« Kunst, die ihrem innersten Wesen nach dazu befähigt ist, die verschiedenen Charakterzüge und Empfindungstypen mimetisch darzustellen. Der Erkenntnis des mimetischen Charakters der Kunst begegnet man, wenn auch nur nebenbei behandelt, in Piatons Staat. Die platonische Kunstanschauung hält die künstlerische Mimesis für eine noch niedrigere Tätigkeit als das banausische Handwerk, da sie, im Lichte der Ideenwelt betrachtet, nur Kopien von Kopien herstellt. Überdies untersagt der ideale Staat strikt die Überschreitung der Kastengrenzen und bewertet, seinen eigenen Grundprinzipien folgend, die künstlerische Mimesis des zu einer anderen Schicht gehörigen Verhaltens- und Empfindungstyps von vornherein als staatsgefährdend. Die Klassenstruktur sowie die entwickelte Arbeitsteilung geraten deshalb in ein feindliches Verhältnis zur künstlerischen Produktion und Rezeption. So ist es zum Beispiel den »Wächtern«, die den idealen Staat beschützen, geradezu untersagt, an ästhetischer Mimesis teilzunehmen. Charakteristisch ist dabei die Motivierung : »Deshalb werden wir in einer solchen Stadt den Schuster alleinnur als Schuster finden, und nicht auch als Steuermann neben der Schusterei, und den Landmann nur als Landmann, nicht auch als Richter neben dem Ackerbau; und den Krieger nur als Krieger, nicht auch als Gewerbsmann neben der Kriegskunst, und so alle.« 63 Die Mimesis wird also in Piatons Staat deshalb untersagt, weil sie den Wunsch nach vielseitiger Entwicklung der Persönlichkeit, den Anspruch der staatsbürgerlichen öffentlichen Aktivität wach hält. Die einzige künstlerische Wirkung, der i m idealen Staat ein Platz gebührt, ist das unmittelbare Harmonie-Erlebnis, das nicht aus der Darstellung der verschiedenen Lebensschicksale, Charaktere und Empfindungen (sowie dem Einfühlen in dieselben) entsteht, nicht der mimetisch-künstlerischen Widerspiegelung der Lebenswirklichkeit entstammt, sondern das Produkt einer starren kosmischen Ordnung, der inneren Identifizierung mit der »Harmonie« der unmittelbar gegebenen sozialen Wirklichkeit ist. Die dramatische Darstellung der Lebensschicksale, in erster Linie die Tragödie, müßte nach platonischer Vorstellung 41

staatlich verboten werden. D i e platonische Liebe zur Schönheit ist auf die ü b e r w i r k liche Idee v o n ewiger O r d n u n g und Harmonie gerichtet. Das aristotelische Mimesis-Prinzip steht z u dieser Interpretation der ästhetischen W i r k s a m k e i t i m entschiedensten Gegensatz. D i e A b l e h n u n g der Vorstellung v o n ein e m kosmischen Harmonieerlebnis — eine A b l e h n u n g , die auch heute wieder irrationalistischen Konzeptionen der modernistischen Kunsttheorien entgegensteht — bedeutet nicht etwa zugleich die N e g a t i o n der persönlichkeitsgestaltenden Macht, der erzieherischen W i r k u n g der Kunst. Im Gegenteil, gerade die Erkenntnis der ästhetischen Gesetzmäßigkeit der Mimesis ermöglichte es Aristoteles, die Tatsache der durch die Kunst ausgelösten Katharsis b e w u ß t z u machen. D i e sich in der Kunst erschließende b e w e g t e menschliche W e l t , das Leben der Charaktere und Leidenschaften erschüttern nach dieser Auffassung den Empfänger (Hörer, Betrachter) des Kunstwerks bis in die tiefste Seele, und diese ästhetisch erlebte Erschütterung findet ihre Lösung i m Erlebnis der »Läuterung«, der moralischen V e r v o l l k o m m n u n g und der unter Vermittlung der Disharmonie hergestellten Harmonie. D i e Theorie der durch Mimesis ausgelösten Katharsis w i r d in der Poetik i m e n g sten Zusammenhang mit der allgemein bekannten Analyse der Tragödie und des T r a gischen erörtert. D i e Kategorie der Katharsis ist aber auch ein wichtiges Element der musikästhetischen Erörterungen in der Politik. Diese Tatsache kann auch v o n der modernistischen Musikästhetik nicht bezweifelt werden. Entweder verneinen die Musiktheoretiker der bürgerlichen Dekadenz die Allgemeingültigkeit der mit der kathartischen W i r k u n g der Musik verbundenen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten, oder sie versuchen, ihrer idealistischen und irrationalistischen Grundposition entsprechend, die aristotelische Konzeption umzudeuten. Nietzsches Unterscheidung zwischen apollinischem und dionysischem Prinzip in der griechischen Kunst, in ihrem A u s gangspunkt nicht falsch gesehen, hat bereits das methodische M o d e l l für die Irrationalisierung des Katharsis-Prinzips geschaffen; die kathartische W i r k u n g der aus d e m Geist der Musik geborenen Tragödie leitete er v o n der bacchantischen, freudetrunkenen Entzückung, aus der kollektiven Verschmelzung mit der Natur ab. D i e modernistische Auffassung des 20. Jahrhunderts begnügt sich jedoch nicht mit dieser irrationalistischen Ekstase-Theorie, sondern macht einen weiteren Schritt auf d e m W e g e der Dehumanisierung der künstlerischen W i r k u n g . Es ist lehrreich, hier an die Ansicht W o r r i n g e n , eines Theoretikers des frühen Expressionismus z u erinnern, der auch heute n o c h eine große W i r k u n g ausübt. »Die banalen Nachahmungs-Theorien, v o n denen unsere Ästhetik dank der sklavischen A b h ä n g i g k e i t unseres gesamten Bildungsgehaltes v o n aristotelischen B e g r i f fen nie loskam, haben uns blind gemacht f ü r die eigentlichen psychischen W e r t e , die Ausgangspunkt und Z i e l aller künstlerischen Produktion sind.«64 U m welche psychischen W e r t e handelt es sich hier? Zuallererst u m die Angst, die keine aus gegenständlichen M o t i v e n entstandene (keine »banale«) Furcht ist, sondern eine A r t der »geistigen Raumscheu«,® 5 das Erlebnis der Diesseitigkeit verneinenden Transzendenz. N a c h W o r r i n g e r s Anhängern ruft die Musik, ebenso w i e die übrigen Künste, eine unnennbare und unentzifferbare A n g s t — die Weltangst — hervor, und die Musik kann daher in der einsamen angsterfüllten Kreatur anstelle der Katharsis nur

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eine schockierende W i r k u n g auslösen. In Wirklichkeit hat der kathartische Einfluß nach der genialen Auffassung des Aristoteles mit einem mystischen Erlebnis der kosmischen Harmonie oder Disharmonie gar nichts zu tun, sondern er bewahrt genau so wie seine Grundlage, die Mimesis, durchgehend seinen betont gesellschaftlichen, auf das Zoon politikon bezogenen Charakter. Die Analyse der ästhetischen W i r k s a m keit des musikalischen Erlebnisses in der aristotelischen Politik weist ausdrücklich darauf hin, daß die »Läuterung« mit der Aufhebung der Unbändigkeit des Pathos sowie seines subjektiven Überschäumens, also mit der Erneuerung des moralischen Maßes gleichbedeutend ist: das in seiner Leidenschaft v o m Leben der Gemeinschaft abgesonderte Individuum erhebt sich v o n seinem partikularen Einzelwesen z u m Allgemeinen, es identifiziert sich mit dem Leben und den Bestrebungen der Gemeinschaft. In dieser Gedankenreihe k o m m t die Grundrichtung der auf das Ethos bezogenen Ästhetik zur vollen Entfaltung. Die Gesetzmäßigkeiten der Wechselwirkung von Ästhetischem und Sittlichem wurden im klassischen Altertum durch die aristotelische Theorie der Katharsis auf höchstem Niveau formuliert. W i r betonen noch einmal: Aristoteles erkannte in der Katharsis bei weitem nicht nur die tragische Wirkung, sondern auch das notwendige M o m e n t der musikalischen Rezeption. Dennoch darf man nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß dieser Problemkreis in den einschlägigen Erörterungen der Politik nur flüchtig berührt wird; man kann auch nicht wissen, ob eine eingehende Darstellung in den verlorengegangenen Teilen der Poetik wirklich vorgenommen wurde. Textverluste und -Verstümmelung ermahnen uns natürlich zu philologischer Vorsicht. Dennoch m u ß die unleugbar vorhandene soziologische Seite der Frage beachtet werden. Z u m Zustandek o m m e n der Katharsis bedurfte es unzweifelhaft einer solchen stabilen Gemeinschaft, wie sie nur in der Blüte der athenischen Demokratie existierte. Aus dieser Tatsache leitet Ägnes Heller in ihrer erwähnten Monographie äußerst wichtige Folgerungen ab: ihr zufolge mochte Aristoteles die Katharsis nur in seiner Poetik und nicht in den ethischen W e r k e n analysieren, weil sich seine Poetik mit den Tragödien der klassischen Blüte befaßt, in seiner Ethik hingegen die Gegenwart, die sittlichen Probleme des Zerfallsprozesses der Polis, behandelt werden. Es scheint, daß sich in der Relation der Theorie der Tragödie und der Musikästhetik dieselbe Situation wiederholt. Die kathartische W i r k u n g mag durch jene Musike ausgelöst worden sein, die den Gesamtkunst-Charakter noch in ihrer vollen Intensität bewahrt hatte, und zwar auf dem Boden und im Ergebnis ihrer Offentlichkeitswirkung; in diesem Sinne mochte auch die Tragödie — durch Erregung von Furcht und Mitleid — zugleich auch die Läuterung der Leidenschaften herbeigeführt haben. Die sich immer mehr verselbständigende Tonkunst des aristotelischen Zeitalters entspringt dagegen schon nicht mehr dem Boden des demokratischen öffentlichen Lebens, weshalb auch in der durch sie hervorgerufenen Katharsis das intensive ethische Gemeinschaftserlebnis zu verblassen beginnt. Die Situation des Aristoteles ist auch in dieser Beziehung geschichtlich einmalig. Die Überlieferungen der Ethos-Hermeneutik haben in seiner Zeit noch genügend Wirksamkeit, u m für die Formulierung der in der Erscheinung der Katharsis enthaltenen Gesetzmäßigkeit als Grundlage dienen zu können. Andererseits verlieren die Ethosinterpretationen der durch die Überlieferung vermittelten Bedeutungsord43

nulig infolge der gesellschaftlichen Entwicklung allmählich ihren ursprünglichen Sinn und ihre ursprüngliche Funktion. Aristoteles bewahrte den wesentlichen Kern der Hermeneutik, anerkannte die gemeinschaftlichen Ethosarten und die mit ihnen verbundene kathartische Wirkung und entdeckte zugleich in den Affekten die bisher kaum beachtete Seite der durch die verschiedenen Musikformen widergespiegelten Lebensinhalte. Im allgemeinen wird diese Seite der aristotelischen Musikauffassung von den Historikern der Ethoslehre nicht zugegeben, oder sie konstatieren, wenn sie der antiken Problematik der Affekte gegenüberstehen, verständnislos ihr »plötzliches« Erscheinen. Nach dem Gesagten können Affektgehalt und -Wirkung für uns nicht mehr als Fremdkörper erscheinen, der sozusagen als Deus ex machina, unbegründet und zufällig in das aristotelische System hineingekommen wäre. Es ist offensichtlich, daß ihr In-den-Vordergrund-Treten subjektiv mit der großen Entdeckung der aristotelischen Ethik in Verbindung steht: der Erschließung der natürlichen Grundlagen der Sittlichkeit, unter anderen der Leidenschaft — des Pathos — sowie der Anerkennung des in der musikalischen Praxis zur Geltung kommenden Genußprinzips. Erst in diesem Zusammenhang wird verständlich, auf welche Weise das Moment des Pathos (Affekte, Stimmungen) in der Bedeutungslehre der Musikformen überhaupt eine Rolle zu spielen beginnt, warum gerade in der philosophischen Darstellung der neuen Musik die Interpretation der Affektinhalte vorherrschend wird. (Vgl. die Aufnahme der »praktischen« und »enthusiastischen« Melodien neben den »ethischen«; die Annahme des zu Unbändigkeit verleitenden, orgiastischen Klangcharakters des Aulos, usw.) Dieser Vorgang wirkt natürlich auch auf die Interpretation des Ethosbegriffs zurück. Die sich in der Musik entfaltenden Ethosarten hatten von Dämon bis Piaton Charakterzüge widergespiegelt, sie traten als persönliche Willensäußerung auf. Bei Aristoteles wird diese Bedeutung durch den Begriffskreis der sittlichen Gefühle bereichert. Der Charakter der Musikwerke äußert sich nunmehr in der Nachahmung emotionell gefärbter Charakterzüge von individueller stimmungsmäßiger Prägung: »Denn die Natur der einzelnen Tonarten ist von vornherein so verschieden, daß der Hörer bei jeder von ihnen anders und nicht in gleicher Weise gestimmt wird, sondern bei einigen, wie der sogenannten mixolydischen, mehr traurig und gedrückt, bei anderen, wie den ausgelassenen, mehr leichtsinnig, während eine andere vorzugsweise in eine mittlere, gefaßte Stimmung versetzt, was wohl von allen Tonarten allein die dorische tut, wogegen die phrygische zur Begeisterung hinreißt. So urteilen die Schriftsteller, die über diesen Zweig der Erziehung philosophiert haben, mit Recht, Was sie an Gründen für sich anführen, dafür können sie die Erfahrung selbst zur Zeugin nehmen.«68 Der bereits bekannte Grundzug der Aristotelischen Ästhetik wird mit dem bewußten Verweis auf die affekthafte Seite der Ethosarten um ein neues Moment bereichert, um das Zugeständnis der Berechtigung ästhetischer Genüsse. Die Schranken des platonischen Idealismus zu durchbrechen, wird jetzt mit Hilfe der objektiven Betrachtung der grundlegenden künstlerischen Tatbestände ermöglicht. Trotzdem bedeutet die Anerkennung der Berechtigung des Genusses in der Musikphilosophie

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des Aristoteles nicht zugleich auch die absolute Selbständigkeit der ästhetischen Sphäre; der Genuß ist hier bloß ein Moment der im Ethos aufgehobenen ästhetischen Wirksamkeit. Ebenso wie der affektive Charakter der Musik mit den in den Ethosarten enthaltenen Typen der sittlichen Gefühle zusammenhängt, genau so bedeutet auch der musikalische Genuß nichts anderes als ein vermittelndes Glied zwischen der Mimesis der Ethosarten und ihrer kathartischen Wirkung. Der affektive Charakter der Musik ist der aristotelischen Musikauffassung bekannt, sie anerkennt jedoch nicht das in der Neuzeit vorherrschende Affettuoso. Hiermit erhebt er die Überzeugung seiner Zeit und seiner Klasse zu philosophischem Bewußtsein. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß Aristoteles den kontemplativen Grundcharakter des ästhetischen Genusses mit der Lebensweise des »freien Menschen«, also des Individuums der Sklavenhalterklasse in Zusammenhang bringt: »Und so bleibt denn nur übrig, daß sie (die Musik), für edle Geistesbefriedigung in der Muße bestimmt ist, auf die man sie auch von den Alten bezogen sieht. Denn sie weisen ihr da ihren Platz an, wo sie jene Beschäftigungen gegeben finden, die eines freien Mannes würdig sind.« 67 Kein Zweifel, diese Klassenzugehörigkeit und das zugehörige Lebensideal haben Aristoteles noch die Formulierung einer ganzen Reihe ästhetischer Gesetzmäßigkeiten von bleibender Geltung ermöglicht. Zugleich wurden der aristotelischen Philosophie durch das Klassenbewußtsein der Sklavenhalteraristokratie auch Grenzen gesetzt. Das antike Ideal des weisen Menschen — das nur gebändigte, mäßige Affekte, die Metriopathie als des freien Menschen würdig erachtete — setzt bereits der musikalischen Erkenntnis der Affekte enge Grenzen; und es erblickt im Ausleben der Gefühlswelt ein antihumanes, fremdes und feindliches Lebensprinzip, das in erster Linie die Folge der unmäßigen Anhäufung der materiellen Werte und des Lebensgenusses ohne Selbstbeherrschung ist. Deshalb blieb das Problem der von der Musik hervorgerufenen Affekte in der aristotelischen Konzeption ein untergeordnetes Moment. Diese historische Beschränktheit schlägt dann an einem gewissen Punkt auch in theoretische Befangenheit um. Die Lebensform der mit der Selbstbeherrschung gepaarten Kontemplation schließt, wie wir gesehen haben, nach der Auffassung des Aristoteles, die Möglichkeit des aktiven Musizierens im Erwachsenenalter bereits aus; der erwachsene Mann muß in einem bestimmten Zeitpunkt die musikalischen Studien abbrechen. Diese vom Klassengesichtspunkt aus noch verständliche Stellungnahme führt jedoch dazu, daß bei Aristoteles die Rolle der Praxis in musikästhetischer Hinsicht gewichtlos wird. Mag er auch Piatons einseitigen Intellektualismus noch so sehr überwinden, so verurteilt doch auch er die Aktivität des Musik hörenden Publikums: »Der ungebildete Hörer pflegt nachteilig auf die Musik einzuwirken, so, daß die Künstler, die sich dienstwillig nach ihm richten, geistig und körperlich, letzteres durch die unanständigen Faxen, verhunzt werden.« 68 So ist auch Aristoteles nicht fähig, das in der Massenhaftigkeit und Offentlickeit der Kultur implizit enthaltene ästhetische Gestaltungsprinzip zu würdigen. Ebenso wie die »Form« in seiner Ontologie letztlich immaterielle Urgestalt, die alleinige Quelle und Trägerin jeder Bewegung und Veränderung ist, genau so betrachtet er die Formen der Musik letztlich als ideale Strukturen, die sich nicht durch lebendige Wechselwirkung 45

von Produktion und Rezeption so gestaltet haben, wie sie sind, sondern die Praxis genau so bestimmen, wie die aktive Form die passive Materie. Rezeption, Genuß des Ästhetischen sind also seines Erachtens nur ein passives Moment in der musikalischen Tätigkeit: deshalb bedeutet die selbständige Aktivität der Hörerschaft Verfall und Niedergang. Natürlich enthielt die Musik der aristotelischen Zeit zahlreiche Elemente der Dekadenz; man denke nur an die immer mehr zum Selbstzweck tendierenden musikalischen Wettbewerbe, an die Vorherrschaft der instrumentalen Virtuosität usw. Das Kritische bei Aristoteles entbehrte also nicht einer bestimmten Berechtigung. D o c h der aristokratische Klassenstandpunkt durchdringt auch die theoretische Verallgemeinerung. D i e Konzeption der Mimesis, die, wie wir gesehen haben, aus der ästhetischen Gleichberechtigung der typischen Ethosarten der zu verschiedenen Klassen und Schichten gehörigen Menschen herausgewachsen war, wurde v o n der Klassenbefangenheit durchkreuzt und geschwächt: ». . . D a es aber zwei Klassen von Theatergästen gibt, freie und gebildete Personen einerseits, und eine ungebildete Menge, die sich aus Handwerkern, Tagelöhnern und dergleichen Leuten zusammensetzt, anderseits, so seien auch dieser zweiten Klasse musikalische Wettkämpfe und Schaustellungen zu ihrer Erholung vergönnt. Wie ihre Gemüter ihre natürliche Verfassung eingebüßt haben und gleichsam verrenkt und verkrümmt sind, so stellen sich auch die gellenden und falsch nuancierten Tonweisen als Ausartungen der echten Tongattungen und Melodien dar. Einen jeden erfreut aber das, was seiner Natur verwandt ist. So sei denn den auftretenden Virtuosen verstattet, derlei Theatergästen auch mit derlei Musik aufzuwarten.«®9 Diese geschichtlichen und persönlichen ideologischen Schranken können jedoch die historische Größe und weltanschauliche Bedeutung der aristotelischen Musikphilosophie nicht schmälern. »Alexander der Große der Wissenschaft« (Marx) eroberte auch in bezug auf die Tonkunst neue Erdteile für das menschliche Wissen. Es gibt und es wird auch keine Musikästhetik geben, die seine Grundlegung und seine Initiativen außer acht lassen könnte.

DIE ZEIT DES HELLENISMUS -

VERFALL D E R ETHOSLEHRE

Die Entwicklung der antiken Musikästhetik von der mythischen Musikauffassung bis zum Mimesis-Prinzip des Aristoteles bildet einen einzigen konsequenten Gedankenfortschritt. Die bislang im Zeitalter des Hellenismus wahrgenommene, unablässig steigende Bewegungslinie der Richtungen, die einander korrigieren und weiterentwickeln, erleidet nunmehr einen Bruch, und das überwältigende Bild der organischen Entwicklung der musikphilosophischen Systeme wird von dem unsicheren Hin und Her der theoretischen Reflexion abgelöst. Die Krise der Theorie weist natürlich auf die Krise der künstlerischen Praxis zurück, und beide zeigen die E r schütterung der gesellschaftlichen Grundlagen an. Wir sprechen von einer Krise, doch nicht in dem Sinne, als bedeutete das alexandrinische und das ihm folgende Zeitalter nur eine regressive Entwicklung in der 46

Geschichte der Musikphilosophie. Der Verfall ist auch hier ein widerspruchsvoller Prozeß; provisorisch und auf Teilgebieten übt er auch eine befruchtende Wirkung aus und trägt in seiner widerspruchsvollen Totalität zur Vorbereitung einer neuen Epoche der Musiktheorie bei. Wenn wir z. B. bei Aristoteles auf die vordergründige Beachtung des. Affekt-Problems stießen, so wird jetzt die eingehendere Darstellung und Systematisierung der Affektinhalte bei den Stoikern notwendig zu konstatieren sein. Diogenes von Seleukia weist im Zusammenhang mit dem Ethosgehalt der Musik auf die Kompliziertheit der individuellen Psyche hin und erbringt hierdurch den Beweis, daß ein Musikwerk nicht auf jeden dieselbe Wirkung ausübt; bei der ästhetischen Wirksamkeit der musikalisch vergegenständlichten Ethosarten und Affekte ist auch die rezeptive Subjektivität stets mit im Spiele. Neben derartigen — nicht unwesentlichen — Korrekturen zeigt sich auch die Tendenz der Weiterentwicklung in der großangelegten hellenistischen Systematisierung einzelner Gebiete der Ästhetik, so z. B. der Rhetorik, Rhythmik und Metrik. Die Ausfüllung der in der Theorie des klassischen Zeitalters beobachteten Lücken führt dabei oft zu Entdeckungen, die in die Zukunft weisen. Diese Schritte nach vorn ändern jedoch nichts am Gesamtbild der Dekadenz. Der Historiker der Musikästhetik des Hellenismus ist daher der Chronist des Verfalls der antiken Musikauffassung. Auftretende Verfallstenden zenlassen sich zuerst bei dem als klassisch geltenden Aristoxenos beobachten. Die höchsten Leistungen der Ethosästhetik sind ihm noch unmittelbar aus erster Hand bekannt, und er hat sich der Philosophie des Aristoteles bewußt angeschlossen. Es ist jedoch eine unleugbare Tatsache, daß seine weltanschauliche Entwicklung nicht aus einer aristotelischen Position ihren Anfang nimmt. Er stammt aus Tarent, einem der Zentren der spätpythagoreischen Schule. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sein musikalisches Interesse durch Archytas, den einflußreichen und Piaton verbundenen Philosophen seiner Geburtsstadt geweckt wurde. In dieser Beziehung ist eine späte Angabe beachtenswert, nach der die erste Biographie über Pythagoras und Archytas gerade von Aristoxenos geschrieben worden sei. Aus seinen überlieferten Bruchstücken über die ¡Elemente des Rhythmus« kann die philologische Analyse die für pythagoreischen Einfluß zeugende gedankliche Schicht mit Leichtigkeit erschließen, und nur jene Historiker der Ästhetik, die den Gegensatz zwischen Kanonikern und Harmonikern zu einer geistesgeschichtlichen Abstraktion erstarren lassen möchten, bemerken das Auftauchen der Musica-mundana-Vorstellung in seinen Werken nicht. (Vgl. die Erörterungen im ersten Band der Rhythmik-Bruchstücke über die »verschiedene Natur« des Rhythmus und die Rhythmuslehre von Zeitgliederungen nichtmusikalischen Charakters.) 70 Auf seine spätere weltanschauliche Entwicklung konnte jene wirtschaftlich-gesellschaftliche Krise der griechischen Polis, die auch in der Musikästhetik von Piaton und Aristoteles widergespiegelt wird, nicht ohne Einfluß bleiben. Archytas — der mit dem Vater des Aristoxenos persönlich bekannt war — hatte noch die Kategorien der Harmonielehre mit dem philosophischen Nachweis und dem Schutz der fast wie bei Piaton idealisierten Gleichheit des Vermögens verbunden: »Zwietracht versöhnt es, Eintracht fördert es, wenn vernünftige Erwägung gefunden wird. Denn dann ist von Übervorteilung keine Rede mehr, sondern es 47

herrscht Gleichheit. Denn dadurch verständigen wir uns über unsere gegenseitigen Verpflichtungen. Daher nehmen auf Grund solcher Verständigung die Armen von den Vermögenden, und die Reichen geben den Bedürftigen, indem beide des Glaubens sind, daß sie dadurch das Gleiche haben werden. Indem sie so Richtschnur und Hemmschuh des Ungerechten ist. . .« 71 Zur Zeit des Aristoxenos mußte dieser auf die Proportionenlehre bezügliche naive Utopismus nur noch als leere und wertlose Illusion erscheinen. Die relative Vermögensgleichheit der Sklavenhalterklasse der Polis von Tarent löste sich — zu einem bedeutenden Teil unter dem Einfluß des entwickelten Handels — am Ende des 4. Jahrhunderts v. u. Z. auf; die Schichtung des Demos nach dem Vermögen sowie der politische Verfall der demokratischen Partei waren für Aristoxenos schon vollendete Tatsachen. Seine Weltanschauung wurde durch diese Erkenntnis umgeformt. Jetzt schloß er sich Aristoteles an, jetzt wurde die Erkenntnis der Objektivität der ideelle Wegweiser für ihn. Sein musikalisches Interesse schrieb ihm auch nachher die Hauptrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit vor, und in der Antike galt er als erster »Fachgelehrter« der Musiktheorie, der der politischen Theorie und Praxis bereits den Rücken kehrt. In diesem, und nur in diesem widerspruchsvollen Sinne kann Aristoxenos die klassische Gestalt der antiken Musikästhetik heißen. Seine großzügige systematisierende Arbeit war zugleich auch Einengung; der Konzeptionsreichtum der wahren Klassiker, die in gesellschaftlichen Zusammenhängen dachten, begegnet in seiner Musiktheorie nicht mehr. Was bei ihm von der Ethoslehre noch verblieb, das wurde von der Resignation, der illusionslosen Zurkenntnisnahme der Musik seiner tief gesunkenen Gegenwart durchdrungen. Es geht aus seinem bei Pseudo-Plutarch überlieferten Gedanken hervor, daß er zwischen dem ethisch-archaischen Stil der Alten und der theatralischen Manier der Neuerer, der Ungebundenheit der Form, die durch den neuen Dithyrambus eingeführt wurde, scharf unterschied. Dies ist ein spätes Echo der »vergleichenden Musikkritik« Dämons, in der platonische Strenge ebenfalls mitspielte, die jedoch — an diesem Punkte von Pia ton ganz abweichend — frei von jeder politischen Orientierung und dem Bewußtsein purifikatorischer Sendung bleibt. Die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem gerät jetzt immer mehr zur Differenzierung ästhetischen Charakters zwischen der sich in der alten Musik voll entfaltenden Schönheit und dem in der neuen Musik beobachteten Verfall. Aristoxenos lobt die vollkommene Verwirklichung der Schönheit in den enharmonischen Melodien des Olympos, in der edlen Einfachheit des Terpanderschen Kitharaspiels, in der klassisch geprägten Würde des Pindar und des Aischylos. Den modernen Stil seiner Zeit hielt er jedoch wegen seiner Unklarheit für geschmacklos. Stetiger Wechsel, U m wandlung, »Metabolie« der Harmonien und Rhythmen, die dem Wunsch nach Volkstümlichkeit entsprießende Virtuosität und theatralische Gewöhnlichkeit, die die enharmonische Harmonie verdrängende Chromatik trugen auch ihm zufolge — wie bereits für Piaton — das unzweifelhafte Zeichen der Dekadenz. In dieser Verurteilung wiederholt also Aristoxenos anscheinend die platonische Variante der Ethoslehre. Jedoch nur anscheinend. Da die utopische Musikpolitik für ihn keinen Ausweg aus der Verdorbenheit der Gegenwart bedeutet, wird die

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ästhetische Unterscheidung des Archaischen und des Modernen letzlich zur Darstellung des objektiven Verlaufs eines geschichtlichen Prozesses. Mit feinem Sinn hat Schäfke beobachtet, daß diese Unterscheidung bei Aristoxenos genau jener Charakterisierung entspricht, die wir in den »Fröschen« des Aristophanes über den entgegengesetzten Stil von Aischylos und Euripides lesen können: der eine steht im Dienste des erhabenen Pathos der alten Tragödie, der andere in dem der effekthaschenden Charakterschilderung des neuen Dramas. 72 Aber die Analogie Schäfkes hat nur bis zu diesem Punkt Gültigkeit. Aristophanes konnte nämlich in der Sophokleischen Dramaturgie noch das Musterbeispiel für die hochwertige Vermittlung beider extremer Stile aufweisen. Vor Aristoxenos verschloß sich die Perspektive der Zukunft in demselben Maße, in dem die Gegenwart als aussichtslos erschien. Gerade dies befähigte ihn jedoch dazu, bei der Untersuchung der Tonkunst die Herausbi.dung der charakteristisch hellenistischen Geschichtsbetrachtung vorzubereiten. Seine Charakterisierung wird durch Dionysios weiter verfeinert, der in der Geschichte der griechischen Musik das Nacheinander dreier musikalischer Stilarten nachweist: die archaisch edle und einfache Melodienwelt von Alkaios und Sappho, den maßhaltenden Reichtum und die entwickelte Schönheit Pindars, die unbändig »metabolische« Kompositionsmethode des neuen Dithyrambus. Diese Richtung erreicht im x. Jahrhundert v. u. Z. ihren Höhepunkt. Das Plutarch zugeschriebene bedeutende musikgeschichtliche Werk grenzt die einzelnen Phasen der Entwicklung (mythisches Zeitalter, die Zeit der alten »Kitharodie«, der alten »Aulodie«, nachher die Zeit der sich vom Gesang unabhängig machenden »Auletik«, das Zeitalter der »Reformen« der Musik) durch die Veränderungen der Stilzeichen, der Merkmale der in den einzelnen Epochen dominierenden Kunstarten voneinander ab, um auf diese Weise über die inneren Strömungen des musikgeschichtlichen Prozesses ein Bild geben zu können. 73 Da Aristoxenos sich von der Untersuchung der zu erwartenden Entwicklung der Tonkunst abgewendet hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit von der Problematik der Produktion auf die der Rezeption. Hier hingegen steigert er sich in der Tat zum genialen Klassiker. Die »kopernikanische Tat«, die ihm von Schäfke in der Geschichte der Theorie des antiken Melos mit Recht zugeschrieben wurde, erweist sich diesmal auch unter ästhetikgeschichtlichem Gesichtspunkt als eine angebrachte Charakterisierung. Sein Ausgangspunkt war die aristotelische Kritik des Piatonismus und des Pythagoreismus. Aristoteles folgend erkannte er in der Aisthesis die Grundlage für die ästhetische Aufnahme der Musik. Im Gegensatz zu dem abstrakten Intellektualismus der Kanoniker betonte er, daß die Erkenntnis der Harmonieordnung, die Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Tonmaterials nur mit Hilfe der akustischen Wahrnehmung möglich sei; die mathematische Spekulation sei zum Erfassen der Tonqualität nicht berufen. Deshalb trennte er die mathematische Untersuchung der Saitenenlängen entschieden von der Wahrnehmung der Tonqualitäten der wirklichen Musik. Auf diese Weise rechnet er mit der pythagoreischen Musikästhetik konsequent ab.

49 4 Zoltai: Ethos und Affekt

Bei der Abgrenzung des Tonmaterials selbst rief er erneut die Kategorien der aristotelischen Philosophie zu Hilfe. Nach ihm steht die Singstimme zum gesprochenen Laut im Verhältnis von Diskontinuität zu Kontinuität, von intervallisch gegliederter Unterbrechung zu freier Ununterbrochenheit. Die Melodie ist die der Höhe nach geordnete, Intervalle enthaltende Reihe von einzelnen Tönen, die sich trotzdem zu einer geschlossenen Einheit organisiert. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt bis zum Begriff des musikalischen Raumes, der es ermöglicht, Höhe und Tiefe der Tonqualität wie auch die »räumliche« Entfernung der Tonintervalle für die Vorstellung stationär zu gestalten. Ein Tonintervall entsteht nunmehr nicht als Ergebnis von logischen Operationen, die mit arithmetischen Logoi (Proportionen) ausgeführt werden. »Ein Intervall ist ein von zwei Tönen verschiedener Tonhöhe räumlich Begrenztes. Denn im Grunde tritt das Intervall als Differenz von Tonhöhen auf.«74 Diese nach dem Gehör festgelegten Tonintervalle gliedern den musikalischen Raum und fördern die Wahrnehmung der als Einheit funktionierenden Melodie, die charakteristisch musikalische Orientierung. Diese Orientierung setzt nun — gemäß der genialen Erkenntnis des Aristoxenos — drei Momente von Gegenseitigkeit und ZusammenWirkung voraus: die genaue Wahrnehmung der einzelnen Tonhöhen, den anschaulichen Vergleich der früheren und späteren Teile des sich in der Zeit abspielenden Vorgangs und endlich die vergleichende Unterscheidung der harmonischen und nicht harmonischen, wesentlichen und akzidentellen Elemente des melodischen Vorgangs. Hierzu reicht die alltägliche Aisthesis nicht aus. Nur die vom vernünftigen Gedächtnis unterstützte und geschulte Wahrnehmung ist einer derart komplexen Orientierung fähig. Daher die lapidare Zusammenfassung der epochalen Erkenntnis: »Denn aus diesen beiden setzt sich das Verstehen (die Aufnahme) der Musik zusammen, aus Wahrnehmung und Erinnerung, indem man eben das Werdende wahrnimmt und sich des Gewordenen erinnert. Anders kann man der Musik nicht gerecht werden.« 75 Wenn Pfrogner »die erste und unstreitig große Tat des Aristoxenos« darin erblickt, daß er »die Musik von der zur Fessel gewordenen Zahlenbeziehung losriß und sie mündig machte,«78 so ist er im Irrtum; wir sahen, daß wir diese Tat Aristoteles und der Mimesistheorie zuschreiben müssen. Selbst das Prinzip der räumlichen Plazierung des Tonsystems ist kein neuer Gedanke; bekanntlich nahmen auch die mit der Aufteilung des Kanons zusammenhängenden Experimente aus der Ad-oculos-Darstellung des Tonsystems ihren Anfang. Es ist jedoch in der Tat ein unvergängliches Verdienst des Aristoxenos, daß er — die pythagoreische Kanonik überwindend — zur Entdeckung der spezifisch musikalischen Raumbetrachtung, zum Aufzeigen des Quasi-Raumes der »zeitlichen« Tonkunst gelangte. Damit hatte er das Wesen der musikalischen Rezeption entdeckt: die auf dem Wege der akustischen Apperzeption verwirklichte Orientierungstätigkeit. Seine mit der Systematisierung der Harmonie und der Rhythmik verbundenen Erörterungen erreichen nicht überall dieses philosophische Niveau der ästhetischen Bewußtheit. Unzweifelhaft ist, daß die im eigentlichen Wortsinn genommene Musiktheorie mit Aristoxenos ihren Anfang nimmt, namentlich die systematische und eingehende Schilderung des formalen Instrumentariums der Musik. Allerdings 50

muß die philosophische Musikästhetik für diese »phänomenologische« Zusammenfassung auch einen hohen Preis zahlen. Hinter der nach Vollständigkeit strebenden Schilderung ging die wertvollste musikphilosophische Überlieferung, das Bewußtsein des ethisch-weltanschaulichen Inhaltsreichtums der formellen Mittel und sprachlichen Wendungen, die Bedeutungslehre, die Hermeneutik der in kristallisierten musikalischen Formen konfigurierten gesellschaftlichen Inhalte allmählich verloren. Wir betonen: allmählich, denn Aristoxenos hat noch nicht vergessen, daß der wichtigste Gesichtspunkt der Beurteilung des in seiner Totalität aufgefaßten Musikwerkes die Bewußtmachung des inneren ethischen Gehalts ist. Doch blieb er hierbei stehen und verzichtete auf die konkrete hermeneutische Analyse der musikalisch vergegenwärtigten Inhalte sowie auf die Übernahme und Weiterentwicklung des überlieferten Gedankenmaterials der Ethosästhetik. Diese Widersprüchlichkeit seines »musiktheoretischen« Standpunktes kommt in den »Elementen der Harmonik« und den uns nur fragmentarisch bekannten »Elementen der Rhythmik« gleichermaßen zum Ausdruck, jedoch jeweils mit anderem Charakter und anderen Folgen. Die Rhythmustheorie ist mit aller Gewißheit ein Jugendwerk: wir sahen, daß hier die pythagoreischen Einflüsse durch die Annahme der weltanschaulichen Grundlagen der aristotelischen Philosophie noch nicht völlig neutralisiert wurden. Aristoxenos forscht in diesem Werk nach der quantitativen Grundlage der rhythmischen Systeme und führt den Begriff des Chronos protos ein, jene atomare Zeiteinheit, die als kleinstes gemeinsames Maß die vergleichende Analyse der verschiedenen Versfüße ermöglicht. Anfangs werden diese vergleichenden Untersuchungen noch nicht zur formallogischen Gedankengymnastik, die bloß spekulative Möglichkeiten inventarisiert. Daß Aristoxenos auf den Vergleich mit der Wirklichkeit Anspruch erhebt, wird aber lediglich dadurch angezeigt, daß er in den einzelnen rhythmischen Strukturen die Abstraktion wirklicher menschlicher Tätigkeiten erblickt und in seinen rhythmischen Strukturanalysen die bestimmende Rolle der Tanzschritte beachtet. Trotzdem zeigt seine berühmte rhythmustheoretische Grundthese die weltanschauliche Problematik der unvermeidlichen ästhetischen Verallgemeinerung an. Diese Grundthese verfolgt eher das Modell der platonischen Ideenlehre und nicht — wie dies nach Westphal 77 bis zum heutigen Tage angenommen wurde — die aristotelische Konzeption der Lehre von der Aktualität—Potenzialität und trennt auf Grund dessen den Rhythmus als das reine Gestaltungsprinzip (Rhytmizon) vom rhythmustragenden materiellen Medium (Rhytmizomenon), also vom Worte, dem Tone und der Körperbewegung. Kein Zweifel, diese Trennung hieß, sich jenen Tendenzen der zeitgenössischen musikalischen Praxis unterwerfen, die Aristoxenos vom Niveau der allgemeinen ästhetischen Wertung aus als Symptome des Verfalls behandelte und von Grund auf verachtete. Rhythmik und Metrik waren nämlich in der durch Piaton kanonisierten Musike noch lebendig, in der Musik der Spätantike lokkerten sie sich jedoch unter dem Einfluß der verselbständigten »Auletik« nach der plausiblen Annahme E. Pöhlmanns und lösten sich in zwei Teile auf. 78 Aristoxenos ging also, wenn er den reinen Rhythmus von der konkreten, metrischen Verwirklichung loslöst, von einem nur allzu akuten Problem der Zeit aus. 51

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Allerdings hatten die Rhythmusformeln in der selbständig gewordenen instrumentalen Musik auch irgendeine mimetische Bedeutungsordnung. Die aristoxenische Rhythmik schreckte aber nach dem Zeugnis der erhaltenen Fragmente vor der Erkenntnis dieses tiefer Hegenden, unvermittelteren Bedeutungsgehaltes zurück und ließ den Weg für die sich später entfaltende Richtung der autonomen Rhythmik offen, die die abstrakte formale Idee der rhythmischen Zeitteilung — nunmehr mit unverhohlener platonischer Starrheit — vom eigentlichen vermittelnden Medium des Rhythmus frei machte und somit der Rhythmik jede Möglichkeit von Inhaltevokation und Wirklichkeitsspiegelung verwehrte.Wohl findet sich dieser Vorgang bei Aristoxenos erst keimhaft angedeutet, und wir müssen nochmals betonen, daß in den systematisierenden Beschreibungen der Rhythmusformeln die Hinweise auf den Zusammenhang von Versfuß und Tanzcharakter nicht fehlen. Die immer vollständigere Berücksichtigung der Möglichkeiten beginnt aber allmählich das Bewußtsein von der mimetischen Rolle der formalen Mittel in den Hintergrund zu drängen, wobei der Verlust des materialistischen Prinzips der Mimesis nolens volens das Wiedereindringen der pythagoreischen mathematischen Kombinatorik erleichtert. Dem zwischen rationalen und irrationalen Versfüßen unterscheidenden Aristoxenos war es noch bekannt, daß die Aufnahme des irrationalen Verhältnisses von Arsis und Thesis |z. B . das Verhältnis 2 : i-ij kein spekulatives Spiel von Gedanken, sondern ein spezifischer T y p des Chorreigens, eine die Rhythmusstruktur des Choreios alogos spiegelnde Abstraktion ist. Wenn er jedoch in der Aufzählung zur Aufnahme des 25 (!) Chronoi protoi enthaltenden Versfußes gelangt, befaßt er sich nur noch mit dem Einsammeln von theoretischen Möglichkeiten. Hierzu bemerkt Georgiades, daß uns nicht bekannt sei, ob eine solche Formel in der Praxis überhaupt jemals existiert habe.' 9 Das die Elemente der Harmonieordnung behandelnde großangelegte Werk hingegen rechnet mit der spekulativen pythagoreischen Kombinatorik in prinzipieller Folgerichtigkeit ab. Wir sahen, daß die Zugrundelegung der wirklichen musikalischen Tatsachen mit der aristotelischen Rehabilitation der akustischen Wahrnehmung und mit der kritischen Überwindung der platonischen Erkenntnistheorie zusammenhängt. Auf dieser weltanschaulichen Grundlage kamen die epochalen Leistungen der aristoxenischen Harmonielehre zustande: die Erforschung der Struktur des aus der lebendigen Melodienwelt ausgesonderten Tetrachords, die Höhe der zwei extremen Töne — Mese und Hypate — wird festgelegt; ihr Verhältnis ist von symphonem Charakter; die Höhe der zwei mittleren Töne — Lichanos und Parhypate — ändert sich den Tonleitertypen entsprechend, ihr Verhältnis ist von diaphonem Charakter; das Quartintervall umfaßt zwei Ganzton- und ein Halbtonintervall; der Ganzton kann auf Grund von akustischen Kriterien in 2, 3 oder 4 gleiche Teile geteilt werden; auf diese Weise kommen die kleinsten verwendbaren Tonintervalle zustande: der Halbton, die chromatische und die enharmonische Diesis, die aus praktischen Gründen notwendig gewordene untere und obere Ergänzung des Grundtetrachords (durch die Transponierung des auf dem Punkte der Synaphe »verbundenen« und mit Diazeuxis »getrennten« Tetrachords) usw. Es kann hier nicht

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unsere Aufgabe sein, die akustischen, harmonischen und in bezug auf die Intervalle gewonnenen Ergebnisse zu analysieren und zu bewerten — dies gehört in den Aufgabenkreis der Musiktheorie. W i r können nur auf die ästhetische Problematik hinweisen, die mit dieser Aneignung des musikalischen Raumes verbunden ist und die aus der zum Systema teleion ergänzten, auf Aisthesis beruhenden Tonleiter herauswächst. Grundlegend f ü r die aristoxenische Harmonielehre ist, wie wir gesehen haben, die Bestimmung der sich in diesem musikalischen R a u m bewegenden Melodietöne als eines organischen Ganzen. Jözsef Ujfalussy knüpft nicht zufällig an dieses Grundprinzip an, indem er »die Bedeutung des musikalischen Bildes« erschließt, jenes antropozentrische Relationsystem, in dessen Bewegtangsraum die ästhetische Bewußtmachung der zwischen gesellschaftlicher Objektivität und musikalischem Kunstwerk bestehenden Vermittlungen und Zusammenhänge zustande kommt. 8 0 Aristoxenos gelangt nun bis zur »musiktheoretischen« Entdekkung des Relationensystems, zur Formulierung der Grundprinzipien der apperzeptiven Orientierungstätigkeit, die das Wesen der musikalischen Rezeption bildet. Diese musiktheoretische Entdeckung könnte man jedoch nur auf Grund des Prinzips der Mimesis musikästhetisch nutzbar machen. Hier jedoch bleibt Aristoxenos wieder stecken; die Mimesis der Ethosarten existiert für ihn — aus den bereits bekannten Gründen — nur noch in abstrakter Allgemeinheit, und sie kann nicht zu einem solchen ästhetischen Grundprinzip werden, das auch die Teilfragen beleuchten würde. Deshalb bleibt seine große Entdeckung ein genialer Ansatz, der sich die Ausarbeitung der spezifischen Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Werkes z u m Ziele gesetzt hatte, eine weithin leuchtende Initiative, der aber keine erkenntnistheoretisch und ästhetisch bewußte Lösung des Problems folgte und auch nicht folgen konnte. Die widerspruchsvolle Entwicklung des antiken musikästhetischen Denkens ist charakterisiert als Bereicherung, die Einengung involviert. Die geschichtliche Sackgasse, in die die Sklavenhalterordnung gelangt war, ließ nicht nur die fruchtbringende Verbindung zur musikalischen Praxis verkümmern, sie versperrte auch jeden Ausweg für das Zu-Ende-Denken, für die wissenschaftliche Lösung der G r u n d fragen auf philosophisch-ästhetischer Ebene. Diese Widersprüchlichkeit steigert sich noch in der auf Aristoxenos folgenden Zeit. Dabei ist beachtenswert, daß nicht mehr Athen in dieser neuen Phase der Mittelpunkt der höchststehenden musikphilosophischen Forschungen der Zeit ist. Die Auflösung des klassischen Erbes initiiert zugleich eine Expansion von gewaltigem Ausmaß: Eroberung und Weiterbildung, in deren Verlauf das antike musikästhetische Denken seine Strahlen in die östlichen Provinzen des alexandrinischen W e l t reichs aussendet. Die W e g e führen nach Babylonien, Syrien, Ägypten. Diese neuen Zentren sind jedoch nicht mehr fähig — vielleicht ist auch Alexandrien keine Ausnahme — einheitliche Schulen von dauerhafter W i r k u n g zu bilden. Das alexandrinische Weltreich selbst ist eine provisorische Lösung; es reproduziert bloß auf einer höheren Stufe die gesellschaftlichen Widersprüche der sklavenhalterischen Metropolis. U n d an demselben unlösbaren Widerspruch ging auch das den Hellenismus ablösende römische Weltreich zugrunde. In der Geschichte der hellenistischen Musikästhetik widerspiegeln sich sämtliche Phasen der weltgeschichtlichen Krise der Zeit. 53

Das klassische attische Erbe wurde in alle Richtungen zerstreut: Seleukia in Babylonien, Gadara in Syrien und Alexandria in Ägypten gaben dem musikphilosophischen Denken je ein neues Heim. Dann wurde R o m das neue Anziehungszentrum. Bis dahin hatte sich jedoch die antike Musikauffassung bereits in jeder Hinsicht verändert. Aus ihrem äußersten Verfall und ihrer Entartung hatte das frühe Christentum das weltanschaulich verwendbare Gedankengut für sich herausgesiebt. Wie kündigt sich dieser unaufhaltsame Vorgang des Verfalls in der nacharistoxenischen Musikästhetik an? Einerseits wird die systematische Musiktheorie weiter ausgebaut. Die Harmonielehre des Kleoneidcs schließt sichz. B. ohne Bruch den auf die Aneignung des musikalischen Raumes gerichteten aristoxenischen Bestrebungen an; er schreibt bereits Li allen drei Tonleitertypen (Gene) die auf zwei Oktaven ergänzte Tonleiter sowie das geschlossene System der sogenannten Transpositionsskalen nieder. Die überlieferten Ethosarten sind bei ihm nur leere Bezeichnungen einzelner Glieder des Transpositionssystems, der nur nach ihrem formalen Aufbau unterschiedlichen Tonleitern. Andererseits hängt die Frage, die im Mittelpunkt der theoretischen Untersuchungen steht, mit der Ethoslehre selbst zusammen: Inwieweit ist die überlieferte Überzeugung der Alten vom konkreten Ethosinhalt der einzelnen formalen Mittel stichhaltig? Wir haben bereits auf den Stoiker Diogenes Babylonius hingewiesen, der in den Jahren 156—155 v. u. Z. in R o m war und dort über die Richtigkeit der Ethoslehre Vorträge von großer Wirkung hielt. Sein Gedankengang wurde auf Grund des Berichtes seines Gegners, des Epikureers Philodem, genau rekonstruiert, und es stellte sich heraus, daß er durch Aufnahme des Moments der Subjektivität den von mehreren Seiten in Frage gestellten Gedanken des ethischen Gehalts und der ethischen Wirksamkeit der musikalischen Ausdrucksmittel retten wollte. 81 Was bedeutet diese neuartige Lösung? Der Kern des Problems war in der antiken Ästhetik sozusagen seit der Kolonisation bekannt: Die Verbindung der einzelnen Ethosarten mit den verschiedenen Stammescharakteren wurde durch den vielseitigen wirtschaftlichen und kulturellen Kontakt unter den einzelnen Polisgemeinschaften immer problematischer. Es wurde z. B. frühzeitig erkannt, daß die dorisch orientierte Ethosinterpretation nicht in allem mit der ionisch orientierten identisch ist. Und auch die dorische Hermeneutik erwies sich als nicht einheitlich; Piaton und Aristoteles — wie wir dies früher beobachten konnten — beurteilten den Ethos-Gehalt des phrygischen Tetrachords unterschiedlich. Dieser eindringende Relativismus der Wertung und Deutung stieg nach dem Peloponnesischen Krieg zwar weiter an, aber er vermochte die Ethoslehre selbst — infolge der bekannten Tatsachen — solange nicht aufzulösen, als sich die Theorie auf die gesellschaftlich-künstlerische Praxis der Polisgemeinschaft berufen konnte. Das mazedonische Weltreich Alexanders und mit ihm die »äußere Blüte« des antiken Griechenlands (Marx) machten es dagegen natürlich unmöglich, daß die überlieferte Ethosinterpretation in Griechenland, wie auch in Syrien, Ägypten und Mesopotamien allgemein akzeptiertes Grundprinzip, Consensus omnium blieb. Geschlossenheit, Unabhängigkeit und innere Einheit der Polisgemeinschaft lösten sich bereits unwiderruflich auf, und selbst der Gedanke, die Ethosinterpretation wiederherzustellen, wurde zur Utopie. 54

Ein überzeugendes Dokument für diese Relativierung ist der aus dem 4. Jahrhundert v. u. Z. stammende Hibeh-Papyrus aus Ägypten, der den Vortrag eines unbekannten Athener Redners enthält. Ironisch erwähnt der Autor die inhaltlichen Unterscheidungen der Ethoslehre, indem—so sagt er—»gewisse Melodien Verwandtschaft mit dem Lorbeerbaum, andere mit dem Efeu besäßen . . .«82 Der Lorbeer, die heilige Pflanze des Apollo, weist hier zweifellos auf die hellenischen Tonleitern und Instrumente, der Efeu als Symbol des Dionysoskultes hingegen auf die Grundzüge der barbarischen (phrygischen, kleinasiatischen, im allgemeinen orientalischen) Musik hin. Hierdurch wird unsere Meinung bekräftigt, daß der Hibeh-Papyrus den Standpunkt des im Zeitalter des Hellenismus vorherrschenden Kosmopolitismus vertritt. Prinzipiell lehnt er den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren ab, der, wie wir sahen, einer der Grundpfeiler der Ethoslehre War. Die Relativierung des Stammescharakters und der spezifischen Ethosarten der Polis, in der sich — wir betonen erneut — die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit der alexandrinischen Zeit spiegelt, läßt nunmehr den Zusammenhang von Musik und Sittlichkeit im allgemeinen als zweifelhaft erscheinen. »Sie (die Anhänger der Ethoslehre, D. Z.) behaupten aber, daß von den Melodien uns die einen mäßig, andere verständig, andere gerecht, andere tapfer, andere furchtsam machen ohne zu bedenken, daß weder die Chromatik Furchtsamkeit, noch die Enharmonik Mannesmut bei denen, die sich ihrer bedienen, zu erzeugen imstande ist. Denn wer sollte nicht wissen, daß die Atolier und Doloper und alle Anwohner der Thermopylen sich diatonischer Musik bedienen und dennoch mutigere Leute sind, als die Tragöden, die durchaus gewöhnt sind, enharmonische Melodien zu singen? Es erzeugt also weder die Chromatik Furchtsamkeit, noch die Enharmonik M u t . . .«M Der aus dem babylonischen Seleukia stammende Diogenes geht ebenso von der Tatsache der Bedeutungsänderung aus wie der Verfasser des ägyptischen HibehPapyrus. Er muß feststellen, daß einige die enharmonische Tonleiter für festlich einfach, andere hingegen für streng und protzig halten, in der chromatischen entdecken einige das Ethos der Unmännlichkeit, des Gemeinen, andere hingegen dasjenige der milden Feinsinnigkeit. Es geht aus der Formulierung des Diogenes hervor, daß sich der psychische Inhalt, der Bedeutung der Tonleiter-Ethosarten kaum verändert hat, aber in der ethischen Bewertung des Grundgehaltes ist die Veränderung der Deutung nicht zu verkennen. (Den Anfang dieser Veränderung hatte übrigens bereits Aristoxenos wahrgenommen; denken wir an seine Bemerkungen in bezug auf das Schicksal der alten Enharmonik.) Diogenes versuchte nun, diese Umdeutung mit den individuellen Eigenarten, namentlich mit der Subjektivität des die Musik Rezipierenden zu motivieren. Laut ihm hängt die ethische Wirkung der Musik auch vom individuellen Charakter, dem Temperament ab. Er betont jedoch, daß dies an der grundlegenden Tatsache nichts ändert: Die Tonkunst — da sie die Imitation von Ethosarten und Affekten ist — wirkt mit unzweifelhaft ethischem Inhalt auf die Seele, sie adelt den Charakter. Dieser scheint bisher nur als Verfeinerung der Ethoslehre. Diogenes konnte jedoch an der gesellschaftlich-ideologischen Problematik seiner Zeit nicht blindlings vorbeigehen. Die Sittlichkeit der klassischen Polis gehört bereits der Vergangenheit an. 55

Diogenes rückte, seiner stoischen Überzeugung entsprechend, in den musikalisch vergegenständlichten Ethosarten und Affekten vor allem das Prinzip der Bezähmung der Gemütsbewegungen in den Vordergrund: Demzufolge dient die Musik nicht der Metriopathie, dem aristotelischen Maßstab der Leidenschaften, sondern deren apathischer Überwindung. Deshalb erfaßt der Stoizismus die ethische Wirkung in der Sphäre des individuell-persönlichen Seins und verbindet mit ihr in erster Linie Zurückhaltung und Bezähmung der subjektiven Stimmungen, Beschwichtigung der individuellen Leidenschaften. Die Wirkung des Musikwerkes geht also in der Regelung des individuellen Temperaments, im temperierenden Maß, im Fördern der Tugend der nüchternen Überlegung auf; seine erzieherische, persönlichkeitgestaltende Kraft stammt ebenfalls von hier. Allerdings fehlt auch bei Diogenes nicht die gelegentliche Verknüpfung der Ethosarten mit den einzelnen Zügen einer Moral der Gemeinschaft; die Betonung des gemeinschaftlichen Charakters ist jedoch stets nur ein Hinweis auf längstvergangene Zeiten, sie ist immer ein historisches Argument. Aus der Individualisierung, der subjektivistischen Entleerung der Ethoslehre zog nun der aus dem syrischen Gadara stammende Philodem die unvermeidlichen Schlußfolgerungen. Seine mit Diogenes geführte Polemik beruht erkenntnistheoretisch auf der Kritik der stoischen Auffassung von der Aisthesis. Vor allem versieht er jene Behauptung des Diogenes mit einem Fragezeichen, nach der die Rezeption der Musik auf dem Wege der »geschulten«, im Geschmack kultivierten und kundigen Aisthesis geschieht. Wie kann die ästhetische Wahrnehmung kultiviert und verständig sein, wo ihr doch die Subjektivität den Stempel aufdrückt? Philodem weist die Aisthesis — ebenso wie sein Lehrer Epikur — eindeutig in die Sphäre des Alogos, des Instinkts, und hält sie in ethischem Sinne für eine völlig indifferente psychische Erscheinung. Deshalb ist auch die Musik nichts anderes als ein in sich unnützer, ethisch neutraler sinnlicher Genuß: Philodem gibt zwar ihre sinnliche Gewalt, ihre Wonne erregende Kraft zu, aber er betont ausdrücklich, daß ihr sittlicher Wert nicht mehr und nicht weniger sei als der der Kochkunst, welche die Geschmacksempfindung auslöst. Ausschließlich das par excellence gedankliche Medium der Worte kann der Musik vorübergehend und eventuell ethischen Inhalt und Wirksamkeit verleihen, » . . . da nun einmal kein Melos, insoweit es der Worte entbehrt, die Seele aus dem Zustand der Unbeweglichkeit und Schlaffheit herausreißt und zu der Natur mehr entsprechenden Verhaltensweisen führt, ein erregtes und aufgestacheltes Gemüt besänftigt oder zur Ruhe bringt und weder imstande ist, die Seele von einem Zustand zum anderen zu bringen, noch eine herrschende Stimmung zu steigern oder abzuschwächen. Die Musik hat auch weder die Fähigkeit der Nachahmung, wie gewisse Autoren träumen, noch vermag sie, wie dieser da (Diogenes von Seleukia) meint, Charaktereigenschaften nachzuschildern oder alle die seelischen Qualitäten zu erzeugen . . .«M Freilich, Philodem behauptet nur, anstatt zu beweisen, und das logische Niveau seiner Argumentation ist nicht besonders hoch. Im entscheidenden Punkt, in der Frage der Subjektivität der Aisthesis, wirkt er jedoch zweifellos überzeugend, wenn auch nicht die volle Wahrheit auf seiner Seite ist. Da nach der klassischen Auffassung die verschiedenen Ethosarten dem Individuum 56

notwendigerweise die Gehalte der Sittlichkeit der Gemeinschaft vermitteln, kann die Aisthesis, die aus den Kreisen des individuellen Seins nicht ausbrechen kann, in der Tat nur subjektive Bedeutungen in die Musikwerke projizieren. Deshalb hält Philodem das Ethos der Tonarten für eine subjektive Doxa, für eine bloß individuelle Meinung, die nicht auf der Erkenntnis einer naturgegebenen Objektivität beruht. Diese agnostische Grenzmarkierung berührt zwar nicht die Daseinsberechtigung der Musik, sie modifiziert aber die Deutung ihrer Rolle: Nachdem der Epikureismus den individuellen Genuß im Gegensatz zur Askese der stoischen Apathie zum leitenden Lebensprinzip erhoben hatte, duldete die Philodemsche Auffassung wenigstens die intensives Vergnügen und Genuß erregende Musik im menschlichen Leben. Damit gelangen wir bis an das Tor der vielleicht eigenartigsten Schule der spätantiken Musikästhetik, der zum ästhetischen System ausgebildeten musikalischen Skepsis. Es ist ein Beweis für den unaufhaltsamen Verfall der Ethoslehre, daß selbst jene philosophischen Schulen nicht fähig waren, deren ursprünglichen Inhalt zu bewahren, die — wie der Epikureismus—vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus dem materialistischen Grundgehalt des Mimesisprinzips nahestanden oder die — wie der Stoizismus — eine geradezu gleichartige Widerspiegelungstheorie vertraten. Der späte Skeptizismus der hellenistischen Zeit hatte jedoch völlig bewußt auch die letzten Überreste der Mimesistheorie beseitigt. Auch Sextus Empiricus hielt die Annahme der ethischen Bedeutungsinhalte der Melodietypen für subjektive Einfühlung, und er schrieb der Musik eine ebensolche vergängliche sinnliche Wirkung zu wie dem Traum und dem Wein. In der erkenntnistheoretischen Beurteilung der Aisthesis ist er jedoch auf eine viel radikalere Art agnostizistisch als Philodem. Zur Diskreditierung des Ethosgehaltes bediente er sich der durch Änesidemos ausgearbeiteten Methode und führte die Relativierung des musikalischen Gehaltes völlig bis zum unverhüllten Nihilismus durch: aus der Subjektivität der musikalischen Rezeption, dem provisorischen und relativen Charakter der durch die Musik erweckten Wirkungen folgert er, daß die Musik überhaupt nicht über ein objektives Sein verfügt — oder, wie es Ernst Bloch in einer anderen großen Krisenperiode gesagt hat, daß wir nur uns hören. 85 Aus dem notwendig subjektiven Charakter der sinnlichen Erkenntnis, der skeptischen Trope der Relativität, folgerte Sextus Empiricus einerseits, daß man sich des ästhetischen Urteils enthalten müsse, andererseits, daß die Realität der Musik, ontologisch durchdacht, zu negieren sei. Auf diese Weise wiederholte diel hellenistische Musikästhetik mit Betonung noch einmal das letzte W o r t des Pythagoreismus und des Piatonismus; sie vernichtete ihr höchsteigenes Objekt, die Musik. Diese Verknüpfung von Piatonismus und Skeptizismus ist keineswegs eine aus der Luft gegriffene geschichtliche Analogie, keine leere geistesgeschichtliche Konstruktion. Bereits bei Piaton erschloß sich uns eine der grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der antiken Musikästhetik : Das Verdrängen der Ethostheorie und des Mimesisprinzips stärkt notwendigerweise die pythagoreisierend-spekulative Richtung. Gerade dieses widersprüchliche Verhältnis wurde von der Geistesgeschichte in Dunkel gehüllt, indem sie die inneren Widersprüche der platonischen Ästhetik verbarg und eine Chinesische Mauer zwischen der sogenannten musikalischen Skep57

sis und der mit ihr zu gleicher Zeit aufblühenden neupythagoreisch-neuplatonischen Richtung vermutete. Schäfke wähnt, in der antiken musikalischen Skepsis eine rationale Aufklärung zu entdecken, die dann »notwendigerweise« von der »Gegenwirkung«, der irrationalen Mystik, abgelöst werden mußte. Mit derselben Methode stellt Pfrogner der als dekadent bewerteten hellenistischen Skepsis den neuen »Aufschwung«, die neue Epoche des musikalischen Mystizismus entgegen. In der Tat handelt es sich hier aber um zwei einander wechselseitig beeinflussende Seiten derselben Erscheinung und nicht um zwei Epochen mit weltanschaulich-ästhetisch gegensätzlichem Gehalt. Jener späthellenische Neuplatonismus, dessen repräsentativer Philosoph Plotin war, kehrte mit einem wahren Vicoschen Ricorso zu der idealistisch gewendeten pythagoreischen Musikmathematik und zu der von den Elementen der Ethoslehre »gereinigten« platonischen Musikästhetik zurück, um endlich dort zu landen, von wo sich das griechische philosophische und ästhetische Denken bereits im ersten Augenblick seines Erscheinens emporzuheben trachtete: beim Mythos, bei der zur Religion geordneten Vorstellungswelt der Magie. Bei Plotin besteht die einzige Funktion der Kunst darin, den Ausbruch der Seele aus der auf der untersten Stufe der Seinshierarchie stehenden materiellen Welt auszudrücken und das ekstatische Sehnen nach der idealen Urschönheit zu verkörpern. Jamblichos hingegen begnügte sich selbst mit dieser platonisierenden Mystik nicht mehr und kehrte zur unverhüllten Magie zurück: in den Klängen der Musik hausen nach ihm Götter und Dämonen. Ist dies ein »neuer Aufschwung?« Es ist vielmehr die Zurücknahme der gedanklichen Erfolge einer unvergleichlichen kulturellen Blüte, die jedoch ihren Ausverkauf in dieser krisenhaften Epoche selbst voraussetzte. Die Vorbedingungen des musikalischen Mystizismus wurden durch die Aufgabe des Prinzips der ästhetischen Mimesis, durch die Entleerung der Ethoslehre geschaffen. Der vorstoßende Subjektivismus gebar nicht nur Skeptizismus und Nihilismus, sondern bereitete auch der musikalischen Zahlenmystik, dem sinnenfeindlichen Irrationalismus den Boden. In diesem Sinne vertritt die Musikästhetik des Hellenismus in ihrem letzten Stadium, in ihrer Totalität, mit ihrem Skeptizismus wie mit ihrer Mystik, eine Kunstauffassung, die mit der religiösen Weltanschauung des frühen Christentums identisch ist. Wir können uns hier mit' dieser spätantiken ästhetischen Gedankenentwicklung nicht bis ins einzelne befassen; wieder sollen nur die Haupttendenzen aufgezeigt werden. Einer der charakteristischen Züge des musikalischen Mystizismus ist vor allem, daß er die aristoxenische »harmonische« Richtung verkümmern läßt und den mathematischen Spekulationen der Kanoniker eine dominierende Rolle einräumt. Auch hier fehlen jedoch nicht gewisse Elemente der widerspruchsvollen Entwicklung. Das Werk des Euklides über die Aufteilung des Kanons, die Forschungen des Didymos über die arithmetischen Grundlagen der Tonintervalle des diatonischen, chromatischen und enharmonischen Tetrachords und über das syntonische Komma verfeinern die von den frühen Kanonikern ausgearbeitete physikalische Akustik. Klaudios Ptolemaios unternimmt in seiner großangelegten Harmonielehre den Versuch, gewisse Elemente der Harmonielehren in sein kanonisches System einzubauen und verkündet als erster den Symphon-Charakter der auf das Verhältnis 5 : 4 58

zurückgeleiteten großen Terz. Ähnliche Vermittlungsbestrebungen können wir auch bei Aristeides Quintiiianus sowie bei Boethius beobachten, der das antike musikästhetische Erbe mit der christlichen Auffassung in Übereinstimmung zu bringen versucht. Weder diese eklektischen, halb mathematischen, halb theologischen Gedankensysteme noch die in ihren Spuren aufblühende Kommentarliteratur waren ein ästhetisch bedeutender Schritt nach vorn. Sie vermochten dies auch nicht zu sein, denn ihre Verbindung mit der wirklichen Musik ihrer Zeit war völlig verloren gegangen. Die spätantike-frühchristliche Philosophie verhalf der Musik zu einer bedeutenden Rolle: sie ist die einzige Kunst, die im wissenschaftstheoretischen System der sieben freien Künste einen Platz erhält. Die als eine der freien Künste aufgefaßte Musik bleibt jedoch von Martianus Capella fast bis zur R e naissance Wissenschaft, eine Art philosophischer Propädeutik, die von den realen Lebensvorgängen der tönenden Musik unendlich weit entfernt ist. Aus der viel behandelten Triade Musica mundana, Musica humana und Musica Instrumentalis ist die laut Boethius das Wesen der Musik am vollkommensten verkörpernde Spezies die in sphärischer Harmonie ausklingende Weltenmusik. Daher rührt jener asketische Grundcharakter der spätantiken Musikauffassung, der in der christlichen Patristik eine so große Rolle spielt. Musikalische und theologische Spekulation verschmelzen schon bei Philon aus Alexandria im Zeichen der Idee der asketischen Selbstbeschränkung miteinander. Das Prinzip der im Neuplatonismus enthaltenen Askese konnte jedoch nur nach der Entfaltung der frühchristlichen Psalmodie, an der Wende des 2. zum 3. Jahrhundert, auf die musikalische Praxis bezogen werden. Unseres Wissens war Porphyrios, ein den Ptolemaios kommentierender Plotin-Schüler, der erste, der aus dem verblümt oder offen teleologischen Lebensideal der Negierung einer sinnlichen Welt die musikalische Folgerung zog und der profanen Musik als Vertreterin des dämonischen Prinzips aufs schärfste die gottesdienstliche Funktionen versehende sakrale Musik entgegenstellte. In der Ablehnung der profanen Musik knüpfte Porphyrios anscheinend an die alten Überlieferungen an: er verurteilte die selbständige Instrumentalmusik, insbesondere die instrumentale Virtuosität. Das Musikinstrument ist bei ihm nur eine der Erscheinungsformen des Dämonismus. Und diese Sinnenfeindlichkeit durchdrang auch die Interpretation der vokalen Musik. Die der asketischen Moralität entgegengesetzte Genußmusik wird seines Erachtens in erster Linie in der Volksmusik verkörpert. Die Aufgabe des religiös-kultischen Gesanges ist es dagegen, diese sinnlich aufwühlende Wirkung der Volksmusik zu neutralisieren. Endlich mißt die asketische Auffassung auch der musikalischen Vortragsweise eine größere Bedeutung bei. Ganz im Geiste der Kirchenväter gibt Porphyrios die neue Parole aus: non voce, sed corde cantare — nicht mit der »Stimme«, sondern aus dem »Herzen« singen.88 An diesem Punkte findet dann der neuplatonische musikalische Mystizismus den Weg von der spekulativen Zahlenmystik zu der inzwischen umgestalteten musikalischen Praxis der Zeit. Nun bedeutet die musikalische Orientierung nicht nur die Ablehnung, sondern auch die Bejahung von etwas faktisch Vorhandenem. Derart wurde die neuplatonische Musikästhetik zur Apologetin der altchristlichen kultischen Musik, vor allem der sich entfaltenden Psalmodie. Der Auflösung der antiken

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Musikphilosophie folgte also die Entstellung der neuen Musikauffassung. Die gesellschaftlichen Grundlagen und die Folgen ihres Entstehens werden im nächsten Kapitel behandelt werden.

ANMERKUNGEN Siehe Hermann Pfrogner: Musik. Geschichte ihrer Deutung. Freiburg —München 1954, S. 3. A. a. O., S. 8. 3 Curt Sachs: Vergleichende Musikwissenschaft. (Musikpädagogische Bibliothek, Heft 8) Leipzig 1930, S. 16, J7 ff. Eingehendere Erörterung in: Geist und Werden der Musikinstrumente. Berlin 1929. 4 J6zsef Ujfalussy: A valAsâg zenei képe (Das musikalische Abbild der Wirklichkeit). Budapest 1962, S. 43. 6 Bence Szabolcsi: A zene tôrténete (Die Geschichte der Musik). Budapest 1958, S. 8. 6 Siehe die frühesten diesbezüglichen Mitteilungen von Pater Amiot: Mémoires sur la Musique des Chinois tant anciens que modernes. Par M. Amiot, Missionaire à Pékin (Mémoires concernant l'histoire des Chinois. Bd. VI. 1779). 'Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker. Berlin 1958, S. 467. 8 A. a. O., S. 469. 9 Z. B.: Rudolf Schäfke: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen. Berlin 1934, S. 159.— Oder in Guido Adlers Handbuch der Musikgeschichte. Abschnitt: Altertum (geschrieben von Hermann Abert und Curt Sachs). Berlin-Wilmersdorf 1930, S. 36. 10 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin 1959, Bd. III. S. 165. 1 1 Aristeides Quintiiianus: Von der Musik. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Rudolf Schäfke. Berlin-Schöneberg, 1937, S. 308. 12 Herakleitos: »Das Widerstrebende vereinige sich und aus den entgegengesetzten (Tönen) entstehe die schönste Harmonie, und alles Geschehen erfolge auf dem Wege des Streites.« (Diels-Fragment Nr. 8; Capelle: A. a. O., S. 134.) 13 George Thomson: Aeschylus and Athen. London 1950. Deutsche Übers, von H. Heidenreich. Berlin 1957, S. 220 f. 14 Vgl. Sdndor Szildgyi: Az igörög muzsikus mûvészetek elmêlete (Die Theorie der altgriechischen Musik) I. Harmonik. Budapest 1900. 15 Ârpid Szabo: Logos und Analogia. Fachausdrücke der frühgriechischen Proportionenlehre (Manuskript 1961). Der Ursprung des »Euklidischen Verfahrens« und die Harmonielehre der Pythagoreer. Math. Annalen 150 (1963) 203 — 217. 16 B. L. van der Waerden: Die Harmonielehre der Pythagoreer. Hermes 78 (1943) 163—199. 17 Vgl. Lukas Richter: Zur Wissenschaftslehre von der Musik bei Piaton und Aristoteles. Berlin 1961, S. 86. 1 8 Aristeides Quintiiianus: A. a. O., S. 328 — 329. 19 Piaton: Der Staat. Übersetzt von Schleiermacher—Sigert. Leipzig 1907, 7. Buch. 531. — S. 290. 20 Aristeides Quintiiianus: A. a. O., S. 311. 2 1 Vgl. Erich Frank: Plato und die sogenannten Phytagoreer. Halle a/Saale 1923, S. 30. 22 Im ursprünglichen Sinne des Wortes : die Proportionen zugleich auch seine innere logische Bedeutungsordnung. 2 3 Hans Joachim Moser: Dokumente der Musikgeschichte. Ein Quellen-Lesebuch. Wien 1954, S. 23 — 24. "Schäfke: A. a. O., S. 88 ff. 25 Moser: A . a . O . , S. 24. 26 Jânos Maröthy: Az eurépai népdal születese (Die Geburt des europäischen Volksliedes). Budapest i960, S. 76 — 77. 1

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Hermann Pfrogner: Die Zwölfordnung der Töne. Zürich —Leipzig—Wien 1963, S. 68 f. Zitiert aus Shneerson: Die Musikkultur Chinas. (Ungarische Übersetzung von Istvan Hidvegi) Budapest 1954, S. 43. 29 Moser: A. a. O., S. 14. — Dieselbe Schlußfolgerung kommt in den Erörterungen des Sün-tze zum Ausdruck, die den Konfuzianismus zusammenfassen: »Ist die Musik ausgeglichen und beruhigend, dann wird das Volk glücklich sein und nicht zerfallen; ist die Musik ehrerbietig und würdevoll, dann wird das Volk die Ordnung lieben und keinen Umsturz verursachen . . . ist die Musik bezaubernd schön und wird sie dadurch gefährlich, dann wird das Volk unbeständig, gleichgültig, niedrig und gewöhnlich.« Weiter: »Wenn wir musizieren, so weisen wir damit dem Volke den Weg. Deshalb ist die Musik die vollendetste Methode, um über die Menschen gut regieren zu können.« (Chinesische Philosophie. Altertum. Zweiter Band. Auswahl und ins Ungarische übersetzt vonFerenc Tokei. Budapest 1964, S. 230und 232.) 30 Vgl. mit den auf die sogenannte asiatische Produktionsweise bezüglichen Forschungen von Ferenc Tokei (Sur le mode de production asiatique. Studia Historica Acad. Scient. Hung. Budapest 1966). 31 Szabolcsi: A . a . O . , S. 18. 32 Die ganze Lebensgeschichte des Nomos-Begriffes würde eine besondere philologische Studie erheischen. Ursprünglich bezog er sich auf die gemeinsame Benutzung der Weide, also auf jenen eigenartigen »Anteil« und »Gewohnheit«, die — im Gegensatz zur althergebrachten Moira — durch das menschliche Gesetz sanktioniert wurden (vgl. Thomson: a. a. O., S. 59). Der Sophist Hippias macht bereits einen scharfen Unterschied zwischen Physis (vorgefundenes Naturgesetz) und Nomos (vom Menschen geschaffenes Gesetz). Der musikästhetische Begriff des Nomos — ebenso wie die übrigen musikalischen Fachausdrücke: Harmonie, Rhythmus usw. — differenzierten sich auf solche Weise von einer universalen Wirklichkeitskategorie zu einem terminus technicus mit selbständigem Inhalt. 33 Gesetze. Übersetzt von Otto Apelt. Leipzig 1916, 3. Buch. 700. — S. 109—110. 34 Hermann Abert: Die Lehre vom Ethos in der griechischen Musik. Ein Beitrag zur Musikästhetik des klassischen Altertums. Leipzig 1899. Ferner: Der gegenwärtige Stand der Forschung über antike Musik. (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters. 28. Jahrgang. Zweiter Teil. Leipzig 1922, S. 21-40.) 35 Abert: Die Lehre . . . S. 94. — Es sei jedoch erwähnt, daß in der im Jahre 1922 veröffentlichten Studie von Abert (Der gegenwertige Stand . . .) betont und zum Teil auch bewiesen wird, daß die Ethoslehre in ihrer entwickeltsten Form das eigene Werk des Griechentums sei. Seine Argumentation bleibt jedoch bei der Ankündigung des als Grundlage der Theorie dienenden dorisch-phrygischen Gegensatzes stehen, und sie erklärt diesen mit einem auf die Kompensierung des kleinasiatischen Einflusses gerichteten Bestreben. 38 Curt Sachs: Musik des Altertums. (Jedermanns Bücherei) Leipzig 1924. Ferner: Die Musik der Antike. Handbuch der Musikwissenschaften. Herausgegeben von Ernst Bücken. WildparkPotsdam 1928. 37 Abert unterschied in seinem frühen Werk nur zwischen der ethischen und der sogenannten formalistischen Richtung: seine 1922 veröffentlichte Studie grenzt bereits vier grundlegende Tendenzen voneinander ab: die »kanonische« Auffassung der pythagoreischen Schule, die harmonische Auffassung der aristoxenischen Schule, ferner die »ethische« und die »formalistische« Konzeption. 38 Der Staat, a . a . O . , 3. Buch. 400. — S. 1 1 4 . 38 Der Staat, 2. a. O., 4. Buch. 424. - S. 148. 40 Schäfke: a. a. O., S. 1 2 1 f. 41 Der Staat, a . a . O . , 3. Buch. 401. - S. 116. 4> Heller Agnes: Az aristotelesi etika es az antik ethos (Die aristotelische Ethik und der antike Ethos). Budapest 1966, S. 64 ff. 43 Gesetze, a . a . O . , 3. Buch. 701. — S. I i i . 44 Gesetze, a. a. O., 2. Buch. 656. - S. 46. 45 Vgl. Marx: Das Kapital. Bd. I. M a r x - E n g e l s Werke. Bd. 23. Berlin 1962, S. 388. 46 Timaios. Übersetzt von O. Kiefer. Jena 1909, S. 50-51. 28

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Gesetze, a. a. O . , 2. B u c h . 657. — S. 46. V g l . : A görög müviszet vilaga (Die W e l t der griechischen Kunst). Z u s a m m e n g e s t e l l t v o n Janos G y ö r g y Szilägyi. Budapest 1962, S. 1 6 0 - 1 6 1 , 198 u. 219. « D e r Staat, a. a. O . , 3. B u c h . 398. - S. 112. 60 Aristoteles: Metaphysik 1090 A . Übersetzt v o n Friedrich Bassenge. Berlin i960, S. 339. 5 1 Aristoteles: Vier Bücher über das Himmelsgebäude. Griechisch u n d deutsch, herausgegeben v o n C . Prantl. Leipzig 1857, II. B u c h . S. 1 4 3 - 1 4 5 . 62 Politik, VIII. B u c h . 1339 B . - Ü b e r s . : E . R o l f e s . Leipzig 1912, S. 266. 53 Politik, a. a. O . , 1342 B . S. 274. D i e E r k l ä r u n g dafür, w a r u m die Bedeutungsinhalte der dorischen u n d phrygischen H a r m o n i e bei Piaton und Aristoteles gerade u m g e k e h r t sind, w ü r d e besondere philologische und geschichtliche Studien beanspruchen. 54 Politik, a. a. O . , 1341 A . S. 2 7 0 - 2 7 1 . 45Politik, a . a . O . , 1342 A . S. 272. 58Politik, a . a . O . , 1341 A . S. 270. 57Politik, a . a . O . , 1340 A . S. 267. 58 Politik, a. a. O . 1340 A . S. 268. 59 N a c h der Pindaros-Analyse v o n T h . Georgiades w i r d bei der V o r f ü h r u n g des durch A t h e n e »erfundenen« N o m o s P o l y k e p h a l o s der ursprüngliche menschliche K l a g e r u f u n d der Schmerz der Euryale v o m Aulosspieler »nachgeahmt«. D e r N o m o s göttlichen U r s p r u n g s veränderte also das Schmerzgeschrei in Kunst ( T e c h n i ) , in K ö n n e n , in Aulosspiel, in M u s i k . Georgiades f ü g t h i n z u : »Pindaros unterscheidet zwischen d e m Leid u n d d e m geistigen Schauen des Leides. Das eine, der Affektausdruck selbst, ist menschlich, ist M e r k m a l des Lebens, ist Leben selbst. D a s andere aber, daß d e m Leid durch die Kunst o b j e k t i v e Gestalt verliehen w i r d , ist göttlich, ist befreiend, ist geistige Tat.« (Musik und Rhythmus bei dett Griechen. H a m b u r g 1958, S. 21). W i r m ö c h t e n nun auch die F o l g e r u n g e n v o n G e o r g Lukacs h i n z u f ü g e n : »Man sieht hier die R e i f e i m ästhetischen D e n k e n der griechischen A n t i k e . W ä h r e n d viele — o f t sogar nicht unbedeutende — m o d e r n e A u t o r e n den A f f e k t m i t seiner mimetischen Darstellung verwechseln oder zumindest diese aus j e n e m einfach und direkt herauswachsen lassen, ist f ü r Pindar der qualitative S p r a n g zwischen beiden gerade die Hauptsache. D i e mythische Darstellung geht gerade darauf hinaus, diesen S p r u n g h e r v o r z u h e b e n : i n d e m die M i m e s i s des Schmerzes als göttliche E r f i n d u n g erscheint, w ä h r e n d der S c h m e r z selbst etwas b l o ß Menschliches ist, ist seinerseits jede V e r w e c h s l u n g , jedes Ineinanderverschwimmen v o n v o r n herein ausgeschlossen, o b w o h l andererseits dieselbe Darstellung ein jedes Subjektivieren ausschließt und das »Göttliche« eben als Mimesis, als W i d e r s p i e g e l u n g des menschlichen Lebensfaktes über den g e w ö h n l i c h e n menschlichen A l l t a g erhebt.« — Lukacs: Die Eigenart des Ästhetischen. B d . II. N e u w i e d a / R h . 1963, S. 3 3 1 - 3 3 2 . 60 Poetik. Ü b e r s . : H . Stich. Leipzig 1887, S. 23-24. 8 1 Erich Frank g e h ö r t m i t seiner früher bereits zitierten Studie (vgl. seine unter A n m e r k u n g 21 dieses Kapitels erwähnte Studie, S. 349) zu den seltenen A u s n a h m e n . E r trifft die präzise Feststellung: »Im Gegensatz zur m o d e r n e n A n s c h a u u n g ist f ü r den Griechen die M u s i k die eigentlich mimetische Kunst.« ( A . a. O . , A n m . 18.) H i n g e g e n läßt H . K o l l e r , der hervorragende Terminologiegeschichtsforscher des Mimesisbegriffes, die L ö s u n g des P r o blems letzten Endes auf ein B l i n d g e l e i s fahren. N i c h t ohne G r u n d b e t o n t er, daß i m M i t t e l p u n k t der B e d e u t u n g des Mimesisbegriffs eine tanzende T ä t i g k e i t kultisch-kathartischen C h a rakters steht. A b e r w e n n er i m menschlichen T a n z b l o ß das M o m e n t des menschlichen Selbstausdrucks in Betracht z u ziehen geneigt ist, so bedient er sich — nolens volens — in der D e u t u n g des ursprünglichen antiken Sinnes der Mimesis einer modernisierenden A n schauung (Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. B e r n 1954, S. 2 1 0 214). D e r B e g r i f f k a n n in der T a t nicht der neuzeitlichen Kategorie der » N a c h a h m u n g der N a t u r « gleichgesetzt w e r d e n . A b e r n o c h w e n i g e r kann er als S y n o n y m des ebenfalls neuzeitlich-modernen Selbstausdruckes gelten. B e i Aristoteles bleibt] die B e t o n u n g durchgehend bei der Darstellung des Charakters des Menschen — des Z o o n politikon, des gesellschaftlichen W e s e n s . 62 Politik, a. a. O . , 1340 A . S. 267-268 47

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Der Staat, a . a . O., 3. Buch. 397. — S. 109. W . W o r r i n g e n Abstraktion und Einfühlung (Neuausgabe). München 1959, S. 173. 6 6 Ebd., S. 175. 66 Politik, a . a . O . , 1340 B . S. 268. 87Politik, a . a . O . , 1338 A. S. 261. ''Politik, a . a . O . , 1341 B . S. 2 7 1 . 69Politik, a . a . O . , 1342 A. S. 273. ™Vgl. Schäfke: A . a . O . , S. 80. 7 1 Capelle: A . a . O . , S. 485-486. 7 2 Schäfke: A . a . O . , S. 109. 7 3 Natürlich bietet sich uns hier ebenfalls kein Bild irgendeiner autonomen Stilentwicklung. Der die Herrlichkeit des alten Nomos lobende Autor betont auch des öfteren: nicht technische Unwissenheit, sondern freier Entschluß hielt die früheren Musiker von gewissen Tetrachorden, dem Tausch der Harmonien (Metabolie) zurück. Nicht die Technik vervollständigte sich, nicht der Stil verfeinerte sich also, sondern die Musikauffassung veränderte sich: die neue — weltliche und deshalb dekadente — Musik beachtet die Ethosinhalte der musikalischen Stilmittel — laut Pseudo-Plutarch — in geringerem Maße, sie verzichtet darauf, unter ihnen zu wählen. 7 1 Vgl. Pfrogner: A. a. O . , S. 957 5 Ebd., S. 95. 7 6 Ebd., S. 94. 7 7 R . Westphal: Aristoxenos von Tarent. Melik und Rhythmik des classischen Hellenentums. Leipzig 1 8 8 3 - 1 8 9 3 . 7 8 E g e r t Pöhlmann: Griechische Musikfragmente. Ein Weg zur altgriechischen Musik. Nürnberg i960. 79 Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Hamburg 1958, S. 1 1 6 . 8 0 Ujfalussy: A . a . O . , S. 61. 8 1 V g l . : Annemarie Jeanette Neubecker: Die Bewertung der Musik bei Stoikern und Epikureern. Eine Analyse von Philodems Schrift De musica. Berlin 1956. 8 2 Pfrogner: Musik. Geschichte ihrer Deutung. A . a . O . , S. 53. 8 3 Ebd., S. 538 4 Ebd., S. 548 5 Ernst B l o c h : Geist der Utopie. Berlin 1923, S. 47. 8 6 Z i t i e r t von Schäfke: A . a . O . , S. 198. Ferner vgl. noch Hermann Abert: Die Musikanschauung des Mittelalters und ihre Grundlagen. Halle (Saale) 1905. 63

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II. DAS SCHICKSAL DER MUSIKÄSTHETIK IM MITTELALTER

HISTORIA FACIT SALTUS Mag auch der Eindruck der Kontinuität noch so sachhaltig sein, so gibt es in der Geschichte doch »Sprünge«. Auch in dem von uns untersuchten geschichtlichen Prozeß lassen sich die einzelnen Kettenglieder der zu einer einzigen Zeitreihe sich verbindenden Entwicklung abtasten. Die spätantiken musikphilosophischen Spekulationen überbrücken zwar die Kluft zwischen der Musikauffassung des klassischen Altertums und des christlichen Mittelalters, aber der Gegensatz bleibt dennoch auch weiterhin bestehen und besitzt in der Weiterentwicklung der Musikästhetik seine markierende Bedeutung. W i r sahen, wie sich das musikphilosophische System des klassischen Zeitalters in fast allen seinen Elementen im Hellenismus umgestaltete. Im 3.-4. Jahrhundert u. Z . schlugen diese quantitativen Veränderungen in eine qualitative Wende um. Die christliche Patristik begnügt sich nicht damit, das seit Piaton modisch gewordene Anathem der in der Musik verkörperten Unsittlichkeit zu wiederholen. Die die Gegenwart verneinende Theorie scheint nun aus dem Zauberkreis der antiken Musikästhetik ausgebrochen zu sein: sie verkündet ein neues Lebens- und Menschenideal und stellt neue Forderungen an die Kunst. Natürlich ist es schwer, den geschichtlichen Augenblick der großen Wende authentisch zu reproduzieren. Trotzdem kann das Aufkeimen des Neuen nur von unhistorischer Blindheit nicht wahrgenommen werden. Ammianus Marcellinus berichtet im 4. Jahrhundert darüber, daß die dekadente Genußmusik in R o m Alleinherrscherin sei und daß die Pflege der Wissenschaften — zur Bändigung des Volkes, das »panem et circenses«, zum Brot auch Zirkusspiele forderte — von der staatlich organisierten Zerstreuung abgelöst wurde: »Nun sind auch die wenigen Häuser, die früher im R u f e der Pflege der ernsten Wissenschaften standen, voll von der Nutzlosigkeit der trägen Nichtstuerei, und widerhallen von Gesang und dem durchdringenden Schall der Saiten. Du findest in ihnen anstelle des Philosophen Sänger, anstatt des Rhetors Gaukler; an die Stelle der als Gruft verschlossenen Bibliothek werden Wasserorgel, Riesen-Lyren und Pfeifen, für szenische Vorführungen geeignete mächtige Ausrüstungen fabriziert. . .ä 1 Von derselben bitteren Stimmung ist auch Boethius' Haltung an der Wende des 5. und 6. Jahrhunderts gekennzeichnet; die Verurteilung der dekadenten künstlerischen Effekthascherei, der die Sinnlichkeit aufpeitschenden musikalischen Praxis, ist auch bei ihm mit der Heraufbeschwörung der edlen Einfachheit der Alten verbunden. Eben deshalb ist Marcellinus noch eine typisch spätantike Erscheinung und Boethius der letzte Vertreter der platonisch-

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aristoxenisch-plutarchischen Überlieferungen. Stellen nun die Kirchenväter die sittliche und unsittliche Musik, die Musica sacra und die Musica prohibita als heilige und verbotene Musik einander gegenüber, so vollzieht sich das Anathem bereits im Namen des Neuen. Aber was ist dieses Neue? Seneca sprach in der sarkastischen Manier des kynischen Diogenes über den Musiker, der die Saiten der Lyra gut stimmen kann, sich jedoch um die Harmonie seiner eigenen Seele gar nicht kümmert. Unzweifelhaft meldet sich hier der Anspruch auf eine neuartige Innerlichkeit. Trotzdem blieb Seneca noch der Vertreter des hellenistischen Stoizismus; nach ihm werden, wenn man die Gebote der Natur befolgt, die Künste überflüssig. Wenn aber die Kirchenväter jene innere Harmonie verkünden, die durch religiöse Askese und die entsprechende Lebensweise gewährleistet sei, dann finden wir uns bereits inmitten der altchristlichen Kulturphilosophie, die für das frühe Mittelalter kennzeichnend ist. Bei ihnen macht nicht die Nachahmung der Natur, sondern die Nachahmung Christi die Künste überflüssig: sie seien allenfalls in dem Maße notwendig, als sie das neue, transzendente Lebensziel, die Imitatio Christi fördern. Neuer Wein in alten Schläuchen? Dies wäre nur ein oberflächliches Bild. Die quaÜtative Veränderung besteht eben darin, daß auch das Wertsystem sich verändert hat: die Grundlagen der Musikauffassung werden im Prinzip von einer neuen Weltbetrachtung bestimmt. Diese Erkenntnis ist eine unerläßliche Bedingung, wenn die Entwicklung der Musikästhetik während der Auflösung der Sklavenhaltergesellschaft und an der Schwelle des feudalen Mittelalters richtig bewertet werden soll. Allerdings kann die Erkenntnis der Veränderung der weltanschaulichen Grundhaltung nur den Ausgangspunkt bilden. Die eigentlich zu lösenden Aufgaben kommen erst jetzt an die Reihe. Erstens muß die Frage ins rechte Licht gerückt werden: Welches ist der Wirklichkeitsgehalt des neuen, christlichen Ideals der Musik? Ferner: Hat dieser mit der musikalischen Praxis derselben Zeit irgend etwas zu tun, und zwar über jene negative Verbindung hinaus, daß er gewisse Typen der lebendigen Musik kategorisch ablehnt? Und überhaupt: In welcher Verbindung steht er mit den wirklichen Lebensprozessen der Zeit sowie ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Praxis? Man kann der Spur des Schicksals der Musikästhetik durch die »dunklen« Jahrhunderte des Mittelalters nur dann folgen, wenn man diese Fragezeichen tilgt.

DAS »PNEUMATISCHE« MELOS

Was die Zusammenhänge der frühchristlichen Musikauffassung mit der gleichzeitigen musikalischen Praxis anbelangt so führte deren Untersuchung bereits zur Zeit der Aufklärung in den Publikationen des Martin Gerbert und später durch den sein Werk fortsetzenden Coussemaker zur Erforschung der gemeinsamen weltanschaulichen Grundlagen. Es gilt heutzutage gewissermaßen schon als Gemeinplatz, daß in der Psalmodie und in der patristischen Musikauffassung dasselbe religiöse Weltgefühl, dieselbe asketische Moral und transzendente Lebensgestimmtheit Gestalt annehmen. Die konkrete Art dieser »Verkörperung« wird jedoch auf vielerlei Art 66

interpretiert. Jene offen religiös-apologetische Interpretation, derzufolge die christliche kultische Musik, vor allem die gregorianische, nichts anderes sei, als die ästhetische Gestaltwerdung der durch die Kirche verkündeten Ideenwelt, gilt heute für eine auch nur einigermaßen strenge historische Forschung als überholte Auffassung. Die Musikgeschichte sowie die vergleichende Musikwissenschaft unserer Zeit erbrachten den vielfachen Beweis dafür, daß die frühe christliche Musik, von der Psalmodie bis zur Hymnodik, in ihrem Melodienmaterial ebenso wie in ihren Formprinzipien das Produkt des hellenistischen Zeitalters, die auf hoher Stufe integrierte Einheit der verschiedensten antiken hellenischen, jüdischen, syrischen etc. Elemente darstellt. Die Entdeckung dieser Kontinuität gewährleistet an sich natürlich noch nicht das Verständnis des Wirklichkeitsgehaltes der weltanschaulichen Grundlagen. Heinrich Besseler gibt ein anschauliches Bild jenes Vorgangs, in dessen Verlauf die heterogensten orientalischen und antiken Überlieferungen, die verschiedensten musikalischen Gattungen, die im bunten Durcheinander sich zusammenballenden Stilrichtungen der Volks- und Kunstmusik zu einer einheitlichen musikalischen Formenwelt zusammenschmolzen. »So beziehungslos ihre einzelnen Gattungen (der frühchristlichen Musik D. Z.) für den ersten Blick nebeneinander zu stehen scheinen und so stark auch... die... Alleluja-Melismatik im Aufbau von der antiphonischen Chorpsalmodie oder vom strophischen Gemeindelied abweicht — das letzte Gestaltungsprinzip und die Grundauffassung des Musikalischen, die sich darin auswirkt, schließt die verschiedenartigen Erscheinungen zu einer einheitlichen Formenweit zusammen. Überall ist es das vom Wort losgelöste pneumatische Melos, das im neuen Tonraum aufquillt und als Fluidum von Koloraturarabesken, Lektionsformeln und Strophenmelodien die Texte überströmt. Sein Wesen beruht in der steten Wandlungsmöglichkeit, die eine Kristallisation zu endgültig geprägter Gestalt nicht zuläßt. . . Das Einzelwerk trägt als solches keinen Wertakzent. In ihm erscheint, nach Form und Begrenzung veränderlich, immer wieder im Grunde nur das eine pneumatische Gesamtmelos. So wird die Musik zum Symbol des Geistes, der sich über die Gläubigen ergießt, ohne daß die Einheit seines Wesens davon berührt würde.«2 Dies ist eine zutreffende Charakterisierung der eigenartigen Melodienwucherung der frühchristlichen liturgischen Musik, der neuartigen Verbindung von Text und Melodie, der Metamorphisierbarkeit der Melodietypen. Das neue Melodienmaterial ist wahrhaftig von »pneumatischem« Charakter; es ist ein in weitem Bogen sich auflösender »luftiger« Gesang, dessen formelle Gegliedertheit nicht mehr von der tanzmäßigen, »quantisierenden« Rhythmik der antiken Musik gewährleistet wird, sondern der eine sprachartige Rhythmusordnung neuen Typs ist, die vor allem zur Ausgestaltung von größeren Einheiten fortschreitet. Die großangelegte Monographie von Janos Maröthy, Die Geburt des europäischen Volksliedes, erbringt den überzeugenden Beweis, daß das neue Melodiemodell die Melodie nicht mehr den GesamtkunstCharakter tragenden Handlungselementen des Werkes unterordnet (z. B . der in der Art des Tanzes organisierten Rhythmik), sondern eine neuartige Artikulationsordnung einführt: die Ordnung der parlando-melismatischen Formen; »in deren

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Verlauf die innere Gegliedertheit des Rhythmus fortgeschwemmt, dagegen jedoch das äußere'Fahrwasser' der Gegliedertheit beibehalten und gestärkt, oder geradezu zustandegebracht wird: Zäsurglied, Reihe und Strophe.« 3 Besseler ist sich auch darüber im klaren, daß diese »Pneumatisierung« des musikalischen Melodienmaterials mit der Befriedigung der neuartigen Weltanschauungsbedürfnisse zusammenhängt. Der christliche Kult strebte die Ausgestaltung einer Art spiritualisiert-mystischer Lebensgestimmtheit an, und diesen Anspruch konnte die Melodiegestaltung und Rhythmik mit klassischer Metrik als Grundlage nicht mehr befriedigen. Es ist jedoch bekannt, daß dieser Auflösungsprozeß der klassischen Rhythmik nicht erst in der christlichen Epoche zu beobachten ist; bereits bei Aristoxenos ließ sich diese, die Autonomie der Rhythmenordnung anstrebende Richtung beobachten, die sicherlich unter dem Einfluß der verselbständigten Instrumentalmusik, in erster Linie der Auletik, zu einem der vorherrschenden Stilzeichen der hellenistischen Zeit geworden ist. Janos Marothy hat uns an einem gewaltigen vers- und volksmusikgeschichtlichen Material die in gleicher Richtung verlaufende Umgestaltung der Folklore der hellenistischen Zeit gezeigt. Welcher Lebensgehalt hält jedoch dieses an uneinheitlichen Tendenzen reiche Material zusammen? An diesem Punkt bleibt die Analyse Besselers stehen, sie kann keine überzeugende Antwort auf die Frage geben, welche Ursachen die altchristliche Tendenz zur Pneumatisierung der musikalischen Formen, die »Entkörperung« ihrer menschlichen Inhalte hervorriefen. Und während diese objektiven Ursachen ungeklärt bleiben, taucht als einzige Erklärung erneut der ahistorische Standpunkt Gevaerts auf, dem zufolge die Rhythmik des kultischen Gesanges generell in den Hintergrund gedrängt werde. 4 Letztlich läßt Besseler jene Lebenstatsachen, welche die sogenannten pneumatischen Formen der altchristlichen Melodienwelt bedingt haben, jene Wirklichkeitsgehalte, die für die neue musikalische Weltanschauung bestimmend waren, verschleiert. Die Lösung des Grundproblems verdanken wir den bedeutenden musikhistorischen Forschungen Maröthys. Vor allem lehnt Marothy jene falsche Methodik ab, die den Prozeß der Entfaltung der sogenannten kirchlichen Musik als irgendeine Selbstentwicklung oder bloß formimmanente Entwicklung auffaßt. Bei ihm erscheint die Entfaltung der musikalischen Formen an der Wende des ausgehenden Altertums zum frühen Mittelalter vor allem als ein Teil der wirklichen Lebensgeschichte der Volksmusik. Die Methodik des historischen Materialismus ermöglicht nun die Aufhellung der gesellschaftlichen Grundlagen dieses Prozesses: die Auflösung der Sklavenhaltergesellschaft; der im Erscheinen des Kolonats, in der Verbreitung der aus der aufgelösten freien Dorfgemeinschaft ausgeschiedenen kleinen selbständigen Erbzinsgüter zum Ausdruck kommende wirtschaftlich-gesellschaftliche Vorgang; der fortschreitende Prozeß der Festigung der Feudalformation, deren Phasen wir in der Geschichte des kaiserlichen R o m s genau verfolgen können. Auf diesem Boden der großen gesellschaftlichen Umwandlung vollzieht sich der von Marothy dargestellte große Funktionswechsel der Volksmusik. Die messianischen Erwartungen der im römischen Imperium unterdrückten Volksmassen, das dem Verfall der Sklavenhalterordnung entspringende Kolonat, die heranreifende Feudalordnung spiegeln sich aber nicht nur im Inhalt der Folklore wider, sondern

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sie erneuern selbst die musikalischen Gestaltungsprinzipien. Auch die Psalmodie des frühen Mittelalters verwirklicht nicht die übergeschichtliche abstrakte Idee des »pneumatischen Melos«, sondern die spezifische künstlerische Form der neuen gesellschaftlichen Ansprüche und Interessen. Mit großem Nachdruck weist Maröthy auf die wichtige Rolle der mit dem Verfall der Stammesgemeinschaften und der sich entfaltenden neuen feudalen Lebensweise zusammenhängenden geistigen Bedürfnisse hin. Der Vorgang der Privatisierung des Lebens ließ sich bereits im Hellenismus beobachten. Dieser Prozeß wird durch die Naturalwirtschaft des sich entfaltenden Feudalismus nicht nur weiterentwickelt, sondern mit neuem Gehalt, den Inhalten der Lebensform der Kolonats-Leibeigenen ausgefüllt. Sowohl in der musikalischen Praxis der Zeit, als auch in der altchristlichen ideologischen Bewußtmachung dieser Praxis spiegeln sich letztlich die objektiven Lebenstatsachen des frühen Feudalismus wider. Was den konkreten Inhalt dieser Widerspiegelung anbelangt, so ist das Klasseninteresse der Grundklassen der feudalen Gesellschaft dessen wichtigste Determinante. V o n diesem Gesichtspunkt aus ist in der Geschichte des frühen Christentums der Hauptwendepunkt sicherlich das Zerrinnen der mit der sogenannten Parusie verbundenen Illusionen. Das Christentum konnte gerade deshalb zur Religion der im römischen Weltreich unterdrückten und ausgebeuteten Massen werden, weil es den Haß gegen R o m , die der luxuriösen, parasitären Lebensweise der herrschenden Klassen entgegengestellte Askese und die messianische Erwartung dieser Massen ausdrückte; der so heiß ersehnte Erlöser rechnet nicht im spiritualisierten Jenseits, sondern noch äuf dieser Welt, in der Wirklichkeit, mit R o m , »der großen Hetäre«, den Unterdrückern der arbeitenden Massen ab und errichtet auf dieser W e l t das »Himmelreich«. Anfangs war die christliche Ideologie die Weltanschauung der ausgebeuteten und revolutionären Massen des römischen Weltreichs; in ihrem asketischen Lebensideal straffte sich die Energie der Volksbewegungen. Mit vollem Recht lassen sich die W o r t e von Engels auf dieses Asketentum anwenden. »Diese asketische Sittenstrenge, diese Forderung der Lossagung von allen Lebensgenüssen und Vergnügungen stellt einerseits gegenüber den herrschenden Klassen das Prinzip der spartanischen Gleichheit auf und ist andrerseits eine notwendige Durchgangsstufe, ohne die die unterste Schicht der Gesellschaft sich nie in Bewegung setzen k a n n . . . um sich als Klasse zu konzentrieren, muß sie damit anfangen, alles das von sich abzustreifen, was sie noch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung versöhnen könnte, muß sie den wenigen Genüssen entsagen, die ihr die unterdrückte Existenz noch momentan erträglich machen und die selbst der härteste Druck ihr nicht entreißen kann.«5 In diesem Zusammenhang weist Janos Marothy auf den »kämpferisch-leidenschaftlichen, messianisch plebejischen Inhalt« der Psalmodien des hellenistischen Zeitalters sowie auf jene Formenwelt hin, die sich in der musikalischen Darstellung gestaltete.® Daraus wird jene paradox erscheinende Tatsache verständlich, daß die Massenbewegungen dieser Zeit die hedonistischen Züge ihrer eigenen Ideologie allmählich niederringen, und »umasketisieren«.7 Die Parusie blieb jedoch aus; die »zweite Ankunft« Christi und das große W e l t gericht erwiesen sich als Illusion. Die Erwartungen nehmen nun einen transzenden-

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ten Charakter an. Die herrschenden Kreise der neuen, der feudalen Ordnung erkannten aber die ideologischen Möglichkeiten zur Zügelung der gärenden Volksmassen, nachdem die christliche Religion die Parusie in Transzendenz verwandelt hatte. Die neue Religion, die an die Stelle der Stammeskulte trat und die gärenden Stimmungen der unterdrückten Volksmassen der hellenistischen Zeit ausdrückte, entwickelte sich derart aus verfolgten Sekten alsbald zu einer staatlich geduldeten, später unterstützten, einheitlichen Organisation, zur Staatsreligion, wobei sie sich allmählich sowohl organisatorisch als auch ideologisch umgestaltete. Einerseits reproduzierte sie in sich selbst die streng hierarchische, »pyramidenhafte« Ordnung der feudalen Gesellschaft, wobei sie auf die Absonderung der Masse der »Laien« von den »Klerikern« besonders sorgsam achtete, andererseits errichtete sie — als ideologische Deutung dieser organisatorischen Absonderung — jenes dogmatische System der transzendenten religiösen Glaubenssätze, das durch den Priesterstand vermittelt und interpretiert wird und dessen gläubige Annahme für jeden Laien als Vorbedingung des Heils verbindlich ist. So spiritualisiert die christliche Kirche die ursprünglich von plebejischen Emotionen geladene Askese, die auf chiliastische Art gewonnene Vorstellung von der Glückseligkeit. All dies ist die Voraussetzung dafür, daß sich die stabilisierte neue Klassengesellschaftsordnung gedanklich sanktionieren, für ewig geltend erklären und mit dem großen Versprechen des überirdischen Heils und zugleich durch Androhung des Jüngsten Gerichts die im Gedanken der Parusie reifenden Leidenschaften der Massen ableiten kann. Die auf die gesellschaftliche Gleichheit und Vermögensgemeinschaft bezüglichen Vorstellungen, die im religiösen Mantel in Erscheinung tretenden politischen Bestrebungen der Massenbewegung des Volkes werden jetzt an die Peripherie der ideologischen Entwicklung gedrängt; sie finden Ausdruck in der Ideenwelt der vom feudalen Staat und der amtlichen Kirche gleichermaßen verfolgten HäresieBewegungen. Die große Umwandlung des Klasseninhalts der altchristlichen Ideologie bleibt natürlich nicht ohne Einfluß auf das Verhältnis der »kämpfenden Kirche« zu den Künsten, darunter auf die Volksmusik. Wir möchten hier vorausschicken: auch jetzt bleibt der asketische Charakter Grundprinzip, jedoch mit einer neuen Deutung. Jede Kunst, die auf der Bewußtmachung der Diesseitigkeit des menschlichen Seins beruht, so z.B. auch die »profane« Musik, gilt fortan als Symbol der Sinnlichkeit, des sündigen Körpers, das Werk des Teufels; gegen ihre dämonisch-verderbliche Wirkung muß daher mit Hilfe der strengsten Prohibition und des anathematisierenden Verbotes gekämpft werden. Daher das immer wieder insistierende moralische Anathem der Kirchenväter, daher die sich auf theologische Argumente stützenden ästhetischen Stellungnahmen der Synoden und daher die auf den Schutz der »authentischen« christlichen Kunst, der música sacra, gerichteten Bemühungen der Kirchenhäupter.

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MORALISIEREN IN DER HÜLLE DER ETHOSLEHRE Inzwischen entsteht die neue Musikästhetik. Das Grundprinzip, auf dem sie beruht, stimmt mit dem Grundprinzip der antiken Ethoslehre formal überein. Auch jetzt will man zwischen dem sittlich Gehaltvollen und dem Unsittlichen unterscheiden. Das Ethos allerdings, an dem geprüft werden sollte, welche musikalische Form sittlich und welche unsittlich sei, spiegelte bereits nicht mehr die Einheit von autonomer Individualität und stabiler Gemeinschaft, wie in der klassischen Polis, sondern die untergeordnete Lage des Individuums im System der feudalen Hierarchie wider, bzw. es machte als religiös-ideologische Widerspiegelung der untergeordneten Lage das mit der Transzendenz verbundene persönliche Verhältnis bewußt, in das sich einzufühlen zur Hauptforderung der christlichen Religion wurde. Das Ethos der Musik gewinnt auf solche Weise einen neuen, moralisierenden Sinn. Damit begann in der Tat eine neue Epoche in der Entwicklungsgeschichte des musikästhetischen Denkens. Was bedeutet dies nun im einzelnen? W i r wissen, daß die Ästhetik der antiken Polis die eindeutige Abgrenzung der eigenen Welt von der fremden, antihumanen B a r barei anstrebte. Im Verlauf der Untersuchung des Hibeh-Papyrus ließ sich beobachten, daß diese Unterscheidung im hellenistischen Zeitalter immer weniger sinnfällig geworden ist. Auch die Musikgeschichte erbringt auf ihrem Gebiet den Beweis, daß »die Barbarei eindringt, das Vorgefundene und sich selbst umwandelt«. 8 Die die Psalmodie anpreisenden kirchlichen Theoretiker konnten sich nicht ohne jeden Grund auf eines der wichtigsten Argumente des Ambrosius berufen: die Psalmenkönnen v o m ganzen Volk gesungen werden, der Psalm ist ein wahrer Volksgesang. Der Hellenismus führte erst die Volksmusik der östlichen Provinzen des Imperiums der sich langsam herausbildenden neuen Kultur zu. Dieser sich auf feudaler Basis ausgestaltende Homogenisierungsprozeß wird — wenn auch nicht ohne jeden Widerspruch — unter den Bedingungendes feudalen Systems auf einer höheren Stufe fortgesetzt. Man denke hier an das Schicksal des durch die germanischen Stämme eroberten Weströmischen Reiches, an den fränkischen Staat der Merowinger und Karolinger. Die sogenannte karolingische Renaissance, die Christianisierung und Feudalisierung des Nordens, machen jedwede bewertende Unterscheidung zwischen Barbaren undNichtbarbaren notwendigerweise illusorisch. Karl der Große verfügte ausdrücklich, daß der kodifizierte Gregorianische Gesang unter den neu »bekehrten« nordischen V ö l kern Verbreitung finde; diese Eroberung ist jedoch in gleichem Maße auch Unterwerfung. Nach den Annalen aus dem Jahre 787 beklagten sich die mit der Einführung des Kirchengesanges betrauten römischen Kirchensänger über die örtlich gewohnte Sangesweise; sie hielten die Vortragsweise der fränkischen Sänger Karls des Großen für ein unkultiviertes, tierisches Geschrei.9 Unzweifelhaft meldet sich darin der A n spruch einer neuartigen kulturellen Universalität, der die Eigenarten der überlieferten Sangesweise der Stämme niederringen will. Die Musikgeschichte zeugt jedoch davon, daß diese Niederringung meistens nur durch die Einverleibung und Assimilierung der Stammestraditionen verwirklicht werden konnte. Bleiben wir beim Beispiel des »unkultivierten Geschreis« der fränkischen Sänger. Rasch blühte aus 71

dieser »barbarischen« Primitivität das »Lai«, das »Gewinde« der Sequenzmelodien und das O r g a n u m —wahrscheinlich englischen Ursprungs — auf, der vielversprechende Sproß der neuzeitlichen Polyphonie. Diese »barbarischen« Formen wirkten dann mit ihren Strukturen auf die christliche liturgische Musik zurück, indem sie, sich selbst verändernd, die Praxis umgestalteten. Dies ist ein Prozeß der Homogenisierung, der die antike Unterscheidung der auf die Stammescharaktere zurückgeführten Ethosarten gänzlich unbrauchbar macht. Es besteht kein Zweifel: diese Zurückgebliebenheit der Theorie ist eigentlich als Gewinn zu betrachten, weil so auf dem Gebiet der Praxis eine neue musikalische Blüte vorbereitet wird. Die Theorie, die Musikästhetik mußte jedoch für den unzweifelhaften Fortschritt der gesamten Musikkultur einen hohen Preis zahlen. Die Überwindung der lokalen Beschränktheit des antiken Ethosbegriffs war nämlich mit dem Verlust des Gehalts des Polisethos notwendig verflochten. In der christlichen Hermeneutik des sittlichen Gehalts der musikalischen Formen trat — wie wir gesehen haben — das sich unter Vermittlung der religiösen Ideologie widerspiegelnde M o m e n t der neuen Klassenverhältnisse in den Vordergrund; nämlich die theologisch regulierte Moralität des persönlichen Seins, die Tendenz der gläubigen Einfühlung des Verhältnisses zu Gott, die Tendenz der asketischen Lebensverneinung. A m lehrreichsten ist von diesem Gesichtspunkt aus das Schicksal der antiken Theorie der Katharsis in der christlichen Ideologie des frühen Mittelalters. Bei der Besprechung der Musikauffassung des Aristoteles hatten wir besonders betont, daß diese ästhetische Kategorie ethischen Ursprungs im klassischen Zeitalter bei weiten nicht nur das von der Tragödie ausgelöste »Furcht und Mitleid«, sondern die humane Wirksamkeit der Kunst im allgemeinen bedeutete, was letztlich in »Reinigung« von der Partikularität des privaten Seins, in inhaltsvoller Identifikation mit der Polisgemeinschaft verwirklicht wurde. Das Subjekt dieser Katharsis ist also die in der Polisgemeinschaft die eigene Welt, ihr eigenes »Heim« erkennende selbsttätige autonome Persönlichkeit, die — im Geiste des Paradoxons von Gorgias 10 — die Gestaltung anderer menschlicher Schicksale miterlebend auch selbst zur vollkommeneren und gehaltvolleren Persönlichkeit wird. Demgegenüber vertritt Tertullian die charakteristische Kunstauffassung der christlichen Patristik, indem er sich der von der Kunst hervorgerufenen Katharsis entgegenstellt. Die Zuschauer der Tragödie charakterisiert er folgendermaßen: »Sie betrüben sich über fremdes Unglück und freuen sich über fremdes Glück. Was sie wünschen und nicht wünschen, ist außerhalb ihrer Befindliches, und so ist die Liebe bei ihnen gegenstandslos und der Haß ungerecht.« 11 N o c h entschiedener ist die antikathartische Haltung des Augustin. In den Bekenntnissen erklärt er, daß die den christlichen Menschen verpflichtende Nächstenliebe auf keinen Fall mit dem von der Tragödie hervorgerufenen Mitleid zu vereinbaren sei; es sei nämlich unzulässig, daß der Zuschauer beim Anblick f r e m der Schicksale und fremder Leiden kathartischen Kunstgenuß empfinde. 1 2 Natürlich bleibt zu berücksichtigen, daß das in der Patristik verurteilte Schauspiel mit der griechischen Tragödie und Komödie der klassischen Zeit bereits nicht mehr identisch w a r : die privatisierende Richtung der hellenistischen Zeit machte die dramatische Öffentlichkeit im Sinne von Sophokles und Aristophanes 72

und damit auch die Katharsis im ursprünglich antiken Sinne in mancher Beziehung fraglich. Darum war im Prinzip der kunstverneinenden Askese bis zur erwähnten großen Umgestaltung der mit der Parusie verbundenen Vorstellungen (chronologisch höchstens bis zum Mailänder Edikt vom Jahre 313, als Konstantin die freie Ausübung der Religion verkündete) auch eine plebejisch-radikale Kunstauffassung enthalten: der Haß gegen das »satanische« R o m und die Reichsmetropole mit ihren verkommenen Sitten konnte darin ebenso zum Ausdruck kommen wie der allgemeine Widerstand der an die Parusie glaubenden Massen gegenüber dem immer dekadenter werdenden »Kunstgenuß« der herrschenden Klassen. Die leidenschaftliche Verurteilung der kulturellen Vorrechte der vermögenden Schichten neigte natürlich auch damals schon dazu, zu verallgemeinern und jedwede künstlerische Tätigkeit für gottlos zu erklären, selbst dann, wenn in dieser Tätigkeit nicht der parasitäre Luxus der Reichen, sondern der Wunsch der großstädtischen Massen, des Lumpenproletariats nach Sehenswürdigkeiten, Festen oder sogar noch die aus der Gentilgesellschaft hinübergerettete Gesamtkunst-Aktivität der arbeitenden Massen zum Ausdruck kamen. Wahr ist: die in den Städten der hellenistischen Zeit verbreiteten Komödien, Mimenspiele, Formen des Massengesanges und Tanzes — worauf Maröthy hingewiesen hat 13 — konnten sich bereits nicht mehr auf demokratische gemeinschaftliche Überlieferung berufen. Trotzdem haben wir es hier mit Formen der Volkskunst zu tun, die in erster Linie auf dem Gebiet der Komödie und der tänzerisch-musikalischen Folklore die Voraussetzung für eine wenn auch ungleiche Weiterentwicklung der europäischen Kunst bildeten. Deshalb wurde schon bei den Kirchenvätern der ersten zwei Jahrhunderte jene transzendent-moralisierende Kunstbetrachtung sichtbar, die wir vorher bei dem die Tragödie als Tragödie und als Katharsis verurteilenden Augustin beobachten konnten. Klemens von Alexandria stellt z. B. an der Wende des 2. zum 3. Jahrhundert der sittlich-asketischen Strenge der liturgischen (kultischen) Musik den von »sinnlichem Spektakel, Aulosmusik und Applaus, von Gelagen und allerlei Schmutz« begleiteten Gesang der »gottlosen Massen« in der dekadenten Metropole entgegen; dieser Gesang hat — und dies ist von der Versgeschichte aus gesehen eine beachtenswerte Neuigkeit 14 — geradezu einen Refrain mit folgendem Text: »Lasset uns essen und trinken, wir sterben doch«. 15 In diesem Zusammenhang zitiert Janos Maröthy Athanasius, den Nachfolger des Klemens auf dem Bischofsstuhl, der sich hingegen mit einem derartigen, anfangs noch mit den politischen Stimmungen der arbeitenden Massen motivierbaren Auftreten gegen die »Genußmusik« nicht mehr begnügt, sondern das Prinzip der Askese auch auf die Volksmusik selbst anwandte und sie sowie die selbständige künstlerische Tätigkeit der unterdrückten Schichten überhaupt verbot. 18 Die Kirchengeschichte rechnet es Athanasius als Verdienst an, daß er dem Arianismus entgegengetreten ist. Warum bedeutete jedoch die Richtung des Arius Ketzerei? Nicht zuletzt auch deshalb — wie es in einer Quelle aus dem 5. Jahrhundert aufgezeichnet wurde —, weil er Matrosen-, Müller- und Wanderer-Lieder verfaßte, um mit ihrer Hilfe Gläubige werben zu können. 17 Nun sind diese Lieder laut Athanasius unsittlich, weil sie den Tanz- und Gesangstraditionen der städtischen Volksfeste folgen. Gerade deshalb bezog sich das strenge Anathem auf die »Sotadeen«,18 Volks73

musiker, Schauspielerund Sänger (Spielmänner). Der Fluch des Athanasius verfolgt dann den volkstümlichen Schauspieler und Sänger über Jahrhunderte. »Wer in sein Haus Histrionen, Mimen und Tänzern Einlaß gewährt, der weiß nicht, welche Menge der unreinen Seelen in deren Gefolge ist«10 schreibt noch im Jahre 791 Alkuin, eine Hauptgestalt der sogenannten karolingischen Renaissance. Derartige ästhetische Verbote können natürlich von den spezifischen Bedürfnissen des gegen die ununterbrochen wiedererwachenden Ketzerbewegungen geführten ideologischen Kampfes nicht getrennt werden. Trotzdem wäre es falsch zu glauben, daß in der kunstfeindlich asketischen Stellungnahme der Kirchenväter bloß eine praktische, mit den täglichen Kämpfen zusammenhängende »Kulturpolitik« in Erscheinung tritt. Die Ablehnung der Katharsis bleibt nämlich bei der Trennung von sakraler und profaner, christlicher und »heidnischer«, rechtgläubiger und ketzerischer Kunst nicht stehen; hinter ihr kann man auch den Anspruch auf die ästhetischweltanschauliche Verallgemeinerung der als Widerspiegelung der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse auftauchenden neuen musikalischen Formen erkennen. Zwischen der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit und der neuen musikalischen Formenwelt ist das wichtigste vermittelnde ideologische Medium natürlich die christliche Religion selbst. Zugleich spielte im engen Zusammenhang mit der transzendenten Weltanschauung des religiösen Glaubens in der Reihe der Vermittlungen zwischen Leben und Kunst auch das spezifische ästhetische Bewußtsein, die Kunstideologie, eine bedeutende Rolle. Natürlich kann man von einem ästhetischen Bewußtsein, wie es sich im klassischen Zeitalter der athenischen Polis, oder später in der Renaissance ausprägte, im Mittelalter nicht reden. Die herrschende gesellschaftliche Bewußtseinsform, die Religion, hatte die auf das Wesen, den Wert der Kunst bezüglichen Vorstellungen — in mancher Hinsicht ähnlich wie in den Kulturen der großen despotischen Reiche des alten Orients — aufgesogen und eingeschmolzen. Allerdings bedeutete die feudale Ordnung weder wirtschaftlich noch ideologisch irgendeine Rückkehr zu den orientalischen despotischen Monarchien. Dem ästhetischen Bewußtsein verblieb noch einiger freier Bewegungsraum und dieser weitete sich — natürlich nicht gleichmäßig, nicht ohne Rückfall — auch innerhalb des Mittelalters allmählich aus.20 Der Anspruch auf Schönheit, der, wie wir bereits sahen, mit dem Prinzip des sittlichen Maßstabes, mit dem ethisch-ästhetischen Prinzip der »Mitte« im aristotelischen Sinn, organisch am meisten zusammenhängt, verschwand aus der frühen christlichen Weltanschauung nicht ganz und gar. Gerade deshalb ist es für uns eine wichtige Aufgabe, jenes ästhetische Bewußtsein zu untersuchen, das dem christlichen transzendenten Lebensideal eine spezifische Prägung verleiht und das ein wichtiges, zwischen den neuen Lebensbedingungen und den musikalischen Gestaltungsprinzipien vermittelndes Glied ist. Es lohnt sich, von diesem Gesichtspunkt aus näher zu untersuchen, welche Lebensstimmung neuen Typs, welche gesellschaftliche und individuelle Psychologie sich im christlichen Kult der Psalmodie meldet, über den bereits früher analysierten Z u sammenhang zwischen pneumatischem Melos und christlichem Spiritualismus hinausgeht. Es ist äußerst lehrreich, an dieser Stelle die Ansicht der Kirchenväter über eine durchaus neuartige Form des Musizierens, des sogenannten »Haus74

musizierens« näher ins Auge zu fassen. Tertullian empfiehlt an einer Stelle dem christlichen Menschen, in sämtlichen nur möglichen Lebenslagen und bei sämtlichen Gelegenheiten Psalmen zu singen; selbst Eheleute »sollen untereinander Psalmen und Hymnen singen und gegenseitig miteinander wetteifern, wer seinem Gott besser singe«. 21 Ähnlich verhält es sich mit der Ermahnung des Johannes Chrysostomos; nach ihm ist es zweckmäßig, auch während der Arbeit Psalmen zu singen. 22 Noch beachtenswerter ist der R a t des Athanasius: »Wenn jemand traurig und kummervoll ist, oder das Glück zu ihm wiederkehrt, und er den Feind besiegte und dem Herrn mit Lob, Dank, Verherrlichung zollen will, — so kann er hierzu in den Psalmen genügend Material vorfinden und das, was diese enthalten, als sein eigenes Werk dem Herrn anbieten.« 23 Janos Maröthy fügt diesen für die Patristik charakteristischen Äußerungen überzeugende Erklärungen bei; er entdeckt in ihnen die Forderung nach den solistischen, »für den Privatgebrauch« bestimmten Kunstgattungen. Die Forderungen sind in der Tat »Forderungen des sich entfaltenden Privatlebens«. 24 Allerdings müssen wir hier bemerken, daß Maröthy den Ausdruck »Privatleben« in allzu abstraktem Sinne, undifferenziert benutzt und es versäumt, die qualitativen Unterschiede zu erschließen, die zwischen dem auf der frühen Naturalwirtschaft beruhenden Feudalismus und der auf Warenproduktion beruhenden bürgerlichen Gesellschaft, des entwickelten Kapitalismus bestehen, und daß er vor allem jene Tatsache außer acht läßt, daß die gesteigerte Subjektivität im Mittelalter auf keinen Fall zugleich auch autonome, fest auf ihre eigene Kraft sich stützende Individualität bedeutet, und sich deshalb der Anspruch des Privatlebens nur innerhalb des hierarchischen Rahmens der feudalen Ordnung, in der emphatischen Gefühlswelt des in Abhängigkeit lebenden und in diese seine Abhängigkeit sich einfühlenden Subjekts meldet. Trotzdem hat Maröthy auf eine der wichtigsten Komponenten des spezifischen ästhetischen Bewußtseins im Mittelalter aufmerksam gemacht, als er die historische Bedeutung der mit dem Ausdruck der subjektiven Innerlichkeit (der »Privatlyrik«) verbundenen neuen musikalischen Gestaltungsprinzipien betonte. Wir wiederholen: die Gefühlswelt des nicht über eine freie und selbsttätige Individualität verfügenden Subjekts wird hier nachdrücklichst betont. Wir können also in der von den Kirchenvätern charakterisierten Psalmodie im allgemeinen nicht den Vorstoß der Innerlichkeit überhaupt, sondern den Vorstoß einer in einem spezifischen Transzendenzerlebnis und Unterordnungsbewußtsein befangenen Innerlichkeit beobachten. Daraus folgt auch, daß die neuartige Forderung nach Ausdruck der Innerlichkeit nur durch Preisgabe des antiken Maßes befriedigt werden kann. Der Traktat des jungen Marx über die »christliche Kunst« 25 bezeichnete gerade an diesem Punkt die Grenze zwischen der klassisch-griechischen und der mittelalterlich-christlichen Kunst; die eine ist die Apotheose der Schönheit, also die der schöpferischen Kraft des Menschen, in welcher der Mensch das Maß aller Dinge ist, die andere ist der Kult des ästhetische Gestalt annehmenden Erhabenen, das sich zum Transzendenten und Kolossalen hingezogen fühlt und das im Zeichen des religiösen Fetischismus die v o m Menschen entfremdete stoffliche Natur der Gegenstände zum Maßstab des Menschen erhebt. 28 Diese Erörterung des jungen Marx bezieht sich in erster Linie auf die bildenden Künste und veranschaulicht das hinter der sogenannten Deformations75

bestrebung der mittelalterlichen Plastik verborgene ästhetische Ideal. Es ist jedoch unzweifelhaft, daß sowohl die Ablehnung des antiken Prinzips des Maßes wie auch die Vorliebe für das Erhabene und Kolossale auch der vorhin analysierten pneumatischen Meloswelt des Mittelalters selbst eigen ist. W i r möchten hier nur auf ein einziges Problem hinweisen: auf die Beurteilung des sogenannten ekstatischen Charakters der künstlerischen Tätigkeit. Georg Lukacs deutet die Ekstase als ein wesentliches Element der primitiven, magisch-schamanistischen künstlerischen Tätigkeit, wobei er hervorhebt, daß in der Ekstase — im Gegensatz zu der in der Magie zur Geltung kommenden Mimesis — die wahrhaftig niederziehenden Kräfte des primitiven Zustands wirken; die Ekstase ist nämlich das Produkt jener magischen künstlerischen Praxis, die sich bewußt von der Zurkenntnisnahme der Außenwelt abwendet und das Subjekt durch den Rausch der unmittelbaren Verbundenheit mit der Transzendenz narkotisiert. 27 Im magischen Zeitalter trat eine derartige Ekstase gewöhnlich bei kultischen Handlungen in einer Gesamtkunst-Produktion auf. Deshalb kann uns die Tatsache nicht überraschen, daß die Kirchenväter in Verbindung mit der tänzerisch-musikalischen Gesamtkunst auch die Ekstase verurteilen; sie verdammen in ihr die »satanische« Macht der Magie, die den Glauben des christlichen Menschen verdirbt. Bereits Celsus gab uns Nachricht über die Tätigkeit der christlichen »Besessenen«, die »innerhalb oder außerhalb des Tempels, ohne besonderen Grund zu gestikulieren beginnen, als wären sie von prophetischem Zorn befallen,« die »unbekannte, zornige, völlig sinnlose W o r t e aussprechen, deren Bedeutung kein Mensch von gesundem Verstand entdecken könnte, so unklar und bar jedem Sinn sind sie.«28 Ist es nun der Kirche, die auf das ganze kulturelle Leben bestimmenden Einfluß gewann, gelungen, diese in Exaltation mündende kultisch-künstlerische Praxis von Grund auf zu vernichten? Die asketische Spiritualisierung der v o m Hellenismus fertig übernommenen künstlerischen Tätigkeit, von der wir im Zusammenhang mit dem pneumatischen Melos bereits gesprochen haben, hat aus der kirchlichen Musik die tänzerischen (und tänzerisch-rhythmischen) Elemente der Gesamtkunst mit größerem oder geringerem Erfolg beseitigt. Trotzdem wurde die Ekstase selbst nicht vernichtet, vielmehr meldete sie sich in der neuen musikalischen Praxis infolge ihrer Spiritualisiertheit in konzentrierter Form. Den Kult dieser Ekstase hat Tertullian, worauf von Jänos Marothy hingewiesen wurde, bewußt von den Montanisten übernommen: 2 9 Ihr »unterirdisches« Weiterleben kann in der asketischsten psalmodierenden Praxis beobachtet werden. Religiöse Askese und spiritualisierte Ekstase sind desselben Ursprungs; sie erscheinen als die in ihrer Gegensätzlichkeit zusammengehaltenen Extreme der christlichen Musikauffassung. Die spezifisch neue Form des ästhetischen Bewußtseins, das ästhetische Moralisieren, bietet R a u m dafür, daß diese Extreme ineinander übergehen. Agustin schildert in seinen Bekenntnissen mit ergreifender Aufrichtigkeit die Zweideutigkeit der moralisierenden Musikauffassung. Bei seiner eigenen Bekehrung habe das Erlebnis des h y m nischen und des Psalm-Gesanges eine wichtige Rolle gespielt. »Nicht sättigen konnte ich mich in jenen Tagen an der wunderbaren Süßigkeit, die ich kostete, wenn ich die Erhabenheit deines Ratschlusses z u m Heile des Menschengeschlechtes betrachtete:

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Wieviel Tränen habe ich vergossen, wenn ich deinen Hymnen und Liedern lauschte, tief gerührt von den Worten, die deine Kirche so lieblich sang! Jene Worte strömten in meine Ohren, durch sie strömte deine Wahrheit in mein Herz, fromme Empfindungen wallten in ihm auf, meine Tränen flössen, und es war mir bei ihnen selig zu Mute.«30 Augustin ist sich dessen vollauf bewußt, daß diese »wunderbare Süßigkeit« der Melodien, diese zum liturgischen Rang erhobene ekstatische Genußmusik, wohl kaum mit der moralischen Verpflichtung der Unterdrückung der sinnlichen Verlockungen in Einklang gebracht werden kann. Auf Grund seiner theologischen Grundkonzeption ist zwar der Genuß erlaubt, doch nur in einer einzigen Beziehung: die irdischen Dinge soll man benützen, doch nicht genießen. Ist aber die Musik kein irdisches Ding? Ist der Kunstgenuß überhaupt erlaubt? Der die Katharsis ablehnende Augustin kann auf diese Frage nur mit Nein antworten. »Zuweilen irre ich so sehr, daß ich all die lieblichen Melodien, in denen die Psalmen Davids gesungen zu werden pflegen, von meinen und selbst aus der Kirche Ohren entfernt wünsche,. . .«31 Die sinnliche Wirksamkeit der Musik kann nicht geleugnet werden, weil »alle Affekte unseres Herzens je nach ihrer Verschiedenheit ihre eigene Weise in Wort und Lied haben (wörtlich: proprios modos in voce atque cantu), durch die sie in geheimer Verwandtschaft angeregt werden. Allein meine sinnliche Lust, der man den Geist nicht preisgeben darf, daß er entnervt werde, täuscht mich gar oft, indem die Sinneswahrnehmung die Vernunft nicht so begleitet, daß sie dieser den Vorrang ließe, sondern sogar selbst Vorrang und Führung in Anspruch nimmt, obwohl sie nur durch sie eingelassen wurde.«32 Das Moralisieren kann jedoch auch jetzt keinen Ruhepunkt schaffen: »Wenn ich jedoch meiner Tränen gedenke, die ich beim Gesänge deiner Kirche in der ersten Zeit meiner Rückkehr zum Glauben vergossen habe, wenn ich weiter bedenke, wie auch jetzt weniger des Gesanges Weise, sondern der Inhalt des gesungenen Textes rührt, wenn er mit reiner Stimme und passendstem Tonfalle gesungen wird, so erkenne ich wiederum daraus den großen Nutzen dieser Einrichtung. Und so schwanke ich hin und her zwischen der Gefahr der Sinnenlust und der Heilsamkeit des Kirchengesanges, die ich selbst erfahren; mehr jedoch fühle ich mich geneigt, ohne ein abschließendes Urteil abgeben zu wollen, die Gepflogenheit, in der Kirche zu singen, gutzuheißen, auf daß auch schwächere Ohren durch Ergötzen der Ohren zu den Gefühlen der Andacht angeregt werden. Sollte ich aber merken, daß der Gesang mehr Eindruck auf mich machte, als das Gesungene, dann gestehe ich ein, sträflich zu sündigen, und dann möchte ich den Sänger lieber nicht hören.«33 Das »Schwanken« Augustins wirft Licht auf die grundlegende Antinomie der christlichen Musikauffassung, auf die Gegensätzlichkeit ihrer allgemeinen ästhetischen Grundlagen. Obwohl die Musik als »Wissenschaft«, als abstrakte theoretische Disziplin innerhalb der »sieben freien Künste« einen Platz zugewiesen bekam, war die in der Tat erklingende Musik gerade keine »freie« Kunst, man hielt sie — von der Patristik bis zur Scholastik—im engsten Sinne des Wortes für eine dienende Kunst. Ihre Funktion ist — wie dies Schäfke richtig hervorhebt34 — propädeutischen, vorbereitenden Charakters: sie ist auf die Förderung einer immer vollkommeneren Einführung in die kultische Handlung gerichtet. Mitunter scheint aus den Erklärungen

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der Kirchenväter hervorzugehen, daß sie die Kunst selbst für überflüssig halten würden, wenn ein jeder die Fähigkeit besäße, die heiligen Texte selbst zu lesen sowie die abstrakten theologischen Gedankengänge zu verstehen und die Dogmen richtig zu interpretieren. (Nebenbei bemerkt: dieselbe Auffassung kommt auch bei der Beurteilung der bildenden Künste zur Geltung. Nach Papst Gregor dem Großen dienen die Gemälde nur dem einzigen Zweck, den religiösen Unterricht der des Schreibens unkundigen Massen bildlich, also intensiver zu gestalten. Gerade deshalb muß die Malerei die »Biblia pauperum« sein.) In diesem Sinne betont auch Basilius, daß die Melodie des heiligen Gesanges die Erfassung des dogmatischen Glaubensgeheimnisses erleichtert.35 Proklos lobpreist das Singen von Psalmen als den belebenden Ansporn der christlichen Tugenden, da es »die Leidenschaft zähmt«, »den Sünder zur Buße bewegt«, »die Seele zu Frömmigkeit anspornt«, »zu enthaltsamer Lebensweise . . . erzieht«, »Dämonen vertreibt«, und endlich »in die Mysterien einweiht und es uns beibringt, an die Dreiheiligkeit zu glauben«.36 Der propädeutische Aufgabenkreis stellt natürlich den kultischen Text in den Mittelpunkt der Gesamt Wirkung. Wir sahen, daß selbst Augustin dies anstrebt, da für ihn beim idealen Singen von Psalmen nicht die Stimme des Sängers, sondern seine Worte den Gegenstand des Gefallens bilden. Die Regeln des Psalmodierens werden deshalb noch an der Wende des 10. zum n . Jahrhundert in einem St. Gallener Traktat folgendermaßen zusammengefaßt: Man muß mit gleichmäßiger Stimme singen, die Versreihen dürfen durch Atemholen nicht unterbrochen werden, keiner beginne den Gesang vor, oder nach den anderen, keiner soll Worte wiederholen, keiner soll sich beeilen, keiner soll die Stimme schärfer, höher, stumpfer oder tiefer, langsamer oder schneller nehmen als die anderen, usw.37 Mit treffenden Worten charakterisiert Augustin dieses Ideal der unpersönlichen Objektivität: Wie er selbst sagt, rührte ihn »weniger des Gesanges Weise«, als der »Inhalt des gesungenen Textes«. 38 Selbstverständlich kam diese Unterdrückung der Leidenschaften nicht im Zeichen des antiken Prinzips des Maßes zustande; sie diente nicht dem ethischen Gehalt der Gemeinschaft und der auf die individuellen Affekte humanisierend wirkenden Katharsis, sondern der den »Eitelkeiten« des Lebens, den realen Inhalten der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit abgewandten Askese, der transzendenten Lebensstimmung der introvertierten Persönlichkeit. Deshalb folgt den Spuren der unpersönlichen Objektivität das unmäßige Gewoge der Innerlichkeit des subjektiven Gefühlslebens, der maßlose und unaufhaltsame Strom der Subjektivität als ihr eigener Schatten. Die historische Größe Augustins besteht darin, daß er diesen gegensätzlichen Charakter der christlichen Musikphilosophie noch ohne die scholastische Kasuistik zu formulieren vermochte. Indem er einerseits das Primäre und den bestimmenden Charakter des Textes betont, beschreibt er andererseits die in der überschäumenden Alleluja-Volkalise verborgene Ekstase, die in der Liturgie pneumatisierte Iubilatio: »Wer jubiliert, spricht keine Worte, sondern es ist ein Sang der Freude ohne Worte; es ist die Stimme des in Freude aufgelösten Herzens, das soviel wie möglich den Affekt auszudrücken sucht, wenn es auch den Sinn nicht versteht.«39 Hier ist nicht mehr der Text von Wichtigkeit, sondern die durch den Text ermöglichte Vokalisation, die auchzende Melismatik, genauer: das ungebundene Strömen der über den Text

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hinausstrebenden subjektiven Innerlichkeit. U n d diese Widersprüchlichkeit k o m m t auch im objektiven Psalmodieren zum Ausdruck. Es stimmt allerdings, daß die ideale Vortragsweise der Psalmen darauf gerichtet ist, religiöse Andacht hervorzurufen; daher ist der Gesangsvortrag unpersönlich und verzichtet auf jede weltliche, theatralische W i r k u n g ; aber eben deshalb gilt, daß er »aus dem Herzen« und nicht »mit der Stimme« gesungen werde (non voce, sed corde canere), daß die Stimme des V o r tragenden eher dem Weinen als dem Gesang ähnlich sei, statt in sinnlicher Schönheit zu schimmern (Threnodia: der Gesang sei eher Seufzer als Musik; non tarn musicare, quam gemitum facere videantur). 40 Damit endete der Verfallsprozeß der antiken ästhetischen Maßkategorie: die asketische Abkühlung der sinnlichen Wirkung wurde durch die Überhitzung der spiritualen Innerlichkeit ergänzt. Deshalb vermag die religiöse Moralität auch — im Augustinischen Sinne — dem Schwanken und den Gewissensbissen R a u m zu bieten. M ö g e n die religiösen Moralisten noch so sehr betonen, daß der Genuß der sinnlichen Süßigkeit eine Sünde, die Versuchung des Teufels sei, diese Sünde ist zugleich auch ein theologisch legitimierter Bastard: sie folgt aus dem menschlichen Wesen, aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur. Hier berühren sich die Extreme. In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters kann diese moralisierende Musikauffassung bereits eine Musik idealisieren, die später die Nächte des Venusberges geradeso zu durchwärmen vermag wie den um Vergebung der Sünden bittenden Chor der Pilger. All dies ist aber natürlich schon das Problem einer späteren Entwicklung: sie setzt Tannhäuser, Faust und D o n Giovanni voraus, deren Subjektivität bereits mit Individualität gepaart ist. ALLEGORISIEREN UND MUSIKMATHEMATIK Aus dem Dargelegten ist ersichtlich, in welchem Sinne wir im Mittelalter über den relativ freien Bewegungsraum des ästhetischen Bewußtseins sprechen können. Es folgt aus der Natur der Sache, daß der Bewegungsraum in Wirklichkeit eher f ü r die künstlerische Praxis als für die philosophisch durchdachte Theorie existierte, und selbst die Praxis konnte sich nur durch zähen K a m p f , Schritt um Schritt, das R e c h t erkämpfen, von ihrer relativen Freiheit Gebrauch zu machen. N u n spielt das M o r a lisieren in bezug auf die allmählich größer werdende künstlerische Bewegungsfreiheit eine doppelte R o l l e : einerseits eine befreiende, weil es Argumente—mitunter auch besonders kasuistische Argumente — dafür liefert, daß der Kunstgenuß zu dulden sei, oder weil es seine Berechtigung mittelbar bestätigt; andererseits hält es die Z ü g e l straff, indem es an seiner religiösen weltanschaulichen Grundlage durchgehend festhält und deshalb letztlich die autonome, weltliche, humanistische Kunst, das mimetische und kathartische Wesen der Kunst verneint. Diese doppelte R o l l e äußert sich natürlich zu jeder Zeit in konkret geschichtlicher Form. In den Jahrhunderten des Ausbaus des Feudalismus, bis zum Erscheinen einer im 10. bis zum 1 2 . Jahrhundert hervorbrechenden neuen Richtung, erwies sich das auf das Festhalten am Alten gerichtete Bestreben als stärker. Augustin vertritt auch in

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dieser Beziehung eine ganze Epoche: mag er auch sämtliche Zweifel und Pein der W a h l zwischen Kunstgenuß und religiöser Askese aufrichtig durchleben, so schlägt bei ihm das Moralisieren — wenigstens in seinem Bewußtsein, im »Verstand« — doch die Richtung zur Disziplinierung, zur asketischen Zügelung der Neigungen des sündigen Körpers ein. Das Paradoxe äußert sich auch darin, daß das Im-Zaum-Halten des musikalischen Genusses ein Programm bleibt, das selbst auf theologischer Grundlage nicht restlos verwirklicht werden kann. Erinnern wir uns der Ermahnung Augustins, im Kirchengesang sei der Text wichtig, die Musik habe keinen selbständigen Wert, der Gesang müsse sich mit knechtischer Unterwürfigkeit dem Sinn des heiligen Textes unterstellen. Natürlich steht Augustin mit seiner Meinung in der Patristik nicht vereinzelt da; wir möchten hier auf die bereits erwähnte Stellungnahme einiger Kirchenväter hinweisen, welche den in Ekstase mündenden Irrationalismus der tänzerisch-musikalischen Praxis verurteilt. Fraglich ist aber, ob jener kultische Text, den vernünftig auszudrücken die Musik berufen ist, jenem Anspruch auf das Vorrecht der Vernunft gerecht wird, wie es Augustin so streng fordert. Die moralisierende Theologie muß hier der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der sakralen Texte ins Auge sehen. Allbekannt ist, daß gerade die Vernunft bei dieser Konfrontation den kürzeren zieht: der Glaube geht der Vernunft voran, lautete das Bekenntnis von Augustin. Der mit Celsus polemisierende Origines hält gerade in diesem Geiste die allegorisierende Interpretation der Bibel für notwendig: »Wollte man am Buchstaben kleben und die W o r t e der heiligen Schrift wörtlich auffassen, so sähe man sich genötigt, mit Scham zu sagen und zu bekennen, daß Gott Gesetze gegeben habe, denen gegenüber diejenigen heidnischer Völker, R ö m e r oder Athener z. B., einen viel großartigeren oder vernunftmäßigeren Eindruck machten.« 41 Diese Erkenntnis setzt auch von Seiten der Theologie ein Fragezeichen hinter jenes Prinzip der Ausschaltung der menschlichen Subjektivität, der unpersönlichen Objektivität, das Augustin, der sich der Athanasischen Manier des Psalmodierens näherte, verwirklichen wollte. W e n n nämlich die Vernunft nicht fähig sei, ohne die psychologische Stütze des Glaubens den verborgenen Sinn der sakralen Texte zu verstehen, so könne das Lesen der Texte nicht unpersönlich, affektlos, objektiv bleiben, es könne der deutenden Tätigkeit des subjektiv erlebten Glaubens nicht entraten; es bedürfe somit in gesteigertem Maße der Musik, des Gesanges, damit sich den Gläubigen der nur mit Hilfe des erlebten Glaubens und nur allegorisch zu erreichende tiefere Sinn in der Tat erschließe. Diese unvermeidliche, doch nicht ausgesprochene Konsequenz hat natürlich ihre Rückwirkungen auf die Rolle, die der Text spielt. Aus der Notwendigkeit des Allegorisierens folgt, daß der Primat des sakralen Textes relativ wird, da ja die moralisch tendenziöse, das religiöse Transzendenzerlebnis zum Ausdruck bringende Musik dem Text etwas gibt, was er nicht enthält, richtiger: nicht eindeutig genug enthält. Insoweit ist die Funktion der Musik mehr, aber auch weniger als die einfache Veranschaulichung des Textes; weniger, weil sie ihm nicht adäquat entspricht, mehr, weil sie nicht nur veranschaulicht, sondern auch deutet, zum Verständnis der allegorischen Bedeutung verhilft. 80

Natürlich schrieb die mittelalterliche Ästhetik nicht nur der Musik eine solche allegorische Funktion zu, die auf einen tieferen transzendenten Inhalt hinwies und eine bestimmte Bedeutung hatte, sondern ohne Ausnahme sämtlichen Künsten. Trotzdem ist es kein Zufall, daß sich das bis zu ganz phantastischen Analogien reichende christliche Allegorisieren mit besonderer Vorliebe der Beschreibung der allegorischen Bedeutung musikalischer Formen zuwandte. Hier finden sich nämlich die Wissenschaft der »Glaubenssätze« und der musikalischen Formen, Theologie und Musikästhetik. In der Zeit der ursprünglichen, diesseitigen Interpretation der Parusie bedurfte das Christentum noch keiner von beiden; die These des Tertullian »Credo, quia absurdum« charakterisiert hinreichend diese Epoche, deren Glauben und deren Kunst durch die messianischen Erwartungen eindeutig gemacht wurde. Nachdem sich jedoch die ideologisch und organisatorisch umgestaltete Kirche darauf eingerichtet hatte, dem unmittelbaren Schutz der feudalen Ordnung zu dienen, wurde eine auch philosophisch fundierte Apologetik notwendig. Das Bedürfnis nach philosophischer Rechtfertigung stellt zugleich auch eine Verbindung zu den antiken philosophischen Systemen her. Die Art und Weise und die weltanschauliche Richtung der Übernahme werden natürlich letzlich durch die feudalen Verhältnisse bestimmt; die Naturalwirtschaft des frühen Feudalismus schloß selbstverständlich die Erneuerung der kulturellen und ethischen Überlieferungen der klassischen Polis der Perikleischen Zeit aus, sie ermöglichte die Übernahme und Umarbeitung der zumeist metaphysischen oder geradezu mystischen Gedankenelemente, die in der klassischen Zeit vorangehenden und hauptsächlich in der ihr folgenden antiken Philosophie erschienen. In bezug auf die Philosophie der Musik ist dies die Erklärung dafür, daß der Boethius der Spätantike noch im 10. Jahrhundert als eine unumstößliche Autorität galt und die durch ihn vermittelte antike griechische Musikauffassung durchgehend innerhalb des Rahmens der pythagoreisch-neuplatonichen Überlieferung blieb. Diese Zusammenhänge müssen wir im Gegensatz zu jenem vulgären Bild über das Mittelalter hervorheben, nach dem die antike philosophische Tradition in der großen gesellschaftlich-ideologischen Umwandlung des ausgehenden Altertums radikal vernichtet wurde und erst in der Renaissance zu neuem Leben erwachte. Zugleich müssen wir jedoch auch in Betracht ziehen, daß es nicht gleichgültig ist, wann die Überlieferung und welche ihrer Schichten ausgegraben und erneuert wurden. Jene weitverbreitete Auffassung, wonach Augustin und die Patristik im allgemeinen mit Piaton verbunden seien, hingegen die Scholastik für sich und für das Christentum Aristoteles entdeckt habe, ist beispielsweise nicht haltbar. Um bei der Musikauffassung der Patristik zu bleiben: die rigorose Beurteilung der musikalischen Formen findet zwischen der platonischen und der frühmittelalterlichen Ästhetik nur eine scheinbare Identität. Bei Piaton bildet gerade die Sorge um die stabile Polisgemeinschaft sowie die Utopie ihrer Wiederherstellung die Grundlage für die utopisch politische Maßregelung der Künste — und darunter die der Musik; im krassen Gegensatz dazu ist die Patristik mit dem Neuplatonismus des Hellenismus, hauptsächlich mit Plotin, verbunden, weil sie dort für die Verkündung des ethischästhetischen Ideals der partikulären Persönlichkeit und für die Ausarbeitung der asketischen Musikauffassung entsprechendes Gedankengut vorfindet. 8l

6 Zoltai: Ethos und Affekt

Dies erklärt jene auffällige Zuneigung, die die christliche Musikauffassung mit den musikmathematischen Spekulationen der hellenistischen Zeit verbindet. W i e sich zeigen läßt, erlebt der Pythagoreismus namentlich in den mittelalterlichen Musiktraktaten seine wahre Nachblüte. Ebenso wie in der Antike geht die pythagoreische Anschauung auch jetzt davon aus, daß die Musik eigentlich eine Wissenschaft, genauer, die mathematische Disziplin der Maßverhältnisse sei. Als solche erhielt sie, von der Systematik des Martianus Capeila angefangen, auch im System der »sieben freien Künste«, in der Gruppe des Quadriviums, als gleichgestellter Partner der Arithmetik, Geometrie und Astronomie einen Platz. Sie ist also eine solche ars, deren Wesen die mathematische scientia und nicht die nur auf Gewohnheiten ruhende Gesangspraxis bildet. Auch Boethius betonte bereits, daß nur derjenige ein wahrer Musiker sei, der alles nach wissenschaftlichen Regeln zu beurteilen vermag. Später wird die Gegenüberstellung des theoretischen musicus und des praktischen cantors geradezu zum Gemeinplatz. Beda Venerabilis weist auf den zwischen ihnen feststellbaren wesentlichen Unterschied mit folgenden Worten hin: »Der wahre Musiker ist der, der mit aller Hingabe die Gesangskunst nicht nur ausübt, sondern sie auch theoretisch beherrscht. . . Der Unterschied zwischen einem Musiker und einem Sänger ist groß. Die einen tragen die Musik vor, die anderen verstehen sie . . .«42 Von Grund auf ist jene Auffassung verfehlt, die in dieser charakteristisch mittelalterlichen Richtung der Geringschätzung der musikalischen Praxis bloß die einfache Fortsetzung der antiken pythagoreischen Überlieferung erblickt. Es mag auch noch so paradox erscheinen — wahr ist trotzdem, daß auch die den Primat der Theorie betonenden Bestrebungen die Projektion der musikalischen Praxis der Zeit, genauer, der weltanschaulichen Problematik dieser Praxis sind. In der Unterscheidung von musicus und cantor nimmt eigentlich die Abgrenzung der Funktion von Kleriker und Laie eine »kulturpolitische« Gestalt an. Nur eine solche Abgrenzung schafft die Vorbedingungen für das sowohl theologisch wie auch ästhetisch als notwendig befundene Allegorisieren und, damit zusammenhängend, für die »Disziplinierung« der musikalischen Formen. Was bedeutet eigentlich in Wirklichkeit dieses unablässig wiederkehrende Hervorheben des wissenschaftlichen Charakters? Zum großen Teil ein zu theologischen Phantastereien neigendes Analogisieren und Allegorisieren, in erster Linie die in den theologischen Begriffskreis transponierte musica mundana, in der die Harmonie der Sphären ebenso ein metaphysisches Seinsgesetz wie auch den Gesang der Engel und Seraphim bedeutet.43 Es geht hier letztlich um das Ausklügeln von phantastischen »Übereinstimmungen«, »Einklängen« zwischen den mystifizierten Naturerscheinungen und den musikalischen Formelelementen. Die Musik repräsentiert hier als Offenbarung der heiligen Zahlenverhältnisse das mystische Analogon der ganzen Wirklichkeit, und vor allem eine Allegorie des Jenseits.44 Darum wird die Musiktheorie zu einer wahren Geheimlehre, deren Rätsel nur von Eingeweihten verstanden werden. Natürlich darf man auch jetzt nicht jene Berichte außer acht lassen, in denen der die Praxis verachtende und in unbändigen Allegorismus übergehende Neupythagoreismus in der Weiterentwicklung der musikalischen Praxis selbst eine reale Rolle spielt. Man denke hier vor allem an jene Funktion, welche die mathematische Analyse des 82

sich ununterbrochen erneuernden musikalischen Materials ausübt, wenn sie ihre Mittel und Ergebnisse in den Dienst der theoretischen Verallgemeinerung und Kodifizierung der neuen musikalischen Praxis stellt. Wir möchten erneut hervorheben, daß der Neopythagoreismus der mittelalterlichen Musiktraktate sich nicht auf eine Neubelebung der antiken Tradition (z. B. Monochord-Analyse, Proportionenlehre der Grundharmonien u. a. m.) beschränkt. Wenn er die Praxis auch noch so sehr verachtet, so trägt er trotzdem, und zwar nicht nur an einem wesentlichen Punkte — man kann sagen malgré lui, gegen sich selbst gerichtet — den neuen Zügen des künstlerischen Materials und der künstlerischen Formen Rechnung. Einen schlagenden Beweis für das Umarbeiten antiker Überlieferungen in diesem Sinne liefert das im Jahre 387 begonnene und allem Anschein nach auch nach seiner Bekehrung fortgesetzte metrische Werk Augustins, das aus sechs Büchern bestehende De musica. Die Gedankenführung der ersten fünf Bände hält noch an der antiken Auffassung fest : sie betrachtet die nach Zahlenverhältnissen geordnete Welt als den möglichen Rahmen des menschlichen Lebens und Glücks, und es gilt deshalb auch der numerus, das quantitativ bestimmende Zeitmaß im künstlerischen Rhythmus, als wesentlich. Allerdings dringt schon in diese (übrigens in platonischer Manier vorgetragene) metrische Analyse etwas von der Problematik der zeitgenössischen Musik ein. Außer dem histrio, dem Schauspieler, verurteilt Augustin auch den cantor, den Sänger aus dem gemeinen Volk : keiner von ihnen kennt die aus Zahlenverhältnissen bestehenden Gesetzmäßigkeiten der Musik. Andererseits ist die hier erscheinende und während des ganzen Mittelalters geltende neue Definition beachtenswert der zufolge die Musik die Wissenschaft des richtigen »Modulierens« sei (scientia bene modulandi). Der Begriff »Modulation« bedeutete im frühen Mittelater natürlich keinen Übergang zwischen zwei Tonarten im neuzeitlichen Sinne, sondern vermutlich die Auswahl des Modus von Gesangsmelodie und Rhythmus. Nun stellt der Begriff des Modus — wie dies ein früheres Zitat aus den Bekenntnissen zeigt — die »ambrosianische« Seite der »zwei Seelen« des bekehrten Augustins in den Vordergrund; wir konnten lesen, daß nach Augustin den verschiedenen Gefühlen festgesetzte Modi des Tons und Gesanges entsprechen, die »infolge einer geheimen Eintracht« diese Gefühle hervorrufen können. Nun spielt jener Aspekt, der durch die Musik hervorgerufenen Affekte, in den ersten fünf Büchern des Werkes De Musica noch keine bedeutende Rolle. Sie fehlt aber auch nicht völlig : Gesang oder Musik sind in erster Linie die »Wissenschaft« über die richtige Behandlung der Modi, und nicht bloß das in pythagoreischem Sinne verstandene Spiegelbild der Ordnung des Kosmos, der Harmonie der Sphären usw. Gerade darum steht das sechste Buch — das zweifellos im Zeichen der christlichen Musikauffassung geschrieben wurde — trotz seiner Neuartigkeit nicht in einem ausschließenden Gegensatz zu den Ausführungen der ersten fünf Bücher, wie dies im allgemeinen angenommen wird. 45 Die Darstellung in Dialogform zeigt ebenfalls an, daß der Verfasser im letzten Teil die einzelnen Gedanken der früheren Bücher als persönliche Stellungnahme durchdenkt. Dieses Zu-Ende-Denken pneumatisiert den Numerus-Aspekt der Musik — vor allem denjenigen der musikalischen Metrik —, das Moment der Zahlenverhältnisse; unter M o 83

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dus versteht er nun eindeutig »von Gott stammende Melodien«, die die Affekte der Gottesfurcht heraufbeschwören und den Menschen durch Vermittlung der numerischen Ordnung zur Liebe der Gottheit erheben. Numerus und affectus sind hier bereits zwei Seiten derselben Sache. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn der die Musik als Wissenschaft der richtigen modulatio bestimmende Augustin die Iubilatio als große Errungenschaft der Musik bewertet, die — wie wir dies in einem früheren Zitat lesen konnten — eine mit Worten unsagbare ekstatische Freude ausdrückt. W i r sind hier Zeugen der beginnenden großen Funktionsveränderung des pythagoreischen Nachlasses: Die mathematische Methode Augustins bahnt den W e g für die beschreibende Systematisierung der Modi und gibt durch die Analyse der Iubilatio ein Musterbeispiel für die musiktheoretisch-metrische Annäherung an das neue Melos. Es besteht kein Zweifel: in einem solchen Zusammenhang ist der Gegensatz von Theorie und Praxis nur eine spezifische — die gesellschaftlichen und ideologischen Verhältnisse der Zeit widerspiegelnde — Erscheinungsform der Einheit von Theorie und Praxis. Und wir werden später sehen, daß der Gegensatz auch in der Musikmathematik v o m Organum oder Kontrapunkt bei dem Verfasser der Musica Ettchiriadis oder bei dem Niederländer Ockeghem, dem Erforscher der Geheimnisse der kanonischen Regeln, in eine ebensolche Einheit übergeht.

SYSTEMATISIEREN: FESTHALTEN UND BEFREIEN All dies ist die unentbehrliche Vorbedingung für die systematisierende Beschreibung der neuen Musik. Die gesellschaftlich-ideologischen Motive dieser Kodifikationsbestrebungen sind uns bereits bekannt. Die die religiöse Legitimation der feudalen Ordnung anstrebende »triumphierende Kirche« erkannte, daß die weltliche Musik die — an die Kathedralen der romanischen Zeit erinnernden — massiven Mauern der liturgischen Praxis trotz aller Verbote durchbrach und mit ihren aus moralischtheologischen Gesichtspunkten zu bemängelnden Formungsprinzipien die gedanklichen Grundlagen der musica Sacra erschütterte. Diese Erkenntnis bildet den Ausgangspunkt jener Sammeltätigkeit und Systematisierung, die in die Kodifikation der kirchlichen Musik mündet, wie auch den Ausgangspunkt für die Entfaltung der einzigartig reichen musiktheoretischen Literatur des Mittelalters. Die Kodifikation ist zwar mit dem Namen des Papstes Gregor des Großen verbunden, an ihrer Vorbereitung und Vollendung nahmen jedoch die Kirchenväter und Kleriker aus fast vier Jahrhunderten (5.—9. Jahrhundert) teil. Den ersten Schritt unternahm die staatlich anerkannte und zu politischer Macht gelangte Kirche mit Gewißheit schon im 4. Jahrhundert, als sie, parallel zum Ausbau der kirchlichen Hierarchie die Institution der beruflichen Kirchensänger ins Leben rief (vgl. die diesbezügliche Verfügung des Konzils zu Laodikeia im Jahre 367). Natürlich versuchten die Konzilsverfügungen und päpstlichen Dekrete die Tätigkeit der Berufssänger zu regeln, diese in die Schranken der Liturgie zu drängen und den Volksgesang, die Singweise der Laien buchstäblich zu disziplinieren. Die 84

unverkennbare Absicht der »Disziplinierung« charakterisierte dann auch die Gründung des römischen päpstlichen Chors, der Schola Cantorum. Der andere Zweig des Kodifikationsvorganges ist in der Entwicklung der Notenschrift zu beobachten. Besseler vertritt auf überzeugende Weise die Ansicht, daß das frühe Mittelalter mit den Überlieferungen der antiken Notenschrift nicht in Verbindung stand.48 Außerdem verlangte die Formenwelt der Psalmodie neuen Typs eine neuartige Schreibweise. Den Anfang bildet hier die sogenannte Neumen-Schrift, die die Richtungen der Melodiebewegung veranschaulicht. Das war bestimmt kein Zufall. Der Vorgang des Pneumatisierens, dessen weltanschauliche Grundlage und ästhetische Folgen wir bereits untersuchten, hatte die innere Metrik der antiken Melodie gewichtlos werden lassen und die melodische Linie zu weiten Bögen geformt. Mit den Worten Besselers: es entstand ein neuer Klangraum, in dem die Melodien eine charakteristische, ja stereotype Entwicklungskurve beschreiben und sich zu einer vom Medium des Wortes völlig unabhängigen Bogenform organisieren.47 Die Fixierung der Bogenrichtung ist jedoch nur der erste Schritt. Der Schutz gegen folkloristische Einschläge erforderte es, die Technik der TonhöhenFixierungen auszuarbeiten. Zur weiteren Entwicklung möchten wir darauf verweisen, daß sich die Technik der Mensuralnotation, die auch die rhythmischen Werte fixierte, erst im 12 bis 13. Jahrhundert, im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der sich zu dieser Zeit entwickelnden polyphonen Praxis, ausgestaltete und verbreitete. Schließlich ist die Kodifikation bereits auf ihrer Anfangsstufe mit der Klassifizierung der aus den verschiedensten Quellen integrierten Kirchengesänge verflochten. Eines der interessantesten Themen der mittelalterlichen Musiktheorie, der Fragenkomplex der sogenannten Kirchentonarten, taucht hier vor uns auf. Die aus der Kodifikation der Gregorianik herausgewachsene kirchliche Tonartentheorie dürfen wir natürlich nicht in ihrer letzten, verknöcherten Gestalt untersuchen, sondern wir sollten, um die ästhetischen Grundlagen erschließen zu können, den ganzen Vorgang, in dessen Verlauf sich schließlich das abstrakte Ergebnis herauskristallisiert, möglichst in seinen sämtlichen Details rekonstruieren. Dies würde jedoch Einzelforschungen erfordern, denen wir uns nicht unterziehen können. Wir müssen uns damit begnügen, die bereits früher verwerteten musikhistorischen Untersuchungen von Janos Maröthy zu benutzen. Diese sind, wenigstens in bezug auf die Entstehungsgeschichte, von bahnbrechender Bedeutung. Der Nachweis der Genesis erbringt die faktische Widerlegung der auch im Prinzip unhaltbaren Behauptung, wonach das System der kirchlichen Tonarten das selbständige Werk der die Kodifizierung betreibenden kirchlichen Personen sei. J a nos Maröthy, der sich auf ein umfangreiches Tatsachenmaterial stützt, betont den aposteriorischen Charakter der kirchlichen Musiktheorie: »Grundlegende Gesangsformen, musikalische Konstruktionsprinzipien können weder von Leuten mit den Fähigkeiten eines Papst Gregor noch mit denen von Tuotilo oder Guido von Arezzo zustande gebracht werden; diese können nur den Bedürfnissen der Massen, ihrer ununterbrochenen schöpferischen Arbeit und ihrer die Lebensfähigkeit der Schöpfung in der Praxis kontrollierenden Tätigkeit entspringen.«48 Die Kirchentonart ist das Produkt der realen Entwicklung der musikalischen Formen, sie ist prinzipiell 85

eine ebensolche Abstraktion wie die Ethos-Ästhetik der altgriechischen Tetrachordien. Anläßlich der Definition der Musik durch Augustin konnten wir bereits beobachten, daß der Begriff des Modus — wenigstens in seinen wesentlichen M e r k malen — die typische Melodiegestaltung bezeichnet, die zur Vergeger¿värtigung bestimmter Gehalte der Innerlichkeit dient. Der Modus ist also als eine weitgehend abstrakte »Tonleiter« zu betrachten, die allgemeineren Charakter trägt als die Melodie selbst, die jedoch jene Stufe der Abstraktheit, die wir heute mit dem W o r t »Tonart« bezeichnen, noch nicht erreicht hat. Die erste Beschreibung der acht grundlegenden M o d i bei Alkuin, dem Musiktheoretiker englischer Abstammung der karolingischen Renaissance im 8. Jahrhundert, bedeutet offensichtlich einen Fortschritt auf dem W e g e der Abstraktion; wir werden sehen, daß man hier bereits v o n modalen Tonarten reden kann. N u r fragt sich, wie diese neue Qualität zustande kam. Ein großer Teil der Fachliteratur führt die Entstehung der acht M o d i auf den syrischen »Oktoekchos« (um den ursprünglichen syrischen Ausdruck zu benutzen: auf das System des Ikhadias — die acht Modi) zurück. Dieses ist nicht ab ovo ein unbegründetes Bestreben; es genügt, wenn man an die R o l l e der syrischen Hymnodie in der frühchristlichen Liturgie denkt. W i r müssen jedoch betonen, daß das syrische System die Tonreihen nur auf der allerersten Stufe der Abstraktheit verwendet. Die Ekchoi fungieren noch nicht als wahrhafte Tonarten, nicht als abstrakte Reihen, welche die verschiedenen Anziehungstendenzen des durch Melodien ausfüllbaren Klangraumes versinnbildlichen und welche in der wirklichen musikalischen Praxis nie in ihrer »reinen« Form erklingen. Sie sind eher Melodietypen, die dem arabischen Maqam ähneln, die eindeutig mit den verschiedenen Feiertagen des liturgischen Jahres verbunden sind, also im Prinzip auf dieselbe Weise, wie die altgriechischen N o m o i mit den kultischen Handlungen bzw. mit den auch mythologisch motivierten Lebenssituationen und Lebensfakten der dichterischen Darstellung verbunden sein mochten. In dieser Entwicklungsphase handelt es sich erst um die untersten Abstraktionsstufen: die Ekchoi weisen zwar nicht mehr mit der K o n kretheit der einzelnen Kunstarten der Gesamtkunst auf die realen Lebensvorgänge hin, die Wirküchkeit des Alltags spiegelt sich in ihnen nur durch das lichtbrechende Medium des liturgischen Festes. Die musikalische Grundformel ist jedoch auch an und für sich genommen noch eine gehaltvolle Gestalt, die die Realität einer bestimmten Gruppe von Lebenstatsachen gewissermaßen durchschimmern läßt. Eine andere Quelle der kirchlichen Tonarten ist die traditionelle altgriechische Ethoslehre, die durch Vermittlung des vermutlich um das Jahr 300 m Alexandrien tätigen Zosimos der christlichen Musiktheorie des Westens bekannt wurde. Auch Alkuin bedient sich der Terminologie des Zosimos in der Beschreibung der vier hohen oder authentischen und der ihnen entsprechenden vier tiefen oder plagalen Modi. 4 9 Für uns besteht hier das Problem nicht mehr darin, wie und wann das Zusammentreffen des syrischen Maqamprinzips und der umgestalteten altgriechischen Harmonielehre geschah, wenn es überhaupt geschah. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es auch nicht unbedingt v o n Interesse, dem Grund für den sogenannten Namenwechsel und f ü r den hinter ihm steckenden Bedeutungswandel nachzugehen. (So wird z. B . die Benennung der antiken dorischen und phrygischen Tonleiter im 9.—10. Jahrhundert

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regelmäßig vertauscht; die antike dorische entspricht der mittelalterlichen phrygischen Tonleiter und umgekehrt.) Die entscheidende Frage betrifft jenes strukturell Neue, durch das sich das neue modale Tonartensystem vom System der antiken hellenischen Harmonien oder Tonleitern unterscheidet. In Alkuins Schilderung deuten sich unterscheidende Züge bereits an. In der Struktur der von ihm angezeigten Modi ist eine gewisse Ambivalenz zu erkennen. Einerseits vertritt das, was wir die Tetrachord-Seite des Modus nennen könnten, also die Vergangenheit, das Quartprinzip des altgriechischen Tetrachords. Man denke hier vor allem an den grundlegenden Unterschied der authentischen und der plagalen Reihen: Die letzteren beginnen um eine Quart tiefer, genauer: der obere Tetrachord der authentischen Reihe wurde bei ihm unter dem Grundton plaziert. Andererseits haben die Alkuinschen acht Modi auch eine zukunftweisende Seite, angezeigt durch das Verdrängen und Verblassen der Tetrachord-»Nähte«, beziehungsweise durch eine ansatzweise ausgeprägte dominantische Beziehung. Diese Dominante, die im allgemeinen — wenn auch auf dem bei Alkuin zu beobachtenden Niveau der Modalität nicht ausnahmslos, nicht in jedem Falle — mit der Quinte identisch ist, trägt ein Element der Spannung und Auflösung in die Struktur der Tonleiter, das in die Pachtung der Ausgestaltung der strukturellen Homogenität weist und die auf dem Quartprinzip ruhende Tetrachord-Seite des Quartprinzips verdunkelt, den Eindruck des Mosaikhaften aufhebt. Erneut berufen wir uns auf J ä nos Maröthy; nach ihm spielte der Psalm mit seinen pneumatisierten Formungsprinzipien neuen Typs die Rolle des Katalysators bei dieser Entwicklung der acht Modi: er erschloß den W e g zur quint-oktavzentrischen Modalität und die Richtung auf ein einheitlich tonalitätsbezogenes Tonsystem, auf die rationale Vereinheitlichung und Homogenisierung des Tonsystems. »Während bis dahin, (nämlich bis zur bogenarchitektonischen Formenwelt der Gregorianik) der Modus eher Tropos, konkrete Melodieformel war, die den verschiedenen Kategorien des Lebens, der menschlichen Verhältnisse entsprossen ist, wurde er jetzt immer mehr zu einem verallgemeinernden Tonsystem, das die gemeinsamen Züge der unterschiedlichsten Formeln — und nicht nur einer — vereinigt und ihre gemeinsamen 'Geleise' niederlegt (die Geburt des eigentlichen Grundtones!). Zugleich hört jedoch auch sein konkreter Inhalt auf: er vertritt in immer geringerem Maße eine konkret-inhalttragende melodische Formel.« 50 Auf solche Weise hebt die Theorie der Kirchentonarten die in der erneuerten musikalischen Praxis selbst auskristallisierten Strukturprinzipien auf die Stufe der wissenschaftlichen Abstraktion. Gerade darin besteht ihre historische Bedeutung. Selbstverständlich ist eine solche Abstraktion und die mit ihr einhergehende Systematisierung nicht fähig, sämtliche Einzelerscheinungen der faktischen musikalischen Vorgänge zusammenzuhalten und zusammenzufassen; es ist bekannt, daß sie gewisse Formen der Volksmusik — entsprechend der weltanschaulich kanonisierten Ziele — in den Wirkungskreis dieser Systematisierung gar nicht einbeziehen wollte. Im Alkuinschen System kommen z. B . jene beiden Modus-Typen nicht vor, die darin schon wegen der inneren, »musikmathematischen« Logik des Systems einen Platz hätten erhalten können: Äolisch und Hypoäolisch bzw. Ionisch und Hypoionisch,

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d. h. gerade jene beiden Modus-Typen, die später die Grundlage für die Herausbildung der Moll- und der Dur-Tonalität bildeten. Diese »Vergeßlichkeit« ist kein Zufall; sie ist die Folge bewußter weltanschaulicher Regulative. Man denke nur an die musikgeschichtlich vielfach dokumentierte Tatsache, daß diese beiden Modi in der weltlichen Musik des Mittelalters eine Hauptrolle gespielt hatten, vor allem in der ununterbrochen aus ihren Quellen schöpfenden und sich wie Antäus erneuernden Volksmusik und der als Begleitung des Tanzes dienenden Instrumentalmusik. Glarean, der im Geiste des Humanismus der Renaissance das Alkuinsche System der acht Modi (Kirchentöne) durch »Legalisierung« der erwähnten zwei Modustypen zu einem aus zwölf Modi bestehenden System erweiterte, weist selbst auf den weltlichen Charakter der neuen Tonarten hin, 5 1 auf die »Laszivität« der ionischen (tonus lascivus) und auf den zu dem »Wanderer passenden« Charakter der äolischen Tonart hin (tonus peregrinus: nach den die ursprüngliche Bedeutung vernachlässigenden Interpretationen »fremde« Tonart). Die ersten Theoretiker des modalen Systems hinterließen unseres Erachtens — und in diesem Punkt weicht unsere Meinung von der unter volksmusikgeschichtlichem Gesichtspunkt verständlicherweise scharfen kritischen Grundeinstellung János Maróthys ab —ein bedeutendes W e r k : Sie schufen die Grundlagen für eine Analyse des erweiterten und sich noch erweiternden Tonraumes der neuen Musik zum Zweck der Ausarbeitung von rational regulierten Tonsystemen, die der veränderten Grundrichtung der musikalischen Praxis entsprachen. Mit anderen Worten, das System der acht Töne bindet nicht nur, es befreit auch: Es eröffnet eine Initiative mit großer Perspektive, die — unabhängig von der ursprünglichen Absicht der Theoretiker — das bewußtseinerhellende Licht der Musiktheorie in die Zukunft ausstrahlen läßt und der Weiterentwicklung der künstlerischen Praxis den W e g bereitet. MUSIKTHEORIE ALS CHIFFRIERTE ÄSTHETIK Aber es ist unmöglich zu verkennen, daß diese schnell und in weitem U m kreis aufblühende musiktheoretische Literatur auch in negativer Hinsicht die Zukunft vorbereitet: sie antizipiert geschichtlich die heutzutage bereits über hundert Jahre währende und sich immer mehr vertiefende Krise der modernen Musikwissenschaft. Ernest Ansermet spricht einmal davon, daß die europäische Musik blindlings, ohne Selbstreflexion durch ihre eigene Geschichte hindurchschritt, ohne daß sie gewußt hätte, was sie eigentlich vollbrachte. 52 Nun, diese Feststellung ist eher für die Entwicklung der Musiktheorie als für die Geschichte der Tonkunst selbst charakteristisch. Bereits im frühen Mittelalter entfaltete sich jener bis heute verbreitete Typ der praktischen und praktizistischen Musiktheorie technischen Charakters, der auf die erkenntnistheoretisch-inhaltliche Untersuchung der Formen bewußt oder instinktiv verzichtet, da er die ästhetisch? Widerspiegelungstheorie entweder nicht beachtet oder sie gänzlich ablehnt und daher auch die alte Ethoslehrc nicht durch eine neue und höhere, der musikalischen Praxis der Zeit entsprechende Bedeutungslehre abzulösen vermag. Dies ist der 88

zweite große Scheideweg von Musiktheorie und Ästhetik, der Vorbote einer Krise, die tiefer ist als die in der nacharistoxenischen hellenistischen Entwicklung beobachtete Trennung. Seine letzten Konsequenzen werden im Zeitalter des Verfalls der bürgerlichen Ästhetik, in der Konzeption des Formalismus und der sogenannten autonomen Musikästhetik zum offensichtlichen Symptom der Dekadenz. In der Ästhetik der Patristik reift die hier charakterisierte Krise schon heran; wir sahen, daß die moralisierende Beurteilung der musikalischen Formen nur formal mit der antiken Ethoslehre verbunden war und endlich in den Irrationalismus des universellen Allegorisierens einmündete. Zwar kommt in der karolingischen Ära eine gewisse Annäherung an die Ästhetik der Antike zustande, doch die Erneuerung des aristotelischen Mimesisprinzips, der Widerspiegelungstheorie wird durch die Verhältnisse des die Naturalwirtschaft spiegelnden ideologischen Rückfalls, durch den religiösen Idealismus unmöglich gemacht. Mitunter schimmert zwar durch das Phantastische des Allegorisierens ein realer Zusammenhang durch: Alkuin zeichnet z. B. als Analogon der feudalen Gesellschaftshierarchie das Nacheinander der rangmäßig eingestuften acht Modi auf. 53 Dies ist jedoch nicht mehr als ein nicht zu Ende gedachter Einfall; von der wahren ästhetischen Bedeutungsordnung der Tonleitern ist und kann bei Alkuin gar keine Rede sein. Hieraus folgt jener Grundzug der mittelalterlichen Musikästhetik, den man als Herrschaft der chiffrierten Form bezeichnen könnte. Auch jetzt sind die musiktheoretischen Fragestellungen von der Deutung des ontologischen und erkenntnistheoretischen Wesens der Musik natürlich nicht unabhängig, sie sind also für die philosophische Ästhetik nicht ohne Interesse. Das Verständnis ihres weltanschaulichästhetischen Inhalts und ihrer Richtung erfordert aber buchstäblich eine Entzifferung, es setzt die Dechiffrierung des verborgenen ästhetischen Gehaltes der versteinerten musiktheoretischen Schilderung voraus. Dieser chiffrierte ästhetische Gehalt äußert sich nach der Dreiteilung des karolingischen Reiches in einer besonders komplizierten Form. Die Epoche vom 9 . - 1 1 . Jahrhundert zeigt eine fortschreitende Feudalisierung im gespaltenen Reich; aber es bilden sich schon wesentliche Entwicklungsunterschiede zwischen dem westlichen und östlichen fränkischen Staat bzw. Italien heraus. Die sich allgemein verbreitende Naturalwirtschaft warf, im Vergleich zur karolingischen Renaissance, diese großen Feudalreiche vom kulturellen Gesichtspunkt aus gleichermaßen, wenn auch ungleichmäßig, zurück. Der von Cluny ausgehenden Reform, die sich die Befreiung des kirchlichen Lebens von weltlichen Einflüssen zum Ziel setzte, folgte in ganz Europa ein Aufblühen der Architektur in romanischem Stil. Dieselben Reformbestrebungen übten jedoch notwendigerweise auf die übrigen Künste, so auf die Musik, eine hemmende Wirkung aus. Die Gregorianik erschien jetzt als eine »feste Burg« wie die romanische Kathedrale: sie beschützt das »Heilige« energisch vor jedweder Berührung durch das »Profane«. In der Musiktheorie führte diese Richtung zur Alleinherrschaft des maßlosen Allegorisierens und der damit zusammenhängenden neupythagoreischen Spekulationen. Es genügt, wenn wir an einen solchen Theoretiker der ottonischen Zeit denken wie den Kommentator des Boethius, Gerbert (später Papst Silvester II.); das Niveau seiner neupythagoreischen 89

musikalischen Allegorisierungen bleibt weit hinter den musiktheoretischen Traktaten der karolingischen Renaissance zurück. Auch bei Guido von Arezzo, dem bedeutendsten Musiktheoretiker der Epoche, fehlt nicht die Neigung zu esoterischer und allegorisierender Spekulation. Die von Beda VenerabiÜs getroffene Unterscheidung zwischen musicus und cantor findet ihr Echo bei ihm geradezu in einem Spottvers: Musicorum et cantorum magna est distantia: Isti dicunt, illi sciunt, quae componit musica. N a m qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia. (Groß ist der Unterschied zwischen den musici und den cantores. Letztere erzählen, erstere jedoch wissen auch, was die Musik zusammensetzt. Denn wir sagen: ein Tier ist, der das tut, was er nicht versteht.) 54 Nach Guido zählt jedoch das »Wissen« mehr als die bloße Kenntnis von musikmathematischen Sätzen. Das Wissen des wahren musicus verzinse sich in der Praxis, denn er sei dazu fähig, eine ihm unbekannte Melodie sofort v o m Blatt zu singen. Dieses Kriterium des Musikverständnisses verrät natürlich sofort, daß das sichere und schnelle Erlernen der neuen Melodien im I i . Jahrhundert notwendig zu werden beginnt. Dies hängt bestimmt mit der Belebung des kulturellen Austausches zwischen den verschiedenen Zentren der kirchlichen Musik zusammen. Von hier stammt die neuartige musikpädagogische Ambition, die den Mönch von Arezzo dazu anspornte, die auf Solmisation und auf einem Liniensystem beruhende Notenschrift auszuarbeiten. Diese auf einen praktischen Pädagogen hinweisende Neigung ist jedoch wieder nicht frei von kanonischen Bestrebungen. Papst Johannes X I X . konnte gerade deshalb für die neue Methode des einfachen Benediktinermönchs Interesse zeigen, weil er — ebenso wie Guido — um die Universalität der gregorianischen Gesangsart besorgt war. 55 Jetzt wurde ja die Kanonik durch den Umstand erschwert, daß es kein staatlich einheitliches Reich mehr gab. Deshalb wird auch eine tiefere, genauere Fixierung der einzelnen Melodietypen dringender als bisher notwendig. Dies ist der Punkt, an dem Guido die Theorie der Kirchentöne weiterentwickelte. Zuerst führte ihn die Solmisationsmethode zur Hexachordleiter, zu jener aus sechs Tönen bestehenden Reihe, die den »dämonischen« Tritonus (die übermäßige Quarte) nicht kennt und zugleich symmetrisch aufgebaut ist, weil sie zwei große Sekunden, eine kleine Sekunde und zwei große Sekunden nebeneinander stellt. Außerdem unterwarf Guido das System der acht Modi einer eingehenden Strukturanalyse und gelangte zu Feststellungen, die bis zum heutigen Tage die gedankliche Hauptgrundlage für die Theorie der modalen Tonarten bilden. Er entdeckte die primär konsonante Natur der sich aus der Verknüpfung von Quinte und Quarte ergebenden Oktave, die entscheidende Rolle der Finalis bei der Bestimmung des Charakters der Melodie (im allgemeinen des Modus) usw. Die Unterschiedlichkeit der Modi veranlaßt nun Guido, die Eigenarten ihres Klangcharakters zu beobachten. 56 Es ist, als leuchte hier auf einmal der wohlbekannte Grundsatz der traditionellen antiken Hermeneutik auf: »Mancher geübte Musiker erkennt die Eigenarten, sozusagen die Gesichtszüge der Tropen, wenn er sie hört, ebenso wie der unter den Völkern kundige Mensch sich in der Menge umsieht und nach dem 90

Äußeren sagt: das ist ein Spanier, ein Latiner, der dort ein Germane, jener hingegen ein Gallier.«57 Diese Eigenarten erinnern Guido an die affektiv gefärbten Unterschiede der Ethosarten. »Die verschiedenen Tropen entsprechen den verschiedenen Gemütern; der eine findet an den gebrochenen Sprüngen des authentischen Deuterus Gefallen, der andere wählt den Genuß des plagalen Tritus; dem einen gefällt die Beredtheit des authentischen Tetrardus besser, der andere wählt eher die Süßigkeit desselben plagalen; usw.« 58 Die Fortsetzung der Gedankenreihe verrät aber, daß die Wiedererweckung der Überlieferung hier letztlich eine Geisterbeschwörung bleibt. Alle Beispiele, welche die Verbindung der einzelnen Tropen und Gemütszustände beweisen wollen, beschwören alte Legenden und »Wunder« herauf: » Wie wir lesen, kam auf solche Weise ein Wahnsinniger zur Vernunft, vom Gesang des Arztes Asklepiades. Einen anderen hingegen riß der süße Ton der Kithara zu solcher Leidenschaft hin, daß er den Verstand verlierend in das Zimmer eines Mädchens einbrechen wollte; als jedoch der musicus schnell den sinnlichen Modus wechselte, entfernte er sich •— Reue empfindend — beschämt. Auf ähnliche Weise hatte auch David die böse Seele von Saul gezähmt und rang mit der mächtigen Kraft und Süßigkeit dieser Kunst die dämonische Wildheit nieder.«59 Guido kennt (richtiger: anerkennt) zwar die zwischen den griechischen, germanischen, gallischen »Charakterzügen« bestehenden Unterschiede, mit der Frage des TroposCharakters befaßt er sich jedoch nicht ernstlich. Ihn beschäftigt noch nicht die Problematik der sich jetzt entfaltenden Unterschiede der menschlichen Typen. Um so mehr interessiert er sich für den zur Tonart abstrahierten Modus-»Charakter«, um so größere Bedeutung mißt er der praktischen Zwecken dienenden »natürlichen« Unterscheidung der Modi bei: »Diese separieren sich auf Grund ihrer natürlichen Abweichung in solchem Maße voneinander, daß einer dem anderen keinen Platz g i b t . . . und einer die Melodieform des anderen entweder umgestaltet oder nie aufnimmt.« 60 Die praktische Aufgabe ist ganz klar: »Die erwähnten Melodieformen und Verbindungen sind für uns bei der Einordnung des bisher unbekannten Gesanges eine große Hilfe . . .« 61 ; »der Sänger soll also dessen kundig sein, in welchem . . . Modus er irgendeine Melodie beginne.«82 Die antike Ethoslehre verblich hier bereits zu einer fast vergessenen Lektüre; die musikalische Erziehung bedeutet nicht die Bewußtmachung der verschiedenen Ethosgehalte, sondern die Pflege der Gesangskultur an sich, die sichere Kenntnis der klaren Intonation der Modi, der Melodien usw. Mit anderen Worten: Für Guido ist das Intonieren, die Behandlung der Modi in erster Linie ein musiktechnisches und kein inhaltliches Problem. Die geschlossene Polisgemeinschaften voraussetzenden Ethosarten der Musik antiken Typs existieren für ihn nicht mehr, und die neuzeitlichen, den nationalen und Klassenunterschieden entsprechenden typischen Intonationen sind für ihn noch nicht vorhanden. Der Ausbau der Musiktheorie geht deshalb bei ihm mit der Verkümmerung der musikästhetischen Fragestellung einher. Die Musiktheorie ist jedoch auch diesmal die chiffrierte Form der Musikästhetik. Jenes neue Element, das bei Guido in der immer differenzierteren Analyse und Schilderung der modalen Tonarten in Erscheinung tritt, bedeutet nicht nur auf dem Wege der vorhin analysierten Rationalisierung und Homogenisierung des musikali91

sehen Materials einen wesentlichen Schritt nach vorn, sondern mittelbar auch in ästhetischem Sinne. Mag auch Guido die Eigenarten der acht Modi noch so sehr rein technisch behandeln (vom Gesichtspunkt der Plazierung der Finalis, der Intervalle usw.), so kommt in diesem System — im Vergleich zur moralisierenden Musikauffassung — doch ein Fremdkörper zum Vorschein: das Moment des ästhetischenWohlgefallens,des von der asketischen Knebelung befreiten Kunstgenusses. Er setzt seine auf die Unterscheidung der Tropen bezüglichen, bereits zitierten Erörterungen folgendermaßen fort: »Es ist kein Wunder, wenn das Gehör an der Mannigfaltigkeit der Töne Gefallen findet, da auch das Sehen an der Mannigfaltigkeit der Farben sich erfreut. . ., weil die Süßigkeit der köstlichen Dinge auf diese Weise durch das Fenster des Körpers in das Innere des Herzens eindringt.«®3 An einer anderen Stelle spricht er von jenem Recht und der Verpflichtung des Musikers, daß »er im voraus entscheiden muß, in welchen Tonintervallen und in welchem Zeitmaß seine Melodie ertönen wird.«64 In Anbetracht des Textes »soll der musikalische Ausdruck mit dem Stand der Dinge übereinstimmen: in trauriger Lage soll die Melodie ernst, in ruhiger Lage lieblich, in der Freude soll sie jauchzend s e i n . . ,«65 Anschaulich wird in diesen Erörterungen der Genuß des Emotionalen in der Musik, den die moralisierende Musikauffassung nur in den Banden der Askese anerkannt hatte, von diesen Banden befreit. Zu gleicher Zeit taucht auch die Möglichkeit für die Aufhebung der unpersönlichen normativen Regelung auf: für Guido ist der Musiker — wenigstens im Vergleich zu dem das Versmaß auswählenden Versemacher — »notwendigerweise nicht so sehr an Regeln gebunden, weil diese Kunst sich unter allen übrigen Künsten in der Anordnung der Töne am meisten eine vernünftige Veränderung erlaubt.«66 Dies sind natürlich äußerst allgemeine Hinweise. Sie zeigen trotzdem an, was im neuen System der Musiktheorie, das aus dem Moralisieren und der rigorosen Kanonisation entstand, im Reifen ist. Bei Guido kann man freilich noch nicht von einer eigentlich ästhetischen Fragestellung reden: wir wissen, daß ihn die ästhetische Bedeutungslehre vom musikalischen Gehalt, der die musikalische Form bestimmt, nicht beschäftigte. Trotzdem erweist sich seine Musiktheorie auch unter dem historischen Aspekt der Ästhetik als vorwärtsweisender Schritt auf jenem für die christliche Kunstauffassung des westlichen Europa charakteristischen Weg, der sich etwa in diesen Jahrzehnten deutlich von der orientalischen Entwicklung zu scheiden beginnt. Es lohnt sich, auf diese Trennung der Wege näher einzugehen. Symbolisch ausgedrückt: die byzantinische Musiktheorie hat einen Alkuin, jedoch keinen Guido von Arezzo. Die steifen, ikonographischen Vorschriften der »Musterbücher« für die Malerei und die rigorosen Regeln der auf dem Oktoekchos-System basierenden kirchlichen Musiktheorie sind natürlich nicht nur für die byzantinische Kultur charakteristisch. In den Jahrhunderten des Ausbaus der feudalen Ordnung wirkten, wie wir sahen, auch im Westen dieselben Richtungen. Es genügt jedoch, die Systeme der Modi und Ekchoi nebeneinander zu stellen, und sogleich wird der grundlegende Unterschied offensichtlich. Am Oktoekchos fehlt gerade das, was in der Theorie der westlichen kirchlichen Tonarten in der Keimform, als Möglichkeit schlummert: 92

die Verallgemeinerung, die Fähigkeit zur Homogenität. Im byzantinischen System ist das Quintsystem nicht dazu fähig, tatsächlich und auch symbolisch dominant zu sein, sich das überlieferte Quartprinzip unterzuordnen; die Spur der einstigen Z u sammenstellung der Tetrachorde, das Mosaikhafte in der zur Oktave ergänzten Reihe bleiben weiter bestehen und verstellen der Inbesitznahme des homogenisierten musikalischen Raumes den Weg. Der Ekchos läßt zwar jenen anscheinend ästhetischen Vorteil empfinden, daß er eine Grundformel, »Tropos« bleibt, ein »Maqam«, wie wir ihn auch in der syrischen Musiktheorie beobachten konnten; er verfügt also noch mehr oder weniger über eine konkrete Ethosbedeutung. Dies ist aber nur ein oberflächlicher Schein; in Wirklichkeit dominiert im Ethosgehalt nicht das Ästhetische, sondern die religiös-transzendente Grundfunktion ordnet sich die ästhetische Funktion durchweg unter und absorbiert sie. In Byzanz bindet das »System« mehr, im Westen bindet und befreit es. Guido ist der Vorbote dieser kommenden Befreiung. Er kommt von weit her: er bringt das Erbe von Mönchsklöstern mit. Sein W e g führt jedoch auch symbolisch nach R o m ; weil im Westen jetzt jeder W e g zur Stadt führt. Dort reift die neue Kultur der musikalischen Praxis und der Musiktheorie. Sie wird durch die gesellschaftlichen Kräfte zur Reife gebracht, die sich innerhalb der Feudalordnung organisieren.

POLYPHONIE UND »DOPPELTE WAHRHEIT« Die eigentliche ästhetische Bedeutungslehre beginnt erst im n . und 12. Jahrhundert aus ihrem langen Winterschlaf zu erwachen. Jetzt begegnen wir Versuchen, die die Suche nach dem Wirklichkeitsgehalt der musikalischen Formen anstreben. Dies hängt zweifelsohne mit der v o m 10. bis zum 12. Jahrhundert vollzogenen allmählichen Umgestaltung der Feudalgesellschaft zusammen. Diese Veränderungen zeigen sich zum erstenmal in einem Traktat aus dem 1 1 . Jahrhundert. Sein Verfasser, Othloh von St. Emmeram, unterscheidet zwischen dem antiken heidnischen und dem christlichen Sinn der Harmonie. W i r zitieren einen Teil aus seiner spekulativen Erörterung: »Sehen wir nunmehr zu, in welchem Maße Konsonanz in der Mannigfaltigkeit der körperbedingten Fertigkeit enthalten ist. Da gibt es den Goldschmied, den Eisen- und Steinbearbeiter; den Holzschnitzer, Schreiber, Maler, Gelehrten, Kaufmann, Fischer; den in Kriegsdingen, den in Landwirtschaft Bewanderten; den Weber, Arzt, Schneider, Plastiker, Vogelhändler, Jäger; den Koch, den Bäcker; und so manch andere, die andere Fertigkeiten ausübten, die nicht im einzelnen aufgezählt werden können. Keine der vorgenannten Fertigkeiten kann ohne die Hilfe einer anderen ausgeübt werden; was liegt hier vor als eine gewisse Konsonanz gleichsam unterschiedlicher Töne innerhalb aller solcher Fertigkeiten? Betrachten wir sodann, wie die Kostbarkeiten und verschiedenartigen Produkte der Länder konsonieren . . . Denn es ist allen bekannt, daß gewisse Händler öfters in Gegenden oder Länder reisen, von denen viele gar weit von uns liegen, um gewisse Kostbarkeiten nach dort zu schaffen, die in jenen Gegen93

den selten oder gar nicht zu haben sind, und andere Kostbarkeiten ebensowohl von dort zurückbringen, von denen sie wissen, daß sie in ihrer Heimat selten und teuer sind. . . Daraus erhellt klar der Sinn, daß auch in solch wechselseitig übereinstimmender Verschiedenheit eine gewaltige Konsonanz steckt. . .«a7 Der den Harmoniebegriff der musica humana erforschende Mönch entdeckt die natürliche Harmonie zwischen dem Armen und Reichen, zwischen Herr und Knecht, Meister und Schüler, zwischen Kloster und weltlichem Leben, Körper und Seele, Mann und Frau mit derselben naiven Begeisterung — jene Konsonanz also, die in der Verbindung der musikalischen Töne ebenso zur Geltung kommt wie in der ständischen Gesellschaftsordnung. Natürlich haben wir es hier mit einem Allegoiisieren zu tun, das wohl mit der Bedeutungslehre der in der musikalischen Form Gestalt annehmenden gesellschaftlichen Verhältnisse nicht viel zu tun hat. Trotzdem ist der Traktat ein unvergleichlich interessantes Dokument, da er zeigt, was die neuen Lebensverhältnisse für die Kunst und die Kunsttheorie bedeuten. Wir sprechen von neuen Lebensverhältnissen, weil die vom n . bis zum 13. Jahrhundert vollzogene Entwicklung der wirtschaftlichen Grundlagen der Feudalgesellschaft — die Spezialisierung des Handwerks, die Umstellung der Naturalwirtschaft auf Warenproduktion, die Ausgestaltung neuer städtischer Zentren für das Handwerk und den Handel — auch die Lebensweise und geistige Kultur der einzelnen Stände notwendigerweise umgeformt hatten. Wir müssen uns auf eine Andeutung der wichtigeren Tendenzen beschränken. Vor allem müssen wir sehen, daß der Aufschwung des städtischen Lebens, die allmählich wieder auflebende kleine Warenproduktion und der Handel bereits im 10. Jahrhundert den früher fast vollkommen abgestorbenen wissenschaftlichen Forschungen einen gewissen Impuls gaben. Die sich entwickelnde städtische Kultur hatte wieder die Ausgestaltung einer Theologie neuen Typs zur Folge. Die Patristik konnte mit naiver Gewißheit noch auf jedwedes rationale Eindringen in die Dogmen des Glaubens verzichten. Jetzt mußte sich jedoch das Tertulliansche »credo, quia absurdum« als ungenügend erweisen, und die Scholastik wurde dazu gezwungen, den rationalen Beweis der Dogmen zu versuchen. Es ist auch ein Zeichen der Zeit, daß die neuplatonische Orientierung der Patristik von der neuentdeckten — und natürlich entsprechend den theologischen Bedürfnissen von Grund auf umgedeuteten — Verbindung zu Aristoteles abgelöst wird. Und ebenso ist es ein Zeichen der Zeit, daß das Autoritätsprinzip des kirchlichen Dogmas die nach objektiver Wahrheit dürstende empirische Wissenschaft nicht mehr befriedigt und der Kampf für die Anerkennung der Rechte der Erfahrung, der Praxis, auf der Grundlage der Lehre von der »doppelten Wahrheit« seinen Anfang nimmt. Andererseits rehabilitiert und erneuert die neue Kultur der städtischen Schichten allmählich die bisher zu »unterirdischem« Leben gezwungene weltliche Kunst, vor allem die trotz jahrhundertelanger Verfolgung weiter lebende und neue Formen ausbildende Volksmusik. Die wichtigste Neuheit ist hier ohne Zweifel die Polyphonie; bekannt ist die Rolle, die die Volksmusik des feudalisierten Nordens bei Geburt und Blüte der polyphonen Musikkultur spielte. Die radikale Umwandlung brachte natürlich nicht nur die revolutionäre Erneuerung der musikalischen Formen-

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weit mit sich, sondern mit ihr ging auch eine epochale Wende auf dem Gebiet der den ästhetischen Inhalt chiffrierenden Musiktheorie einher. Die Vorzeichen der Wende sind bereits im 9. Jahrhundert zu beobachten. Die Musikgeschichtsschreibung hat entdeckt, daß über die erste polyphone Struktur, das Organum, ein Philosoph englischer Abstammung, J . Scotus Eriugena, berichtet. Die Quart- und Quintparallele, die im Organum zwischen liturgischer Melodie und begleitender Stimme besteht, bedeutete für Eriugena gewiß ein heimisches altgewohntes Erlebnis. Nun ist auch bemerkenswert, daß diese Neuigkeit, die Konsonanz der gleichzeitig klingenden Töne, schon im Augenblick ihrer Entdeckung in den Mittelpunkt'der philosophischen Analyse gelangt: Der auf neuplatonischer Grundlage stehende Eriugena ist der erste, der den pythagoreischen Harmoniebegriff von Grund auf umdeutet, indem er — die Augustinsche Musikdefinition überwindend — die Harmonie nicht bloß als die BewegungsorAnung von Kosmos und Musik, sondern als innere Harmonie der gleichzeitig existierenden Elemente des Seins (der gleichzeitig existierenden Teile von Kosmos, Gesellschaft bzw. Musikwerk) betrachtet. Dieser von Grund auf neugeformte Neupythagoreismus charakterisiert auch die Musikmathematik der Musica Enchiriadis, des früher irrtümlich dem Hucbald v. St. Amand zugeschriebenen Traktats aus dem 9. Jahrhundert. In der Musik sieht man — jetzt zum ersten Mal — ein in Teile zergliedertes Objekt, das sich jedoch in Ruhe befindet; sie tritt als eine Analogie der inneren Harmonie des statisch aufgefaßten Lebens auf; ihre »Harmonie« ist die Ordnung und Einheit der simultanen Mannigfaltigkeit. Die oben zitierte Harmonie-Auffassung des Othloh von St. Emmeram gibt uns den Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Inhalts der bei Eriugena und der Musica Enchiriadis zu beobachtenden musikalischen Ontologie. Das große Erlebnis der Epoche ist die Erkenntnis, daß Gesellschaft und menschliches Leben vielfarbig sind, daß die Entwicklung der Arbeitsteilung und des Warenaustausches mannigfaltige menschliche Tätigkeiten, vielerlei Lebenssituationen schuf. Die Erkenntnis der Mannigfaltigkeit ist hier noch mit der Bewunderung der vorhandenen Gesellschaftsordnung, der verschiedene Schichten zusammenfassenden Feudalhierarchie wesensgleich. Mit anderen Worten: das Statische des mittelalterlichen Weltbildes bleibt bestehen, es wird jedoch in einer relativ neuen Form, als Einheit des gleichzeitigen Zusammenbestehens bewußt. Dieses Weltgefühl und Weltbild schaffen die Grundlage für die musiktheoretischästhetische Schilderung und Bewertung der neuen polyphonen Formen. Das Erlebnis der mehrstimmigen Musik bedeutete im Anfang gewiß nicht mehr als das Erlebnis des Zusammenklingens. Es unterschied sich aber vom ersten Augenblick an von jener Wirkung, die von der Gregorianik ausgelöst wurde. Es war nämlich von Anfang an klar, daß wir es in den polyphonen Werken mit einer neuen Struktur, noch dazu mit einer vom Menschen »komponierten« Struktur, zu tun haben; die künstlerische Selbsttätigkeit des Menschen konnte hier nicht vom Mythos des göttlichen Ursprungs der musica Sacra getrübt werden. Deshalb ist auch das Erlebnis neuartig: es löst sich allmählich vom Transzendenzerlebnis los und nähert sich dem eigentlichen Kunstgenuß. Es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, daß bei jener neuen Auf95

fassung des Kunstgenusses, die sich bei Guido von Arezzo beobachten ließ, das Erlebnis des Organums, der Organisiertheit der »Diaphonie«, eine wesentliche Rolle spielte.'8 Dies ist die Erklärung dafür, daß die Theoretiker der kirchlichen Musik, der Gregorianik, nach der ersten Verwunderung die in die liturgische Musik eingesickerten polyphonen Strukturen entrüstet ablehnten. War es bloß irgendein eigengesetzlicher Konservativismus, der das Anathem diktierte, das dem Organum, dieser »Blasphemie«, noch im 13. Jahrhundert zuteil wurde? Wohl kaum. Von den Überlieferungen des Gregorianischen Chorals aus gesehen hatte bereits die Troubadourmusik die Erbsünde begangen, ja sie sogar um weitere Sünden vermehrt: Der weltliche Text, die Vortragsweise der Wandermusikanten und Jongleure, der das Gefühlsleben des diesseitigen Menschen ausdrückende Wohlklang, die Gliederung in Tanzrhythmen, die Verwendung von Tonarten, die nicht zu den acht Modi gehörten, nicht zuletzt der Trouvere-Charakter, die individuelle »Erfindung« der Melodie — eine geringere Zahl von Mängeln hätte schon für das Verbot ausgereicht. Hier durchbrach zum erstenmal die Individualität die Schranken der Moralisierung. Dies fühlten die Theoretiker der kirchlichen Musik, und sie erkannten in der Troubadourmusik die große Drohung: die Laizisierung und Humanisierung der Subjektivität, das Aufeinandertreffen von Subjekt und Individuum. Die Gefahr wuchs jedoch ständig, als die neuen Formungsprinzipien auch die liturgische Musik, ausgehend vom Organum und vom parallel-konsonanten Gesang überhaupt, zu durchdringen begannen. Die gregorianische Grundmelodie, der cantus firmus, wurde bereits im 10. Jahrhundert von einer oder mehrereren begleitenden Stimmen ergänzt, die sich im Quart- oder Quintintervall bewegen. Es ist überflüssig, hier die weiter um sich greifenden Varianten der Stimmführungstechnik aufzuführen. Es genügt, wenn wir an die erlangte Ranggleichheit der Begleitstimme, an den Discantus, oder an den von der gregorianischen Grundmelodie sich freimachenden Conductus denken. Nicht ohne Grund verglich J o hannes Cotto — der Anhänger des Guido von Arezzo — den an seiner Stimme sich ergötzenden Dechanteur mit dem Betrunkenen: sein berauscht »taumelnder« discantus »findet« zu dem als Grundlage dienenden cantus firmus »kaum nach Hause«.89 Der Kunstgenuß fragt nach seinen Rechten auch im Conductus. » Wer einen Conductus schreiben will, der soll vorerst eine Melodie erfinden, eine so schöne, wie nur möglich ist« — schreibt der Verfasser eines Traktats im 13. Jahrhundert.70 Laut Besseler war die polyphone Konstruktion, die den kultischen cantus firmus mit profanen Begleitmelodien zusammen ertönen läßt, eigentlich nichts anderes als der gleichzeitige Vortrag von sakralem Text und Kommentar, was durch die allgemein verbreitete allegorisierende Neigung des Mittelalters zum allgemeinen Brauch wurde. 71 Unseres Erachtens handelte es sich jetzt allerdings um wesentlich mehr. Schließlich hatte die begleitende Melodie nicht immer und nicht unbedingt einen kommentierenden Charakter, sie konnte auch — unabhängig von der subjektiven Absicht — ein Fragezeichen, ja sogar auch eine profane Umkehrung oder die Rücknahme in die individuelle Subjektivität sein. Zweifellos haben wir es hier mit der 96

ästhetisch-künstlerischen Entsprechung der doppelten Wahrheit zu tun. Deshalb ist es nicht überraschend, daß die mit der christlichen Theologie verbundene Ästhetik gegen solche Konstruktionsprinzipien energisch protestierte, ebenso, wie auch die scholastische Apologetik die doppelte Wahrheit verurteilte. Deshalb blieb z. B. auch die sogenannte Gregorianische Reform des Bernhard von Clairvaux im wesentlichen konservativ gerichtet. Nach der Grundthese dieser R e form muß die Sinnenlust aus der kirchlichen Musik ebenso entfernt werden wie die Roheit. Was letzteres anbelangt, möchte Bernhard, ein bedeutender Theologe des 12. Jahrhunderts, natürlich im Geiste der neuen Zeit über das Kunstideal der romanischen Epoche, über die auf die Transzendenz hinweisende Deformierung der Naturformen hinwegschreiten. »Was will aber in den Klöstern, vor den Augen der lesenden Mönche, jene lächerliche Ungeheuerlichkeit (ridicula monstruositas), jene seltsam unschöne Schönheit und schöne Unschönheit (deformis formositas ac formosa deformitas)? Was wollen die unreinen Affen, die wilden Löwen, die mißgestalteten Kentauren, die Halbmenschen, die fleckigen Tiger, die kämpfenden Soldaten, die hornblasenden Jäger?« 72 Die von Ärger erfüllte Frage ist nicht nur auf die deformierende Neigung des romanischen Stils, sondern auch auf die realistischen Elemente des neuen gotischen Stils zu beziehen; denken wir nur an die architektonischen und plastischen Ornamente der gotischen Dome, an ihre Skulpturen, die in der Tat »kämpfende Soldaten und hornblasende Jäger« darstellen. Bernhard von Clairvaux bemängelt es von vornherein, wenn »die Vielfalt der verschiedenen Formen so reich und so seltsam ist, daß es angenehmer dünkt, in den Marmorsteinen als in den Büchern zu lesen und wenn man den Tag lieber damit verbringt, alle diese Einzelheiten zu bewundern, als über Gottes Gebot nachzudenken.«73 Die »Vielfalt« und die »Einzelheit« sind also gleichermaßen verbotene Früchte, weil beide dem Baume der Wirklichkeit, des weltlichen Wissens entstammen. Panofsky macht darauf aufmerksam, daß die Bestimmung des Schönen als Vielfalt in der spätmittelalterlichen Ästhetik mit der nominalistischen Auffassung des individuell Existierenden, der Individualität zusammenhängt. Natürlich meldete sich der Nominalismus im n . Jahrhundert erst in seinen Anfängen; Bernhard stellte sich ihm jedoch theologisch wie auch ästhetisch entschieden entgegen, weil er die weltanschaulichen Folgen der mit ihm verbundenen »doppelten Wahrheit« erkannt hatte. Wie er gegen die gotische Vermengung des Heiligen und des Profanen, gegen diese charakteristisch künstlerische »doppelte Wahrheit« protestierte, so erhob er seine Stimme gegen die Herrschaft des Individualitätsprinzips auch auf dem Gebiet der kirchlichen Musik. Seine Reform bezweckt gerade die Beseitigung dieser Doppelheit: » . . . es ziemt sich nicht, Neues und Oberflächliches anzuhören, sondern das Alte und Echte, das zur Ehre der Kirche beiträgt und auch der Ehrwürdigkeit der Kirche entspricht.«74 Der auf zisterziensische Art formierte gregorianische Gesang muß aber frei von den polyphonen Neuerungen sein; die Mönche und die Gläubigen »müssen die Freiheiten derjenigen ablehnen, die beim Gesang mehr auf die Nachahmung als auf die Natur achten und das Zusammenhängende trennen und das Entgegengesetzte verbinden . . . sie komponieren und ordnen den Gesang (componunt

97 7 Zoltai: Ethos und Affekt

et ordinant), sie singen herauf und hinunter, wie es ihnen gefällt und nicht, wie es erlaubt i s t . . .«75 Bernhards Kampf galt der Verteidigung der moralisierenden Kunstauffassung. Wie sehr unterscheidet sich dieser Kampf von dem der Patristik! Augustin war ein wahrer Vorkämpfer, Bernhard führt hingegen Nachhutgefechte. Es kam die Zeit der Defensive; die Abwehr wurde immer schwieriger, und immer häufiger der Rückzug. Die Polyphonie macht nämlich die für die Gregorianik noch geltende Normierung unmöglich. Mit ihr wurde die Revolutionierung der Formen permanent. Deshalb begann die Ars nova auch nicht mit Vitry, dem humanistischen Komponisten des 14. Jahrhunderts, der in seinen Motetten die ars antiqua der kirchlichen Musik völlig verweltlichte und bei den Conductus-Konstruktionen eine viel persönlichere, fast Hedhafte, für den Gefühlsausdruck geeignete Polyphonie einführte. Die »neue Kunst« bereitete sich vielmehr bereits seit fast zwei Jahrhunderten auf die Errichtung der Alleinherrschaft der humanistischen Musik vor. Es ist charakteristisch, daß die Anhänger der Ars antiqua die Dinge nicht mehr ganz ungeschehen machen konnten. Der um 1340 entstandene Pariser Traktat des Jacobus von Lüttich ist eine Anklage gegen die Ars nova und zugleich auch die Verteidigung des alten Organum, des alten Discantus usw. »Die alte Musik war vollkommener, freier, verständlicher, ehrwürdiger und klarer als die neue, dabei war sie gelehrt, männlich und regelmäßig, nie liederlich wie die von heute. Die Modernen verstümmeln und entstellen den Discantus, sie vermehren die überflüssigen Stimmen, sie springen und tanzen, heulen wie die Hunde und winden sich wie die Besessenen in ihrer naturwidrigen Harmonienwelt. Aus der Konsonanz schnellen sie plötzlich zu einer neuen Dissonanz empor und erklären dies für einen Konsonanz-Gebrauch. Sie verachten die alten, ehrwürdigen Kunstgattungen (Organum, Conductus) und anerkennen nur den Motetus und die Cantilena. In ihrem Gesang geht der Text völlig verloren, die Wirkung der Konsonanz nimmt ab, das Zeitmaß verwirrt s i c h . . Ebenso verschreckt zeigt sich die Verteidigung im Dekret von Avignon des Papstes Johannes X X I I . aus dem Jahre 1324: »Sie zerspalten die Melodie mit Hoketen, sie verweichlichen sie mit discanti und tripla und zwingen weltliche Motetten in sie, mit dem Gesang rennen sie unruhig umher, sie verblüffen und berauschen das Ohr des Hörenden, anstatt es zu beruhigen, sie verfälschen den Ausdruck, stören die Andacht.« 77 Wie armselig erscheint diese Argumentation im Interesse des Alten. Man kann aus ihr die theoretische Schwäche derer herausfühlen, die sich dieser hoffnungslosen Donquichotterie unterziehen. Auf dieser Grundlage wurde natürlich jede vorwärtsweisende ästhetische Fragestellung und Antwort unmöglich; der Gegensatz von rückständiger Theorie und Neues anstrebender Praxis versteifte sich immer mehr und erstarrte zum stereotyp sich wiederholenden Protest gegen die »doppelte Wahrheit«, zum hoffnungslosen Widerstand gegen die Verbindung des Sakralen und des Profanen. Gerade deshalb ergeben sich aus der Scholastik auf dem Gebiet der Ästhetik keine neuen Gesichtspunkte. Der großangelegte Kommentar des Dominikaners Albertus Magnus zur Politik des Aristoteles befaßte sich zwar eingehend mit den Fragen der aristotelischen Musikästhetik und setzte das selbständig Ästhetische dem Anschein 98

nach wieder in seine Rechte ein. Sein Schüler, Thomas von Aquin, gelangte auf seinen Spuren zur Anerkennung der Berechtigung des ästhetischen Wohlgefallens. Allerdings läßt die scholastische Ausdrucksweise, die auch für die ästhetischen Erörterungen der Summa Theologica charakteristisch ist, für die Beurteilung der wirklichen künstlerischen Praxis der Zeit nur Kompromisse zu. Für Thomas von Aquin galt die von der Polyphonie unberührte Gregorianik als die einzige echte christliche Musik; er lehnt die Volksmusik und den Volksmusikanten entschieden ab, er unterscheidet sich vom Standpunkt der Kirchenväter höchstens darin, daß er im liturgischen Gesang nicht das Verständnis des Textes, sondern das Bewußtsein vom Sinn des Gesanges als die wichtigste Sache gelten läßt. Wirkliche ästhetische Fortschritte machten dagegen jene Theoretiker, die die praktische Verwertung weltlicher Stilelemente als Ausdruck eines neuen Weltbildes begrüßten und den Versuch unternahmen, von den [auf diesem fruchtbaren musikalischen Boden gezeugten neuen Formen und Gestaltungsmitteln eine vergleichende Beschreibung zu geben. Zu ihnen gehörte Franco von Köln (der nach neuesten Forschungen mit Franco von Paris identisch ist). Franco hat die infolge der Einbürgerung der polyphonen Konstruktionsweise notwendig gewordene Mensuralnotenschrift geschaffen. Ihm kann man nicht nur die Ausarbeitung der neuen, rhythmisch fixierten Notation, sondern auch die Begründung der später weiterentwikkelten rationalen Rhythmusordnung verdanken. Die weitere Verfeinerung der Mensuralnotenschrift, die Einführung der für die isorhythmische Gliederung geeigneten Taktangaben unternahm die Pariser Schule der Ars nova, vor allem Philippe de Vitry und Johannes de Muris. Zwar begnügten sich diese Männer noch mit der musiktheoretischen Schilderung und der Rechtfertigung der neuen Kunst, aber der ebenfalls aus Paris stammende Johannes de Grocheo, Verfasser des Traktats De musica (um 1300), stellt sich bereits eine größere Aufgabe: als Höhepunkt der mittelalterlichen Ästhetik arbeitet er das ästhetisch-soziologische System der neuen Formen aus. Die aristotelische Fundiertheit der Musiktheorie des Grocheo steht außer Zweifel; er revidierte den im Mittelalter alleinherrschenden Neupythagoreismus ausgesprochen, im Geiste des Aristoteles. Vor allem kehrte er zu den ursprünglichen akustischen Entdeckungen des Pythagoras zurück und erkannte an, daß sie die physikalischen Grundlagen der Musik richtig beleuchten. Er blieb aber der Musikmathematik abgeneigt und definierte die Musik folgendermaßen: »Sagen wir . . . , die Musik sei eine Kunst oder Wissenschaft von dem zahlbezogenen, harmonisch gefaßten Klange, füglicher zum Singen bestimmt.«78 Damit wies er jene früher verbreitete Definition zurück, wonach die Musik als eine ausschließlich quadriviale Wissenschaft galt. Aber er lehnte auch jedwede mystische Vorstellung über die kosmische Musik, die Harmonie der Sphären ab. »Auch kommt es dem Musiker nicht zu, den Gesang der Engel zu behandeln . . . Und wenn sie (die pythagoreisierenden Musiker, D. Z.) sagen, die Planeten singen, scheinen sie nicht zu wissen, was ein Klang i s t . . Die Elemente der Komposition, Text und Melodie, Begleitstimmen und Tenorpart werden von ihm typisch im Geist der aristotelischen Einheit von Materie—Form verbunden; in solchem Sinne spricht er vom Viella genannten

99 7*

Streichinstrument, daß es »virtuell«, »potentiell« auch die anderen Musikinstrumente enthält, so daß man darauf »alle musikalischen Formen feiner umreißen kann.« 80 Die realistische Haltung des Aristoteles erwacht zu neuem Leben in Grocheos wichtigstem theoretischen Bestreben, das in der Inventarisierung der einzelnen Kunstarten und ihrer auf neuer Grundlage vorgenommenen, auch soziologisch motivierten Systematisierung besteht. Das Erlebnis, das ihn zu dieser systematisierenden Arbeit anregte, ähnelt in vielem der Begeisterung des Othlohvon St. Emmeram, der die spezifische Tätigkeit einzelner Schichten der entwickelten Feudalgesellschaft sowie die durch Arbeitsteilung und Warenhandel zustande gebrachte »Harmonie« erkennen ließ. Grocheo ist jedoch jedwedem Analogisieren abgeneigt: ihn interessiert vor allem die »Arbeitsteilung« und der »Tausch« in der neuen künstlerischen Praxis. Auch für ihn ist die Vielfarbigkeit der W e l t ein großes Erlebnis: es spornt ihn an, die Mannigfaltigkeit der Gesellschaftsschichten mit der Verschiedenartigkeit der musikalischen Formen in Zusammenhang zu bringen. Für Grocheo wird w e sentlich, was Guido von Arezzo nur nebenbei erwähnt hatte: die nach Nationen und sozialen Gruppen differierenden Idiome der Tonkunst: »An Teilen der Musik gibt es mehrere und, den in den verschiedenen Staaten oder Landstrichen verschiedenen Gebräuchen, Mundarten oder Sprachen nach, verschiedene.« 81 Es ist möglich, daß die aristotelisch-scholastische Richtung der Pariser Universität die weltanschauliche Entwicklung des Grocheo beeinflußt hatte. Die gedanklichen Grundlagen seiner Musiktheorie entfalteten sich aber während des Studiums der gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse seiner Zeit als Ergebnis der Konfrontation von Klassenzugehörigkeit und musikalischer Praxis. Sein großangelegter Traktat hat vor allem in bezug auf die theoretische Gleichberechtigung der weltlichen Kunstarten epochale Bedeutung. Grocheo berichtet zwar mit wissenschaftlicher Genauigkeit über die Formen und Kunstarten der kirchlichen Musik, aber Riemann weist richtig darauf hin, daß er trotzdem der erste war, der — die Schranken der Tradition übertretend und niederreißend — seine musiktheoretische Arbeit nicht den Klerikern, sondern den Jugendlichen der neuen städtischen bürgerlichen Schicht widmete; deshalb »gibt er von der musica ecclesiastica nur so viel, wie der Laie davon wissen muß . . .« 82 Bei der Klassifizierung der einzelnen Typen der Musik lehnte Grocheo die pythagoreische Einteilung ab. Die drei Haupttypen sind nach ihm die —• vokale und instrumentale — weltliche Musik (musica civilis oder vulgaris), die mehrstimmige mensurale Musik (musica composita oder regularis), und endlich die kirchliche Musik (musica ecclesiastica). A m detailliertesten analysierte er die weltliche Musik. Zuerst betont er die allgemeinsten Funktionen der Arten dieses musikalischen Typs (sie sind »dazu angeordnet, daß durch ihre Vermittelung das angeborene Mißgeschick der Menschen gemildert werde«). 83 Danach befaßt er sich mit den einzelnen Arten, die er nach ihrer formalen Struktur und darauf hin untersucht, bei welchen Schichten sie behebt seien, von wem sie geschaffen und für wen sie reproduziert werden. Eine Unterart des Cantus, das chanson de geste charakterisiert er wie folgt: »Gestualis nennen wir denjenigen cantus, in welchem die Taten der Helden und die W e r k e IOO

der alten Väter rezitiert werden . . . Dieser Gesang muß den alten Leuten und den arbeitenden Bürgern und Niedriggestellten dargeboten werden, während sie von der gewohnten Arbeit ausruhen, damit, wenn sie von Elend und Unglück anderer gehört haben, sie das ihrige leichter ertragen und jeder seine Arbeit munterer angreife. Deswegen taugt dieser Gesang zur Erhaltung des ganzen Staates.«84 Der cantus coronatus »pflegt selbst von Königen und Edelleuten verfaßt und auch vor Königen und Landesfürsten gesungen zu werden, damit er deren Gemüter zu Kühnheit und Tapferkeit, Hochsinn und Freigebigkeit bewege, was alles zu einer guten Regierung dient.«85 Dem cantus versualis, dem eigentlichen Chanson, schrieb Grocheo im aristotelischen Sinne eine pädagogische Funktion zu: »Dieser Gesang muß den Jünglingen dargeboten werden, damit man sie nicht gänzlich im Müßiggang finde.«8® Der soziologische Gesichtspunkt kommt auch bei der Typologie der mit der Polyphonie identifizierbaren Mensuralmusik zur Geltung. Nach der formalen Beschreibung des Motetus können wir folgendes lesen: Der Motetus »darf nicht vor dem Volk dargeboten werden, weil es seine Feinheit nicht bemerkt, noch durch sein Anhören ergötzt wird, sondern man muß ihn vor den Gebildeten darbieten und denjenigen, welche die Feinheiten der Künste suchen«.87 Die Struktur des Hoketus ist Träger eines anderen sozialen Inhalts: »Dieser Gesang ist Cholerikern und Jünglingen wegen seiner Beweglichkeit und Schnelligkeit begehrenswert. Denn gleich und gleich sucht sich gern und wird bei seinesgleichen ergötzt.« 88 Diese Lehre von der Bedeutung der Kunstformen stellt somit einen lehrreichen Versuch dar zu analysieren, welche gesellschaftlichen Inhalte den formalen Strukturen zugrunde liegen. Wie nimmt aber Grocheo zu den Fragen der traditionellen Theorie der Tonleitern und Tonarten Stellung? An diesem Punkt bricht er bewußt sowohl mit der antiken wie auch mit der mittelalterlichen Tradition, weil er ahnt, daß die Inhalte der Musik seiner Zeit nicht mehr mit den abstrakten und allgemeinen Vorgängen des Klangraumes, den modalen Tonarten, in unmittelbare Verbindung gebracht werden können. Deshalb protestiert er aus ästhetischen Gründengegen jene Vorstellung, daß dem Tonus an und für sich eine bedeutungbestimmende Rolle zukomme. »Manche beschreiben den tonus, indem sie sagen, er sei eine Regel, welche über jeden Gesang in betreff des Endes urteilt. Diese scheinen aber vielfach fehlzugehen. Wenn sie nämlich sagen 'über jeden Gesang', scheinen sie den bürgerlichen und den gemessenen Gesang (die weltliche und die mensurale Musik, D. Z.) einzuschließen. Dieser Gesang aber geht vielleicht nicht vermittels der Regeln des tonus, noch wird er durch sie gemessen.«89 Grocheo erkennt, daß die neue weltliche Musik über die Rahmen der acht Töne hinauswächst. Sein entscheidendes Argument läßt zugleich den weltanschaulichen Inhalt des Problems zum Vorschein kommen. »Weiter, wenn sie sagen 'urteilt', scheinen sie fehlzugehen. Denn eine Regel urteilt nicht, außer wenn man übertragenerweise spricht. Sie ist aber dasjenige, vermittels dessen der Mensch urteilt, wie ein Mechaniker vermittels eines Werkzeuges arbeitet.«90 Hier vermochte es Grocheo, sich dem Verständnis des ästhetischen Wesens der neuen Strukturprinzipien weitgehend zu nähern. Mit seiner Erkenntnis, daß der Mensch die Maße aufstellt und urteilt, leistete er das Beste, was die mittelalterliche Musikästhetik überhaupt erreichen konnte. IOI

ANMERKUNGEN Vgl. Bence Szabolcsi: Régi muzsika kertje (Zweitausend Jahre Musikschaffen). Budapest 1957. S. 24. 2 Heinrich Besseler: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Potsdam 1937, S. 55. 3 Marôthy : A. a. O., S. 121. 4 Ebd., S. 297. 6 Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: Marx—Engels Werke. Bd. 7. Berlin 1964, S. 359—60. 'Marôthy: A. a. O., S. 272. 'Ebd., S. 319. 8 Bence Szabolcsi: Beuezetés a zenetorténetbe (Einführung in die Musikgeschichte). Budapest o. J., S. 119. s S. Antal Molnâr : Az eurôpai zene tôrtênete 175 o-ig (Die Geschichte der europäischen Musik bis 1750). Budapest 1920, S. 27. 10 »Die Tragödie bewirkt eine Täuschung von geschichtlichen Vorgängen und Affekten. Der Dichter, der diese hervorruft, erfüllt seine Aufgabe besser als der, dem dies nicht gelingt, und der Zuschauer, der ihr verfällt, ist gebildeter als der, der ihr nicht verfällt.« — Ästhetik der Antike. Berlin und Weimar 1964, S. 22. 1 1 Zitiert nach Georg Lukâcs: Die Eigenart des Ästhetischen. Neuwied 1963, Bd. II. S. 693. 12 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt von Alfred Hoffmann. Kempten und München 1914, S. 40-41. 1 3 S. Marôthy: A . a . O . , S. 167. 14 Ebd., S. 167 f. 1

16

E b d . , S . 167-168.

Ebd., S. 169. 1 7 Ebd., S. 168. 1 8 Ebd., S. 169. " V g l . Vilâgtôrténet (Weltgeschichte). Herausg. von N. A. Szidorova u. a., Budapest, 16

B d . III. S . 161-162.

2 0 Diese Feststellung hat jedoch nur für die Entwicklung des westlichen Christentums Gültigkeit. Das Scheitern der byzantinischen liturgischen Hymnenmusik (Hymnodie) und der Ikonenmalerei bezeugen, daß die orientalische Kirche den Anthropozentrismus der Folklore dauerhafter und wirksamer knebeln konnten als die katholische Kirche. Mit den steif hieratischen Satzungen der orientalischen Orthodoxie werden wir uns später, bei der Untersuchung der in der mittelalterlichen Musiktheorie enthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten befassen. 2 1 S. Marôthy: A. a. O., S. 300. 22 S. Pfrogner: Musik, S. 92-93. 23 Zitiert von Marôthy: A. a. O., S. 301. 24 Ebd., S. 300. 2 6 Diese Anfang 1840 geschriebene Studie des jungen Marx ging verloren, ihr Gedankengang ist uns aus der Rekonstruktion von M. Lifschitz bekannt. Vgl. M. Lifschitz: Karl Marx und die Ästhetik. Dresden i960, S. 60-68. 26 Vgl. Lifschitz: A. a. O., S. 67-68. 2 ' S. Lukacs: Die Eigenart des Ästhetischen. A. a. O. Bd. I. S. 389. 2 8 S. Marôthy: A. a. O., S. 249-250. 29 Ebd., S. 260. 3 0 Augustinus : Bekenntnisse. A . a . O . S. 197-198. 3 1 Ebd., S. 253. 32

E b d . , S. 252-253.

Ebd., S. 253. — Übrigens ist aus den Analysen von Marôthy ersichtlich, daß Augustin hier eigentlich zwischen zwei altchristlichen Stilen des Psalms schwankt. Selbst Augustin stellt das Prinzip des Athanasius von Alexandria (»der die Psalmen mit so mäßiger Modulation 33

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der Stimme vortragen ließ, daß der Vortrag mehr dem Sprechen als einem Gesang glich«, vgl. Augustin: Bekenntnisse. A. a. O . , S. 253) der Vortragsweise der ambrosianischen H y m n e orientalischen Ursprungs entgegen, die seines Erachtens von den durch die Arianer bedrängten Mailänder Gläubigen auf Veranlassung ihres Bischofs Ambrosius eingeführt wurde. Das Vorhandensein dieser Stildifferenz ändert trotzdem nichts an der Tatsache, daß Augustin in der Tat unschlüssig war und für seine Zweifel keine endgültige, überzeugende Antwort fand. Diese beiden vom musikgeschichtlichen Gesichtspunkt aus gegensätzlichen Stile charakterisieren in ästhetischer Hinsicht gemeinsam und gleichzeitig die christliche moralisierende Musikanschauung. 3 4 Schäfke: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen. S. 195. 3 6 Zitiert von Moser: A. a. O., S. 26. 3 6 S. Szabolcsi: Régi muzsika kertje. S. 29. 3 7 Ebd., S. 32-333 8 Augustinus: Bekenntnisse. A . a . O . , S. 253. 3 9 Zitiert nach Schäfke, a. a. O., S. 197. 4 0 Ebd., S. 198 und 200. 4 1 Zitiert nach Lukâcs: Die Eigenart des Ästhetischen. Band II. S. 752. 4 2 S. Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Köln 1963, S. 138. 4 3 Vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters. Bern und München 1962. 4 4 Nach Aribo Scholasticus sind die vier Tetrachorde die vier Phasen des Lebens Christi: bei Johannes de Muris symbolisieren die vier Notenlinien die vier Evangelisten; Ruppert von Deutz spricht darüber, daß, als es Gott von einer bestimmten Zahl von wahren Männern abhängig machte, Sodom zu begnadigen, er die Zahl allmählich »nach musikalischen Proportionen« verringerte. Zur »Inventarisierung« der mit dem »Weltenmonochord«, der astralen Musik usw. zusammenhängenden Ideenmystik ist die Geschichte der Ästhetik ganz und gar nicht berufen. 4 6 Z. B . Hammerstein in dem zitierten W e r k , oder Carl Johann Perl in seiner zur deutschen Übersetzung von De musica geschriebenen Einleitung (Aurelius Augustinus: Musik. Straßburg-Leipzig-Zürich 1937). 4 6 Besseler: A . a . O . , S. 26 f. 4 7 Ebd., S. 38. 4 8 Marôthy : A. a. O . , S. 688. 4 9 Systematisierung des Alkuin : I. modus (authentus protus): dorisch II. modus (plagius proti): hypodorisch III. modus (authentus deuterus): phrygisch IV. modus (plagius deuteri): hypophrygisch V. modus (authentus tritus): lydisch VI. modus (plagius triti): hypolydisch VII. modus (authentus tetrardus): mixolydisch VIII. modus (plagius tetrardi): hypomixolydisch 6 0 Marôthy : A. a. O., S. 781. 6 1 Vgl. Hugo R i e m a n n : Geschichte der Musiktheorie im IX—XIX. Jahrhundert. Zweite Auflage. Berlin o. J . , S. 359. 5 2 Ernest Ansermet: Les fondements de la musique dans la conscience humaine. Neufchâtel 1961, S. 5. 5 3 S. Schäfke: A. a. O . , 212-213. 64 Ebd., S. 221. 6 5 Vgl. Barna: Örök muzsika (Ewige Musik). Budapest 1959. S. 48. 6 6 Formell sind diese charakterlichen Unterschiede mit der Plazierung der kleinen Sekunden verbunden; das Intervall der Kleinen Sekunde fällt nämlich i m dorischen Modus zwischen die 2. und 3. bzw. die 6. und 7. Stufe; im lydischen Modus zwischen die 4. und 5. bzw. die 7 . und 8. Stufe; im mixolydischen Modus zwischen die 3. und 4. Stufe bzw. die 6. und 7. Stufe.

I 03

V

* 7 Barna: A . a. O., S. 43. — Es sei hier erwähnt, daß der Begriff des Tropus bei Guido mit dem angeblich durch Tuotilo eingeführten »Tropos« (übrigens byzantinischen Ursprungs), also der »Einschaltung« in den liturgischen Gesang nicht identisch ist. E r bedeutet eher eine allgemeine Wendung der Melodie, mitunter spielt er als das einfache S y n o n y m für Modus eine R o l l e . 58 Ebd., S. 43. 69 Ebd., S. 44. 60 Ebd., S. 3981 Ebd., S. 43. 62 Ebd., a. a. O., S. 39. 63 Ebd., S. 43-4464 Ebd., S. 45. 66 Ebd., S. 46. ««Ebd., S. 45. 67 P f r o g n e r : Musik. S. 120. 68 Die »Diaphonie« bedeutet hier nicht mehr »Dissonanz«, wie im Pythagoreismus, sondern die Organum-Gemeinschaft der »abgesonderten« Stimmen, die geradezu durch den W o h l klang charakterisiert wird. V g l . Barna: A . a. O., S. 47. «9 V g l . Antal Molnâr: A . a. O., S. 46. 70 Szabolcsi: A zene tôrténete (Die Geschichte der Musik). S. 83. 71 Besseler: A . a . O . , S. 97-98. 72 Assunto: A . a . O . , S. 1 1 8 . 73 Ebd., S. 1 1 8 . 74 Ebd., S. 1 5 3 . " E b d . , S. 1 5 3 . 78 S. Szabolcsi: Régi muzsika kertje. S. 38. 77 S. Szabolcsi: A zene tôrténete. S. 90. 78 Der Musiktraktat des Johannes de Grocheo. N a c h den Quellen neu herausgegeben, mit Übersetzung ins Deutsche von D r . Emst R o h l o f f . Leipzig 1943, S. 75. 79 Ebd., S. 76. 80 Ebd., S. 82. 81 Ebd., S. 76. 82 R i e m a n n : A . a. O., S. 207. 83 Ebd., S. 7984 Ebd., S. 79. 84 Ebd., S. 79. 88 Ebd., S. 80. 87 Ebd., S. 80. 88 Ebd., S. 87. 88 Ebd., S. 9 1 . 80 Ebd., S. 9 1 .

104

III. V O N

DER

RENAISSANCE

BIS Z U R

AUFKLÄRUNG

ZWISCHEN »GOTIK« U N D »RENAISSANCE«

Die Entdeckung bzw. Neuentdeckung des Antropozentrismus der Formen bleibt in der Musiktheorie des Grocheo dennoch nur ein einzelner aufleuchtender Einfall. Wohl war er kein Fremdkörper im System der wiedererwachten ästhetischen Bedeutungsordnung, aber er wurde doch nicht zum Kern einer bewußt durchdachten kunstphilosophischen Konzeption. Grocheo blieb eine einsame Erscheinung, er hatte weder Vorgänger noch Nachfolger. 1 Und doch: der aufleuchtende Gedanke warf ein Licht auf die Wege der Zukunft. »Der Mensch urteilt« — dies ist ein Grundprinzip, das über die Gotik hinausweist und die Renaissance antizipiert. Demi die Kunstauffassung der Renaissance erhebt auch auf dem Gebiet der Musik die dem Ausdruck der menschlichen Gehalte dienende, vom Menschen geschaffene Komposition zum wichtigsten Maß der Bewertung. Auch hier geht jedoch die Praxis der Theorie voran. Man darf auch von der Entdeckung des menschlichen Maßes, des Antropozentrismus der Formen behaupten, daß sie nicht aus den Büchern ins Leben gelangte, sondern umgekehrt, aus dem Prozeß des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in die Theorie. Die ersten Anzeichen des Anthropozentrismus konnten wir bereits in der musikalischen Praxis der Grocheo vorausgehenden Epoche beobachten. Denken wir an die ursprüngliche Rolle des cantus firmus in den polyphonen Strukturen des 10. bis zum 12. Jahrhunderts. Der Zustand des musikalischen »Materials«, nämlich die gegenüber den jeweiligen Gehalten scheinbar völlig indifferente »Technik«, trägt auch hier weltanschaulich-ethische Bedeutungen: der Materialzustand zeugte nolens volens vom Subjekt-Objekt-Verhältnis, vom Verhältnis zwischen subjektiver Innerlichkeit und gesellschaftlicher Objektivität. Man mag die gregorianische Grundmelodie noch so sehr subiectum nennen, dieses »Subjekt« des musikalischen Vorganges war eigentlich ein vorgefundener »Gegenstand«, ein über der Persönlichkeit stehendes, von der Persönlichkeit als Individuum unabhängiges und fremdes obiectum: cantus prius factus.2 Allerdings hatte die Polyphonie im Geiste der »gotischen« doppelten Wahrheit diese Gebundenheit des »Subjekts«, des wirklichen menschlichen und des musiktechnischen Subjekts, einigermaßen gelockert. Das Individuum spielte jedoch immer noch eine untergeordnete Rolle; es konnte das »Subjekt« immer noch nicht zum Ausdruck seiner selbst, des diesseitigen, wirklichen Menschen steigern und so es sich aneignen. Dieser Widerspruch von Aufbruch und Steckenbleiben kennzeichnet die Gotik im allgemeinen und nicht nur in bezug auf die musikalischen Formen. Mit Recht 105

nennt Hauser jenes Gleichgewicht »labil«, welches die gotische Kunst zwischen Lebensbejahung und Lebensverneinung, Innerlichkeit und D o g m a t i k hergestellt hat. 3 W a s die Formenwelt der Musik anbelangt, so ermöglicht es dieses Gleichg e w i c h t einerseits, daß i m m e r öfter »der Mensch urteile«, und z w a r nicht nur in der W a h l des M o d u s — w o r ü b e r G r o c h e o sprach — , sondern auch bei der W a h l des Genre-Charakters und der damit zusammenhängenden Konstruktionsprinzipien überhaupt. Infolge solcher »Urteile« w u r d e der f ü r stabil gehaltene cantus firmus erschüttert und das »Subjekt« allmählich v o n einer persönlichen, individualistischen Innerlichkeit erfüllt. Dies ist das ästhetische Geheimnis der in i m m e r größerer Z a h l auftauchenden neuen Formen und Genres, der M o d e n i m m e r neuere Techniken, v o m O r g a n u m bis zur isorhythmischen Motette des V i t r y , bis z u R o n d e a u und Ballade v o n Machaut. Andererseits verblieb jedoch auch die Ars n o v a innerhalb des R a h m e n s jenes statischen Weltbildes des Eriugena, der die Mehrstimmigkeit philosophisch verallgemeinerte, und des wiedererweckten Neupythagoreismus der Música Enchiriadis, welche die Harmonie als Konsonanz der Teile der W e l t und der Stimmen des O r g a n u m s interpretierte. Es ist in der T a t so, als sprenge Machaut das W e l t b i l d der Gotik bereits; der Gefühlsreichtum seines Liebeszyklus macht den g r o ß e n französischen W o r t - und Tondichter des späten Mittelalters z u m V o r b o t e n des Humanismus. Besseler irrte sich trotzdem nicht, als er in den französischen M o tetten der Ars-nova-Periode das der Formenwelt innewohnende Statische hervorh o b ; es erweckt, mit der neuartigen Organisiertheit der R h y t h m i k , der isorhythmischen Periodisierung, den elementaren Eindruck der E w i g k e i t und Unabänderlichk e i t der D i n g e . Sicherlich dürfte dies die Erklärung dafür sein, w a r u m die Ars n o v a auf d e m Gebiet der ästhetischen B e w u ß t h e i t jenen Schritt nach v o r n nicht getan hat, den sie i m Vergleich zur Ars antiqua praktisch-musiktechnisch gemacht hatte. Johannes de Muris, der bedeutendste Musiktheoretiker des 14. Jahrhunderts, ein persönlicher Freund und Mitarbeiter de Vitrys, der auch persönlich an den Verbesserungen zur R e f o r m der Notenschrift aktiv teilnahm und i m m e r ein Anhänger der Ars n o v a blieb, ist in seinen musikphilosophischen Erörterungen der letzte Vertreter der mittelalterlich-quadrivialen Auffassung der M u s i k ; seine allegorisierende M u s i k deutung beendet eine Periode, ohne jedoch bereits eine neue eröffnen z u können. D e n n die isolierte Initiative Grocheos vermochte nur jene Theorie weiterzuentwickeln, die sich auf die konsequent durchgeführte Vermenschlichung der musikalischen Formen stützen konnte und daneben eine neue weltanschauliche Grundlage für die ästhetische Verallgemeinerung schuf. Hierzu fehlte in der Pariser Ars n o v a - P e r i o d e n o c h als wichtigste Voraussetzung jene gesellschaftliche Klasse, die s o w o h l in wirtschaftlicher, w i e in kultureller Hinsicht gleichermaßen über die Feudalordnung hinauswuchs: das Bürgertum, der z u m Bewußtsein seiner eigenen Interessen erwachende, sich zur Klasse organisierende dritte Stand, der Schöpfer und T r ä g e r der neuzeitlichen »Renaissance« der Kultur.

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DIE HUMANISIERUNG DER FORMEN UND DIE PERSPEKTIVENLEHRE Die Weiterentwicklung erfolgt jedoch als ungleichmäßiger Prozeß, vor allem infolge der verschiedenen nationalen Bedingungen, unter denen sich der dritte Stand herausbildet. Innerhalb des Feudalismus entwickelte sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung und Warenproduktion zuerst in der Zeit v o m 14. bis zum 15. Jahrhundert in einzelnen Stadtstaaten Italiens, nachher in einzelnen Provinzen der Niederlande soweit, daß hierdurch die zur Herausbildung der kapitalistischen Verhältnisse notwendigen Bedingungen geschaffen wurden. Das Tempo der gleichzeitigen französischen Entwicklung war langsamer; der Hundertjährige Krieg, an dessen ersten Feldzügen übrigens noch Machaut teilnahm, hemmte die Entwicklung des Bürgertums. Auch für das Schicksal der Ars nova wurde diese Ungleichmäßigkeit bezeichnend. Was mit dem Tode Machauts auf französischem Boden wenigstens vorläufig unterbrochen wurde, das nahm in italienischen Stadtstaaten des 14. Jahrhunderts einen hohen Aufschwung, hauptsächlich in Florenz bzw. in der flämischen Kultur des 15. Jahrhunderts, für welche der vielseitige und enge Austausch mit der italienischen Renaissancebewegung charakteristisch ist. Es sei uns gestattet, in diesem erstaunlich weitverzweigten Komplex der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung nur an die Vermenschlichung der musikalischen Formen zu erinnern. Auf diesem Gebiet gelangte das italienische Trecento viel weiter als die Pariser Ars nova. In den Stadtstaaten des aufstrebenden Bürgertums begann eine wahre städtische Musikkultur aufzublühen, in der die Verweltlichung der musikalischen Formen mit der Wiedergeburt der einstigen Öffentlichkeit des musikalischen Lebens immer enger verknüpft war. Man denke an das Schicksal der Motette. Diese aus dem Discantus herausgewachsene mehrstimmige Form begann in der Pariser Ars antiqua, in der unter Perotinus aufblühenden Notre-DameSchule ihren Triumphzug, wandelte sich dann in der Ars nova ins Weltliche und wurde zur repräsentativen Kunstart der höfischen Musikkultur. Das urbanisierte Musikleben von Florenz begnügte sich nicht mehr mit der — trotz ihrer Isorhythmik — überaus komplizierten, für den gelegentlichen geselligen Gesang in nur geringem Maße brauchbaren Motette; die Landinosche »neue Kunst« leitet deshalb die weltliche Polyphonie auf den W e g der Vereinfachung und führt die 2 - 3 stimmigen, zu geselligem Musizieren besonders geeigneten, mitunter von Instrumenten begleiteten neuen gesanglichen Kunstarten, das Madrigal und die Ballata ein. Auf diesem W e g geht nun die im 15. Jahrhundert in Mode gekommene Frottola noch weiter. Bei ihr wird bereits eine Mehrstimmigkeit gepflegt, bei der die Oberstimme die führende Melodie singt, hingegen die übrigen Stimmen deren »Begleitung«, harmonische Stütze bleiben. Man steht hier am Anfang einer homophonen Struktur neuen Typs, die sich von der gregorianischen Einstimmigkeit und der Polyphonie gleichermaßen unterscheidet und bereits ihre Wirkung auf die polyphonen Strukturen ausübt: sie beginnt den polyphonen Charakter — also das simultane Nebeneinander der Stimmen — zu einem harmonischen Prozeß umzugestalten, der für »Wahlverwandtschaften«, für Anziehung und Abstoßung empfindlich ist.

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Das Neue besteht bei weitem nicht nur darin, daß hinter der »horizontalen« Melodik die »vertikale« Harmonie auftaucht; letztlich fehlte das vertikale Element prinzipiell selbst bei der »reinen« Polyphonie nicht ganz. Es handelt sich vielmehr darum, daß jetzt für die autonome Entfaltung der im Vertikalen schlummernden inneren Beweglichkeit der Weg freigemacht wurde. Bei Landino ist das Statische der Vitryschen isorhythmischen Motette im Verschwinden; was Machaut noch nicht bekannt war und ihm auch nicht bekannt sein konnte, der musikalische Formprozeß, wird immer mehr dynamisch, man kann sagen »geschichtlich«. Er wird geschichtlich und humanistisch. Denn von nun an vergegenwärtigt die Musik in immer geringerem Maße ein statisches Menschenbild, sondern sie spiegelt und gestaltet die Innerlichkeit des die engen Schranken des Ständewesens überwindenden, sich der unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten seiner eigenen Persönlichkeit bewußt werdenden Menschen. A m Ende des 14. Jahrhunderts spricht Gaffori darüber, daß sich das musikalische Zeitmaß dem Organismus des singenden Menschen, und zwar dem Pulsschlag des ruhig atmenden und ruhig singenden Menschen anpassen muß.4 Dieser »menschliche Maßstab« kommt auch in der sich mit Hilfe der neuartigen homophonen Mehrstimmigkeit herauskristallisierenden neuen Harmonik zum Ausdruck. Die neue harmonische Beweglichkeit setzt nämlich »Zielklänge«, ein auf Zentrum und Ruhepunkt Gerichtetsein voraus. Endlich wird die so zustande kommende Harmonieordnung homogen, perspektivisch-konzentrisch, ebenso wie die neue malerische Räumlichkeit nach der Albertischen Perspektivenlehre. Es ist fast symbolisch: Alberti ging von der Harmonielehre der Musiktheorie seiner Zeit aus, wenn er die Erbauer der Fassade des San Francesco in Rimini auf die Proportionen der Wandpfeiler aufmerksam machte, deren Abänderung — für ihn — das Musikalische der architektonischen Konstruktion zerstören würde; dagegen gelangt Gaffori auch auf Grund der von seinem Freund Leonardo gewonnenen Impulse beinahe dahin, die monozentrische und zugleich anthropozentrische Perspektivenlehre der Musik aufzuhellen. Zur endgültigen musiktheoretischen Formulierung kommt es zwar erst viel später: sie ist das Verdienst der Musiktheorie des 16. Jahrhunderts, vor allem des Gioseffo Zarlino. Das Prinzip der ut pictura musica,5 das Bündnis von Malerei und Musik, wurde aber durch die künstlerische Praxis bereits im 14. Jahrhundert zur Geltung gebracht. Denn die Rolle der Perspektivenlehre ist in beiden wesentlich dieselbe: sie ermöglicht im Geiste des Humanismus der Renaissance die Vergegenwärtigung des in der Wirklichkeit als in seiner eigenen Welt tätigen, Aktionen ausführenden und Passionen erleidenden Menschen, die künstlerische Darstellung der Innerlichkeit der auch in ihrer Diesseitigkeit gehaltvollen Persönlichkeit. Dieselbe Richtung der technischen Entwicklung läßt sich auch in den niederländischen Schulen des 15. Jahrhunderts verfolgen. Die tiefgründige und gedankenreiche Monographie Besselers über Bourdoti und Fauxbourdon, die die Anfänge der niederländischen! Musik und das Lebenswerk Dufays analysiert, erhellt mit einer ganzen Reihe von fachgemäßen Teilanalysen die Metamorphose der Gestaltungsprinzipien in der Kunst des großen flämischen Komponisten. Besseler weist z. B. nach, daß 108

um 1430 bei Dufay kontrapunktische Strukturen auftauchten, die beginnen, von der Liedform, dem Liedsatz® bestimmt zu werden. Besseler weist auch darauf hin, daß diese bei Dufay auftauchende neue Gestaltungsart das Prinzip der Vermenschlichung in sich trägt; »wo Liedformen in der Mehrstimmigkeit auftreten, deuten sie je nach ihrem künstlerischen Gewicht auf eine entsprechende Bewertung des Menschen«.7 Die hinter der Form verborgene humanistische Weltbetrachtung arbeitet nun das ganze musikalische Material durch. In diesem Zusammenhang beruft sich Besseler auf den Traktat Gafforis, der, wie wir sahen, das »natürliche« Maß für die R e gelung der musikalischen Zeit im Pulsschlag und Atmen des singenden Menschen erblickt, wie auch auf eine einschlägige Bemerkung Goethes, wonach das auf der Polarität von Dominante-Tonika basierende Klangsystem über ein ebensolches »menschliches Maß« — nach der Gesetzmäßigkeit des Herzbeutels mit Systole und Diastole — verfüge. 8 Selbstverständlich kommt diese homo mensura in der italienischen Ballata, Frottola, Villanella oder in der Dufayschen Liedmotette — also in den über die wesentlichen Momente der Liedhaftigkeit verfügenden neuen Formen — viel offensichtlicher zur Geltung als in der isorhythmischen Ars-nova-Motette, — von der frühen Polyphonie oder den einstimmigen Melodien der Gregorianik gar nicht zu reden. Daneben zeugt das hinter der neuen Formenwelt stehende »menschliche Maß« auch eine neue Harmonik. Die von der Ars nova übernommene liedhafte Melodik verbindet Dufay mit einem Kontrapunkt euphonischen Charakters, der bewußt auf die Genießbarkeit des Klanges achtet und unter Benutzung der durch Dunstable eingeführten Fauxbourdontechnik neben den überlieferten reinen Konsonanzen auch Terz- und Sextakkorde verwendet. Sowohl dieser neuartige »Vollklang« wie auch die italienische homophone Mehrstimmigkeit haben zur Folge, daß die Grundmelodie immer häufiger in die Oberstimme gelangt, die untere Stimme hingegen sich immer mehr der im heutigen Sinne aufgefaßten Baßfunktion nähert und auf solche Weise dem ganzen Werk den harmonischen Grund verlauf Vorschreibt. Hier steckt also der Keim der auf der Dynamik von Spannungen und Lösungen basierenden funktionellen tonalen Harmonik als Produkt der Vermenschlichung der Formen, von der wir erneut behaupten können, daß sie dem »singenden Menschen« entspricht. Besseler betont ausdrücklich: »Dominantische Tonalität, von Italien vorbereitet und in Dufays Bourdonharmonik zum erstenmal erkennbar, ist das Klangsystem der Humanitas. Es waltet nur dort, w o der Mensch als Mittelpunkt anerkannt wird.«9 Und das Humanisieren der Konstruktionsprinzipien involviert schließlich die radikale Veränderung der ästhetischen Rezeption der musikalischen Komposition. »Die Wendung besteht vor allem darin, daß nicht nur der einzelne Klang, sondern der Gesamtverlauf der Polyphonie auf den Hörer bezogen wird« — auf den Hörer, insofern sich die ästhetische Produktion des Liedes mit dessen Reproduktion in einer untrennbaren Einheit befindet: der Mensch singt oder nimmt am Gesang innerlich aktiv teil, er singt mit. 10 Der Hörer wird fähig, den dynamisch harmonischen Verlauf des Werkes zu übersehen und sich vielseitig in den harmonischen Vorgängen zu orientieren. Der Sinn für die Tonart wird jetzt zum Sinn für Harmonie, zur Fähig-

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keit, die funktional-tonalen Perspektiven des musikalischen Zeitverlaufs wahrzunehmen, was als Ergebnis und zugleich als Bedingung der adäquaten Rezeption der humanistischen und realistischen musikalischen Schöpfung angesehen werden kann. In der Tat: »Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente.« 11 Hinter der Vermenschlichung der Formen steht unzweifelhaft die Renaissance, die neuentstehende menschliche Welt, »die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte.« 12 Mit Recht ergibt sich also die Frage: Wie konnte die Musiktheorie der Renaissance diese einzigartige weltgeschichtliche Epoche der gesellschaftlichen und kulturellen Revolutionierung ästhetisch verallgemeinern? Was für eine »Wiedergeburt« bedeutet die Renaissance in der Geschichte der bewußten Musikauffassung, der Musikästhetik? Es ist nicht leicht, diese Frage zu beantworten. U m das später zu Erläuternde vorwegzunehmen : die eigentliche Renaissancezeit läßt auf dem Gebiet der Musikästhetik die Vorbedingungen des qualitativen Wandels viel langsamer reifen als in bezug auf die musikalische Praxis. Nicht deshalb, weil es »von ewig her« das Schicksal der Theorie wäre, der Praxis nur in einem gewissen Abstand folgen zu können. Letztlich holte die Theorie in jenen letzten Augenblicken der Renaissance, in der Krisenperiode •— die man mit dem Ausdruck des Kunsthistorikers Max Dvorak die Zeit des Manierismus zu nennen pflegt — die Entwicklung der Praxis geradezu ein, ja die Musikschriftsteller der Camerata bereiteten das erst in der Theorie vor, was dann die Monteverdische Oper in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch in der Praxis verwirklichte. Die Problematik der Musikästhetik der Renaissance hängt mit etwas anderem zusammen: sie spiegelt das bereits erwähnte Zur-Geltung-Kommen der ungleichmäßigen Entwicklung. Die Ungleichmäßigkeit beruht auch hier in erster Linie darauf, daß sich das Bürgertum, den nationalen Eigenarten entsprechend, auf verschiedene Art und Weise herausbildet; die Ungleichartigkeit ist daher in der Praxis der Kunst ebenso anzutreffen wie in der Kunsttheorie. Im weiteren Sinne bezieht sich dies auch auf die zeitlichen Unterschiede der Blüte der einzelnen Kunstzweige und -arten, vor allem auf die Problematik der sogenannten repräsentativen Kunst der Epoche, was man banal, jedoch nicht ganz unrichtig, so zu formulieren pflegte: die Renaissance wäre die Blütezeit der bildenden Künste, das »Barock« des 17. und 18. Jahrhunderts hingegen diejenige der Musik. All dies hängt natürlich auch mit den allgemeinen weltanschaulichen Richtungen der Epoche, dem Charakter der philosophischen Grundlagen der ästhetischen Verallgemeinerung zusammen.

TINCTORIS UND DIE THEORIE DES »EUPHONISCHEN KONTRAPUNKTES« Was die Eigenarten der niederländischen Entwicklung anbelangt, so muß man vor allem den Umstand beachten, daß bis zur siegreichen Beendigung des antifeudalen und nationalen Kampfes gegen den spanischen Absolutismus, also bis sich die bürgerliche 110

Revolution durchgesetzt hatte, der Aufstieg des Bürgertums in den Niederlanden infolge des Fehlens der nationalen Selbständigkeit und Einheit und infolge der nur lockeren wirtschaftlichen und nationalen Beziehungen zwischen den einzelnen Provinzen in bedeutendem Maße behindert wurde. Auch die Herrschaft der Burgunder hatte nur die Entfaltung der feudalen höfischen Kultur gefördert; später hingegen lieferten die Ideen der sich rasch verbreitenden Reformation die Ideologie für den Kampf gegen die spanische Feudalherrschaft. Nun steht die große Blütezeit der flämischen Polyphonie noch diesseits der Revolution, und das Wiedererwachen des religiösen Bedürfnisses macht verständlich, warum der Prozeß der Vermenschlichung der Formen bereits im Lebenswerk Dufays steckenblieb. Erneut berufen wir uns auf Besseler, der nachgewiesen hat, daß die auf der Dufayschen DominantTonikafolge basierende neue Harmonik geschichtlich eine isolierte Episode blieb, ein Vorbote, der zu früh kam. Das Jahrhundert stand im Zeichen des Kontrapunktes; die Bestrebungen, die das »menschliche Maß« verallgemeinern wollten, wurden für lange Zeit zurückgedrängt, weil »die überkommene Glaubensbindung sich als stärker erwies, sich sogar aus frischen Quellen verjüngte. Was im Bereich einer wirklichkeitsnahen, humanen Kunst errungen war, trat in den Dienst einer sinnbildlichtranszendenten Auffassung. Dieser Gegensatz hat Wesen und Schicksal der niederländischen Musik bestimmt.« 13 Es genügt hier, an Ockeghem oder an die erste Hälfte der Laufbahn des Josquin zu erinnern. Ein ähnliches Bild der widerspruchsvollen Entwicklung erschließt sich uns, wenn wir die Musikästhetik der flämischen Blütezeit untersuchen. Ihre Schlüsselfigur, überhaupt der bedeutendste Denker der Musiktheorie des 15. Jahrhunderts, ist Tinctoris, einer jener Vertreter niederländischer Musik, die nach ganz Italien ausschwärmten, sich dort die Kenntnisse des Neuen aneigneten und wieder heimkehrten. Bereits seine Lebensgeschichte zeigt die Hauptzüge seiner theoretischen Tätigkeit auf. U m 1475 übersiedelte er aus seiner flandrischen Heimat (wahrscheinlich aus Cambrai) nach Neapel und fertigte als Musikpädagoge eine großangelegte Zusammenfassung über die musikalischen Bewegungen seiner Zeit an. Seine theoretische Wirksamkeit ist in dieser Beziehung einheitlich: sie ist eine musiktheoretische Synthese über das der Reformation sich nähernde europäische Musikleben, dessen Grundschicht von den geschichtlichen Errungenschaften der niederländischen Polyphonie bestimmt war. Sein Ausgangspunkt ähnelt in vielem der aristotelischen Grundposition von Grocheo: im Mittelpunkt seines Interesses stand die Praxis der zeitgenössischen Musik. Es stimmt zwar, daß sein in Neapel angefertigtes »Lexikon«, der Complexus effectuum musices, noch einen Rückblick auf die Vergangenheit wirft und die bedeutendsten Lehren der spätantik-mittelalterlichen Musikphilosophie summiert. Trotzdem dürfte Schäfke mit jener Vermutung wohl kaum im Irrtum sein, wonach der Complexus nur ein »zu Studienzwecken angefertigtes Exzerpt« sei, eine bloße Zusammenfassung der entleerten Tradition. 14 Allerdings untersuchte Tinctoris die mathematischen Grundlagen der Musik auf pythagoreischer Basis. Der Betonung der Zahlenverhältnisse folgt jedoch überall als deren Schatten die Hervorhebung des Affektgehalts der Musik. Hammerstein lenkt die Aufmerksamkeit auf den wichtigen Umstand, daß Iii

die Musik im Complexus keine reine »Wissenschaft« mehr, sondern künstlerische Praxis bedeutet. »Mit der Jubilus-Ästhetik wird aber auch die Auffassung der Musik von ihrer ontologischen, auf den numerus gerichteten Struktur immer mehr auf ihre Affektseite gewendet. Diese Musikanschauung rückt mit dem Zurücktreten des quadrivialen Denkens immer mehr vor. Sie führt schließlich, ihres theozentrischen, auf die himmlische Liturgie gerichteten Sinnes entkleidet, zu einer mehr anthropozentrischen Musik als Ausdruck von Affekten, zur Musik als Sprache im Rahmen der sprachbezogenen artes des Triviums.« 15 Noch bewußter tritt die Absicht einer Verbindung mit der aristotelischen Ästhetik und das Bestreben zur Erfassung der Ergebnisse der zeitgenössischen Musikkultur in den reiferen Werken von Tinctoris in Erscheinung. Annahme und Bestätigung der zeitgenössischen Musik werden darin vom Ballast des Moralisierens und der aus der Gegenwart in die Vergangenheit flüchtenden Resignation völlig befreit. Die ästhetische Bewußtheit des Tinctoris entstammt dem im wahrsten Sinne des Wortes aufgefaßten Selbstbewußtsein, der Bejahung der Gegenwart. Im Vorwort seines über den Kontrapunkt geschriebenen Hauptwerkes (1477) schreibt er mit Verachtung über »ältere Kantilenensätze, die er in handschriftlicher Fassung kennenlernte und als unerträglich für das Ohr verwirft«. 18 Seiner Meinung nach wird erst seit vierzig Jahren eine für den Gebildeten (eruditus) hörenswerte Musik komponiert, die in der Tat Gegenstand des Genusses sein kann. Unmißverständlich weist hier Tinctoris auf die Mitte der dreißiger Jahre des Jahrhunderts hin: auf die bedeutende Episode des euphonischen Kontrapunkts. Ohne Zweifel möchte seine Musiktheorie in dieser Beziehung die epochale Leistung der mit dem Namen Dufays verbundenen flämischen Schule gedanklich verallgemeinern. Wir haben es also auch jetzt mit Kodifikation zu tun. Allerdings kümmert sich diese systematisierende Arbeit bereits gar nicht mehr um die gregorianische Formenwelt. Tinctoris' ganzes Streben ist auf die Schilderung und Systematisierung der neuen Konstruktionsprinzipien der reich aufblühenden Mehrstimmigkeit gerichtet. Wir sahen, warum und wie er die Musik verachtet, die vor Dufay entstanden war. Die bewußte Bestätigung der niederländischen Vokalpolyphonie verleiht nun nicht nur dem Schlagwort der »neuen Kunst« — Tinctoris identifiziert die »Ars nova« mit der Musik der letzten vierzig Jahre (ungefähr zwischen 1437 und 1477) — einen neuen Sinn, sondern auch dem Begriff des aus der ursprünglichen Gregorianik stammenden cantus firmus: obwohl das »Subjekt« der Komposition auch bei ihm irgendeine vorgefundene, der Gregorianik oder einer anderen musikalischen Quelle entliehene Folge ist, bedeutet jedoch die eigentliche Komposition als Ganzes in einem neuartigen Sinne eine »res facta«: es ist ein vom Menschen »gemachtes«, durch den Komponisten »ausgearbeitetes« Ding, dessen sämtliche Stimmen nach den Regeln des Kontrapunktes »angefertigt« wurden. Nur eine solche »res facta«, der aus dem Bündnis zwischen menschlicher Vernunft und menschlicher Findigkeit entstandene Kontrapunkt, kann einen wahren Kunstgenuß verschaffen. Hier können wir aber eine paradoxe Erscheinung beobachten: erneut tritt unter der Hülle des aristotelischen Systems die Theorie des Numerus-Charakter der Musik, die pythagoreische Musikmathematik hervor. Im Vordergrund der theoreti-

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sehen Untersuchungen des Tinctoris steht die arithmetische Proportionslehre. Dieses Rätsel wird jedoch sofort gelöst, wenn wir an unsere mit dem historischen Werdegang des mittelalterlichen Neupythagoreismus verbundenen Folgerungen denken. W i r konnten bereits bei Eriugena und der Musica Enchiriadis beobachten, daß sich das pythagoreisierende Herangehen an die Musik nach einer jeden großen Stilwende mit erneuertem ästhetischem Gehalt meldet. Erinnert sei an die Deutung des Begriffs von der »Harmonie« im Sinne Eriugenas. Auch bei Tinctoris ist von einer solchen Umdeutung die Rede. Es ist vor allem beachtenswert, daß die Musikmathematik für Tinctoris nur ein Mittel zu exakten Forschungen, oder mit dem bekannten Ausdruck des Grocheo, ein »Werkzeug« ist, mit dessen Hilfe der Mensch »urteilt«, und das also dazu dient, die Prinzipien des inneren musikalischen Aufbaus der Komposition erfassen zu können. Offensichtlich wollte Tinctoris die neupythagoreische Konzeption von den im Verlauf der Jahrhunderte angehäuften mystischen Vorstellungen freimachen, u m sie besser als ein nützliches Hilfsmittel zur Erkenntnis und Beschreibung der komplizierten Konstruktionsprinzipien gebrauchen zu können. Es ist charakteristisch, daß er ähnlich wie Grocheo die mit der musica mundana verbundenen Phantasmagorien ebenfalls entschieden ablehnt und sich noch eindeutiger als Aristoteles und Aristoxenos zu dem Prinzip bekennt, das dann in der späteren Entwicklung der Musikästhetik immer wieder zum Losungswort der Erneuerung wird: es gibt nur eine hörbare, menschlich-sinnlich rezipierbare Musik. U n d gerade hier wird offensichtlich, worin die epochale Neuerung in der Ästhetik des Tinctoris bestand. Die »Numerus-Seite« der Musik wird jetzt immer mehr zur »numerischen Grundlage«, welche die »Affektus-Seite« nicht festlegt, sondern eher behilflich ist, sie, die bisher mehr oder weniger im Dunkeln belassen w o r den war, herauszuheben. Mit anderen Worten, die Kontrapunkt-Theorie des Tinctoris führt — trotz ihres arithmetisierenden Rationalismus — nicht zum einseitig spekulativen Intellektualismus, zum Programm der asketischen oder rationalen Ablehnung der realen künstlerischen Praxis. Neben der pythagoreischen »Ratio« meldet sich als mindestens gleichrangiger Partner der aristotelische »Sensus«. Das Bewußtwerden des spezifisch sinnlichen Charakters der musikalischen Rezeption ermöglicht es, die theoretischen Klippen der Musikmathematik zu vermeiden. Dieser allgemeine ästhetische Standpunkt meldet sich in der Bestätigung der v o kalpolyphonischen »Neuen Musik« in einer konkreten Form. Es gelang Tinctoris, den euphonischen Charakter des Dufayschen Kontrapunktes auch ästhetisch z u m Bewußtsein zu bringen. Vor allem erkennt er, daß in dieser Kunst die Konsonanz eine viel größere Bedeutung hat; seine in Verbindung mit der alten Musik gemachten Vorbehalte beanstanden unter anderem auch die Primitivität der Konsonanzauffassung. 17 An diesem Punkte zeichnet sich natürlich von neuem das alte Fragezeichen der antiken Polemik der Kanoniker und Harmoniker ab: nach welchen Kriterien entscheidet man, wo die Grenze zwischen Konsonanz und Dissonanz liegt? Tinctoris, der Systematiker des euphonischen Kontrapunktes, zögert nicht einen Augenblick mit der Antwort: nur die delectatio naturalis, die sich aus der menschlichen Natur ergebende sinnliche Freude des ästhetischen Genusses darf als Kriterium gelten. In113

8 Zoltai: Ethos und Affekt

folgedessen kann nicht durch abstrakte Spekulation, sondern nur von der mit ästhetischen Gehalten erfüllten Subjektivität entschieden werden, welcher Akkord »genußreich«, also konsonant ist und welcher nicht, welcher also einer »Auflösung« bedarf, um welchen Grad der Dissonanz es sich handelt, usw. Dieser »harmonische« Zweig der Musiktheorie der Renaissance wurde bald mit der neuen Intervalltheorie der »Kanoniker« verflochten. Z. B. modifiziert Ramis de Pareja 1482 auf Grund neuartiger Berechnunger jene uralte pythagoreische These, wonach die große Terz eine »Diaphonie« (Dissonanz) wäre; Ramis führt die große Terz auf das Verhältnis 4 : 5, die kleine Terz auf das Verhältnis 5 : 6 zurück, und er rehabilitiert auf diese Weise die noch am Ende des 13. Jahrhunderts (z. B. bei Odington) für »unvollkommen« gehaltene Terz-Konsonanz vom Gesichtspunkt der harmonischen Kompositionsweise aus; er verschafft ihr Gleichrangigkeit. Der Zeitpunkt der kanonischen »Selbstkritik« ist keineswegs zufällig. Das entscheidende Argument wurde bereits von Tinctoris geliefert, indem er, den aristotelisch-aristoxenischen Standpunkt erneuernd, den Kunstgenuß zum Schiedsrichter des alten Streites machte. Auf dieser Grundlage gewannen neben den alten Konsonanzen—der Oktave, der Quinte und der Quarte — auch die Terz und die Sext Bürgerrecht; auf dieser Grundlage kam im 16. Jahrhundert die Theorie über den Terzenaufbau des Dreiklanges zustande. All dies muß natürlich auch die letzten Spuren des Augustinischen Moralisierens aus der Musiktheorie verschwinden lassen. Wir sahen, daß das Moralisieren zwar einen gewissen Spielraum für den musikalischen Ausdruck der menschlichen Subjektivität, der Innerlichkeit geschaffen hat, daß zugleich jedoch die Grenzen dieses Spielraumes durch die transzendente Weltanschauung und religiöse Lebensgestimmtheit mit asketischer Strenge abgesteckt wurden. Selbst Tinctoris verleugnet diese religiöse Lebensanschauung nicht; nichts stand ihm ferner als der philosophische Atheismus. Aber dennoch: die pythagoreische Methode jener Art, die er für die Schilderung der den Gegenstand des Kunstgenusses bildenden kontrapunktischen Kompositionen ausarbeitete, verzichtet auf jedwedes religiöse Moralisieren und kann daher gleichzeitig mit der Rehabilitierung der Berechtigung des Genusses die veralteten Regeln der Konsonanzauffassung modifizieren. Das Erfordernis der Euphonie erneuert letztlich das ästhetische Bedeutungsgefüge. Wir konnten bereits bei Grocheo beobachten, daß die Abgrenzung des strukturellen Charakters der modalen Tonarten die einfache Übernahme des antiken Prinzips, wonach den Tonleitern ethische Gehalte unmittelbar innewohnen, nicht zuließ. Das ist völlig verständlich; wie bekannt, zeigen die modalen Tonarten sowie die Tonarten der sich später aus ihnen ergebenden, auf Maggiore—Minore-Polarität basierenden Tonalität die Bewegungsrichtungen des musikalischen Raumes auf einer so hohen Stufe der Abstraktion an, daß der ästhetisch konkrete Gehalt des musikalischen Prozesses auf Grund der Kenntnis der Tonart allein nicht mehr erfaßt werden kann. Gerade deshalb hatte Grocheo durch die Erschließung der musikalischen Genres und der von ihnen befriedigten gesellschaftlich-kulturellen Bedürfnisse das traditionelle antike Bedeutungssystem der Tonleitern ersetzt. Noch entschlossener betrat Tinctoris den

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Weg der Aufhebung der Ethoslehre. Er zog nämlich mit begrifflicher Klarheit jene weitreichende Schlußfolgerung, daß man die Ethosgehalte nicht ausschließlich mit Modi oder Toni verbinden kann, da Stil, Vortragsweise und Instrumentation des Werkes sowie das auch individuell getönte Temperament des empfangenden Subjekts zur Auskristallisierung verschiedener Charaktere auch innerhalb derselben Tonart führen kann. Hierdurch gewann der menschliche Gehalt der musikalischen Formen einen — sowohl von der antiken wie der mittelalterlichen Auffassung abweichenden — neuen Sinn. Die Rehabilitation des Genußprinzips wurde jetzt mit der ästhetischen Anerkennung der in den Affekten aufgelösten Gehalte verbunden. Allmählich wurde hinter den neuen Gestaltungsprinzipien der einzige Mittelpunkt und Träger der künstlerischen Darstellung, der Mensch sichtbar — der Mensch mit seinen wirklichen Affekten, Temperamenten, mit seiner diesseitigen Persönlichkeit. Es erscheint der eigentliche musikalische Inhalt: die individuelle Innerlichkeit des autonomen, selbsttätigen Menschen. Doch tritt auch hier die bereits bekannte Widersprüchlichkeit und Ungleichmäßigkeit des Vermenschlichungsprozesses der Formen auf. Die Schilderung des euphonischen Charakters des DufayschenKontrapunkts ermöglichte Tinctoris zwar die Formulierung des ästhetischen Prinzips des Anthropozentrismus in »chiffrierter« musiktheoretischer Form, doch wirft die früher beobachtete vorübergehende Verdrängung der Dufaysehen Konstuktionsprinzipien einen gewissen Schatten auf die hier zustande kommenden ästhetischen Lösungen. Die Analysen Besselers beweisen überzeugend, warum das Auftreten des »Liedsatzes« in der Vokalpolyphonie der Niederländer notwendigerweise nur eine Episode blieb. Dieser episodenhafte Charakter spiegelt sich in der theoretischen Systematisierung des Tinctoris. Es kann natürlich nicht mehr davon die Rede sein,daß die Ästhetik,die das Recht des Kunstgenusses anerkennt, zum Psalmodieren im frühen Mittelalter zurückkehre und die »natürliche« Gestaltungsweise des »singenden Menschen«, der von Gaffori idealisiert wurde, wieder von der Threnodie, von der »widernatürlichen« Manier des »weinenden Menschen« verdrängt wird. Das in den italienischen Stadtstaaten des 14.—15. Jahrhunderts aussterbende religiöse Bedürfnis aber erlebte in den Niederlanden — die sich auf ihre bürgerliche Revolution vorbereiteten — geradezu seine Neugeburt, und dieser U m stand bestimmte nicht nur das Gesicht der musikalischen Praxis, sondern auch das der Musiktheorie des Tinctoris. Kurz gesagt: Tinctoris bewertet die Humanisierungserscheinungen der musikalischen Formen verschiedenartig. Durchgehend bejaht er das Recht des Tonsetzers zum Komponieren, zum Konstruieren im wahren Sinne des Wortes, und er lobt daher in der res facta das Wunder menschlicher Vernunft und Erfindung als »höchste Kunst«. Zugleich hält er den »Liedsatz« für minderwertiger; seiner Ansicht nach ist die Schönheit des Musikwerkes um so lobenswerter, je komplizierter die Konstruktion der Kontrapunkt-Bewegung der Stimmen ist. Daraus zieht Besseler den richtigen Schluß auf die hier versteckten Überbleibsel der mittelalterlichen gotischen Auffassung: »Das Reich der Musik ist eine Welt für sich, deren Merkmal geradezu in ihrer Schwierigkeit und Naturferne hegt.« . . . »Daß bei Tinctoris keine Liedmelodik vorkommt, sondern einzig und allein die nach dem Prinzip der varietas 18 geschaf115

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fene Figuralmusik von Motetten, Messen und Chansons, beruht also nicht auf Zufall, sondern auf künstlerisch-lehrhafter Absicht.«19 Hier spuken die Geister der nicht konsequent bewältigten Vergangenheit, und jene alten Vorstellungen leben weiter, wonach die Musik eine Geheimlehre sei. Wenn Tinctoris in der Art der Kanon-Notation z. B. eine Anweisung sieht, »die den Willen des Komponisten nicht unmittelbar ausdrückt, sondern ihn in ein gewisses Dunkel gehüllt sein läßt«20, so formuliert er damit ein wesentliches Prinzip der OckeghemSchule. Diese Idealisierung des Rätselhaften, des übermäßig Komplizierten spiegelt jedoch zugleich auch eine gewisse allegorisierende Anschauungsweise wider; sie verfolgt eine Tendenz, die zu dem soeben behandelten Neuen, dem Genußcharakter, der humanen Affektivität in kaum zu bemäntelndem Widerspruch steht. Und daß hier nicht von persönlicher Beschränktheit, nicht von »aristokratischer« Befangenheit die Rede ist, sondern von der in der niederländischen »Renaissance« selbst enthaltenenWidersprüchlichkeit, das wird ¡durch das Lebenswerk des Josquin Desprez, der größten Gestalt der flämischen Blütezeit, hervorragend veranschaulicht. Es ist eine unzweifelhafte musikgeschichtliche Tatsache, daß dieser »Columbus der Neuen Welt der Musik« 21 eine wirkliche Wende in der Entwicklungsgeschichte des niederländischen Kontrapunkts repräsentiert. Bis dahin hatte man mit Ockeghem in der Musik eine fast mathematische Wissenschaft gesehen, deren den kosmischen Gesetzmäßigkeiten analoge Konstruktionsprinzipien sich nur durch die ratio, den spekulativen Scharfsinn lösen lassen. Nun beginnt mit Josquin die Affekt-Musik, die bewußte musikalische Gestaltung der Welt der Innerlichkeit, — um den Ausdruck von Wilhelm Ehmann zu gebrauchen: jene Art von Ich-Musik, die wir oben von der Musikauffassung des Mittelalters abgegrenzt und als den musikalischen Ausdruck der individuellen Subjektivität bezeichnet hatten. Sein Schüler, Adrian Petit Coclico, erwähnt ebenfalls in diesem Sinne den ästhetischen und pädagogischen Grundsatz des großen flämischen Meisters: »Ich möchte der Jugend in fester Überzeugung stets von neuem ans Herz legen, daß sie an den Schriften der mathematisierenden Musiker nicht lange hängen bleibe . . Im Gegenteil: die Jugendlichen mögen all ihre geistige Kraft daran setzen, daß sie erlernen, verziert und den Text verständig aussprechend zu singen «22 Es besteht kein Zweifel: dies ist das Ideal des singenden Menschen, das Josquin in Italien der italienischen Theorie und Praxis entnehmen konnte. In dieser Beziehung ist Josquin nicht mehr der verspätete Vertreter des spätgotischen Flamboyantstils, wie sein großer Vorgänger Ockeghem, sondern 'der Vorbereiter des Innerlichkeitkultes der neuen protestantischen Religiosität. Es mag wohl kein Zufall sein, daß Martin Luther, der Initiator der kirchlichen Reformation, der mit der Schöpfung des neuen, protestantischen Chorals seinen Namen auch in die Musikgeschichte verankert hat, sich mit höchster Anerkennung über Josquin geäußert hat: »Josquin ist der Noten Meister, die haben's machen müssen, wie er gewollt — die andern Sangmeister tun, wie's die Noten wollen.«23 Doch diese späte niederländische »Renaissance« ist nicht frei von den durch Besseler charakterisierten Widersprüchen der flämischen Musik; hier hat der die autonome Würde der Persönlichkeit anerkennende Humanismus die Formenwelt der Vokal116

polyphonie theoretisch nicht vermenschlicht. Selbst Coclico ist ein Adept, also ein »eingeweihter« Anhänger von Josquin; die von Coclico aufgezeichnete Konzeption der nur Wenigen vorbehaltenen Musik, der musica reservata, zeugt davon, daß die Josquinsche Wende trotz allem nicht zu einer auch theoretisch radikalen Abrechnung mit jener Musikauffassung geführt hat, die nur die rational erfaßbare komplizierte Komposition idealisiert.

DIE RANGORDNUNG DER KÜNSTE Der entscheidende Wandel wird von jenen durchgeführt, die als das »gelobte Land« die aus der Humanisierung der Formen entsprossenen neuen Inhalte erblicken; die über genügend gedankliche Kraft und weltanschauliche Klarsicht verfügen, um die Schwelle zwischen Musiktheorie und Musikästhetik überschreiten zu können. Die Lösung der musikästhetischen »Chiffrierung«, das ästhetische Bewußtmachen ist unzweifelhaft das Verdienst der gegen Ende des 15. Jahrhunderts auftretenden italienischen Theoretiker, in erster Linie der Musikschriftsteller in der Camerata zu Florenz. Sie waren die ersten, die die humanistische und realistische Grundkonzeption der neuen Ästhetik auf der Ebene der Bewußtheit zu verkünden und auszuarbeiten vermochten. Auch in diesem Fall überwand das musikästhetische Denken nicht nur aus sich selbst schöpfend die eigene Vergangenheit. Florenz war der wichtigste gesellschaftliche und kulturelle Anziehungspunkt der italienischen Renaissance, und man könnte sich die humanistische Weltanschauung der Camerata ohne die Dichtkunst von Dante und Petrarca, ohne die eine neue malerische Räumlichkeit entdeckenden Werke von Giotto und Leonardo, ohne die von Cosimo Medici gegründete neuplatonische Akademie, ohne den philologischen Kritizismus von Lorenzo di Valla und Bruni wohl kaum vorstellen. Die einzigartige Blüte der Renaissancekultur hatte einen einheitlichen und gesunden Kreislauf im geistigen Leben zur Folge, sie riß die chinesischen Mauern zwischen den kulturellen Teilgebieten nieder und beschleunigte auch hierdurch die Einbürgerung der neuen Kunstauffassung in außerordentlichem Maße. Die neue Kunstbetrachtung setzte zugleich auch eine neue Weltanschauung voraus. Sie basierte auf der Verkündung der Freiheitsrechte des Individuums, das sich aus dem Gefängnis des feudalen Ständewesens befreien wollte; sie stellte der mittelalterlichen schuldbewußten Demut die weltanschaulich rehabilitierte Lebensfreude, die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit entgegen. Unzweifelhaft ist all dies ein Teil der antifeudalen Ideologie, welche die Interessen der aufstrebenden und sich zur Klasse organisierenden bürgerlichen Schichten zum Ausdruck brachte und durch das Prisma dieses Klasseninteresses die Krise der feudalen Ordnung und die Anfangsstufe der kapitalistischen Gesellschaft spiegelte. Der neue bürgerliche Humanismus, wie dies Ä. Heller in ihrem Buch über das Menschenideal der Renaissance hervorhebt, entdeckte nicht einfach den Menschen, sondern die Diesseitigkeit des Menschen, er erneuerte nicht einfach die Antike, sondern die sittliche Autonomie der Antike. 24 117

Was ist der Mensch? Vincenzo Galilei, der Musiktheoretiker gab auf diese Frage dieselbe Antwort wie Leonardo oder Pico della Mirandola: ein sein eigenes Schicksal und sich selbst erschaffendes Wesen. Monteverdi formte in seinen Musikdramen mit der Bewußtheit desselben »Ecce homo« seine Gestalten und ihre Schicksale. Dessenungeachtet beeinflußte die Ungleichheit der Entwicklung die Ausgestaltung der Ästhetik der italienischen Renaissance in einer spezifischen Richtung. Zuerst müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß der Prozeß der bürgerlichen Entwicklung gegen Ende des 16. Jahrhunderts in den meisten italienischen Stadtstaaten steckenblieb. Nicht zuletzt wurde das Fehlen eines einheitlichen nationalen Marktes zum Hindernis; die Zersplitterung hatte die bürgerÜcheEntwicklung sowohl politisch als auch wirtschaftlich auf längere Zeit zurückgeworfen. Dies ist der letzte Grund dafür, daß sich die Krisenerscheinungen bereits vom ausgehenden 15. Jahrhundert an vermehrten. Der wirtschaftliche Verfall der Stadtstaaten erschütterte nicht nur ihre politische Unabhängigkeit, sondern riß auch ihre Kunst in eine sich immer mehr vertiefende Krise. Man denke an das sich tragisch verfinsternde Weltbild und die dramatische Kompositionsmethode des alten Michelangelo, an die sich in der reifen venezianischen Malerei meldenden Symptome der In-Sich-Gekehrtheit, an jene »Musikalität« der Manieristen, die nicht mehr Maß und Proportion der Komposition, wie sie Alberti und Leonardo forderten, zur Grundlage nehmen, sondern das »maßlose« Vordringen von Farbe und Licht. Unter dem Joch des spanischen Feudalsystems zur Zeit der Reformation erfüllte sich dann das geschichtliche Schicksal der italienischen Renaissance. Die Krisenepoche des Manierismus wurde durch das sogenannte Barock abgelöst; die Weiterentwicklung des Renaissance-Humanismus wurde durch die Konservierung der Feudalverhältnisse, durch das auf dem Boden der »Refeudalisierung« entstehende neue religiöse Bedürfnis, für lange Zeit gehemmt, bzw. auf andere Wege abgedrängt. In diesem höchst widerspruchsvollen Vorgang wurde die Kompliziertheit noch durch jene Tatsache gesteigert, daß das vorhin erwähnte Sichfinden der Musikästhetik der Renaissance eine ausgesprochen späte Entwicklung der Krisenperiode war. Wir möchten hier als Kontrast auf die musikästhetische Tätigkeit von Gaffori hinweisen, von der bereits die Rede war. Gaffori war eine typische Erscheinung der Blütezeit der Renaissance, er stand nicht nur mit dem in Neapel tätigen Tinctoris in freundschaftlicher Verbindung, sondern — während seines Aufenthalts in Mailand — auch mit Leonardo da Vinci. Wir sahen, wie der »auf natürliche Art« singende Mensch für die bahnbrechende Formulierung von gewissen Gesetzmäßigkeiten der Rhythmengliederung und der auch vertikalorientierten, dynamisierten Harmonik das Modell abgab. Aber trotz allem, auch bei ihm sprengt die Musiktheorie nicht die Hülle der »chiffrierten« Form. Eine philosophische Fundierung, wie sie in bezug auf die bildenden Künste von Leonardo skizziert wurde, ist für den Musiktheoretiker Gaffori letzten Endes eine terra incognita. Deshalb müssen wir die Erklärung dafür finden, daß die beiden in der wirklichen Praxis miteinander in ununterbrochener Wechselwirkung stehenden Schwesternkünste — Malerei und Musik — die Stufe des ästhetischen Selbstbewußtseins in ganz verschiedenem Tempo erreichten. 118

Einer der wesentlichen Gründe für diese Ungleichartigkeit dürfte allem Anschein nach in den weltanschaulichen Grundlagen der Ästhetik der Renaissance verborgen sein. Im Zusammenhang mit Aristoteles konnten wir bereits beobachten, daß die Mimesis im antiken Sinne des Wortes überhaupt nicht die Nachahmung der Natur, sondern die Veranschaulichung der verschiedenen menschlichen Ethosarten bezweckt. Das i m aristotelischen Sinne aufgefaßte, also für den Menschen als »Gesellschaftswesen« (zoon politikon) charakteristische Ethos steht nun mit dem, was man in der klassischen Antike »Natur« nannte, in einem eigenartigen Verhältnis. »Also entstehen die sittlichen Vorzüge« — so heißt es in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles — »in uns weder mit Naturzwang noch gegen die Natur . . ,«25 Im Wesen bezieht sich dasselbe auch auf die musikalisch nachgeahmten Ethosarten; auch in ihnen spiegelte sich nicht die Natur-Seite des menschlichen Wesens, namentlich seine physiologischen oder psychischen Bestimmtheiten, sondern die spezifisch — v o m Gesichtspunkt einer gegebenen Polisgemeinschaft aus — bewußt gemachten Züge des ausdrücklich für das »gesellschaftliche« Wesen charakteristischen, polisbürgerlichen Seins. Nun, die Ästhetik der Renaissance erneuert die platonisch-aristotelische Mimesistheorie. Die Übernahme des Erbes ist jedoch auch diesmal mit einer erneuten Interpretation und Umarbeitung verflochten, die von den spezifischen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Klasseninteressen gefordert werden. Leonardo identifiziert die Mimesis eindeutig mit der Nachahmung der Natur. Die U m deutung der Antike ist unzweifelhaft. Aristoteles stellte in einem wesentlich anderen Sinne die Forderung an sämtliche Kunstzweige und Kunstarten, Nachahmung zu sein. Zugleich ist sicher, daß sich die Renaissance dieser stillschweigenden Korrektur nicht bewußt werden konnte. Das Prinzip der Nachahmung der Natur richtet sich nämlich — wenigstens in der progressiven Phase der bürgerlichen Ästhetik — entschieden gegen das feudale Mittelalter und dessen transzendente Lebensorientierung, gegen die religiöse Auffassung von Leben und Kunst. Die Natur ist hier nicht einfach das v o m menschlichen Sein unabhängige natürliche Milieu, sie ist nicht irgendein dem Endziel des menschlichen Lebens fremdes, v o m Gesichtspunkt des menschlichen Glücks, des »Heils« aus indifferentes oder gar feindliches Gebiet, als welches sie im Mitteltater angesehen wurde. Alberti und Leonardo, die Entdecker der Perspektivenlehre, faßten die Natur als wahre Mutter auf, als das wirkliche Heim ihrer Kinder — der durch Taten und Leidenschaften miteinander und mit der Mutter Natur auf gleiche Weise verbundenen Menschen —, als den fruchtbaren Boden des diesseitigen Aufblühens der Persönlichkeit; Alberti widmete besondere Studien der Untersuchung der Frage, wie die Tätigkeit des Individuums mit der Natur — anders gewendet, die inneren Gegebenheiten mit den äußeren Umständen — in Einklang gebracht werden kann. Das »Äußere« trennt sich keinesfalls v o m »Inneren«. Deshalb bildet das, was z. B. Vasari als eine große Errungenschaft der Kunst Giottos bewertet, daß das Gemälde auch die Gefühlsreaktionen der im wirklichen R a u m dargestellten Gestalt ausdrückt, keinen Genesatz zum Prinzip der Naturnachmung 2 6 ; und deshalb kann der die Nachahmung der Natur betonende Leonardo erklären: »Ein guter Maler hat zwei Hauptsachen zu malen, nämlich den Menschen und die Absicht seiner Seele«.27 119

Leonardo faßt die von den bildenden Künsten dargebotene Mimesis dem A n schein nach so auf wie Aristoteles, nach dem — wie bekannt — die Plastik nur mittelbar nachahmt, da sie mit Hilfe von Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Gebärde die Ethosarten vergegenwärtigt, die sich in den musikalischen Harmonien hingegen unmittelbar spiegeln. Anscheinend weist auch Leonardo auf dieselbe Vermitteltheit hin: »Das Erstere (nämlich die menschliche Figur zu malen) ist leicht, das Zweite schwer (nämlich den Seelenszustand des Menschen), denn es muß durch die Gesten und Bewegungen der Gliedmaßen ausgedrückt werden.« 28 Es ist wohl bekannt, mit welch meisterhafter Vollkommenheit der Maler Leonardo auch der schwierigsten Seite der selbst gestellten Aufgabe Herr wurde. Denken wir an die Nachahmung der Natur im Abendmahl, an die differenzierte (und man kann sagen, in ihrer homophonen Mehrstimmigkeit zusammengefaßte) Vergegenwärtigung des Affektgehalts der einzelnen Gestalten, oder denken wir an das Lächeln der Mona Lisa, das — den A u f zeichnungen nach — durch innige Musik in den Zügen des sein Kind betrauernden Modells hervorgerufen wurde. Die Identität der Nachahmungstheorie von Leonardo und des aristotelischen Mimesisprinzips ist auch in diesem Zusammenhang nur ein Schein, obwohl dieser Schein keinen unwesentlichen Z u g des malerischen Realismus der Renaissance darstellt. Die Abweichung wird sofort klar, wenn wir daran denken, daß Leonardo die einzelnen Künste in eine Rangordnung einstuft, und zwar je nach dem Maße, in welchem ihnen die Nachahmung der Natur gelingen kann. Auf dieser Grundlage steht die Malerei auf der höchsten Stufe der Hierarchie der Künste. »Die Malerei dient einem vornehmeren Sinn als die Poesie und stellt die Werke der Natur mit mehr Wahrheit dar als der Dichter . . . So ist also Nachahmimg der natürlichen Dinge, die tatsächlich aus wahrhaftigen Scheinbildem bestehen, ein würdigeres Ding als das Nachahmen der Taten und Reden der Menschen.«29 Hier entstand jene »naturhafte« Widerspiegelungstheorie, die die ursprüngliche optische Rolle des Spiegels selbst verallgemeinert : wie der Maler den Spiegel dazu benützt, um zu kontrolÜeren, ob Gegenstand und künstlerisches Abbild miteinander übereinstimmen, kann auch das wirklich wertvolle Kunstwerk im Prinzip nichts anderes sein als der visuell klare Spiegel der Welt, der Natur. Gerade deshalb geht aus dem Wettkampf des Dichters und des Malers der letztere siegreich hervor; denn »der Maler geht ganz a l l e i n , . . . unmittelbar an die Nachahmung selbiger Naturwerke . . .«M Aristoteles sah dagegen diese Unvermitteltheit als ein Privileg der Musike an. Die »naturalistische« Interpretation der Widerspiegelungstheorie bildet aber nur ein Moment in der Ästhetik der Renaissance. Alberti betrachtet in seiner Studie Deila Pittura aus dem Jahre 1435 noch die ciceronische Rhetorik als das theoretische Modell der Kunst. Demzufolge ist die Aufgabe des Malers prinzipiell dieselbe wie die des Redners: »Ergötzung und Überzeugung« des Betrachters. Im Dienste der Verwirklichung dieser Aufgabe stehen auch die malerischen Mittel: die Darstellung der Gefühle durch die Bewegungen, Gesichtsausdrücke usw., und die Darstellung der Umwelt durch die perspektivistische Komposition. Auf solcher Grundlage zielen die Perspektivgesetze nicht in die Richtung naturalistischer Abbildung hin, sondern sie sind, sozusagen, dem quasi-rhetorischen Ziel einer jeden Kunst dem ästhe-

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tischen Genuß und der »Überzeugung« des Rezipierenden, seiner durch Evokation von Inhalten verwirklichten Lenkung und Beeinflussung dienlich. Visuell kontrollierte Übereinstimmung oder Entsprechung von Gegenstand und künstlerischer Darstellung bedeuten auch bei Leonardo nicht das einzige Kriterium bei der Feststellung der Rangordnung der zu den verschiedenen Künsten gehörenden Werke. Als Vertreter der typischen Auffassung der Renaissance lehnt auch er an einem Punkte die Identifikation von Natur und Kunst ab, indem er das Kunstwerk in sämtlichen Kunstzweigen und -arten als eine vom Menschen geschaffene Komposition ansieht, dessen bewußtes Ziel wäre, mit aktiv gestaltender und konstruierender Tätigkeit die als universales Naturgesetz auf gefaßte Harmoniekünstlerisch neu zu erschaffen. Es wäre eine äußerst anregende Aufgabe, die Wechselwirkungen zwischen Naturphilosophie und Ästhetik der Renaissance zu untersuchen. Diese sind selbst nach den einschlägigen Analysen von Dilthey 31 zum größten Teil ungeklärt. Es genügt, an den Neuplatonismus in Florenz zu denken, der den Kosmos als eine im System von Übergängen und Stufen sich verwirklichende Einheit betrachtete und die als universales Natur- und Seinsgesetz aufgefaßte Harmonie einerseits als ein räumliches Nebeneinandersein von qualitativ gleichartigen Teilen, andererseits als eine zeitliche Übereinstimmung von qualitativ unterschiedlichen Teilen deutete. Es ist kaum zweifelhaft, daß diese in zwei Richtungen vorgenommene Bestimmung der Harmonie sowohl dimensional wie auch strukturell den statischen Begriff der Harmonie des Eriugena umgestaltet. Jenes neue Element, das auf theoretischer Ebene diese U m gestaltung wahrhaft katalytisch betreibt, bildet das Moment der dynamischen Harmonie der in der Zeit sich verwirklichenden Ordnung des Seins. Das Ergebnis ist ein anschauliches Bild der kosmischen, natürlichen und menschlichen Ordnung, in dem die Einheit der zusammengestimmten Elemente unmittelbar überblickt und erlebt werden kann. Dieser Harmoniebegriff und dieses Weltbild neuplatonischen Ursprungs, doch mit einem neuen Sinn erfüllt, ermöglichten zur Zeit der Renaissance das gedankliche Erfassen der spezifischen Konstruktionsgesetze — unter ihnen der Perspektivgesetze — in den einzelnen Künsten. In diesem Sinne spricht Alberti von der Architektonik des Gebäudes, Tinctoris von der musikalischen Komposition, Leonardo von der Struktur des Gemäldes als von der vollkommensten Harmonie der Teile, zu der man — so heißt es — nichts hinzutun und von der man nichts wegnehmen könne. Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß dieser organische Aufbau durch das einfache Kopieren des unmittelbar visuellen Anblicks der Natur nicht geleistet werden kann. Deshalb wird von Alberti bis Leonardo die Forderung des »Natürlichen« durch das Prinzip des harmonischen Gestaltens ergänzt. Unter solchen theoretischen Bedingungen, die die wirkliche künstlerische Praxis seiner Zeit als Grundlage nehmen, betrachtet Leonardo die Malerei nicht ganz ohne Grund als die höchste Kunst. Denn diese Kunst hat im 14.—15. Jahrhundert, in der Blütezeit der Renaissance, ihre »musischen« Gefährten — die Musik und die Dichtkunst — in der Schöpfung der konsequent anthropozentrischen, vermenschlichten Komposition, in der die Harmonie zur Geltung bringenden »Nachahmung der Natur« wirklich überholt. An einer Stelle berichtet Leonardo über den merkwürdigen Wett-

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kämpf zwischen Dichter und Maler, in dem der ungarische König Mathias — »der Gerechte« — Schiedsrichter war. König Mathias verkörpert hier die Weisheit der ausgereiften Renaissance. Er überreichte dem Maler die Palme und begründete sein Urteil folgendermaßen: ».. . unsere Seele ist aus Harmonie zusammengefügt, und Harmonie entsteht nur in den Augenblicken, in denen die Proportionalität der Gegenstände sichtbar bzw. hörbar wird . . . In der Dichtkunst gibt es jedoch keine Proportionalität in demselben Augenblick, vielmehr folgt dann der eine Teil dem andern. Darum erachte ich die Kunst des Dichters für weit niedriger stehend als diejenige des Malers, weil sich aus ihr keine zusammenklingende Proportionalität bildet. . ,«32 Hier argumentiert Leonardo. Er begnügt sich nicht damit, die Sinnesorgane der Rangordnung nach einzustufen und das im Alltagsleben in der Tat »wichtigere« Sehen zugleich auch ästhetisch für einen höheren künstlerischen Sinn zu erklären. Sein wichtigstes Argument in bezug auf die Hochwertigkeit der Malerei kann sich auch auf den wahrhaft wesentlichen Tatbestand der Zeit berufen; mit wachsamem Auge wurde Leonardo der verhältnismäßigen Rückständigkeit der Kompositionsmethode der »Zeitkünste« (der »musischen« Künste: Dichtung und Musik) gewahr. Dies sind jene weltanschaulichen und mit der ungleichen Entwicklung der Künste zusammenhängenden historischen Gründe, welche die Frage beantworten, warum die Ästhetik zur Blüte der Renaissance weder die nötige Unterstützung noch genügendes Argumentationsmaterial für die Verkündung des wahren Pluralismus der einzelnen Künste und ihrer prinzipiellen ästhetischen Gleichberechtigung erhielt. Dieselben Ursachen erschwerten auch das Sichfinden und die freie Entfaltung der eigentlichen, philosophisch-weltanschaulich bewußten Musikästhetik. Es ist fast symbolisch: Leonardo empfiehlt dem Künstler, der die getreue Spiegelung der Natur anstrebt, nicht die Beobachtung des alltäglichen Menschen, der sprechen und singen kann; für ihn bildet nicht der sprechende oder gar singende Mensch den Maßstab, sondern der Stumme. »Die menschlichen Figuren sollen Stellungen annehmen, die zu dem, was sie tun, passen, so daß, wenn du diese Stellungen erblickst, du verstehst, was bei ihnen gedacht oder gesprochen wird. Man kann sie gut erlernen, wenn man die Bewegungen der Stummen nachahmt. . . Und lache mich nicht aus, daß ich dir einen Lehrmeister ohne Sprache vorschlage, damit er dich in der Kunst unterrichte, die er selbst nicht auszuüben versteht. Denn er wird dich durch die Tat besser unterweisen, als alle Anderen mit Worten . . ,«33 Zugleich lehnt Leonardo auch das rhetorische Modell des Alberti nicht ab; er bestreitet nicht, daß die Beobachtung des guten Redners dem Künstler ebenfalls von Nutzen sein kann. Wichtig sind aber in diesem Falle nicht die Rede und der Tonfall des Redners, sondern — wie auch bei Alberti — die die Gefühle authentisch interpretierende »überzeugende« Bewegung, Gebärde usw. Eine Argumentation, die überrascht, obwohl man ihr den logischen Charakter vom Gesichtspunkt des homogenen Mediums der Malerei aus nicht absprechen kann. Es vergeht eine gewisse Zeit, bis die Musik beweisen kann, daß sie in bezug auf den harmonisch gegliederten Ausdruck der Gefühle, der menschlichen Natur, hinter den bildenden Künsten nicht zurücksteht, sondern gerade in dieser Hinsicht jeder anderen Kunst überlegen ist. 122

DIE FLORENTINER CAMERATA Es vergeht eine Zeit, wenn auch nicht eine allzu lange Zeit. W i r möchten hier jenen Teil der 1581 — kaum sechs Jahrzehnte nach Leonardos T o d — erschienenen Abhandlung des Musiktheoretikers Vincenzo Galilei zitieren, der den Komponisten in einem v o n Grund auf neuen Sinne den R a t erteilt, sich des rhetorischen Modells als Grundlage zu bedienen: »Wenn Sie zur Zerstreuung eine Tragödie oder K o m ö d i e ansehen, so beachten Sie, wie ein ruhiger Ehrenmann mit seinem Freunde konversiert ; in welcher Manier er spricht, wie hoch sich seine Stimme erhebt b z w . wie tief sie herabsinkt, mit welcher Kraft, Betonung, B e w e g u n g und wie schnell oder w i e langsam er die W o r t e ausspricht. Beachten Sie, welcher Unterschied es ist, w e n n jemand zu einem seiner Diener spricht oder diese untereinander reden. Beachten Sie den Fürsten, wie er einen seiner Untertanen durch Anrede auszeichnet, wie er mit dem Bittsteller verhandelt, der u m seine Gnade bittet; wie der cholerische oder aufgeregte Mensch spricht, wie die Frau, das Mädchen, das einfältige Kind, der Hebende, klagende, streitsüchtige, furchtsame und v o r Freude jauchzende Mensch sprechen. W e n n Sie diese verschiedenen Umstände genau beachten, so werden Sie den richtigen Ausdruck eines jeden Gedankens, einer jeden Tat finden.« 34 Der R a t Galileis basiert ebenso auf der Entwicklung der wirklichen künstlerischen Praxis wie früher der v o n Alberti oder Leonardo. Für ihn bedeutet jedoch das menschliche M a ß nicht mehr die eigenartigen Gebärden der Stummen usw., sondern die schauspielerische Produktion, v o r allem die die tänzerisch-pantomimischen »Gebärdenspiele« der Florentiner Maskenkarnevale überschreitende C o m m e d i a dell'arte, die in Venedig — das dem feudal-katholischen Druck in geringerem Maße ausgesetzt war — in den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts ihre Blüte erlebte; wahrscheinlich mag Galilei diese Schauspielkunst volkhaften Ursprungs, die jedoch v o n Berufsschauspielern ausgeübt wurde, gekannt haben. In ihr entfaltete sich eine spezifische Methode der Typisierung v o n dramatischen Gestalten: Die Gestalt wurde einerseits durch eine stereotype Maske, andererseits infolge der stereotypen Stimmführung charakteristisch. Die mimische Tätigkeit war auch in diesem Fall, wie bereits in der Antike, der Ausgangspunkt zur Bewußtmachung des ästhetischen Grundprinzip-Charakters der musikalischen Mimesis. Auf diese Weise eröffnet Galilei ein neues Kapitel in der Geschichte der Ästhetik der Renaissance. Die affektanzeigende und typisierende Funktion der menschlichen Stimme erkennend, erklärt er zugleich die Notwendigkeit der Erneuerung des antiken musikästhetischen Erbes. Gerade darum darf die neue Musik als gleichrangiger Partner der übrigen Künste gelten, weil sie »nachahmt«; auf Grund der »Beobachtung« der typischen menschlichen Stimmführungen wird sie dazu fähig, die eigenartige Gefühlswelt des Menschen künstlerisch widerzuspiegeln. Das bei Galilei neuerstandene Prinzip der Mimesis wird so zu einer großen Leistung im musikästhetischen Denken der Renaissance. W i r betonen wieder: A u c h jetzt bleibt die Theorie mit den v o n der Praxis a u f g e w o r fenen Fragen verbunden. Die Entdeckung Galileis wäre nämlich ohne die i m 15. Jahrhundert in raschem T e m p o erfolgte Entwicklung der italienischen homophonen Mehrstimmigkeit unvorstellbar. Im Vorangehenden hatten wir bereits auf die

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homophon ausgerichtete Stimmbehandlung der Frottola hingewiesen. Die schon bekannte Umwandlung der vierstimmigen Struktur, als deren Folge die Melodie der Oberstimme zu einer führenden Rolle gelangt und das Chorwerk dem Sologesang nähert, hängt natürlich mit dem weltlichen Charakter des dichterischen Textes und der musikalischen Bearbeitungsweise zusammen, die den verständlichen Ausdruck des im Text gegebenen Inhalts bezweckt. Im 16. Jahrhundert wird die Richtung einer derartigen Vermenschlichung der Polyphonie immer ausgeprägter. Der Katalysator für den Anthropozentrismus der Form ist jetzt bereits die Madrigalkomposition, die den mit großer Sorgfalt ausgewählten Text vertont. Der Begründer der ersten Madrigalistenschule, der Flame Adrian Willaert, verschmilzt noch die italienische Melodiegestaltung und musikalische Tektonik mit dem niederländischen Kontrapunkt. Seine Schüler, mit Cipriano de R o r e an der Spitze, entwickeln die in der madrigalistischen Harmonik schlummernde neue Homophonie weiter, sie durch Chromatik bereichernd. Die Erfüllung bringt dann das Werk der Generation nach 1575, repräsentiert durch Maremio, Gesualdo und den jungen Monteverdi. Bei ihnen nähert sich das Madrigal dem instrumental begleiteten Sologesang und gelangt im weltlichen Schauspiel, sowie in der neuen Kunsgattung des 17. Jahrhunderts, der Oper, zu einer führenden Rolle. Die Theorie ist auch jetzt ein treuer Chronist der solchermaßen weitergetriebenen Humanisierung der polyphonen Formen. Als Guilelmus Monachus um 1480 darüber belehrte, wie man eine »richtige« Baßstimme schreiben soll, als in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts der Venezianer Pietro Aron das Prinzip der polyphonen Stimmführung kritisierte und die Polyphonie mit Hilfe eines harmonisch-akkordischen Denkens »vernünftig machen« wollte, fixierte die Musikgeschichte hiermit in schriftlicher Fassung die Geschichte der musikalischen Praxis. Das wichtigste »Kapitel« in dieser Chronik bildet sicherlich das theoretische Oeuvre des Gioseffo Zarlino. Seine Verbindung mit der zeitgenössischen musikalischen Praxis ist ganz offensichtlich: Er begann seine Laufbahn als Schüler von Willaert; und in Konfrontation der von Willaert vermittelten niederländischen polyphonen Tradition mit der zeitgenössischen italienischen Praxis fördert er die dem Kontrapunkt entsprossenen Grundlagen der neuzeitlichen Harmonik auch musiktheoretisch zutage. Nicht ohne Grund gilt für Riemann Zarlino als Vater der modernen Musiktheorie. 35 Er war es, der durch Entdeckung der dualen Natur der Harmonieordnung die bedeutendste musiktheoretische Leistung des 16. Jahrhunderts vollbracht hatte. Seine Harmonielehre bestimmte nämlich die seit Ramis de Pareja eindeutig als konsonant angesehene Terz zum organischen Teil der Dreiklänge und erklärte auf Grund der Anwendung der alten pythagoreischen Proportionenlehre, daß die die Quinte »teilende« Terz entweder das Ergebnis einer »harmonischen« oder »arithmetischen« Teilung sei. Daraus folgt die Unterscheidung der beiden Grundkategorien des harmonisch-akkordischen Denkens: die der Durterz und der Mollterz bzw. die der mit ihnen verbundenen Maggiore- und Minore-Akkorde. Die Eierschale der Polyphonie wurde auf solche Weise durch die bei Zarlino entstehende tonale Logik, die Dur-Moll-Tonalität, auch theoretisch gesprengt, an der zwar noch eine Zeitlang, bis zur gleichmäßigen Teilung des syntonischen Kommas, dem Tem-

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perieren, das Zeichen der einstigen Modalität zu spüren war, die grundlegende Struktur jedoch bereits ein quint-oktav-zentrisches System anzeigt, in w e l c h e m der D u r - und der M o l l - A k k o r d die Grundharmonien bedeuten. Die epochalen Entdeckungen Zarlinos erhoben die zeitgenössische italienische Praxis, in erster Linie die harmonische, vertikal kontrollierte Polyphonie der W i l laertschen ersten Venezianischen Schule, auf die Stufe der musiktheoretischen Verallgemeinerung. Es ist zu beachten, daß zu gleicher Zeit bei Zarlino auch gewisse Elemente eines spezifisch musikästhetischen Denkens nicht fehlten. Eine zweifellos wesentliche prinzipiell-ästhetische Voraussetzung für das M a g g i o r e - M i n o r e - V e r hältnis w a r jene im Geiste des Aristoteles formulierte Kritik, die Zarlino, gestützt auf die hörbare, sinnlich rezipierbare und genießbare Musik, an der »für das A u g e bestimmten« Musik der großen Niederländer übte. Ü b e r diesen, auch bei Tinctoris beobachteten Gedankenkreis hinaus w a r jedoch Zarlino unfähig, seine i m Z u s a m m e n hang mit den Grundlagen der modernen Harmonielehre verbundenen Entdeckungen auch weltanschaulich b e w u ß t z u machen. Diese Arbeit der ästhetischen Verallgemeinerung w a r der Florentiner Camerata v o r behalten, die gleichsam mit einem einzigen Sprung die bisherige Rückständigkeit der Theorie einholte: Endlich konnte die Camerata auch den "Weg weisen, sie konnte Orientierung f ü r die G e g e n w a r t geben und P r o g r a m m f ü r die Z u k u n f t sein. D i e W e i t e r e n t w i c k l u n g der Praxis rechtfertigte die Theorie in beiden B e z i e hungen. D i e musikalischen Traktate bereiteten diesmal die Z u k u n f t unmittelbar v o r ; die neue Ästhetik bewies ihre Wahrheit mit Monteverdi, i m monodischen Stil und in der Kunstgattung Oper. W i e an den großen W e n d e p u n k t e n der Kulturgeschichte i m allgemeinen, trat auch diesmal der leidenschaftliche W i l l e z u m Bruch mit der Vergangenheit augenfällig in Erscheinung. D i e Musikschriftsteller der Camerata — v o n Vincenzo Galilei bis G i o v a n ni D o n i — hinterließen eine theoretische Produktion, die in ihrer polemischen Leidenschaftlichkeit nur mit der zeitgenössischen Disputationsliteratur verglichen w e r d e n kann. Ebenso w i e bei den großen Reformatoren, fehlen auch hier nicht die sehenswerten Brüche, die zur pathetischen A n k l a g e sich verdichtenden A f f e k t e , die kämpferischen Erklärungen des Meisters und des sich i h m entgegenstellenden Schülers. W i r möchten hier nur auf ein typisches Beispiel hinweisen. A u f Anraten des G r a fen Bardi, der den ersten Mittelpunkt der Camerata schuf, fuhr V i n c e n z o Galilei nach Venedig, u m bei Zarlino seine systematischen musiktheoretischen Studien z u beginnen. Als er jedoch nach Florenz zurückkehrte, legten seine in den 8o-er Jahren unter dem Titel Dialogo, später Discorso herausgegebenen Traktate v o n einem leidenschaftlichen Bruch Zeugnis ab. Das war keinesfalls ein U n d a n k des Schülers. Galilei lernte in V e n e d i g die großen Leistungen der zweiten venezianischen Generation, das sich zur M o n o d i e entwickelnde Madrigal sowie die instrumentalistische Kultur monodischen Charakters v o n Andrea und Giovanni Gabrieli kennen; seine Kompositionen für Sologesang mit Lautenbegleitung zeigen, daß auch sein eigener Stil unter dem Einfluß der venezianischen Schule des Cipriano de R o r e ausreifte. Somit erscheint seine Haltung z u seinem Meister bei w e i t e m nicht so überraschend, 125

weil Zarlino, wie wir sahen, auf dem Standpunkt der Willaertschen Anfänge der venezianischen Schule stehen blieb. Als Zarlino 1588 in seiner Streitschrift Sopplimenti musicali auf Galileis Dialogo antwortete, ging daraus hervor, daß Meister und Schüler die für »die Augen bestimmte« Kompliziertheit der niederländischen Polyphonie gleichermaßen ablehnten. Was hingegen bei Zarlino zwar ein wesentlicher, aber in bezug auf die Totalität des Systems philosophisch nicht zu Ende gedachter Gesichtspunkt war, gelangte bei Galilei auf einmal in den Mittelpunkt des Interesses: bei ihm sind nicht nur die niederländische Polyphonie, sondern jede Art der Polyphonie, im allgemeinen also auch der Kontrapunkt, eine »gotische Barbarei«, eine das Gedicht rädernde spekulative Notenkonstruktion, die man als Todfeind einer humane Gefühle ausdrückenden und nach Textverständlichkeit strebenden Musik behandeln muß. Z u r Festigung des Galileischen Standpunktes trug auch noch ein spezifisch theoretischer Einfluß bei. Nach Beendigung seiner Studien in Venedig fuhr Galilei — erneut von Giovanni Bardi angespornt — nach R o m , um seine musiktheoretischen Studien bei Girolamo Mei, dem bekannten Humanisten, fortzusetzen. Das Hauptverdienst Meis bilden philologisch fachgemäße Studien der antiken musiktheoretischen Schriften. Deren Resultate ermöglichten ihm, jenem im frühen Humanismus vertretenen und auch noch bei Gaffori lebendigen Glauben entgegenzutreten, der antiken Musik sei die Polyphonie bekannt gewesen. Mei betonte demgegenüber, daß die griechische Musik ihre in den antiken Schriften so oft gelobte ethischästhetische Wirksamkeit gerade ihrem monodischen Charakter verdankt habe. Auf solche Weise bekam die Untersuchung der antiken Musikästhetik eine ganz und gar neue Grundlage. W i r sahen zwar, daß sich die mittelalterliche Musikauffassung v o n den nach gewissen weltanschaulichen Bedürfnissen ausgewählten und umgestalteten Elementen der antiken musikphilosophischen Systeme nicht frei machen konnte. Die v o n Mei eingeführte humanistische Auffassung strebte hingegen die möglichst authentische Wiedererweckung der antiken musikalischen Praxis mit pragmatischer Bewußtheit an. Unseres Wissens wurde die durch Galilei publizierte Mesomedes-Hymne ebenfalls von Mei entdeckt. Unter dem gemeinsamen Einfluß dieser praktischen und theoretischen Impulse baute Galilei seine Musikästhetik aus, die dann v o n der Florentiner Camerata zum Programm erhoben wurde. Sein bekanntes Hauptwerk, der Dialogo . . . della musica antica et della moderna (1581) ist ein platonischer Dialog, dessen Teilnehmer — Bardi und Strozzi — v o n dem Unterschied zwischen antiker und »moderner« — d. h. gotischer, genauer: die Polyphonie verteidigender — Musikanschauung ausgehen. Die Grundlage der Unterscheidung bildet jene aus Piaton wohlbekannte These v o n der ethischen Wirksamkeit der Musik, nach welcher die dem Genuß dienende Musik der ideell gehaltvollen gegenüber gestellt wird. Unter Anwendung dieses Kriteriums erklärt Galilei, daß die »Polyphonie von vornherein eine Entartung« sei. »Aus alledem, was ich sammeln konnte, bin ich mir darüber gewiß, daß die gegenwärtige Art des Zusammensingens der verschiedenen Melodien seit höchstens 150 Jahren besteht. Obwohl es mir nicht bekannt ist, ob sich die moderne Praxis auch nur auf ein authentisches Beispiel berufen kann, das so alt wäre. Demgegenüber blühte die

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antike Musik bei den Griechen und Römern über Jahrhunderte, sie war stets in der Pflege der weisesten, geschultesten Köpfe. Trotz all ihrer Vorzüglichkeit verrät die moderne Musik nicht das geringste Zeichen dessen, daß sie all das vollbringen würde, was seinerzeit die antike Musik vollbrachte. So verfügen unsere modernen Musiker weder infolge ihrer Neuheit, noch infolge ihrer Vorzüglichkeit über eine solche Macht, daß sie eine solche sittlichkeitfördernde, außerordentlich wohltätige und erquickliche Wirkung ausüben könnten, wie die alte Musik. Wir müssen dies beleuchten. . . , daß wir große und tugendhafte Geister dazu anspornen, daß sie diese edle Kunst pflegen und ihren ersten, glücklichen Zustand wiederherstellen mögen. Das einzige Ziel der Kontrapunktisten von heute ist, das Ohr zu ergötzen, wenn dies überhaupt Ergötzung genannt werden kann; im Gegensatz hierzu trachtete die antike Musik beim Hörer ein ebensolches Gefühl zu erwecken, von welchem der Autor erfüllt war. Der edelste und wesentlichste Teil der Musik ist der durch den Text zum Ausdruck gebrachte Ideengehalt und nicht die Proportion der einzelnen Teile, wie dies die Anhänger der modernen Praxis zu bekennen pflegen.«3® Es ist natürlich im ersten Augenblick nicht leicht verständlich, wie der Kontrapunkt und überhaupt die im Vergleich zum zeitgenössischen Solomadrigal konservative, moralische Strenge vertretende Polyphonie zum Prototyp der bloß sinnlichen Genuß verursachenden »modernen« Musik werden konnte. Allein auf stilgeschichtlicher Grundlage läßt sich diese Frage nicht überzeugend beantworten. Die Lösung des Problems setzt die Kenntnis der weltanschaulichen Grundlagen der Technik voraus. In solchem Zusammenhang kann es keinen Augenblick als zweifelhaft erscheinen, daß Galilei mit der polyphon-kontrapunktischen Praxis zugleich auch deren ethische Grundlage verwarf, weil er jedwede Form der religiös-heteronomen Knebelung der menschlichen Freiheit ablehnte. Als Vertreter des Humanismus der italienischen Renaissance stand er, wenn auch nicht auf der Grundlage des philosophischtheoretischen, so doch auf der des »praktischen« Atheismus; er vertrat die in der neuen Ethik verkündete autonome Würde der menschlichen Persönlichkeit. Darum war die Anthropozentrität der musikalischen Form bei ihm nicht nur das unbewußt zur Geltung gebrachte Formprinzip, sondern auch ein weltanschauliches Leitmotiv, das die ästhetische Theorie und die aus ihr herausgewachsene musikalische Orientierung bis in die kleinsten Details bestimmte. Galilei und die Camerata verurteilen den Kontrapunkt auf derselben weltanschaulich-ästhetischen Grundlage wie die die »rohe gotische Manier« verachtenden und die Erneuerung der Antike fordernden Theoretiker der Renaissance von Petrarca bis Vasari. Selbst in den 30er, 40er Jahren des 17. Jahrhunderts argumentierte Giovanni Battista Doni noch folgendermaßen: »Die Kunst des Kontrapunkts ist in rohen Zeiten entstanden, unter Niederländern, die aller feinen Bildung entbehrten und schon durch ihre greulichen Namen Hobrecht, Ockeghem usw. ihre Barbarei verrieten. Alle Künste gingen einst durch die Wut der Italien überschwemmenden und verwüstenden Barbaren unter; anstelle der schönen, edlen, wohlgeformten Baukunst der alten Römer setzten sie ihre »gotische«, bis Filippo Brunelleschi statt dieser dummen deutschen Manier die wahre und echte Bau-Art der Griechen und Römer einführte und Giotto die ebenfalls ganz verges-

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sene Malerei wiedererweckte. Jetzt erlebte die Musik eine ähnliche, allerdings späte Wiedergeburt.« 37 Gerade deshalb bedeutet hier der Gegensatz des Antiken und »Modernen« überhaupt keine pessimistische Abkehr von der Gegenwart. Der wahrscheinlich vor 1590 geschriebene Discorso des Bardi zeigt auch innerhalb der zeitgenössischen Musik den Galileischen historischen Widerspruch auf; die beiden Pole werden hier einerseits vom Kontrapunkt, andererseits von der »Kunst des richtigen Singens« vertreten. Die Grundlage der Unterscheidung bildet eine platonische Konzeption, wonach der Kontrapunkt zwar der Körper der Musik, die Seele von ihr aber doch nur der Text sein kann. Daher der Rat Bardis, den er den Musikern der Camerata (als Empfehlung an Caccini) erteilt: »Er soll beim Komponieren danach trachten, den Vers richtig in die Musik zu übersetzten, den Text am verständlichsten deklamieren zu lassen und es nicht zulassen, daß ihn der Kontrapunkt auf Irrwege verleite. In dem Maße, wie die Seele edler als der Körper, ist auch der Text edler als der Kontrapunkt.« 38 Die Idealisierung des »monodischen« Stils ist also bei den Theoretikern der Camerata mit einer eindeutigen ideell-weltanschaulichen Tendenz gepaart, insofern sie sich auf die frei rezitierbare, die Affektgehalte hervorhebende Vertonung der von Petrarca eingeführten humanistischen Lyrik bezieht. Denn wenn Caccini — schon im Besitz der Ratschläge Bardis — erklärt, daß er aus den im Freundeskreis der Camerata angehörten Gesprächen »mehr gelernt hat, als im Verlauf von dreißig Jahren aus dem Kontrapunkt«39, so glaubt er zu wissen, daß die in den polyphonen Kompositionen übliche »Zerfleischung« der Dichtung eine im platonischen Sinne verstandene ethische Wirkung der Musik neutralisiert. Aber er übertrieb doch von kompositionstechnischem Gesichtspunkt aus. Denn diese »vornehm lässige« Zurückdrängung des Gesanges im Geiste Castigliones, die »sprezzatura del canto« sowie jener »stilo affettuoso«, der im berühmten Vorwort der Nuove musiche verkündet und durch die im Bande veröffentlichte Sammlung von Arien und Madrigalen verwirklicht wird, sind im Grunde gar nicht so eine ganz neue Sache ohne jede Vorgeschichte, selbst in der Laufbahn Caccinis nicht. An der Ausgestaltung des von edlen Leidenschaften erfüllten und dem Charakter des Textes sich anpassenden deklamierenden Stils war eine ganze Generation von Komponisten, von Cipriano de Rore bisjacopo Peri und Caccini, tätig. Caccini übertrieb jedoch auf keinen Fall von weltanschaulichem und ästhetischem Gesichtspunkt aus. In der Tat war die Camerata ihm und den übrigen Florentiner Komponisten der Jahrhundertwende behilflich, den Vermenschlichungsprozeß der musikalischen Praxis theoretisch bewußt zu machen und dadurch den Fortschritt zu beschleunigen. Letztlich erfüllte die Musikästhetik Galileis — worauf wir bereits oben hingewiesen haben — dieselbe sozial-ideologische Funktion wie der Humanismus der Renaissance im allgemeinen: sie war ein organischer Teil des aufstrebenden italienischen Bürgertums. Den neuen bürgerlichen Antike-Kult betreffend, gab Marx in bezug auf seinen ideologischen Charakter als erster eine wissenschaftliche Erläuterung, indem er die von weltgeschichtlichem Gesichtspunkt aus notwendige Selbsttäuschung der die politische Macht anstrebenden Bourgeoisie folgendermaßen charakterisierte: 128

»Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.«40 Diese weltgeschichtlichen Geisterbeschwörungen haben nämlich vom Klassengesichtspunkt aus einen ganz bestimmten Inhalt und Sinn. »Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte sie jedoch des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkrieges und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten.«41 Dieselbe heroische Selbsttäuschung charakterisiert die Musikästhetiker der italienischen Renaissance, wenn sie den Geist der unwiderruflich in die Vergangenheit versunkenen altgriechischen Musik heraufbeschwören. Es ist fast ein symbolisches Faktum: weder Mei noch Galilei vermochten das Rätsel der Mesomedes-Hymne zu lösen; die Grundlagen der altgriechischen Notenschrift waren ihnen ganz einfach unbekannt.42 Die Berufung auf die Praxis der griechischen Musik war deshalb in der ganzen Camerata-Bewegung ein geschichtliches Kostüm, hinter dem sie den »bürgerlich beschränkten Inhalt« ihres von heroischen Selbsttäuschungen beladenen Kampfes — das Ideal der dem Kontrapunkt gegenübergestellten instrumentalen Monodie — »sich selbst verbergen«. Schließlich fehlte auch in der den Text »zerfleischenden« Polyphonie der Ausdruck der Innerlichkeit nicht; jener Affetto, dessen Vergegenwärtigung die neue Richtung nun von der Wiederbelebung der antiken Einstimmigkeit erwartet, war geschiehtlich nicht diesseits, sondern jenseits der kontrapunktischen Praxis, deshalb bedeutet er keinen Affekt im antiken Sinne, sondern durch moderne Innerlichkeit hervorgerufene neue Gefühle und Leidenschaften. Die Heraufbeschwörung des Geistes der antiken Monodie war nur ein Vorwand für die Diskreditierung jener Polyphonie, aus der die homophone Mehrstimmigkeit neuen Typs selbst heraus- und über welche sie hinausgewachsen ist, nachdem die polyphone Behandlung von Text und Stimme nicht mehr dazu ausreichte, daß die Musik Ausdruck einer subjektiven Innerlichkeit, nämlich der in der Diesseitigkeit sich voll entfaltenden Individualität sein konnte, daß das Individuum — im Sinne des vorher Gesagten — sich das »Subjekt« aneignen und es zu seinem eigenen Ausdruck machen konnte. Mit anderen Worten: die Beschwörung des Geistes der Antike diente nicht dem »Alten«, sondern dem radikal Neuen, dem Sichfinden der aufblühenden bürgerlichen Musikkultur, der wirksameren und bewußteren Befriedigung der neuen gesellschaftlich-geistigen Bedürfnisse. Auf diesen ideologischen Charakter der Beschwörung der Antike wies der Komponist der ersten Oper (Dafne, 1594), Jacopo Peri, mit beachtenswerter Aufrichtigkeit hin. Nachdem er die rezitierende Vortragsweise der altgriechischen Tragödien — die nach den antiken M u 129

9 Zoltai: Ethos und Affekt

sikschriftstcllern eine Art von Mitte zwischen Rede und Gesang war — als den idealen Deklamationsstil des Musikdramas charakterisiert hatte, beendet er seinen Gedankengang folgendermaßen: »Ich möchte es nicht mit Bestimmtheit betonen, daß dies der Gesangsstil der Griechen und R ö m e r gewesen wäre, ich glaube jedoch, daß unser Stil nur ein solcher sein kann, der der Ausdrucks-Neigung unserer Sprache entspricht.«43 In der Tat, bei der Geburt des neuen Stils war der Geist der »Alten« behilflich, mit dem Neuen hingegen marterte sich die gemäß den neuen gesellschaftlichen Ansprüchen und Bedürfnissen sich weiterentwickelnde neue musikalische Praxis ab. Nicht ohne Grund berief sich Peri auf die Eigenart der durch die Humanisten rehabilitierten und in der neuen Dichtung zu künstlerischem R a n g erhobenen Nationalsprache. Die Zugrundelegung der Nationalsprache weist jedoch von selbst auf die Verbindung zwischen weltanschaulicher und musikalischer Problematik, auf die Wechselwirkung von gesellschaftlichen Bedürfnissen und künstlerischer Entwicklung hin. Infolgedessen diente die Beschwörung des Geistes der Antike dazu, Inhalt und Richtung der Entwicklung der Praxis, die v o m polyphonen A-cappella-Gesang zur Empfindsamkeit der homophonen Deklamation, v o m Palestrinensischen Stile osservato zum Monteverdischen Stile rappresentativo den W e g wies, in ideologischer Form bewußt zu machen. Dies erklärt auch jene souveräne Auffassungsart, in der die Florentiner Theoretiker unter den einzelnen Schichten der antiken musikästhetischen Tradition — den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend — wählten, wie sie die einzelnen Elemente der Tradition deuteten und umdeuteten. Die soeben zitierte und für die ganze Camerata charakteristische Stellungnahme, wonach der dichterische Text die Seele des Musikwerkes sei, der dann in der eigentlichen Komposition Gestalt annimmt, ist ein noch entschieden im Geiste der neuplatonischen Akademie formulierter Satz. Er erinnert uns an den das Primat des dichterischen Wortes verkündenden Piaton. Auch Galilei bedient sich eines platonischen Argumentes, wenn er die ethische Wirksamkeit der »alten« Monodie der verachteten »Genußmusik« der »modernen« Polyphonie entgegenstellt. Auch bei der »Bestätigung« der Lautenbegleitung konnte man sich auf die »Erlaubnis« Piatons berufen, der im idealen Staat das Kitharaspiel zuließ. Zugleich korrigierte man stillschweigend die bekannte rigorose Beschränktheit der platonischen Ästhetik, und man interpretierte in den Begriff der ethischen Wirksamkeit die wesentlichen Züge der aristotelischen Katharsis unbemerkt hinein. Diese Erscheinung ist bereits bei dem die Theorie der Mimesis erneuernden Galilei zu beobachten, und sie wird bei Monteverdi vielleicht am augenfälligsten; sein bekannter Grundsatz, daß die Sprache der Herr und nicht der Diener der Harmonie sei,44 stammt von Piaton, und doch formuliert dieser Grundsatz das wichtige Formprinzip der »Vertonung« der bei Piaton verbotenen Tragödie, des neuen Musikdramas. Es besteht kein Zweifel: den neuen Stil, den Stile rappresentativo, beanspruchte die durch die Musikschriftsteller der Camerata theoretisch vorbereitete neue Kunstgattung Oper, die an der Jahrhundertwende entstand und sich innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten als Ergebnis einer. außergewöhnlich schnellen Blüte zur 130

repräsentativen Gattung des Jahrhunderts emporschwang. Trat nun nicht die typischste bürgerliche Kunstart mit Peris Dafne ihren Weg an? Entstehen und historischer Weg der Oper zeigen zu jeder Zeit die soziale Problematik von Entfaltung, Stabilisierung und Krise der bürgerlichen Gesellschaft, die charakteristischen Veränderungen des bürgerlichen Gemeingefühls, des Wohl- und U n behagens mit seismologischer Genauigkeit an. Die jetzige Stilwende ist der geschichtliche Augenblick der Entfaltung. Das heroische Pathos, von welchem die Deklamation der Helden in den allerersten Florentiner Opern durchdrungen ist, entstammt der Affektenwelt des neuen Menschen des Humanismus und der Renaissance, und sein höchstes Charakteristikum ist der Affekt des R e v o l tierens gegen die die Persönlichkeit knebelnden Kräfte, gegen das Fatum. Deshalb legen sich die für die menschliche Totalität kämpfenden Helden den Kothurn von Orpheus, Ariadne, Ulysses, Poppea an. Der »bürgerlich beschränkte Inhalt« kann sich auf solche Art zur Höhe der großen geschichtlichen Tragödie erheben. So hat das Schlagwort der Erneuerung der Antike eine ungestörte Harmonie zwischen musikalischer Theorie und Praxis hergestellt; in diesem geschichtlichen Augenblick finden der an der Ausarbeitung der neuen Kunstart tätige Musiker und der Musikästhetiker zueinander. Es war ein produktives, vorwärtsweisendes, epochales Aufeinandertreffen; ohne dies wäre das Lebenswerk von Monteverdi, diese im großen Bogen sich verwirklichende Verflechtung der »Renaissance«- und der »barocken« Stiltendenzen wohl kaum zustande gekommen. Jene dramatische Musik, die von Monteverdi während seiner von Orfeo (1607) bis Poppea (1642) reichenden, aufsteigenden Laufbahn geschaffen wurde, verwirklicht bis zum heutigen Tag mit ergreifender künstlerischer Kraft die weltanschaulichen und stilistischen Ideen der humanistischen Ästhetik der Camerata. Es scheint, daß der erste epochemachende Meister des Musikdramas sich mit voller Bewußtheit den ästhetischen Prinzipien des Florentiner Bardi- und CorsiKreises anschloß. Auch er stellt der prima prattica der polyphonen Konstruktion das Produkt der schaffenden Persönlichkeit neuen Typs, die Monodie mit Instrumentalbegleitung, diese seconda prattica entgegen; auch er bekannte sich — unter Berufung auf die Antike — zur Idee der dramatischen Lebenswahrheit (»die Sprache soll Herr über die Harmonie und nicht ihr Diener sein«), auch er verkündete das Primat der vom dramatischen Text bestimmten Melodie (»dies ist jene Praxis, die die Vollkommenheit der Melodie anstrebt, d. h. die Harmonie nicht als den, Befehlshaber, sondern als den dem Befehl Gehorchenden betrachtet; jene Praxis, die den Text zum Herrn über die Melodie macht«).45 Auch er überwand die Lösung des Konsonanzproblems durch Zarlino, weil das Prinzip der Konsonanzauffassung bei ihm »das Wort des Geschmacks«, »die Anforderung des Textes«, »die Notwendigkeit für die Bewegung der Gefühle« ist.48 Es ist leicht einzusehen, daß die Ars poetica des Monteverdi mit der philosophisch-weltanschaulichen Problematik der Renaissance auf das engste zusammenhängt. Sein Stilideal kann wohl kaum nur auf den Stil bezogen werden; nach ihm basiert die moderne Praxis, die seconda prattica, »auf dem Fundament der Wahrheit.«47 Selbstverständlich verteidigte der den Monteverdi131

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Stil ablehnende Theoretiker des Kontrapunkts, Artusi, nicht nur die polyphone Praxis der prima prattica, sondern auch die prinzipiellen-ästhetischen Grundlagen dieser Praxis; daher die Entrüstung, mit der die nunmehr rettungslos konservativen Kontrapunktisten über das Sakrileg der modernen Monodiker ihr Urteil fällen: »Die großen Wissenschaftler der Vergangenheit regelten sämtliche Künste und Wissenschaften und überließen uns diese Grundsätze und Vorschriften deswegen, weil — solange wir von ihnen nicht abweichen — der eine Mensch verstehen wird, was der andere sagt oder tut. Gerade deshalb, um der Verwirrrung aus dem Wege zu gehen, dürfen wir die Regeln nicht überschreiten.«48 Das ist in der Tat das alte Lied, wörtlich und bildlich. Die Theorie des Kontrapunkts verleugnet nun den einstigen Grundsatz, dem sie ihre Existenz verdankt: das Erlebnis des menschlichen Maßes. Und gerade deshalb bedeutet die Stellungnahme gegen den Konservativismus des Artusi wohl kaum nur die Diskussion der im engen Rahmen aufgeworfenen Fachprobleme. Was B. Szabolcsi über das stilistische Selbstbewußtsein Monteverdis sagt, das kann auf die Musikauffassung der ganzen Renaissance bezogen werden. »Diesen Künstler interessiert von Anfang an die Sache des Menschen, das Schicksal des Menschen unter den Konflikten des Lebens — der Mensch und sein Modellierer, die Leidenschaft, die den Menschen gestaltet und emporhebt. Daraus fließt alles sonstige, an erster Stelle stehen jedoch nicht die Fragen des Stils, die Formprobleme, sondern die neuartige menschliche, also gesellschaftliche Problematik der Musik.«49 Es erübrigt sich demzufolge, daß wir auf die ästhetikgeschichtliche Bedeutung der Camerata näher eingehen. Der Florentiner Kreis brachte die hervorragendste ästhetische Leistung der Musikauffassung der Renaissance, und interessant ist deshalb die Frage nach ihrem weiteren Schicksal in der sogenannten »Barockzeit«. Die Antwort verwundert zunächst. Nachdem die um 1600 auftauchende Oper ihren Welteroberungszug angetreten hatte, verkümmerte die als Ausgangspunkt dienende Theorie, und sie erwacht erst nach einem über anderthalb Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf zu neuem Leben in Glucks Ästhetik der Oper und bei den französischen Enzyklopädisten. Woher stammt dieser verwirrende Umweg des ästhetischen Bewußtseins? Es läßt sich im allgemeinen leicht erklären, daß auch hier die Gesetzmäßigkeit der ungleichmäßigen Entwicklung zum Ausdruck kommt. Wir hatten bereits auf die eigentliche gesellschaftliche Grundlage der »Barockzeit«, auf jene durch fremde Unterdrückung noch zusätzlich erschwerte Zeit der Refeudalisierung hingewiesen, als infolge der Wiederbelebung des religiösen Bedürfnisses die in der Renaissance aufblühenden Künste und die erst vor kurzem zu sich selbst findende, zu weltanschaulichem Selbstbewußtsein gelangende bürgerliche Kultur einer Krise zutrieb. Diese anderthalb Jahrhunderte haben natürlich zur Entdeckung und Weiterentwicklung des autonomen ästhetischen Gedankens wenig beigetragen. Mit alledem würden wir jedoch nur auf die allgemeinste gesellschaftlich-kulturelle Problematik derEpoche hinweisen. Außerdem müssen wir auch die mit der besonderen Lage der Musik und der Musikauffassung zusammenhängenden Tatbestände beachten. Vor allem wird man einen eigenartigen komplizierten Umstand ins Auge fassen müssen: jene bereits früher erwähnte Tatsache, daß die Blüte der Renaissance-Musik132

ästhetik, die Camerata-Bewegung, in der italienischen Renaissance eine späte Erscheinung, der Sprößling der »manieristischen« Krisenepoche ist, und daß das die Theorie künstlerisch bestätigende Oeuvre des Monteverdi in der ersten Hälfte des »barocken« 17. Jahrhunderts, zur Zeit des Niedergangs und Verfalls der italienischen Stadtstaaten, zustande kam. Diese Tatsache erklärt schon an sich jene Atmosphäre der Isoliertheit, in welcher der Florentiner Camerata-Kreis tätig war, und die bei den Historikern der Epoche oft den Eindruck der aristokratischen Verschlossenheit erweckt, — obgleich sowohl die Musikschriftsteller der Camerata wie auch der als Komponist an den Höfen des Hochadels tätige Monteverdi das Weltbild des bürgerlichen Fortschritts in ihren Werken und theoretischen Arbeiten zum Ausdruck kommen lassen. Aber dieses Weltbild verblaßt alsbald vor den Widersprüchen, die sich auf dem Boden der Krisenepoche entfalten. Erinnern wir uns an die Worte des mit Zarlino debattierenden Galilei: »Der edelste und wesentlichste Teil der Musik ist der durch den Text zum Ausdruck gebrachte Ideengehalt.«50 Wir wissen, daß diese Auffassung dem humanistischen Weltbild der Renaissance entspringt und mit der Forderung nach musikalischer Darstellung der menschlichen Gefühlsgehalte verbunden ist. Nachdenklich stimmt jedoch die Fortsetzung der Galileischen Argumentation. So sei es zu verurteilen, daß die Anhänger der »modernen« (d. h. polyphonen) Praxis nicht den dichterischen Text bzw. den durch ihn gewonnenen Ideengehalt als das ästhetische Wesen der Musik ansehen, sondern »die Proportion der einzelnen Teile«, das Maß. 51 Selbstverständlich gilt der Vorwurf in erster Linie den im Sinne von Zarlino pythagoreisierenden Theoretikern. Und doch, die kategorische Ablehnung des Prinzips des Maßes, der kompositorischen Proportionalität, bedeutet auch, daß der Begriff der Schönheit jetzt nicht mehr mit dem des Maßes gepaart ist — wie bei Alberti oder Leonardo —, sondern mit der freien Entfaltung und Darstellung der im lyrischen Text zum Ausdruck kommenden Innerlichkeit. Dieses neue Ideal entstammt nicht der Florentiner Blüte; es brachte der Madrigalist Galilei aus Venedig mit, ebenso, wie auch der einstige Schüler Zarlinos in Kenntnis der venezianischen Commedia dell'arte die Beobachtung der typischen Stimmführungen, der Intonationen, seinen Tonsetzer-Kollegen empfiehlt. In der Tat, Venedig — übrigens der einzige italienische Stadtstaat, der seine Selbständigkeit | bewahren konnte — fördert im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts in zwei Richtungen die Kräftigung des musikalischen Bewußtseins: mit einer stets »maßloseren« Farben- und Lichtbehandlung in seiner Malerei, seiner handlungslosen, »musikalischen« Atmosphäre (denken wir an jene Stimmung der Insichgekehrtheit, die schon bei einigen Bildern Bellinis und Giorgiones zu beobachten ist und die bei den großen Manieristen ihren Höhepunkt erreichte), und mit den schauspielerisch-menschlichen Typen der Commedia dell'arte, da die Interpretation der hinter der Maske verborgenen Persönlichkeit immer mehr die Intonationsart der Sprache übernimmt (denken wir an das Leonardosche Modell des »Stummen« bzw. an die Gedanken Galileis, die auf die Beobachtung der typischen Stimmführung drängten). Beide Erscheinungen hängen miteinander zusammen: sie weisen auf neuartige Wege des Selbstausdrucks der Persönlich133

keit, darauf nämlich, daß die Mitteilung sich stufenweise auf die Bekanntgabe jener Innerlichkeit kon2entriert, die sich in dichterisch-musikalischer Form breit und tief ausgestalten kann — breiter und tiefer als in den bildkünstlerischen Werken der für die maßhaltende plastische Darstellung der Persönlichkeit günstigen Blütezeit. A. Heller bringt in der Analyse des Menschenideals der Renaissance die zum Manierismus vorstoßende Richtung der »Maßlosigkeit« auf überzeugende Weise mit den Eigenarten der venezianischen Entwicklung in Zusammenhang (letztlich mit jener Tatsache, daß in Venedig die führende Rolle dem Handelskapital zufiel und nicht dem in der florentinischen Entwicklung eine Schlüsselstellung einnehmenden Industrie-Geldkapital). Anhand dieser Eigenarten meint Ä. Heller ferner, daß sich die Entwicklung der venezianischen bildenden Kunst in Richtung zur Subjektivität — der Darstellung der unaufgelösten Konflikte — verschob und letztlich die Harmonie der Kunst in der Blütezeit auflöste. Ebenso — wenn nicht entschiedener — läßt sich diese Richtung im Entwicklungsgang der venezianischen Kunst des 15. und x 6. Jahrhunderts beobachten. Es genügt, an die expressive Melodiengestaltung der großen Madrigalisten oder an den Farbenreichtum des Instrumentalstils von Andrea und Giovanni Gabrieli zu denken. An diesem Punkt wird es hingegen unzweifelhaft, daß das soeben beobachtete Aufeinandertreffen von Theorie und Praxis nur ein zeitweiliges Intermezzo war, daß das ästhetische Bewußtsein dem Entwicklungsverlauf der wirklichen Praxis der Musik, der Akzentverschiebung und Umwandlung der Bedeutung des ästhetischen Maßes, nicht in allen seinen Details folgen kann. - Gerade bei Monte-verdi ist eine derartige Kraftlosigkeit der Theorie am augenfälligsten. Es ist bekannt, daß dieses epochale Genie des Musikdramas in seinem nach Tasso geschriebenen Tankred und Clorinda für die suggestive Darstellung des tragischen Zweikampfes der beiden Liebenden ein neuartiges Streichertremolo anwandte; seitdem wurde dieser »erregte Stil« zum Ausdrucksmittel des Höhepunkts der dramatischen Tragik, des extremen Siedepunkts der aufeinanderprallenden Leidenschaften. Nun wollte Monteverdi die Berechtigung des stilo concitato im dramatischen Ausdruck auch theoretisch begründen. Als er jedoch in dem Vorwort seines 8. Madrigalbuches (1638), sich auf Piaton berufend, die Forderung aufstellte, daß neben dem »indifferenten« und dem »traurigen Stil« (stilo temperato und stilo molle) auch der erregt leidenschaftliche Stil Bürgerrecht erlange, wurde die Beobachtung der Eigenarten und die ästhetische Verallgemeinerung der neuen Erscheinungen durch das Losungswort der Erneuerung der Antike eher gehindert als gefördert. Mit dem stilo concitato meldete sich nämlich das Prinzip der musikalischen Darstellung der gespaltenen Innerlichkeit, das weder Piaton noch die antike Ästhetik, die das Maß idealisierte, gekannt hatten. Musikgeschichtlich wird es hier zum ersten Male gewiß, daß die von der Camerata vorbereitete neue Kunstgattung Oper nicht aus dem Geiste der antiken Tragödie geboren wurde, sondern aus dem Geiste der modernen Innerlichkeit, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem die für den Ausdruck der neuen Gehalte der Epoche vor allem die Innigkeit der insichgekehrten Persönlichkeit vergegenwärtigende Musik sich mit größtem Erfolg auszubreiten begann. Wir möchten uns hier nur auf ein einziges beweiskräftiges Beispiel berufen. 134

Monteverdis Poppea gewinnt durch das extreme Ausleben der Leidenschaften, das Auseinandersprengen des im antiken Sinne verstandenen harmonischen Maßes, thematisch-inhaltliche und kompositionstechnische Spannkraft. Dieser Weg führt — wenn auch nicht direkt — zu Wagners Tristan. Nun besteht die musikgeschichtliche Bedeutung Monteverdis zum größten Teil darin, daß er in diesem musikalischen Medium des freien Auslebens der Innerlichkeit ein Musikdrama schaffen konnte, in welchem die vulkanischen Ausbrüche der »Maßlosigkeit« von der realistischen und humanistischen künstlerischen Bewußtheit, von dem in den großen Gefühlstypen zugleich menschliche Typen vergegenwärtigenden ästhetischen Maß, mit eiserner Disziplin zum Spiegel der Totalität des Lebens geformt werden. Aber das ästhetische Bewußtsein bleibt vor der theoretisch und geschichtlich gleichermaßen durchdachten Verallgemeinerung der in der neuzeitlichen Tonkunst auf neue Art sich meldenden Wirklichkeitsdarstellung unbeholfen stehen. So erwies sich also die Musikästhetik der Renaissance als zu schwach für die zeitgemäße Erneuerung der Theorie der Mimesis sowie für deren Ausbau zu einer einheitlichen Theorie. Dabei spielte natürlich auch das Problematische der philosophischen Fundierung eine Rolle. Wir erwähnten bereits, daß die Florentiner Musikschriftsteller sich, statt dem scholastisch umgedeuteten Aristoteles, dem Neuplatonismus — der den neuen sozialen und ideologischen Bedürfnissen gemäß erneuert und umgestaltet war — anschlössen. So wurde auf paradoxe Art jene Musikphilosophie zum hauptsächlichsten gedanklichen Modell und geschichtlichen Vorboten für die Ausgestaltung einer realistischen Opernästhetik, die im Vergleich zur Kunstauffassung des Aristoteles die weniger entwickelte Phase der antiken Ästhetik vertrat. An dieser Stelle wollen wir nur auf den Kern der aristotelischen Konzeption, die Theorie der Mimesis, hinweisen. Mag die Erneuerung der platonischen Interpretation des Verhältnisses von Text und Melodie vom Gesichtspunkt der Ausgestaltung der neuen Monodie aus auch von einer noch so großen Bedeutung gewesen sein, so stand der bewußt erkenntnistheoretischen Lösung des Problems dennoch der Umstand im Wege, daß die aristotelischen Grundthesen im allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen wurden. Es ist bezeichnend, daß die wahre Anerkennung des Prinzips der musikalischen Nachahmung nur bei Galilei, in den frühesten Jahren der Camerata, wahrzunehmen ist. Allerdings erfolgte dies damals als eine in die ferne Zukunft weisende Neuerung, in der Gestalt einer realistischen Intonationstheorie. Galilei überwand hier das platonische Niveau in bedeutendem Maße. Wenn er nämlich die Nachahmung der Stimmführung der zu den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen und Schichten gehörenden Menschen als das Leitprinzip der monodischen Melodiegestaltung ansah, trat er gerade für das ein, was Piaton am heftigsten verboten hat: für die in die Gefühlswelt der »fremden« — zu anderen Schichten gehörenden — Menschen sich versetzende, mimisch-mimetische Gestaltung, für die Formung »fremder« menschlicher Schicksale. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß der gegen den Galileischen Dialogo auftretende Zarlino gerade an diesem Punkt, in der Frage der Intonationen, seitens der Konservativen einen energischen Protest erhob. »Die Nachahmung will er 135

uns auf die Weise beibringen« — sagte er in seiner Streitschrift gegen den einstigen Schüler —,» daß er uns die Beobachtung der Schauspieler ans Herz legt, so daß wir selbst zu Komödianten werden. Was hat jedoch der Musiker mit jenen zu tun, die die Tragödien, Komödien rezitieren? Dies ist höchstens Sache des Redners, und nicht des Musikers.«52 Kein Zweifel, Zarlinos Einwand ist auf einer platonischen Grundlage völlig berechtigt. Die letzte erkenntnistheoretische Grundlage der Intonationstheorie von Galilei ist aber die aristotelische Konzeption der mimisch-mimetischen Tätigkeit, obwohl nebenbei der einstige Zarlino-Schüler Galilei sich auch platonischer Gegenargumente bediente. Nun ist es charakteristisch, daß nach dem Tode Galileis (1591) und nach der Übersiedlung Bardis nach R o m (1592) in der neuen Corsischen Camerata — vielleicht mit Ausnahme Peris — niemand den von Galilei fallengelassenen gedanklichen Faden aufnimmt, obwohl sich gerade zu dieser Zeit das Interesse des Freundeskreises der Problematik der Opernästhetik zuwendet. Galileis Rat beschäftigt noch Pen: auch er betrachtet die Intonation der Sprache als Grundlage der Melodiegestaltung. »Ich wußte, daß es in unserer Sprache Wörter gibt, auf deren Intonation Melodien aufgebaut werden können, dann können in der Sprache auch solche vorkommen, die man nicht so (dh. melodisch) ertönen lassen kann, später folgen wieder solche, die Träger einer neuen Konsonanz werden.«53 Peri erkannte außerdem noch, daß die die Intonation der Sprache in Betracht ziehende Monodie sich mit der Formung der Oberstimme nicht begnügen kann, denn der Ausdruck der Affekte, die Gestaltung der dynamischen Grundlage der homophonen Harmonik, erfordert den Baß: »Nachdem ich jene Tonhöhenveränderungen und Akzente berücksichtigte, die unsere Freude, unser Leid und sonstige Erlebnisse ausdrücken, habe ich den Baß dementsprechend gestaltet.. ,«84 Die Theorie der auf Peri folgenden Zeit ließ jedoch den zukunftsvollen Gedanken der Intonation fallen. U m 1640 blickt Doni, der letzte Repräsentant der Bewegung, auf die ästhetischen Bestrebungen der ersten Theoretiker des Stile rappresentativo — unter ihnen Galilei — zurück, wobei er der Frage der Opernästhetik besondere Aufmerksamkeit widmet, aber um die ästhetisch-intonationstheoretischen Grundlagen des monodischen Stils kümmert er sich nicht mehr. Dieselbe Tendenz können wir auch bei Agazzari, dem ersten großen Theoretiker des Generalbaßzeitalters, beobachten. Sein 1670 herausgegebener Traktat stellt der neuen Musik vom stilistischen Gesichtspunkt her die Aufgabe, in ihrer Struktur übersichtlich und klar zu sein; deshalb muß ihm zufolge während der Instrumentation zwischen den melodieführenden und den begleitenden Instrumenten ein Unterschied gemacht werden. Die Aufmerksamkeit des berühmten Meisters des basso continuo geht jedoch über die »Lösung« des bezifferten Baßes, über die Systematisierung seiner Regeln nicht hinaus. Die vielversprechende Initiative der Camerata bleibt somit ohne Fortsetzung.

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DIE ÄSTHETIK DER »BAROCKZEIT« Dennoch erleben diese Jahre den vollkommenen Triumph der neuen Gattung. Jedoch um welchen Preis wird die Oper zur alleinherrschenden Kunstart des Musiklebens? Ihr weiteres Schicksal wird in bedeutendem Maße von dem Verhältnis zum neuen Publikum, von der Umgestaltung des Geschmacks bestimmt. Im Jahre 1637 wird in Venedig das erste öffentliche Opernhaus eröffnet, und nach einigen Jahren werden in den Musikzentren Italiens bereits regelmäßig Vorstellungen gegen Eintrittsgebühren veranstaltet. W i r haben also die im Keime typische Grundform des Musiklebens der bürgerlichen Gesellschaft vor uns: die Musikware, die verkauft und gekauft, produziert und konsumiert wird. Diese Sinnveränderung des Öffentlichkeitsbegriffs wandelt nun, früher oder später, das Verhältnis von Künstler und Publikum, Produktion und Rezeption, das Grundverhalten von Kunstschaffenden und -genießenden. Die Kunstwerke werden von nun an immer mehr zu verdinglichten Kulturgütern. Auf der einen Seite wird die stufenweise erkämpfte persönliche Unabhängigkeit des Komponisten durch die mit dem Warenverhältnis sich einstellende dingliche Abhängigkeit ergänzt, auf der anderen Seite wird die kulturelle Aktivität des neuen Publikums immer mehr durch den passiven Kunstgenuß verdrängt. Und wir werden sehen, auf welche Weise der endgültige Sieg der bürgerlichen Gesellschaft über die feudalen Verhältnisse diese Verdinglichung in typische Entfremdung umwandelt. Im Kapitalismus wird nämlich die Trennung zwischen Künstler und Publikum vollkommen, und jene Widersprüche, die Inhalte und gesellschaftliche Funktion der Tonkunst durchdringen, werden zutage gefördert. Diese grundlegende Widersprüchlichkeit der Entwicklung der kapitalistischen Kultur äußert sich in Keimform bereits in der italienischen Opernproduktion des 17. Jahrhunderts. Im Anfang herrscht die positive Seite vor; die Komponisten der Opernhäuser von Venedig und Neapel konnten schon mit dem Interesse breiterer Massen des opernbesuchenden städtischen Publikums rechnen. Dies blieb natürlich auf die Kompositionen nicht ohne Einfluß und erklärt die zentrale R o l l e der volkstümlichen Liedformen in der Opernmusik des 17. Jahrhunderts, die beispiellose Blüte der Melodik und der Arie, die das dramatische Rezitativ in den Schatten stellt, das Vorherrschen der im Zeichen der symmetrischen Dreiteiligkeit konstruierten Da-capo-Form. Dieser Melodienstrom folkloristischen U r sprungs war in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts noch das Mittel der dramatischen Musik; die »großen Venezianer, die wahren Helden der neapolitanischen Oper« — schreibt Antal Molnar — »waren noch Musikdramatiker: ein jeder Tropfen ihres Blutes gehört der Handlung, der Situation, den aus dem Konflikt entstandenen Gefühlen.« 58 Das ästhetisch Problematische der opera seria dringt mit aller Bestimmtheit dort vor, w o das dramatische Element aus dem Musikdrama verdrängt wird und die Da-capo-Arien, die ursprünglich eine charakter- bzw. situationdarstellende Rolle spielten, zu einer Girlande der mit virtuoser Technik vorgetragenen, völlig undramatischen, der unmittelbaren sinnlichen Zerstreuung des Publikums dienenden Solonummern herabsinken. Daß es zu dieser Veränderung kam, hängt auch mit der U m w a n d 137

lung des Publikums zusammen. Die große Krise der italienischen Renaissance, die eine notwendige Folge der Ablenkung der Seewege, des Verfalls der ersten Stadtstaaten, des Fehlens der nationalen Einheit war — diese Krise lähmte für eine lange Zeit die politische Aktivität der bürgerlichen Schichten. W i e hing nun die Entfaltung der italienischen Oper mit diesen politischen Veränderungen zusammen? Vor allem auf die Weise, daß die dramatische Musik den im übrigen unterdrückten, zu einem Inkognito-Dasein gezwungenen neuen menschlichen Gehalten, unter ihnen den nationalen Unabhängigkeitsideen und der bürgerlichen Freiheitsidee, Bewegungsraum verschaffte; die Krise des Renaissance-Humanismus förderte hingegen in der auf dem Boden der Warenverhältnisse aufblühenden neuen Opernkunst die wesentlichen Zeichen des Verfalls zutage. Die Form der Oper zeigt seit der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert auf empfindliche Weise die innere Problematik der Gattung an. Es ist in diesem Zusammenhang nicht überraschend, daß die aufblühende Opera seria die besten ästhetischen Bestrebungen der Florentiner zum Vergessen verurteilte. Allerdings bedeutet diesmal die Krise der Theorie keine historische Sackgasse, wie in der hellenistischen Epoche, sondern nur einen vorübergehenden U m w e g , ein Zurückweichen, nach dessen Niederringung der Fortschritt auf einem höheren Niveau ermöglicht wird. Deshalb kann die Musikästhetik — sich die Veränderung der Praxis erneut vor Augen haltend —• in gewissen Grenzen Neues und Originelles bieten, selbst im Augenblick des Zurückschreitens. W i r hatten bereits auf Donis Charakterisierung des neuen Opernstils hingewiesen, die das nördlich-gotischkontrapunktisch Barbarische, »die dumme teutonische Manier«, v o n den ästhetischen Ideen der durch Brunelleschi, Giotto und die neue Musik vertretenen italienischen Wiedergeburt scharf trennte. Trotz seiner ahistorischen Voreingenommenheit hat D o n i in bezug auf die Beobachtung des Faktums der Absonderung selbst unbedingt recht. Denn um die Mitte des 17. Jahrhunderts war das Abweichen der »südlich«-italienischen und der »nordisch«-deutschen »Manier« voneinander eine unzweifelhafte Tatsache. Man denke an die neapolitanische Praxis des Belkanto, in der sich die stilistischen Eigenarten der italienischen Musikalität sozusagen bis ins Extreme steigern. So mußte also in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch der Monteverdische Grundsatz in Vergessenheit geraten; der Belkanto beraubte den Text seines früheren ästhetischen Ranges und machte ihn erneut zum Diener der Musik. Diesmal kam jedoch gerade jenes Prinzip zur Geltung, das v o n Anfang an in der Tiefe der Musikästhetik der Renaissance schlummerte: das Prinzip des Auslebens der musikalisch dargestellten Gefühle, der Autonomie der Tonkunst. Die zeitgenössische Musikästhetik beurteilte natürlich diese neue künstlerische Praxis des A f fekt-Auslebens bei weitem nicht eindeutig. Benedetto Marcello sah z. B . in der überhandnehmenden »Opern-Laune« das entschiedene Zeichen für Verfall und Niedergang und charakterisierte die kunstwidrigen Verzerrungen, die effekthaschende Gemeinheit der neuen »Mode« mit bitterer Ironie (Ii teatro alla moda, um 1720). Das ausgezeichnete Repertorium v o n Antal Molnar weist demgegenüber auf die Studie Deila tragedia antica e moderna eines gewissen Martelli (1715) hin, die den Belkantostil der neapolitanischen Oper ganz anders beurteilt. »Obgleich es Martineiii nicht gefällt« — so schreibt Molnar —, »daß die Musik den T e x t unter-

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drückt, so hebt er trotzdem hervor, von welchem Zauber die liebliche Musik sei, die unsere Sorgen vergessen läßt und 'dieselben in unerwartete Ruhe verwandelt'.« 56 Wir werden sehen, daß die Konzeption von Martelli durch die deutsche klassische Ästhetik weiter ausgebaut wurde; Goethe und Hegel leiteten aus dieser spezifischen Bewegtheit des italienischen Gesangsstiles die Gesetzmäßigkeiten der humanen Gehalte der neuzeitlichen Musik ab. Sowohl die Goethesche »Hermeneutik« des italienischen Belkanto wie auch die Unterscheidung Donis weisen erneut auf die Tatsache hin, durch deren Nichtbeachtung das Verständnis der Richtungskämpfe der neuzeitlichen Musikästhetik von vornherein aussichtslos wird. Es handelt sich um die Eigenarten der nationalen Entwicklung, um jene nationalen Charakteristika der Tonkunst, die im Geschmacksideal, in der kunstgeschichtlichen und kunstkritischen Richtung der einzelnen ästhetischen Systeme notwendigerweise zum Ausdruck kommen. Wir möchten hier die bedeutenden einschlägigen Gedanken des Goetheschen Diderot-Kommentars zitieren. »Alle neuere Musik wird auf zweierlei Weise behandelt, entweder daß man sie als eine selbstständige Kunst betrachtet, sie in sich selbst ausbildet, ausübt und durch den verfeinerten äußeren Sinn genießt, wie es der Italiäner zu thun pflegt, oder daß man sie in bezug auf Verstand, Empfindung, Leidenschaft setzt und sie dergestalt bearbeitet, daß sie mehrere menschliche Geistes- und Seelenkräfte in Anspruch nehmen könne, wie es die Weise der Franzosen, der Deutschen und aller Nordländer ist und bleiben wird. Nur durch diese Betrachtung als durch einen doppelten Ariadneischen Faden kann man sich aus der Geschichte der neuern Musik und aus dem Gewirr parteiischer Kämpfer heraushelfen, wenn man die beiden Arten da, wo sie getrennt erscheinen, wohl bemerkt und ferner untersucht, wie sie sich an gewissen Orten, zu gewissen Zeiten, in den Werken gewisser Individuen zu vereinigen gestrebt und sich auch wohl für einen Augenblick zusammengefunden, dann aber wieder aus einander gegangen, nicht ohne sich ihre Eigenschaften einander mehr oder weniger mitgetheilt zu haben, da sie sich denn in wunderbaren, ihren Hauptästen mehr oder weniger annähernden Ramificationen über die Erde verbreiteten. Seit einer sorgfältigen Ausbildung der Musik in mehreren Ländern mußte sich diese Trennung zeigen und sie besteht bis auf den heutigen Tag. Der Italiener wird sich der lieblichsten Harmonie, der gefälligsten Melodie befleißigen, er wird sich an dem Zusammenklang, an der Bewegung als solchen ergötzen, er wird des Sängers Kehle zu Rathe ziehn, und das, was dieser an gehaltenen oder schnell auf einander folgenden Tönen und deren mannigfaltigstem Vortrag leisten kann, auf die glücklichste Weise hervorheben und so das gebildete Ohr seiner Landsleute entzücken. Er wird aber auch dem Vorwurf nicht entgehen, seinem Text, da er zum Gesang doch einmal Text haben muß, keineswegs genug gethan zu haben. Die andere Partei hingegen hat mehr oder weniger den Sinn, die Empfindung, die Leidenschaft, welche der Dichter ausdrückt, vor Augen; mit ihm zu wetteifern hält sie für Pflicht. Seltsame Harmonien, unterbrochene Melodien, gewaltsame Abweichungen und Ubergänge sucht man auf, um den Schrei des Entzückens, 139

der Angst und der Verzweiflung auszudrücken. Solche Componisten werden bei Empfindenden, bei Verständigen ihr Glück machen, aber dem Vorwurf des beleidigten Ohrs, in so fern es für sich genießen will, ohne an seinem Genuß Kopf und Herz Theil nehmen zu lassen, schwerlich entgehen.«57 Goethes Grundkategorien (selbständige Kunst — Affektenmusik) sind gewiß nicht die geeignetsten zur Erfassung des Wesens der angezeigten nationalen Eigenarten: denken wir nur daran, einen welch tiefen Affektenausdruck die sogenannte Selbständigkeit der italienischen Musik evoziert. Trotzdem beleuchtet die ganze Analyse in konzentrierter Form die grundlegenden Typen der neuzeitlichen Entwicklung der europäischen Musik. Die nach 1849 immer mehr in Formalismus und Irrationalismus versinkende Ästhetik — von Theodor Vischer bis zu den verschiedenen geistesgeschichtlichen Richtungen •— erwähnt oft die sogenannten Antinomien der Tonkunst; derart wird der angeblich ewige und antagonistische Gegensatz von Homophonie und Polyphonie, Melodie und Harmonie, akkordischer und polyphonischer Konstruktionsweise usw. immer mehr zur ahistorischen Abstraktion. Nichts ändert sich an diesen metaphysischen Konstruktionen, wenn man sie äußerlich in Bewegung setzt, diese Gegensätze »historisiert«, wenn man z. B. — wie wir dies in der Musikgeschichte von Paul Bekker oder in der musikalischen »Generationenlehre« von Alfred Lorenz beobachten können — vom »ewigen« Kampf der Homophonie und Polyphonie die komplizierten Vorgänge der neuzeitlichen Musik abzuleiten versucht. Die als Ausgangspunkt dienende Konstruktion wird in solchen Fällen zum Mittel der Verzerrung der geschichtlichen Wirklichkeit. Nicht so bei Goethe: seine Analyse geht von der wirklichen Kompliziertheit des geschichtlichen Vorgangs der Musik aus, wonach die Unterscheidung der geschichtlich gereiften Eigenarten der zwei Grundtypen auch die Anerkennung der ebenso unter geschichtlich konkreten Umständen sich verwirklichenden Synthese nicht ausschließt. Goethes Unterscheidung kann deshalb zum Verständnis der deutschen Eigenarten der barocken Musikauffassung als Grundlage dienen. Es lohnt sich, zuerst einen Blick auf die Lage der mit der Camerata gleichaltrigen deutschen Musiktheorie zu werfen. Die im 15. Jahrhundert aufblühende städtische Kultur beeinflußte natürlich die Musik und Musikauffassung des Zeitalters auch auf deutschem Boden vorteilhaft. Vergleicht man den in den Jahren nach 1490 geschriebenen Musiktraktat des Adam von Fulda mit den Schriften des Baseler, später Freiburger Professors für Poetik, Glarean (Isagoge in Musicen. . . 1516, Dodekachordon, 1547), so gewinnt man ein anschauliches Bild über die rasche Verbreitung der neuen humanistischen Auffassungsweise in Deutschland. Laut Adam von Fulda betreibt die Musik als wahre Philosophie die ständige Betrachtung des Todes; woraus er dann schließt, daß die Formprinzipien des Kontrapunkts die vollkommensten sind, da sie die Nichtigkeit des menschlichen Seins, die Notwendigkeit der Vergänglichkeit, suggestiv ausdrücken.58 Der mit Erasmus befreundete Glarean hingegen — in scharfem Gegensatz zum theologisch-ästhetischen Prinzip des memento mori und der daraus folgenden Idealisierung des Kontrapunktes — verlangt von der Musik die Vergegenwärtigung des sinnlichen Farbenreichtums der Welt und der »natürlichen« Affekte. Mit einem treffenden Ausdruck von Schäfke59 ist

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dies eine Art von szenischer Betrachtungsweise, die auf dem Prinzip von ut pictura musica beruht und, ähnlich der gleichaltrigen italienischen Theorie, zwischen Musik und Malerei das engste Bündnis herstellt. Auch darum bemängelt Glarean — in diesem Punkt bereits die Camerata antizipierend — die Kompliziertheit der niederländischen Polyphonie und lobt auch in Josquin das Neue: die Vereinfachung der in den Dienst des Affektausdrucks gestellten Mittel, die größere Übersichtlichkeit der Komposition. Das neue humanistische Weltbild gerät also auch bei ihm in den schärfsten Gegensatz zur Musikmathematik, der »erkünstelten« Polyphonie. Das musikalische Ideal des Glarean ist der primär gefühltragende einstimmige Gesang, mag es eine altgriechische Melodie oder ein gregorianischer Choral oder gar ein originales Volkslied sein. Dessen ungeachtet führt der deutsche Humanismus nicht zu einer wahren R e naissance, selbst nicht in seiner schweizerisch-süddeutschen Variante. Die Laufbahn des Erasmus gibt nicht nur von der Größe dieses Humanismus ein Bild, sondern auch von jenen geschichtlich unglücklichen Umständen, die den besten Bestrebungen des deutschen ideologischen Fortschritts ein jähes Ende bereiteten und sie verkehrten. Es ist hierbei nicht nur davon die Rede, daß die antifeudalen Kräfte mit dem Losungswort der protestantischen Reformation, also in religiös-ideologischer Form, ihre Klasseninteressen und politischen Ziele bewußt werden ließen. Das verhängnisvolle Ereignis, das das Schicksal der deutschen nationalen Einheit und des Fortschritts in Deutschland auf Jahrhunderte besiegelte, war die Niederwerfung der Bauern im Großen Bauernkrieg 1524/25. Damit nahm die neuzeitliche deutsche Entwicklung ihren Anfang, mit all ihrer Tragik, die bis in die Gegenwart reicht. Der beispiellose Niedergang des deutschen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens im 17. Jahrhundert, unter anderem bedingt durch den Dreißigjährigen Krieg, weist auf die Ouvertüre der Tragödie zurück: auf die im 16. Jahrhundert erlittene Niederlage der antifeudalen Kräfte, auf den Vorstoß der die Ständeordnung durch innere Demut »modernisierenden« Religiosität, auf die Tatsache, daß die Entwicklung zur Nation verpaßt war. Dies ist der tiefste Grund dafür, warum die Laufbahn des Humanisten Erasmus in eine Widersprüchlichkeit mündet, wie sie die Humanisten der italienischen Renaissance nie gekannt hatten. Als Gegenbeispiel denken wir an die Bewußtheit des Italieners Petrarca, an das Pathos des Pico della Mirandola und daran, wie diese Männer die in der Diesseitigkeit des Menschen verborgenen Entwicklungsmöglichkeiten bewußt machten. Die Tragik der deutschen Entwicklung spiegelt sich natürlich auch in der Kunst des Zeitalters. Es ist kein Zufall, daß eine Italienreise im Leben Dürers oder Schütz' einen wahren geistigen »Klimawechsel« bedeutete, wie es ebenfalls kein Zufall ist, daß sie — in ihre Heimat zurückgekehrt — nicht in der Lage waren, die Lebensanschauung und Kunstauffassung ihrer italienischen Kollegen künstlerisch einzubürgern. Man denke an den gegensätzlichen weltanschaulichen Ausgangspunkt und die gegensätzlichen ästhetischen Folgen der bezüglich der Proportionenlehre durchgeführten Forschungen von Leonardo und Dürer. Anders als der die Einheit der Schönheit und des Maßes betonende Leonardo äußert sich Dürer stets zurückhaltend über das Schönheitsideal der Renaissance: » . . . ich könnte es nicht richtig

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beschreiben, welche Proportion sich der wahren Schönheit am meisten nähern würde.« 80 Tiefe Resignation, R i n g e n und künstlerische Gespaltenheit derselben Art begegnen uns in Schütz' Lebenswerk. Das Grunderlebnis des Ausgeliefertseins und der Bedrängtheit des Menschen hindert ihn daran, sich mit der weltlichen Melodiebehandlung und dem orchestralen Farbenreichtum, mit dem neuen Weltbild des Madrigalismus, der instrumentalen Monodie der von ihm bewunderten Venezianer auch weltanschaulich-ästhetisch zu identifizieren. Eine vielsagende Angabe ist es, wenn er im Vorwort der Cantiones sacrae (1625) die Praxis des basso continuo für unmusikalisch erklärt; im Vorwort der Geistlichen Chormusik (1648) legt er den jungen Komponisten die Aneignung des strengen Kontrapunkts — ohne Generalbaß — ans Herz.® 1 Trotzdem kann nur eine der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung nicht Rechnung tragende, vulgäre Geschichtsauffassung darin einen Rückschritt erblicken. Einerseits w i r d durch die Eigenart der deutschen Verhältnisse verständlich, warum sich der humane Gehalt der zeitgenössischen Musik in den Ausdrucksformen der religiösen Innerlichkeit auflösen mußte; andererseits ist es ebenfalls unzweifelhaft, daß in der Musik — und nur in der Musik — die gesellschaftliche und menschliche Problematik der Zeit ihren höchsten ideell-künstlerischen Ausdruck erhalten konnte. Die Musik hüllt also auf deutschem Boden die Innerlichkeit des Menschen in ein ebensolches Inkognito, wie die einstige italienische Oper. Gerade deshalb wird sie zur repräsentativen, die tiefsten menschlichen Inhalte am umfassendsten widerspiegelnden Kunst der »Barockzeit«. W i r möchten hier auf die ästhetische Entdeckung von G. Lukács, auf die Theorie der unbestimmten Gegenständlichkeit, hinweisen. Der plötzliche Auftrieb in der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts bleibt nämlich ein Geheimnis mit sieben Siegeln, wenn wir das eigentliche Paradox der musikalisch evozierten Innerlichkeit nicht verstehen: die Verbundenheit und Gleichzeitigkeit von affektiver Eindeutigkeit und begrifflichem Inkognito, die wir in den Massenliedern der Zeit, im protestantischen Choral ebenso nachweisen können wie im Lebenswerk v o n J . S. Bach. Deshalb kann die mit Schütz beginnende und bei Johann Sebastian Bach kulminierende musikalische Innerlichkeitsdarstellung zur adäquaten künstlerischen Form der Barockzeit werden, »darum kann die allertiefste Musik sich mit höfisch-zeremoniellen V o r führungen vereinen, ohne am Zentralpunkt, am reinen Ausdruck der Innerlichkeit Schaden zu erleiden; darum kann sie sich mit einer sonst schon stark erstarrten Religiosität vermählen, ohne irgend etwas von ihrer Tiefe einzubüßen, ohne durch eine solche Vereinigung verflacht zu werden, da sie — und nur sie — imstande ist, direkt an den Gefühlsgehalt der echt religiösen Texte zu appellieren, ihren Sinn auf die Höhe der besten zeitgemäßen Subjektivität zu erhöhen, ohne daß hier die sachlich obwaltende Diskrepanz zur offenen oder versteckten Blasphemie würde (wie etwa in der Kreuzigung von Brueghel); ohne daß die neue Interpretation, die Umdeutung der religiösen Gefühle in eine völlig untheologische, undogmatische Innerlichkeit, zu einer Isolierung des Künstlers innerhalb seiner Zeit führen mußte, wie dies beim späten Rembrandt der Fall war.« 62 Durch Lukács' Analyse wird auch die Formierung des typisch neuen Lebensinhaltes deutlich: » . . . Denn das ist es,

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was hier zum erstenmal die Weltbühne betritt: die menschliche Innerlichkeit als 'Welt' für sich, als in sich abgeschlossener Kosmos, dessen Inhalt alles umfaßt, was den Menschen v o n der Außenwelt her in Bewegung setzt, alles, w o m i t er deren an sein Wesen gerichtete Fragen beantwortet, alle Fragen, die er selbst an sie stellt, alle Siege seiner Seele über diese Welt und alle ihre Niederlagen dieser Welt gegenüber.«® 3 Aber je klarer wir die gesellschaftlichen Grundlagen der Blüte der Musik im 17. Jahrhundert erkennen, um so mehr müssen wir auch einsehen, daß die musikalische Darstellung des emotionalen Reichtums in dieser geschichtlichen Situation das begriffliche Inkognito nicht überwinden kann. Deshalb hatte die Epoche v o n Schütz und Bach keine adäquate Musikästhetik, und sie konnte sie auch nicht haben. In dieser Hinsicht teilt die barocke Musiktheorie das Schicksal der italienischen Opernästhetik. Nicht als hätte die Epoche an Äußerungen im Zusammenhang mit der Musik und an musiktheoretischen Traktaten, die die zeitgenössische Praxis spiegelten, Mangel gelitten. Insbesondere die großen Gestalten der Reformation, vor allem Luther, widmeten den mit der Tonkunst zusammenhängenden moralischen Fragen große Aufmerksamkeit und versuchten, die Grundsätze des v o n ihnen eingeführten kirchlichen Volksgesanges auch theoretisch zu rechtfertigen. Luther gab nicht nur über Josquin, den epochalen Meister der niederländischen Polyphonie, eine treffende Charakterisierung, er legte nicht nur durch die Umarbeitung einer R e i h e von kirchlichen Gesängen davon Zeugnis ab, daß er die künstlerischen Bedürfnisse der Zeit verstanden hat. E r erkannte auch die Bedeutung der GlareanschenÄsthetik; 84 er war sich darüber im klaren, daß es zur Aufhebung des Unterschiedes zwischen dem Klerus und den Laienmassen eines einstimmigen Volksgesanges bedürfte, wie ihn bereits die Humanisten gegenüber dem Kontrapunkt popularisiert hatten. Deshalb verwahrte er sich dagegen, daß man die für die Theologie wichtigste Musik, in erster Linie den trivial-allgemeinverständlichen Choral, in Verbindung mit den mathematischen Disziplinen des Quadriviums unterrichten wollte. 65 Besonders beachtenswert sind seine im Zusammenhang mit den in der Musik ausgedrückten Affekten und der Sprachintonation gemachten Bemerkungen in der berühmten Einleitung den Symphoniaejucundae (1538). 88 Es geht daraus hervor, daß das Gefühlsmoment in der Musikauffassung der Reformation eine ebensolche Schlüsselstellung hatte wie in der protestantischen Theologie, die die Bedeutung des persönlichen Glaubens betonte und die scholastischen Gottesbeweise für überflüssig hielt. In diesem Zusammenhang müssen wir neben die auf die musikalischen Affekte hinweisenden Abschnitte des Syntagma Musicum v o n Michael Praetorius auch auf die Äußerungen der großen Komponisten der Barockzeit achten. Indem z. B . Bach den Versuch unternimmt, den Generalbaß zu bestimmen, hebt er neben der Betonung der gottesdienstlichen Funktion auch den Ausdruck der Innerlichkeit hervor: »Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. W o dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music, sondern ein Teuflisches Geplärr und Geleyer.« 07 143

All dies ändert jedoch nichts an der grundlegenden Situation. Die Krise des Humanismus im 15. Jahrhundert, der Vorstoß der neuen Religiosität der Reformation in der deutschen Musikästhetik der Barockzeit hatte eine ebensolche Einengung zur Folge, wie es in der italienischen Musik des Barock der Fall war. Nicht ohne Grund sagt Abert über eine durch den deutschen Protestantismus geschaffene Wendung in der Frage der Beurteilung der weltlichen Musik: »Mit Recht betrachten wir als einen seiner größten und kühnsten Gedanken [nähmlich Luthers] die Aufhebung des mittelalterlichen Unterschiedes zwischen den beiden Reichen, dem geistlichen und dem weltlichen und die Verlegung der Werke des Glaubens in die weltliche Gesellschaftsordnung. Das tritt auch in seinem Verhältnis zur Musik deutlich zutage. Es bezeichnet einen gewaltigen Einschnitt in der Geschichte der Musikästhetik, daß Luther nichts mehr wissen will von einer allein gottgefälligen geistlichen Musik und einer daneben nur geduldeten weltlichen, sondern frisch und frank den Satz aufstellt: auch die weltliche Musik, die der Christ treibt, ist ein Geschenk Gottes und auch ihre Pflege ist Gottesdienst.«®8 Abert hat von musikgeschichtlichem Gesichtspunkt aus recht: Luthers Satz ließ in der Tat einen Weg für den musikalischen Ausdruck der Innerlichkeit offen. Von einer musikästhetikgeschichtlichen Wende, namentlich des theoretisch-ästhetischen Erfassens der um ihre Autonomie kämpfenden musikalischen Praxis, kann man hier wohl kaum sprechen. Die musikalisch dargestellte Innerlichkeit bleibt notwendigerweise im Inkognito; die protestantische Religiosität gibt zur Dechiffrierung der wirklichen Affektgehalte, überhaupt, zur Dechiffrierung der in den musikalischen Formen konfigurierten gesellschaftlichen Verhältnisse keine weltanschauliche Grundlage, und sie kann auch keine geben. Dort hingegen, wo die neue naturwissenschaftliche Forschung versucht, die Schranken des alten Weltbildes zu durchbrechen, ist der musiktheoretische Niederschlag der neuen Entdeckungen gewöhnlich mit der Erneuerung des pythagoreischen Ideenkreises verbunden. Wir möchten vor allem auf Kepler, den Pionier der modernen Astronomie, hinweisen. Dieser geniale Weiterentwickler des Kopernikanischen Systems, der epochale Entdecker der Gesetzmäßigkeiten des Planetenlaufes, unternimmt in seinen musiktheoretischen Erörterungen den Versuch zur Modernisierung des religiösen Anthropomorphismus: Er erneuert die Vorstellung der musica mundana mit der Ergänzung, daß der Planetenlauf notwendigerweise polyphone Klänge erzeugt. Der letzten Formulierung dieses modernisierten Pythagoreismus schloß sich gerade Leibniz, die führende Gestalt der neuzeitlichen Mathematik, der größte Denker seiner Zeit, an. Seine berühmte Definition, der zufolge die Musik ein »unbewußtes Zählen« ist (musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi) ,69 weist deutlich darauf hin, auf welch widerspruchsvollen, mit idealistischen Überbleibseln behafteten Wegen der Fortschritt des musikästhetischen Denkens der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft folgt. Erneut müssen wir hier gewisse wissenschaftsgeschichtliche Folgen der ungleichmäßigen Entwicklung hervorheben. Denn die zu neuen Kräften gelangte pythagoreische Spekulation trug auch diesmal zur Entwicklung der Musiktheorie, der vollständigeren Erkenntnis der akustischen Gesetzmäßigkeiten, der natürlichen

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Grundlagen des sich stetig umformenden Klangsystems bei. Der pythagoreische Standpunkt Leonhard Eulers verhalf z. B. zur Entdeckung von gewissen Gesetzmäßigkeiten der Obertonreihe; der große deutsche Physiker und Mathematiker schuf — neben dem Franzosen Sauveur — die Grundlagen zur modernen musikalischen Akustik. In diesem Zusammenhang müssen wir auch die große Entdeckung von Werckmeister würdigen, der durch künstliche Beseitigung des pythagoreischen Kommas die prinzipiellen Grundlagen für die gleichmäßig temperierte Stimmimg von Instrumenten schuf und somit der vollständigen Aneignung des auch modulationsfähigen tonalen Raumes einen neuen W e g eröffnete^ Selbstverständlich kann die vom pythagoreischen Standpunkt ausgehende Richtung wirklich Bedeutendes nur dort hervorbringen, w o sie sich in ihrem eigentlichen Element bewegt: bei der Untersuchung der physikalischen Grundlagen der Akustik. Wenn sie hingegen den engen Raum ihres Fachgebietes überschreitet und philosophische Verallgemeinerungen versucht, sinkt sie gewöhnlich zu offener oder verhüllter Mystik herab. Auf alle Fälle ist selbst eine solche regressive Entwicklung von einer gewissen Widersprüchlichkeit nicht frei, und auch hier fehlen nicht die Elemente des innerhalb einer gedanklichen Totalität zur Geltung kommenden, deshalb zu jeder Zeit beschränkten Fortschritts. Besonders gut können wir diese Ungleichmäßigkeit am Gesamtbild der musiktheoretischen Literatur der Epoche beobachten. Hier erinnert Schäfke lehrreich an das dynamische Nebeneinander von Altem und Neuem. 70 Im 17. Jahrhundert steht die auf religiös-kirchliche Art gedeutete Musikmathematik unzweifelhaft im Vordergrund. Praetorius wiederholt — in Verteidigung des alten Motettenstils — den viel zitierten Ausspruch, der für die mittelalterliche und die »reformierte« religiöse Weltanschauung gleichermaßen gültig ist, folgendermaßen: »Ohne Gesetz und Maß zu singen, das heißt Gott selbst angreifen, der alles nach Zahl, Gewicht und Maß geordnet hat, wie Plato sagt.«71 In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen Reformation und Gegenreformation, zwischen dem Protestanten Praetorius und dem Jesuiten Kircher. Allerdings stimmen das Syntagma von Praetorius (1615—20) und die Musurgia universalis von Kircher (1615) miteinander darin überein, daß sie auch das reifende Neue — wenn auch dem Alten untergeordnet — zum Ausdruck bringen. Im Syntagma wird die Theorie von Monodie und Generalbaß eingehend behandelt, die Musurgia sieht in der musica pathetica, der leidenschaftlichen Musik, die von der Antike unterschiedenere Eigenart der modernen Kunst. Schäfke glaubt deshalb das Wesen der Ästhetik der barocken Musik schon in einer Art »früher« Affektentheorie zu entdecken, die sich von der Musikästhetik der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nur darin unterscheidet, daß sie an der Anerkennung des im allgemeinen dargelegten Affektgehalts der Tonkunst festhält und die Ausarbeitung der eingehenden Bedeutungslehre nicht beansprucht.72 Die typische Gestalt dieses Übergangs verkörpert unzweifelhaft Kuhnau, der unmittelbare Vorgänger Bachs im Amt des Kantors der Leipziger Thomaskirche. Sein zu den Biblischen Sonaten geschriebenes Vorwort erwähnt die Mathematik noch mit Ehrfurcht. 73 Aber er weiß schon, daß der Mathematik nur eine dienende und nicht eine herrschende Rolle auf dem Gebiet der Künste gebührt. Andererseits ist 145 1 0 Zoltai: Ethos und Affekt

Kuhnau von der ethisch-kathartischen Bedeutung der Musik tief durchdrungen und überzeugt, daß die Musik infolge ihres affektuosen Gehalts die inneren Bewegungen der Seele, also mittelbar die menschliche Persönlichkeit selbst, in positiver oder negativer Richtung beeinflußt. Er ist aber nur bereit, die ästhetische Wirksamkeit der musikalisch evozierten Affekte in abstrakter Allgemeinheit zu würdigen. Sein satirischer Roman Der Musikalische Quacksalber verhöhnt die Scharlatane der italienischen Musik und versucht auch jene Vorstellung lächerlich zu machen, der zufolge der Musik in bezug auf die Erweckung der einzelnen konkreten Gefühle unbeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung stünden (z. B. in der Beschreibung der »Affektensonate« im Roman, die die Gefühle eines Kardinals so sehr bis in die feinsten Schattierungen wiedergibt, daß auch die Zuhörer automatisch zu denselben Gefühlsreaktionen veranlaßt werden). Deshalb mißt Kuhnau dem Programm, das seine Sonaten verständlich machen soll, eine Bedeutung zu: nur auf diese Weise kann die sich im allgemeinen bewegende musikalische Wirkung in einer gewissen Richtung eingeengt und konkretisiert werden. Dennoch ist diese Konkretisierung in Wirklichkeit ein Zurückweichen vor der ausführlichen Bedeutungslehre der musikalischen Inhalte. Schäfke betrachtet dies als Vorteil. Ihm zufolge ist dies eine kühne und originelle »erkeimtniskritische Grenzsetzung«, die geschichtlich vorwärts, zu Kant, weise und die Überwindung der Affektentheorie im 19. Jahrhundert antizipiert.74 Noch schärfer kommt diese Auffassung in der Geschichte der Musikästhetik von Markus zur Geltung, bei dem Kuhnau als Vertreter des Übergangs zur romantischen Auffassung der Musik erscheint, weil er von der Musik angeblich einen tieferen Gefühlsausdruck verlangte als die das Nachahmungsprinzip verfolgende Affektentheorie. 75 Aus dem Gesagten wird jedoch ersichtlich, daß dieser theoretische Vorteil zugleich auch die Erscheinungsform der geschichtlichen Beschränktheit darstellt und viel mehr von dem zurückgebliebenen Einfluß der religiösen Auffassung als von der Antizipierung eines bürgerlich-romantischen Standpunktes zeugt. Wenn Kuhnau vor der Darlegung der Affektgehalte zurückschreckte, so hängt dies vor allem mit der protestantischideologischen Deutung der Innerlichkeit zusammen, die ihm nicht ermöglichte, den spezifisch ästhetischen Genuß der Musik zu demythologisieren und so den Weg zu einer Hermeneutik der konkreten Typen einer bürgerlichen Gefühlswelt zu ebnen. Gerade darum ist hier »die erkenntniskritische Grenzsetzung« das Produkt einer Weltanschauung, die mit der spezifisch deutschen Misere in engem Kontakt steht. Keineswegs können wir es als Zufall ansehen, daß zur eigentlichen Entfaltung der deutschen Musikästhetik die reiche Hansestadt Hamburg den entscheidenden Impuls gab. Denn diese Stadt blieb von den verheerenden Stürmen des Dreißigjährigen Krieges verschont, und ihre Bürger verfügten über eine entwickelte Industrie und einen blühenden Handel, die ihnen gestatteten, bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (1677/78) nach venezianischem Vorbild das in Deutschland erste öffentliche Opernhaus zu betreiben. Nun, das »Venedig Deutschlands« sandte nicht nur Händel auf seinen welterobernden Weg, es schuf auch für Mattheson eine kulturelle Grundlage. Und Mattheson blieb die führende Gestalt der zu 146

•wissenschaftlichem Rang gelangenden deutschen Musikästhetik des 18. Jahrhunderts. Diese Wendung wächst jedoch über die Musik und Musiktheorie der sogenannten Barockzeit hinaus. Mattheson stellt die Verbindung mit der führenden weltanschaulichen Richtung der Ästhetik des sich verbürgerlichenden Europas her. Mit ihm beginnt die Musikphilosophie der Aufklärung.

ANMERKUNGEN 1 Im Zusammenhang mit der isolierten Lage Grocheos s. Gerhard Pietzsch: Die Klassifikation der Musik von Boethius bis Ugolino von Orvieto. (Studien zur Geschichte der Musiktheorie im Mittelalter. Bd. I.) Halle/S. 1929. 2 Zur Erneuerung des Begriffs von cantus prius factus machte einer der führenden Komponisten und Theoretiker der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts, Ernst Krenek, unlängst einen geistreichen, von vielen Gesichtspunkten aus jedoch problematischen Versuch. Krenek sieht in der Gotik geradezu eine esoterische Kunst; ihmzufolge ist es wahrscheinlich, daß die Hörer die spätmittelalterliche Musik, insbesondere die Kompositionen der Niederländer, nicht verstanden haben, und zwar ebensowenig, wie es dem »irdischen Auge« vergönnt war, sich an manchen architektonischen Details der gotischen Dome zu erfreuen, die gewissermaßen »für Gott« geschaffen worden waren. Das Wesen des polyphonen »Subjekts« deutet aber Krenek sehr lehrreich, indem er es als ein von jeder Subjektivität freies Schema definiert, das fertig vorhanden ist, bevor die eigentliche Invention, das durch die Phantasie bewegte musikalische Werk, beginnt. — Ernst Krenek: De rebus prius factis. Frankfurt/M. 19$6. 3 Arnold Hauser: Sozialgeschichte der mittelalterlichen Kunst. Hamburg 1957, S. 10$ f. I S. Heinrich Besseler: Bourdon und Fauxbourdon. Studien zum Ursprung der niederländischen Musik. Leipzig 1950, S. 216-217. 5 In der Ars poetica des Horatius begegnet man zum ersten Male dem Prinzip ut pictura poesis (die Dichtung folgt der Malerei). Nach diesem Muster könnte eine ganze Reihe der Renaissance-Theoretiker vom Prinzip des ut pictura musica reden, demzufolge die Musik in ihren Formprinzipien der Malerei folgt. 6 Besseler weist mit den Ausdrücken von Liedform und Liedsatz auf die neuartigen Prinzipien von Melodienwelt, Konstruktionsart und Form: auf die symmetrische, übersichtlich gegliederte Konstruktion, die sich in Richtung zur Homophonie entwickelt, da die Oberstimme die Führung übernimmt. Im Nachfolgenden, wenden wir die Termini von Besseler in diesem spezifischen Sinne an. ' E b d . , S. 215. ' E b d . , S. 216—217, »Ebd., S. 217. 10 Ebd., S. 215. II Theodor W . Adorno: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt/M. 1958, S. 46. 12 Friedrich Engels: Einleitung zur »Dialektik der Natur«. Marx—Engels Werke. Bd. 20. Berlin 1962, S. 312. 13 Besseler: A . a . O . , S. 228. 14 Schäfke: A . a . O . , S. 235-236. 16 Hammerstein: Die Musik der Engel. A. a. O., S. 143. 16 S. Besseler: A . a . O . , S. 177-178. 17 Ebd., S. 224. 18 Der Begriff von varietas (Vielfältigkeit) weist hier auf den wesentlichen Zug des gotischen Schönheitsideals hin. S. Aussunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. A. a. O., S. 95 f. 19 Besseler: A . a . O . , S. 226. 20 S. Geza Molnar: Altalänos zenetörtenet (Allgemeine Musikgeschichte). Bd. I. Budapest 1930, S. 175.

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10*

21

Bence Szabolcsi: Bevezetes a zenetörtenetbe (Einführung in die Musikgeschichte) - B u d a pest o. J., S. 89. 22 S. B a r n a : A. a. O . , S. 87. 23 S. M o s e r : Dokumente, S. 47. 24 Agnes Heller: A reneszansz ember (Der Renaissance-Mensch). Budapest 1967, S. 51 ff. 25 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt v o n Franz Dirlmeier. Berlin 1956, S. 28. 26 Vasari: A reneszdnsz nagy müviszei (Die großen Künstler der Renaissance). B u d a pest o. J . 27 Leonardo da Vinci: Das Buch von der Malerei. N a c h d e m C o d e x Vaticanus (Urbinas) 1270. Herausgegeben v o n Heinrich L u d w i g . W i e n 1882. Bd. I. S. 217. (Tratt. 180/a) 89 Ebd., S. 217. (Tratt. 180/a). 24 E b d . , S. 19 u. 21. (Tratt. 14). 30 Ebd., S. 21. (Tratt. 14). 31 W i l h e l m Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Gesammelte Schriften. B d . II. S t u t t g a r t - G ö t t i n g e n 1957, S. 16 f., 246 f., insbesondere 416-439 f. 32

Leonardo da Vinci: A . a . O . , S. 55. (Tratt. 27). E b d . , S. 1 6 j . (Tratt. 115). 34 Zitiert aus Laszlö Eösze: Az opera ütja (Der W e g der Oper). Budapest 1962, S. 23. 35 H u g o R i e m a n n : Geschichte der Musiktheorie im IX.—XIX. Jahrhundert. A. a. O., S. 389 f, 38 S. Eösze: A . a. O . , S. 22. 37 S. M o s e r : Dokumente der Musikgeschichte. A. a. O . , S. 57-58. 38 S. Eösze: A . a . O . , S. 21-22. 38 S. Barna: A. a. O . , S. 112. 40 Karl M a r x : Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx—Engels W e r k e . B d . 8. Berlin i960, S. 115. 33

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E b d . , S. 10—11.

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Erst Pierre-Jean Bürette v e r m o c h t e — m e h r als hundert Jahre nach der Publikation v o n Galilei — das Geheimnis der griechischen Notenschrift zu lösen. 43 E . Eösze: A. a. O . , S. 18. 44 S. B a r n a : A. a. O . , S. 120. 45 Ebd., S. 124. " E b d . , S. 126-130. 47 Ebd., S. 130. 48 S. Eösze : A . a. O . , S. 36. 49 Bence Szabolcsi: A valaszüt es egyeb tdnulmänyok (Der Scheideweg u n d andere Studien). Budapest 1963, S. 25. 50 S. Eösze: A. a. O . , S. 22. " E b d . , S. 22. 62 Ebd., S. 24. 53 S. B a r n a : A . a . O . , S. 108-109. 51

E b d . , S. 108-109.

55

Antal M o l n i r : Repertirium a barokk zene törtenetehez ( R e p e r t o r i u m zur Geschichte der Musik des Barock). Budapest 1959, S. 148. 86 Ebd., S. 1 5 5 . 57 Goethes Anmerkungen zu Diderot: Rameau's Neffe. — Goethes Werke. B d . 45. W e i m a r 1900, S. 181-183. 58

E n g e l : Musik und Gesellschaft. Bausteine zu einer Musiksoziologie. Berlin i960. Schäfke: A. a. O . , 273. " ' S . Laszlo Über: Müveszettörteneti olvasmdnyok (Kunstgeschichtliche Studien). Budapest 1909, S. 108. 81 Vgl. Hans J o a c h i m M o s e r : Heinrich Schütz. Z w e i t e Aufl. Kassel u n d Basel 1954, S. 493 f88

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62

Georg Lukacs: Die Eigenart des Ästhetischen. Bd. II. Neuwied/R. 1963, S. 375. Ebd., S. 376. 64 Vgl.: Karl Anton: Luther und die Musik. Zwickau 1928, S. 28. 65 S. den Brief Luthers vom 4. Oktober 1530 an Ludwig Senfl, den berühmten Choralkomponisten. Zitiert von Karl Anton, a. a. O., S. 41. 66 Pfrogner: Musik. . . S. 156—160. 67 Zitiert von Ph. Spitta: Joh. Seb. Bach. Leipzig 1953, S. 318. 68 Hermann Abert: Luther und die Musik. Wittenberg 1924, S. 1 4 - 1 5 . 69 Aus einem Brief an Chr. Goldbach, 17. Apr. 1 7 1 2 . S. Schäfke, A. a. O., S. 289. '«Ebd., S. 286. 71 Ebd., S. 287. 72 Ebd., S. 285. 73 Ebd., S. 296. 74 Ebd., S. 299. 75 Stanislav A. Markus: Musikästhetik. 1. Teil. Leipzig o. J., S. 37—38. 63

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IV.

DIE

AFFEKTENLEHRE

DER

AUFKLÄRUNG

AN DER GRENZE ZWEIER EPOCHEN Uberblickt man den W e g , den das musikästhetische Denken von der Renaissance bis zur frühen Aufklärung zurückgelegt hatte, so kann die scheinbare Verworrenheit des Gesamtbildes das Wesentliche, die in Krisen reifende Erneuerung der ästhetischen Anschauung, nicht verdecken. Die Entwicklung der neuen Auffassung kulminierte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts auf einem Punkte, den man gewiß als abschließenden und eröffnenden Grenzstein der Epoche, als eine qualitative Wende ansehen darf, die der bereits bekannten Herauskristallisierung der frühchristlichen Musikauffassung ähnlich ist. Die großen Denker des aufstrebenden dritten Standes haben diese Wendung herbeigeführt; die typische Musikauffassung des bürgerlichen Fortschritts — die Affektenlehre — erhält in der Gedankenwelt der A u f klärung eine systematische und philosophisch verallgemeinerte Form. Unsere bisherigen Untersuchungen haben bereits auf den weltanschaulichen und: sozialen Grundcharakter, auf den bürgerlichen Klasseninhalt der neuen Musikästhetik hingewiesen. W i r hatten auch gezeigt, daß dieser soziale Inhalt notwendigerweise in nationalen Formen erschien, und daß darum die Ausbreitung der Affektenlehre in der neuzeitlichen europäischen Kultur ein äußerst widerspruchsvoller Vorgang war. Wie bereits die Übersicht über die italienische und deutsche Musiktheorie v o m 15. bis zum 18. Jahrhundert bedingt hatte, über die — die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung hervorrufenden — nationalen Typeneigenarten und die sie bestimmenden gesellschaftlichen Grundlagen ein gewisses Bild zu gewinnen, so müssen wir auch in den kunsttheoretischen Richtungen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts den gesetzmäßigen Zusammenhang von sozialem Inhalt und nationaler Form klären. Die klassische ästhetische Theorie der bürgerlichen Aufklärung, die musikalische Affektenästhetik, kam nicht zufällig auf französischem Boden zustande. Wir möchten in diesem Zusammenhang auf die vielleicht wichtigste Eigenart der neuzeitlichen französischen Geschichte hinweisen: während in Italien und in Deutschland die feudale Zersplitterung den bürgerlichen Fortschritt über lange Jahrhunderte hindurch unmöglich machte, schuf in Frankreich die absolute Monarchie die nationale Einheit. So konnten sich die bürgerlichen Klassenbestrebungen, da die nationale Frage gelöst war, radikal durchsetzen und in den revolutionären Sturz der feudalen Ordnung einmünden. So konnte sich der Klassenkampf der von der französischen Bourgeoisie geführten Volksmassen zur konsequent revolutionären Form der antifeudalen Progression des 18. Jahrhunderts entwickeln. Der in kühnem Aufstieg begriffene, auf das Jahr 1789 weisende W e g der gesellschaftlichen Entwick-

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lung verlieh der französischen Aufklärung gedankliche Kraft, weltanschauliche Konsequenz. Er macht auch verständlich, warum die musikalische Affektentheorie, die einen bürgerlichen Klasseninhalt reflektiert, gerade auf französischem Boden ihre klassische Ausprägung erhielt. Natürlich entstand auch die Musikästhetik des 18. Jahrhunders keineswegs aus dem Nichts; bei ihrer Ausprägung spielten auch die nationalen Traditionen der Theorie eine wichtige Rolle, vor allem die des Klassizismus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Ästhetik der Aufklärung entstand dort, w o sie ihr Verhältnis zu ihren Traditionen kritisch geklärt hatte. DIE KUNST UND DIE KUNSTTHEORIE DES KLASSIZISMUS Zweifellos nahm die klassizistische künstlerische Praxis selbst — die tragédie en musique von Lully ebenso wie die tragédie classique von Racine — als die repräsentative künstlerische Richtung der ersten, fortschrittlichen Epoche der absoluten Monarchie ihren Anfang. Solange der königliche Absolutismus den Erstarkungsprozeß der Bourgeoisie durch die Zentralisierung des wirtschaftlichen Lebens unterstützte, fehlten in der höfischen Kunst auch nicht die progressiven ästhetischen Bestrebungen. Dessenungeachtet stand die absolute Monarchie von Anfang an auf der unbeständigen Basis einer nur provisorischen Klassenallianz, und der Klassenkompromiß spiegelte sich auch in ihrer künstlerischen Praxis und Kunsttheorie. Denken wir an Lully, den Hofkomponisten Ludwigs X I V . und an den von ihm etablierten französischen Opernstil. Eines der Hauptcharakteristika dieses Stils ist die Gesangsdeklamation auf der Grundlage des pathetisch-heldenhaften Deklamationsstils der tragédie classique. Sie soll als Ausdruck einer affektgeladenen Tragik dienen, die v o m Glauben der Erneuerung des antiken Pathos am Leben erhalten wird, die Nachahmung der dramatisch erhöhten Sprache als ihr Hauptziel betrachtet und letzlich dazu berufen ist, auf antiken Kothurnen schreitend die innere Welt des von neuen Inhalten erfüllten neuen Menschentyps darzustellen. Mit vollem Recht ließ Romain Rolland diesem Lully Gerechtigkeit widerfahren, aber zugleich setzte er auch die Grenzen des Lullyschen Stils genau fest: »Trotz manchen machtvollen Akzenten fühlt man, daß die großen leidenschaftlichen Erregungen bei Lully nicht natürlich waren. Er war nicht so leidenschaftlich wie Gluck. Er war ein kluger Mann, der die Leidenschaft verstand und ihre Größe fühlte. Er betrachtet sie außerhalb von sich und zeichnet sie in einer willkürlichen Art.« 1 Es ist nun charakteristisch, daß die Zeitgenossen Lullys Beschränktheit überhaupt nicht spürten. Z u seiner Zeit erfreut er er sich einer einzigartigen Volkstümlichkeit, und La Viéville nahm auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit eindeutiger Lobpreisung jene Werte des französischen Stils des großen »Florentiners« in Schutz, die zu jener Zeit bereits einzelne — unter ihnen Raguenet — v o m Standpunkt des italienischen Wohlklangs aus zu bezweifeln begannen. 2 Dagegen spricht Rousseau in der Nouvelle Helotse über den Vortrag der Lullyschen Opern schon als von einem einzigartigen verworrenen Lärm, einem affektlosen und doch aggressiven Geschrei. O b w o h l — w o r an Romain Rolland erinnert hat—»zwischen dem Tode Lullys und dem Aufstieg

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Glucks die musikalischen Aufführung immer schwerfälliger wurde«, 3 ist dies an sich noch kein ausreichender Grund für eine so tiefgreifende Veränderung der ästhetischen Beurteilung. Der Wandel geht dabei erneut auf gesellschaftliche Ursachen zurück. Die erste große Blütezeit der opéra seria fällt sowohl in Italien wie in Frankreich mit der progressiven Phase der absoluten Monarchie zusammen. Als sich jedoch das im Zeichen des Absolutismus zustande gekommene Klassenbündnis auflöst und die zum Bewußtsein ihrer eigenen Klasseninteressen erwachte Bourgeoisie — die sich an die Spitze der antifeudalen Kräfte stellt — gegen die alte Ordnung, das ancien régime, zu einem ideologischen und politischen Angriff übergeht, wird die klassische Tragödie genau so wie die klassizisierende »lyrische Tragödie«, die heroische Oper, immer mehr zu einem starren und leeren Formgebilde. Dieses Formgebilde versuchte vergebens, die nach den Rezepten der szenischen W i r k u n g hergestellten, künstlerisch-pathetischen Stilmittel zum Leben zu erwecken. Nicht ohne Grund gibt die bürgerliche Kultur der Aufklärung den als Grundlage des Klassizismus unentbehrlichen politischen und ästhetischen Kompromiß auf. Der Geist des Klassenkompromisses, der die Widersprüchlichkeit der klassizistischen künstlerischen Praxis hervorrief, durchdrang natürlich auch das ästhetische Denken der Zeit. Boileaus L'art poétique versuchte ausdrücklich im Zeichen der Versöhnung des bürgerlichen und aristokratischen Geschmacks die Kodifizierung der Formungsprinzipien des Klassizismus. Die eine Linie dieser ästhetischen Normative weist unzweifelhaft zur Aufklärung, sie antizipiert unmittelbar die Diderotsche Auffassung v o m Realismus (unbedingte Einheit von Schönheit und Wahrheit, Forderung der Nachahmung der Natur). Beachtenswert ist dabei, daß Boileau, indem er die Lebenswahrheit der Kunst sucht, die Notwendigkeit des Ausdruckes der in der menschlichen Natur wurzelnden Leidenschaften als eine ästhetische N o r m gelten läßt. Diese Tendenz des Realismus wird aber durch die IdeaÜsierung der rationalistischen Zurückhaltung, die aus den Anforderungen des höfisch-aristokratischen Geschmacks entstanden ist, durchkreuzt. Boileau hielt die künstlerische Darstellung der Leidenschaften nur insofern für berechtigt, als diese v o m sogenannten klaren Verstand dem supponierten Prinzip der universellen Harmonie entsprechend geregelt und diszipliniert werden. D a r u m erlangt in der Ästhetik des Klassizismus die Kategorie des Maßes als universales ästhetisches Grundprinzip wieder eine zentrale Rolle. Allerdings wies diesmal das Maß nicht auf die inhaltlich harmonische Einheit von Individuum und Gemeinschaft hin, wie dies in der Antike der Fall war, sondern es bedeutete letztlich eine formal konstruierte Harmonie zur künstlichen Zusammenfassung der disharmonischen Pole von individueller Leidenschaft und abstrakter allgemeiner Moral. Auch hier ist die Theorie nichts anderes als verallgemeinerte [Praxis. Ebenso, wie die tragédie classique unfähig war, die Shakespearesche dynamische Einheit zwischen den privaten Leidenschaften und den großen geschichtlichen Tendenzen der Epoche zu bewältigen, 4 genau so war auch die klassizistische Ästhetik nur in einer der abstrakten Ratio untergeordneten Form geneigt, die ethische und ästhetische Berechtigung des Ausdrucks der individuellen Affekte anzuerkennen. Ähnlich dem typischen Konflikt in Corneilles Tragödien zwischen den unvereinbaren Polen des realen Affekts und der abstrakt normativen Pflicht, bleibt auch 153

die Boileausche Ästhetik in der unvermittelten, starr antagonistischen Widersprüchlichkeit von Realem und Idealem, Lebenswahrheit und rationalistischer Mäßigung, bürgerlich-humaner Leidenschaft und höfisch-aristokratischer Disziplin stecken. Diese Widersprüchlichkeit der klassizistischen Ästhetik folgt aus der Ungleichheit ihrer weltanschaulichen Grundlagen. Boileaus Poetik basiert auf der philosophischen Grundkonzeption des Descartes; der Cartesianismus steckt hingegen durchgehend jene ideologischen Grenzen ab, unter denen sich die Kunsttheorie des Absolutismus — und somit auch seine musikalische Auffassung — bewegen kann. Was den Grundcharakter der cartesianischen Philosophie anbelangt, so erhalten wir in der Heiligen Familie eine genaue Charakterisierung ihres dualistischen Wesens. Nach Marx hatte Descartes in seiner Physik der Materie selbstschöpferische Kraft verliehen und die mechanische Bewegung als ihren Lebensakt aufgefaßt. Er hatte seine Physik vollständig von seiner Metaphysik getrennt. Innerhalb seiner Physik ist die Materie die einzige Substanz, der einzige Grund des Seins und Erkennens.5 Demgegenüber spiegelt seine Metaphysik eine Versöhnung mit den wesentlichen Elementen des religiösidealistischen Weltbildes im Geiste des Klassenkompromisses. Dieser Dualismus charakterisiert auch die großangelegte philosophische Affektenlehre in Les passions de l'âme, die als die weltanschauliche Grundlage der cartesianischen Ästhetik gelten darf. 6 Jene Auffassung, derzufolge es keine von vornherein sündhaften Leidenschaften gibt, weil der Wert oder Unwert irgendeiner Leidenschaft nur durch ihre moralische Gerichtetheit bestimmt werden kann, trat schon an sich dem traditionellem Asketentum der christlichen Ethik entgegen. Wir lesen in einem Brief von Descartes : »Die von mir verkündete Philosophie ist weder so barbarisch noch so schroff, daß sie die Befriedigung der Leidenschaften widerlegen würde; im Gegenteil nur darin sehe ich all die Süßigkeit und Freude des Lebens.«7 Dieser humanistische Standpunkt in der Deutung der Leidenschaften bedeutet auch im Vergleich zur antiken Affektenauffassung einen radikal neuen Standpunkt. Descartes äußerte sich fast mit Baconschem Hochmut über die Affektenlehre der Antike: »Dennoch ist das von den Alten hierüber Gelehrte so unbedeutend und meist so wenig glaubwürdig, daß ich die Wahrheit nur dann zu gewinnen hoffen kami, wenn ich die von ihnen betrachteten Wege verlasse.«8 Und als er die den Leidenschaften zugrunde liegende Reflextätigkeit entdeckte, trat er ausdrücklich als der Begründer des »ärztlichen» Materialismus des 18. Jahrhunderts auf. Die Erschließung des Reflex-Mechanismus war eine hohe Leistung der auf Grundlagen des mechanischen Materialismus basierenden Psychologie des 17. Jahrhunderts. Descartes brachte, worauf Rubinstein hinweist,9 als erster den Grundsatz des mechanischen Determinismus bei der Deutung der Entstehung der Leidenschaften zur Geltung: er sprach die These aus, die später bei der ästhetischen Anwendung der Affektentheorie eine entscheidende Rolle spielt, nach der die »Leidenschaften« der Seele (passions) kausal eindeutig determinierte reflexartige Reaktionen auf gewisse objektive Agenzien, auf verschiedene Impulse der Außenwelt seien. Diese Auffassung bahnte der materialistischen Widerspiegelungstheorie erkenntnistheoretisch den Weg. Die Theorie La Mettries von dem l'homme machine dehnt die Gültigkeit der cartesianischen These auf die ganze Bewußtseinswelt des Menschen aus. 154

Andererseits neigte der Dualismus auch hier zu Kompromissen. Die cartesianische Affektenlehre hielt die auf Grund des mechanistischen Determinismus ausgearbeitete Reflextheorie nur in bezug auf die Tierwelt für gültig ; das Wesen des Menschen ist ihr zufolge nicht an die animalische Sphäre der Leidenschaft, sondern an das spezifisch Menschliche, die der »ausgedehnten Materie« gegenübergestellte Substanz, das Denken gebunden. Das Denken hingegen, da es die Tätigkeit (action) der Seele ist, erfüllt eine selbständige Kontrollfunktion: es kann über die gegen die Kontrolle der Vernunft sich auflehnende Welt der Affekte, die das Ausleben ihres ureigenen Wesens anstreben, eine unbedingte Herrschaft ausüben. »Deshalb können selbst Personen mit den schwächsten Seelen eine unbedingte Herrschaft über ihre Leidenschaften gewinnen, wenn auf deren Erziehung und Leitung die nötige Sorgfalt verwendet wird.«10 Es ist darum wohl kaum zweifelhaft, daß das Prinzip der scholastischen Askese hier vom Prinzip des vernunftvollen Maßhaltens abgelöst wird. Die Beschränkung der autonomen Bewegung, der Selbstentfaltung und des Auslebens der Leidenschaften, der Rationalismus der gezügelten Affekte wirkt natürlich darauf zurück, wie das Wesen der Gefühlssphäre aufgefaßt wird. Unter den auf diese Weise entstehenden theoretischen und methodischen Widersprüchen weisen wir nur auf die Problematik der Klassifizierung der Leidenschaften hin. Eine der Hauptbestrebungen von Les passions de l'âme besteht eben darin, daß sie die anscheinend irrationale, »dämonische« Erscheinung der Entfaltung individueller Leidenschaften rational erklärt und so gegenüber der doktrinären Scholastik unter Beweis stellt, daß die Affekte notwendigerweise zur inneren Welt der voll entwickelten Persönlichkeit gehören. Dieses Bestreben wird jedoch von der Idealisierung des rationalistischen Maßhaltens und dem Zurückschrecken vor der vollen Gleichberechtigung der Affekte durchkreuzt. Darum führt Descartes die farbenreiche Welt der individuellen Gefühle auf sechs Grundaffekte bzw. auf die Kombinationen der Grundaffekte zurück. Deshalb wagt er das Unmögliche: er möchte die Welt der Affekte der in konkreter Totalität sich entfaltenden Persönlichkeit zeitlos-abstrakt, übergeschichtlich charakterisieren, obwohl sie ihrer Entstehung wie auch ihrer spezifischen Qualität nach ein charakteristisch gesellschaftlich-geschichtliches Produkt ist. Die normativen Thesen der Ästhetik von Boileau waren ebenso zwiespältig: sie sind dabei, die Berechtigung der realistischen Darstellungsweise anzuerkennen, zugleich stehen sie jedoch den theoretisch durchdachten Lösungen im Wege. Die sich vom Klassenkompromiß abwendende Kunsttheorie mußte vor allem mit ihnen abrechnen. Theorie und Praxis des Klassizismus galten deshalb für die Denker der Aufklärung als unmittelbar gegebene Gegner. Es folgt aus der Logik der ideologischen Polemik, daß die Bedeutung des Vorboten in der Hitze des Gefechts selten ohne Voreingenommenheit gewertet werden kann. Nicht selten löst sich die Avantgarde des Fortschritts vor dem Sieg auf, und aus dem einstigen Vorkämpfer und Kampfgenossen, der das letzte Ziel nicht begreifen kann, wird ein Gegner. Auch auf dem Gebiet der Musikästhetik verhält es sich nicht anders. So stellte sich V. Galilei Zarlino entgegen, und so wurde Rameau — der übrigens die auf die Harmonielehre bezüglichen Anregungen Zarlinos im 18. Jahrhundert auf geniale Art verwirklichte — der letzte Vertreter des Klassizismus, der entschiedenste Gegner der Enzyklopädisten. 155

Die ästhetikgeschichtliche Bedeutung Rameaus kann jedoch ebensowenig bestritten werden, wie es heute — seit Debussy — nicht mehr möglich ist, seinen hervorragenden Platz in der Geschichte der europäischen Musik zu übersehen. Romain Rolland hat recht, daß die meisten ästhetischen Grundsätze Rameaus bei den Enzyklopädisten und auch bei Gluck fast wörtlich vorhanden sind. Auch ihm gilt als einziges Ziel der Musik die Darstellung von Gedanken, Gefühlen und Leidenschaften. 11 Seine Opernästhetik macht sich die von Galilei bis Grétry immer wieder auftauchende Forderung der Beobachtung des schauspielerischen Vortrages zu eigen, und er sagt, daß »ein guter Musiker sich ganz den verschiedenen Charakteren hingeben soll, die er darstellen will und wie einj geschickter Schauspieler sich in deren Lage setzen s o l l . . . « 1 2 Die Behauptung Hugo Goldschmidts, wonach Rameau die Musik aus »sich selbst«, aus ihrer »harmonischen Eigengesetzlichkeit« habe erklären wollen und deshalb die »außermusikalischen« Inhalte, die musikalische Nachahmungstheorie von vornherein abgelehnt habe, ist eine aus der Luft gegriffene Legende. 13 Batteux, der erste Erneuerer der Nachahmungsästhetik im 18. Jahrhundert, beruft sich nicht ohne Grund auf das »neue musikalische System« Rameaus, 14 das ausgesprochen im Geiste der von ihm vertretenen Nachahmungstheorie die jeweils über Bedeutung (signification) und Sinn (sens) verfügenden musikalischen Ausdrucksmittel inventarisiert. 15 In bezug auf ihre weltanschauliche Position sind Batteux' Ästhetik und Rameaus Harmonielehre gleichermaßen auf dem Prinzip der Nachahmung der Natur begründet. In diesem Zusammenhang können wir Rameau mit Recht als den unmittelbarsten Vorläufer der Affektenästhetik der Aufklärung betrachten; er wendet die cartesianische philosophische Affektenlehre scharfsinnig auf Musikästhetik und -theorie an. Was das musiktheoretische Problem anbelangt, so weist Batteux selbst an der oben genannten Stelle, wo er mit Descartes, Mersenne, Sauveur und Rameau die wichtigsten Etappen des neuen musikalischen Systems angab, auf die Kontinuität des bis zu Rameau führenden Weges hin. Unzweifelhaft besteht dieser Zusammenhang, und vielleicht ist er auch tiefer, als sich Batteux 1746 gedacht hatte. Das Jugendwerk des Descartes, das 1618 geschriebene, doch erst nach seinem Tod, im Jahre 1650 gedruckte Compendium musicae, sowie die Harmonie universelle des mit Descartes befreundeten und in brieflichem Verkehr stehenden Mersenne (1636—37), zeichnen bereits die Hauptlinien für die Musiktheorie des 17. Jahrhunderts vor: Indem sie die Generalbaßpraxis theoretisch verallgemeinern, gelangen sie zum Begriff des Dreiklanges (vgl. Descartes' Theorie über die drei Typen von Konsonanzen und Mersennes harmonie parfaite als die natürlichste und vollkommenste Akkordverbindung von Grund ton, Terz und Quinte), und was noch wichtiger ist, sie weisen, den Grundsatz der funktionellen Harmonielehre antizipierend, auf die innere Sympathie und Antipathie der Akkorde hin. Nicht ohne Grund sieht Riemann darin jene epochale Initiative, die die Grundlagen für die Logik der modernen Harmonik, für die Theorie von der tonalen Funktion der Akkorde geschaffen hat. Sauveur setzte diese Initiativen im 18. Jahrhundert fort, indem er die Rolle der Obertöne in der akustischen Struktur der musikalischen Töne klärte. Endlich gewinnt der ganze Vorgang in den musiktheoretischen Ausführungen Rameaus (Traité de l'harmonie

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réduite à ses principes naturels, 1 7 2 2 ; Démonstration du principe de l'harmonie, 1 7 5 0 ; Nouvelles reflexions. . ., 1752) eine systematische Zusammenfassung und philosophische Verallgemeinerung. W o h l setzen auch diese Studien die »rein« musiktheoretische Literatur wie auch die musikmathematische Überlieferung fort : sie schaffen eine Synthese zwischen der Descartes-Mersenneschen musiklogischen Auffassung und den Sauveurschen akustischen Entdeckungen und führen somit zur Entdekkung der Gesetzmäßigkeiten des tonalen Zentrums der Harmonieordnung, der Tonika (centre harmonique), ferner der Akkord-Umkehrung (renversement), zur Ausarbeitung der Begriffe von Dominante, Subdominante, Trugschluß usw., zum Prinzip der — übrigens schon bei Zarlino auftauchenden und theoretisch durchgehend in problematischer Form verwirklichten — »Gleichberechtigung« des Mollgeschlechts usw. Hinter diesen musiktheoretischen Entdeckungen werden jedoch auch jene weltanschaulich-ästhetischen Prinzipien sichtbar, welche die zeitgenössische musikalische Praxis ebenso durchdrangen wie die theoretische Fachliteratur, die die neuen Fakten der musikalischen Praxis schilderte und systematisierte. Die Musikästhetik von A . Molnàr macht auf diesen Zusammenhang aufmerksam: »Nicht die physikalischen'Entdeckungen' spielen also Rameau (und danach d'Alembert) die N a turprinzipien der Funktionsharmonik in die Hand, sondern gerade umgekehrt: D a sich der musikalische Subjektivismus, der sich bis dahin entwickelt hatte, nur durch die Dur-Moll-Funktionsharmonik zu vergegenständlichen wußte, erschien es notwendig, daß die Theorie die natürlichen Grundlagen der Dur-Moll-Harmonik aufhelle.« 18 Auch Batteux erwähnte gerade in diesem Sinne die natürlichen Grundlagen der sich bei Rameau voll entfaltenden Systematik der neuen Musiktheorie als Wörterbuch und Grammatik jener musikalischen Sprache, die die bedeutende und verständliche Nachahmung der Natur — im Falle der Musik : der menschlichen Natur, also der Gefühlswelt — gewährleistet. U n d das Bewußtsein all dessen fehlte auch R a m e a u nicht. Es ist.seit den scharfsichtigen Beobachtungen von Charles Lalo bekannt, daß sich Rameau dem weltanschaulichen und methodischen Standpunkt des cartesianischen cogito anschloß. 17 Die Démonstration schildert — sich unmittelbar auf Descartes berufend — jenen Vorgang, in dessen Verlauf sein Verfasser die gesetzmäßige Verbindung entdeckte, die zwischen dem v o m klingenden Körper (corps sonore), der »natürlichen« Grundzelle der Harmonielehre, hervorgebrachten Grundton und den mit ihm gemeinsam erklingenden ersten zwei Obertönen besteht. Auch bei ihm ist der Ausgangspunkt, wie bei Descartes, die gegenüber den bisherigen wissenschaftlichen Theorien bekundete faustsche Skepsis, der methodische Zweifel. Daraus folgt als einzige Gewißheit das als Pendant v o n cogito auftretende audio. V o n den Vorurteilen der Vergangenheit will sich auch Rameau auf die Weise lossagen, daß er eine tabula rasa, ein neues Blatt aufschlägt und den Standpunkt der methodisch gesetzten, die erdrückenden Lasten der Überlieferung ablehnenden reinen Subjektivität zur Grundlage nimmt: »Soweit es nur möglich war, versetzte ich mich in die Lage eines Menschen, der noch nie gesungen und noch nie einen Gesang gehört h a t . . . Der erste Ton, den ich vernahm, brachte Erkenntnis. Ich merkte plötzlich, daß dies nicht ein einziger Ton sei, oder auf jeden Fall ist dieser T o n f ü r mich ein zusammengesetzter Ton. Plötzlich sagte ich zu mir: hier ist der Unterschied zwischen dem Geräusch

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und dem Ton.« 18 Und es hat den Anschein, daß aus dem von der reinen Subjektivität aufgefaßten Obertongesetz, ebenso wie aus dem als Gewißheit aufgefaßten Bewußtseinsinhalt des cartesianischen cogito, ein natürliches — also durch falsche Vorurteile nicht verzerrtes — Tonsystem abgeleitet werden kann. Am Ende seiner Ausführungen ruft er mit Verwunderung aus: »Wie viel Prinzipien hier vor unseren Augen aus einem einzigen Urquell entstehen! Sie stammen bloß aus der Schwingung des klanggebenden Körpers, die Harmonie, die basse fondamentale (nämlich der virtuelle, abstrakte Grundton der Harmoniebildung, D. Z.), die Tonreihe . . . Tonarten . . . fast sämtliche Melodien . ..« »Der als Grundton benannte klingende Körper, die ausschließliche Quelle, der Urton und Schöpfer einer jeden Musik, die unmittelbare Ursache jedweder musikalischen Wirkung bringt im Augenblick des Ertönens jene kontinuierlichen Proportionen zustande, aus denen Melodie, Tonreihen, Tonarten oder gar auch die in der Musik verwendeten geringfügigsten Regeln entstehen.«19 Von hier aus ist es nur noch ein Schritt, das harmonische Grundprinzip für allgemeingültig zu erklären. Das Prinzip der reinen Subjektivität führt zu einer These, die auch für die Erklärung des Verhältnisses von Melodie und Harmonie geeignet zu sein scheint: »Die Melodie wird aus der Harmonie geboren und hat in der Musik eine untergeordnete Rolle: sie dient der allzuleichten, nichtssagenden Zerstreuung. Die Melodie gelangt nur bis in die Gehörgänge, die schöne Reihe der Harmonien spricht demgegenüber unmittelbar zur Seele.«20 Die Harmonie ist also das primäre Element in jeder ethisch wirksamen Musik — sous-entendu, instinktiv selbst auch in der antiken Musik. Und weil Rameau die rationalistische Methodik in der Tat konsequent anwendet, so wird es nicht verwunderlich, daß eine solche Interpretation von Melodie und Harmonie mit der Schlußfolgerung der cartesianischen Affektenlehre genau übereinstimmt; notwendigerweise ist die Harmonie hochwertiger als die Melodie, weil sie in der melodischen Vergegenwärtigung der ohne Kontrolle der Vernunft uferlos dahinflutenden Leidenschaften für eine rationale Ordnung sorgt. Die Rameausche Harmonielehre sprengt an dieser Stelle den engen Rahmen der »musiktheoretischen« Untersuchung und weist, das Rätsel ihres Wesens lösend, auf die cartesianische Affektenlehre wie auch auf die künstlerische Praxis des Klassizismus hin. Die cartesianische Weltanschauung und Methodik beruht natürlich auf einer Illusion: die Idee der nur aus sich selbst schöpfenden Subjektivität ist eine unhaltbare erkenntnistheoretische Fiktion. Ihre geschichtliche Bedeutung ist aber trotzdem ungewöhnlich groß. Sie wirft die von der feudalen Ideologie ererbten Vorurteile durch ihre methodischen Zweifel ins Fegefeuer der neuen bürgerlichen Lebensideale; ihr Rationalismus ist ein großzügiges Vorspiel zur Aufklärung der vernünftigen Erkenntnis und Umgestaltung der Natur; ihr Subjektivismus ist der Wegbereiter des bürgerlichen Ideals der totalen Entfaltung der menschlichen Natur. Das mit dem Subjektivismus verbundene Prinzip des Naturhaften trägt hier noch fortschrittliche Inhalte: seine ideologischen Illusionen folgen nicht aus dem falschen Bewußtsein der der geschichtlichen Entwicklung widerstrebenden Reaktion, sondern aus der spezifischen geschichtlichen Lage der zur Führung des antifeudalen Fortschritts berufenen Bourgeoisie. 158

Eine derartige Verbindung von Kraft und Schwäche läßt auch die Rameausche Musiktheorie als paradox erscheinen. Batteux konnte sich — wie wir sahen — noch 1746 auf die Harmonielehre Rameaus als auf die Grundlegung der Nachahmungsästhetik berufen. Unter einer Aufzeichnung der Pariser Akademie v o m Jahre 1749, die im Tone eindeutiger Anerkennung über die theoretischen Entdeckungen des »durch seine praktischen Musikstücke bereits zu großem R u h m gelangten« Opernkomponisten berichtet, ist auch die Unterschrift d'Alemberts zu sehen. Ein bis zwei Jahre vergehen, und das Bild ändert sich von Grund auf. Selbst 1752 unterzog sich d'Alembert noch der Aufgabe, die Rameausche Harmonielehre zu popularisieren; im Verlauf der um die Enzyklopädie entbrannten Polemiken gerät er jedoch mit seinem hochgeschätzten Meister bald in Konflikt. Noch eindeutiger opponiert Rousseau, der als Vertreter der typischen Auffassung der Aufklärung gegen diese Harmonielehre zum frontalen Angriff überging. Vor allem geriet die Deutung des Verhältnisses von Melodik und Harmonik in den Mittelpunkt der Diskussionen. Verkündete Rameau im Namen der vorurteilslosen Subjektivität den natürlichen Primat der Harmonie über die Melodie, so kehrte Rousseau, sich auf dieselbe Subjektivität berufend, die Wertordnung um: bei ihm gilt die Melodie als das Primäre; die »reale Schönheit«, die Harmonie könne nur aus der Melodie entstehen und wäre nur zur Darstellung der »konventionellen Schönheit« fähig. 2 1 Der Vorbote wird nun tatsächlich mit dramatischer Schnelligkeit zum Gegner, zum Hauptvertreter eines zu bekämpfenden Ideensystems. DIE FRANZÖSISCHEN OPERN-DEBATTEN Dennoch ist diese neue Beurteilung der Harmonielehre Rameaus nur als eine Konsequenz anzusehen. Die Hauptfront der großen Debatte verlief auf dem Gebiet der Operndramaturgie. Die Paradoxie der Situation Rameaus trat hier vielleicht noch krasser hervor. Der altkonservative Klassizismus, die Partei der Lullyschen opera seria, bezichtigte ihn, bis zur Premiere von Castor und Pollux (1737), geradezu des italienischen Geschmacks, der Verletzung nationaler Traditionen; doch nach kaum anderthalb Jahrzehnten verkörpern seine Opern in den Augen der Enzyklopädisten bereits den konservativen Akademismus der höfischen Oper. Dies ist der geschichtliche Augenblick, den wir früher als qualitative Wende charakterisierten. W i r möchten hier auf die allgemein bekannten geschichtlichen Umstände hinweisen. Im Jahre 1752 führte in Paris eine italienische Wandertruppe La serva padrona auf, und plötzlich setzten von neuem die Debatten ein. »Ganz Paris teilte sich in zwei Lager, die sich weit mehr erhitzten, als wenn es sich um eine staatliche oder religiöse Angelegenheit gehandelt hätte. Die eine Partei war mächtiger, zahlreicher, da sie aus den Großen, den Reichen und den Frauen bestand, und schwor auf die französische Musik, die andere, lebhafter, stolzer, begeisterter, setzte sich aus echten Kennern und allen talentvollen und genialen Leuten zusammen.« 22 Kleine Ursache — große Wirkung: die Pergolesische Oper konnte der Katalysator des Kristallisierungsprozesses der neuen Musikästhetik werden. An Rameau erfüllte sich das Schicksal, das Diderot prophezeit hatte: der berühmte Komponist, »der 159

uns von Lullys Chorgesang erlöste, den wir seit mehr als hundert Jahren leierten; der gar viele unverständliche Visionen und apokalyptische Wahrheiten über die Theorie der Musik niederschrieb, wovon weder er noch irgendeiner jemals etwas verstanden hat; von dem wir eine gewisse Anzahl Opern haben, in denen man Harmonie, kurze Gesangsstücke, unzusammenhängende Ideen, Getöse, Flugwerk, Festzüge, Raketen, Pomp, Geflüster, atemraubende Jubelhymnen und unsterbliche Tanzweisen findet; der aber von den italienischen Meistern ebenso begraben werden wird, wie er einst den Florentiner begraben h a t . . ,«23 Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, auf die bekannte musikgeschichtliche Chronik dieser großen epochalen Wende näher einzugehen. Wir müssen unser Interesse auf die unter historischem Aspekt der Musikästhetik wichtigen prinzipiellen Probleme konzentrieren. Was die geschichtliche Bedeutung des im Jahre 1752 entbrannten »Buffonisten-Streites« anbelangt, möchte ich nur auf zwei wichtige Umstände hinweisen. Erstens: Die opera buffa vertrat bereits in ihrer ursprünglichen neapolitanischen Form die realistische Opposition der plebejisch-bürgerlichen Kultur gegenüber dem gekünstelten Pathos der in formalistischen Schemata erstarrenden opera seria, und zu ihrem wie auch zum Wesen der die heroische Erhabenheit der Händeischen Opern umkehrenden englischen Beggar's opera gehörte die Entlarvung der fragwürdigen Heldenhaftigkeit, der im späteren Brechtschen Sinne verstandene Verfremdungseffekt. Zweitens: Es kann wohl kaum überraschen, daß die bürgerliche Musikauffassung gerade in den Debatten um die Oper, in den um das neue, bürgerliche Musikdrama ausgetragenen Kämpfen zu sich selbst fand, nachdem sie die Maske der klassizistischen Erhabenheit abgestreift hatte, und daß sie sich bemühte, ihre eigenen theoretischen Positionen in diesem Zusammenhang auszubauen. Sowohl in Paris als auch in Florenz oder Hamburg, w o überall die Atmosphäre des öffentlichen Theaters waltete, ließ die neue bürgerliche Kultur gegen alte Ordnungen ihre Kräfte anspannen; für die antifeudalen fortschrittlichen Kräfte, die sich auf die bürgerliche Revolution vorbereiteten, gab die Oper, das Musikdrama, Mittel und Gelegenheit zur suggestiven Konfrontation der alten und neuen Lebensideale, zur Darstellung des moralischen Antlitzes des neuen Menschen. Wenn die Musikgeschichte die gesellschaftliche Bestimmtheit der Tonkunst außer acht läßt, dann steht sie den anscheinend willkürlichen Veränderungen der Fronten in den französischen Opernpolemiken als einem unverständlichen Rätsel gegenüber; wenn man die musikalischen Parteikämpfe bloß als das höfische Gezänk der »Ecke« um den König oder um die Königin (coin du roi und coin de la reine) auffaßt, so bleibt ihr Inhalt und Sinn in der Tat unbegreiflich. Dabei ist die Lösung des Problems ganz naheliegend. Die Polemik bewegte sich nicht nur um die Wertung der Eigenarten der französischen Oper; die grundlegende Frage richtete sich auf die Beurteilung von Vergangenheit und Gegenwart der französischen Oper, wie sie,' bei Lully und Rameau, in der klassizistischen Kunst der absoluten Monarchie in Erscheinung trat. Eine Bemerkung d'Alemberts wirft auf die politischen Sympathien der Buffonisten ein scharfes Licht: »Manche halten diese Worte für synonym: Buffonist, Republikaner, Frondeur, Atheist, ja sogar Materialist.«24 Es stimmt in den einander gegenüberstehenden Parteien der opera seria und der opera buffa, des französischen und des

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italienischen Geschmacks, nahmen die konservative und die progressive Richtung der geistigen Kultur des auf seine bürgerliche Revolution sich vorbereitenden Frankreichs Gestalt an. D'Alembert rührte am Wesen der Sache, wenn er die gegen die Buffonisten auftretenden Konservativen folgendermaßen reden ließ: »Die Freiheit der Musik setzt die Freiheit der Gefühle voraus, und diese die Freiheit der Tat; die Freiheit der Tat ist aber die Zerstörung des Staates. Bewahren wir also die Oper, so wie sie ist, wenn wir das Königtum bewahren wollen.« 25 Hier erwacht fast die Rigorosität der platonischen Musikauffassung zu neuem Leben, allerdings ohne die antiken Ethosinhalte, als Parodie der ehemaligen Ethoslehre. Die mit der französischen Opernpolemik verbundenen musikgeschichtlichen Legenden entstanden natürlich nicht aus dem Nichts. Denken wir nur daran, daß noch eine führende Gestalt des ästhetischen Fortschritts wie Rousseau zu einer Zeit, die in der Tat die Unterschiedlichkeiten des nationalen Geschmacks in den Vordergrund des Interesses stellte, in nicht geringem Maße dazu beitrug, daß sich die wahren Fronten in den Augen der Nachwelt völlig verwischten. Sein 1753 geschriebenes Pamphlet (Lettre sur la musique française) hatte unzweifelhaft mit einer Art von hoffnungsloser Resignation die Möglichkeit jedweder Erneuerung der französischen Musik verneint; Rousseau versuchte die Melodie-und Rhythmusarmut des von ihm leidenschaftlich kritisierten nationalen Opernstils mit den prosodischen Eigenarten der französischen Sprache zu erklären, w o f ü r die überfeinerte Harmoniebildung den Hörer nicht entschädigen könne. Rousseau blieb aber in der Frage der Beurteilung der Zukunft der französischen Oper letzten Endes ganz allein, was wiederum kein Zufall war. Sein plebejisch-kleinbürgerlicher Oppositionsgeist steigerte die Kritik am korrupten öffentlichen Leben und an der regressiven Kultur des Absolutismus sehr oft bis zur radikaler Kunstgegnerschaft. Diese plebejische Kulturkritik kam mitunter mit so extremer Einseitigkeit zur Geltung, daß sie dem großen Moralisten die Anerkennung des Theaters als »moralische Anstalt« unmöglich machte, die ja bei Diderot ebenso wie später bei Schiller als Grundaxiom galt. Diese rigorose Kulturkritik, die es ablehnt, durch das Theater die Langeweile der »Hochgestellten« vertreiben und sittenverderbende Leidenschaften im Volk entfachen zu lassen, kennzeichnet auch den berühmten Brief über die französische Musik. Aber das Auftreten Rousseaus war nicht einfach die Äußerung einer »Gallophobie«, sondern der Ausdruck des bürgerlichen Standpunktes in plebejischer Gestimmtheit. Nichts beweist dies besser als der Umstand, daß in der Opernpolemik nach 1752 eine nicht weniger scharfe Kritik an dem in konventionellen Schemata erstarrenden Formalismus der italienischen Oper geübt wird. Das Leitmotiv dieser Kritik lautet: O b w o h l der Ursprung der Oper das Drama war, also eine Kunst moralisch-ästhetischer Katharsis, erhob der italienische Belkanto die undramatische szenische W i r kung, die Gesangsvirtuosität und die Befriedigung der Schaulust zur Hauptattraktion. Die Erklärung Grimms, die den Fall des Rameauschen Opernstils mit tiefer Zufriedenheit zur Kenntnis nahm, war besonders beachtenswert: »Was haben w i r dadurch gewonnen? . . . Denn seien wir überzeugt, daß die italienische Oper ein recht unvollkommenes Schauspiel gewährt wie die Sänger, die ihre Zierde sind; alles

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11 Zoltai: Ethos und Affekt

wird dem Ohrenschmaus geopfert.«28 Und auch der Franzose Josse de Villeneuve war nicht der erste und einzige, der »den klaren Verstand« in der italienischen Oper vermißt.27 Der Engländer Addison inventarisierte bereits 1 7 1 1 auf radikale Weise die im Händeischen Rinaldo verkörperten dramaturgischen und szenischen Absurditäten des italienischen Opernstils,28 der Italiener Marcello schrieb um 1720 auf das »modische Theater«, aus dem gerade die große dramatische Kunst verschwindet, eine beißende Satire,29 und auch Goldoni verschonte in seiner Selbstbiographie den formalistischen Schematismus des Musikdramas nicht.30 Es lohnt sich, die Argumentation der Pamphlet-Literatur zu betrachten. Die auf die italienische opera seria und den italienischen Belkanto herniederprasselnden Anschuldigungen sind fast genau dieselben wie die Rousseaus gegen die Oper des französischen Klassizismus und die französische Gesangsdeklamation: sie sei »naturwidrig«, sie verstoße gegen den guten Geschmack, sie stehe im Gegensatz zum gesunden Menschenverstand. Die Ähnlichkeit der stilistischen Schilderung der Symptome weist erneut auf die Problematik des sozialen Inhalts zurück. Die zum Bewußtsein erwachte bürgerliche Musikkritik deckte in der italienischen und französischen Variante der opera seria gleichermaßen den Formalismus auf: die Herrschaft des inhaltlos gewordenen Scheins über das Wesen. Unter solchen Umständen verhieß die Pergolesische opera buffa den »Sieg der Natürlichkeit«. Es war ein günstiger Augenblick für die Deklarierung des Prinzips der Lebensnähe, für die Formulierung der musikalischen Programmerklärungen des bürgerlichen Realismus. Der kritische Gesichtspunkt des nationalen Geschmacks wurde nur auf solche Weise vom Bewußtsein des sozialen Gehalts der Tonkunst unablässig durchbrochen, und es war für Mehul im Verlauf der Revolution bereits nicht mehr schwer, die Rousseausche Fragestellung zu korrigieren: »Das französische Volk ist noch nicht musikalisch, obwohl es sehr empfänglich für Musik ist; aber mit der Zeit wird es singen und es wird gut singen, wenn die Künstler, durchdrungen von der Würde ihrer Kunst und besonders von dem Einfluß, den sie auf den öffentlichen Geist hat, ihre verweichlichten Gesänge vergessen und ihren Akkorden Größe und Festigkeit geben, welche den republikanischen Künstler kennzeichnen soll.«31 Endlich müssen wir im musikgeschichtlichen Zusammenhang auch auf jene Rolle hinweisen, die der Deutsche Gluck bei der weiteren Entfaltung und praktischen Lösung der 1752 entbrannten Polemik gespielt hat. Allbekannt ist, daß selbst das System der königlichen Protektion die Rameausche Oper nicht am Leben und auf dem Spielplan halten konnte, und obwohl die das Pergolesi-Werk vorführende italienische Wandertruppe aus Paris ausgewiesen wurde, war der Sieg der Buffonisten bald evident. Als hätte sich jedoch nach zwei Jahrzehnten das Blatt wieder gewendet, errang Gluck mit seinen Musikdramen einen so überwältigenden Sieg, daß selbst Piccini, der damalige Führer der Buffonisten, das Haupt vor ihm beugen mußte. Damit ergibt sich ein weiterer Anlaß für das Entstehen von musikgeschichtlichen Legenden. Nach diesen Legenden ließ Gluck der in der 1752er Polemik unterlegenen »französischen« Partei »Gerechtigkeit widerfahren«, er brach die Alleinherrschaft der italienischen opera buffa, er erneuerte die antikisierende klassische Tragödie usw. Die Tatsachen 162

bezeugen jedoch, daß die Grundprinzipien der Gluckschen Opernreform jener realistischen künstlerischen Konzeption der Enzyklopädisten entsprechen, die in der Verteidigung der Buffonisten die Hauptrolle spielte. Nur die oberflächliche Betrachtung gewinnt von Glucks Klassizismus den Eindruck, als handele es sich um eine Rückkehr zur tragédie classique, zur Lully-Rameauschen Richtung. Bereits die Wahl der Themen zeigt den neuen, demokratischen Inhalt der erneuerten Antike : die Glucksche Heldenoper bedeutet thematisch eine Abkehr von Rom, dem zur Bestätigung des Feudalabsolutismus idealisierten römischen Cäsarentum, und sie entdeckt Hellas sozusagen als eine neue Welt. Genau die gleiche Wendung nahm der das bürgerliche Klassenbewußtsein spiegelnde Demokratismus auch in der neuen Antike-Vorstellung der linken Enzyklopädisten (Rousseau, Diderot). Charakteristisch ist, daß Rousseau, der leidenschaftliche Buffonist, schnell zu Gluck »überging« : er erkannte in ihm einen Künstler, der das Prinzip der Lebenswahrheit der dramatischen Musik mit voller Bewußtheit vertritt. Mit Recht konnte Romain Rolland sagen : »Die Revolution, für die sich Gluck ganz einsetzte, war nicht das Werk seines Genies allein, sondern das der geistigen Atmosphäre des ganzen Jahrhunderts. Sie wurde seit zwanzig Jahren von den Enzyklopädisten vorbereitet, angekündigt und erwartet.« 32 Und dank Romain Rolland verfügen wir heute in bezug auf die geistige Verbindung zwischen Gluck und den Enzyklopädisten auch über philologische Beweise. 33 Gluck war sich nämlich sehr darüber im klaren, daß er sich nicht in die Polemik zwischen dem französischen und dem italienischen Geschmack einmischen dürfe; er beabsichtigte »eine für alle Nationen geeignete Musik zu erschaffen und die lächerliche Unterscheidung der nationalen Musik verschwinden zu machen«.34 Unbestreitbar zeugt diese Geste von einem plebejischen Humanisten der Aufklärung, der die formalen Unterschiede des nationalen Geschmacks mit einer einzigen Handbewegung zur Seite schiebt und sich zum realistischen Grundcharakter, der humanistischen Berufung der neuen Kunst, bekennt. »Ich trachtete die Musik auf ihre wahre Aufgabe zu beschränken, der Dichtung zu dienen für den Ausdruck und für die Situationen der Handlung, ohne die Aktionen zu unterbrechen oder durch unnötige und überflüssige Zieraten zu hemmen. Ich meinte, daß sie das gleiche bewirken solle wie bei einer fehlerfreien und richtig angelegten Zeichnung die Lebhaftigkeit der Farben und der gut verteilte Konstrast von Lichtern und Schatten, die der Belebung der Gestalten dienen, ohne die Umrisse zu verändern. . . Der Erfolg hat meinen Ansichten recht gegeben und die allgemeine Anerkennung in einer so berühmten Stadt (in Paris, D. Z.) hat deutlich gezeigt, daß die Einfachheit, die Wahrheit und die Natürlichkeit die tragenden Grundlagen des Schönen in allen Schöpfungen der Kunst bilden.«35 Der letztere Satz könnte das Motto des vorrevolutionären bürgerlichen Realismus sein. DIE WELTANSCHAULICHEN GRUNDLAGEN DER AFFEKTENLEHRE

Es ist nach alledem nicht schwer, die wichtigsten ästhetischen Ergebnisse der französischen Opernpolemik zusammenzufassen. Vor allem hatte sie die innere Widersprüchlichkeit der normativen Ästhetik des Klassizismus bewiesen. Der Ablehnung

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der klassizistischen halben Lösungen folgte die Verkündung einer neuen realistischen Konzeption von der Kunst. Sie stützte sich auf die fortschrittlichste philosophische Theorie der Epoche, den mechanischen Materialismus, und verkündete—wobei sie an die antike Mimesislehre anknüpfte—• die bürgerlichen Grundthesen der ästhetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit: die Kunst ist Nachahmung, Darstellung und Ausdruck der Natur; Lebenswahrheit und ästhetische Qualität der Kunstwerke werden durch die treue Widerspiegelung des Lebens gewährleistet. Auch die aufgeklärte Musikästhetik hat sich dieses bürgerliche Programm der Abbildfunktion zu eigen gemacht: sie brachte die Inhalte und Formprinzipien der Tonkunst mit dem Prinzip der Nachahmung der Natur in engsten Zusammenhang. Ihre Neuartigkeit erschöpft sich trotzdem nicht im Prinzip der Nachahmung der Natur. Selbst die auf Natürlichkeit beruhende Musikdeutung war ja kein Sprößling der Aufklärung. W i r konnten oben sehen, daß das Grundprinzip bereits bei Rameau, auch in der klassizistischen Ästhetik überhaupt, anzutreffen ist. Wodurch wird nun hier das Alte vom Neuen sowohl geschichtlich wie auch theoretisch abgegrenzt? Im Le neveu de Rameau führt uns Diderot eine charakteristische Figur des sich auflösenden Feudalismus und der sich entfaltenden bürgerlichen Gesellschaft in satirischer Karrikatur vor: den verkommenen Neffen des großen Rameau, diesen typisch parasitären Taugenichts, der es jedoch — vom hochstaplerischen Carafa des Kuhnau abweichend — auch zuwegebringt, den Zusammenhang zwischen seiner Verlotterung und seiner Epoche und Umgebung mit beißendem Spott und Selbstironie zu erschließen. Auch der Neffe ist Musiker, und was er über die Musik sagt, erweckt in seinem Diskussionspartner Verwunderung und zugleich Arger. Verwunderung, weil er die musikalischen Erörterungen nur gutheißen kann, und Ärger, weil er sich fragen muß, wie sittliche Verkommenheit mit einer derartigen Empfindsamkeit gegenüber den Schönheiten der Musik verbunden sein kann. Denn der jüngere Rameau formuliert zweifellos die spezifischsten Gedanken der Aufklärung. Für ihn ist der große Rameau ein Genie und außerdem ein Perücke tragender alter Herr, den die Zeit auf ihre Weise bestätigte, indem sie über ihn hinwegschritt. Er wirft dem Onkel nicht nur seine jedwede Protektion ablehnende Knauserei vor, sondern auch sein künstlerisches Verhalten, an dem er das CitoyenPathos der neuen Epoche vermißt. »Er denkt nur an sich, die übrige Welt gilt ihm so viel, wie der Nagel eines Blasbalgs. Seine Tochter und seine Frau mögen sterben, wann sie wollen; wenn nur die Kirchenglocken, die sie zu Grabe läuten, die Duodezime oder Septdezime mitklingen lassen, ist alles wieder gut. Das ist ein Glück für ihn; und das lobe ich an den genialen Menschen ganz besonders. Sie sind nur für eine Sache zu brauchen, darüber hinaus zu nichts. Sie wissen nicht, was es heißt, Bürger, Vater, Mutter, Bruder, Verwandter oder Freund zu sein.«38 Deshalb hält er dann die Rameausche Musik — trotz all ihrer Werte — für ungeeignet, den Lebensinhalt der neuen Zeit auszudrücken. Es fehlt in ihr sozusagen »die Dreieinigkeit der Natur«, die Einheit des Wahren, Guten und Schönen. Der heruntergekommene Hochstapler formuliert hier auf dem höchsten Niveau seiner Zeit das Wesen der auf Natürlichkeit beruhenden Ästhetik der Musik und wird

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so zum genialen Interpreten der neuen bürgerlichen Musikauffassung. »Vom N a t u r schrei der Leidenschaft m u ß der Text diktiert sein, der für uns taugt. Diese Ausdrücke müssen einander drängen; die Sätze müssen kurz, ihr Sinn abgehackt und stockend sein . . . Die Leidenschaften müssen stark, die Empfindsamkeit des Musikers und des Textdichters außerordentlich sein. Die Arie ist fast immer der Abschluß der Szene. W i r brauchen Ausrufe, Empfindungswörter, Stockungen, Unterbrechungen, Bejahungen, Verneinungen; wir rufen, wir flehen, wir schreien, wir seufzen, wir weinen, wir lachen frank und frei. Keine Witze, keine Epigramme, keine hübschen Gedanken! Das liegt zu weit von der einfachen Natur.« Deshalb begnügt er sich nicht mit der Nachahmung der von Galilei bis Rameau und Grétry geltenden Forderungen nach Beobachtung der schauspielerischen Deklamation. »Aber Sie dürften nicht etwa glauben, daß das Spiel der Theaterleute und deren Deklamation uns z u m Muster dienen könne. Gott bewahre! Das alles m u ß bei uns viel kräftiger, weniger maniriert und viel wahrer sein. Die einfachen Reden, die gewöhnlichen Laute der Leidenschaft sind uns u m so nötiger, je monotoner die Sprache klingt und je weniger Akzent sie hat; der Naturschrei oder der Schrei des aufgeregten Menschen gibt ihr den Akzent.« 37 Der Rameau Diderots bezieht die »Natürlichkeit« der Musik ohne Zweifel nicht auf die Nachahmung der objektiven Erscheinungen der äußeren Natur, sondern auf den natürlichen, also aufrichtigen und vor nichts zurückschreckenden Ausdruck der menschlichen Natur, der menschlichen Innerlichkeit. Der Charakter dieser Auffassung ist jedoch nur anscheinend selbstverständlich und problemlos. Hinter dem Programm der musikalischen Nachahmung der Natur ist die Unterscheidung von Äußerem und Innerem, von dinghafter und menschlicher Natur, von Objektivität und Subjektivität verborgen. N u n ist jedoch einer der Hauptcharakterzüge der französischen Aufklärung, daß diese Differenzierung noch nicht zu einem entscheidenden Widerspruch führte. Die erkenntnistheoretische Grundlage der Konzeption ist die mechanisch-materialistische Widerspiegelungstheorie, und auf dieser Grundlage erscheint die später zur Mode werdende Gegenüberstellung von »Darstellungsästhetik« und »Ausdrucksästhetik« noch einfach sinnlos. Daher also jene sowohl theoretisch, wie auch historisch zu beachtende Erscheinung, daß der Gegensatz zwischen der Nachahmung der Natur und dem Affektausdruck nur in der von der Hauptlinie der Entwicklung in vielen Beziehungen abweichenden englischen Aufklärung bewußt wird; die m a terialistische erkenntnistheoretische Bewußtheit der die bürgerliche Revolution vorbereitenden französischen Enzyklopädisten verträgt sich noch gut mit der nicht durchdachten, mitunter naiv problemlosen Deutung des ästhetischen SubjektObjekt-Verhältnisses. Die Grundlage bietet der materialistische Sensualismus, dem zufolge der Mensch sämtliche Kenntnisse und Vorstellungen aus der wahrgenommenen W e l t erhält. Diese sensualistische Erkenntnistheorie untersucht das Verhältnis von menschlicher Innerlichkeit und äußerer Natur im Zeichen des mechanischen Determinismus. Holbach schrieb über den Menschen: »Seine sichtbaren Handlungen, ebenso wie die unsichtbaren — in seinem Inneren erzeugten — Bewegungen, die v o n seinem W i l l e n oder von seinem Denken herrühren, sind gleichermaßen natürliche

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Wirkungen, notwendige Folgen seines eigentümlichen Mechanismus und der Antriebe, die er von den ihn umgebenden Dingen erhält.« 38 Daraus ergibt sich dann folgerichtig die Überzeugung daß die getreue Darstellung der menschlichen Natur notwendigerweise die Vergegenwärtigung der äußeren Natur als der letzten Quelle und Grundlage jedes menschlichen Affekts involviert. Auf die Frage, worin die Dichter die Natur nachahmen, antwortet Helvetius mit dem consensus o m n i u m der zeitgenössischen Kunsttheorie: »Darin, daß sie ihre Helden stets jenen Leidenschaften entsprechend reden lassen, v o n denen sie durchdrungen sind.«39 So wird die Darstellung der Affekte von Batteux bis Holbach und Helvetius mit der Darstellung der Natur gleichbedeutend. Diesen Standpunkt vertritt eine Zeitlang auch Rousseau. In seinem Dictionnaire de musique betont er mehrmals, die Musik verfüge geradeso wie die übrigen Künste über jene Fähigkeit, einen jeden Gegenstand der Natur nachahmen zu können. 4 0 Es ist nun bezeichnend, daß Rousseau — beeinflußt von d'Alembert 4 1 — später die Notwendigkeit empfand, die unmittelbare, gegenständliche, allmählich naturalistisch werdende Auffassung von der Nachahmung der Natur zu überprüfen. Die Korrektur bezieht sich jedoch nur auf die zugespitzte Formulierung, und nicht auf die erkenntnistheoretische Grundhaltung. »In der Tat besteht bis auf sehr wenige Ausnahmen die Kunst des Musikers nicht darin, die Gegenstände unmittelbar zu malen, sondern darin, die Seele in eine ähnliche Stimmung zu versetzen, wie diejenige, in welche sie ihre Gegenwart versetzen würde.« 42 Die primären Inhalte des Musikwerkes sind also Affektinhalte; sie können aber in ihrer entschieden gegenständlichen Bestimmtheit nicht verloren gehen. Hinter dem m u sikalisch dargestellten Affekt bleibt die diesen Affekt affizierende gegenständliche Welt, die Natur selbst, in ihrer ontologisch eindeutigen Objektivität erfaßbar. Zugleich stellt die »Natur« in der Ideologie der aufstrebenden Bourgeoisie auch als Synonym für Lebenswahrheit und Vernünftigkeit das Gegenbild zur konventionellen, traditionellen Vorstellungswelt der feudalen Vergangenheit. Insoweit ist sie auch Trägerin von vermittelten und verdeckten gesellschaftlichen Inhalten. Es ist kein Zufall, daß das Prinzip der Nachahmung der Natur von der Renaissance bis zur Französischen Revolution eines der Losungsworte des Kampfes gegen die ständische Gesellschaft war und auch stets ein Element des antifeudalen sittlichen und ästhetischen Ideals blieb. Dieser Bedeutungsinhalt ist auch in der These der musikalischen Nachahmung der Natur vorhanden. Diderots Rameau vermag darum die Forderung nach musikalischer Darstellung der Affektausbrüche mit einem so suggestiven Schwung zu verkünden, weil er ebenfalls jedes klassizistische Ideal des Maßes, der Beschränkung der Genüsse, als lügnerische Heuchelei ablehnt. Auch hier gibt er der allgemeinen Auffassung, der tiefsten Uberzeugung seiner Epoche Ausdruck. In den Augen der Enzyklopädisten ist es par excellence die Tonkunst, die eine das wahre Wesen der Persönlichkeit verdunkelnde Maske nicht zuläßt, und die — entsprechend ihren spezifischen Formungsprinzipien — mit den die Innerlichkeit knebelnden Konventionen und dem die menschlichen Verhältnisse verhüllenden Schein abrechnet. W i r haben bereits auf die musiktheoretische Auffassung Rousseaus in bezug auf den Pri-

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mat der Melodik hingewiesen; ihrzufolge erschließt die Melodie — im Gegensatz zu der nur konventionelle Bezogenheiten spiegelnden Harmonie — das innerste Wesen der menschlichen Natur. Durch ein geistreiches Beispiel erhellt die Anekdote von Grétry diesen entfetischisierenden realistischen Charakter der Tonkunst: »Bei einer Gelegenheit sprach ich mit einem homme de lettres darüber, daß man jede Inflexión der Wörter notieren kann; er verneinte die Möglichkeit und bat mich, daß ich ihn einmal zu Gast lade, um dieses Thema eingehender besprechen zu können. — Als er zu mir eintrat, begrüßte er mich im Ton der Protektion mit einem etwas herablassenden Akzent: Bon jour, monsieur! Im Nu antwortete ich, dieselben Töne singend: ut sol sol u t . . . wodurch er bereits halb bekehrt wurde. Es wäre interessant und amüsant, die Nomenklatur all dieser Begrüßungen bon jour, monsieur, oder bon jour, mon eher zusammenzustellen und mit ihrer wahren Intonation in Musik zu setzen. Es würde klar in Erscheinung treten, was für ein großer Musikmeister der Egoismus (amour propre) ist, und wie die Tonleiter der Begrüßung je nach der gesellschaftlichen Stellung der Menschen sich verändert. So ein »bon jour monsieur« genügt mir zumeist, mit jemandes Überheblichkeit und Naivität im großen und ganzen im reinen zu sein. Denn Höflichkeit und Heuchelei können in der Konversation des Menschen wahres Wesen verschleiern; er ist aber unfähig, auch in seinen Intonationen zu simulieren. Und damit — glaube ich — lobe ich die Menschheit. Derselbe Satz, wenn ihn verschiedene Leute in verschiedenen Situationen aussprechen, gewinnt immer neue und andere Inflexionen; und allein die Wahrheit der Deklamation vermag die Musik zu einer Kunst zu machen, deren Grundsätze in der Natur wurzeln.«43 Der hinkende Teufel von Lesage muß zuerst die Dächer hochheben, um die verborgenen Geheimnisse menschlicher Schicksale und Verhältnisse erlauern und aufdecken zu können. Der Grétrysche Musiker bedarf solcher teuflischer Kniffe nicht, um den Vorgang des Scheins zu lüften; ihm ist es gegeben,aus der durch die Affekte hervorgerufenen unterschiedlichen Betonung und der emotional bedingten Melodik der alltäglichen, lebendigen Sprache ein richtiges Abbild des Charakters zu entwerfen. Es ist unmöglich zu übersehen, daß die Deutung der künstlerischen Darstellung der Affekte über die ästhetische Konzeption des Klassizismus weit hinauszeigt. Hier ist keine Rede mehr davon, daß die Gefühlssphäre unter der Fuchtel der Ratio stehen müsse. Der bei Boileau beobachtete und bei Rameau zur harmonischen Grundlage gewordene cartesianische Rationalismus wird hier von der aufgeklärten bürgerlichen Natürlichkeit und der Forderung nach der aufrichtigen und durch Konventionen nicht behinderten Darstellung der Affekte abgelöst. Es taucht nun die Frage nach den philosophischen Grundlagen dieses neuen ästhetischen Ideals auf. Wir müssen vor allem wissen, daß die kritische Überwindung der cartesianischen Affektenlehre bereits zur Zeit des Descartes begonnen hat. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts konnte sich diese Weiterentwicklung natürlich nur indirekt zeigen. Es ist kein Zufall, daß es zum erstenmal in den an der Spitze der Kapitalisierung schreitenden Niederlanden zur auch erkenntnistheoretisch fundierten Vertiefung

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der philosophischen Affektenlehre kam. Spinoza war der erste, der den nach Descartes fallengelassenen Faden wieder aufhob. E r schuf — wenn auch im theologischen Gewand — das entwickeltste materialistische Gedankensystem des Jahrhunderts. Die deterministische Auffassung der seelischen Erscheinungen ist in diesem System konsequenter und bewußter, als sie es im Cartesianismus war und sein konnte. Die beiden Substanzen des Descartes — das »ausgedehnte« und das »denkende« Ding — erscheinen bei Spinoza bereits als die zwei Attribute der einzigen materiellen Substanz, und diese Modifizierung schafft die theoretische Möglichkeit für die Bekämpfung des Dualismus von Körper und Seele, Affekt und Ratio. Auf solcher Grundlage kann Spinoza auch mit der scholastisch-religiösen Askese radikal abrechnen. E r leugnet nicht, daß derjenige, der nicht Herr über seine Affekte ist, in Knechtschaft lebt. Zugleich betont er aber, daß die den Affekten unmittelbar entgegengestellte, abstrakte Vernunft unmittelbar allein nicht fähig sei, die zerstörenden Leidenschaften in die richtige Bahn zu lenken. »Ein Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen Affekt, der entgegengesetzt und der stärker ist als der zu hemmende Affekt.« 44 Mit anderen Worten: nur die zur Leidenschaft gewordene Vernunft, also die humanisierte Leidenschaft, vermag die antihumanen Leidenschaften zu bezwingen. So gewinnt in der Affektenlehre v o n Spinoza das bürgerliche Ideal des allseitig und harmonisch entwickelten Menschen viel entschiedenere Umrisse. U n d diese neue Auffassung verneint mit unverkennbarer Entschiedenheit die religiös-ethische Forderung nach Unterdrückung der Leidenschaften, wobei sie zugleich auch prinzipiell den antikisierend klassizistischen Grundsatz der rationalen Mäßigung der Affekte überwindet. Die Affektenlehre Spinozas fand erst bei den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts eine würdige Fortsetzung. Z u r geschichtlichen Kontinuität trugen jedoch auch die französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts bei. Während die klassische Tragödie Corneilles den Konflikt zwischen der individuellen Leidenschaft und der abstrakten Pflicht behandelte, gestaltet Molière die komische Umkehrung, die profanisierte Umdeutung dieses Konflikts. Im Tartuffe erscheint die durch die Konvention überlieferte »Pflicht«, die Moralität, in der Form der Heuchelei, als die zum Wesen der Persönlichkeit gewordene scheinheilige Verstellung; und die Lösung des Konflikts wird nicht durch den Sieg des Moralischen, sondern gerade durch das Lächerlichwerden der Maske, der Heuchelei ermöglicht. Der berühmte Aphorismus von La Rouchefoucauld — »unsere Tugenden sind maskierte Schuld« — stellte sich eigentlich durch die Verallgemeinerung des Molièreschen Weltbildes der idealistischen Überschwenglichkeit der tragédie classique entgegen. Diese unerbittliche Kritik der Heuchelei mündet dann in jene anfangs nur in aphoristischer Form skizzierte philosophische Affektenlehre, die die innere Dialektik der Moral deutlich werden läßt und das durch die Leidenschaften zur Geltung kommende Interesse, den Egoismus, zynisch oder erschüttert zugibt (La Rochefoucauld, La Bruyère). Diese Initiativen weiterentwickelnd, gelangen die großen französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts zu dem sogenannten Utilitarismus-Prinzip, der auf den Grundlagen des mechanischen Materialismus ruhenden Ethik, die die notwendige Interessiertheit des Menschen zur wichtigsten treibenden Kraft der ethischen Hand168

lung macht. Danach beruft sich jede Sittlichkeit auf die Selbstliebe, den Genuß, überhaupt: auf das wohlverstandene individuelle Interesse. In diesem Zusammenhang erhält natürlich aber auch das Prinzip der Befriedigung der Leidenschaften einen ethischen Inhalt, da es nicht schwer ist, zu erkennen, daß auch die Welt der Affekte in der Selbstliebe, im Genuß und im Interesse wurzelt und mit der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse verbunden ist. »... sieht man denn nicht, daß sie (die Leidenschaften) notwendig, unserer Natur innewohnend und für unsere Erhaltung nützlich sind . . .?«45 »Leidenschaften sind die wahren Gegengewichte gegen Leidenschaften ; versuchen wir nicht, sie zu zerstören, sondern bemühen wir uns, sie zu lenken: wir sollten die Leidenschaften, die der Gesellschaft schaden, durch solche verdrängen, die ihr Nutzen bringen. Die Vernunft, die Frucht der Erfahrung, ist die Kunst, die Leidenschaften auszuwählen, auf die wir um unseres eigenen Glückes willen hören müssen.«46 Hier haben wir bereits jene philosophische Affektenlehre in ihrer entwickelten Form vor uns, die unmittelbar der Ethik des vernünftigen Egoismus entstammt. In ihr sind —• wie dies A. Heller in einer Analyse der Ethik der Aufklärung nachgewiesen hat — ethischer Rationalismus und ethischer Utilitarismus miteinander verbunden. 47 Der Rationalismus bedeutet hier nicht die disziplinierende Kontrolle der abstrakten Vernunft wie im Cartesianismus und in der klassizistischen künstlerischen Praxis, sondern die Anerkennung der Nützlichkeit und Vernünftigkeit der »den wohlverstandenen Interessen entsprechenden« Leidenschaft, die Apologie des Auslebens der »aus der menschlichen Natur stammenden« Affekte. Die »heroischen Illusionen« der sich auf ihre Revolution vorbereitenden Bourgeoisie nehmen in jener naiven Selbstsicherheit Gestalt an, die die mechanischen Materialisten von Holbachschem Typ in bezug auf das wohlverstandene Interesse und die Natur zum Ausdruck brachten. Es bedarf keines eingehenden Beweises, daß das ethische Programm der Befreiung der Affekte vor allem mit der Vertretung des Klasseninteresses der Bourgeoisie, des bürgerlichen Privatinteresses, zusammenhing. Solange und insoweit jedoch dieses besondere Klasseninteresse die Sprengung der feudalen Fesseln, die Niederreißung der Schranken des ancien régime forderte und als höchstes Ziel des Fortschritts einen gesellschaftlichen Zustand bezeichnete, der die freie Entwicklung der Produktivkräfte und der schöpferischen menschlichen Fähigkeiten ermöglicht, war es mit den allgemeinen Interessen der gesamten Gesellschaft verbunden und diente es der Vorbereitung der das feudale Ständewesen zerschlagenden Revolution. Das »bürgerliche« Privatinteresse trat in dieser Phase der Klassenkämpfe als Vertreter des allgemeinen Interesses in der Gestalt des für das Allgemeinwohl wirkenden citoyen, des Staatsbürgers, in Erscheinung. Einer derartigen Verflechtung von privatem und allgemeinem Interesse begegnet man auch in der philosophischen Affektenlehre der Aufklärung. Holbach konnte es noch als selbstverständlich erachten, daß die der menschlichen Natur entspringenden Leidenschaften dem Glück von Individuum und Gesellschaft gleichzeitig dienen können. Hier ist das Prinzip des Auslebens der individuellen Affekte noch verbunden mit dem naiven und unreflektierten Bewußtsein einer sittlichen Haltung. 169

Die bedeutendsten Denker der Aufklärung erkannten allerdings auch bereits die Widersprüche, die der auch von ihnen gewünschten Entwicklung der Produktivkräfte innewohnten. Es genügt hier, auf Rousseau und Diderot hinzuweisen. Ihre Größe besteht darin, daß sie die keimenden Widersprüche bereits vor der bürgerlichen Revolution erkannten und scharf kritisierten: vor allem die persönlichkeitzerstörende Wirkung des Privateigentums, die zunehmende Ungleichheit der Vermögen, die unvermeidliche Kollision von privatem und allgemeinem Interesse. Eben deshalb bedeutet der bürgerliche Utilitarismus für sie keine problemlose, selbstverständliche Lösung in bezug auf das ethische Problem der Interessenbedingtheit menschlicher Handlungen. Besonders Diderot sah klar, daß die Befriedigung des Privatinteresses nicht unmittelbar dem allgemeinen Interesse dienlich ist und daher die Befriedigung der individuellen Leidenschaften nicht automatisch das allgemeine Interesse fördert. Gerade wegen dieser begriffenen Widersprüchlichkeit wird Rameaus Neffe zum einzigartigen Meisterwerk der Aufklärung. Das Prinzip des Auslebens der Affekte ist hier durch einen parasitären Taugenichts vertreten, der aber in seinem moralischen Verfall die Auflösung der konventionellen Gebundenheiten verwirklicht. Daher sein sprühender Geist, der eine spannungsvolle Verbindung zwischen den Polen der künstlerischen Begabung und der moralischen Verkommenheit herstellt. Daher jene Überlegenheit des »zerrissenen Bewußtseins« über das »ehrliche Bewußtsein«, die — nach der treffenden Analyse der Hegeischen Phänomenologie — das Wesen seiner Epoche mit schamlosem Zynismus verkündet und die »Welt des entfremdeten Geistes« unverhüllt ausdrückt. Obwohl sich der junge Rameau, als typischer Vertreter der Aufklärung, gegen den großen Rameau und überhaupt gegen das alte ästhetische Ideal wendet, betont er die in der Natur wurzelnde Einheit des Wahren, Guten und Schönen, allerdings ohne Illusionen, wodurch er sich über den Horizont der Aufklärung erhebt und den bürgerlichen Utilitarismus, die Widersprüche der »natürlichen« Sittlichkeit, die Relativität der auf dem individuellen Interesse beruhenden Moral erkennt. In dieser Entzweiung sind die aus der Konfrontation der gegensätzlichen Prinzipien geschlagenen Gedankenfunken noch nicht erloschen. »Die ihrer selbst bewußte und sich aussprechende Zerrissenheit des Bewußtseins ist das Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst; es ist zugleich das sich noch vernehmende Verklingen dieser ganzen Verwirrung.« 48 Diderot schuf hier mit wahrhaft prophetischem Realismus eine Figur, die zum Typ wurde; er entdeckte die nachrevolutionäre Struktur der bürgerlichen Subjektivität: den im Citoyen verborgenen Bourgeois, den parasitären Charakter des hinter der Fassade des allgemeinen Interesses sich verbergenden bourgeoisen Privatmenschen. Diese Entdeckung blieb natürlich auch auf die ethische und ästhetische Interpretation der Affektenlehre nicht ohne Auswirkung. Diderot zweifelt nicht einen Augenblick daran, daß die vielseitige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit nur mit Hilfe der konsequenten Liquidierung der feudalen Gebundenheiten und durch die freie Entwicklung der Produktivkräfte gefördert werden kann. Deshalb bejahte er auch das antifeudale bürgerliche Programm der Befreiung der Leidenschaften. Andererseits nahm er die widersprüchliche Natur des Genußprinzips wahr: seine weltgeschichtliche 170

Progressivität und die unvermeidliche Gesellschaftswidrigkeit seiner bürgerlichen Form. Dies war eine geniale Erkenntnis, wenn auch Diderot selbst das Dilemma nicht lösen konnte. Kameaus Neffe macht zur Zeit der Aufklärung mit einzigartigem Scharfblick auf die im Ausleben der individuellen Affekte liegende sittliche Widersprüchlichkeit aufmerksam, also auf die Möglichkeit, daß die ethische und die ästhetische Sphäre voneinander getrennt werden und in Widerspruch zueinander geraten; eine abstrakte Möglichkeit, die nachher in der bürgerlichen Epoche konkrete Wirklichkeit wurde. Darum kann man auch von der auf Natürlichkeit beruhenden Musikästhetik, von der musikalischen Affektenlehre, dasselbe behaupten, was für die bürgerliche Klassenmoral überhaupt gültig ist: sie entstand aus dem Widerspruch von Allgemeinem und Einzelnem, allgemeinem Interesse und Privatinteresse, und sie mußte an diesem Widerspruch zugrunde gehen. Die epochale historische Bedeutung der Affektentheorie in ihrer aufgeklärten bürgerlichen Form ist unbestritten. Sie bewies und verallgemeinerte ästhetisch die neuartigen Formungsprinzipien jener musikalischen Praxis, die die Lebensinhalte der sich entfaltenden bürgerlichen Welt darstellte: die führende Rolle der unmittelbar gefühlstragenden tonalen Melodik, die von einem harmonischen Zentrum aus überschaubare Klarheit und Gegliedertheit der musikalischen Form, die Allgemeinverständlichkeit und die unmittelbar sich manifestierende Anthropozentrizität eines Bedeutungssystems, das auf alle Elemente der Form sich erstreckt. Indem sie den Affekt-Ausdruck — auf Grund des mechanischen Materialismus — mit der Widerspiegelung der gegenständlichen »Natur«, der objektiven Lebensfakte und der menschlichen Verhältnisse identifizierte, unternahm sie einen ästhetikgeschichtlich vorwärtsweisenden Versuch, die Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Wirklichkeitsspiegelung zu erschließen. Ihr Humanismus gewann auf diese Weise in ihrem Realismus einen natürlichen Verbündeten. Während sie die Egozentrizität der Musik proklamierte, erhob sie die ästhetisch verkündete Innerlichkeit im Zeichen der faustischen Universalität (»Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst genießen«49) zum Träger der tiefsten weltgeschichtlichen Inhalte der Epoche. Romain Rolland zitiert an einer Stelle den sich der Jahre der Revolution erinnernden Gretry: »Seit mehr als vier Jahren tobt die Revolution, ich höre des Nachts (da meine Nerven in Aufruhr sind) einen Glockenton, ein Sturmläuten in meinem Kopfe, und dieser Ton ist immer der gleiche. Um mich zu vergewissern, daß dieses Sturmläuten nicht wirklich ist, verstopfe ich mir die Ohren. Höre ich es dennoch, und sogar noch stärker, so schließe ich daraus, daß das Läuten nur in meinem Kopfe ist.«50 Rolland irrt nicht: dies könnte die Halluzination eines Shakespeare-Helden sein. Aber auch ein Symbol: »So pocht das Schicksal« (Beethoven), so erscheint im Mikrokosmos des Ich die Weltgeschichte als Makrokosmos, so füllt sich die von der dynamischen Totalität der objektiven Wirklichkeit affizierte und deshalb »affektuose« Subjektivität mit den humanen Inhalten der Epoche. Dennoch bleiben dieser Humanismus und dieser Realismus, während sie Schranken durchbrechen, in sich selbst beschränkt. Ihre theoretischen und historischen 171

Grenzen werden von den spezifischen geschichtlichen Bewegungstendenzen der bürgerlichen Ideologie abgesteckt. Erstens: die Ästhetik des Natürlichen vermag selbst in ihrer fortschrittlichsten Form nicht den gesellschaftlichen Gehalt der Tonkunst, die geschichtliche Bestimmtheit der musikalischen Formen und Formungsprinzipien auf begrifflicher Ebene bewußt werden zu lassen. Wir möchten uns erneut auf Gretry berufen. Aus seiner den musikalischen Realismus der Sprachintonation betreffenden Anekdote war ersichtlich, daß er neben Rousseau und Diderot am entschiedensten jenen aufgeklärten Standpunkt vertrat, demzufolge die musikalische Darstellung bei der Defetischisierung und der Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen eine führende Rolle spielt. »Jedes Klima« — schreibt Gretry —»hat zwei grundverschiedene Melodien . . . Die eine ist die des werktätigen Volkes, die andere die der gelehrten, für die Schönheiten der Künste empfänglicheren Menschen. In R o m ist eine Art der Psalmodie die wahre Volksmusik; sie ist traurig, schwer, ohne jedwede Weichlichkeit, die in den bei uns bekannten italienischen Melodien vorzufinden ist. Eines Nachts, auf den Straßen Roms auf und ab wandelnd, erzählte mir ein Freund: Du müßtest nur den Gesang dieser Abbes hören, um zu erfahren, wie verweichlicht dieses Volk ist. Ja, ja, erwiderte ich, aber was sagst Du zu jenen Volkspsalmodien, die dort zu hören sind? Wenn ich den Gesang der facchini (Lastträger) höre, zittere ich um die Priester; ich fühle die rauhe Stimme des alten Roms darin, das einmal wieder auferstehen kann.« 51 Gretry gibt eine geniale Schilderung des Tatbestandes, obwohlkeine ästhetische Verallgemeinerung ähnlichen Niveaus damit verbunden ist. Das Höchste, dessen die Gretrysche »natürliche« Musikauffassung fähig ist, bleibt die Anwendung des bei Montesquieu ausgeprägten »geographischen Materialismus« auf die Theorie der Intonation. Die Musik, die in der Antike — von Dämon bis Aristoteles — der empfindlichste Seismograph von gesellschaftlichen Ethosarten, Charakterzügen und ethischen Inhalten war, wird nun zum »Thermometer«, das die »natürliche Empfindsamkeit« von Völkern und Individuen anzeigt. »Die Musik kann man auch als ein Thermometer betrachten, das den Empfindlichkeitsgrad der einzelnen Völker anzeigt, gemäß dem Klima ihres Wohnortes. Die Lieder und noch eher die Sangesweise, die Stimmführung eines Volkes, seine weichen oder leidenschaftlichen, sinnlichen, heiteren, traurigen, barbarischen, wilden Inflexionen stehen mit der Temperatur seines Landes in Einklang. Allerdings üben Regierungsform, Moral und Gebräuche auf das Akzentsystem der Sprache und des die Sprache nachahmenden Gesangs ihre Wirkung aus: diese sekundären Faktoren können jedoch die Auswirkung des Klimas nicht zunichte machen.«52 Hier kommt die grundlegende metaphysische Schwäche des bürgerlichen Materialismus der Aufklärung zum Vorschein; notwendigerweise schlägt sie überall in Idealismus um, wo sie mit ihrer mechanischen Betrachtungsweise gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten erklären soll. Selbst Rousseau konnte die metaphysische Beschränktheit der »Natürlichkeit« nicht überwinden, obwohl die Erkenntnis des widersprüchlichen Charakters des gesellschaftlichen Fortschrittes und das Bewußtsein von der objektiven Struktur des Geschichtlichen bei ihm bereits eine ganz konkrete Gestalt annahm. Die unmittelbare Gegenüberstellung der Klassengesellschaft und des sogenannten Naturzustandes, 172

diese, obwohl in vielem geschichtliche, so doch im ganzen unhistorische Auffassung, fehlt natürlich auch in seiner ästhetischen Grundkonzeption nicht. Denken wir nur an die gegen Rameau gerichtete musiktheoretische These von konventioneller Harmonie und natürlicher Melodie. Auch hier wird die ahistorische Abstraktheit zum bestimmenden Element. Das Pamphlet will den angeblich in sich selbst widersprüchlichen Charakter der französischen Musik unter Beweis stellen und charakterisiert auch die Kontrapunkt-Struktur als ein Analogon zur verhaßten Gotik. Er verhängt im Namen der »Vernünftigkeit«, des »guten Geschmacks«, den unwiderruflichen Bann über sie: »Was hingegen die Kontrafugen, Doppel- und Spiegelfugen anbelangt, sind dieselben Überbleibsel von Barbarei und schlechtem Geschmack, die ähnlich dem Portal unserer gotischen Kathedralen nur zur Schmach deren bestehen blieben, die genügend Geduld aufgebracht hatten, sie zu erbauen.«53 Die einzige musikgeschichtliche Epoche, die Rousseau — wieder im Namen der »Vernunft« und des »guten Geschmacks« — unbedingt bejaht, sogar als Beispiel anerkennt, ist die Blütezeit der griechischen Musike. In dieser Beziehung ist es unleugbar sein Verdienst, daß er — im Gegensatz zu Rameau — die Legende von der Identität zwischen altgriechischer Harmonie und modernem Akkord widerlegte. Trotzdem blieb auch bei ihm das Ideal der griechischen Musike das Produkt von literarischen, in musikalischem Material nie konkretisierten Analogien; die Berufung auf die antike Musik ist nur ein neuer Vorwand dafür, die Polyphonie des Mittelalters und der Neuzeit als naturwidrige Verirrung behandeln zu können. Diese ahistorische Engherzigkeit läßt auch die Formulierung der meisten Stichwörter seines musikalischen Wörterbuchs problematisch werden. Eine konkrete Analyse könnte natürlich den Nachweis erbringen, daß ein derartiges kategorisches Negieren der musikalischen Vergangenheit vom plebejischen Radikalismus Rousseaus nicht unabhängig ist. Rousseau — konsequenter selbst als Gretry — wollte nur das Volkslied als vollwertig und ewig schön anerkennen. Dieser plebejische Radikalismus war jedoch ästhetisch nur das Ergebnis einer bis ins Extreme durchgeführten Naturhaftigkeit. Die Vorstellung, als nehme im Volkslied die ewige, unveränderliche und unverwüstliche natürliche Schönheit eine adäquate Erscheinungsform an, war selbstverständlich nicht fähig, die gesellschaftliche und geschichtliche Bestimmtheit der Volksmusik und den damit in Zusammenhang stehenden Gehalt zu würdigen. Rousseau ist jedoch trotzdem eine außergewöhnliche Erscheinung; er weiß wenigstens in der theoretischen Verallgemeinerung um die gesellschaftlich-geschichtliche Objektivität der Musik. Bei Gretry hat die Lösung dieses Problems hingegen einen ausgeprägt metaphysischen Charakter. Auch er sträubte sich gegen die gotische Manier, die überkomplizierte, also »naturwidrige« Harmonik. Woher kommt aber die naturwidrige Neigung zum Überkomplizierten, zum Zurückdrängen der gefühlvollen Melodie? Auch hier geht Gretry von der Überzeugung aus, daß die Unterschiedlichkeiten der musikalischen Formungsprinzipien wie ein Barometer die Verschiedenheit der klimatischen Verhältnisse anzeigten. Danach begünstigt das italienische Klima das Melodische, hingegen entwickelte das kältere Klima der deutschen Staaten den Sinn für das harmonische; die französische Musik befände sich dagegen zwischen den beiden Extremen in der goldenen Mitte: die 173

gemäßigte Zone wirkt hier vorteilhaft auf den Volkscharakter, der in seiner Musikkultur ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Melodie und Harmonie herstellt. Von neuem liegt die Frage nahe, ob Gretry die Eigenarten der nationalen Musik idealisierte. Nein, er idealisiert das bürgerliche Prinzip des Natürlichen. Denn daß dieses mit den »klimatischen Verhältnissen« erklärte musikalische Ideal aus dem sich stets steigernden bürgerlichen Klassenbewußtsein stammt, das kann man — ähnlich wie in der Behandlung der Opernpolemik — wieder durch nichtfranzösische Gegenbeispiele zeigen. Die Aufklärung ist als Klassenbewegung und Klassenideologie eine internationale Erscheinung, die — mag sie ihre reifste Form auch auf französischem Boden erreicht haben J— |keine Landesgrenzen kannte, ebensowenig wie ihre Grundlage, die kapitalistische Warenproduktion und Verbürgerlichung. Nur ein einziges Beispiel: An gedanklicher Kraft, weltanschaulicher Folgerichtigkeit bleibt die deutsche Aufklärung weit hinter der französischen zurück. Trotzdem zeigten die 50er Jahre des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland eine ästhetikgeschichtlich epochale Wende. Selbst Bach reflektierte jene krassen Veränderungen im musikalischen Stilgefüge seiner Zeit, wenn er schreibt: »Da nun aber der itzige status musicus gantz anders weder ehedem beschaffen, die Kunst üm sehr viel gestiegen, der gusto sich verwunderenswürdig geändert, dahero auch die ehemalige Arth von Music unseren Ohren nicht mehr klingen w i l l . . .«54 Scheibe hingegen trat schon als Vertreter einer neuen Generation auf, die die Bachsche Kontrapunktik einfach als geschmacklos, schwulstig und unverständlich erklärte.55 Auf diese Anschuldigung gab der Angeklagte selbst eine geistreiche Antwort in der Kantate »Phöbus und Pan«, in der er seinen Hamburger Kritiker als Midas vorführte. Das neuartige Ideal der »affektuosen« Musik läßt jedoch gegenüber den kontrapunktischen Traditionen keine Gnade walten. Wie der junge Rameau dem großen Alten den Rücken kehrte, ebenso verleugneten die Söhne Bachs das ästhetische Vermächtnis ihres Vaters. Und als sich Mattheson, der im Vergleich zu Scheibe tiefgründigere Hamburger, seinem einstigen Freund Händel entgegenstellte, ist es unmöglich, hinter dem Duell der beiden jähzornigen jungen Leute das »plötzliche« Aufeinanderprallen zweier Geschmacksrichtungen, zweier Epochen zu verkennen. Mattheson charakterisierte die Polyphonie mit Gretry völlig übereinstimmend: »Gemeiniglich. . fallen solche Setzer, aus Mangel guter Melodie, auf vollstimmige Sachen, auf künstliche Contrapunkte und auf allerhand Fugen-Arbeit: weil sie theils durch das Geräusch der Instrumente, theils durch ihren sauren Schweiß ersetzen wollen, was der Lieblichkeit ihres Gesanges fehlet. . . Wenn nun gleichwohl die Bewegung der Gemüther und Leidenschafften der Seele von gantz was anders, nehmlich von der geschickten Einrichtung einer verständlichen, deutlichen und nachdrücklichen Melodie abhänget; so kan diesen Zweck niemand erreichen, der nicht in der Singe-Kunst wol erfahren ist.«5® Mit einem Worte: dieselbe ahistorische Auffassung, dasselbe Unverständnis der Vergangenheit gegenüber wie in der französischen Aufklärung. Die Ästhetik des Natürlichen kann ihre bürgerliche Beschränktheit auch hier nicht verleugnen. Diese Beschränktheit spiegelt in der jetzt analysierten Epoche die heroischen Illusionen einer revolutionäre Klassenkämpfe führenden Klasse; ihre metaphysische 174

Voreingenommenheit entstand aus einer geschichtlich berechtigten Selbsttäuschung. Auch Rousseaus bekannte Auffassung zeigt, daß das Auftreten gegen die Polyphonie und den Kontrapunkt in der bürgerlichen Offensive gegen die feudalabsolutistische Ideologie und Kultur eine wichtige Rolle gespielt hat. Nur wurden diesem Auftreten letztlich gerade durch die ideologischen Illusionen Schranken gesetzt. Natürlich verfälscht die Klassenvoreingenommenheit die Grundvorstellung hier nicht völlig. Man denke nur an die Unterschiedlichkeit der Konstruktionsprinzipien von Fuge und Sonate sowie an die Gegensätzlichkeit der letzten weltanschaulich-sozialen Grundlage dieser Differenzierung. Ernst Bloch übertreibt zwar diesen Gegensatz, indem er die »undramatische« Fuge als die repräsentative Kunstart der ständischen Gesellschaft der Sonate gegenüberstellt, die auf der typischen Lebensstimmung der frühen bürgerlichen Epoche, das heißt dem Kampf der Themen basiert.57 Auch die oft erwähnte »Objektivität« der Fuge spiegelt nicht einfach den statischen Charakter des Ständewesens wider: die Fugenstruktur meldete sich unter den Verhältnissen der bereits in Auflösung befindlichen feudalen Welt, im Dienst des Ausdrucks der Inhalte der sich vertiefenden subjektiven Innerlichkeit. Trotzdem ist unzweifelhaft, daß durch die »zwei Seelen« des musikalischen »Subjekts« der Sonate — wie Bloch richtig betont — technisch das Verstärken der Formdynamik, ästhetisch die Revolte gegen das vorgefundene Schicksal ausgedrückt wurde. Dem »Subjekt« der Fuge, überhaupt der kontrapunktischen Konstruktionsweise, war diese Faustsche Spannung noch unbekannt. Somit ergibt sich die Denunziation von Fuge und Kontrapunkt bei Rousseau und Mattheson letztlich aus der handgreiflichen Logik der Klassenkämpfe. Daher ist es verständlich, warum die Musikästhetik der Aufklärung die musikalische Praxis und Musiktheorie des ganzen Mittelalters summarisch als weltgeschichtliche, kulturgeschichtliche Verirrung ansieht. Eine kompliziertere Aufgabe hingegen ist die Beleuchtung des Verhältnisses zwischen neuer Affektenästhetik und antiker Ethoslehre. Es ist nicht schwer, die übereinstimmenden Züge aufzuzeigen. Die musikalische Komposition bedeutet in beiden Epochen im Grunde genommen Darstellung, wirklichkeitspiegelnde Mimesis; Ethoslehre und Affektenlehre basieren auf denselben erkenntnistheoretischen Grundlagen. Ferner besteht auch darüber kein Zweifel, daß die musikalische Vergegenwärtigung der menschlichen Innerlichkeit sowohl in der klassischen griechischen Polis wie auch in der modernen bürgerlichen Gesellschaft die relative Totalität und moralische Autonomie der Persönlichkeit voraussetzt. In einer Epoche, die zur ethischen Würdigung der allseitig und harmonisch entwickelten Persönlichkeit unfähig ist, wird auch das Gestalten im Zeichen des Schönen zurückgedrängt. Gerade darin beruht der tiefste Grund für die Erneuerung der aristotelischen Mimesis im 18. Jahrhundert: sowohl die die feudale Wirtschaft auflösende Warenproduktion wie auch die kapitalistische Produktion und die sich verbürgerlichende Kultur, welche die geistige Anspruchslosigkeit und Isoliertheit des Feudalismus bekämpfen, erkennen in der entwickelten warenproduzierenden Gesellschaft des Altertums das große historische Vorbild und unternehmen daher nicht nur politisch, sondern 175

auch ethisch und ästhetisch einen Versuch, die demokratischen Überlieferungen des Altertums zu erneuern. Hier wird allerdings hinter dem Anschein der Identität auch die Gegensätzlichkeit sichtbar. Mag auch die antike Sklavenhaltergesellschaft gewisse Elemente der Warenproduktion entwickelt haben, so führten diese doch nicht zur Kapitalisierung des Mehrprodukts. Die Poliswirtschaft beruhte nicht auf der erweiterten Reproduktion. »Sklaverei, wo sie Hauptform der Produktion, macht die Arbeit zu sklavischer Tätigkeit, also entehrend für Freie. Damit der Ausweg aus einer solchen Produktionsweise verschlossen, während andrerseits die entwickeltere Produktion an der Sklaverei ihre Schranke findet und zu deren Beseitigung gedrängt wird. An diesem Widerspruch geht jede auf Sklaverei gegründete Produktion und die auf ihr gegründeten Gemeinwesen zugrunde.« 58 Dieser Konservativismus der antiken Sklavenhaltergesellschaft kommt auch in der bereits früher analysierten Kategorie des den Einklang von Individuum und Gemeinschaft repräsentierenden Maßes zum Ausdruck. Die moderne bürgerliche Gesellschaft fordert die permanente Revolutionierung der Produktion, weil — mit den Worten von Marx — die Bewegung des Kapitals maßlos ist. Der Kapitalismus macht den Reichtum zum Ziel der Produktion, und diese Tendenz grenzt ihn von der Sklavenhaltergesellschaft und von der ihr entsprungenen Kultur der Mäßigkeit ebenso ab wie von dem auf dem Boden der feudalen Naturalwirtschaft entstandenen Kult der Askese. Marx weist deshalb — mit dem romantischen Antikapitalismus polemisierend — darauf hin, daß das Individuum in den dem Kapitalismus vorangegangenen Formen zwar totaler erscheint, diese Totalität jedoch nur eine scheinbare ist, d. h. die Totalität eines unentwickelten Zustandes, wogegen die bürgerliche Gesellschaft die Voraussetzungen der Totalität der Persönlichkeit prinzipiell auf einem höheren Niveau produziert. Denn » . . .was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur?« » . . . wo er (der Mensch, D. Z.) sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?«59 Hieraus ist der radikale Unterschied zwischen dem antiken und dem modernen ethischen Standpunkt ersichtlich. Die bürgerliche Ästhetik erneuert auf einer prinzipiell höheren Ebene auch die antike Theorie der ästhetischen Wirklichkeitsdarstellung, der Mimesis. Besonders augenfällig ist dieses höhere Niveau in der musikalischen Mimesistheorie: ebenso wie die Musik nur auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft durch Darstellung der subjektiven Innerlichkeit zu einer Kunst wurde, die eine selbständige, autonome Funktion erfüllt, genauso gelangt auch die Musikästhetik nur durch Verallgemeinerung der neuzeitlichen gesellschaftlich-künstlerischen Praxis, durch Konfrontation der neuen Wirklichkeit des Lebens mit den neuen Erscheinungen der Kunst, zur theoretischen Erkenntnis der spezifischen musikalischen Widerspiegelungsweise der individuellen Affektenwelt. Deshalb kann die moderne Musikästhetik, im Gegensatz zur antiken, par excellence Affektenlehre sein. 176

Andererseits erschloß Marx auch jene Antinomie der modernen Entfaltung der menschlichen Totalität, die notwendig aus dem grundlegenden Widerspruch der kapitalistischen Wirtschaft, aus dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung folgt. Die Selbständigkeit der Individualität existiert im Kapitalismus als ein spezifischer Schein; die menschlichen Beziehungen beruhen nicht auf der persönlichen Unabhängigkeit, sondern der dinglichen A b hängigkeit. »In der bürgerlichen Ökonomie — und der Produktionsepoche, der sie entspricht, — erscheint die völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck.« 6 0 Die bürgerliche Gesellschaft schafft zwar die Vorbedingungen für die Entfaltung des Individuums, doch nur in der Form einer abstrakten Möglichkeit, die innerhalb der bürgerlichen Ordnung nicht im gesamtgesellschaftlichen Ausmaß und ethisch inhaltvoll verwirklicht werden kann. Daher die Entleerung der bürgerlichen Subjektivität, die Entfremdung und das Gefühl der Isolierung. Marx macht, hier — i m Gegensatz zur vulgär-liberalen Auffassung der Entwicklung — auf die Ungleichmäßigkeit der wirklichen Entwicklung aufmerksam: »Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, w o geschloßene Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt läßt, oder w o es in sich befriedigt erscheint, gemein ist.« 61 Der Marxsche Gedankengang erhellt nicht nur den Unterschied der wirtschaftlichen Struktur der zwei Epochen und die Gegensätzlichkeit der daraus entstammenden ethischen Standpunkte, sondern er weist auch den W e g z u m Verständnis der veränderten ästhetischen Grundhaltung. Wieder denke man an den Rameau Diderots. Die geniale Typisierung dient hier der Erfassung der modernen Eigenarten der musikalischen Affektenlehre: die zentrale Gestalt findet, wie wir gesehen haben, gerade auf dem Tiefpunkt des sittlichen Verfalls ihr eigenes Ich und die unverblümte W a h r heit, und gerade die sittliche Verkommenheit befähigt Rameaus Neffen, ohne moralisierende Illusionen und konsequent die ästhetische Überzeugung der bürgerlichen Epoche zu Ende zu denken und zu verkünden. Der junge R a m e a u macht kein Hehl daraus: » . . . ich verkehrte stets mit guten Musikanten und schlechten Menschen, wodurch mein Ohr sehr fein, mein Herz aber taub geworden ist.« 62 Sein Bekenntnis ist eine Grabrede über die still entschlafene Ethosästhetik. Außerdem gibt es auch eine Voraussage in der Hinsicht, was i m Prinzip der Subjektivität verborgen ist, wenn sie durch die entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen verzerrt wird.

»HERMENEUTISCHES« WÖRTERBUCH«» Die Untersuchung einzelner musikwissenschaftlicher Zweige der Aufklärung, so auch die Analyse ihrer Musiktheorie, beleuchtet das widerspruchsvolle Verhältnis von Affektenlehre und Ethoslehre. Vor allem müssen wir dabei beachten, daß die

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12 Zoltai: Ethos und Affekt

Affektenästhetik der Aufklärung immer mehr mit dem Anspruch einer detailliert ausgearbeiteten Hermeneutik auftrat und die antike Ethoslehre auch in dieser Hinsicht erneuern sowie den charakteristischen Gehalt sämtlicher Formelemente und Formungsarten, ihre objektive Bedeutungsordnung, erschließen wollte. Diese Bestrebung hatte methodologische Konsequenzen. Wie die antike Musikästhetik es nötig fand, mit der pythagoreischen Musikmathematik abzurechnen, sah sich ebenso auch die Affektenlehre der Aufklärung gezwungen, den halben Lösungen der theoretischen Vorläufer, den der Musikmathematik gemachten Konzessionen, entgegenzutreten und mit energischer Eindeutigkeit die pythagoreische Anschauungsweise abzulehnen. Helvetius erklärt zum Beispiel: »Die Harmonie unserer Musik ahmt nicht die Musik der Himmelskörper nach—deren Stimme bis zum heutigen Tage nicht ans Ohr eines einzigen Menschen gelangte.«®4 Dies scheint nur die einfache Übernahme der sich von Aristoteles über Grocheo und Tinctoris bis zur frühen Aufklärung entwickelnden Überlieferug zu sein. Die Affektenlehre begnügt sich jedoch nicht mit dieser in den Detailfragen sozusagen zu nichts verpflichtenden Allgemeinheit. Bereits Batteux, der Neuentdecker der Mimesislehre im 18. Jahrhundert, betont, daß die Musik eine Bedeutung (signification) und einen Sinn (sens) hat, und er lehnt die »in allen ihren Tönen wohl ausgerechnete, in ihren Akkorden ganz geometrische Musik« ab, wobei er sich darauf beruft, daß eine solche Musik »aufs höchste mit einem Prisma zu vergleichen sei, welches uns das allerschönste Kolorit sehen läßt, aber kein Gemälde gibt.«65 Es ist also deutlich zu sehen, daß die Ablehnung der Musikmathematik jetzt mit den Bedürfnissen nach Erkenntnis von Bedeutungen zusammenhängt. Nicht mehr das Auftreten gegen die als mittelalterlicher Aberglaube qualifizierte sphärische Harmonie ist die Hauptsache, sondern der Anspruch auf positive Aufdeckung des konkreten musikalischen Inhalts. Allerdings ist die Bekämpfung des musikalischen Pythagoreismus in der Neuzeit wesentlich komplizierter als in der Antike. Während der Erörterung der Anfänge der altgriechischen Musikästhetik hatten wir bereits auf einen anscheinend paradoxen Zug der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung hingewiesen. Die desanthropomorphisierende Methode der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sicherte nur — wie wir sahen — in der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Naturvorgänge den wissenschaftlichen Fortschritt; dieselbe desanthropomorphisierende Anschauungsweise beschwörte ununterbrochen die Gefahr des Ausschaltens gesellschaftlicher Vermittlungen herauf. Denn die Analyse des von der Sphäre der Sinnlichkeit losgelösten Kunstwerks führt letzten Endes zur Verdinglichung der gesellschaftlichen Objektivität des Ästhetischen ins Naturhafte, also zur Liquidierung der ästhetischen Eigenarten der Kunst. Die auf dem Boden der kapitalistischen Warenproduktion entstandenen modernen Naturwissenschaften beschreiten im Dienste der objektiven Erkenntnis der Natur nun den Weg der Bekämpfung der anthropozentrischen Wirklichkeitsuntersuchung viel konsequenter als die sich von der unmittelbaren Naturbetrachtung schwerer lossagende antike Naturphilosophie.66 Darum überrascht nicht, daß gerade zur Zeit der Renaissance, als die Musikästhetik die mittelalterlichen Spekulationen beiseite schob, um ihr Interesse auf die Praxis der zeitgenössischen Musik lenken zu können, die neupythagoreische Musiktheorie 178

eine neue Blüte erlebte. W e n n zwei dasselbe tun, so ist auch diesmal der Erfolg nicht derselbe. Was im Mittelalter als mystische Spekulation Lebensberechtigung gewann, war nicht identis.ch mit dem, was der naturwissenschaftliche Fortschritt zum Leben erweckte. Trotzdem (oder gerade deshalb): die Methodik der Musikästhetik blieb bis zur Aufklärung unter dem Einfluß desanthropologisierender Bestrebungen. W i r sahen, daß selbst Leibniz die musikalische Rezeption als eine arithmetische Tätigkeit der Seele ansah, auch wenn er dabei mehr an eine unbewußte arithmetische Tätigkeit dachte. Die Affektenästhetik der Aufklärung ging nun dazu über, die entmythologisierende Naturauffassung unmittelbar geltend zu machen: sie verwendete die weltanschaulichen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wobei sie ihre methodischen Grundsätze ablehnte. Es ist nämlich unzweifelhaft, daß die objektive Betrachtung und Erkenntnis der Natur notwendigerweise die anthropomorphen Trugbilder der religiösen Vorstellungswelt zerstört und letztlich z u m Atheismus führt. W e n n sich der Mensch von den religiösen Vorstellungen befreit, festigt sich aber das Bewußtsein seiner Autonomie. U n d nur auf diesem Boden der erkämpften menschlichen Autonomie kann jene Einheit der objektiven und subjektiven Seite der Tonkunst zustande kommen, die wir in der Affektenlehre vorangehend skizziert hatten. Andererseits überwand die Ästhetik der Aufklärung, indem sie für die mit substantiellen Gehalten erfüllte Subjektivität eintrat, die desanthropologisierenden Methoden. Mattheson schildert mit barocker Weitschweifigkeit die Notwendigkeit einer solchen Trennung der mathematischen und musikästhetischen Untersuchungsmethode: »Des Hertzens Bewegung h a t . . . ihren Grund, d. i. ihre Ursache, ihren Ursprung nimmermehr in den bloßen Klängen . . . wie sie da, an und für sich selbst, abgemessen, eingetheilet, hingesetzt und geschrieben w e r den; sondern in den sehr verschiedenen Begriffen, die das Gemüth, den vielfältigen Umständen nach, mit ihnen verbindet. W e r wird aber w o l sagen, daß solche geistige Begriffe mathematisch sind? Denn die Seele, als ein Geist, wird empfindlich gerühret. Wodurch? wahrlich nicht durch die Klänge an und für sich, noch durch ihre Größe, Gestalt und Figur allein; sondern hauptsächlich durch deren geschickte, immer neuersonnene, und unerschöpfliche Zusammenfügung, Abwechselung, A n wendung, Mischung, Eigenschafft, Ab- und Einführung, Erhöhung, Tiefe, Schritte, Sprünge, Verweilung, Beschleunigung, W e n d u n g , Stärcke, Schwäche, Hefftigkeit, ordentliche und außerordentliche Bewegung, Besänfftigung, Aufschub, Stille und tausend andre Dinge mehr, die kein Cirkel, kein Linial, kein Maasstab, sondern n u r der edlere, innerliche Theil des Menschen begreiffen und beurtheilen kann, wenn ihn Natur und Erfahrung gerichtet und belehret hat.« 67 Unzweifelhaft erkennen die Ästhetiker der Aufklärung die Absonderung v o n Bewußtsein (Wissenschaft) und Selbstbewußtsein (Kunst), wenn sie sich der M u sikmathematik auf diese Art entgegenstellen. Die Geistesgeschichte zieht demgegenüber verallgemeinernd ganz falsche Schlußfolgerungen, w e n n sie, sich auf diese Tatsache berufend, die Legende v o m angeblichen Irrationalismus der Affektenlehre verbreitet. Auf diese Weise wird die Ästhetik, insbesondere die Musikästhetik der Aufklärung, zur »Präromantik«, zum frühen Vorboten jener r o m a n -

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tischen Subjektivität verfälscht, die die aufgeklärte Herrschaft der Vernunft zu stürzen versucht. In Wirklichkeit strebt jedoch der Gegensatz zur Musikmathematik in der Aufklärung nie zum abstrakten Gegensatz von Vernunft und Gefühl, und er bekommt auch nie einen irrationalischen, antiwissenschaftlichen Akzent. Es gehört zu seinem Wesen, daß er sich nicht gegen den Rationalismus der neuzeitlichen wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern — genau umgekehrt — gegen die mittelalterlichen Phantasmagorien richtet. Mattheson trat auch deshalb gegen die Neupythagoreer seiner Zeit auf, weil er die Tonkunst »der Umklammerung durch die tote Wissenschaft und durch die Scholastik entreißen« wollte. 88 Dies können wir auch mit einem positiven Gegenbeispiel beweisen. Wir hatten auf die musikalische Definition von Leibniz und die sich in ihr anmeldende desanthropomorphisierende, neupythagoreische Richtung hingewiesen. Nun aber entdeckt die deutsche Musikästhetik des 18. Jahrhunderts selbst bei Leibniz — einem der größten Mathematiker aller Zeiten — ästhetisch verwendbare Gedankenelemente. Allgemein bekannt ist das Bestreben von Leibniz, über die scholastische Logik hinauszukommen und gerade auf Grund des Modells der Notenschrift das unveränderliche, mit mathematischen Symbolen bezeichnete neue Gedankensystem der logischen Zusammenhänge auszusarbeiten, jene polygraphia universalis, die nach seiner Vorstellung für das in der traditionellen Logik ungelöste Problem der Verbindung von logischer und sprachlicher Form eine Lösung geben würde. Zugleich würden jene Kontaktschwierigkeiten aufgehoben werden, die infolge der verschiedenen Sprachen unter den Wissenschaftlern der verschiedenen Nationen entstehen. (Nebenbei bemerkt: Boole und de Morgan hatten nach anderthalb Jahrhunderten in Fortsetzimg dieser genialen Initiative die für die mathematische Logik grundlegende Kalkültheorie geschaffen.) Schubart, der Verfasser der ersten selbständigen Musikästhetik, würdigt nun mit großer Anerkennung den Leibnizschen Grundgedanken. Logischer und ästhetischer Gedankengang treffen sich diesmal nicht ganz zufällig: die Notenschrift inspirierte den großen Mathematiker zur Erforschung der Möglichkeit einer universalen Sprache, und die Ästhetik der Aufklärung erkannte in ihm den großen Verbündeten. Denn wenigstens eine Prämisse ist bei Leibniz und Schubart gemeinsam: die Musik ist eine Art von universalem menschlichem Signalsystem, das den universalen Austausch der Gedanken und Gefühle ermöglicht.69 Schubart scheidet also aus der Theorie der polygraphia universalis die desanthropomorph-mathematischen Elemente aus, behält und bekräftigt aber die Konzeption der Existenz von musikalischer Sprache, Signalsystem und Logik und eröffnet hierdurch der Ausarbeitung der modernen musikalischen Hermeneutik einen breiten Weg. Wir möchten darauf hinweisen, daß sich im Verlauf der Weiterentwicklung des Leibnizschen Systems in der Aufklärung auch die in modernem Sinne verstandene allgemeine Ästhetik entfaltet hat. Es ist das unbestreitbare Verdienst der Aesthetica von Baumgarten, daß sie die Ästhetik als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis auffaßte, und zwar, im Gegensatz zum idealistischen Rationalismus, einer vollkommenen Erkenntnis. Er verhalf ihr neben den traditionellen philosophischen Disziplinen — Logik und Ethik — zur Gleichberechtigung, indem er auch erkenntnis-

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theoretisch die Existenzberechtigung und Selbständigkeit der anthropozentrische Wirklichkeitsdarstellung bietenden schönen Künste formulierte. Diese Gleichberechtigung trieb Baumgarten geradezu bis zu der Annahme, es müsse auch eine spezifisch ästhetische Logik existieren. Auch die Leibniz-Interpretation von Schubart ist nicht von anderem Geiste, weil sie, die desanthropologisierende Richtung der modernen Wissenschaftsmethodik überwindend und die Selbständigkeit der Musikästhetik betonend, klar die Zusammenhänge von Ästhetischem und Logischem sieht und die Möglichkeit, die weltanschauliche Grundfrage irrationalistisch zu lösen, zurückweist. Die aufgeklärte Affektenlehre lehnt also die desanthropomorphe Auffassung der Musik, ebenso wie auch schon die antike Hermeneutik die pythagoreische Musikmethodik, ab. Diese Übereinstimmung liegt aber trotzdem nur auf der Oberfläche und schließt die geschichtlich konkreten Unterschiede nicht aus. Denn die Ethoslehre der Antike gelangte in einer stillschweigenden Polemik gegen das Prinzip des Natürlichen zur Hermeneutik der musikalischen Inhalte, während der mechanische Materialismus der Aufklärung dagegen gerade vom Prinzip der Nachahmung der Natur seine Konzeptionen ableitete. Mattheson stellt beispielsweise die Frage: »Wo steckt nun das Prinzipium, der Ursprung, das Fundament und der Grundsatz der Musik?« Die Antwort drückt die typische Auffassung der ganzen Epoche aus: »Menschliche Gemüther sind gleichsam das Papier, Mathesis ist die Feder, Klänge sind die Dinte; aber die Natur muß der Schreiber seyn.«70 Und noch entschiedener: »In der Physik oder Naturkunde liegen demnach die ersten, aufrichtigen Gründe der Musik . . . In der Mathematik hergegen finden sich nur einige wenige, mangelhafte und mühselig entdeckte Elemente, gar keine Fundamente.« 71 Die Physik ist hier natürlich im Sinne des mechanischen Determinismus nicht nur »Naturlehre«, sondern ebenso auch »Seelenlehre«. Mattheson versucht — Descartes folgend und La Mettrie antizipierend —, die mechanischen Gesetzmäßigkeiten der psychologischen Bewegungen zu finden. Zwischen Musik und objektiver Wirklichkeit gestaltet sich auf solche Weise eine unmittelbare, der Eindeutigkeit der Sprache entsprechende Verbindung heraus. Die musikalische Schöpfung — in ihrer Totalität und ihrem kleinsten Detail — repräsentiert eine leicht und gut erkennbare Bedeutungsstruktur. Sämtliche Elemente der musikalischen Form (Melodie, melodische Wendungen, rhythmische Formeln, Dynamik usw.) haben einen begrifflich eindeutigen Charakter, und dieser Bedeutungscharakter ermöglicht es, daß das gegebene Formelement mit der Natürlichkeit der sprachlichen Mitteilung die verschiedenen Erscheinungen der menschlichen Natur, oder nach der Lehre des Sensualismus der objektiven Natur, darstellen kann. Damit haben wir die auf dem mechanischen Materialismus aufgebaute spezifische Musikauffassung vor uns, die »Wörterbuchästhetik«. Die Schwierigkeiten melden sich unvermeidlich, sobald der Grundsatz methodisch bewußt geltend gemacht werden soll. Es bleibt nämlich fraglich, ob man ein solches hermeneutisches Wörterbuch zusammenstellen kann, ob man die objektive Entsprechung, die objektiv notwendige Verbindung von konkretem Formelement und konkretem Affektgehalt aufdecken und schildern kann. 181

Es ist nicht überraschend, daß die aufgeklärte Musikästhetik zur Lösung dieses Problems von der hierfür authentischen Literaturtheorie bzw. der Rhetorik methodische Hilfe erbat und auch erhielt. Schering weist in seiner Studie von der musikalischen Findekunst (»ars inveniendi«)72 darauf hin, daß Mattheson nur eine jahrhundertealte Überlieferung systematisiert und vollendet habe, als er die ästhetische Theorie der loci topici — musikalischer »Gemeinplätze« — schuf. In der musikalischen Praxis taucht erst verhältnismäßig spät die Forderung nach Ursprünglichkeit des thematisch-melodischen Materials auf, und dieser Umstand erklärt, warum auch die bereits im hellenistischen Zeitalter ausgeprägte rhetorische ars inveniendi, jene praktische Disziplin, die die Regeln des von bekannten Gedanken und Begriffen zu neuen Gedankenzusammenhängen führenden Weges aufzeichnet, eine große Rolle gespielt hatte. Kircher beschreibt im Jahre 1650 eine bereits als alte Überlieferung geltende ars combinatorica. Er untersucht, wie man drei oder mehrere Töne auf verschiedene Weise kombinieren kann. Vogt, ein Prager Abt, »legt« 1719 mit vier gekrümmten Hufnägeln die möglichen Themen aus. Diese, die moderne mathematische Kombinatorik, ja Kybernetik antizipierenden Versuche 73 zeigen natürlich nur eine formale Ähnlichkeit mit den kompositorischen Manipulationen des Serialismus oder der Aleatorik. Die »experimentell« erhaltenen Formationen der Melodie zählten nämlich von Kircher bis Mattheson als rhetorische Figuren, in denen der semantische Mitteilungsinhalt, die Verlebendigung jeweils eines konkreten Gefühls oder Empfindungstyps, nie fehlt. 74 Das aber steht im Gegensatz zu den betont asemantischen Bestrebungen der modernen aleatorischen Versuche. Andererseits spielte bei der Ausgestaltung der Wörterbuchästhetik auch die Bezugnahme auf die Sprachlichkeit der Musik eine bedeutende Rolle. Die musikalische Praxis schien auch diese Bezugnahme zu rechtfertigen. Wie bekannt, war die Verbindung von Musik und Sprache die Grundtatsache der uralten Gesamtkunst, und sie blieb in den vokalen Kunstgattungen auch nach Auflösung der Gesamtkunst ein ästhetisches Problem. Daraus erklärt sich, daß die Untersuchung der Sprachintonation in der Musik die Musiktheorie stets beschäftigt hatte. Es genügt, an Piaton oder die Musikschriftsteller der Florentiner Camerata zu denken. Nun weitet sich dieser Zweig der theoretischen Tradition in der Aufklärung zu einer zentralen Problematik. »Die Töne liegen schon halb gebildet in den deklamierten Worten; es bedarf nur weniger Kunst, sie aus ihnen herauszuziehen, vornehmlich, wenn die Empfindung naiv und einfältig ist und aus der Fülle des Herzens herkommt.« 75 So schreibt Batteux in der Überzeugung, derart die Frage der Spezifik der musikalischen Nachahmung der Natur endgültig gelöst zu haben. Rousseaus Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahre 1753 behandelt bereits in einem umfassenden geschichtsphilosophischen Zusammenhang diesen Intonationscharakter der Musik. Sein Ausgangspunkt bildet eine hypothetisch rekonstruierte menschliche Ursprache. Nach ihm bezeichneten die ersten Worte die Dinge nicht mit der Abstraktheit des Begriffs, sondern waren aus wenigen artikulierten Tönen bestehende, an Melodie und Betonung reiche Tropen, wortbildartige Ausdrücke. Die primitive Sprache ist eine Reihe von Interjektionen, also — über die dem gesellschaftlichen Kontakt dienende Mitteilung hinausgehend — zugleich 182

auch Dichtung und Musik. N u n bewahrt die Sprache diesen »affektuosen« Charakter — wenn auch in einer mehr oder weniger verblaßten Form — auch später. Daraus folgt, daß die Musik die Natur nachahmt, wenn sie den in der Sprache verborgenen Tonfall zu einer entwickelten Melodie formt. Die wahre Musik befreit also die in der Sprachintonation enthaltenen Gefühlsinhalte. Diderots Rameau weist auf ein derartiges »Urphänomen« der Intonation hin: » . . . Die Weise (die Melodie, D . Z.) ist eine Nachahmung von N a t u r g e r ä u s c h e n . . . was dem Musiker oder vielmehr der Weise z u m Vorbild dient, so ist es . . . die Deklamation, wenn das Vorbild lebt und d e n k t . . . Man m u ß die Deklamation als eine Linie betrachten und die Weise als eine zweite Linie, die sich gleichsam auf der ersten hinschlängelt.« 78 Die »Deklamation« bedeutet hier anscheinend dasselbe wie in der von Galilei über Rameau bis Gretry sich erstreckenden theoretischen Überlieferung: schauspielerische Deklamation, die der Komponist in Noten niederschreiben muß, wie dies bereits Gretry getan hat. Diderot hingegen — wie w i r dies schon in anderem Z u sammenhang gesehen haben — begnügt sich nicht mit dem sekundären Modell, der schauspielerischen Diktion oder den Atelierszenen der Akademien der bildenden Künste; im Gegensatz zu dem die »dreiste« Manier des Marktes verachtenden Boileau regt er den Künstler zum Studium des wirklichen Lebens an, den Musiker zur Beobachtung der lebenden und gesprochenen Umgangssprache. In der Intonationstheorie ist jetzt bereits unverkennbar die Forderung nach einem musikalischen Realismus formuliert: Diderot erwartet v o m Maler und v o m Musiker gleichermaßen die Darstellung der condition humaine, der Lebensbedingungen und - u m stände. Sie sollen die verschiedenen Menschen und menschlichen Leidenschaften unter ihren realen Bedingungen vorführen. Es ist die höchste Leistung der auf das Natürliche gerichteten Musikästhetik, wenn hinter der theoretischen Illusion der Naturnachahmung der wahre Sinn des künstlerischen Realismus allmählich in den Vordergrund zu treten beginnt, das heißt das ästhetische Prinzip der getreuen Widerspiegelung der menschlichen Beziehungen in ihrer gesellschaftlichen O b jektivität. Die ihre eigenen Schranken fast überschreitende Intonationstheorie bestimmt den Gedankengang der auf dem neuen ästhetischen Grundsatz aufgebauten Musiktheorie. W e n n nämlich — mit den W o r t e n des Geminiani — die gute Musik die Nachahmung eines schönen Gespräches ist, wenn der Gehalt der Musik vor allem aus dem Intonationscharakter, der direkten Verbindung von Musik und Sprache, der Sprachlichkeit sämtlicher Formelemente erkennbar ist, dann ist die vokale Musik von vornherein hochwertiger als die nur instrumentale. Die metaphysisch-materialistische Musikästhetik steht i m allgemeinen — selbst in ihren besten theoretischen Produktionen— den rein instrumentalen Kunstgattungen ratlos gegenüber und neigt zur Skepsis, wie Fontenelle, der die Lully-Arie Amour que me veux-tu parodiert und fragt: Sonate, was willst du von mir? W a s gehst du uns an, unverständliche Instrumentalmusik? Unverständnis und Mißtrauen steigern sich zwar selten zur kategorischen Ablehnung der Instrumentalmusik, sie suggerieren jedoch selbst dem tief denkenden Theoretiker der Zeit eine gewisse Wertordnung unter den vokalen und nichtvokalen Gattungen. Mattheson nahm z. B. die instrumentale Musikkultur entschieden in 183

Schutz. »Man kann«, sagt er »mit blossen Instrumenten z. E. eine Großmuth, eine Liebe, einen Eifer etc. gar wohl vorstellen, und alle Gefühlsregungen durch schlichte Akkorde und ihre Verschlingungen ohne Worte so darstellen, daß der Hörer den Gang, den Sinn, den Gedanken des menschlichen Gesprächs verstehe und es begreife, als ob es ein wirklich gesprochenes Gespräch wäre.«" Die Musik ohne Text deutet Mattheson jedoch auch in diesem Fall als eine bloße Nachahmung menschlicher Stimme. Ein anderes Beispiel: In der französischen Aufklärung geht vielleicht Gretry am weitesten darin, die ästhetische Berechtigung von rein instrumentaler Sonate und Symphonie zu betonen: er erwähnt eine »Luftreise« (voyage aerien), die den Hörer »im leeren Raum schaukelt«.78 Allerdings bedeutet diese Legalisierung nichts anderes, als die Ausdehnung des Intonationswörterbuches auf die als absolut erscheinende Instrumentalmusik. Gretry hält von der Symphonie so viel, daß sie den gleichen Wert wie die Sprache habe, und die Sonate geradezu eine »Rede« sei; »was auch immer Fontenelle gesagt habe, wir wissen, was uns eine gute Sonate sagen will und vor allem eine Symphonie von Haydn oder von Gossec.«79 Auch die »absolute« Musik ist also nicht völlig absolut; auch die reine Instrumentalmusik ist kommunikativ. Deshalb kann der Komponist jedwede Wendung eines jedweden Musikwerkes buchstäblich wie Wörter und Wendungen eines Wörterbuchs verwenden. Dessenungeachtet stellt auch Gretry den höheren Wert der vokalen Lösung nicht in Abrede. Einmal schreibt er über die Symphonien des von ihm so sehr geliebten Haydn folgendermaßen: »Es scheint mir, daß der dramatische Komponist die unzählbaren Werke von Haydn als ein umfangreiches Wörterbuch ansehen kann, woraus er ohne Skrupel Material schöpfen mag; er muß ihm nur den innigen Ausdruck der Worte hinzufügen.«80 Die französische Aufklärung faßt die Selbständigkeit des instrumentalen Charakters, die Instrumentalisation der menschlichen Gesangsstimme, — wiederum unhistorisch — als das Zeichen des Verfalls auf und deutet sie als charakteristisch für die Degeneration des die antike Überlieferung ablehnenden Mittelalters, der polyphonen Epoche. Auch Diderot denkt nicht anders. Wenn aber die Durchschnittsästhetiker der Zeit auch nur von einer vergangenen Regression reden, so läßt Diderots Rameau bereits die Zukunftsmöglichkeit der dekadenten neuen bürgerlichen Musik prophetisch anklingen: »Als ob der Violinspieler nicht der Affe des Sängers wäre, der eines Tages, sobald das Schwierige an die Stelle des Schönen getreten sein wird, der Affe des Violinspielers werden wird.« 81 Das Prinzip der Priorität der vokalen Musik erhält in der Verkündung der führenden Rolle der Melodie und des abgeleiteten Charakters der Harmonie eine musiktheoretisch thesenhafte Formulierung. Rousseaus Auffassung über die reale Schönheit der Melodie und die konventionelle Schönheit der Harmonie ist uns bereits bekannt. Die Betonung der Priorität der Melodie wird aber jetzt fast bei sämtlichen Theoretikern der aufgeklärten Musiktheorie zum Leitmotiv. Mattheson schreibt in seiner unter dem Titel Kern melodischer Wissenschaft (1737) erschienenen Erörterung fast mit der Erregung, als hätte er eine Entdeckung wie Columbus gemacht: »Die Kunst des Komponierens guter Melodien ist das innerste Wesen der Musik.«82 Der Beweis basiert bemerkenswerterweise gerade auf der Argumenta-

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tion der aristoxenischen »Harmoniker«. »Das Ohr findet mehr Gefallen an einer einzigen, gut placierten und angenehmen melodischen Stimme als an vierundzwanzig, in denen die Melodie so sehr zerrint, daß man sie gar nicht mehr erkennen kann. Die reine Melodie — sagt ein anderer gelehrter Autor — kann mit ihrer Einfachheit, Klarheit und Entschiedenheit das Herz so sehr rühren, daß sie hierdurch sehr oft sämtliche Künste der Harmonie überflügelt.«83 Das Argument der »Harmoniker«, die Bezugnahme auf das Gehörserlebnis, änderte hier offensichtlich seine Funktion und konnte daher als eine theoretische Waffe im Kampfe gegen die Rameausche Harmonielehre gelten. Daher die Matthesonsche Definition der Harmonie: »Die Harmonie ist nichts anderes, bzw. könnte eigentlich auch nichts anderes sein, als die Zusammenfügung von vielerlei Melodien.«84 Ein anderer Zweig der gleichzeitigen Musiktheorie, insbesondere die die Bedürfnisse der musikalischen Vortragskunst befriedigende und rasch aufblühende Literatur der Musikinstrumentenschulen, wendet dann den Satz vom Primat der Melodie weitgehend an. Quantz macht etwa darauf aufmerksam, daß die Begleitung die leitende oder konzentrierende Stimme nicht verdunkeln darf. 85 Ph. E. Bach protestiert gegen die allzu reiche Ornamentik, da sie die notwendige Einfachheit und Klarheit der Melodie gefährdet, 86 und Geminiani, der die Musik für die »Imitation eines schönen Gespräches« hielt, brachte den dynamischen Charakter des Geigenspiels mit den ästhetischen Ansprüchen des melodiösen Gesanges in Zusammenhang usw. Aus diesen Erörterungen kann man natürlich bereits ersehen, daß die Idealisierung des vokalen Charakters in der Aufklärung viel mehr bedeutet als die Betonung des Primats der Melodie im allgemeinen. Die Musiktheorie der Epoche behandelt die Melodiestruktur, also auch unmittelbar die kompositorischen Formungsprinzipien, auf neuartige Weise. Das Neue ist auch hier nicht das Produkt abstrakter Spekulationen. Eigentlich verallgemeinert die neue Musikauffassung nur die große Metamorphose der musikalischen Praxis des 18. Jahrhunderts auf der Grundlage des mechanischen Materialismus und hebt sie auf eine Bewußtseinsstufe, die durch die bürgerliche Ideologie der Aufklärung möglich geworden war. Nach den melodiegeschichtlichen Studien von B. Szabolcsi sieht man heute schon klar jene epochale Wende, die die Erhabenheit der »barocken« Melodie, ihre asymmetrische »Unendlichkeit« durch das neue bürgerliche Melodieideal, den volkstümlichen Wohlklang und die Anmut, die durchscheinende Symmetrie, die klare Gegliedertheit, das dolce und das cantabile ablöst.87 Die Musiktheorie der Aufklärung trachtet danach, diese in der Praxis vollzogene Metamorphose unter Beweis zu stellen. Auch Mattheson fordert von der Melodie dolcezza; in den »sanften, zärtlichen« Affekten erblickt die Epoche das eigentliche Gebiet der Tonkunst. Denn nach der Ansicht der Zeit ist »alles, was Furcht und Grauen erweckt, gar nicht musikalisch«.88 Schäfke übernimmt eine typische geistesgeschichtliche Legende, wenn er in alledem »ein typisches Rokokoempfinden« vermutet. 89 Denn bei Mattheson ist von einem irgendwie überfeinerten »galanten Stil« und von Rokoko-Idylle gar keine Rede; das Wesentliche ist hier die neue bürgerliche Empfindsamkeit, die der überwundenen Erhabenheit der alten Polyphonie und 185

dem diskreditierten Pathos von Lully und Rameau entgegengestellt wird. Die bürgerliche Empfindsamkeit erhebt gegenüber der Melodie den Anspruch, daß sie gehaltvoll und überhaupt singbar sei. Daher die Idealisierung der volkstümlichen Einfachheit, der symmetrischen Proportionalität und Übersichtlichkeit. Von hier stammt auch die Überzeugung, daß die neuartige Melodiestruktur die innere Form des Kunstwerks, die eigentliche Komposition, auf souveräne Art bestimme. Auch Diderot fordert im Namen des bürgerlichen Musikideals den Aufbau der Melodie nach vokalen Prinzipien, allerdings mit dem Unterschied, daß bei ihm der volkstümliche Charakter einen plebejisch-revolutionären Akzent erhält und deshalb nicht in der Forderung nach einfacher Übernahme der Volksliedstimmung und der Volksliedstruktur, sondern in der Betonung der offen melodiezergliedernden und melodiebildenden Rolle der Empfindungen in Erscheinung tritt (»Der Akzent ist eine Pflanzschule für die Melodie«) usw.90 Die Aufklärung betrachtete also nicht die Melodie im allgemeinen, sondern jene Melodie als bestimmendes Element der musikalischen Schöpfung, die zur authentischen Darstellung der neuen gesellschaftlichen und menschlichen Inhalte geeignet erschien und deren affektbetonter Charakter auch in der Struktur zum Ausdruck kam. Deshalb kann man die melodiezentrische Auffassung nicht völlig verstehen, wenn man sie nur als die abstrakte formale Antithese zur barocken Formund Harmonielehre deutet. Der »Abbau« der barocken Formen, die plötzliche »Vereinfachung« des einmal bereits erkämpften stilistisch-strukturellen Reichtums bleibt in diesem Falle ein ungelöstes Rätsel. Im Gegensatz zu den modernistischen Theorien der autonomen Stilentwicklung zeugt die wirkliche Geschichte der Musik davon, daß die Entwicklung der musikalischen Praxis nicht in Gestalt der ununterbrochenen Komplizierung der äußeren Form vor sich geht. Ebenso behandelt auch die Musiktheorie die Frage nach dem Primat der Melodie oder der Harmonie nicht als eine nur stilistische Frage. Die Erklärung dafür, daß in der Musik der Aufklärung die Melodie im Mittelpunkt steht, findet sich in primär gesellschaftlichen, außerhalb der Musik liegenden Faktoren. Denn entscheidend wirkt hier die bürgerliche Musikkultur, die dem Verhältnis von Schöpfer und Empfangendem, von Kunstwerk und Publikum eine neue Form verleiht. Die Betonung des Primats der Melodie hängt, darüber besteht kein Zweifel, mit der neuen Forderung nach Allgemeinverständlichkeit der Tonkunst zusammen. Die Allgemeinverständlichkeit ist natürlich eine historische Kategorie. Wer würde es leugnen, daß beispielsweise auch die kirchliche Musik des Barocks »allgemeinverständlich« war; das Verständnis für die ästhetisch-weltanschaulichen Inhalte des Musikwerkes waren hier durch eine zweiseitige Verbindung sichergestellt: die Kunstmusik schöpfte reichlich aus dem Melodienschatz der Volksmusik (vgl. das Verhältnis Bachs zum protestantischen Choral wie auch zu den Melodie- und Tanzformen seiner Zeit), und außerdem hatte auch das Publikum die Möglichkeit, aktiv zu musizieren. Die Aufklärung stand an der Schwelle einer prinzipiell neuen Situation. Erstens beschleunigte der Prozeß der Kapitalisierung die Entmythologisierung der Welt, die Auflösung des religiösen Glaubens als weltanschaulicher Grundlage der kirchlichen Musik. Diese »Entzauberung« macht zugleich die früheren, weiten Bevöl186

kerungskreisen zugänglichen Ausdrucksformen der Musik problematisch. Seit der Aufklärung verwirklicht sich die Teilnahme breiterer Kreise am kulturellen Leben vor allem in den Kunstgattungen weltlichen Charakters (komische Oper, bürgerlichvolkstümliches Singspiel, Vaudeville, revolutionäres Massenlied bzw. die neuen Gattungen des sich entwickelnden bürgerlichen Konzertlebens). Jedoch ermöglicht nur das Massenlied ein aktives Musizieren; denn das Opern- und Konzertpublikum beschränkt sich immer mehr aui: die bloße Rezeption, auf den Genuß von Produktion und Reproduktion. Nun ist die Allgemeinverständlichkeit nicht mehr etwas Selbstverständliches, Vorgefundenes. Während die Verhältnisse der Warenproduktion allgemein wurden, während der Fetischisierungsprozeß in die verschiedenen Gebiete der kulturellen Tätigkeit eindrang, wurde auch die Öffentlichkeit der Kunst problematisch. Auf der einen Seite trat der von den herrschaftlichen und höfischen Fesseln befreite, zum »freien Produzenten« gewordene Komponist auf, der für den Markt produziert; er mußte sein produziertes oder reproduziertes Werk den Warenverhältnissen entsprechend verwerten. Auf der anderen Seite bildete sich das Publikum als der Käufer der Produktion oder Reproduktion, der passive Konsument des Werkes heraus der es empfing und genoß. Uns ist bereits die typische Form der unter den kapitalistischen Verhältnissen auftauchenden Entfremdung bekannt: musikalische Aktivität und Rezeptivität, Praxis und Rezeption polarisieren sich als zwei selbständige Dinge, und ihr Zusammentreffen kann nur im Rahmen der kapitalistischen Warenverhältnisse, also in der ihnen entsprechenden verdinglichten Form vor sich gehen. Nun befindet sich die Musikkultur der Aufklärung noch diesseits dieser universell wirkenden Fetischisierung, den barocken Typ der kulturellen Öffentlichkeit hatte sie aber auch bereits überholt. Deshalb wird jetzt die Allgemeinverständlichkeit des Musikwerks überhaupt zum ästhetischen Problem, doch hält sich noch die Überzeugung, daß dieses Problem sowohl theoretisch wie auch praktisch gelöst werden kann. Der zu seiner demokratischen Revolution sich rüstende dritte Stand vertritt die Interessen des ganzen Volkes, sein auch auf kulturellem Gebiet sich äußernder Demokratismus sagt der aristokratischen Abgeschlossenheit und der esoterischen Haltung der Kultur des Feudalabsolutismus den unversöhnlichen Kampf an. Daraus ergibt sich die ästhetische Forderung des unmittelbar verständlichen Inhalts der musikalischen Formen, der Allgemeinverständlichkeit der musikalischen Bedeutungsordnung. Außerdem wies auch die musikalische Praxis in diese Richtung : im Vergleich zum Barock brachte sie die Melodienwelt und die Formprinzipien der Volksmusik unvermittelt zur Geltung. So konnte die Musikästhetik der Aufklärung Ansporn und Impulse zur Verkündung der Allgemeinverständlichkeit erhalten. Daß die Auffassung vom Primat der Melodie mit der Frage der Allgemeinverständlichkeit sehr eng zusammenhängt, kann bereits in der frühen Affektenlehre gut beobachtet werden. Mattheson formulierte zum Beispiel nicht nur die Forderung nach der »leichten«, der »natürlichen« Melodie, das heißt nach ihrer volkstümlichen Allgemeinverständlichkeit, sondern er signalisierte zugleich auch die soziologischen und psychologischen Grundlagen: » . . . in bezug auf die aus der Leichtigkeit entstandene Regel können wir das richtige Prinzip verkünden: wir können keine Freude an solchen

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Dingen finden, an denen wir nicht teilnehmen A91 Mit anderen Worten: auch die Hörer können nicht in völliger Passivität verbleiben. Die Kunst kann der die Rezeption durchwärmenden Aktivität, eines gewissen Elements selbsttätiger Teilnahme nicht entraten. Daraus ergibt sich bei Mattheson die zentrale Rolle der Melodie, andererseits die höchste »Regel« des Melodieaufbaus: »Es muß in jeder Melodie etwas enthalten sein, das jeder kennt.«92 Diese Forderung führt uns zum Problemkreis der Intonationstheorie und des musikalischen Wörterbuchs zurück. Denn die Intonationstheorie beruht gerade auf dem Prinzip, daß man bei der Formung der Melodie der geschichtlich entstandenen musikalischen Umgangssprache, der fixierten Bedeutung der typischen Wendlingen — dem »etwas«, das »jeder kennt« — Rechnung tragen muß. Und gerade an diesem Punkte gewann das der Literaturtheorie entliehene methodische Modell, das Musterbild der Rhetorik, wichtige Bedeutung. Mattheson untersucht mit pedantischer Gründlichkeit, wie die Regeln der R h e torik, die mit der Invention, Disposition und Dekoration der rhetorischen Sprache93 verbundenen traditionellen Normen in der Formenwelt der Musik zur Geltung kommen. Wir möchten aus dieser umfassenden Erörterung nur einen charakteristischen Gedankenkreis erwähnen. Im Verlauf der Behandlung der musikalischen Themenwahl, der »Invention«, weist Mattheson auf die thematische und kompositorische Bedeutung der verschiedenen loci topici (allbekannte Wendungen) hin und befaßt sich in besonders lehrreicher Weise mit der Rolle der typischen musikalischen »Gemeinplätze«, der loci exemplorum. Er verleiht dieser allgemein anerkannten Meinung seiner Zeit Ausdruck, indem er die Verwendung der Gemeinplätze — bekannter Melodieführungen, von anderen Autoren entliehener Themen usw. — für völlig berechtigt ansieht, da doch die Musik ohne sie ebenso unverständlich wäre, wie jede rhetorische Kunst, die den Kenntnissen des Publikums nicht Rechnung trägt. Es ist also das elementare Interesse des Komponisten, sich über solche allgemeingültigen Wendungen, Konventionalismen der Umgangssprache, nicht hinwegzusetzen. Hier hat man nun eine der allerersten Varianten des von Gretry geforderten musikalischen Wörterbuchs. Mattheson trachtet auch danach, auf Grund des rhetorischen Musters die vorgefundene Bedeutung der Melodiewedungen — wie überhaupt der Formelemente — mit größter Detailliertheit zu schildern. Wir erwähnen nur illustrative Beispiele: Die sich in kleinen Intervallen bewegende Melodie drücke beispielsweise ein sanftes, wehmutsvolles Gefühl aus, die Benützung der großen Intervalle sei der Ausdruck von Fröhlichkeit, Freude; die konsonante Harmonie zeuge von vollkommener Ruhe des Gemüts, die Dissonanz von Ärger, erregtem Gemüt; die Wirkung der punktierten Rhythmik sei lebendig, erfrischend; der Pralltriller drücke Lebendigkeit, Glanz aus usw. Die Intonationstheorie meldet sich hier als eine auch in ihren Details ausgearbeitete Hermeneutik und gibt im Geiste des Wörterbuch-Prinzips eine eingehende Beschreibung der konkreten Affektgehalte sämtlicher musikalischer Formelemente. Wir müssen erneut betonen: dieses hermeneutische Wörterbuch kann nicht der Sprößling irgendeiner abstrakten Spekulation sein. Hinter ihm steckt das 188

auch in der neuzeitlichen musikalischen Praxis zur Geltung kommende »Maquamprinzip«, diese zentrale Formkategorie der von B. Szabolcsi historisch und theoretisch skizzierten musikalischen Typologie. Auch Schäfke fühlt, daß das von Mattheson und Marpurg bis Grétry zu beobachtende Streben nach der Beispielsammlung oder dem Wörterbuch des musikalischen Ausdrucks nicht unabhängig ist von der allgemein gewordenen Praxis des 18. Jahrhunderts, der Benützung der stereotypen Wendungen, der »bekannten Gänge«, der ununterbrochen sich wiederholenden Melodie- und Rhythmusformeln und der »entliehenen» Themen, die dem Prinzip »ich nehme es von dort, w o ich es eben finde« (Molière) folgen und denen der Begriff des Plagiats noch völlig unbekannt ist. Aber Schäfke irrt dennoch, wenn er in der Praxis nur die Forderungen von weniger talentierten Komponisten nach ästhetischen Rezepten erblickt, woraus sich nur Verflachung und monotone Herrschaft einer peinlichen, pedantischen Gründlichkeit ergeben können.94 Die Konventionalismen beschwören natürlich stets die Gefahr herauf, daß der platte Durchschnitt überhand nimmt. Zugleich bietet jedoch die Sammlung solcher typischer Wendungen die notwendige Voraussetzung dafür, daß gerade die größten und originellsten Künstler bei ihrem Publikum Verständnis finden. »Demzufolge sind Haydn, Mozart und Beethoven nicht die Erfinder ihrer bleibenden, nunmehr eindeutigen klassischen Melodiegedanken, vielmehr ergreifen, deuten und forrjien sie dieselben von neuem . . . Diese Formeln bedeuten für sie eine außerordentliche Hilfe; wenn sie sie erklingen lassen, versteht im Grunde genommen ein jeder — wenn auch nicht immer das Eigentliche ihrer Musik — so doch bestimmt jenen Stimmungsrahmen, in den der entsprechende Typus ihres Wortschatzes hineingehört; unzweifelhaft ist, daß auf diese Weise zwischen dem Künstler und seinem Publikum sogleich irgendeine Verbindung zustande kommt.«95 Die Ausgestaltung der »Wörterbuchästhetik« zeigte gerade die Stabilisierung dieses »Stimmungsrahmens« und »Wortschatzes«. Eine derartige Fixierung ist jedoch nie ein fertiges, abgeschlossenes Ergebnis, sondern ein Vorgang, der auf eine organische Entwicklung hinweist; seine Anfänge sucht Szabolcsi in der Zeit um Monteverdi.96 So hat auch die Hermeneutik der Aufklärung eine Vorgeschichte, deren einzelne Phasen die jeweilige Stufe der Stabilisierung der neuen bürgerlichen Gesellschaft und der neuen musikalischen Umgangssprache deutlich signalisieren. Was die Anfänge anbelangt, so herrscht in der Camerata noch die Ablehnung des Alten und das aus der Entdeckung des musikalischen Neulandes entspringende Selbstbewußtsein vor. Beachtenswert ist ferner, daß die italienische Renaissance, die italienische städtische Kultur vom 13. bis zum 15. Jahrhundert bei weitem nicht über eine stabile gesellschaftliche Grundlage verfügte: die Denker und Künstler der Hochrenaissance des 15. und 16. Jahrhunderts waren oft von der Atmosphäre der Einsamkeit umgeben. Kein Wunder, wenn hier von der ästhetischen Forderung der Allgemeinverständlichkeit noch gar keine Rede war. Szabolcsi zitiert als eine typische Überzeugung der Musiker der Zeit den 1635 formulierten Spruch des Frescobaldi: »Verstehe mich, wer kann, ich verstehe mich.«97 Demgegenüber schreitet der Barock stürmisch der Fixierung der musikalischen Umgangssprache, der Herauskristallisierung der

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musikalischen Hermeneutik entgegen. Kuhnau hatte sich den Gedanken zu eigen gemacht, daß ein Musikwerk immer Affektgehalt habe. Dieser Gehalt blieb aber für ihn immer unbestimmt. Deshalb bleibt er auch nur eine Übergangserscheinung in der Entwicklungsgeschichte der neuzeitlichen Hermeneutik. W e n n er unter Berufung auf die Unterschiede der menschlichen »Konstitution« daran zweifelt, daß das Musikwerk einen bestimmten Affekt i m Hörer hervorrufen kann, 98 so weist dieser Vorbehalt auf die Problematik der auf dem W e g e zur bürgerlichen Nation stagnierenden deutschen Entwicklung hin, und er zeugt auch davon, daß die musikalische Umgangssprache nicht stabilisiert war. Die Musikästhetiker der auf ihre bürgerliche Revolution sich vorbereitenden Franzosen waren über diese Vorbehalte schon hinausgelangt. Ebenso wie die als Vertreterin der Interessen des ganzen Volkes auftretende Bourgeoisie in geschichtlich berechtigter Illusion den Akzent auf das legte, was im antifeudalen Klassenkampf gesellschaftlich verbindet, und auf das, was trennt, setzte auch die Musikästhetik der Aufklärung ein homogenes musikalisches Publikum voraus, u m an die Fixierung der musikalischen Inhalte ohne theoretische Zweifel herangehen zu können. So erhoben die hermeneutischen Beschreibungen der aufgeklärten Intonationstheorie den wichtigen Kristallisationspunkt der musikalischen Praxis in den R a n g der ästhetischen .Gesetzmäßigkeit. Sie fertigen von den semantischen W e n d u n g e n der Musik ihrer Zeit ein Wörterbuch an. Die theoretische Berechtigung dieses »Wörterbuchs« liegt darin, daß hinter der neuen Musikästhetik eine neue Klasse stand, die die Interessen der gesamten Gesellschaft vertrat und die, sich auf die Revolution vorbereitend, eine relativ einheitliche Gefühlswelt ausprägen konnte; eine E m o tionalität, die die gesamte Gesellschaft umfaßte und das Fundament f ü r eine verhältnismäßig einheitliche »Formensprache« sein konnte. Allerdings zeigen diese Wörterbücher die Formeln der musikalischen Umgangssprache mit einer gewissen mechanischen Starrheit. Diese Starrheit k o m m t vor allem darin zum Ausdruck, daß das Interesse jetzt auf die möglichst totale Inventarisierung der Bedeutungen gerichtet ist, die in den atomistisch vorgestellten individuellen Komponenten der Form verborgen sind. Darüber gerät die organische Einheit der Komposition, die kompositorische Integrität der inneren Form in Vergessenheit W i r wiederholen: dies liegt an der Beschränktheit der mechanistischen Anschauung und ergibt sich aus der Grundthese des mechanischen Materialismus. Die Ästhetiker der Epoche fassen die Individualität des Kunstwerks und den lebendigen Organismus der inneren Form nur als eine mechanische Summe isolierter Formelemente auf und verzichten somit auf die Untersuchung der Komposition als eines einheitlichen V o r ganges. So bleibt die Bedeutungsschicht, die nur aus den tiefer liegenden Strukturgesetzen der organischen Einheit, der kompositorischen Homogenität des Kunstwerks ablesbar und deutbar wäre, für diese Theorie ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Andererseits kann die metaphysische Voreingenommenheit, da sie nur zur Erkenntnis der individuellen Formeln fähig ist, auch die immer zeitbedingten spezifischen Gesetzmäßigkeiten nicht entdecken, die in der Assimilation, Interpretation, organischen Verkettung usw. der Formeln wirken. Mit anderen W o r t e n : die Intonationstheorie der Aufklärung konnte nicht nur die musikgeschichtliche Vergangen190

heit, sondern auch die musikalische Praxis ihrer eigenen Zeit nur durch das verzerrende Prisma der metaphysischen Anschauung widerspiegeln. Dieselbe theoretische Beschränktheit macht die Erkenntnis der schöpferischen Subjektivität, der die rhetorische ars inveniendi überschreitenden individuellen Erfindungskunst, die ästhetische Würdigung der Originalität der inneren Form unmöglich. Alles Subjektive ist hier dem Objektiven, dem Vorgefundenen untergeordnet. Mag diese Erkenntnis auch paradox klingen, so spricht sie dennoch eine unbezweifelbare Tatsache aus: Indem die nach dem Natürlichen gerichtete Intonationstheorie die konventionelle Schönheit programmgemäß ablehnt, bleibt sie dennoch — gerade infolge ihrer mechanisch materialistischen Natürlichkeit — bei der Fixierung der Konventionalismen, der »natürlichen« Formeln der musikalischen Umgangssprache stecken und ist unfähig, die mit der wahren Subjektivität und Originalität der künstlerischen Gestaltung verbundene ästhetische Problematik richtig und methodisch bewußt aufzuhellen. Dies wirkt natürlich auf die Deutung der musikalisch-ästhetischen Objektivität zurück. Die geschichtlich konkrete gesellschaftliche Objektivität geht in dem ontologisierten Natürlichen auf. Die »Natürlichkeit« bleibt auch hier eine von Klasseninhalten durchdrungene Kategorie. Obwohl der Lockesche Sensualismus, mit seiner Leugnung angeborener Ideen, das Bewußtsein als tabula rasa betrachtet, ist hier doch auf diesem Blatt die chiffrierte Schrift des bürgerlichen Klasseninteresses ablesbar. Wenn die Ästhetik der Aufklärung die Lockesche Linie verfolgt und im Namen des »gesunden Menschenverstandes« die »Natürlichkeit« der musikalischen Ausdrucksmittel verkündet, so kann man von diesem gesunden Menschenverstand mit den Worten Hegels sagen, daß er nichts anderes ist als die Gesamtheit der Vorurteile der gegebenen Epoche. Die »natürliche« Melodie ist gar nicht »voraussetzungslos«, die prinzipielle Verkündung ihrer Natürlichkeit wird nur von den bürgerlichen ideologischen Illusionen der Aufklärung gefordert. Und gerade diese von Illusionen belastete Auffassung, diese theoretische Voreingenommenheit verschließt den Weg zum Verständnis der wahren Rolle der künstlerischen Subjektivität und Originalität, zum Verständnis der SubjektObjekt-Dialektik, die das Wesen der musikalischen Form bildet. Endlich ist noch ersichtlich, warum auch jene Vorstellung ihren illusorisch-ideologischen Charakter beibehält, wonach zwischen dem in seiner isolierten Einzelheit untersuchten musikalischen Formelement und dem durch ihn evozierten konkreten Affekt ein eindeutiges Verhältnis bestehe. Wir haben im vorangehenden Abschnitt darauf hingewiesen, daß diese Eindeutigkeit eine logische Folge des mechanischen Determinismus der cartesianischen Psychologie und des Lockeschen Sensualismus ist. Nach dem erkenntnistheoretischen Grundprinzip des mechanischen Materialismus muß man der Musik eine fast wundersame Allgewalt zuschreiben: die Musik kann mit ihren gut ausgewählten Formelementen jedes individuelle, konkrete Gefühle heraufbeschwören. Dabei ist das Eindeutigkeitsverhältnis umkehrbar: jeder an einen konkreten Gegenstand gebundene individuelle Affekt — infolgedessen auch jeder konkrete Gegenstand oder jede objektive Situation — hat sein genaues musikalisches Pendant, sein adäquate musikalische Formel. Im Hellenismus und im Barock tauchte schon der Gedanke auf, daß eine völlig gleichförmige Rezeption der Musik191

inhalte nicht zu erreichen sei, weil man mit der Kompliziertheit der individuellen Psychologie des Hörers rechnen müsse (vgl. die Auffassung der bereits behandelten Diogenes Babylonius und Kuhnau). Dieser Gesichtspunkt wird vom mechanischen Materialismus nicht aufgegriffen und weitergeführt. Jetzt wird als Prinzip verkündet, daß die musikalischen Formen sowohl sinngemäß wie auch gefühlsmäßig gleichermaßen eindeutig seien, ihre Bedeutung sei für jeden (oder wenigstens für diejenigen, die über einen »gesunden Verstand« und »natürlichen Geschmack« verfügen) ein und dasselbe. Auch hier waltet die Vorstellung vom musikalischen Wörterbuch — von jenem Wörterbuch, welches der Genießende des Kunstwerks mit demselben Nutzen verwenden kann wie der Schöpfer. Dieses Wörterbuch kann jetzt nicht mehr eine von Marpurg geforderte Beispielsammlung bleiben, sondern es muß ein wahres, Vollständigkeit anstrebendes Lexikon sein. Die Flötenschule von Quantz begnügt sich nicht mit der Hermeneutik der Intervalle, mit Melodiewendungen und der Harmonieordnung; sie dehnt dasselbe Prinzip auch auf die Tonarten aus und erhebt somit die Untersuchung der mit dem Maggiore—Minore-Dualismus, später mit den einzelnen Tonarten verbundenen gefühlsmäßigen Konventionskreise, die im Barock nur als praktische musiktheoretische Disziplin geltende Tonartencharakteristik, in den Rang der musikästhetischen Theorie. Noch bei Gretry und bei Schubart ist über den — angeblich unverkennbaren und eindeutigen — Affektengehalt sämtlicher Tonarten eine genaue Charakterisierung zu lesen. Die Rationalisierung scheint jetzt vollständig zu sein. Der musikalische Ausdruck hat nicht ein einziges Mittel, die innere und äußere Form nicht eine einzige Komponente, der man nicht eine bestimmte, auch begrifflich fixierbare Bedeutung zuschreiben könnte. Damit wurde der Ausbau der mechanisch-materialistischen Musikästhetik zum totalen System beendet. Es scheint, als hätten wir die moderne (verbesserte und erweiterte) Ausgabe der antiken EthosHermeneutik, ein für ewige Zeiten gültiges Wörterbuch der auf natürlichen Grundlagen beruhenden musikalischen Bedeutungsordnung in die Hände bekommen. W i e Gluck nicht daran zweifelte, daß seine Alceste »nach zweihundert Jahren geradeso gefallen wird . . . , da ihre Grundlagen auf die Natur gebaut sind, die keiner Mode ausgesetzt ist«99, ebenso fehlt ein solches Selbstvertrauen auch bei den Theoretikern der Musikästhetik der Aufklärung nicht ganz, denn von der »natürlichen« Bedeutungsordnung verkünden auch sie mit Gluckscher Selbstsicherheit: »Die Zeit kann ihr nichts antun.«100 Auch dies ist eine heroische Selbsttäuschung, die von der nachrevolutionären bürgerlichen Ordnung erbarmungslos vernichtet wird. Die Wörterbuch-Ästhetik wird von denselben gesellschaftlich-geschichtlichen Kräften vernichtet, die auch die Illusion einer einheitlichen Emotionalität der bürgerlichen Gesellschaft zerstören. Das Wörterbuch-Prinzip setzt als stabile Gemeinschaft das einer gemeinsamen Sprache sich bedienende Publikum voraus. Wenn diese Gesellschaft sich auflöst, wenn die babylonische Verwirrung wieder auftaucht, dann muß auch das Wörterbuch-Prinzip ebenfalls zugrundegehen. Dies ist die Logik der Geschichte.

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DIALEKTISCHE GEDANKENELEMENTE IN DER ÄSTHETIK DER AUFKLÄRUNG Die mit dem hermeneutischen Wörterbuch verbundene ästhetische Konzeption beruhte zwar auf einer Illusion, doch auf einer geschichtlich berechtigten und bis zur Revolution unvermeidlichen Illusion. Gerade deshalb kann ihre Überwindung nicht aus der Entwicklung der musikalischer Theorie und Praxis allein verstanden werden. Ihr Todesurteil fällte — wie wir sehen werden — die nachrevolutionäre bürgerliche Ordnung, als sich erwies, daß das Reich der Vernunft nichts anderes sei, als das idealisierte Reich der Bourgeoisie (Engels). Gewisse Symptome deuteten immerhin bereits in der vorrevolutionären Periode auf die innere Widersprüchlichkeit und die beginnende Krise der Theorie hin, und es kann nicht überraschen, daß es für die mechanisch-naturalistische Musikauffassung auch in der Epoche der Aufklärung eine Opposition gab, die die wesentlichen Momente der Weiterentwicklung antizipierte. Der Terminus »Aufklärung« kann kein Prokrustesbett, keine Kategorienkonstruktion sein, deren Benutzung uns der Notwendigkeit entheben würde, auch die Nebenströmungen zu kartographieren und zu analysieren. Ein wirklich einheitliches Moment in der Aufklärung bildet ihr Klasseninhalt: in ihm nimmt die Ideologie des gegen die feudale Ordnung geführten bürgerlichen Klassenkampfes Gestalt an. Wenn wir jedoch nur an die eine Tatsache denken, daß der bürgerliche Ansturm auf die politische und kulturelle »Bastille« der ständischen Gesellschaft zu jeder Zeit und überall unter spezifischen geschichtlichen Bedingungen und in nationalen Formen verlief, können wir schon jetzt einsehen, wie unhaltbar die Methode ist, die ästhetischen Konzeptionen der Epoche schematisierend auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Vor allem muß man die Unterschiede der weltanschaulichen Grundeinstellung sorgsam beachten. W i r haben bereits auf den klassischen Charakter der französischen Aufklärung hingewiesen, auf jene Gedankenkraft und Konsequenz, die sich im Aufbau der entwickeltsten französischen Gedankensysteme des 18. Jahrhunderts spiegelt. Diese kompromißlose Konsequenz geht der englischen und insbesondere der deutschen Aufklärung ab. Die Moral- und Kunstphilosophie der englischen Aufklärung ist vom Geist des in der sogenannten »glorreichen Revolution« zustande gekommenen Klassenkompromisses durchdrungen. Ihre Haupttendenz verbleibt, wie bei Shaftesbury, ihrem bedeutendsten Vertreter, unter dem Einfluß des Idealismus. Noch auffallender zeigt sich der idealistische Grundcharakter in der deutschen Aufklärung. Die englischen Moralisten sind die Ideologen der einem revolutionären Aufschwung folgenden Epoche. Dieser revolutionäre Aufschwung — mag er auch in Kompromisse gemündet haben — eröffnete den W e g zur Entfaltung der klassischen Form der kapitalistischen Entwicklung. Die deutsche Aufklärung blieb auf der anderen Seite durchgehend befangen in der deutschen Misere, den kleinlichen Verhältnissen, die konserviert wurden, weil die nationale Einheit fehlte und die Gespenster der anachronistischen feudalen Gebundenheiten nicht gebannt waren. Ihr Idealismus ist daher nicht Ausdruck eines Klassenkompromisses, den die 193

1 3 Zolfai: Ethos und Affekt

an der Macht befindliche Großbourgeoisie anstrebt, sondern er bietet ein betont konservatives Weltbild, in dem sich die Schwächen kleinbürgerlicher Kreise reflektierten. Die englische und die deutsche Aufklärung stimmen jedoch darin überein, daß sie sich im Gegensatz zum Materialismus befinden, der in der englischen Nationalkultur seine aus dem 17. Jahrhundert stammenden Uberlieferungen besitzt bzw. in Frankreich die führende Ideologie der Epoche darstellt. Nun kommt die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung auch in der bekannten philosophiegeschichtlichen Tatsache zum Ausdruck, daß die antimaterialistische Opposition nicht nur Zeichen des Kompromisses, sondern auch die oft scharfsinnige Kritik einzelner metaphysischer Züge des mechanischen Materialismus enthält. Hier taucht der unüberwindbare Widerspruch der bürgerlichen Ideologie vor uns auf: die die metaphysische Beschränktheit überschreitenden Richtungen geben im allgemeinen die materialistische Grundauffassung des bürgerlichen Fortschritts auf und drängen die aus der Kritik an der Metaphysik gewonnenen Gedankenelemente in den Rahmen idealistischer Systeme. Es ist bekannt, daß dieses widerspruchsvolle Bestreben in der deutschen Philosophie in zugespitzter Form in Erscheinung tritt. Von ästhetikgeschichtlichem Gesichtspunkt aus gilt die Hauptfrage natürlich der Darlegung der Nachahmungstheorie, der Deutung des Mimesisprinzips. Diese Darlegung und Deutung wurde in bezug auf die Musikästhetik zu einem besonders schwierigen Problem. Hier möchten wir nur erneut die Aufmerksamkeit auf den par excellence modernen, bürgerlich neuzeitlichen Charakter der Fragestellung lenken. Was nämlich die antike Mimesis anbelangt, so konnten wir uns bereits bei Aristoteles davon überzeugen, daß deren grundlegender Inhalt keineswegs in der Verabsolutierung der ästhetischen Gesetzmäßigkeit des plastischen Formungsprinzips enthalten war. Unter Mimesis verstand die antike Ästhetik die Darstellung des menschlichen Charakters, die unmittelbar in der Musike verwirklicht wurde. Die bürgerliche Ästhetik deutet dagegen bereits in der Renaissance diesen Begriff stillschweigend um, sie faßt ihn im Sinne der Darstellung der Natur auf. Diese neue Deutung läßt die alte Vorstellung von der Hierarchie der einzelnen Kunstzweige, die seit der Antike von so vielen Seiten bestritten wurde, erneut zeitgemäß erscheinen. Wir sahen, daß der Gedanke des Höherstehens der durch die Musike verwirklichten Mimesis — wenn theoretisch auch nur in episodischer Form — bereits bei Aristoteles auftauchte. Von Grund auf anders verhält es sich aber mit der neuzeitlichen Auffassung der Rangordnung. Wenn nämlich die Kunst die Natur darstellt, dann löst die Malerei — wie dies Leonardo auch unmißverständlich betonte — die Aufgabe der künstlerischen Darstellung auf einem höheren Niveau als die Musik oder die Dichtkunst. Im Prinzip der Nachahmung der Natur ist die Idealisierung des Widerspiegelungscharakters der bildenden Kunst mehr oder weniger enthalten. Dies kommt bereits in dem zitierten Gedanken von Batteux zum Vorschein, wonach die »ganz geometrische Musik«, d. h. die Musik ohne anthropozentrische Bedeutungsordnung, nur ein »Prisma . . . aber kein Gemälde« sei, ja selbst auch bei Gluck, der während des Komponierens »gern vergessen hätte, daß er Musiker sei«.

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Zugleich wiesen wir auch darauf hin, daß die Forderung nach Nachahmung der Natur in der Auffassung der mechanisch-materialistischen Erkenntnislehre, des Sensualismus, mit dem Prinzip der realistischen Darstellung der inneren, menschlichen Natur identisch ist. Mag auch die naive Identifikation der »äußeren« und »inneren« Natur noch problemlos erscheinen, sie konnte die Frage nach den Eigenarten der musikalischen Nachahmung der Natur doch nicht völlig umgehen. Aber die Fragestellung ist eine Sache und die Lösung eine andere. Die Lösung des Problems erhielt nämlich auf dem Boden des mechanischen Materialismus noch keine begrifflich scharfe, bewußte Formulierung. Die Problematik des Systems der Künste, der Anspruch auf die Fixierung der Grenzen zwischen den einzelnen Kunstzweigen, wurde nur in der englischen und besonders in der deutschen Aufklärung zur zentralen Frage. Das Verdienst der Pionierarbeit gehört den Engländern. James Harris unternahm bereits 1744 einen Versuch, die Stellung der Musik in der ästhetischen Systematik zu bestimmen, 101 und in Fortsetzung seiner Initiativen bildete sich eine ganze Schule heraus (Ch. Avison, D . Webb, J . Beattie, Th. Twinning). Subjektiv hielt Harris noch an der grundlegenden aristotelischen Vorstellung fest, die den mimetischen Grundcharakter aller Künste zugab. Aber seine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die »affektuose« Wirksamkeit der Musik, die er natürlich mit der aus der Malerei und Dichtung abstrahierten Nachahmungs-Kategorie nicht hinreichend zu erklären vermochte. Deshalb spaltet sich bei ihm der Mimesis-Begriff zunehmend in die zwei entgegengesetzten Pole von Nachahmung der Natur und Affektausdruck. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis der notwendigen Trennung von künstlerischen Mitteln und Konstruktionsprinzipien, Nach Harris komponiert die Musik, genauso wie die Dichtung, mit Mitteln, die eine sukzessive Reihe bilden, während die Malerei hingegen mit simultanen Zeichen arbeitet. Auf diese Weise ist Avison der erste, der von der Musik nicht »Nachahmung«, sondern Gefühlsausdruck erwartet. 102 Diese Unterscheidung vertieft sich bei Beattie und Twinning zu einem scharfen Gegensatz, und ihnen zufolge ist die Musik eine prinzipiell nichtmimetische Kunst und hat deshalb im System der Künste einen völlig gesonderten Platz. Wir sind hier von neuem Zeugen eines auftauchenden Prinzips, das aus dem unlösbaren Antagonismus des bürgerlichen Weltbildes entstanden ist. Der Ausgangspunkt der englischen Ästhetik stimmt mit dem der französischen dem A n schein nach überein. Auch bei ihr ist die Anerkennung des »affektuosen« Gehaltes der Musik die unerläßliche Prämisse eines jeden musikästhetischen Gedankenganges. Als sich jedoch das theoretische Interesse auf die Eigenarten der Wirkung der Musik, auf die in ihr in gesteigertem Maße zur Geltung kommende ästhetische Wirksamkeit verschiebt, stellt es sich auf einmal heraus, daß die mechanisch-materialistische Widerspiegelungstheorie unfähig ist, das Moment der Katharsis zu erklären. Die Würdigung des Moments der tätigen Rückwirkung, die Erforschung ihrer wahren Stelle im komplizierten Vorgang der ästhetischen Spiegelung, die auf theoretischmethodisch einheitlicher Basis erfolgende Verbindung der Pole von Mimesis und Katharsis — all dies forderte notwendig eine dialektische Anschauungsweise. Harris kam auch bis zur Schwelle dieser Dialektik, er mußte jedoch für diesen Schritt T

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nach vorn — wie dies bei Beattie 103 und Twinning 1 0 4 offensichtlich ist — einen großen Preis zahlen: er mußte auf den Kern des Grundgedankens, die materialistische Widerspiegelungstheorie verzichten. Die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Weltanschauung, die im falschen Dilemma des metaphysischen Materialismus und Idealismus steckengebliebene Denkweise führt also dazu, daß eines der wichtigsten Elemente des antiken ästhetischen Erbes, die bei Aristoteles keimende Dialektik v o n mimetischer Funktion und kathartischer Wirksamkeit verlorengehen. Es ist aber auch unzweifelhaft, daß die aufgeklärte Ästhetik — trotz ihrer weltanschaulich-ideologischen Widersprüche — in einer ganzen Reihe von wichtigen Punkten die Musiktheorie der Antike bei weitem überholt. W i r berufen uns hier nur auf einen einzigen, doch sehr charakteristischen Fragenkomplex. Uns ist bereits jene Schwäche der mechanisch-materialistischen Intonationstheorie bekannt, die die historischen Vorgänge der Musik nur mit verzerrender Einseitigkeit erfassen konnte. Neben der Erkenntnis der geschichtlichen Kontinuität der musikalischen Umgangssprache war sie nicht fähig, die Rolle der Subjektivität des Musikschaffenden— der sich unter den bürgerlichen Verhältnissen immer stärker akzentuierenden kompositorischen Originalität — zu verstehen. Auch darin vertritt die englische Ästhetik des 18. Jahrhunderts eine besondere Nuance, eine dialektisch nach vorn weisende Opposition. Man denke vor allem an Young, den Klassiker der englischen Genietheorie. Auch bei ihm taucht die Forderung nach der nichtmechanischen Interpretation der Nachahmungstheorie auf. Deshalb unterscheidet er die Nachahmung in unmittelbare »Imitation« und in wirkliche künstlerische Tätigkeit. Die Imitation ist das thematische oder motivische Kopieren bereits vorhandener Werke, die knechtische Befolgung der Konstruktionsprinzipien und der Technik großer Schöpfer. Nachahmung als künstlerische Tätigkeit jedoch erfordert nach Y o u n g die wahre Nachahmung der Natur, so, wie das originell schaffende Genie die Natur selbst beobachtet und darstellt, wobei es auf die sogenannten Regeln, die Loci topici der Umgangssprache verzichtet. Y o u n g versucht also, aus dem Nachahmungsprinzip die zum unmittelbaren Kopieren der fertigen Werke, zum voreingenommenen Traditionalismus führenden Bestrebungen zu entfernen, und er verbindet die Originalität der künstlerischen Subjektivität — wenn auch v o m erkenntnistheoretischen Gesichtpunkt aus nicht immer mit voller Bewußtheit, richtig aber in den Konsequenzen — mit der tiefen und treuen Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit, 105 Die englische Genietheorie schuf somit zur Bekämpfung der schon bekannten Beschränktheit der Intonationstheorie v o m methodischen Gesichtspunkt aus eine fruchtbare Möglichkeit: sie ebnete der Erforschung der dialektischen Wechselwirkungen von musikalischer Umgangssprache und kompositorischer Subjektivität den W e g . Aber warum blieb dennoch die dialektische Fundierung der bürgerlichen Musikauffassung nur eine Möglichkeit, die auch die englische Aufklärung nicht verwirklichen konnte? Es wäre eine oberflächliche und im Grunde genommen falsche Antwort, würden wir uns nur auf den Umstand berufen, daß die führenden englischen Ästhetiker der Epoche von Shaftesbury bis Twinning nur Dilettanten waren, denen die spezifischen Strukturgesetze des eigentlichen Kommunikationsmediums der M u -

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sik, des Tonsystems, verborgen blieben. Diese von den bürgerlichen Historikern der Ästhetik oft aufgestellte Behauptung ist übrigens nur eine halbe Wahrheit. Avison vermochte zum Beispiel seine Kritik der naturalistischen Tonmalerei mit konkretem musikalischem Material zu dokumentieren; Webb verband die Theorie der Transponierung des dichterischen Wortes in Musik mit Analysen der Vokalwerke von Purcell und Händel, usw. Wir kommen der Wahrheit näher, wenn wir von der widersprüchlichen Entwicklung der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts ausgehen. Es ist bekannt, daß in der Entwicklung der englischen Musik nach Purcell ein eigenartiger Widerspruch zur Geltung kommt. Obwohl die rasche Kapitalisierung gerade in England die typisch bürgerliche Form des aufblühenden musikalischen »Konsums« hervorbrachte (das allgemein werdende Konzertsystem mit sämtlichen Requisiten des kulturellen Großbetriebs, mit Unternehmern und mit den auf Teilfunktionen beschränkten Angestellten usw.), verschwinden aus dem Musikleben der Zeit nach Purcell die großen schöpferischen Persönlichkeiten. Richtig betont Knepler, daß nicht die Politik der Puritaner, sondern die dem Klassenkompromiß der »glorreichen Revolution« folgende kapitalistische Kunstindustrie der Entwicklung der englischen Musik des 18. Jahrhunderts Fesseln angelegt hat.10® Diese Widersprüchlichkeit des kulturellen Fortschritts führt endlich dazu, daß die englische Genietheorie sich gerade kinsichtlich der Tonkunst nicht auf die faktischen Daten der Praxis stützen konnte. Der alles überschwemmende Musikimport schuf in bezug auf das Studium der Entfaltungs- und Entwicklungsgesetze der originellen kompositorischen Subjektivität eine ungünstige Situation. Deshalb blieb auch ihr eigentliches Demonstrationsfeld in erster Linie die lyrische und epische Dichtung. Die ungleichmäßige Entwicklung der englischen Musikkultur motiviert trotzdem nur die bekannte grundlegende Ursache: die in unlösbaren Antinomien befangene Bewegung des bürgerlichen Weltbildes. Stellt Young die authentische Nachahmung der Natur der sich an die Konventionen klammernden »Imitation«, die Originalität dem sklavischen Kopieren entgegen, so kommt hier das Problem zum Vorschein, das in der nach dem Natürlichen gerichteten ästhetischen Konzeption verborgen ist. Der gesellschaftliche Charakter der mit dem Wort »Natur« angezeigten objektiven Wirklichkeit bleibt unerklärt, und die spezifische Struktur der vom ästhetischen Gesichtspunkt aus primär in Frage kommenden Objektivität verblaßt. Diese Unsicherheit wirkt natürlich auch hinsichtlich der bildenden Kunst oder dichterischen Darstellungsweise als eine theoretische Fehlerquelle; die Theorie der auf doppelter Mimesis fundierten Tonkunst verfälschte sie aber ganz und gar. Die aufgeklärte Ästhetik ist somit von Anfang an jenes Gebiet, wo die Widersprüchlichkeit der bürgerlichenWeltanschauung relativ früh und in zugespitzter Form zum Ausdruck kommt; sie enthält die spätere extreme Polarisation der entwickelten bürgerlichen Ästhetik bereits im Keim. Die komplizierte Entwicklung der philosophischen Musiktheorie fällt besonders bei den Denkern der deutschen Aufklärung auf. Auch hier ist die Kritik des mechanischen Materialismus das Leitmotiv jeder kunsttheoretischen Untersuchung, ebenso wie in England. Beachtenswert ist dabei, daß gerade die Engländer die ersten Impulse geben. (Die Werke von Harris, Webb, Avison, Twinning Hegen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bereits in deutscher Übersetzung vor; Schu197

bart knüpfte unmittelbar an Avison, Lessing an Harris an; Herder lernte auch die Intonationstheorie Rousseaus größtenteils durch Vermittlung v o n W e b b kennen usw.) Die Polarisierung von Mimesis und Affektausdruck vertieft sich aber auf deutschem Boden bereits zu einer unüberwindlichen Kluft, weswegen all die idealistischen Bestrebungen, die wir oben in der englischen Ästhetik aufzeigten, in der deutschen Entwicklung noch kraftvoller in Erscheinung treten. Natürlich gestaltete sich die deutsche Aufklärung — mit all ihrer philisterhaft religiösen Beschränktheit — zur Ideologie der gegen den Absolutismus der Fürsten revoltierenden bürgerlichen Schichten und ließ deshalb in entscheidenden ästhetischen Fragen denselben bürgerlichen Klasseninhalt zum Ausdruck kommen, den auch die klassische französische Form der Aufklärung enthielt. W i r möchten hier erneut auf die grundlegende Problematik der Epoche hinweisen. Die auf der Grundlage der deutschen Aufklärung stehenden Musiktheoretiker lehnen fast einstimmig die in der französischen Entwicklung v o n materialistischer Position ausgearbeiteten Grundlagen der Mimesistheorie ab. (Vgl. die Batteux-Kritik des Komponisten Hiller, das Auftreten von Sulzer und Heydenreich, Reichardt und Herder gegen das Prinzip der mit musikalischen Mitteln zu verwirklichenden Nachahmung der Natur, die Auffassung von Herder und Schubart über die Genesis der musikalischen Praxis.) Trotzdem halten alle die Musik f ü r den Ausdruck des Affekts. Dabei ist die aufklärerische Anerkennung der musikalischen Gestaltung der Leidenschaften ein organischer Teil der Ideologie der antifeudalen Opposition; man denke nur an Hildegard von Hohenthal, den musikalischen R o m a n von Heinse, der die ganze Epoche charakterisiert und in dem der Zusammenhang zwischen affektvollem Musikgenuß und freier Entwicklung der bürgerlichem Individualität durch konkrete Lebensschicksale dargestellt wird. In den meisten Fällen e n g t natürlich die idealistische Auffassung auch die Fragestellung selbst ein. Es ist jedoch nicht schwer, den W e g der Weiterentwicklung zu erkennen: Immer öfter tauchen Probleme auf, die dialektische Lösungen erfordern. Die zentrale Frage ist dieselbe wie bei den Engländern: Durch welche Eigenschaften wird die musikalische Darstellung der Wirklichkeit gekennzeichnet? Bereits die Fragestellung weist auf die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem hin, denn es ist solange unmöglich, die Eigenart der musikalischen Sphäre zu behandeln, bis die musikästhetische Untersuchung nicht mit der Ausarbeitung des allgemeinen ästhetischen Systems der einzelnen Kunstzweige verbunden wird. Eine derartige Dialektik der allgemeinen und besonderen Gesetzmäßigkeiten ist am vielseitigsten in Lessings Laokoon entfaltet, in diesem unsterblichen Meisterwerk der Ästhetikgeschichte, das die Grenzlinien zwischen den Künsten so abgesteckt hat, daß man sich bis zum heutigen Tage mit Nutzen in sein Studium vertiefen kann. Seine Grundidee taucht bereits bei Harris auf: Man m u ß die sukzessive Darstellungsart der Dichtkunst von der Konstruktionsart der bildenden Künste, die simultane Zeichen miteinander binden, unterscheiden. Eigentlich hat sich auch Lessing, zu nichts anderem entschlossen, als er die immanenten Darstellungsmöglichkeiten der Dichtung und der Malerei bewußt machen wollte. Deshalb tritt der Laokoon nicht mit dem Anspruch auf geschlossene Systematik sämtlicher Künste auf, die auch der spezifischen Problematik der Musikästhetik ihren Platz geben würde. Trotzdem hat 198

aber Lessing klar gesehen, daß der Kreis seiner Untersuchungen nicht auf zwei einander gegenübergestellte Kunstzweige eingeengt werden kann: »Noch erinnere ich, daß ich unter dem Namen der Malerei die bildenden Künste überhaupt begreife; so wie ich nicht dafür stehe, daß ich nicht unter dem Namen der Poesie auch auf die übrigen Künste, deren Nachahmung fortschreitend ist, einige Rücksicht nehmen dürfte.«107 Diese Bemerkung bezieht sich vor allem auf die Tonkunst. Es stimmt zwar, daß das musikästhetische Gegenstück des Lessingschen Werkes erst viel später, durch Grillparzer, der vorwiegend die Ergebnisse der Wiener Klassiker verallgemeinerte, skizziert wurde, 108 die Möglichkeit für eine erweiterte Deutung tauchte aber schon bei den Zeitgenossen Lessings auf. Wir sehen das bei Herder, der die Fragestellung Lessings beibehaltend auch gegen ihn auftritt, weil der Laokoon seines Erachtens irrtümlicherweise die Dichtung den bildenden Künsten entgegenstellte und nicht deren wahren Gegenpol, nämlich die eigentliche Sukzession vertretende Musik. Deshalb gebührt dem Laokoon ein hervorragender Platz in der Geschichte der Musikästhetik. Das Lessingsche Werk leitete eine großangelegte Debatte gegen die Auffassung Winckelmanns über die Antike ein, dem zufolge die Kultur der griechischen Kunst aus dem Lebensideal der »edlen Einfalt und stillen Größe« herausgewachsen war, ebenso wie die berühmte Statuengruppe nicht das tierische Geschrei des Schmerzes, sondern die Größe der die Affekte bändigenden menschlichen Willenskraft und des Charakters darstellt. Lessing nahm den Ausgangspunkt der Winckelmannschen Argumentation an; in der Tat hält die griechische Plastik Maß in der Darstellung der Affektausbrüche, sie ordnet den Ausdruck dem Gesetz der sittlichen Schönheit unter und schließt daher den Höhepunkt der Leidenschaft von den möglichen Gegenständen der plastischen Darstellung aus. Allerdings bezieht sich nach Lessing diese Beschränkung nur auf die bildenden Künste. Die verwundeten Helden des Homer mögen heulen in ihrem Schmerz: in den großen Schöpfungen der Dichtkunst zeigt sich uns der ganze Verlauf der stürmisch bewegten Affektenwelt bis zu den letzten Höhepunkten. Aus dieser Unterscheidung der Darstellungsweise zog Lessing seine wichtigsten theoretischen Konsequenzen, die sich bei weitem nicht auf den altbekannten Gemeinplatz beschränkten, daß die bildende Kunst eine räumliche, die Dichtung (und auf Grund des Gesagten die Musik) eine zeitliche Kunst wären. Den fruchtbarsten Gedanken der Lessingschen Konzeption darf man daher nicht in der Unterscheidung der möglichen Gegenstände (Körper bzw. Handlungen) dieser zwei Kunsttypen erblicken. Der tief dialektische Charakter der Lösung liegt vielmehr in jener bei Lessing durchbrechenden Erkenntnis, daß die Eigenarten einerseits der das Nebeneinander der Körper darstellenden bildenden Kunst, andererseits der das Nacheinander der Handlungsreihen darstellenden Dichtung gerade aus ihrer Identität, namentlich aus ihrer wirklichkeitspiegelnden Funktion her verständlich werden können; die Konstruktionsprinzipien unterscheiden sich voneinander geradein dem, was auch für ihre wesentliche Identität bestimmend ist, was sie überhaupt zur Kunst, zur sinnlichen Darstellung der Wirklichkeit werden läßt. Denn jede Kunst ist bei der sinnlichen Darstellung der Wirklichkeit dazu gezwungen, uns die objektiven Gegebenheiten in spezifischer Transformation vorzustellen. Die Malerei, überhaupt die bildende Kunst, konzentriert in das typische Moment eines einzigen punc-

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tum temporis — eines gut gewählten Zeitpunktes — die objektive Räumlichkeit der gegenständlich-menschlichen Welt, sie stellt sie also in einem »fruchtbaren Augenblick« dar, dessen Vorereignisse und Folgen gleichermaßen wahrgenommen werden können. Hier hört die Zeitlichkeit auf, bleibt jedoch wiederum auch bestehen und wird zum aufgehobenen Element des gegenständlichen Nebeneinanders. Andererseits muß die Dichtung (und die Musik) die konkrete Gegenständlichkeit in sukzessive Handlung, in inhaltsvolle Zeitlichkeit verwandeln; ihre Simultaneität geht hier in der zeitlichen Sukzessivität auf.109 Derart begreift Lessing nicht nur die Grundlage der Differenzierung, sondern er läßt — mit einem für seine Zeit außergewöhnlichen Scharfsinn — auch die innere Einheit der Gegensätze, die Identität der objektiven Grundlage der in gegensätzlicher Richtung verlaufenden strukturellen Transformation sichtbar werden. In dieser Beziehung ist es besonders wichtig, eine solche Seite der Lessingschen Ästhetik zu beachten, die bislang von der Forschung vernachlässigt wurde. Die Forderung nach einer Abgrenzung der Konstruktionsprinzipien ist bei Lessing nämlich stets mit der äußerst differenzierten Strukturanalyse des Wesens des Ästhetischen verflochten. Es handelt sich hier um die Frage der Schönheit und darum, wann und wie die häßlichen Tatsachen und Seiten der objektiven Wirklichkeit zu Gegenständen künstlerischer Gestaltung werden können. Aus der Grundauffassung Lessings spricht der Geist des aufgeklärten Humanismus: Im Disharmonischen sieht er letztlich ein barbarisches und menschenwidriges Lebensfaktum, das die Kunst, die sich der humanen Unterweisung der Menschheit auf ernste Weise widmet, nicht in seiner unmittelbaren Häßlichkeit darstellen kann. Lessing verbindet nämlich die »aufklärende«, humanisierende, erzieherische Funktion der Kunst auf das entschiedenste mit ihrer orientierenden Rolle im menschlichen Leben. In diesem Zusammenhang wird auch das französische Losungswort der Nachahmung der »schönen Natur« verständlich, das bei Batteux noch als ein wahrer deus ex machina für die Verhüllung der unlösbaren theoretischen Widersprüche der Nachahmungstheorie einstand. Lessing baut auf den dialektischen Elementen des spinozistischen Weltbildes seine Überzeugung auf: »In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. U m endliche Geister an dem Genüsse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen enthalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzur sondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzuverschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten. Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande, oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Räume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab, und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Ver200

bindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur i m m e r die E m p f i n d u n g , die sie erregen sollen, verstattet.« 110 D i e einander durchdringende innere Einheit v o n Realismus und Humanismus ist also die Grundlage, v o n der aus Lessing die unmittelbare Darstellung des H ä ß l i chen als kunstwidrig ansieht. D i e Grenzgebiete zwischen den Künsten, die z w a r reich an Ü b e r g ä n g e n und Vermittlungen sind, schaffen auch in diesem Z u s a m m e n h a n g eine komplizierte Lage. W a s die bildenden Künste anbelangt, so sind sie f ü r die D a r stellung des Deformierten, Verzerrten am wenigsten geeignet; das i m simultanen Nebeneinander seiner Teile dargestellte Verzerrte ist nur unsympathisch, ja sogar abschreckend. Anders verhält es sich mit jenen Künsten, die die Gegenständlichkeit in sukzessives Nacheinander umgestalten (in der Dichtkunst, w o b e i die M u s i k stillschweigend mit einbegriffen wird). Hier erscheint das Formlose, das Disharmonische in der sukzessiven R e i h e eines v o n Handlung ausgefüllten zeitlichen V o r g a n g e s , und seine W i r k u n g wird durch die Möglichkeit eines ununterbrochenen Vergleichs mit andersgearteten Lebenstatsachen ins Ästhetische umgestaltet. Infolgedessen ist für die D i c h t u n g die ästhetische V e r g e g e n w ä r t i g u n g der sich reich entfaltenden T o t a l i tät des Lebens nicht nur erlaubt, sondern gerade erwünscht; für die realistische D a r stellung der künstlerischen Lebenswahrheit eröffnen sich hier verborgene M ö g l i c h keiten, die der antiken Plastik (um v o n der die A n t i k e verkennenden W i n c k e l m a n n schen Schönheitsauffassung gar nicht z u reden) nicht bekannt waren und auch nicht bekannt sein konnten. W i r haben es hier mit einer Auffassung des Ästhetischen z u tun, die an einer theoretisch f ü r unverwundbar gehaltenen Stelle — nämlich durch die U m d e u t u n g des Schönheitsgesetzes — der höfischen Ästhetik des 17. Jahrhunderts den letzten Schlag versetzt und hierdurch auf d e m schwierigsten Gebiet der i m neuen Sinne klassischen Theorie und Praxis des bürgerlichen Realismus den W e g ebnet. D e r Laokoott förderte somit wenigstens in zweifacher Hinsicht die Ausarbeitung der bürgerlichen Musikästhetik: er schuf Grundlagen für die Systematik der Kunstzweige und zeigte zugleich die neuen Möglichkeiten der realistischen E n t w i c k l u n g der modernen Kunst. W o l l e n w i r jedoch das Schicksal der Lessingschen Initiativen in der Musikästhetik der A u f k l ä r u n g real bewerten, so dürfen w i r einen wichtigen Umstand nicht außer acht lassen. Lessing ist buchstäblich eine einzigartige Erscheinung in der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts; vielleicht die einzige, durch die die deutsche Misere menschlich und weltanschaulich nicht zur kompromißlerischen Philisterei deformiert wurde. Seine unmittelbaren Zeitgenossen bleiben d e m z u f o l g e hinter jener gedankHchklaren Sicht und jenem N i v e a u , die für den Laokoon und die Hamburgische Dramaturgie charakteristisch sind, w e i t zurück. Besonders augenfällig ist dieser Kontrast in bezug auf die Musiktheorie; ihre führenden Vertreter der Zeit waren fast d u r c h w e g in der Tretmühle des pädagogischen Dienstes oder der kirchlichen Musik verkrüppelte Spießbürger. E i n Schubart, ein Reichardt erscheinen in diesem Milieu fast als einsame Sonderlinge. U n d gerade der Lebensweg Reichardts, der v o m Jakobinertum des G e o r g Forster z u m Liberalismus zurückführt, ist der B e w e i s dafür, daß der furchtbare D r u c k der philiströsen Verhältnisse früher oder

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später auch die für ihre persönliche Unabhängigkeit Kämpfenden zum Scheitern verurteilt. Dieser Umstand engt die Grenzen, unter denen sich die dialektisch bahnbrechende Arbeit Lessings in der Musikästhetik im weiteren konkretisieren konnte, stark ein. Der Fortschritt war auf dem Gebiet der Festsetzung der Grenzen der Tonkunst am eindeutigsten. Das Beispiel des Laokoon, womit Lessing zum Schutz der Selbständigkeit der Kunstzweige und -arten gegen die sogenannte beschreibende Dichtung des Barock und des höfischen Klassizismus auftrat, kann unmittelbar nutzbar gemacht werden, wenn die Spitze der Kritik gegen die Verwischung der Grenzen von Musik und Malerei angewandt wird. Die sich gegen die naturalistische Tonmalerei entfaltende Polemik bedeutet nicht, daß abstrakte theoretische Möglichkeiten mit einem Fragezeichen versehen werden, sondern bedeutet eine kritische Übersicht der faktisch wirksamen Richtungen der musikalischen Praxis. Der »naturschildernde« Stil in der Musik stand nämlich der realistischen Menschendarstellung ebenso im Wege wie die durch Lessing diskreditierte beschreibende Dichtung. Daß hier nicht von der Erörterung eines abstrakt theoretischen Standpunktes, sondern von den faktisch vorhandenen Richtungen in der Kritik die Rede war, geht gerade aus den Werken der Philosophen am klarsten hervor. Herder betrachtete zum Beispiel jeden Versuch, räumlich vorhandene Gegenstände musikalisch darzustellen, als unerfahrene Stümperei. Die Kritik war dabei vielseitig differenziert. Herder leugnete nicht, daß gewisse Bewegungen der Natur musikalisch dargestellt werden können — letzlich ist dies ein Beweis dafür, daß der im Harris—Lessingschen Sinne aufgefaßte simultane Charakter sich zur Sukzessivität transformieren kann —, er fügte jedoch, sich auf die Naturschilderung der großen Oratorien-Komponisten berufend, hinzu, daß die Bewegungen der Natur in diesem Falle durch die Bewegungen des menschlichen Gemüts gegangen sein und mit ihnen in bestimmter Weise erscheinen müßten. Ein komplizierteres Problem stellt die musiktheoretische Anwendung einer anderen zentralen Kategorie der Lessingschen Ästhetik, des Prinzips der strukturellen Transformation dar. Wir haben bereits auf die Schwächen der mechanisch-materialistischen Affektenlehre hingewiesen, die, während sie de nintonierten Affektgehalt der einzelnen Formelemente, vor allem den der Melodieformeln, in ihrer atomistischen Isolation fixiert, nolens volens auf das Verständnis der das Wesen der inneren Form bildenden Struktur verzichtet und jenes Plus der ästhetischen Bedeutung nicht wahrnimmt, das im organischen Aufbau des Kunstwerks enthalten ist. Nun taucht hier die Frage auf: Was gewährleistet das adäquate Verständnis des Inhalts des Werkes, wenn die verschiedenen Formelemente notwendigerweise unterschiedliche Affekte heraufbeschwören? Die deutsche Musiktheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts versuchte die Lösung dieses Problems, indem sie, um den objektiven Bedeutungsinhalt des Werkes zu retten, die dargestellten Affekte einer Rangordnung unterwarfen. Reichardt vertrat darin den entwickeltsten Standpunkt seiner Zeit. Ihm zufolge muß ein musikalischer Satz notwendigerweise auf der Einheit der Melodie beruhen und kann demzufolge stets nur einen einzigen Affekt — ein »leitendes« Gefühl — ausdrücken. Die Spitze dieser Auffassung war gegen die polyphone Struktur gerichtet; wenn Reichardt über den strengen kontrapunktischen Stil den Stab 202

brach, trat er ebenso im Interesse der befreiten bürgerlichen Subjektivität auf wie die französische Aufklärung, die auch in der Konstruktionsart und den Kunstarten der Barockzeit eine gotische Barbarei crblickte. Andererseits impliziert die Theorie des führenden Affekts, der durch die Einheit der Melodie ausgedrückt werden soll, zugleich eine mittelbare Diskussion mit der atomistischen Formbetrachtung der W ö r terbuchästhetik. Der Grundsatz — wenigstens in bezug auf die Melodik — erhebt gerade die Forderung nach dem funktional Organischen und stellt hier der polyphonen Linearität musiktheoretisch die neuartige Formkultur des affektuos-homophon Melodischen entgegen. Auch hier können wir auf die deutsche Musiktheorie jener Epoche, von Riemann rechtens als »Generalbaßzeitalter« bezeichnet, nicht näher eingehen. Wir müssen uns damit begnügen, auf die Monographie von Peter Benary hinzuweisen, die die in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogene große Wende vielseitig dokumentiert; jene Umwandlung der Theorie, die die Entwicklung vom Barock bis zum deutschen Klassizismus theoretisch verallgemeinert, die Fuxsche Kontrapunkt-Theorie zu einem veralteten Erbe der Vergangenheit herabsetzt, die die mit den Namen von Mattheson und Joseph Riepel charakterisierte »Melodielehre« an den zentralen Platz stellt und auf diese Weise die zukünftige, sich bei Johann Friedrich Daube herauskristallisierende, auf neuen akkordischen Grundlagen beruhende »Harmonielehre« vorbereitet. 111 Es ist nun offensichtlich, daß die Reichardtsche Konzeption gerade diese späte Entwicklungsphase vertritt: sie leitet die Matthesonsche Melodieauffassung in die neue Harmonik über, die den Gipfel der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts darstellt. So beschließt Reichardt das Generalbaßzeitalter und öffnet der klassischen Harmonik den Weg. An diesem Punkte lohnt es sich, auf eine weniger bekannte Erörterung der Hamburgischen Dramaturgie Lessings einzugehen, in der der große deutsche Theoretiker und Kritiker des bürgerlichen Schauspiels die Erfordernisse der Schauspielmusik analysiert und dabei die Gelegenheit wahrnimmt, über eine bis dahin unklar gebliebene grundlegende Frage der Affektenlehre seine Meinung zu äußern. Es ist wieder kein Zufall, wenn diese Frage mit der inneren Form, der eigenartigen transformierenden Struktur der Tonkunst zusammenhängt. Der aufgeklärte Grundsatz Lessings heißt: die Tonkunst soll die Darstellung von Leidenschaften leisten. Nun ist es Aufgabe des Komponisten, auch in der reinen Instrumentalmusik diese Darstellung eindeutig, allgemeinverständlich zu machen. Aber wie? »In der Vokalmusik hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hilfe weg, und sie sagt gar nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken; wir werden diese öfter hören, wir werden sie mit einander öfter vergleichen, und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.« 112 Das wichtige Konstruktionsgesetz der musikalischen Komposition äußert sich in diesem Gedankengang: »Wer mit unserm Herzen sprechen und sympathetische 203

Regungen in ihm erwecken will, muß ebensowohl Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und jeder Teile, ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann.« 113 Es ist hier nicht schwer zu erkennen, daß in dieser Entdeckung der zusammenhaltenden Kraft, der Struktur, das Weltbild des aufgeklärten Humanisten wirkte. Indem Lessing den übersichtlichen schlank-architektonischen Aufbau der Formelemente forderte, verlangte er von der Musik die Darstellung der sich reich entfalteten, doch persönlich konzentrierten menschlichen Gefühlswelt, eine Darstellung, die auch in der Mannigfaltigkeit der Teile die monozentrische, die Mannigfaltigkeit beherrschende harmonische Einheit gewährleistet. Möge diese betonte Hervorhebung des Erfordernisses des inneren Geformtseins auch noch so weit vorwärts weisen, so bleibt sie dennoch in bezug auf ihre erkenntnistheoretische Fundierung problematisch. Wir möchten erneut auf Reichardt hinweisen. Bei ihm fällt das Prinzip der Einheit der Melodie mit dem Verbot der thematischen Kontraste zusammen: Man müsse — so sagt er — jene Werke ablehnen, in denen derselbe Satz thematische — d. h. melodisch-gefühlsmäßige — Gegensätze vereint. Denselben Vorbehalt drückt Lessing in bezug auf die Bühnenbegleitmusik aus: »Eine Sinfonie, die in ihren verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß eben dieselbe Leidenschaft, bloß mit verschiedenen Abänderungen, es sei nun nach den Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit, oder nach den mancherlei Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen, und in uns zu erwecken suchen.«114 Es fragt sich, was diese Regel für die zeitgenössische musikalische Praxis bedeutete. Hier müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß sich die bedeutenden Komponistendes 18. Jahrhunderts auf dem besten Wege befanden, diese Norm zu sprengen. Denken wir an die Übergänge zwischen den gegensätzlichen Gefühlscharakteren, an die neue orchestrale Crescendo-Technik bei den Mannheimern, den neuen — sowohl in Berlin wie auch in Hamburg wohlbekannten — symphonischen Stil, die gelöstere Formenweit des Philipp Emanuel Bach usw., so scheint, daß die Theorie hier hinter der raschen Entwicklung der Praxis weit zurückblieb. 115 Die Sätze von Reichardt und Lessing stehen gerade dem in der Wiener Klassik sich entfaltenden musikalischen Realismus im Wege. Das Überraschende in alledem ist nur, daß dieser Rückstand gerade bei demselben Lessing sich äußert, der — wie wir sahen — auf dem Gebiet der Dichtkunst mit einem für seine Zeit einzigartigen feinen Sinn auf das Novum des bürgerlichen Realismus aufmerksam wurde. Dasselbe gilt auch für Reichardt: In seinen Goethe-Liedern überwand er den Schematismus der Berliner Schule in Richtung eines frischen, freieren und aufgelockerten Liedstils, während er als tonangebender Kritiker seiner Zeit theoretisch auf dem Niveau der frühen Berliner Schule stehen blieb und sich unfähig zeigte, den neuen Stil der Mannheimer und der Wiener Schule zu verstehen.

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Die Frage ist berechtigt: Wie erklärt sich dieses Zurückweichen vor der dialektischen Lösung des theoretisch aufgeworfenen Problems, ein Zurückweichen, das noch dazu in einer Zeit erfolgte, als die Praxis den W e g der Lösung aufzuzeigen begann? Es lohnt sich, Lessings Gedankengang zu verfolgen: »Nun begreife ich sehr wohl« — schreibt er — »wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr entgegenstehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne unangenehme Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach; er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch der Musikus? . . . Itzt zerschmelzen wir in W e h m u t , und auf einmal sollen wir rasen. Wie? Warum? wider wen? wider eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie läßt uns in Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle diese unordentlichen Empfindungen sind mehr abmattend als ergötzend. Die Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren; hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch, warum wir es empfinden sollen; und nur dieses W a r u m macht die plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm. In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie ziehet; ja vielleicht der allergrößte. Denn es ist bei weitem nicht so notwendig, die allgemeinen unbestimmten Epfindungen der Musik, z. E. der Freude, durch W o r t e auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude einzuschränken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur W o r t e gewähren können, zu verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben, in welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des Mannigfaltigen bemerke.« 118 Der aufmerksame Leser kann gewahr werden, daß der Verfasser der Hamburgischeti Dramaturgie hier gerade das konkretisieren möchte, was im Laokoon notwendigerweise nur skizzenhaft blieb. Deshalb versucht er mit großer Gedankenkraft danach, jene sekundäre Grenzlinie aufzuzeigen, die sich zwischen den beiden Künsten der Zeitlichkeit, der Musik und der Dichtung entlangzieht. Von dialektischem gedanklichem Scharfsinn zeugt jene geniale Entdeckung, die diese Kraftanstrengung krönt: Lessing sieht klar, daß die Musik nur eine unbestimmte Gegenständlichkeit darstellen kann, daß die sich in der Musik spiegelnden Gefühle nicht in ihrer unvermittelten Realität, nicht in ihrer mit der gegenständlichen Welt verbundenen Konkretheit zu Objekten von Produktion und Rezeption werden. Durch diese Spezifikation wird nicht nur die Unterschiedlichkeit der Formungsprinzipien von Musik und schöner Literatur richtig bestimmt, sondern sie bestreitet auch mit vollem Recht die mechanische Beschränktheit der Wörterbuchästhetik. Die letzte Lösung würden wir jedoch nur dann erhalten, wenn auch erkenntnistheoretisch die die Musik charakterisierende doppelte Mimesis aufgeklärt würde. Mit anderen Worten, die dialektische Lösung des Problems fordert eindeutig 205

einen materialistischen philosophischen Standpunkt, den aber Lessing nicht erreichen konnte. W e n n er jene Wörterbuch-Konzeption der französischen Intonationstheorie, die die unmittelbare begrifflich eindeutige Entsprechung von einzelner Form und einzelnem Affekt verkündete, ablehnt, so hat er recht. Erfaßt er jedoch in den musikalisch dargestellten Empfindungen nur das Allgemeine, das die Bestimmtheiten der objektiven W e l t völlig auflöst, so wird seine Konzeption idealistisch überspannt und undialektisch. Er verzichtet ebenso auf die Widerspiegelungstheorie, wie er auch unfähig dazu ist, die musikalische Form in die Sphäre des ästhetisch fruchtbaren Besonderen zu stellen und sie so in ihrem wahren Wesen zu verstehen. Georg Lukacs wies darauf hin, daß das Zurückweichen vor dem Besonderen auch in Lessings Literaturtheorie, und zwar in seiner Auffassung über den Typus beobachtet werden kann. 1 1 7 W i r glauben sogar, daß diese Schwäche in der zitierten musikästhetischen Erörterung noch betonter hervortritt, weil der Kritiker, der die Entwicklung der Literatur mit genialer Bewußtheit und Empfindsamkeit in Richtung auf den bürgerlichen Realismus förderte, auf dem Gebiet der Musiktheorie unfähig war, seine Realismus-Konzeption —• und zwar sich selbst getreu — anzuwenden. Die theoretischen Schwierigkeiten wurden auch hier nicht allein durch den ihm von Ehrlich vorgeworfenen Dilettantismus verursacht. 118 Vielmehr ist darin die Ursache zu sehen, daß die philosophische Theorie der Musik auf Unklarheiten der weltanschaulichen Grundhaltung viel empfindlicher reagierte als die Ästhetik der übrigen Künste. Daß der dialektische Anlauf sein letztes Ziel nicht erreicht, verringert natürlich nicht die Verdienste der Vorkämpfer. Es war eine weit leuchtende Initiative der A u f klärung, daß sie die ästhetische Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten der K o m p o sition, der inneren Form in Angriff nahm. Es ist hier überflüssig, dem Schicksal der im engeren Sinne verstandenen musiktheoretischen Weiterführung dieser Initiativen zu folgen — dies setzte die Bearbeitung der Geschichte der musiktheoretischen Teildisziplinen voraus. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß die ersten musikalischen »Formenlehren« und »Kompositionslehren« auf der bisher untersuchten kunstphilosophischen Grundlage zustande kamen. Benary wies zum Beispiel in seiner früher zitierten Monographie 1 1 9 mit Recht darauf hin, daß auch der musikalische Kompositionsbegriff seine eigentliche moderne Bedeutung als persönliches W e r k des originellen Künstlers und als — mit einem treffenden Ausdruck von Ernst Bloch 1 2 0 — ausgeglichene Einheit von trouver (herausfinden) und construer (konstruieren) erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhielt. Es ist nun unter dem Gesichtspunkt unseres ästhetikgeschichtlichen Problemkreises wichtiger, jene Beziehungen dieser Musikliteratur neuen Typs in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, die die W e g e der Weiterentwicklung in weltanschaulicher Hinsicht vorbereiteten. Das wichtigste N o v u m bedeutete in dieser Hinsicht das Auftauchen des Prinzips der Geschichtlichkeit. Es braucht hier nicht besonders betont zu werden, welch ein neues Moment dieses Prinzip in die Affektenlehre der Aufklärung brachte, die stets dazu neigte, in der musikalischen Vergangenheit nur barbarische Vernunftwidrigkeit zu erblicken. W i r wissen natürlich, daß diese ahistorische Anschauung die direkte 206

Folge der bürgerlichen Klassenbewußtheit ist, die sowohl ästhetisch wie politisch und auch auf anderen Gebieten der Ideologie in einem gegen die feudalen Fesseln auf Leben und Tod ausgefochtenen Kampf den bürgerlichen Klasseninteressen zum Siege verhalf. Aus der Logik dieser Kämpfe folgt, daß die Kritik der halben Lösungen, der Kompromisse, besonders rücksichtslos war, und — wenn sie auch die Vorkämpfer schätzte — ihr Zurückweichen geißelte; denken wir nur an das Verhältnis der Enzyklopädisten zu Rameau. »Entdeckten« nun die deutschen Forscher der Formenlehre und Kompositionstheorie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf einmal etwa die wichtigen Konstruktionsprinzipien der barocken Kompositionen, erwähnen Heinse und Schubart Bach und Händel, und Reichardt Palestrina als Musiker, denen die größte Ehre gebühre, so weist dies schon an sich auf gewisse Veränderungen der Betrachtungsweise hin. Im weiteren Verlauf werden wir noch sehen, warum nicht einfach von irgendeiner »Restauration der kirchlichen Musik« die Rede sein kann, wie sich dies die Vertreter der geistesgeschichtlichen Präromantik-Konzeption vorstellen. Die neue Betrachtungsweise war der erste Sprößling eines weitblickenden, die dialektische Widersprüchlichkeit der Entwicklung vorausahnenden musikgeschichtlichen Bewußtseins. Man darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, daß gerade in diesen Jahrzehnten die musikgeschichtliche Forschung begann, und zwar gleich am Anfang mit einem Werk von so hohem Niveau wie die große musikgeschichtlich-theoretische Zusammenfassung von Forkel. 121 Das langsam erwachende historische Bewußtsein ließ natürlich auch die Hauptlinie der Affektenlehre selbst nicht unberührt. Die bedeutendste Neuerung in dieser Hinsicht war die Auflösung der undialektischen Starre der Wörterbuchästhetik. Beachten wir zum Beispiel, in welcher Richtung die mit der Entstehung der Sprache verbundenen Rousseauschen Gedanken sich bei Herder weiterentwickeln. Die musikalischen Erörterungen der Kalligone übernahmen anscheinend ohne Vorbehalt von Rousseau die bekannte Auffassung, wonach die Musik in einer früheren Phase der Entwicklung der organische Teil irgendeiner Art von Gesamtkunst war. Herder sah jedoch dieses Zusammenwirken von Musik, Dichtung und Tanzkunst historisch als vorübergehend, erkenntnistheoretisch als unzureichend an: nach ihm war das vielleicht zu erzielende bessere Verständnis überhaupt nicht der Grund dafür, daß sich die Musik auf die unmittelbare Begrifflichkeit der Sprache stützte. Damit versah er die Berechtigung der Fontenelleschen Frage (was willst du von mir, Sonate?) mit einem Fragezeichen. Sein Gedankengang führte zu entgegengesetzten Folgerungen. »Auch die Musik muß Freiheit haben, allein zu sprechen . . . Ohne Worte, bloß durch und an sich, hat sich die Musik zur Kunst ihrer Art gebildet.«122 Herder sah somit in der Entfaltung der rein instrumentalen Musik das notwendige Produkt einer langen Entwicklung der Kulturgeschichte. Hierdurch setzte er nicht nur den bekannten Satz von dem Höherstehen der vokalen Musik außer Kraft, sondern er formulierte — in Weiterbildung des Lessingschen Werkes — jene Hegel antizipierende Erkenntnis, derzufolge auf der höchsten Stufe gerade die Musik die Affektenwelt der Menschen der neuen bürgerlichen Epoche darstellen kann. Die klassische deutsche Ästhetik baut diese Herdersche Auffassung weiter aus, indem 207

ie die Musik — eine Kunst, die für die Darstellung der menschlichen Innerlichkeit am geeignetsten ist und ihre Aufgabe in völlig autonomer Weise erfüllt — als eine ausdrücklich moderne kulturgeschichtliche Erscheinung behandelt (vgl. Schillers Unterscheidung zwischen naiver und sentimentaler Dichtung und Hegels ästhetisches System, in welchem die Musik die zentrale Verwirklichung der modernen — in Hegels Terminologie: der »romantischen« — Kunstform ist). Herder mußte seine Auffassung über die Instrumentalmusik in leidenschaftlicher Debatte jenen gegenüber verteidigen, die — darin eher Kant als den Franzosen folgend — in ihr nur das schöne (zweckmäßig zwecklose) Spiel der Empfindungen erblickten und an ihrer ästhetisch-ethisch humanisierenden Wirkung zweifelten. Verkündete er auch mit begeistertem Pathos die humanisierende moralische Berufung der Tonkunst und suchte er leidenschaftlich die Wege zu einer Kunst für das Volk, zu einer allgemeinverständlichen und menschenerzieherischen Kunst, so enthielt seine Stellungnahme in dieser Hinsicht prinzipiell noch keine neuen Elemente. Bekanntlich war die ästhetische Verteidigung und Rechtfertigung der neuen bürgerlichen Kunst auch bei den Franzosen mit der Anerkennung der aufklärendhumanisierenden Wirksamkeit der Kunst wesensgleich; der Gedanke der Erneuerung der antiken künstlerischen Öffentlichkeitswirkung beschäftigte die großen französischen Aufklärer ebenso wie Herder und die Besten der deutschen Aufklärung. Dennoch erscheint die Gemeinsamkeit des Klasseninhalts auch diesmal mit der besonderen Problematik der nationalen Eigenarten verflochten. Der »normale« Charakter der französischen Entwicklung ist — bis zur Revolution — auch in dieser Beziehung evident; die volkstümliche Publizität der neuen Kunst wurde von der gesellschaftlichen Basis der in die große Revolution mündenden antifeudalen Volksbewegung ins Leben gerufen und zur Reife gebracht. Von Grund auf anders gestaltete sich die Lage der deutschen Aufklärer. Die deutsche Misere des Absolutismus der Fürsten, die infolge der philiströsen Existenz und Denkweise vorherrschende geistige Apathie, mit einem Wort, die allgemeine Rückständigkeit der gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse bildeten den Boden, aus dem die deutsche Aufklärung erwuchs und den die Aufklärer bearbeiten mußten. Die Öffentlichkeit der neuen Kunst war keine Gegebenheit, sondern eine zu lösende Aufgabe. Daher das gesteigerte ideologische Bedürfnis nach einer historischen Betrachtungsweise, die sich mit dem einfachen Aufzeigen des antiken Beispiels nicht begnügte; daher das von Herder bis zum jungen Goethe zu beobachtende Bestreben, die unbefriedigende Gegenwart mit jenen Epochen der nationalen Geschichte zu konfrontieren, in denen das öffentliche Leben des Volkes in der politischen und kulturellen Sphäre noch nicht verkümmert war. 123 Eine derartige Gegenüberstellung führte dann nolens volens zur Entdeckung der Widersprüchlichkeit der Entwicklung. Deshalb ist die ethisch-ästhetische Rechtfertigung der neuen Instrumentalmusik bei Herder mit dem eingehenden Studium der geschichtlichen Vergangenheit der Tonkunst verflochten. Dies sind jene allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Zusammenhänge, deren Kenntnis uns zum Verständnis der in der deutschen Aufklärung sich entwickelnden Geschichtsauffassung und ihrer Verwendung in der Musikästhetik verhilft. Bis zum heutigem Tage sind aber jene Interpretationen wirksam, die durch willkürliches 208

Zerreißen dieser Zusammenhänge ein von Grund auf falsches Bild über die Weltanschauung der Aufklärung im allgemeinen und ihrer Musikauffassung im besonderen geschaffen haben. Eine Geschichtsfälschung vor allem ist dabei die Gegenüberstellung der deutschen »Sturm und Drang«-Bewegung und der französischen Aufklärung. Bleiben wir beim Beispiel Herders: Sein aufgeklärter Historismus führt nicht nur eine Polemik mit dem Ahistorismus des mechanischen Materialismus, sondern sucht zugleich auch eine Verbindung zu den in der französischen Entwicklung aufkeimenden dialektischen Fragestellungen. Man denke an den Rousseauschen Ausgangspunkt Herders in bezug auf die uralte Einheit von Musik und dichterischem Wort und, was damit eng zusammenhängt, an die ästhetische Bewertung des Volksliedes. Noch eindeutiger ist das Bewußtsein der internationalen Einheit der Aufklärung bei Schubart, den die — übrigens den Einfluß Herders zeigende — scharfe Kritik der mechanischen Richtungen der Aufklärung überhaupt nicht davon abhält, die kompositorische und musikschriftstellerische Arbeit des großen Franzosen mit Worten unbedingter Verehrung zu würdigen und — sich auf den Hamburger Besuch Diderots berufend — das freundschaftliche Aufeinandertreffen des französischen philosophischen Esprits und des deutschen Komponistentalents zum Symbol zu erheben. 124 Die wirklichen geschichtlichen Zusammenhänge werden in der PräromantikKonzeption auch dadurch verfälscht, daß man den Herderschen Historismus mit dem Mittelalter-Kult der Frühromantik identifiziert. Auf dieser Grundlage konstruiert man die von Grund auf falsche Theorie der »Restauration der Kirchenmusik«, die angeblich bei Herder, Hamann, ja sogar bei Reichardt erscheine. Die begeisterte Lobpreisung des alten Stils der Kirchenmusik durch die Jenaer romantische Opposition — auf die wir später noch zurückkommen werden —, der so berühmte Namen angehören wie Wackenroder und Tieck, ist in der Tat ein wichtiges Moment. Ferner ist unzweifelhaft, daß die Neuentdeckung der seit Jahrzehnten in Vergessenheit geratenen Kunst von Bach, Händel oder Palestrina bei Herder und Reichardt sich nicht von den bereits mehrfach beobachteten Schwächen der deutschen Aufklärung befreit. Trotzdem entstand aber die religiös gefärbte Musikauffassung bei ihnen nicht im Zeichen der Reaktion, nicht als Verkörperung des Ideals einer esoterischen und irrationalistischen Kunst. Im Gegenteil erkennen sie in der musikalischen Produktion des späten Mittelalters und des Barock die frühe Blüte einer volkstümlichen Breitenwirkung der Tonkunst, und sie untersuchen die objektiven Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung gerade im Interesse der Erneuerung. Bewundert Herder die ästhetische Wirksamkeit der althebräischen Psalmodie oder der christlichen Gregorianik, so ist der religiöse ideelle Gehalt bei ihm nur ein untergeordnetes Moment, während das Bewußtmachen der künstlerischen Kraft der Folklore und das Aufzeigen des in der Volkskunst enthaltenen Vorbildes im Mittelpunkt steht. In demselben Sinne sagt Goethe: »Die Heiligkeit der Kirchenmusiken, das heitere und neckische der Volksmelodien sind die beiden Angeln, um die sich die wahre Musik herumdreht.«125 Deshalb kann es nicht überraschen, daß jene Leidenschaft, die sich im letzten Drittel des Jahrhunderts dem Volkslied zuwandte und sich in einer ausgedehnten Sammlungstätigkeit äußerte, nicht nur auf dem Gebiet der musikali209

1 4 Zoltai: Ethos und Affekt

sehen Praxis, sondern auch auf dem der Theorie die klassische deutsche Ästhetik vorbereitet hat. W e n n Reichardt verkündet, daß das Volkslied v o m ästhetischen Gesichtspunkt aus gleichwertig mit den auf höchster Formenkultur beruhenden Kunstwerken v o n Palestrina und Händel sei, so zeichnet sich allmählich das Bild einer Kunst ab, die volkstümlich ist und zugleich hohen konstruktiven W e r t besitzt, in deren Konstruktion sich liedhafte Melodik und symphonische Verarbeitung, die auch die große kontrapunktische Tradition zu neuem Leben erweckt, in ausgeglichene Harmonie auflösen. A u c h hier fehlte hinter dem Besonderen jene Einheit nicht, die die hervorragendsten Denker der Epoche miteinander verband. Herder stand auf der Höhe, doch nicht ohne Vorgänger und Gefährten; im Bündnis mit Rousseau und Goethe kämpfte er für die ästhetische W ü r d i g u n g der Volksmusik und der neuen K o m p o sitionskultur.

ANMERKUNGEN 1

R o m a i n Rolland: Musiker von ehedem. Übersetzt von Wilhelm Herzog. München 1926, S. 193. 2 V g l . François Raguenet : Parallele des Italiens et des François en ce qui regarde la musique et les opéras. Paris 1702. — Lecerf de la Viéville: Comparaison de la musique italienne et de la musique françoise. Bruxelles 1704. — Raguenets R e p l i k : Défense de Parallèle des Italiens et des François. Paris 1705. 3 Romain Rolland: A . a . O . , S. 242. 4 Vgl. Miklös Almâsi: A modem drâma titjain (Auf den Wegen des modernen Dramas). Budapest 1 9 6 1 , S. 7-68. 5 Marx—Engels: Die heilige Familie. Marx—Engels Werke. B d . 2. Berlin 1957, S. 1 3 3 . 6 Auf die Verbindung zwischen Anthropologie und zeitgenössischer künstlerischer Praxis lenkte als erster Wilhelm Dilthey die Aufmerksamkeit, i. J . 1904. (Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Gesammelte Schriften. Bd. 2. Stuttgart— Göttingen 1957, S. 416-492.) Ernst Cassierer wies darauf hin, daß zwischen der Corneilleschen Dramaturgie und der philosophischen Affektenlehre Descartes' ein tiefer weltanschaulicher Zusammenhang besteht (Descartes und Corneille. Stockholm 1939). Diese Verbindung besteht natürlich auch zwischen der cartesianischen Philosophie und der klassizisierenden Ästhetik. V g l . : Teresa Samonà Favara: La filosofia délia musica dall'Antichità Greca al Cartesianismo. Mailand 1940. S. 1 2 8 - 1 3 3 . 7 Descartes' Brief (an den Marquis Newcastle?) März oder April 1648. — Descartes: Oeuvres. Publiées par Charles Adam et Paul Tannery. Bd. V. Paris o. J., S. 1 3 5 . 8 R e n é Descartes' philosophische Werke. Vierte Abtheilung. Über die Leidenschaften der Seele. Übersetzt von J . H. v. Kirchmann. Berlin 1870, S. n . ' S . L. Rubinstein: Prinzipien und Wege der Entwicklung der Psychologie. Berlin 1963, S. 34-35. 183, 2 1 5 f10 Descartes: a . a . O . , S. 47. 11 V g l . Hans Pischner: Die Harmonielehre Jean-Philippe Rameaus. Leipzig 1967. 12 Jean-Philippe Rameau: Traité de l'harmonie réduite à ses principes naturels. Paris 1722, S. 143. 13 Hugo Goldschmidt: Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu seinem Kunstschaffen. Zürich und Leipzig 1 9 1 5 , S. 109, 1 1 7 - 1 1 8 . 14 Batteux: Les beaux arts réduits à un même principe. Paris 1946, S. 273 f. — Goldschmidts Monographie macht Batteux, diesen wirksamen Vertreter der Widerspiegelungstheorie des

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i8. Jahrhunderts, zum theoretischen Vorkämpfer des Schein-Charakters der ästhetischen Gefühle. Abgesehen von dem geschichtlichen Umstand, daß Batteux sich diesseits und nicht jenseits der detailliert ausgearbeiteten Affektenlehre der Aufklärung befindet, ist diese A u f fassung faktisch bestreitbar. Batteux betont mit unmißverständlicher Klarheit, daß jede Kunst die Natur nachahmt; und wenn er das sklavische Kopieren ablehnt, so tut er dies im Geiste des zwischen Geschichtschreibung und Dichtung differenzierenden Aristoteles. W a s hingegen den Gegenstand der musikalischen Nachahmung betrifft, antizipiert die Batteuxsche Formulierung geradezu die mechanisch-materialistische »Wörterbuchästhetik«; »Das W o r t ist das Organ der Vernunft, der T o n und die Geste das des H e r z e n s . . . Das W o r t ist eine institutionelle Sprache, die der genaueren Mitteilung der Ideen dienlich ist: die Gesten und die Töne bilden gewissermaßen das Wörterbuch der einfachen Natur . . .« A . a. O., S. 254 f. 15 Ebd., S. 263. 16 Antal Molndr: Zeneesztétika (Musikästhetik). I. Allgemeiner Teil. Budapest 1938, S. 243. 17 Charles Lalo: Esquisse d'une esthétique musicale scientifique. Paris 1908, ¡S. 86. Fußnote (2). 18 Jean-Philippe R a m e a u : Démonstration du principe de l'harmonie. Paris 1750, S. l ï f. 19 E b d . , - S . 59 und 20. 20 Eösze: A . a. O., S. 169. 21 Rousseau: Lettre sur la musique française. 22 Rousseau: Bekenntnisse. Übertragen von Ernst Hardt. Leipzig 1925, S. 505. 23 Diderot: Rameaus N e f f e . Übersetzt von Gustav R ö h n . W i e n 1 9 1 3 , S. j . 24 J e a n Le R o n d d'Alembert: Sur la liberté de la musique. Oeuvres. I. Paris 1 8 2 1 , S. 520. 26 Ebd., S. 520. 26 G r i m m : Le Petit Prophète deBoehmischbroda. Zitiert von R . Rolland. A . a. O., S. 438-439. Grimm gab Johann Stamitz, dem Mannheimer Geiger-Kapellmeister, den Beinamen »Prophet«, nach der Pariser Aufführung der Werke von Stamitz im Jahre 1 7 5 3 . 27 Josse de Villeneuve: Lettre sur le méchanisme de l'opera italienne. 1756. 28 Barna : A . a . O . , S. 1 7 7 - 1 8 1 . 29 Benedetto Marcello: Il Teatro alla moda (anonym, ohne Ort und Jahr — Venedig, u m 1721). 30 Barna: A . a. O., S. 241 f. 31 Zitiert von Hans Engel: Musik und Gesellschaft. Bausteine zu einer Musiksoziologie. Berlin i960, S. 267. 32 R . R o l l a n d : A . a . O . , S. 257. 33 Ebd., S. 2 1 8 - 2 2 0 . 34 Aus dem offenen Brief i m Mercure de Paris. Zitiert von R o l a n d Tenschert: Christoph Willibald Gluck. Ölten und Freiburg im Breisgau 1 9 5 1 , S. 1 1 3 . 35 Aus der W i d m u n g in der Partitur der »Alceste«. Tenschert: A. a. O., S. 1 8 1 - 1 8 2 . 36 Diderot: Rameaus N e f f e . A . a. O., S. 7. 37 Ebd., S. 1 0 2 - 1 0 3 . 38 Holbach: System der Natur. Übersetzt von F. G. Voight. Berlin i960, S. 1 2 . 39 Helvetius fügte zwar — Batteaux folgend — hinzu, daß Typisierung und Komposition die in den Kunstwerken widerspiegelte Natur »verschönern«. Diese »Verschönerung« bedeutet jedoch auch bei ihm nichts anderes, als einerseits die Konzentration der Charakterzüge (»Oft konzentriert der Dichter in einer halbstündigen Konversation all jene Charakterzüge, die im ganzen Leben seines Helden verstreut aufzufinden sind«), andererseits »die neuartige Ordnung der bereits bekannten Gegenstände«, also das im Dienste der ästhetischen W i r k u n g stehende kompositorische Schaffen. V g l . : Helvetius: De l'homme, de ses facultés et de son éducation. 40 J . J . Rousseau: Dictionnaire de musique. Vgl. Collection complète des oeuvres deJ.J. Rousseau. Genève 1782. — Stichwort »Musique«. 41 D'Alembert beschäftigte sich in der berühmten einleitenden Studie der Enzyklopädie (Discours préliminaire, 1 7 5 1 ) auch mit den ästhetischen Grundlagen der Künste. Das gemeinsame Wesen sämtlicher Künste liege in der Nachahmung der Natur. Seines Erachtens ist auch die Musik eine naturnachahmende Kunst, sie steht jedoch — erneut eine beachtenswerte A b weichung von der antiken Mimesistheorie ! — in dieser Hinsicht an letzter Stelle in der 211

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Reihe der Künste. Der Grund hierfür liegt, nach d'Alembert, nicht so sehr im Gegenstand der musikalischen Nachahmung, als eher in »den Mitteln der bisherigen Komponisten«. »Jede Musik, die nichts schildert, ist nur ein Geräusch und würde ohne die Gewohnheit, welche alles verändert (dénature), kaum mehr Vergnügen gewähren als eine Folge von harmonischen und wohlklingenden Wörtern, die der Ordnung und des Zusammenhanges entbehren.« (Einleitende Abhandlung zur Enzyklopädie. Berlin 1958, S. 48.) Infolgedessen muß die Musik zu ihrer eigentlichen künstlerischen Bestimmung zurückkehren. »Die Musik, welche ursprünglich vielleicht nur zur Wiedergabe von Geräuschen bestimmt war, ist nach und nach zu einer Art von Aussage (discours) oder sogar von Sprache geworden, durch welche man die verschiedenen Gefühle der Seele oder vielmehr ihre verschiedenen Leidenschaften zum Ausdruck bringt« (ebd., S. 47). Dieser Ausdruck kann jedoch nicht auf die Leidenschaften im engeren Sinne beschränkt werden, vielmehr kann er sich auch auf die Sinneswahrnehmungen ausdehnen. »Ich sehe also keineswegs ein, warum ein Musiker, der ein schreckenerregendes Objekt zu schildern hätte, dies nicht dadurch erreichen sollte, daß er in der Natur nach jener Art von Geräuschen sucht, die in uns eine ganz ähnliche Emotion auszulösen vermag wie diejenige, welche jenes Objekt in uns erregt« (ebd., S. 47 f.). 42 Rousseaus Brief an D'Alembert. 26. Juni 1753. — In: Rousseaus Briefe. Übersetzt von F. Wiegand. Wien o. J., S. 15. 43 Grétry: Mémoires, ou Essais sur la musique. Tome premier. Paris 1797, S. 238 ff. 44 Spinoza: Ethik. Übersetzt von Otto Baensch. Leipzig 1910, S. 180. " H o l b a c h : A . a . O . , S. 159. " E b d . , S. 261 f . 47 Ágnes Heller: Csernisevszkij etikai nézetei (Die ethischen Ansichten Tschemyschewskis). Budapest 1956, S. 16-57. 48 G. W . F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. — Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band II. Leipzig 1928, S. 374. 49 Goethe: Faust. 50 Grétry: Mémoires, ou Essais sur la musique. Tome troisième. Paris 1797, S. 133. Zitiert von R . Rolland, a. a. O., S. 322. 51 Grétry: Mémoires, ou Essais sur la musique. Tome deuxième. Paris 1797, S. 135 f. " G r é t r y : A . a . O . , S. 127. 53 Rousseau: Lettre sur la musique française. S. 470. 44 Johann Sebastian Bach — in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Luc-André Marcel. Hamburg 1963, S. 118. 55 Was die Motive des Auftretens von Scheibe anbelangt, lenkte Joseph Ujfalussy die Aufmerksamkeit auf jenen nicht zu vernachlässigenden Umstand, daß der Kritiker Bachs gerade ein Hamburger Musikus war, der Bürger jener Stadt, die als erste unter den damaligen deutschen Kleinstaaten das Aufblühen der mit der dramatischen Bühne verbundenen städtisch-bürgerlichen Musikkultur ermöglichte. " Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister. Hamburg 1739, S. 105. 67 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. A . a . O . , S. 148 f. — Bloch übernimmt übrigens von Halm den Gedanken der Gegenüberstellung von Fuge und Sonate. In Halms phänomenologischer Formenlehre wird jedoch dieser Gegensatz mit spekulativer Willkür erläutert: das Geheimnis der Fuge sei die Individualität, das der Sonate der Staat. Vgl. August Halm: Von zwei Kulturen der Musik. 3. Aufl. Stuttgart 1947, S. 33. u Engels: Herrn Eugen Dährings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring). Marx—Engels Werke. Bd. 20. Berlin 1063, S. 585^586. " M a r x : Grundriß der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin 1953, S. 387. 60 Ebd., S. 387. 61 Ebd., S. 387 f. «2 Diderot: A. a. O., S. 102. 63 Ursprünglich bezeichnete das Wort »Hermeneutik« eine theologische Disziplin, die die philosophisch-methodischen Grundfragen der Bedeutungsinhalte biblischer Texte untersucht. Diesen von der Theologie entliehenen philosophischen Terminus wandte Hermann

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Kretzschmar als erster in der Musikästhetik an, im Sinne einer Art von musikalischer Interprétations- und Bedeutungslehre (Musikalische Auslegekunst). Ihr moderner Vertreter ist Arnold Schering : ihm zufolge sagt jede Musik notwendigerweise etwas aus, was nicht Musik ist, sondern durch die Musik nur symbolisiert werde. Dies sei die Theorie der musikalischen Symbole (Symbolkunde). — Diesen Begriff können wir, auf die materialistische Ästhetik der Aufklärung bezogen, natürlich nur in übertragenem Sinne, genauer, von seinen mystischgeistesgeschichtlichen Resten gereinigt, benutzen, im Sinne von Jozsef Ujfalussy, wenn er über die Ästhetik der musikalischen Bedeutungen spricht. 41 Helvetius: a. a. O., . . . 65 Batteux: Einleitung in die schönen Wissenschaften (Cours des belles lettres, 1747). Übersetzt von K . W . Ramler. Leipzig 1762. S. 218. " Vgl. Georg Lukics: Das ästhetische Problem des Besonderen in der Aufklärung und bei Goethe. In: Festschrift—Ernst Bloch zum 70. Geburtstag. Berlin 1955, S. 2 1 0 f. 87 Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister. Hamburg 1739, Vorrede, VI. S. 1 7 . *8 Zitiert von R . Rolland: Das Leben G. F. Händeis. Übersetzt von L. Langnese —Hug. Zürich 1922, S. 38-39. " Schubart: Ideen zu einer Aesthetik der Tonkunst. Wien 1806, S. 39. 70 Mattheson: A . a. O., Vorrede VI. S. 20. " E b d . , S. 20. 72 Arnold Schering: Die Lehre von der musikalischen Findekunst »ars inveniendi*. — V g l . Schering: Das Symbol in der Musik. Leipzig 1 9 4 1 , S. 9 f. 73 Vgl. Tihamér Nemes: Kibernetikai gipek (Kybernetische Maschinen). Budapest 1962, S. 233-240. 74 Eine gründliche — positivistische — Zusammenfassung dieses Fragenkomplexes bietet die Monographie von Hans-Heinrich U n g e r : Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16. —lS. Jahrhundert. Würzburg 1 9 4 1 . 75 Batteux: A . a. O., S. 209. 78 Diderot: A . a. O., S. 91 f. 77 Mattheson: Die neueste Untersuchung der Singspiele, 1744. Zitiert von R . Rolland: Musikalische Reise ins Land der Vergangenheit. Übersetzt von L. Andro. Frankfurt/M. 1927, S. 84. 78 Grétry : A. a. O., Tome troisième. S. 272. ™ Grétry : A. a. O., Tome premier. S. 78. 80 Ebd., S. 244. 81 Diderot: A . a. O., S. 9582 Barna: A . a. O., S. 1 5 7 . 83 Ebd., S. 159. 84 Ebd., S. 159. — Die »Zusammenfügung« bezieht sich hier natürlich nicht auf die Vokalpolyphonie, sondern auf die tonalharmonische Komposition. 85 Johann Joachim Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Breslau 1789, S. 296. 86 Carl Philipp Emanuel Bach : Versuch über die wahre Art, das Ciavier zu spielen. (Erster Teil). Berlin 1 7 5 3 , S. 54. 87 B . Szabolcsi: A melèdia tôrtênete (Bausteine zu einer Geschichte der Melodie). Budapest 1957) S. 1 3 8 - 1 4 5 . Fraglich ist allerdings, ob die Kategorie des »Rokoko« das Wesen des neuen bürgerlichen Ideals richtig bezeichnet. Der kantable Charakter äußert sich z. B . in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch in sanften, gefühlvollen Melodien; es ist jedoch so, als zerzause der sich ankündigende revolutionäre Sturm auch die Melodienwelt : »Das Gefühl ist nicht mehr nur sanft, und die Melodie ist nicht nur ein symmetrisches Pulsieren, sie kann auch revoltieren: sie wird unregelmäßig, eine neuartige Unruhe zittert in ihr« — schreibt Bence Szabolcsi (A. a. O., S. 159). Derart grenzt sich die letzte vorrevolutionäre Periode der Aufklärung in bezug auf die.musikalischen Mittel von den vorangegangenen und kommenden Epochen ab. Im Begriff der »Rokoko-Melodie« — so scheint es — geht gerade dieser historische Charakter verloren. 88 Schäfke : A . a . O . , S. 3 2 1 .

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Ebd., S. 322. D i d e r o t : A. a. O., S. 93. 91 Zitiert v o n Barna, a. a. O., S. 161 f. 92 Ebd., S. 162. 93 »Invention«, »Disposition«, »Dekoration«: traditionelle rhetorisch-stilistische R e d e f i g u r e n ; sie weisen auf die »Regeln« hin, die m i t der Bezeichnung des Inhalts des vorgetragenen (rhetorischen) Werkes, der argumentierenden E r ö r t e r u n g des Inhalts, der O r n a m e n t i e r u n g des Sprachstils v e r b u n d e n sind. Terminologisch bürgerten sie sich auch in der Musiktheorie des 17. u n d 18. Jahrhunderts vor allem bei Mattheson u n d Forkel ein. Vgl. Hans Heinrich U n g e r : A. a. O . 94 Schäfke: A. a. O., S. 315. 95 Bence Szabolcsi: A müvesz es közönsege (Der Künstler u n d sein P u b l i k u m ) . Budapest 1964, S. 50 f. 96 Bence Szabolcsi: A välaszüt (Der Scheideweg). Budapest 1963, S. 28-35. 97 Zitiert v o n B. Szabolcsi, a. a. O., S. 29. 98 N a c h K u h n a u w ä r e es ein Irrtum zu behaupten » . . . daß er (der Komponist) über die Z u h ö r e r einerlei Gewalt habe, u n d einen jeden bald zur Freude, bald zur Traurigkeit, bald zur Liebe, bald z u m Hasse, bald zur Grausamkeit, bald zur Barmherzigkeit u n d bald wieder zu was anderes bewegen könne. U n d w e n n uns nichts anders zweifelhaftig machen k ö n n t e , so w ä r e doch dieses Einzige genug dazu, daß die C o m p l e x i o n e n der Menschen ganz verschieden sind. D e n n n a c h d e m der H u m e u r der Z u h ö r e r ist, n a c h d e m w i r d auch der Musicus seine Intention schwer oder leicht erlangen.« Zitiert v o n Schäfke, a. a. O., S. 297. 99 Zitiert v o n Eösze: a . a . O . , S. 180. 100 E b d . , S. 180. J01 James Harris: Three Treatises concerning Art. London 1744. — M i t den Fragen der Musik befaßt er sich in der zweiten Abhandlung. 102 Charles Avison: An Essay on Musical Expression. L o n d o n 1752. — Karl H . D a r e n b e r g (Studien zur englischen Musikästhetik des ¡8. Jahrhunderts. H a m b u r g i960) lenkt die A u f m e r k samkeit auf den U m s t a n d , daß das Erscheinen des Buches v o n Avison zeitlich m i t d e m Ü b e r g a n g des »Generalbaßzeitalters« in die Epoche der musikalischen »Empfindsamkeit« übereinstimmt. 103 James Beattie: Essays on Poetry and Music, as they uffect the mind. E d i n b u r g 1776. 104 T h . T w i n n i n g : Two Dissertations on Poetical and Musical Imitation. 1789. 105 E d w a r d Y o u n g : Conjectures on Original Composition. L o n d o n 1759. Eine ebensolche dialektische V o r a h n u n g ist die bekannte Forderung v o n Diderot i m Rameau, w o n a c h der K o m p o n i s t nicht die schauspielerische Deklamation, sondern »das tierische Geschrei der Leidenschaft« nachahmen soll. Eine derartige Idealisierung des Mangels an Artikulation ergibt sich keineswegs aus irgendeinem präromantischen Irrationalismus, sondern aus der neuen bürgerlichen Konzeption der Originalität. 106 Georg Knepler: Musikgeschichte des 1$. Jahrhunderts. B a n d I. Berlin 1961, S. 345 f. 107 Lessing: Laokoon. Gesammelte Werke. Hrsg. v o n Paul Rilla. Berlin 1954-58, B d . 5. S. 12. 108 Vgl. Grillparzers N o t i z aus d e m Jahre 1819: »Ein Gegenstück zu schreiben zu Lessings Laokoon: Rossini, oder über die Grenzen der Musik und Poesie.« Mitgeteilt durch F. M . G a t z : Musik-Ästhetik in ihren Hauptrichtungen. Stuttgart 1929, S. 461. 109 möchten hier auf die b e r ü h m t e Analyse des Laokoon hinweisen, die auf G r u n d des Prinzips der strukturellen Transformation die Homersche Beschreibung des Schildes v o n Achilles deutet. Lessing erkennt, daß der Dichter des Epos die bekannte W a f f e nicht fertig u n d in ihrer endgültigen Form, sondern in i h r e r Genesis dargestellt hatte, u m hierdurch »das Koexistierende seines V o r w u r f s in ein Konsekutives zu verwandeln, u n d dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers das lebendige Gemälde einer H a n d l u n g zu machen.« L a o k o o n , a . a . O . , S. 135. 110 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. A. a. O., Bd. 6. S. 358-59. 111 Peter B e n a r y : Die deutsche Kompositionslehre des 1$. Jahrhunderts. Leipzig 1961. — Ü b e r die »Melodienlehre« v o n Mattheson u n d R i e p e l : S. 81-89; über die Harmonielehre v o n D a u b e : S. 132-140. 90

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Lessing: Hamburgische Dramaturgie. A . a . O . , Bd. 6. S. 138-139. Ebd., S. 1 4 2 - 1 4 3 . 114 Ebd., S. 142. 115 Z u derselben Folgerung gelangt Arnold Schering in seiner Studie: Carl Philipp Emanuel Bach und das nedende Prinzip« in der Musik. Er hebt die geniale Annahme Lessings besonders hervor, daß wir in der Musik erschließen können, was hinter dem Geheimnis des Ausdrucks verborgen ist. Zugleich wird nach Schering die Einschränkung Lessings, mit der er die musikalische Darstellung von zwei oder mehr Gefühlen innerhalb eines Satzes verurteilt, durch die Kompositionen Emanuel Bachs ebenso widerlegt, wie durch die Mannheimer oder die Großen Wiener. Vgl. Arnold Schering: Vom musikalischen Kunstwerk. 2. Aufl. Leipzig 1951, S. 230 f. 116 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. A . a . O . , S. 140-142. 117 Georg Lukacs: Das ästhetische Problem des Besonderen in der Aufklärung und bei Goethe. In: Festschrift — Ernst Bloch zum 70. Geburtstag. Berlin 1955, S. 207 f. Iis Vgl. H. Ehrlich: Die Musikästhetik in ihrer Entwicklung von Kant bis auf die Gegenwart. Leipzig, 1882, S. 9 - 1 0 . 119 Benary: A. a. O., S. 39. 120 Ernst Blochs Charakterisierung über Orlando. In: Geist der Utopie. Berlin 1923, S. 51. 121 Johann Nikolaus Forkel: Allgemeine Geschichte der Musik. Göttingen 1788. 122 Zitiert von Gatz, a. a. O., S. 297. 123 Vgl. Georg Lukacs: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Neuwied am Rhein und Berlin 1963, S. 85 f. 124 Wir möchten die Aufmerksamkeit und kritische Analyse beanspruchenden Zeilen der Ästhetik der Tonkunst wörtlich zitieren: »Diderot, dieser vortreffliche Literator und Dichter, spielt den Flügel nicht nur sehr gut, sondern gab auch eine Theorie vom Ciavierspiel heraus. Er hat über den Geist dieses Instruments tiefer nachgedacht, als je ein Franzose. Der große Bach ist sein Führer. Er besuchte ihn aus Enthusiasmus in Hamburg, sprach mit ihm viel über die Kunst, und rectificirte dadurch sein System. Seine Ciaviertheorie ist also nichts weiter, als Bachs Ciavierschule französiert. Diderot ist ein ekstatischer Verehrer der Deutschen, und er setzt unser Volk in der Dichtkunst und der Musik über alle Völker empor.« (Chr. Fried. Dan. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Wien 1806, S. 269 f.) — »Der große Bach« ist übrigens eines der stereotypen Attribute Schubarts, das er auch im Zusammenhang mit Johann Sebastian mehrmals benutzt. Trotzdem ist es unzweifelhaft, daß hier von Emanuel Bach, dem Verfasser der berühmten Klavierschule, die Rede ist. 125 J. W . Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Werke. Hrsg. von E. Trunz. 4. Aufl. Hamburg 1959. Bd. 8. S. 290-291. 113

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V. K L A S S I S C H E M U S I K , K L A S S I S C H E M U S I K Ä S T H E T I K

N A C H DER REVOLUTION

Die Geschichte der Affektenlehre ist die Geschichte der Kämpfe, die für die freie Entfaltung und künstlerische Darstellung der neuen Gefühlswelt, für die Anerkennung des neuen bürgerlichen Humanismus und Realismus ausgefochten wurden. Ihre frühen, noch unreifen und widerspruchsvollen Formulierungen datieren aus der Zeit, als sich der dritte Stand zur Klasse formierte. Zur Zeit der Vorbereitung der französischen Revolution war sie bereits zu einer vielseitig entwickelten, systematischen Musikästhetik ausgebaut, getragen von der Ideologie des an der Spitze der antifeudalen Massenbewegungen stehenden Bürgertums. Ihr weiteres Schicksal wurde demzufolge von der bürgerlichen Revolution, jenem umwälzenden Weltereignis der neuzeitlichen Geschichte bestimmt, das den Ideen des revolutionären Fortschritts zum Siege verhalf und den Weg für den Aufbau einer neuen Gesellschaft eröffnete. Denn das Jahr 1789 bedeutet auch vom ideologiegeschichtlichen Gesichtspunkt aus eine entscheidende Wende, ein weithin leuchtendes, in seiner internationalen Wirkung auf lange Zeit außergewöhnliches Weltereignis. Die aus der Revolution sich entfaltende bürgerliche Gesellschaft verwirklicht nämlich die Ideen der Aufklärung so, daß sie dabei die in ihr enthaltenen heroischen Illusionen erbarmungslos vernichtet. Die aufgeklärte Progression hat zwar die zukünftige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit, der Natürlichkeit und des Rechts verkündet, doch war nach einer geistreichen Bemerkung von Engels »dies Reich der Vernunft weiter nichts, als das idealisierte Reich der Bourgeoisie.«1 Hinter dem Citoyen kam alsbald der Vertreter der herrschenden Klasse der neuen Klassengesellschaft, der Bourgeois hervor. Auch die musikalische Affektenlehre teilt das unvermeidliche Schicksal der Ideologie der Aufklärung. Über ein Halbjahrhundert war sie von den Illusionen der Aufklärung beseelt. Nach dem Beginn der bürgerlichen Epoche und der darauf folgenden großen Desillusionierung kann aber ihre innere Widersprüchlichkeit durch nichts mehr verschleiert werden. Es beginnt ihre Krise und ihr Verfall. • Die erste Phase dieses Auflösungsprozesses kommt durch eine veränderte Deutung des Affektenbegriffs zum Ausdruck. Der neuzeitliche philosophische Fortschritt kämpfte von Descartes und Spinoza bis Diderot, Rousseau und Lessing für die Befreiung der menschlichen Gefühlswelt, und dieser Kampf war stets nur ein Moment des für die allseitige und harmonische Entfaltung der Persönlichkeit geführten Kampfes — jenes Kampfes, der sein Pathos aus der vermeintlichen Identität der ndividuellen und gesellschaftlichen Interessen schöpfte. Das Losungswort vom Aus-

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lebender Gefühle propagierte nicht irgendeine individuelle »Lebenskunst«, sondern war auf das Bewußtsein des humanen Gehalts einer neuen Sittlichkeit gerichtet. Die großen Theoretiker der Affektenlehre bis zu Diderot zweifelten nicht einen Augenblick daran, daß die Befreiung der Leidenschaften die Harmonie der Persönlichkeit zur Folge hat und zu einer gesellschaftlichen Ordnung führt, die durch die harmonische, jeglicher Interessenkollisionen ledige Tätigkeit freier Individuen gekennzeichnet ist. Nun wurde diese naive Selbstsicherheit des bürgerlichen Humanismus auf einmal erschüttert. In jener Gesellschaft, die auf der Widersprüchlichkeit von gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung beruht und die den Klassenantagonismus auf einer höheren Stufe reproduziert, kann auch der Gegensatz von Allgemein- und Privatinteresse nicht verborgen bleiben. Der Affektenbegriff erfährt nun eine allmähliche Umdeutung und beinhaltet mehr und mehr das, was die Romantik mit Stimmung bezeichnet. Die Stimmung bezeichnet aber im Unterschied zu dem von der objektiven Wirklichkeit Affizierten etwas rein Subjektives, im Unterschied zum ethisch Gehaltvollen etwas rein ästhetisch Genießbares, im Unterschied zum Gemeinschaftlichen etwas rein Individuelles. Rameaus Neffe hat diese Wende bereits prophezeit. Das Vorgefühl wurde nun zur Gewißheit: die Befreiung und Entwicklung der Leidenschaften wurde durch die bürgerlichen Verhältnisse entweder zum Scheitern verurteilt oder durch sie gesellschaftlich und ethisch verzerrt. Die neue Lage beeinflußte natürlich tiefgreifend auch die konkreten künstlerisch-praktischen Grundlagen der Musikästhetik, die in ihren gesellschaftlichen Formen gegebenen Ausgangspunkte der musikalischen Tätigkeit. Denken wir nur an die Entwicklung der französischen Musikkultur nach dem Thermidor, vor allem daran, wie die großangelegte Citoyen-Musik der revolutionären Periode verstummt und ihren Platz der in rapidem Tempo »volkstümlich« gewordenen banalsten musikalischen Vergnügungsindustrie übergibt. Eine derartige Umwandlung von gesellschaftlicher Praxis und musikalischem Leben macht es verständlich, warum die französische Musikästhetik, die auf eine große Vergangenheit zurückblicken konnte, von einem Tag auf den anderen verkümmern mußte. Die philosophische — und mit ihr die musikalische —• Affektentheorie erwachte erst in der Kulturkritik der großen utopischen Sozialisten, vor allem in der Fouriers, zu neuem Leben; dort jedoch bereits auf antikapitalistischem Boden, über den bürgerlichen Gesichtskreis mit seiner Verzerrung der Persönlichkeit hinausweisend. Dies ist die allgemeine weltgeschichtliche Lage, in der die deutsche Philosophie den bedeutendsten Ansporn zur Weiterentwicklung der musikalischen Affektenästhetik, die gedankliche Werkstatt der Ausarbeitung einer neuen dialektischen Musiktheorie betrieb. Es wäre überflüssig, hier all das zu wiederholen, was der Marxismus über die spezifischen gesellschaftlichen Grundlagen der deutschen klassischen Philosophie, über ihren besonderen bürgerlichen Klasseninhalt und ihre ideologiegeschichtliche Rolle gesagt hat. Es genügt völlig, wenn wir uns anstatt einer eingehenden Analyse auf das Registrieren der wichtigsten Zusammenhänge beschränken. Die deutsche Aufklärung blieb gegenüber der französischen durchgehend eine ideologische Bewegung; die bürgerliche Revolution folgte erst mit einer

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Verspätung v o n einem halben Jahrhundert — und auch dann nur in einer durch die deutsche Misere bestimmten Form — dem französischen Vorbild v o n 1789. Dieser tragische Tempoverlust, diese allgemeine Rückständigkeit der gesellschaftlich-politischen Verhältnisse war schuld daran, daß die deutsche Philosophie bis auf Feuerbach und Heine in der idealistischen Beschränktheit der deutschen Aufklärung befangen; blieb, ja, daß sie ihren idealistischen Grundcharakter im leidenschaftlichen Kampf gegen die materialistischen Überlieferungen mitunter bis zur äußersten Mystik steigerte. Andererseits wurde sie durch jene geschichtliche Besonderheit, daß ihre bedeutendsten Vertreter bereits der neuen bürgerlichen Wirklichkeit, der Widersprüchlichkeit der neuen bürgerlichen Gesellschaft Rechnung tragen konnten, über den Horizont der Ideenwelt der Aufklärung hinausgehoben, und es wurde für sie der W e g zur Ausarbeitung der höchsten Form der dialektischen Methode, wie sie innerhalb der bürgerlichen Weltanschauung überhaupt möglich war, eröffnet.

KANT Die Kompliziertheit der Entwicklung, die verworrene Verflechtung v o n progressiven und regressiven Gedankengängen macht sich auch auf ästhetischem G e biet in Kants Kritik der Urteilskraft bemerkbar. Hier haben w i r die Erklärung dafür, warum die Ästhetik v o n Kant im allgemeinen, seine Musikästhetik im besonderen, zur Grundlage gegensätzlichster Interpretation geworden ist. Denn der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vorherrschende Formalismus v o m T y p Herbart— Hanslick konnte in seinem Kampf gegen die klassische Ästhetik geradeso gewisse Kantische Argumente verwenden wie man sich auch andererseits etwa über die kritischen Bemerkungen von Paul Moos, der übrigens ein platter und geistloser Anhänger des Eduard Hartmannschen Irrationalismus war, kaum wundern kann. Nicht zu Unrecht beunruhigten ihn die bei Kant faktisch vorhandenen Elemente des materialistischen Erbes der Aufklärung, der auf der Affektenlehre basierenden Intonationstheorie. Gehen wir in medias res und beginnen wir bei der in die komplizierten gedanklichen Zusammenhänge des philosophischen und ästhetischen Systems gebetteten eigentlichen Musikauffassung. Kants musikästhetische Anschauungen sind unzweifelhaft mit der Affektenlehre der Aufklärung verbunden. Die Musik galt auch ihm als die »Sprache der Affekte«, d. h. als betonte Kommunikation, deren Eigenschaften man aufdecken kann, wenn man sie mit der Sprache vergleicht. E r folgte der Analogie, »daß dieser Ton mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt«, daß »die Modulation (d. h. bei Kant: die Veränderungen der Tonhöhe und -färbe, D . Z . ) gleichsam eine allgemeine, jedem Menschen verständliche Sprache der E m p findungen ist.«2 Die Musik kann nun dadurch Vermittler der Affekte werden, daß sie ein Element der Sprache, die im obigen Sinne verstandene Modulation verselbständigt und betont, und so »nach dem Gesetze der Association die damit natürlicher Weise verbundenen ästhetischen Ideen allgemein mittheilt.« 3

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Dies ist noch kaum mehr, als die einfache Übernahme des Rousseauschen Grundprinzips der aufgeklärten Intonationslehre. Aber Kant dehnte diesen Ideenkreis aus. Aus der Konzeption der »Affektensprache« folgt bei ihm nicht die Übernahme der »Wörterbuchästhetik«, sondern die Behauptung und — wie wir sehen werden — Weiterentwicklung des bekannten Gedankens des leitenden Affekts. Die Musikauffassung folgt hier den allgemeinen ästhetischen Grundsätzen der Kritik der Urteilskraft, und sie entsteht aus derselben gedanklichen Anstrengung, mit der Kant — auf der Suche nach dialektischen Lösungen — die Selbständigkeit des Ästhetischen im Verhältnis zur begrifflich-wissenschaftlichen Erkenntnis und der sittlich-praktischen Tätigkeit fassen will. Auf allgemeiner ästhetischer Ebene ist dieses Bestreben in den ersten Paragraphen des Werkes, in der Analyse des Schönen, am handgreiflichsten: es nimmt in der Charakterisierung des Schönen, als des Gegenstandes des interesse- und begriffslosen Wohlgefallens Gestalt an. In der als Sprache der Affekte aufgefaßten Musik spielt nun letzteres Moment, die Begriffslosigkeit, nach Kant eine hervorragende Rolle: » . . . weil jene ästhetischen Ideen (d. h.: die die Tonkunst als Sprache der Affekte überhaupt mitzuteilen vermag, D. Z.) keine Begriffe und bestimmte Gedanken sind, die Form der Zusammensetzung dieser Empfindungen (Harmonie und Melodie) nur statt der Form einer Sprache dazu dient, vermittelst einer proportionirten Stimmung derselben 4 . . . die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle einem gewissen Thema gemäß, welches den in dem Stücke herrschenden Affect ausmacht, auszudrücken.« 5 Als Erklärung für den Ausdruck »proportionirte Stimmung« fügt Kant noch hinzu: »welche, weil sie bei Tönen auf dem Verhältniß der Zahl der Luftbebungen in derselben Zeit, sofern die Töne zugleich oder auch nach einander verbunden werden, beruht, mathematisch unter gewisse Regeln gebracht werden kann.« 6 Das Beachten des mathematischen Elements weist schon an sich darauf hin, daß Kant hier über die Aufklärung hinausgeht. Er geht, wohlverstanden, über sie hinaus und kehrt nicht etwa zu jenen pythagoreisierenden musikmathematischen Phantasmagorien zurück, deren leidenschaftliche Kritik wir in der ganzen Affektenlehre beobachten konnten. Gewiß auch aus dem Grunde, eventuellen Mißverständnissen aus dem W e g e gehen zu können, betont Kant mit Nachdruck, daß die mathematische Anordnung für das affektive Ausdrucksvermögen der Musik eine conditio sine qua non, eine unumgängliche Bedingung sei, doch nicht das Ding selbst: Sie diente nur dem gut proportionierten Darstellen der Gefühle, der kontinuierlichen konzentrierten, einander nicht störenden Vergegenwärtigung der verschiedensten Gemütsbewegungen. Die Kantische Korrektur berührt also nicht — wenigstens in dem untersuchten Zusammenhang nicht — die Grundlagen der Affektenlehre. Die These von der Begriffslosigkeit verwischt einerseits die Grenze zwischen Sprache und musikalischer Affektensprache nicht, andererseits beseitigt sie die Gefahr einer Verabsolutierung der mathematischen Gesetzmäßigkeiten. Kant verlieh anscheinend nur dem im Gedanken des leitenden Affekts enthaltenen — in der deutschen Aufklärung in seinen Konturen schon vorgeprägten — Kompositionsprinzip einen besonderen Nachdruck.

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Kants Verhältnis zur Aufklärung ist jedoch bei weitem nicht so eindeutig. Obwohl Lessing oder Reichardt im Vergleich zur Hauptlinie der Aufklärung scharfsinnig eine Fülle von dialektischen Ansätzen fanden und das Prinzip der Einheit der Melodie verkündeten, verblieb dennoch in ihren Formulierungen stets eine undialektische Starrheit. Die mit dem leitenden Affekt verbundene Konzeption ergänzte das traditionelle Gedankensystem der Affektenlehre viel eher, als daß es fähig wäre, es auf einheitlicher Grundlage radikal umzuformen. Kants Kompositionsauffassung ist viel ausgereifter. Bei ihm gelangt eindeutig das gut aufgebaute Kunstwerk, das Kunstwerk als organisches Ganzes in den Mittelpunkt der Untersuchung. Musikästhetisch äußert sich dies vor allem in der Verallgemeinerung des Prinzips des leitenden Affekts, wodurch verständlich wird, warum sich die Aufmerksamkeit Kants auf die Art der »Zusammensetzung« der dargestellten Affekte konzentriert, warum die die Ordnung der einzelnen Momente der Form konstituierende Proportionalität, der organische Aufbau, welcher mathematische Gesetzmäßigkeiten hat, aber doch in seiner ästhetischen Qualität auf diese mathematischen Gesetzmäßigkeiten nicht reduzierbar ist, zur Hauptforderung der musikalischen Komposition wird. Die Kantsche Ästhetik leistet in dieser Hinsicht die Zusammenfassung und Weiterentwicklung der progressivsten Tendenzen der Aufklärung, ausgehend von der gleichen hermeneutischen Grundposition, die Musik sei eine spezifische, zur Mitteilung von Affekten berufene Sprache. Ihr »Verständnis« beschränkt sich jedoch nicht auf die Lösung der individuellen Bedeutung der isolierten »Wörter«, vielmehr beansprucht es die adäquate Rezeption der in der Musik als Ganzes konfigurierten höheren ästhetischen Bedeutung. Besonders hervorzuheben, daß diese neue Deutung der kompositorischen Formtotalität auf die Theorie der originellen Subjektivität des Komponisten zurückwirkt, erübrigt sich vielleicht. Der Tonsetzer wird jetzt im eigentlichen Sinne des Wortes zum Komponisten, dessen Hauptaufgabe es ist, aus bedeutenden Formelementen bedeutende Kompositionen zu schaffen. Desto überraschender ist, daß Kant, der die Bedeutungslehre der kompositorischen Form des Kunstwerks ahnte, der aufklärerischen Theorie vom humanen Wert der Tonkunst im wesentlichen hilflos und verständnislos gegenüberstand. Die Analyse des Schönen hat natürlich für die Unterscheidung der ästhetischen und der ethischen Auffassungsweise die Grundlage geschaffen. Auf dem Gebiet der Musikästhetik treten jedoch spezielle Schwierigkeiten auf, und die Unterscheidung beginnt sich hier zum unverkennbaren Gegensatz zu vertiefen. Die Musik spricht nach Kant »durch lauter Empfindungen ohne Begriffe« und läßt »mithin nicht wie die Poesie etwas zum Nachdenken übrig«; sie bewegt aber »das Gemüth mannigfaltiger und, obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher; ist aber freilich mehr Genuß als C u l t u r . . . ; und hat, durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als jede andere der schönen Künste.«7 Darum könne die Musik hinter der den höchsten Rang besitzenden Dichtung nur den zweiten Platz einnehmen, und auch dies nur, soweit es sich um Reiz und Rührung des Gemüts handele. Wenn man jedoch den Wert der Künste nach der »Kultur«, d. h. der Ordnung der humanisierenden moralischen Werte, einschätze, dann werde die Musik, die nur einer vorübergehenden Wirkung fähig sei, auf den untersten Platz zurückgedrängt. 221

Es ist nicht schwer, die Achillesferse dieser methodologischen Erörterung, die die ganze Konzeption durchdringende doktrinäre Spekulation zu erkennen. Die mangelnde Verbindung mit den konkreten Musikwerken zeigt sich vor allem in der Charakterisierung der musikalischen Wirkung; Schubart wies richtig darauf hin, daß die Wirkung der bildenden Künste nicht weniger »vorübergehend« sei wie die der Musik, 8 und Herder betrachtete die Kantische Auffassung über die Minderwertigkeit der musikalischen Wirkung sogar einfach als amusikalisch. Einen entschiedenen Rückfall bedeutet ferner jene tiefe Trennung der seelischen Fähigkeiten voneinander, die das Bewußtsein mit dem treffenden Worte Hegels zum »Seelensack«, zur äußerlichen Hülle heterogener Bewußtseinsäußerungen entqualifiziert und hierdurch die Erkenntnis der wirklichen Zusammenhänge der Empfindungen, der Wechselwirkungen von Sinnlichkeit und Empfindung, Empfindung und Vernunft, verhindert. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, daß die Empfindung bei Kant eine Kategorie von allzu scharfer, zugleich aber auch von verschwommener Bedeutung ist: sie kann ebenso sinnliches Empfinden wie eigentliches Gefühl bedeuten, in beiden Fällen meint sie aber den sensualistisch gefärbten Gegensatz zur intellektuellen Tätigkeit. Diese wirre Zweideutigkeit ist natürlich nur Symptom: in ihr äußert sich die Hauptschwäche der Kantischen Erkenntnislehre, die zwischen Materialismus und subjektivem Idealismus schwankende Konzeption über das Ding an sich, die — das ganze System gesehen — letztlich die materialistische Widerspiegelungstheorie der Aufklärung opferte und einen neuartigen idealistischen Agnostizismus einführte. Bei Kant ist der humane Wert der Künste, das, was sie zur »Kultur« macht, im Prinzip unabhängig von jedweder Erkenntnis der objektiven Wirklichkeit. Mit den Worten der antiken Terminologie: die Voraussetzung der Katharsis ist eben, daß die künstlerische Schöpfung keine Mimesis sei. Dies ist im negativen Sinne des Wortes ein radikaler Bruch mit der Aufklärung; hier erscheint das Prinzip der Begriffslosigkeit des Schönen von seiner regressiven Seite. Deshalb mündet jene Aufteilung der Künste, die — die Erkenntnis-Funktion prinzipiell außer acht lassend — den auch an sich problematisch definierten ästhetischen Wert zur Grundlage nimmt, von neuem in eine Einstufung, in eine spekulative und doktrinäre Gruppierung von »Vorteilen« und »Nachteilen«, eine U m gestaltung des wirklichen Nebeneinanders der Künste zu einer erklügelten, idealistischen Rangordnung. Und dabei bleibt diese Einordnung auch noch zweideutig verschwommen. Da die einzige reale Grundlage der Aufteilung, die prinzipielle Tatsache der künstlerischen Widerspiegelung, für den Agnostizismus einfach nicht existiert, läuft deshalb der Maßstab des ästhetischen Wertes in Wirklichkeit auf nichts anderes als eine eklektische und relativisierende Vertauscherei verschiedener Gesichtspunkte (»sinnlicher Genuß«, »Kultur«) hinaus. Darin wurzelt jene Verwirrung und Unentschiedenheit Kants, wenn er den systematischen Platz, den »Rang« der Musik sucht; Und hier bewährt sich auch von der negativen Seite her jener Grundsatz der ästhetischen Systematik, den Aristoteles und Lessing auf geniale Weise geahnt hatten: Nur jene Aufteilung vermag die einzelnen künstlerischen Zweige wissenschaftlich zu erschließen und in einem einheitlichen Gedankensystem zusammenzufassen, die von ihrer Identität, d. h. von ihrem spezifisch ästhetischen

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wirklichkeitspiegelnden Grundcharakter ausgeht, der sie gleichermaßen zur Kunst erhebt und das Besondere der Künste einerseits von diesem ästhetisch charakterisierten Allgemeinen, andererseits von der Qualität des Kommunikationsmediums der individuell gegebenen Kunstwerke her spezifiziert. Durch die Negation der Widerspiegelungstheorie gerät die Lehre von der Interesselosigkeit des Schönen bzw. ihre musikästhetische Anwendung besonders widerspruchsvoll. In der Analyse des Schönen fehlen bei der Auffassung der Interesselosigkeit jedoch auch die progressiven Momente nicht. Wie beim Prinzip der Begriffslosigkeit sollte auch die Analyse der Interesselosigkeit die Grundlagen der Selbständigkeit und Autonomie des Ästhetischen herausarbeiten: deshalb grenzte Kant das Schöne einerseits vom Guten (dem Moralischen), andererseits vom Angenehmen (all dem, was im alltäglichen Sinne Genuß verschafft und sinnliches Gefallen erweckt) ab. Was bedeutet nun für das musikalisch Schöne diese Abgrenzung nach zwei Richtungen, wenn die Tonkunst die Sprache der Affekte ist? Bekannt ist, daß die Kantische Ethik auf dem strengen Dualismus von Sein und Sollen aufgebaut ist und — wieder in krassem Gegensatz zur Aufklärung und zu deren philosophisch-ethischer Affektenlehre — das Wesen des ethischen Lebensverhaltens in der Alleinherrschaft der moralischen Pflicht, in der radikalen Bekämpfung der Leidenschaften und Neigungen zu entdecken glaubt. Es scheint, als könnte das Prinzip der Interesselosigkeit die schönen Künste dem Wirkungskreis dieser moralischen Strenge entziehen. Die wirkliche Autonomie des Schönen kann man aber nur erfassen, wenn man von den spezifischen Lebensinhalten ausgeht, die sich in ihm widerspiegeln. Es rächt sich auch hier, daß das Prinzip der ästhetischen Widerspiegelung außer acht gelassen wird: Wenn das Prinzip der Interesselosigkeit subjektiv-idealistisch durchdacht wird, gelangt man unvermeidlich zu einem Formalismus, der den moralischen Formalismus des kategorischen Imperativs nicht bekämpft, sondern ihn ergänzt. In der Kantischen Ästhetik rückt das Bestreben stets von neuem in den Vordergrund, das vom moralisch Guten abgegrenzte Schöne im wörtlichen Sinne ins »Reine« zu verwandeln und es von jedem — moralischen, gedanklichen, gefühlsmäßigen — Inhalt freizumachen. Daher die prinzipielle Unterscheidung zwischen freier und abhängiger Schönheit. Hängt nun die Moral von vornherein mit der pflichtmäßigen Disziplinierung der Gesinnung, das musikalisch Schöne hingegen — nach der originellen Konzeption — mit dem Ausdruck der Affekte zusammen, so ist es keineswegs zufällig, daß neben bestimmten Schönheiten der Natur, sowie neben der nicht darstellenden Ornamentik gerade »das, was man in der Musik Phantasieen (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text«,9 zum bedeutendsten Vorbild der reinen Schönheit wird. Die »reine« Instrumentalmusik ist daher in der Tat nichts anderes, als das »schöne Spiel der Empfindungen«. Damit gelangen wir aber in das Gewirr von neuen Widersprüchen. Erstens: die Empfindung kann jetzt nicht mehr den menschlichen Affekt im ursprünglichen Sinne bedeuten, da ja das Prinzip des Affekts auch einen bestimmten Lebensinhalt, einen moralischen Gehalt besitzt. Die reine Schönheit nimmt demnach nur im »schönen« — also inhaltslosen — »Spiel der Empfindungen« und nicht in der Mitteilung der Affekte Gestalt an. Zweitens: wenn es auf diese Weise auch gelang, 223

das musikalisch Schöne vom moralischen Gehalt zu trennen, bleibt dennoch die Frage nach Garantien seiner Unabhängigkeit und Abgrenzung in Richtung des Angenehmen bestehen. Unsere Antwort kann nicht zweifelhaft sein: je vollkommener das Schöne vom Guten »gereinigt« wird, desto mehr erhält es den Charakter des bloß Angenehmen im Kantischen Sinne. Hier wird die Haltlosigkeit der ganzen Gedankenkonstruktion offenbar. Es konnte auch Kant kein Geheimnis bleiben, daß die Musik als ein schönes Spiel der Empfindungen, die in der Analyse der Schönheit auf die Gipfel der »reinen« Schönheit erhoben wurde, eigentlich nur eine angenehme, also trotz ihrer formalen Scheinselbständigkeit, doch keine schöne Kunst heißen dürfte. 10 Dieser innere Zwiespalt bÜeb natürlich nicht ohne Einfluß auch auf die wirklich dialektischen fruchtbaren Lösungen der Kantischen Musikauffassung etwa bei der Formulierung der strukturellen Gesetzmäßigkeiten der Komposition. Anläßlich der Analyse des Kantischen Kompositionsbegriffs hatten wir jene große Neuerung besonders hervorgehoben, die die Bedeutung der musikalischen Formen nicht in den isolierten Formelementen, sondern in der Totalität der Form sucht. Nun entsteht hier das Paradoxon, daß die Konkretisierung und detaillierte Erörterung dieser genialen Vorahnung gerade durch die vorhin behandelte formalistische Richtung vereitelt wird — nämlich durch jene Auffassung, die sagt, »in aller schönen Kunst besteht das Wesentliche in der Form, welche für die Beobachtung und Beurtheilung zweckmäßig i s t . . . « u Denn was ist das für eine Mitteilung, die nur reine Form »mitteilt«, künstlerisch »unwesentliche« menschliche Lebensinhalte aber nicht? Das Geheimnis der musikalischen Form beruht doch gerade darin, daß ihre Gegliedertheit und ihr organischer Aufbau artikulierte menschliche, gesellschaftliche Lebensinhalte widerspiegelt, in der eigenartigen Ordnung ihrer »Atome« nehmen notwendigerweise menschliche gesellschaftliche Lebensinhalte Gestalt an. Die formalistische Entleerung der Form reflektiert daher nolens volens ein Selbstbekenntnis: das Bekenntnis, daß das Bestreben, die Sprache der Affekte zu verstehen und eine höhere musikalische Bedeutungsordnung auszuarbeiten, mißlungen ist. HERDER UND DIE KRITIK DES KRITIZISMUS Die hier aufgedeckten Widersprüche der Kantischen Musikästhetik konnten natürlich auch den Zeitgenossen nicht verborgen bleiben. Auf das Problematischeder Kritik der Urteilskraft hat auch in musikalischer Hinsicht Herder als erster hingewiesen, obwohl er jene Auffassung der Überlegenheit der vokalen Musik (also nach de Kantischen Konzeption des nicht reinen, abhängigen musikalisch Schönen) die in der Aufklärung allgemein verbreitet war, nicht teilte. Die Herdersche Metakritik ist also in zweifachem Sinne beachtenswert: sie vertritt die grundsätzliche Überzeugung der Aufklärung, doch fehlen in ihr auch nicht die die deutsche Klassik antizipierenden dialektischen Züge. Mit feinem Gefühl stellte Herder die Frage nach der Beurteilung der »reinen« Instrumentalmusik in den Mittelpunkt der Polemik. Er war sich nämlich im klaren, daß die Anerkennung ihrer Selbständigkeit bei Kant ein widerspruchsvoller Ge-

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danke ist, denn die scheinbare Selbständigkeit der »reinen« Schönheit schlägt bei ihm in die Verneinung der kulturellen und humanisierenden Funktion der Kunst um. Auch hier steht Herder auf dem entwickeltsten Standpunkt der Aufklärung: Er wollte die Daseinsberechtigung und den humanistischen Auftrag der Musik neuen Typs unter Beweis stellen. Während Kant die Musik in der Rangordnung der Künste zuunterst setzte, protestiert Herder — wobei er sich gerade darauf beruft, daß jede der Künste ihre eigene Wirksamkeit besitze — gegen diese Einstufung nach der Rangordnung, insbesondere gegen die der Musik zugedachte ungerechte Einstufung. Seine Grundauffassung bewegt ihn, die Lessingschen Traditionen zu erneuern: »Übrigens ist der Streit über den Werth der Künste untereinander, oder in Rücksicht auf die Natur des Menschen allezeit leer und nichtig. Raum kann nicht Zeit, Zeit nicht Raum, das Sichtbare nicht hörbar, dies nicht sichtbar gemacht werden; keines maße sich ein fremdes Gebiet an, herrsche in dem seinigen aber desto mächtiger, gewisser, edler. Eben dadurch, daß die Künste in Anschauung ihres Mediums einander ausschließen, gewinnen sie ihr R e i c h . . ,« 12 Was dabei die humanisierende Wirkung der Künste anbelangt, so sind der ethische Ernst und die erzieherische Kraft der Instrumentalmusik für Herder eine unbestreitbare, grundlegende Tatsache; deshalb weist er von vornherein jenen Standpunkt als amusikalisch ab, wonach in ihr nur das schöne — genauer: nur das angenehme — »Spiel der Empfindungen« zu genießen sei. Es ist nicht schwer, einzusehen, daß Herder sich als Vertreter des aufgeklärten Humanismus Kant überlegen zeigt. Es sei hier auch darauf hingewiesen, daß diese Überlegenheit besonders in der historischen Auffassung der Erscheinungen der Kunst fühlbar wird. Der Standpunkt des Historismus blieb für den Kantschen Subjektivismus und Formalismus notwendigerweise unerreichbar. Trotzdem blieb Herder — um auf die bereits zitierte Analyse der Hegeischen Phänomenologie hinzuweisen —, ähnlich wie der Philosoph in Ratneaus Neffe, der typische Vertreter des »ehrlichen Bewußtseins«, der, von Illusionen erfüllt, das Pri märe der stabilen Moralität verkündet und der der Moral des zerrissenen Bewußtseins,die alles Absolute relativisiert, verständnislos gegenübersteht. Denn die Widersprüchlichkeit, die die Kantische Musikauffassung so zwiespältig macht, spiegelt nicht nur den Mangel an gedanklicher Kraft oder an musikalischem Sinn, sondern auch die objektive Krise der Affektenlehre, die in den grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen selbst und im künstlerischen Spiegelbild dieser Verhältnisse wurzelt, jene Krise also, die wir als beginnenden Zerfall des Affektenbegriffs bezeichneten. Herders Auffassung von der selbständigen Instrumentalmusik — in der Aufklärung steht er hiermit fast allein — zeugt davon, daß auch er die Vorzeichen der Krise merkte; seine historischen Analysen weisen mit großem Nachdruck darauf hin, daß in der Geschichte der Musik etwas prinzipiell Neues begann, als die Musik ihren primär vokalen Charakter verloren hatte.Wenn er aber bei der ästhetischen Beurteilung dieser Neuheit, als Vertreter des »ehrlichen Bewußtseins«, den unbedingten Primat des aus dem Geiste des aufgeklärten Humanismus geborenen ethischen Standpunktes als selbstverständlich betrachtet, so zeugt diese Selbstsicherheit ebenso von Schwäche wie von Kraft; sie zeugt vom Unverständnis gegenüber dem Wesen der Krise.

225 15 Zoltai: Ethos und Affekt

Man denke dagegen an den bereits eingehend zitierten Diderot-Kommentar von Goethe, 13 an jenen zweifachen Ariadnefaden, mit dessen Hilfe sich diese herausragende Gestalt der deutschen klassischen Literatur in der Geschichte der Musik orientieren wollte. Goethes Unterscheidung zwischen »selbständiger Musik« und »Affektenmusik« weist — trotz der bereits erwähnten Problematik der Terminologie — deutlicher auf das in der börgerlichen Musikkultur aufkommende Neue hin als die Herdersche oder gar Diderotsche Analyse. Wenn Goethe hier die sogenannte »rein musikalische« Formenwelt der in der Aufklärung als formalistisch angesehenen opera seria sozusagen rehabilitiert, so trägt er damit nicht nur zur musikästhetischen Einbürgerung der historischen Methode bei, sondern er deckt auch einen der wesentlichen Züge der neuen Musik auf: j ene Möglichkeit, daß die Gegenständlichkeit im modernen Ausdruck der Innerlichkeit ihre Unvermitteltheit und Eindeutigkeit verliert und — natürlich in den einzelnen Kunstgattungen je nach Epochen und Nationen in verschiedenem Maße — einen unbestimmteren Charakter annimmt. Diese Auffassung, zu deren Herausbildung die Neuentdeckung von Palestrina und Bach nicht unwesentlich beigetragen hat, sowie das Verständnis der in der sogenannten reinen musikalischen Formenwelt der italienischen opera seria konfigurierten menschlichen Inhalte finden bei Hegel ihren prägnantesten Ausdruck: »Der M u s i k e r . . . abstrahiert zwar auch nicht von allem und jedem Inhalt, sondern findet denselben in einem Text, den er in Musik setzt, oder kleidet sich unabhängiger schon irgendeine Stimmung in die Form eines musikalischen Themas, das er dann weiter ausgestaltet: die eigentliche Region seiner Kompositionen aber bleibt die formellere Innerlichkeit, das reine Tönen, und sein Vertiefen in den Inhalt wird statt eines Bildes nach außen vielmehr ein Zurücktreten in die eigene Freiheit des Inneren, ein Ergehen seiner in ihm selbst und in manchen Gebieten der Musik sogar eine Vergewisserung, daß er als Künstler frei von dem Inhalte ist. Wenn wir nun im allgemeinen schon die Tätigkeit im Bereiche des Schönen als eine Befreiung der Seele, als ein Lossagen von Bedrängnis und Beschränktheit ansehen können, indem die Kunst selbst die gewaltsamsten tragischen Schicksale durch theoretisches Gestalten mildert und sie zum Genüsse werden läßt, so führt die Musik diese Freiheit zur letzten Spitze.«14 Mit dieser Erkenntnis hängt die Hegeische Definition des für musikalische Darstellung geeigneten Gegenstandes zusammen: »Für den Musikausdruck eignet sich deshalb auch nur das ganz objektlose Innere, die abstrakte Subjektivität als solche. Diese ist unser ganz leeres Ich, das Selbst ohne weiteren Inhalt. Die Hauptaufgabe der Musik wird deshalb darin bestehen, nicht die Gegenständlichkeit selbst, sondern im Gegenteil die Art und Weise wiederklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst seiner Subjektivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist.«15 Dessenungeachtet war es Goethe und Hegel klar, daß die strukturelle Umwandlung der Bedeutung, die sich in der neuen Instrumentalmusik vollzieht, ein äußerst widerspruchsvoller Vorgang ist. Deshalb bejahten sie unbedingt jene Expression der subjektiven Innerlichkeit, die sie insbesondere in der Bachschen Kunst wahrgenommen haben und die eine substantiell inhaltsvolle, in ihrer Leidenschaft 226

die Problematik der Zeit ausdrückende Individualität darstellt. Zugleich erkannten sie auch die ethischen und ästhetischen Gefahren der absoluten Insichgekehrtheit, und treten daher entschieden auf gegen die in der zeitgenössischen Romantik verborgene »Krankheit«, gegen den Stimmungs-Subjektivismus, der die Entleerung der Persönlichkeit durch schädliche Ekstase ersetzt. Mit dieser doppelten Frontstellung werden wir uns im weiteren noch ausführlich befassen. In dem vorliegenden Zusammenhang müssen wir nur darauf hinweisen, daß die Entdeckung der sich aus dem Wesen der Musik ergebenden Subjektivität und unbestimmten Gegenständlichkeit bei Hegel keine kantianische Unterwerfung gegenüber dem Formalismus bedeutet, wenn er meint ».. . daß die Musik unter allen Künsten die meiste Möglichkeit in sich schließe, sich nicht nur von jedem wirklichen Text, sondern auch von dem Ausdruck irgendeines bestimmten Inhalts zu befreien. . . Dann bleibt aber die Musik leer, bedeutungslos und ist, da ihr die eine Hauptseite aller Kunst, der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht, noch nicht eigentlich zur Kunst zu rechnen. Erst wenn sich in dem sinnlichen Element der Töne und ihrer mannigfaltigen Figuration Geistiges in angemessener Weise ausdrückt, erhebt sich auch die Musik zur wahren Kunst, gleichgültig, ob dieser Inhalt für sich seine nähere Bezeichnung ausdrücklich durch Worte erhalte oder unbestimmter aus den Tönen und deren harmonischen Verhältnissen und melodischen Beseelung müsse empfunden werden.«1® Dies ist eine entschiedene Antwort auf die Frage, die Kant zwar nicht lösen konnte, doch mit voller Berechtigung gestellt hat. Nun blieb Herder gerade dadurch der typische Vertreter der Aufklärung, daß er die Fragestellung selbst ablehnte: im Gegensatz zu Kant nahm er das Problematische der modernen Erscheinungsformen der bürgerlichen Musikkultur nicht war. Der ideologische Illusionismus der Aufklärung beeinflußte auch jene Herderschen Erörterungen, in denen der große deutsche Aufklärer den Versuch unternahm, seine mit der Kantischen Musikauffassung im Zusammenhang stehenden kritischen Bemerkungen zu Ende zu denken. In der Kalligone wollte er nämlich jenes Absolute ausfindig machen, das in sämtlichen historischen Erscheinungsformen der Musik bestehen bleibt, was die Kunst alter Epochen und fremder Völker ebenso allgemein verständlich macht wie die moderne Instrumentalmusik. Es ist nicht zweifelhaft, daß der Erfolg der Unternehmung eine treffende Antwort auf jene die Wirksamkeit der Musik relativierenden Bedenken gewesen wäre, die sich aus dem Formalismus und Subjektivismus der Kantischen Musikästhetik ergeben. Die deutsche Misere machte sich aber auch hier geltend: Herders Geschichtsauffassung war idealistisch begründet und deshalb inkonsequent. Er erkannte zwar die geschichtliche Veränderlichkeit des musikalischen Geschmacks, aber er war dennoch unfähig, die Veränderlichkeit als notwendige Konsequenz der musikalischen Widerspiegelung der veränderten menschlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu behandeln: »So scheint es, die Regeln des Einverständnisses liegen aber dennoch sowohl im Material der Kunst, als im Subject der diese Künste genießenden, immer nur menschlichen Empfindung: Die Verhältnisse der Harmonie sind allen Völkern dieselbe; die Empfänglichkeit unsres Organs kann Gradweise geübt, also auch berechnet und compensirt werden; mithin ist ein allgemeiner

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Maaßstab, ein Einverständniß möglich.« 17 Herder war gezwungen, das Prinzip der Geschichtlichkeit, welches er in bezug auf die Herausbildung der musikalischen Formen bereits errungen hat, auf die Melodie zu beschränken. Die Harmonieverhältnisse betrachtet er — das folgt aus der naturphilosophischen Übernahme des Substanzbegriffs Spinozas — als die Offenbarung geheimer Naturenergien, die im Kosmos ebenso tätig sind wie in der emotionalen Empfindlichkeit des Menschen und den Schwingungen des tönenden Körpers. Möge zwar Herders ablehnende Stellungnahme der Musikmathematik gegenüber subjektiv auch noch so aufrichig gewesen sein, die verfehlte ontologische Anschauung ließ bei ihm hier drennoch teine gewisse pythagoreisierende Folgerung aufkommen: »Alles also, was in de Natur tönt, ist Musik.« 18 Demgegenüber faßte Kant, wie wir sahen, die melodische Sukzessivität und harmonische Simultaneität des musikalischen Vorganges gleichermaßen als das Ergebnis der Subjektivität, der eigentlichen kompositorischen Tätigkeit des Komponisten auf, und wenn auch die idealistischen Tendenzen die gedankliche Erfassung der gesellschaftlichen geschichtlichen Inhalte der Subjektivität nicht zuließen, so bereitete die Kantische Ästhetik hier trotz all ihrer Ungeschichtlichkeit die Entfaltung einer tieferen, konsequenteren dialektischen Geschichtlichkeit vor.

DIE MOLL-DEBATTE ZWISCHEN GOETHE UND ZELTER Die großartigste gedankliche Leistung der deutschen Klassik auf diesem Gebiet bot Goethe. Oft wird Goethe als amusikalischer Künstler und Denker hingestellt, und auch heute noch hält sich die romantische Legende, daß der Olympier gegen die »chaotische« Welt der Instrumentalmusik Argwohn empfunden habe. 19 Es ist nicht unsere Aufgabe, hier eine detaillierte Widerlegung dieser Legende zu geben, ebenso wie wir auch nicht genügend R a u m haben, aufzuzeigen, was die Musik im Weltbild Goethes eigentlich bedeutet hat. W i r heben nur einen v o m ästhetischen Gesichtspunkt bisher nicht genügend gewürdigten Themenkreis des Briefwechsels hervor, den Goethe mit seinem musikalischen Berater und Altersfreund, dem Berliner Komponisten Carl Friedrich Zelter geführt hat. Darin erstreckt sich sein naturwissenschaftliches und philosophisches Interesse auch auf das für die Weiterentwicklung der aufgeklärten Musikauffassung so wichtige Gebiet der Harmonielehre. Es handelt sich hier nicht um irgendein zufälliges Interesse. Der Verfasser der Farbenlehre, der die Newtonsche Optik leidenschaftlich kritisierte und an jener Auffassung festhielt, die die Farben anthropologisierte, indem sie ihnen eine »sinnlichsittliche Wirkung« verlieh, plante schon zur Zeit seiner freundschaftlichen Verbindung mit Reichard t in den Jahren 1790-91 die Ausarbeitung einer musikalischen Akustik, in der die Konzeption der Farbenlehre auch auf das Gebiet der Musiktheorie angewandt werden sollte. Das musiktheoretische Interesse im engeren Sinn taucht auch in den Diderot-Studien immer wieder auf, noch dazu charakteristischerweise mit der Kritik der »natürlichen«, mechanisch-materialistischen Kunsttheorie verflochten und zur Aufdeckung des dialektischen Zusammenhanges zwischen Natur und Kunst strebend.

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Eines der greifbarsten Ergebnisse dieser Untersuchung war die bereits mitgeteilte Stellungnahme Goethes gegen die musikalische Naturschilderung, die nicht nur eine entwickeltere Wiederholung der für die deutsche Aufklärung charakteristischen Auffassung, sondern vom Gesichtspunkt der deutschen Klassik aus die typischste Konkretisierung der diesbezüglichen Erklärung von Beethoven hierzu ist. Wie bekannt, hatte Beethoven die sogenannte Naturschilderung der VI. Symphonie mit dem Aphorismus »mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei« charakterisiert und damit darauf hingewiesen, daß er nicht beabsichtigte, objektive Erscheinungen der Natur, sondern durch sie ausgelöste subjektive Empfindungen darzustellen. Auch Goethe erörtert die dialektische Wechselwirkung von Naturtreue und künstlerischer Wahrheit in der musikalischen Gestaltung genau in diesem Geiste: »Auf Ihre F r a g e . . . was der Musiker mahlen dürfte? wage ich mit einem Paradox zu antworten: Nichts und Alles. Nichts! wie er es durch die äußern Sinne empfängt darf er nachahmen; aber Alles darf er darstellen was er bey diesen äußern Sinneseinwirkungen empfindet. Den Donner in Musik nachzuahmen ist keine Kunst, aber der Musiker, der das Gefühl in mir erregt als wenn ich donnern hörte würde sehr schätzbar sein. So haben wir im Gegensatz für vollkommene Ruhe, für Schweigen, ja für Negation entschiedenen Ausdruck in der Musik, wovon mir vollkommene Beyspiele zur Hand sind. Ich wiederhole: das Innere in Stimmung zu setzen, ohne die gemeinen äußern Mittel zu brauchen ist der Musik großes und edles Vorrecht.«20 Der Briefwechsel mit Zelter analysiert die musiktheoretisch-harmonische Seite derselben Problematik. 21 Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet die Spezifik der Molltonart, die Goethe besonders beschäftigt hat, nachdem er die byzantinische Kirchenmusik kennengelernt hatte (natürlich ist es vollkommen unwahrscheinlich, daß Goethe in der Tat aus echten byzantinischen Melodien »die so allgemeine Tendenz nach den Molltönen« herausgefühlt hätte; die Goethe-Philologie hat diesen Fragenkreis leider bis zum heutigen Tage nicht gründlich untersucht). Zelter, der musikalische Berater, beleuchtet das Problem eindeutig im Geiste der ZarlinoRameauschen Harmonielehre. Nur die große Terz könne — entweder im Sinne der in der natürlichen Obertonreihe enthaltenen Intervallverhältnisse oder auf Grund der pythagoreischen Kanonaufteilung — als von der Natur unmittelbar gegeben angesehen werden, die kleine Terz sei »kein unmittelbares Donum der Natur, sondern ein Werk neuerer K u n s t . . ,«22 So sei die Molltonart nicht auf natürliche Weise entstanden; sie basiere auf der Einschaltung der an die Stelle der großen Terz (der Durterz) tretenden kleinen Terz; aus dieser Struktur ergebe sich der oft betonte weiche, Sehnsucht ausdrückende Moll-Charakter, der in der Folklore der nordischen Völker vorherrsche. Goethe lehnt diese sowohl vom theoretischen wie auch vom musikgeschichtlichen Gesichtspunkt aus verfehlte Erklärung aufs entschiedenste ab. Bei ihm ist die Natur — wie dies auch aus der Farbenlehre ersichtlich ist — nie etwas für sich allein Bestehendes, eine vom Menschen unabhängige und ihm fremde physikalische Gegebenheit, sondern ein durch die menschliche Natur beseelter, menschlich angeeigneter lebendiger Organismus. Deshalb nimmt er Zelter beim Wort: Wenn die Molltonart bei den nordischen Völkern vorherrsche, so dürfte ein vorausgesetzter nordischer Musiktheoretiker notwendigerweise diese Tonart als pri-

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mär und unmittelbar natürlich betrachten. Daraus folgt zweitens, daß keine Tonart unmittelbar ein Produkt der Natur sein kann. Die Ablehnung der modernen naturwissenschaftlichen Erneuerung der pythagoreischen Akustik mündet hier in die allgemeine Kritik der desanthropologisierenden mathematischen Musiktheorie. »Hier tritt eine oben schon berührte, bei der ganzen Naturforschung höchst merkwürdige Betrachtung ein. Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann. Und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will. Ebenso ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt. Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? ja man kann sagen: was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können?«23 Wenn Goethe hier gegen die moderne Physik, vor allem gegen deren N e w tonsche methodologische Grundlagen auftritt, führt er vom wissenschaftlichen Gesischtspunkt aus Nachhutgefechte zum Schutze der anthropologisierenden Naturanschauung. Georg Lukács wies jedoch bemerkenswerterweise auf jene paradoxe Situation hin, daß die im Grunde unzeitgemäße Stellungnahme Goethes mit der entschiedenen Kritik der mechanisch-metaphysischen Naturauffassung, der instinktiven Vorausahnung der Dialektik der organischen Entwicklung verflochten ist und daß deshalb die vom naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus durchgehend problematische Anschauungsweise zu einer ästhetikgeschichtlich epochalen Entdeckung, dem Verständnis der aus der Struktur des Ästhetischen nicht ausschaltbaren Antropozentrität führt. 24 Auch mit der Moll-Debatte, in den auf Akustik und Harmonielehre bezüglichen Vorstellungen Goethes ist es nicht anders bestellt: Hier sind wir Zeugen jener gewaltigen gedanklichen Anstrengung, mit der der Verfasser der Farbenlehre die metaphysischen Schranken der unmittelbar auf das Natürliche gerichteten Auffassungen durchbricht und jenen der oberflächlichen Betrachtung verhüllten kulturellen Entwicklungsprozeß reproduzieren will, in welchem die elementaren Erscheinungen der Natur vermenschlicht, durch Menschen assimiliert, und somit als homogenisierte Medien der Künste für die sinnliche Darstellung menschlicher Lebensinhalte und Lebensgefühle geeignet werden. Man darf daher den Mollcharakter nicht allein aus der Veränderlichkeit der Terz verstehen, sondern umgekehrt: die Veränderlichkeit ist selbst Folge, eine aus dem Bedürfnis der Darstellung gewisser Gefühlstypen entstandene Konsequenz. Der alte Goethe faßt 1831 die Ergebnisse der Debatte von 1808 wie folgt zusammen: »Wahrhaftig, eine Darm- und Drahtsaite steht nicht so hoch, daß ihr die Natur allein ausschließlich ihre Harmonien anvertrauen sollte. Da ist der Mensch mehr wert, und dem Menschen hat die Natur die Kleine Terz verliehen, um das Unnennbare, Sehnsüchtigste mit dem innigsten B e hagen ausdrücken zu können. Der Mensch gehört mit zur Natur, und er ist es, der

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die zartesten Bezüge der sämtlichen elementaren Erscheinungen in sich aufzunehmen, zu regeln und zu modifizieren weiß.«25 So weist die Moll-Debatte weit über sich selbst hinaus; die ursprüngliche akustischmusiktheoretische Frage beantwortet Goethe mit ästhetischer Bewußtheit, auf allgemeinem kunstphilosophischem Niveau. Es wäre lehrreich, hier sämtliche Momente der Goetheschen Lösung eingehend zu analysieren und jene Folgerungen anzuzeigen, die auf Grund der organisch-dialektischen Naturauffassung ästhetisch deduzierbar sind. Ein Teil von ihnen bleibt ganz bestimmt problematisch: im dialektischen Weltbild Goethes überwiegt das Moment der organischen Entwicklung, aber — worauf Georg Lukács in der vorhin zitierten Stelle hingewiesen hat — es fehlt in ihm das Moment des Sprunges, der qualitativen Veränderung. So zeigt sich, daß sich auch ein Denker von der Größe Goethes der deutschen Misere nicht völlig entziehen konnte und den diesen Verhältnissen sich anpassenden Philister nicht ganz überwand. Dies setzt aber einem bedeutenden Teil seiner musikästhetischen Stellungnahmen enge Grenzen. Denken wir an das bedeutendste Beispiel, an die Beurteilung des »Elementaren«, das Goethe in der Musik Beethovens erkannte. Goethe hörte auch aus dem Klavierspiel Mendelssohns das revolutionäre Pathos der V. Symphonie heraus (»Das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein«2*), er konnte jedoch darin und in den Klaviersonaten, die er durch Oliva kennengelernt hatte, jenen hochwertigen kompositorischen Organismus nicht erfassen, der durch den sich bis ins Extreme steigernden Kampf der Gegensätze bei Beethoven mit revolutionärer Dynamik und Lebendigkeit ausgefüllt wird (»Das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im Einzelnen«27). Mit Bestimmtheit kann daher der Goethesche Standpunkt bemängelt werden, daß Musik im besten Sinne weniger der Neuheit bedarf, als die übrigen Künste. 28 Die aufs organische Leben beschränkte Dialektik, die die gesellschaftliche Objektivität nicht umfaßt, macht auch die bekannte Definition des Rhythmus strittig (»alle organischen Bewegungen manifestieren sich durch Diastolen und Systolen«29). All dies vermindert aber nicht den Wert der in der Moll-Debatte erarbeiteten Lösung. Die wichtigste Schlußfolgerung der Debatte formuliert Goethe in der Nachschrift seines Briefes vom 22. Juni x 808 folgendermaßen: »Alle Künste, indem sie sich nur durch Ausüben und Nachdenken, durch Praxis und Theorie, heraufarbeiten konnten, kommen mir vor wie Städte, deren Grund und Boden, worauf sie erbaut sind, man nicht mehr entziffern kann. Felsen wurden weggesprengt, eben diese Steine zugehauen und Häuser daraus gebaut. Höhlen fand man sehr gelegen und bearbeitete sie zu Kellern. W o der feste Grund ausging, grub und mauerte man ihn; ja vielleicht traf man gleich neben dem Urfelsen ein grundloses Sumpffleck, w o man Pfähle einrammen und Rost schlagen mußte. Wenn das nun alles fertig und bewohnbar ist, was läßt sich nun als Natur und was als Kunst ansprechen? W o ist das Fundament und wo die Nachhilfe? W o der Stoff? w o die Form? wie schwer ist es alsdann Gründe anzugeben, wenn man behaupten will, daß in den frühesten Zeiten, wenn man gleich das Ganze übersehen hätte, die sämtlichen Anlagen natur-, kunst- und zweckmäßiger hätten gemacht werden können. Betrachtet man das

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Klavier, die Orgel, so glaubt man die Stadt meines Gleichnisses zu sehen. Wollte Gott, ich könnte auch einmal an Ihrer Seite meine Wohnung dort aufschlagen und zum wahren Lebensgenuß gelangen, wobei ich alle Fragen über Natur und Kunst, über Theorie und Praxis herzlich gern vergessen möchte.« 30 Der große humanistische Dichter enthüllt hier mit dem sinnlichen Pathos der Dichtung und im Bild einer Art von musikästhetischem Pendant der Metamorphose der Pflanzen den verborgenen menschlichen ästhetischen Sinn des ins Natürliche verdinglichten materiellen Substrats und der vorgefundenen »natürlichen« Formen der Kunst. Diese Kernfrage steht bis zum heutigen Tage gültig auf dem Programm einer jeden philosophischen Untersuchung, die auf die Musik gerichtet ist. HEGEL, DIE ZUSAMMENFASSUNG Der große Versuch der deutschen Klassik, aus den komplizierten Zusammenhängen menschlicher Tätigkeiten und menschlicher Leidenschaften sämtliche Strukturgesetze des musikalischen Materials und der musikalischen Form abzuleiten, erhielt in den entsprechenden Abschnitten von Hegels Vorlesungen über Ästhetik die höchste, auf der Grundlage der bürgerlichen Weltanschauung überhaupt höchstmögliche, zugleich extrem widerspruchsvolle Vollendung. Die Auffassung der Aufklärung bleibt auch jetzt ein fruchtbarer Ausgangspunkt, dem sich Hegel bewußt anschließt. In der Fortsetzung seiner bereits zitierten Erörterungen, als er die Eigenarten von musikalischem Inhalt und musikalischer Auffassungsweise untersucht, stellt er fest, daß die zur Darstellung der subjektiven Innerlichkeit berufene Musik in der Sphäre der menschlichen Empfindungswelt das ihr am besten entsprechende Objekt findet. Die Empfindung ist dagegen eine »natürliche« menschliche Lebensäußerung; auf »natürliche Weise« kommt sie schon im affektbeladenen Gang der Sprache, vor allem in den Interjektionen zum Ausdruck. »Schon außerhalb der Kunst ist der Ton als Interjektion, als Schrei des Schmerzes, als Seufzen, Lachen die unmittelbare lebendigste Äußerung von Seelenzuständen und Empfindungen, das Ach und O des Gemüts.« 31 »Der bloß natürliche Ausdruck jedoch der Interjektionen ist noch keine Musik . . . Die Musik muß . . . die Empfindungen in bestimmte Tonverhältnisse bringen und den Naturausdruck seiner Wildheit, seinem rohen Ergehen entnehmen und ihn mäßigen.« 32 Daher rührt der besondere Charakter des materiellen Substrats und des grundlegenden Gestaltungsprinzips der Musik. »So machen die Interjektionen wohl den Ausgangspunkt der Musik, doch sie selbst ist erst Kunst als die kadenzierte Interjektion und hat sich in dieser Rücksicht ihr sinnliches Material in höherem Grade als die Malerei und Poesie künstlerisch zuzubereiten, ehe dasselbe befähigt wird, in kunstgemäßer Weise den Inhalt des Geistes auszudrücken.«33 Die für die ganze Hegeische Philosophie charakteristische Aufhebung, das Prinzip der dialektischen Synthese, nimmt in diesem Gedankengang Gestalt an; die Intonationstheorie der Aufklärung bleibt hier aufgehoben bestehen, infolgedessen hebt sich ihr weltanschaulicher Grundinhalt, die Affektenlehre, qualitativ auf ein höheres Niveau. Denken wir an die mit dem »tierischen Geschrei« der Leidenschaft verbundene und bereits von mehreren Seiten her beleuchtete Forderung Diderots.Wenn 232

Hegel das Prinzip des unmittelbar Natürlichen, das noch organisch aus Diderots ästhetischer Grundposition als seiner Kampfansage gegen klassizisierende Kunst und Kunsttheorie des ancien regime folgt, ablehnt, so bedeutet diese Negation nicht einfach eine Rückkehr z u m Geschmacksideal der von Descartes bis R a m e a u entwickelten frühen Affektenlehre, zum höfischen Klassizismus, der die Zurückhaltung und das Maßhalten idealisiert. Mit anderen W o r t e n : sie ist keine »aristokratische Reaktion« auf die französische Aufklärung und Revolution. 3 4 Denn der Grundsatz der »kadenzierten Interjektion«, wie wir später eingehend beweisen werden, kam als theoretische Verallgemeinerung der künstlerischen Praxis des bürgerlichen Klassizismus, als das Ergebnis des klassischen bürgerlichen Humanismus zustande. D a r u m kann sie mit den besten Traditionen der Aufklärung — mit Lessing und Herder — organisch verbunden sein: sie ergreift das vorgefundene Medium der musikalischen Mitteilung in ihrer homogenen, organisch aufgebauten, logischen Ordnung, u m auf diese Weise die in ihr enthaltenen Ausdrucksmöglichkeiten aufzeigen zu können. »Denn die Empfindung als solche hat einen Inhalt, der T o n als bloßer T o n aber ist inhaltlos; er m u ß deshalb erst durch eine künstlerische Behandlung fähig werden, den Ausdruck eines inneren Lebens in sich aufzunehmen.« 35 Hegel erbt hier den Humanismus von Winckelmann, Lessing und Herder; auch er trachtet, wie die großen Aufklärer, in den innersten, als natürlich erscheinenden Kontruktionsgesetzen von Materie und Form die verborgensten Möglichkeiten der Darstellung des Menschen zu erschließen. Andererseits bedeutet diese Verbindung keine unmittelbare Fortsetzung, sondern eine dialektische Weiterentwicklung, die auch das Element der Negation in sich enthält. Es stellte sich nämlich die »Natürlichkeit« des musikalischen Kommunikationsmediums als ein täuschender Schein heraus. Das materielle Substrat der Tonkunst, das System der Töne und Akkorde, kann zwar über gewisse natürliche, physisch-akustische Grundlagen verfügen, seine innere logische Ordnung, seine »kadenzierte« Struktur kristallisierten sich jedoch nach menschlichen Aktionen und Passionen heraus. Die verdinglichte O b jektivität dieses Systems zu entziffern, die in ihm konfigurierten menschlichen Lebensinhalte zu rekonstruieren, die wirklichen Bedeutungskreise der in der Materie verborgenen objektiv-subjektiven Ausdrucksmöglichkeiten zu bestimmen, ist die Hauptaufgabe der philosophischen Musikästhetik. So sind wir wieder an die Schwelle einer hermeneutischen Untersuchung gelangt. Die Bedeutungslehre erhält jedoch diesmal einen radikal neuen Sinn. Sie braucht nicht — wie bei Aristoteles — die Ethosarten aus den Nomostypen zu erschließen, und nicht — wie bei Mattheson und Grétry — nach den Affektgehalten typischer Melodiewendungen zu forschen. Z u m ersten Mal wird jetzt das in seiner Totalität aufgefaßte Tonsystem zum Gegenstand der semantischen Rekonstruktion. Hegel verheißt die reale Möglichkeit, die bisher ständig reproduzierte Entzweiung von Musiktheorie und Musikästhetik zu überwinden. Sein Programm wurde bereits in der Phänomenologie des Geistes skizziert, als gefordert wurde, die verdinglichten Produkte des Geistes subjektiv zu beleben und die im Innern der totgeglaubten Substanz verborgene aktive Subjektivität zu neuem Leben zu erwecken. Auch die Hegeische Musikästhetik will dieses P r o g r a m m ver233

wirklichen. Ihre höchste theoretische Ambition ist es also gerade, im angeblich naturwüchsigen Kommunikationsmedium der Musik die Tätigkeit der Subjektivität — die Bewegung des »Geistes« — zu beleben und so die Entfremdung der Musiktheorie von der Musikästhetik zu beheben. Nach den vorausgeschickten Erörterungen kann uns die Tatsache nicht wundernehmen, daß eine derartige dialektische Belebung des Tonsystems bei Hegel nur als ein untergeordneter Teil der objektiv-idealistischen Gesamtkonzeption erscheinen kann. Es genügt, wenn wir nur auf den Grundsatz dieser Konzeption, auf die These von der Subjekt-Objekt-Identität hinweisen, die als idealistisches Prokrustesbett die vorhin skizzierte Entfremdungstheorie der Phänomenologie des Geistes in ihren Grundlagen verzerrt. Hegel wird nämlich nicht nur in den wahrhaft verdinglichten Produkten der menschlichen Tätigkeit, den »Kulturgütern«, der Symptome der Entfremdung gewahr, sondern deutet — aus der idealistischen Identifikation v o n Subjekt und Objekt heraus — auch die objektive Wirklichkeit selbst als das entfremdete A n derssein des Geistes. Die spezifische Verbindung genialer Entdeckungen und idealistischer Konstruktionen erscheint auch dann, wenn wir die Hegeische Analyse des Tonsystems untersuchen. Bereits der Ausgangspunkt ist widerspruchsvoll. Mit vollem Recht betont Hegel, daß das im System der Akkorde zur Geltung kommende Quantum, die Zahlennatur der Tonverhältnisse, nur in bezug auf ihre physikalischakustische Grundlage als natürliches Produkt anzusehen sei. Es fragt sichjedoch, was dann das eigentliche Maß der Gegliedertheit der musikalischen Vorgänge, der»kadenzierten« Formung bildet. Was ist das eigentlich ordnende Prinzip der dialektischen Bewegung des musikalischen Kommunikationsmediums? Die klassische deutsche Philosophie lehnt — in Beantwortung dieser Frage — die mechanische Auffassungsweise von vornherein ab. Charakteristisch ist, daß sowohl der junge Schelling wie auch der das akustische Pendant der Farbenlehre planende Goethe im Tonsystem eine Art von organischer Totalität erblicken, die v o m Pendelzug der zentripetalen und zentrifugalen Kraft mit Lebendigkeit geladen wird. Dieser Lösungsversuch ist zwar im Vergleich zur Musiktheorie mechanistischen Charakters im 18. Jahrhundert ein bedeutender Fortschritt, aber er kann das eigentlich Problematische doch nicht beheben. Letztlich bleibt Goethe, wie wir sahen, beim Analogievergleich von menschlicher Natur und Rhythmik stehen, und die Philosophie der Kunst bei Schelling möchte geradezu in den inneren Strukturgesetzen das Analogon der Bewegungen des »Weltorganismus« entdecken und fällt damit in einen extrem irrationalistisch gestalteten Pythagoreismus zurück. Diese Mystik läßt dann notwendigerweise auch die in dialektische Richtung weisenden bedeutendsten Gedankengänge Schellings in einer Sackgasse enden; »die notwendige Form der Musik«, das musikalische »Urphänomen«, wird bei ihm deshalb eine, den sowieso mystifizierten Vorgängen des Kosmos analoge, reine »Sukzession«.36 Die romantische Musikphilosophie ist, wie wir noch sehen werden, nicht zufällig mit der hier auftauchenden irrationalistischen Deutung der Gesetzmäßigkeiten des Tonsystems verbunden; in der Harmonieordnung und Formenwelt der als reine Sukzession aufgefaßten Musik gilt die »schöpfende Genialität«, die subjektivistische und irrationalistische Willkür als das einzige Maß, wobei sie nur schlecht und recht durch eine kosmische Pseudoobjek234

tivität verhüllt werden kann. So deutete auch Friedrich Schlegel die Sukzessivität der Musik, als er die Ironie als »klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos« definierte.37 Die idealistische Grundhaltung versperrt nun auch Hegel den Weg zur Lösung der bestehenden Frage. An die Stelle des Prinzips des Natürlichen setzt Hegel eine Auffassung, die sich, auf seinem System beruhend, aus der Identität von Subjekt und Objekt ergibt. Trotzdem lehnt Hegel den Schellingschen Irrationalismus entschieden ab. Sein aus der Phänomenologie des Geistes bekanntes Programm spornt ihn dazu an, sämtliche entfremdeten Produkte der menschlichen Tätigkeit dem Geist zurückzuerobern. Deshalb begnügt er sich nicht mit kosmischen Analogien; er möchte das Tonsystem in seinem anthropozentrischen Wesen erfassen und folgt daher hier Goethe und nicht Schelling. So wird seine musiktheoretische Grundthese verständlich, der zufolge das maßlose Weiterströmen der Töne, die Schellingsche reine Sukzession, vom inneren Gehalt des Ich, dem Selbst, eingedämmt wird. Dieses Selbst ist letztlich bei Hegel nichts anderes als der die Inhalte des Lebens verarbeitende subjektive Geist, der die chaotisch fließenden Töne nach seinem eigenen Bild zu formen vermag, sie mit Hilfe der Höhenordnung und der Rhythmik zu einem artikulierten Ausdruck gliedert: »Das Ich . . . ist nicht das unbestimmte Fortbestehen und die haltungslose Dauer, sondern wird erst zum Selbst als Sammlung und Rückkehr in sich. . . In dieser Sammlung liegt aber wesentlich ein Abbrechen der bloß unbestimmten Veränderung, als welche wir die Zeit zunächst vor uns hatten, indem das Entstehen und Untergehen, Verschwinden und Erneuen der Zeitpunkte nichts als ein ganz formelles Hinausgehn über jedes Itzt zu einem anderen gleichartigen Itzt und dadurch nur ein ununterbrochenes Weiterbewegen war. Gegen dies leere Fortschreiten ist das Selbst das Beisichselbstseien.de, dessen Sammlung in sich die bestimmtheitslose Reihenfolge der Zeitpunkte unterbricht, in die abstrakte Kontinuität Einschnitte macht und das Ich, welches in dieser Diskretion seiner selbst sich erinnert und sich darin wiederfindet, von dem bloßen Außersichkommen und Verändern befreit.«38 Der musikalische Vorgang enthält also notwendigerweise die Gegliedertheit der in der Zeit sich abspielenden und kontinuierlichen Sukzession; diese Gegliedertheit wird durch den inneren Gehalt des Ich mit Leben und Sinn ausgefüllt. Hegel entdeckt also — in krassem Gegensatz zu Schelling — nicht in der reinen Sukzession, sondern in der den inneren Gehalten des Selbst entsprechend artikulierten, gegliederten Sukzession die allgemeinste Bestimmtheit des dem Ausdruck der musikalischen Innerlichkeit dienenden Mediums. Das Prinzip der »Kadenziertheit« gewinnt in diesem Zusammenhang einen neuen, vollständigeren Sinn: es bedeutet die Forderung nach Gliederung des musikalischen Geschehens, des Klangvorganges. Nun wird diese »Kadenziertheit« nicht durch subjektive und partikulare Willkür des Komponisten erschaffen. Die Gegliedertheit der Form hängt bei Hegel mit den inneren Lebensinhalten und -gefühlen des Selbst, also der inhaltsvollen, substantiellen Innerlichkeit zusammen. Musiktheoretisch zielt dies auf die Dechiffrierung der Bedeutungsordnung der gereiften klassischen Tonalität ab. Indem Hegel das Wesen der kadenzierten Gegliedertheit als eine Identität von Identität und Nicht-Identität bestimmt, weist er auf den wesentlichsten Charakterzug der Tonalität hin. Er erkannte, 235

daß die tonale Komposition samtliche Elemente des musikalischen Vorganges, also Zeitmaß, Rhythmus, Harmonik, Form, Melodie, ja sogar Instrumentalisierung bzw. musikalische Bearbeitung des dichterischen Textes zu einer strukturellen Einheit h o mogenisiert, in welcher eine monozentrische — und zwar anthropozentrische, Selbstzentrische — Zeitperspektive zur Geltung kommt. Der Rhythmus ist beispielsweise vom formalen Gesichtspunkt aus die Einheit von gleicher und ungleicher Zeitgliederung ; wenn nun in dieser Einheit letztlich — also nicht unmittelbar—dieGleichheit zum entscheidenden Moment wird, so motiviert Hegel dies mit dem Erfordernis der Rückkehr des selbstbewußten Seins zu sich selbst und der mit sich selbst gebildeten inhaltvollen Einheit. In demselben Geiste spricht er von der Harmonie als dem dialektischen Zusammenhang der Konsonanz und Dissonanz, von der Melodie als einer höheren Versöhnung im Kampfe von Freiheit und Notwendigkeit (melodiebildende Idee und harmonische Fundierung) usw. Eine der größten theoretischen Errungenschaften in Hegels musikalischen Erörterungen besteht darin, daß er die im obigen Sinne verstandene anthropozentrische Ordnung der sukzessiven Reihe der Töne und Akkorde in der bewegten Totalität sämtlicher Formelemente erschließt. So ergibt sich die Möglichkeit zu einer einheitlichen Erörterung der anscheinend voneinander unabhängigen und gewöhnlich nur in pädagogischer Absicht getrennten musiktheoretischen Disziplinen (Rhythmik, Harmonielehre, Melodik, ja sogar Instrumentationslehre). Wir haben es hier mit der tiefsten Analyse der entwickelten Tonalität zu tun, mit der Analyse jenes tonalen Systems, das der Wiener Klassizismus, vor allem Haydn und Mozart, zur Vergegenwärtigung des harmonisch und vielseitig entwickelten Menschen, zur Darstellung des Schönen angewandt hat. Denn wenn Hegel den Grundformeln der Rhythmik oder Harmonieordnung eine triadische Konstruktion zuschreibt, so ist dies durchaus kein Gedankenspiel; die der dialektischen Logik entlehnten Kategorien bilden die Erscheinungen der wirklichen musikalischen Praxis ab, die Grundfiguren des Rhythmus, das ausgeglichene Gleichgewicht zwischen statischen und dynamischen Elementen der funktionell-tonalen Ordnung usw., und hinter der anscheinend rein formalen Triade taucht immer der die Haltung des »Selbst« bestimmende objektive Lebensinhalt auf. Wir möchten hier als eines der schönsten Beispiele jene Analyse erwähnen, die sich auf die inhaltliche Bestimmtheit der akkordischen Weiterbewegung der Dreiklänge bezieht. Hegel sieht in den Hauptdreiklängen abstrakte Identität, konsonante Akkordstrukturen, die eine makellose und ungestörte Harmonie ausstrahlen. Wirkliche Lebensinhalte, insbesondere die Lebensinhalte der nachrevolutionären bürgerlichen Ordnung zerrütten natürlich diese abstrakte Harmonie: »Dies macht die eigentliche Tiefe des Tönens aus, daß es auch zu wesentlichen Gegensätzen fortgeht und die Schärfe und Zerrissenheit derselben nicht scheut. Denn der wahre Begriff ist zwar Einheit in sich: aber nicht nur unmittelbare, sondern wesentlich in sich zerschiedene, zu Gegensätzen zerfallene Einheit. So habe ich z. B. in meiner Logik den Begriff zwar als Subjektivität entwickelt, aber diese Subjektivität als ideelle durchsichtige Einheit hebt sich zu dem ihr Entgegengesetzten, zur Objektivität auf; ja sie ist als das bloß Ideelle selbst nur eine Einseitigkeit und Besonderheit, die sich ein anderes, Entgegengesetztes, die Objektivität gegenüber behält und nur wahrhafte Subjektivität ist, wenn sie in diesen 236

Gegensatz eingeht und ihn überwindet und auflöst. So sind es auch in der wirklichen Welt die höheren Naturen, welchen den Schmerz des Gegensatzes in sich zu ertragen und zu besiegen die Macht gegeben ist. Soll nun die Musik sowohl die innere Bedeutung als auch die subjektive Empfindung . . . ausdrücken, so muß sie in ihrem Tonbereich Mittel besitzen, welche den Kampf von Gegensätzen zu schildern befähigt sind. Dies Mittel erhält sie in den dissonierenden sogenannten Septimen- und Nonenakkorden.« 39 Der harmonische Tonschluß verlangt geradezu die Auflösung dieser Dissonanzen. Zweifellos besteht hier das Bestreben, aus den Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Materials der entwickelten Tonalität heraus die in ihnen vergegenständlichten Lebensinhalte zu deuten. Allerdings werden auch diesem Vorstoß dialektischen Denkens durch das idealistische System Schranken gesetzt. Wir sahen, daß die dialektische Bewegung des musikalischen Materials vom Standpunkt der Subjekt-Objekt-Identität aus nichts anderes ist, als die abstrakte Spiegelung der Hauptentwicklungstendenzen des sein eigenes Wesen bewußmachenden, in sich konzentrierten Ich in der inneren Struktur des Tonsystems. Es ist natürlich unmöglich, die Elemente des Subjektivismus aus dieser Konzeption restlos zu entfernen. Natürlich bleibt der Subjektivismus ein unüberwindliches Grundelement in jedem bürgerlichen idealistischen Weltbild; sein latentes Vorhandensein kann jedoch durch die objektive idealistische Mystifikation verborgen werden. Zweifellos werden bei der Hegeischen Erörterung der Plastik, des Epos oder der Tragödie diese latenten Elemente des Subjektivismus in den Hintergrund gedrängt. Anders verhält es sich aber bei den spezifischen Künsten der doppelten Mimesis. Die Kunsttheorie der Musik und der Lyrik reagiert — worauf wir bereits in anderem Zusammenhang hingewiesen haben — empfindlicher auf die Schwächen oder das Verschwinden der materialistischen Widerspiegelungstheorie als die Ästhetik der übrigen Künste. Es genügt, wenn wir an die Definition des Selbst denken; das in sich konzentrierte Ich bleibt durchgehend eine idealistisch zweideutige Kategorie, weil die Konzentrierung ebenso das Aneignen der Inhalte der objektiven Welt bedeuten kann wie die formale Haltung und innere Sammlung des nur auf sich bezogenen Ich. Obwohl der gegen den Schellingschen Irrationalismus polemisierende, die Musik überhaupt nicht als »reine Sukzession« betrachtende Hegel — wie wir es im Zusammenhang mit der Definition des musikalischen Maßes gesehen haben — das Selbst eher im ersteren Sinne als ein von objektiven Inhalten erfülltes Ich auffaßt, fehlen in den Hegeischen Erörterungen über Musik auch die letzteren, unverhohlener in subjektivistische Richtung weisenden Bestimmungen nicht. An einer Stelle zitiert Hegel zum Beispiel zustimmend jene scholastische These, der zufolge das Gehör unter den Sinnen am stärksten ideellen Charakter trage und hierin sogar das Sehen übertreffe. Die Stimme sei also der der inneren Subjektivität am meisten entsprechende Ausdruck. Daraus folgt: »Für den Musikausdruck eignet sich deshalb auch nur das ganz objektlose Innere, die abstrakte Subjektivität als solche. Diese ist unser ganz leeres Ich, das Selbst ohne weiteren Inhalt. Die Hauptaufgabe dei Musik wird deshalb darin bestehn, nicht die Gegenständlichkeit selbst, sondern im Gegenteil die Art und Weise wiederklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst seiner Subjektivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist.«40 Wenn dagegen das 237

Ich »vollkommen rein« ist, so kann nur die reine Zeit jenes Medium sein, in dem es lebt und sich bewegt. Aus solchen Prämissen folgt logisch der Satz, daß das im musikalischen Material wirkende Maß ausschließlich Zeitmaß sein kann. Demzufolge findet die Musik in der Sphäre der reinen Zeitlichkeit ihr eigenes Lebenselement. Erinnern wir uns an Lessings Kompositionsauffassung, so können wir alsbald einsehen, daß diese Hegeische Deutung des Zeitlichen der Musik nicht nur die Erkenntnis der künstlerischen Wirklichkeitsspiegelung problematisch macht, sondern auch einer konsequenten Weiterentwicklung der in der Aufklärung keimenden dialektischen Methode den Weg versperrt. Räumlichkeit oder Zeitlichkeit sind bei Lessing nur ein überwiegendes Moment, das die transformierte, in der Totalität der Komposition aufgehobene Gegenwart des entgegengesetzten Moments nicht ausschließt. Letzlich ist es Hegel nicht möglich, diese Dialektik, die ein materialistisches Weltbild voraussetzt, zu Ende zu denken. »Nun ist zwar jede Bewegung eines Körpers immer auch im Räume vorhanden, so daß die Malerei und Skulptur, obschon ihre Gestalten der Wirklichkeit nach in Ruhe sind, dennoch den Schein der Bewegung darzustellen das Recht erhalten; in betreff auf diese Räumlichkeit jedoch nimmt die Musik die Bewegung nicht auf, und ihr bleibt deshalb zur Gestaltung nur die Zeit übrig, in welche das Schwingen des Körpers fällt.« 4 ' Auf solcher Grundlage wird natürlich nicht nur die Überwindung des Kantischen Subjektivismus und Formalismus zweifelhaft, sondern auch die Berechtigung der Schelling-Kritik; die Vorstellung der Sphäre der reinen Musik verbindet sich unvermeidlich mit der Vorstellung der reinen Sukzessivität. Die «Kadenziertheit« des Tonsystems wäre unter solt hen Voraussetzungen nur das Produkt der subjektiven Willkür, welche Schlußfolgerung bei Fichte und Schelling, insbesondere aber in der Frühromantik, ihre Formulierung fand. Es zeugt von Hegels denkerischer Größe, daß er der Lockung eines derartigen Irrationalismus nicht nachgibt und versucht, den Grundsatz seines idealistischen Systems, die Subjekt-Objekt-Identität, mit den dialektischen Grundlagen seiner Methodik in Einklang zu bringen. Hierdurch wird in seinen musikästhetischen Erörterungen die innere Widersprüchlichkeit der Gedankengänge noch gesteigert. Dabei entfaltet sich aber auch als Ergebnis dieser Anstrengungen die einzigartig reiche und tiefe philosophisch-ästhetische Analyse der Wiener Klassik, womit die Ästhetik Hegels auch vom musiktheoretischem Gesichtspunkt aus zu einer Höchstleistung des bürgerlichen Denkens gerät. Wir möchten hier erneut auf den Fragenkreis der Weiterentwicklung der Affektenlehre hinweisen. Hegels problematisches Verhältnis zur Aufklärung ist bekannt. Die Tatsache, daß seine ästhetische Konzeption unter den bereits erörterten gesellschaftlichen und ideologischen Umständen des nachrevolutionären Weltzustandes zu einem philosophisch fundierten und ausgereiften Gedankensystem fortschritt, beeinflußte natürlich in entscheidendem Maße die Art der Weiterentwicklung der Affektenlehre. Das wichtigste Moment in diesem Zusammenhang ist der Einfluß, der nach der Französischen Revolution von der sich herausbildenden bürgerlichen Ordnung ausgeht, die die Citoyen-Illusionen zerstört und die vorausgesetzte Einheit und Koinzidenz von individuellem und allgemeinem Interesse illusorisch macht. Die 238

Auflösung der Citoyen-Ideologie rührt nämlich an die Grundlagen des als unmittelbare Einheit von Einzelnem und Allgemeinem, Objektivem und Subjektivem charakterisierten Affektenbegriffs: die Universalität der Affekte, die relative Einheit und »Allgemeinverständlichkeit« der Gefühlswelt können nur in stabilen Gemeinschaften zum formgestaltenden Faktor werden. Nun beruht die Ästhetik Hegels — und bei weitem nicht nur bezüglich der Tonkunst — auf jener in ihren Hauptlinien richtigen Erkenntnis, daß die bürgerliche Gesellschaft der Entwicklung der Künste nicht günstig ist. Einer der zentralen Gedanken der Ästhetik besagt, daß sich jene plastische Einheit von Idee und Gestalt, von Substantialität und Individualität, die das Wesen des Kunstschönen, des »Ideals« ausmacht, auf dem Boden der modernen Wirklichkeit auflöst, was zulezt zur Vorherrschaft der prosaischphilosophischen Reflexion führt. Diese Erkenntnis ist nicht nur in ideologiegeschichtlichem Sinne, sondern auch in der persönlichen Entwicklung Hegels das Ergebnis einer tiefgreifenden weltanschaulichen Krise. Wir möchten uns hier nur auf die Zusammenhänge von Weltanschauung und Musikauffassung berufen. Der junge Hegel begeisterte sich noch für die Massenmusik der durch die Revolution zu neuem Leben erweckten großen antiken Volksfeste, er ahnte in ihnen eines der großen Versprechen der Erneuerung der antiken politischen und künstlerischen Öffentlichkeit, das Gegenbild des — aus der christlichen Religion nicht wegzudenkenden und von ihm in seinen frühen Schriften scharf verurteilten — weltanschaulich-ästhetischen Individualismus. Die Phänomenologie des Geistes verkörpert hingegen auch in dieser Hinsicht den Ausdruck der nachthermidorischen Krise, bzw. das großangelegte philosophische Dokument der nachrevolutionären Desillusionierung. Dort löst sich jede Hoffnung auf Erneuerung der antiken Kunst (und mit ihr der antiken Polisdemokratie) bereits als Selbsttäuschung auf: »Die Bildsäulen sind nun Leichname, denen die belebende Seele, sowie die Hymne Worte, deren Glauben entflohen ist: die Tische der Götter (sind) ohne geistige Speise und Trank, und aus seinen Spielen und Festen kommt dem Bewußtsein nicht die freudige Einheit seiner mit dem Wesen zurück. Den Werken der Muse fehlt die Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging... So gibt das Schicksal uns mit den Werken jener Kunst (d. h. des antiken Klassizismus, D. Z.) nicht ihre Welt, nicht den Frühling und Sommer des sittlichen Lebens, worin sie blühten und reiften, sondern allein die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit.« 42 Das Pathos des Ästhetischen, der aus der Widerspiegelung der Ethosinhalte resultierenden antiken Schönheit, versinkt also unwiderruflich in die Vergangenheit; das ästhetische Bewußtsein kann nur eines tun: es errichtet das Pantheon der Meisterwerke. In der Ästhetik fehlt bereits dieser elegische Ton. Hegel stellt nun mit der Ruhe der Tatsachenmitteilung die Auflösung und das Reflektiertwerden der anschaulichen Einheit von Substantialität und Individualität fest—jene von ihm unbezweifelte Tatsache, daß die Menschheit in der Kunst ihre eigene Welt und Interessen sich selbst nicht mehr bewußtmachen kann. Auf dieser Grundlage stellt er sich unter anderem der uralten — und während der Revolution neu erwachten — Vorstellung von der sogenannten Allgewalt, der weltgestaltenden Macht der Musik entgegen. » , , . die Gewalt der Marseillaise, des f