Das Beste von Hegel – The Best of Hegel [1 ed.] 9783428584154, 9783428184156

Zur Erinnerung an den 250. Geburtstag von Hegel versammelt dieser Band mit dem ungewöhnlichen Titel »Das Beste von Hegel

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German Pages 326 [327] Year 2023

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Das Beste von Hegel – The Best of Hegel [1 ed.]
 9783428584154, 9783428184156

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Philosophische Schriften Band 110

Das Beste von Hegel – The Best of Hegel Herausgegeben von Klaus Vieweg

Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS VIEWEG (Hrsg.)

Das Beste von Hegel – The Best of Hegel

Philosophische Schriften

Band 110

Das Beste von Hegel – The Best of Hegel Herausgegeben von Klaus Vieweg

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, 97222 Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-18415-6 (Print) ISBN 978-3-428-58415-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorbemerkungen Das Beste von Hegel – Gegen die unintelligente Wut auf sein Denken Nietzsche bedauerte, dass er in seiner Sicht auf Hegel der ,unintelligenten Wut‘ Schopenhauers gefolgt sei. Letzterer sah in Hegel einen Scharlatan, der bombastischen Unsinn und Humbug verbreitet. Wurde Hegel im 19. Jahrhundert als fanatisch-gottloser Atheist und Pantheist, der in Gestalt des begreifenden Denkens ein todbringendes Virus verbreite, oder als protestantischer Metaphysiker oder gar als preußischer Fürstenknecht attackiert, so erfolgten dann im 20. Jahrhundert die haltlosen Bezichtigungen als Vorläufer des Totalitarismus. Der sich hierbei hervortuende Karl Popper hofierte den Anti-Judaisten Fries, der bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein Zeichen an der Kleidung jüdischer Bürger forderte. Ein häufiges Grundmuster besteht meist in der infamen, jeder tieferen Prüfung aus dem Weg gehenden Verdrehung der Tatbestände: Obwohl Hegel den Apostel und Namensgeber der Restauration Karl Ludwig von Haller vehement wegen der These von der natürlichen Ungleichheit der Menschen, angreift, wurde die Mär über Hegel als Ideologen der Restauration geboren. Hingegen hatte schon Karl Rosenkranz Hegel dezidiert als Denker der Revolution verstanden. Alfred Rosenberg, einer der Chefideologen der Nazis, strafte den weltbürgerlichen Denker Hegel gerade wegen dessen Universalismus ab: ,kosmopolitischer, unvölkischer Narr‘. Heute gilt Hegel manchem noch immer als Absolutist, Onto-Theologe, als Dinosaurier der Metaphysik im sogenannten ,nachmetaphysischen‘ Zeitalter, als Logooder Eurozentrist. Hegels Denken allgemeiner Anerkennung und weltbürgerlicher Freiheit, sein Verständnis von Vernunft und Freiheit muss all diesen Interpretationsversuchen entgegengestellt werden. Hierbei gehört alles auf die philosophische ,Goldwaage‘ der begrifflichen Erfassung. Sofern aber Wahrheit nur noch auf Meinungen und subjektive Überzeugungen gründen soll, sofern an die Stelle seriöser Prüfung ideologisch gefärbtes, modisches Gerede oder bloß ,steile‘, Aufsehen erregende Thesen treten, gerät man auf die morsche Brücke von puren Annahmen und leeren Versicherungen. Man pflegt die leider wieder grassierende Unkultur des Verdachts ohne Beweis. Hegel verlangt hingegen die äußerst mühsame Anstrengung des Begriffs, was gelten soll, muss sich vor dem begreifenden Denken rechtfertigen. Die Philosophie muss dabei eine Begründung in ihrem ganzen systematischen Umfang liefern, nicht durch das Steinbruch-Verfahren willkürlich einzelne Stellen etwa aus Mitschriften von Vorlesungshörern herauszureißen. Beim letztgenannten Verfahren werden zugleich die universalistisch-weltbürgerlichen Gedanken einfach ,weggelassen‘, was zur Verzerrung und Entstellung der Hegelschen Kerngedanken führt. Ein offenkundiges Exempel hierfür ist das Ignorieren folgender, gegen jede Form

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Vorbemerkungen

von Diskriminierung und Rassismus gerichtete Stelle aus Vorlesungsnachschriften: „Aus der Abstammung kann aber kein Grund für die Berechtigung oder Nichtberechtigung der Menschen zur Freiheit und zur Herrschaft geschöpft werden. Der Mensch ist an sich vernünftig; darin liegt die Möglichkeit der Gleichheit des Rechts aller Menschen“.1 Tiefgreifendes Prüfen etwa von Hegels Logik oder seiner Rechtsphilosophie bleibt ein unumgehbares Erfordernis. Ein Fundament ist der angedeutete universalistische Grundgedanke Hegels als allgemeines Anti-Diskriminierungsprinzip: Es gehört dem begreifenden Denken an und vermag eben allein durch Gefühl oder Überzeugung nicht konstituiert werden, dass ein Ich „als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin Alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist“. Jegliche Knechtschaft ist aus seiner Sicht ein Verstoß gegen das Freiheitsprinzip. Nochmals: Im Status ,Sklave‘ bzw. ,Knecht‘ liegt ein fundamentaler Verstoß gegen den Begriff des Menschen als eines freien Wesens vor. Dies gilt auch für rassistische Positionen und das kolonialistische Muster ,Herrenstaat‘ und ,Knechtsstaat‘ als Form der Versklavung. Der Mensch wird Hegel zufolge in solchen Strukturen in ,seinem unendlichen Wert‘, in ,seiner unendlichen Berechtigung‘ nicht anerkannt – diese Aberkennung von Rechten wird von Hegel dezidiert abgelehnt und theoretisch destruiert. Für ihn war der weltbürgerliche Gedanke, die ,Anerkennung der ewigen Menschenrechte‘, von ,unendlicher Wichtigkeit‘!! Dass der Mensch als Mensch frei ist, gilt ihm als ,alleinige Quelle des Rechts‘. Für eine substantielle Auseinandersetzung mit Rassismus, Nationalismus und Populismus bleibt das begreifende Denken, die Anstrengung des Begriffs mehr denn je gefordert, hier speziell Hegels Betonung der Freiheit aller besonderen Einzelnen. Die präzise Unterscheidung von historischer Beschreibung und theoretischer Rechtfertigung ist eine unverzichtbare Bedingung für eine adäquate Interpretation. Hier kann kurz auf § 3 von Hegels Rechtsphilosophie hingewiesen werden: Sklaverei, Gewalt, Tyrannei können Elemente positiven, gerade geltenden Rechts sein, niemals Prinzipien des philosophischen Rechts, des Vernunftrechts. Die Rechtfertigung aus historischen Gründen darf sich nicht mit der Legitimation aus dem Begriff verwechseln, eine geschichtliche Erklärung (etwa der Sklaverei oder des Kolonialismus) nie mit einer an und für sich gültigen Rechtfertigung. Etwa wird die bürgerliche Gesellschaft wegen innerer Probleme zunächst über diese bestimmte Gesellschaft zur Kolonisation hinausgetrieben. Diese Diagnose impliziert keine theoretische Legitimation von kolonialer Unterwerfung und Unterdrückung – hingegen haben die Kolonien als ,Sklaven-Staat‘ ein vernunftgestütztes Widerstandsrecht und ihre Emanzipation erfüllt genau wie die Befreiung des Sklaven die Bestimmung des Vernünftigen. Ein Rechtsprinzip kann sich aus Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein. Jeder Unterdrückte oder Diskriminierte hat das Recht jeder Zeit seine Fesseln zu zerbrechen, er hat das unbedingte, uneingeschränkte Recht auf Anerkennung seiner Person. Hier haben wir die Rede vom Wegfallen der Zeitbestimmtheit, dieses Grundrecht ist 1

TWA 10, 57.

Vorbemerkungen

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eben im wahrsten Sinne unverjährbar und unveräußerlich, es hat absolute Geltung, ist nicht relativierbar. Eine moderne Verfassung als Gesetz der Freiheit muss dieses Recht, diese unantastbare Würde des Menschen voraussetzen. Wer diese Gedanken Hegels und die Widersprüchlichkeit der Vorgeschichte freier Existenz bei Seite setzt, beweist nur sein gravierendes Defizit an hermeneutischer Fähigkeit und an tieflotender Kenntnis der Hegelschen Philosophie. Aus der philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte wird ihr doppeltes Gesicht erkennbar – Freiheitsfortschritt und harte Knechtschaft des Menschlichen, furchtbarstes Gemälde von Trümmermassen und Schlachtbänken. Die Philosophie hat Hegel zufolge die Verpflichtung, den Gedanken, dass der Mensch als Mensch frei ist, der Mensch als solcher, in die Köpfe der Menschen hinein- und in die Welt hinaus zu bilden. Gerade die heutige Weltsituation nötigt zur Berücksichtigung von Hegels Denken von Freiheit und Geschichte.2 Die moderne Zeit interpretiert er als Anfang eines Zeitalters, in dem der Mensch (der Humanus) als neuer, höchster und letzter ,Heiliger‘ gilt und die Möglichkeit hat, sich dazu zu formieren – die Moderne als Chance auf den Beginn human gestalteter, freier Existenz. Die Gedanken von Freiheit und Recht sind als Grundprinzipien der Selbstverständigung und Selbstinterpretation sowie der institutionell-kulturellen Formationen zu entfalten. Begreifen und Gestalten der Freiheit, der conditio humana, vor dieser Herausforderung steht die Menschheit. Aus einer Hegelschen Perspektive ist dies aufgrund des notwendigen Freilassens der Kräfte der Willkür kein bequemes Unternehmen auf einfachen Pfaden, kein Spaziergang in piemontesischen Weinbergen oder buddhistischen Klostergärten Kyotos, kein entspanntes Flanieren auf den Hügeln um Jena. Es handelt sich eher wohl um die schwierigste und riskanteste Herausforderung für die Menschheit, die heute die Möglichkeit der Selbstvernichtung besitzt. Dieses Freiheitsprojekt gleicht einem großen Wagstück, gleicht einem Seiltanz ohne Fangnetz, es ähnelt einem Unternehmen, das zwar schon Siebenmeilenstiefel angelegt hat, aber sich in diesen noch wie in Kinderschuhen bewegt, noch am Anfang steht. Dies zeigt sich jetzt an verschiedenen Schauplätzen von Krieg, Hunger, Unterdrückung und Zerstörung von Lebensgrundlagen höchst schmerzvoll. Das Gelingen dieses Projekts Freiheit, das wesentlich in der Hand der Menschheit liegt, kann nie sicher sein kann, es kann stets verfehlt werden. Sollte es scheitern, so würde Hegels Antwort lauten: Umso schlimmer für die gesamte Menschheit. Die wichtigste Botschaft Hegels in diesem Kontext besteht wiederum in der Forderung nach der Anstrengung des Denkens. Dieses denkende Prüfen bildet das Kerndefizit der Fundamentalismen jeglicher Couleur, jeder ideologisch motivierter Attacken auf den Universalismus. Hegel zufolge führt die Macht aller solch abstrakter, nicht durchs Denken legitimierter Vorstellungen zum Fanatismus, zur Herrschaft der ,Furien des Zerstörens und Vernichtens‘. Ende der Geschichte aus Hegelscher Perspektive bedeutet im Sinne der Frage Schillers Wozu und zu welchem Ende stu2 Die folgenden Gedanken wurden vor 10 Jahren geschrieben: Klaus Vieweg: Das Denken der Freiheit. Hegels Philosophie des Rechts, München 2012.

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Vorbemerkungen

diert man Universalgeschichte, dass die Bestimmungen von Freiheit immer wieder neu zu fassen und neue Formen ihrer Konstitution auf dem Schauplatz der Welt zu denken sind. Ein solches Denken in vernünftiger, freiheitlicher und weltbürgerlicher Absicht kann dem Menschen helfen, frei leben zu lernen. Die ,unintelligente Wut‘ und die diffamierenden Lügenmärchen sehr verschiedener Couleur sind leider noch immer an der Tagesordnung, so bleibt ein tiefschürfendes, seriöses, dem Anspruch von Wissenschaft genügendes Studium des Hegelschen Gesamtentwurfes unverzichtbar. ** Zur Erinnerung an den 250. Geburtstag von Hegel am 27. August 2020 fand im Juni 2021 in Jena eine internationale Tagung statt, mit dem ungewöhnlichen Titel „Das Beste von Hegel – The Best of Hegel“. Die Gäste aus verschiedenen Regionen dieser Erde – aus Japan, Taiwan, Italien, aus den Niederlanden, USA, Frankreich, Korea, Tschechien, Griechenland, Kolumbien, Spanien und Deutschland – waren gebeten, theoretische bedeutende und heute noch wirkungsmächtige Gedanken Hegels zu behandeln. Es ging um ein einziges Thema, jeder Beiträger versuchte, das zu pointieren, was ihm als das Beste in Hegels Philosophie gilt, was zu dem theoretisch Herausragenden dieser Philosophie zählt. Von besonderem Gewicht war das Gespräch zwischen international bekannten Hegel-Experten mit einigen für die Zukunft der Hegel-Forschung stehenden Nachwuchsforschern. In den gehaltvollen und spannenden Debatten ging es nicht um Apologie oder Hagiographie, sondern um ein kritisches Interpretieren und kreatives Aufarbeiten der Theoriepotentiale dieser Philosophie und dezidiert gegen die ,unintelligente Wut‘ auf den Aristoteles der Neuzeit, den bedeutendsten Philosophen der Moderne, dessen Gedanken auch die nächsten 250 Jahre grundlegend prägen werden. Das Spektrum der jetzt vorliegenden Texte reicht von Hegels moderner Logik bis hin zu Lehrstücken aus der Philosophie des Geistes. Besonderer Dank geht an Hans Friedrich Fulda, der einen früheren Text zur Verfügung stellte. Es ist eine spezielle Freude, dass der vorliegende Band im Verlag Duncker & Humblot erscheint, dem Verlag, in welchem die erste Ausgabe von Hegels Werken gedruckt wurde, die legendäre Freundesvereinsausgabe. Zu danken ist ebenfalls Johannes Bräuer und Anselm Richter für die umsichtige Organisation der Tagung und die redaktionelle Arbeit am Sammelband. Die internationale Tagung im Entstehungsort des Deutschen Idealismus und der Grundgedanken Hegels wurde äußerst großzügig von der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen gefördert, besonderer Dank geht auch an die Friedrich-Schiller-Universität Jena mit ihrem Präsidenten Prof. Walter Rosenthal. Klaus Vieweg

Frühling 2022

Inhaltsverzeichnis Übergreifende Themen Hans Friedrich Fulda Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

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Christian Krijnen System der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dina Emundts Hegels Auffassung von Kritik als das Beste seiner Philosophie . . . . . . . . . . . . .

49

Rafael Aragüés Aliaga Idealismus und Philosophie bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Wolfgang Welsch Der absolute Wille zu begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Ralf Beuthan Ein Hegelianisches Modell Interkultureller Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Phänomenologie und Logik Andreas Schmidt Hegel und das Gewicht der Erfahrung in der ,Phänomenologie des Geistes‘ . . . 105 Jean-François Kervégan Das absolute Wissen – sparsam gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Klaus Vieweg Hegel im Wunderland – Die moderne Verlegenheit um den Anfang der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Folko Zander Die bestimmte Negation als Hegels Grundoperation, am Beispiel des Seins . . . 139 Friedrike Schick Hegels Wende in der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ermylos Plevrakis Begreifendes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Sebastian Stein Philosophische Vernunft und wir: Begriffliche Wahrheit bei Fichte und Hegel

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Inhaltsverzeichnis

Jannis Kozatsas Die begriffliche Struktur des Sinnlichen. Eine Erörterung der sinnlichen Gewissheit vom Standpunkt der Begriffslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes Luca Illetterati Das lebende Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Robert Pippin Hegel’s Realism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Thomas Pogge Hegel und die Zukunft der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Giulia Battistoni Hegels Handlungstheorie und ihr Erbe: einige Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Taiju Okochi Hegels pluralistisches Staatskonzept. Über die Geschichte und Aktualität des Korporationsbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts . . . . . . 253 Nikolaus Knoepffler Hegels Philosophie als Grundlage zur Überwindung von Diskriminierungen . . . 269 Weimin Shi Der Geist als „die wirkende Gattung in der Weltgeschichte“ . . . . . . . . . . . . . . . 279 Tereza Mateˇ jcˇ ková Einmal ist keinmal: Wiederholung als Form des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Francesca Iannelli Die Omnipräsenz von Hegels Philosophie und insbesondere seiner Ästhetik: ein Kabinett hegelianischer Kuriositäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Übergreifende Themen

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes1 Hans Friedrich Fulda Freiheit, deren Begriff Kant in der Vorrede seiner zweiten Kritik als „den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft“ bezeichnet hatte,2 war schon Mitte der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts für Schelling, den Freund Hegels und genialen, jungen Jenaer Kollegen Fichtes, und wenig später wohl auch für Fichte selbst nicht nur „Schlußstein“, sondern das „A und O aller Philosophie“.3 Doch Freiheit als solches Alpha und Omega adäquat zu denken und ihren Gedanken überzeugend zu rechtfertigen, das blieb seit 1795 und das ganze erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hindurch eine unerledigte Aufgabe – wenn nicht sogar das zentrale Problem eines überzeugenden, kantisch-nachkantischen Idealismus, wie er zunächst in Jena seinen akademischen Mittelpunkt hatte. Im Folgenden werde ich zunächst dem einen – Hegelisch verstanden – rein logischen Begriff und seiner Entwicklung gebührende Aufmerksamkeit schenken, dann aber von hier aus das Wesen des Geistes überhaupt als Freiheit, die sich manifestiert und dabei verwirklicht, thematisieren und die Freiheitsverwirklichung zuletzt an einigen exemplarischen Manifestationen verdeutlichen. Die dabei leitende Hoffnung ist, dass sich auf diese Weise die einzigartige Vielfalt der Bestimmungen begreifen lässt, welche bei Hegel nicht nur den reinen Begriff als das Freie auszeichnen, sondern auch die Bedeutung jener Bestimmungen in zahlreichen, realphilosophisch zu denkenden Vorkommnissen von Freiheit fassbar werden lassen. I. Der eine Begriff als das Freie Für Hegel ist im Unterschied zu Kant und Fichte das exemplarisch Freie nicht ein rein praktisches Bewusstsein oder Selbstbewusstsein, das wir haben, und auch nicht dessen jeweiliges „Ich“ und „Subjekt“, welches zumindest jeder von uns ist, wer auch immer sonst noch es sein mag, oder aber nicht sein kann. Das ursprünglich und vor allem anderen Freie ist vielmehr der eine Begriff selbst, wie er sich einer ,Wissen1

Überarbeitete Fassung eines bereits früher publizierten Textes. Kant, KpV, S 3 f. (Akademieausgabe Band V). 3 Vgl. F. W. J. Schellings Brief an Hegel vom 4. Febr. 1795. In: Briefe von und an Hegel. Hg. v. J. Hoffmeister, Bd. 1, Hamburg 1952, S. 22 und J. G. Fichtes Entwurf eines Briefs (an Jens Baggesen?) vom April oder Mai 1795. In: GA III/2, S. 298. 2

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Hans Friedrich Fulda

schaft der Logik‘ in unaufhaltsamem Überschreiten aller metaphysischen Grundbegriffe des Realen sowie Wirklichen konsequenterweise ergibt, nicht aber einer kurzschlüssigen, von der Reflexion aufs eigene „Ich“ ausgehenden Abstraktion verdankt: der eine Begriff nämlich, dessen Abhandlung das ganze letzte der drei Bücher füllt, aus denen die Hegelsche ,Logik‘ besteht. Im Kontext des hier zu bearbeitenden Themas ist das wohl der bedeutendste der Schritte, welche Hegel getan hat, indem er über die vor ihm hervorgetretene kantisch-nachkantische Freiheitsphilosophie hinausging und Freiheitsbestimmungen der früheren, „vormaligen“ Metaphysik korrigierte. Denn der eine, reine Begriff, wie ihn die von Hegel konzipierte ,Logik‘ abhandelt, ist eine sehr komplexe Konfiguration von Gedankenbestimmungen mit einer ihnen innewohnenden Dynamik und aus ihr hervorgehenden Prozessualität, die sich durch zahlreiche Glieder und Unterstrukturen von jeweils noch einmal eigener Dynamik hindurchzieht. Die Stadien dieser Prozessualität machen alle zusammen die eine Entwicklung des einen Begriffs aus. Aber sie haben – und der eine Begriff hat in ihnen – die höchsten Begriffe der älteren Metaphysik nebst allen ihnen vorhergegangenen begrifflichen Bestimmungen, die sich schon in sie aufgehoben haben, sich untergeordnet, ja „unterworfen“4 und vor allem deren Fundamentalität sowie Selbständigkeit hinter sich gelassen. So kommen den Bestimmungen, deren Herausarbeitung sich der für Hegel „vormaligen“ Metaphysik verdankt, im Kontext des einen, reinen Begriffs und seiner Entwicklung nur noch untergeordnete Rollen zu: Wenn nicht sogar bloß die von irgendwie „Beiherspielendem“, so einerseits insbesondere diejenige inhärenter Momente (wie z. B. der in Freiheit aufgehoben enthaltenen Wechselwirkungs-Notwendigkeit, die zur Freiheit „erhoben“ ist, sowie der ebenfalls zur Freiheit gewordenen Zufälligkeit);5 andererseits aber die Rolle der Abwehr von Missverständnissen durch ausdrückliche Abgrenzung. Jedenfalls begrenzen die dem reinen Begriff vorhergegangenen logischen Bestimmungen so, wie sie in der vormaligen Metaphysik gedacht wurden, den einen, reinen Begriff nicht in seine Tiefe hinein. – Was aber genau, hat das mit frei sein zu tun? Ein Überblick übers Ganze der Hegelschen Auffassung von philosophischer Wissenschaft, der innerhalb solcher Wissenschaft freilich nur ein Rückblick, außerhalb davon aber nur einleitend sein kann, gestattet wohl zu sagen: In der allumfassenden Perspektive des sich philosophierend betätigenden absoluten Geistes erscheint die philosophische Wissenschaft, wie Hegel sie in Konkurrenz mit anderen philosophischen Bemühungen und in Abhebung von älterer Philosophie nicht zuletzt innerhalb seiner ,Logik‘ betreibt, „als ein subjektives Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und

4

Vgl. GW 12, 14; 24. (217,1; 229). – Die in „( )“ gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf die immer noch, z. B. von mir, benutzte Logik-Ausgabe in Sämtliche Werke, hrsg. v. G. Lasson; ebenfalls bei Meiner, z. T. aber noch in Leipzig, 1934 u. ö. – Die Schreibweise der Worte in den zitierten Textpassagen folgt den gegenwärtigen Rechtschreibregeln bzw. der Meiner’schen Studienausgabe der Logik (Hamburg 1994). 5 GW 11, 408 f. (203,2 – 204).

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

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es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen.“6 In dieser die ,Logik‘ als erste und letzte Wissenschaft thematisierenden Perspektive ist der eine, rein logische Begriff schon insofern das Freie, als er von der Dominanz sowie universellen Grundlegungsfunktion der Bestimmungen sowohl vormaliger Metaphysik und ihrer Erkenntnisvoraussetzungen als auch spezifischer Erkenntnisvoraussetzungen der Transzendentalphilosophie befreit ist; befreit nämlich vom sogenannten Begriff des Seienden als solchen und von dessen Bestimmungen, aber auch von Fixierung auf ein „seienderweise“ (ómtyr) oder „in Wahrheit“ Seiendes; ferner: von der Fundamentalbestimmung ,Wesen‘ sowie vom diametralen Gegensatz zwischen Wesen und Erscheinung mit den ihnen darin zukommenden Bestimmungen, ja, selbst von den basalen Bestimmungen der Wirklichkeit, wenn diese nach der Weise vormaliger Metaphysik gedacht wird als etwas, das vorausgesetztem, wesenhaft Seiendem zukommt – und zwar sowohl dann, wenn die Wirklichkeit dabei einem oder dem einen Absoluten zugedacht wird, als auch dann, wenn sie ausgesagt wird über etwas, bezüglich dessen sich Möglichkeit im Gegensatz zu Unmöglichkeit sowie Notwendigkeit im Gegensatz zu Zufälligkeit voneinander abheben; ebenso aber für den Fall, dass Wirklichkeit in spezifischen Verhältnissen wie denen zwischen Substanz und Akzidenz, kausal Bewirkendem und Bewirktem oder in Wechselwirkung miteinander Stehendem gedacht wird. Last but not least jedoch auch im Fall der Wirklichkeit einer – sei’s spinozistisch, sei’s im Sinne der Leibnizschen Monadologie verstandenen – absoluten Substanz und ihrer Kausalität, oder aber ihrer im Wechselwirkungsverhältnis stehenden kausalen Notwendigkeit und Zufälligkeit. In Bezug auf all das nämlich ist vom einen, reinen Begriff zu sagen: Die Dunkelheit der im Kausalverhältnis stehenden Substanzen füreinander ist verschwunden, denn die Ursprünglichkeit ihres Selbstbestehens ist in Gesetztsein übergegangen und dadurch zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden; die ursprüngliche Sache ist dies, indem sie nur die Ursache ihrer selbst ist, und dies ist die zum Begriffe befreite Substanz.7

Vielleicht darf man daher in philosophiehistorischer Perspektive, die unvermeidlicherweise auch eine des absoluten Geistes und der darin als subjektives Erkennen erscheinenden Wissenschaft ist, vom schon in der ,Logik‘ zu thematisierenden Begriff behaupten, dieser habe sich mit derartig befreiter Substanz zugleich befreit zu sich selbst. Schon im Kontext des Übergangs von der Notwendigkeit zur Freiheit am Ende der Wesenslogik heißt es ja mit einem Seitenblick auf Spinoza anmerkungsweise,8 das Denken der Notwendigkeit sei „das Zusammengehen seiner im Anderen mit sich selbst“ und sei die Befreiung, welche nicht die Flucht der Abstraktion ist, sondern in dem andern Wirklichen, mit dem das Wirkliche durch die Macht der Notwendigkeit zusammengebunden ist, sich – nicht als anderes, sondern – [als] sein eigenes Sein und Setzen zu haben. 6 Enz (1830) § 576: GW 20, 570. Wörter und Textteile werden auch in Bezug auf die Enzyklopädie den heutigen Schreibkonventionen angeglichen und entsprechend zitiert. 7 Logik II: GW 12, 16 (219,1). 8 Enz (1830) § 159 A, Absatz 3: GW 20, 176.

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Hans Friedrich Fulda

Und schon der Haupttext der Wissenschaft der Logik hatte behauptet, dadurch dass die Wechselwirkung nur die Kausalität selbst ist und die Ursache nicht nur eine Wirkung „hat“, sondern „als Ursache mit sich selbst in Beziehung“ steht, sei die Kausalität zu ihrem absoluten Begriffe zurückgekehrt und zugleich zum Begriffe selbst gekommen.9

Wenn dies schon aus der Perspektive der ,Logik‘ als erster Philosophie zu sagen ist, diese Logik aber auch im absoluten Geist und als letzte Philosophie metaphilosophisch gedacht sowie von Vorgänger- und Konkurrentendisziplinen abgegrenzt werden muss, so wird man kaum umhin können zuzugeben: Der Befreiungsprozess, welcher thematisiert wird im Fortgang von der Gedankenbestimmung ,Wechselwirkung‘, zu deren Ergebnis, dem einen reinen Begriff, führt nicht nur die Kausalität mit ihrer Notwendigkeit und Zufälligkeit zur Freiheit und befreit dabei nicht nur die absolute Substanz und Ursache, indem er über beide hinausgeht zum einen, rein logischen Begriff, ohne freilich schon deshalb im Letzteren den „Befreier“ zu solcher Befreiung zu haben. Vielmehr wird die stattfindende Befreiung, wenn all dies geschieht, dann auch vom einen – zuvor nur noch nicht thematisch gewesenen, aber schon zugrunde liegenden – Begriff oder, genauer gesagt, vom bloßen „Begriff an sich“ zum „Begriff selbst“ führen müssen; und wird das aktive Subjekt der Befreiung (zumindest in der als subjektives Erkennen erscheinenden, zum absoluten Geist gehörenden und metaphilosophisch bestimmten Wissenschaft) der allen Wesensbestimmungen schon zugrunde liegende, wenngleich erst im Prozess der Befreiung sich als solches Subjekt ergebende, eine Begriff selbst sein müssen, sodass mindestens in dieser Perspektive am Ende gesagt werden muss, der eine, reine Begriff selber befreie sich zu sich selbst. Daher darf gesagt werden: Der rein logische Begriff ist schon als einer, der sich zu sich selbst befreit hat, exemplarisch das Freie. – Er ist damit ferner das Freie im Sinn eines Einen, das ganz mit sich einig und ganz bei sich selbst ist. Insofern bleibt die von Fichte her naheliegende Bestimmtheit ,Bei-sich -selbst-sein‘,10 als Charakteristikum von Freiheit erhalten, obwohl sie nicht mehr allererst einem sogenannten Ich = Ich zukommt, sondern bereits dem einen, rein logisch bestimmten Begriff. Doch darüber hinaus ist dieses Bei-sich-selbst-sein nun in sich mehrdimensional bestimmt, wie sich im Gang der Entwicklung des einen Begriffs ergibt: zunächst nämlich als Bei-sich-selbst-sein, welches der eine Begriff als Allgemeines, Besonderes und (begrifflich) Einzelnes in sich selbst ist, aber auch als Sich-bestimmen-zu …, in welchem der Begriff „spontan“ von sich selbst ausgeht und dabei ein Sich-bestimmen zu sich selbst ist. Aber nicht nur das. Schon im ersten Hauptstadium seiner Entwicklung ist 9

Logik I,2: GW 11, 408 (203, 2). Vgl. J. G. Fichtes Analyse des Ich in: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), § 1, Nr. 4.–9. mit § 5,3. Fußnote, und §§ 8,II. sowie 9,1. + 10,25.; Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (1795), § 3 VII. B.; § 4, Schlußbemerkungen; Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Hg. v. R. Lauth und P. K. Schneider. Hamburg 1977, §§ 5 – 12. 10

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

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der Begriff mit seinem In-sich-bei-sich-selbst-sein auch Vermittlung seiner Bestimmungsmomente miteinander und nicht zuletzt mit sich selbst. Beides aber, Selbstbestimmen und Vermittlung, ist der Begriff auch unter eigener Norm, also „autonom“; und das vor allem hinsichtlich seiner elementaren Bestimmungsmomente ,Allgemeinheit‘, ,Besonderheit‘, und (rein begrifflich bestimmte) ,Einzelnheit‘. Schon mit diesen Zusatzbestimmungen zum Bei-sich-selbst-sein haben wir weitere Charakteristika des Freien, die sich in vergleichbarer Differenziertheit weder bei Kant noch bei Fichte noch gar bei Schelling finden. Aber das ist längst nicht alles, sondern betrifft nur die erste Phase im ersten von drei Stadien der Begriffsentwicklung. Mit Bedacht wurde soeben gesagt, der eine Begriff sei „nicht zuletzt“ Vermittlung seiner mit sich selbst. Gerade nämlich, indem der Begriff seine Momente „Allgemeinheit“, „Besonderheit“ und „Einzelnheit“ miteinander, mit sich und dabei sich mit sich selbst in einem disjunktiven „Schluß der Notwendigkeit“ vollständig vermittelt, kommt es zu einer „Vermittlung durch Aufheben der Vermittlung“11 und damit zu einer hierdurch entstandenen, neuen Unmittelbarkeit: derjenigen der Objektivität des Begriffs, von welcher aus der Begriff sich in seinem bisherigen, ersten Entwicklungsstadium als Subjektivität bestimmt. Mit dem zweiten Entwicklungsstadium aber ist das Sichbestimmen des Begriffs als des Freien nicht zu ende. Es beginnt nur ein zweiter Entwicklungsabschnitt: derjenige, während dessen der eine Begriff in seinem Anderen bei sich selbst ist. Auch das gehört zur Freiheit des Freien: Beisichselbstsein (des Begriffs) in seinem Anderssein (und -werden) sowie, eben deshalb, in seinem Anderen zu sein. Und auch diese Freiheitsbestimmung wurde vor Hegel von keinem der kantisch-nachkantischen Idealisten gedacht. Nicht weniger als im ersten Entwicklungsstadium ist auch dieses Beisichselbstsein mehrdimensional zu denken, nun aber phasenweise, die eine Dimension von der anderen abgehoben: Zunächst als Beisichselbstsein in mechanischen Verhältnissen, Prozessen und dynamischen Zusammenhängen, die jedoch nicht schon als in Naturereignissen exemplifiziert genommen werden und darum auch konsequent ohne die typisch metaphysischen Bestimmungen „Substanz, Akzidenz“, „Ursache, Wirkung“, „Wechselwirkung“ exponiert sind; dann – ebenso ohne typisch vormalig metaphysische Bestimmungen sowie Bestimmungsvoraussetzungen und ohne die Voraussetzung von Natur, in welcher diese Bestimmungen „vorkommen“ – objektive Verhältnisse und Geschehnisse, wie sie zu Hegels Zeit vornehmlich als chemische betrachtet wurden: Indifferenz, Neutralität, Basalität oder Verwandtschaftlichkeit von Stoffen im Verhältnis zueinander; ferner Spannungen und Reaktionen zwischen den Bestandteilen sowie Prozesse der Vereinigung und Trennung, schließlich aber der Herstellung eines stabilen Zustandes, in welchem sich die Bestandteile dann (miteinander) befinden. Charakteristisch für dieses Stadium der Entwicklung ist, dass der Begriff in bloßer Subjektivität, aus deren beisichseiendem Selbstbestimmen die Stadien doch hervor- und von einem zu anderen fortgehen, nun sich in derart

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Vgl. Logik II, GW 12, 126 (352).

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Objektivem so vertieft, dass er darin vorübergehend versenkt ist.12 Sein freies Selbstbestimmen und Beisichselbstsein im Anderssein ist somit nun weithin unscheinbar geworden und nur noch für das spekulativ begreifende, extrem Gegensätzliches in sich fassende Denken erkennbar. Aber auch das – sich so zu versenken und phasenweise versenkt zu sein – gehört zum Begriff als dem Freien und zu seiner Freiheit. Die Freiheit geht darin nicht schlicht verloren, sondern wird vorübergehend zu einem bloßen Potential oder nur immanent darin Tätigen. Weil dies nur eine vorübergehende Phase ist, taucht sie im weiteren beisichseienden Selbstbestimmen des Begriffs alsbald in neuer Weise wieder auf: Sie wird beim Fortgang der Objektivitätsbestimmungen des Begriffs zum Zweck in einer sich als letztes Stadium der Objektivität ergebenden, aber noch zu dieser gehörenden, äußeren Teleologie. Dieser Zweck ist nun ausdrücklich wieder der objektive freie Begriff,13 sodass der Freiheit des Freien nun auch das Charakteristikum, als Zweck zu sein, zuzusprechen ist; genauer: im Anderen seiner selbst als Zweck bei sich selbst zu sein. Als ausgeführter und dadurch dem Prozess seiner Ausführung immanent gewordener, zur „freien konkreten Einheit“ gediehener hebt sich der Zweck14 (als der einer inneren Teleologie) vom bloß Objektiven wieder ab. Er existiert nun „frei gegen das Objekt und dessen Prozeß“ und ist „sich selbst bestimmende Tätigkeit“.15 In einem weiteren, wiederum als Vermittlung durch Aufheben von Vermittlung zu denkenden Schritt gelangt er damit zu einem letzten, dritten Stadium der ganzen Entwicklung des Begriffs als des Freien: zu demjenigen der Idee als einer Einheit des einen Begriffs, in welcher dieser zur Übereinstimmung mit sich in seiner Objektivität kommt bzw. schon gekommen ist und insofern auch seine Wahrheit (als Übereinstimmung des Begriffs mit sich selbst) nicht nur gewinnt oder hat, sondern auch ist. Diese Wahrheit des Begriffs vollzieht sich zunächst als die Idee des Lebens, die als rein logische Idee durchaus nicht die Natur voraussetzt und sich auch nicht nur in naturalem Leben exemplifiziert finden wird. Vielmehr ist auch das Leben des Geistes eine bedeutende Exemplifikation dieser Idee.16 In einer zweiten Phase der Entwicklung ihres Begriffs vollzieht sich die Idee als Idee des Erkennens, und zwar zunächst als die Idee des Wahren (in welcher der Begriff als Subjektivität sich zur Adäquation mit sich als Objektivität bringt) und dann als die Idee des Guten (als welche umgekehrt das subjektiv Gute sich im Objektiven durchsetzt und dieses Objektive zur Adäquation mit sich bringt). Die dritte Phase schließlich, als die absolute Idee, hat zum Ausgangspunkt, dass die beiden Prozesse der Idee des Erkennens abgeschlossen und miteinander vereinigt sind, womit sich auch ihre je besonderen Zwecke dem nunmehrigen Realisierungsprozess ganz immanent gemacht haben. Dieser Realisierungsprozess aber hat sich bereits als Aufeinanderfolge aller inhaltlichen, rein logischen Gedankenbestim12

Logik II: GW 12, 30,2 (236,2). Logik II: GW 12, 153,2 (383); vgl. Enz (1830), § 203 f.: GW 20, 208 f. 14 Logik II: GW 12, 166,3 (398 f.); vgl. Enz (1830), § 209: GW 20, 213. 15 Ebd. GW 12, 166,3 (398,3). 16 Vgl. dazu vom Verf.: Das Leben des Geistes. In: Hegel-Jahrbuch (2006). Das Leben Denken. Erster Teil. Berlin 2006, S. 27 – 35. 13

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mungen vollzogen. Der umfassende Inhalt des Logischen liegt also bereits vor. Zusätzlich zu ihm kommt daher nun „das Allgemeine seiner Form“ zur Darstellung, „d. i. die Methode“, und zwar als „der sich selbst wissende, sich als das Absolute, sowohl Subjektive als Objektive, zum Gegenstande habende Begriff“.17 Von ihr aber, bzw. ihm wird nicht nur gezeigt, welches ihre bzw. seine besonderen, aufeinanderfolgend zum Zuge kommenden, begrifflichen Bestimmungen sowie „Momente“ sind, die den jeweiligen Inhalt nach einem ihnen eigenen Rhythmus in Bewegung versetzen, sondern auch, wie sich die Methode aufs Ende des Realisierungsprozesses hin zusammen mit dem Inhalt „erweitert“ zum System des Logischen.18 So wird das Freie, als Beisichselbstsein des Begriffs in seinem objektiven Anderssein, am Ende der Entwicklung zum Beisichselbstsein in einem Anderssein seiner, das mit dem Begriff völlig eins geworden und womit umgekehrt auch der Begriff in seiner Subjektivität zur perfekten Adäquation gekommen ist. Doch nicht einmal das ist das Ende vom erhabenen Lied der Freiheit, das hier gesungen wird. Zur vollen Übereinstimmung beider Seiten – des Inhalts und der Form des Logischen – gehört nämlich auch, dass die absolute Idee, welche diese Adäquation ist, am Ende ihres internen Prozesses alle ihre begrifflichen Bestimmtheiten – d. h. sowohl diejenigen, durch welche sich der Begriff selbst in seiner ganzen Entwicklung auszeichnet, als auch die seiner durchsichtig klaren Konstitution vorhergegangenen, ehemals dogmatisch-metaphysisch genommenen Bestimmtheiten – ja, sogar „sich selbst“, „frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sich ruhend.“19 Auch die freie Entlassung der absoluten Idee in ihre Äußerlichkeit zeichnet die Freiheit des Freien aus, das der eine Begriff ist, und ist also eine für sie charakteristische Bestimmtheit. Von ihr allerdings hatten die vorhegelischen kantisch-nachkantischen Freiheitsphilosophien keine Ahnung. Mit ihr, die man auch als Sich-Öffnen des Begriffs und damit des exemplarisch Freien zu einem ganz Anderen bezeichnen könnte, kommt es noch einmal, aber in wieder anderer Weise als bisher zu Freiheit als einem (aus sich selbst sich selbst bestimmenden und vermittelnden sowie vermittelten) Beisichselbstsein im Anderen. Was das fürs Sich-manifestieren von Freiheit bedeutet, wird in den folgenden Abschnitten auszuführen sein. Freilich, nicht wenig Originelles hat uns Hegels Lehre vom einen Begriff als dem Freien an Aufschluss über Freiheit zu bieten. Doch was daran bringt uns in die Nähe der begrifflichen Bestimmung „manifestieren“, die zur spekulativen Logik der Wirklichkeit gehört? Was hat es mit dem Verb „sich manifestieren“ auf sich, wenn es vom Begriff als dem Freien oder wenigstens von zu ihm Gehörigem gebraucht werden soll? Das ist nun erst einmal grundsätzlich zu erwägen, bevor einzelne Manifestationen von Freiheit des Geistes aufgesucht und ihre Zusammenhänge verdeutlicht werden können.

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Logik II, GW 12, 237,2 f. (485,2 f.). Ebd. GW 12, 249,2 – 252,2 (500,2 – 04). 19 Ebd. GW 12, 253,2 (505,2).

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II. Ort, Art und Weise, Freiheit zu manifestieren Die freie Entlassung des begrifflichen Gehalts der absoluten Idee erlaubt und erfordert es, jeweils wieder rein logische Bestimmungen, aus deren Überschreiten sich in der Logik der eine Begriff als das Freie ergab, eigens zum Zuge kommen zu lassen, obwohl sie dieser Begriff gerade als untergeordnet von sich abgehoben hatte. Zugleich aber erlaubt die freie Entlassung dann auch, von den Ausdrücken „frei“, „befreien“, „Freies“, „Freiheit“ einen Gebrauch zu machen, bei welchem bezüglich der damit bezeichneten Sachverhalte Freiheit nur im einen oder anderen kontextuellen, jedenfalls aber einseitigen, gemessen am einen Begriff als dem exemplarisch Freien unvollkommenen, aber auch zusätzlich bestimmten Sinn angesprochen ist. Das wird seitens unserer gemeinsamen Sprache und ihrer gedanklichen Verarbeitung schon dadurch nahegelegt, dass es im Ensemble von Bestimmungen der vormaligen Metaphysik, und zwar vor allem im Bereich des Wesens, seiner Erscheinungen und des Wirklichen, wenn man diese Bestimmungen nur zu „begreifen“ beginnt, Vorformen dessen gab, was im Sinn des einen Begriffs Freies ist. Eine solche Vorform ist z. B. diejenige eines selbständig Wirklichen, das nur unter seinem eigenen Gesetz steht oder aus der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert, wie sich das Spinoza als definiens von Freiheit dachte.20 Solche Vorformen des eigentlich Freien lassen sich mit den entsprechenden, uns vertrauten Ausdrücken besonders dann bezeichnen, wenn es sich um Bezeichnungen im Kontext von Teilschritten oder Teilergebnissen sich realisierender Freiheit im vollen, begrifflichen Sinn handelt. Die Bezeichnung ist gerechtfertigt durch die jeweilige Bedeutung, die sie in ihrem Bezug auf den einen Begriff hat. Damit aber öffnet sich uns nun gleichsam ein Fenster zu einem höchst differenzierten, begreifenden Erfassen enorm zahlreicher, partieller Exemplifikationen von irgendwie Freiem oder seiner Freiheit. Ein generelles Indiz für Beispiele hierzu sind Wendungen wie „frei (bloß) der Form nach“, „frei (auch) dem Inhalt nach“, „frei (bloß) an sich“ oder „frei (bloß) für sich“, oder aber „an und für sich frei“; aber auch gar nicht eigens terminologisch geprägte Wendungen wie „frei von […]“ oder „befreit zu […]“. Immer bleibt der eine Begriff hierbei der innere Bildner und das Korrektiv, das den eingeschränkten Sinn der betreffenden Rede zu erkennen gibt und uns so davor bewahrt, das darin Bezeichnete für frei oder Freies im vollen Sinn oder gar für frei par excellence zu halten und damit zu missdeuten. Doch was genau hat all dies mit „sich manifestieren“ und „Manifestationen“ von Freiheit zu tun? Um sich das klar zu machen, beachte man, was im zweiten Buch der Logik, also innerhalb der Logik des Wesens nachgewiesen wurde, nun aber an den frei entlassenen begrifflichen Bestimmungen zu berücksichtigen ist, sofern je spezifische unter ihnen zunächst im Ganzen der (physischen) Natur vorkommen und deren Bestimmungen sind: Zu diesen Bestimmungen gehört vor allem auch diejenige des Wirklichen und seiner spezifischen Weise, „wirklich“, d. h. (zumindest potentiell) wirkend, zu sein. Die allgemeine Weise seines Wirkens nämlich ist nicht bloß die von Erscheinen oder gar nur Scheinen. Sie ist vielmehr gerade die von Manifestieren, 20

Vgl. Spinoza: Ethica, pars prima, definitio VII.

Der eine Begriff als das Freie und die Manifestationen der Freiheit des Geistes

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in welchem sich – anders als beim Erscheinen oder gar Scheinen – das Wesen des Wirkenden unaufhaltsam und vielleicht sogar voll geltend macht und zeigt. Das betreffende Wesen wird – oder macht sich – darin manifest, was allerdings nicht nur plötzlich eintreten, sondern auch in einem langen, durch zahlreiche Zwischenstadien oder Verzögerungen führenden Prozess geschehen kann. Zudem gilt: In der genuinen, lateinischen Bedeutung heißt „manifestus“ so viel wie unser „handgreiflich“. Es hat also in seinem Bedeutungsgehalt eine erhebliche Nähe zu „Be-greifen“ und damit auch zu „Begriff“ – eine erheblich größere Nähe jedenfalls als die Bezeichnung bloßen Erscheinens oder gar Scheinens von Wesen. Andererseits aber – ja, im Gegensatz dazu – manifestiert sich in allen Manifestationen der bloßen, physischen Natur gerade noch nicht das Wesen oder Wesentliche des Freien tout court, das der eine Begriff ist, und auch nicht irgendein Wesen, das kurzerhand die Freiheit ist. Vorformen von frei sein, wie sie freilich in der Natur (als natura naturata) auftreten mögen, wie z. B. der „freie Wuchs“ eines „freistehenden“ Baumes, sind allemal – schon für Kant – bestenfalls „Freiheit in der Erscheinung“, keinesfalls aber Weisen wirklicher und sich manifestierender Freiheit. Erst im Realitätsbereich des Geistes bekommen wir es mit dem Wesen zu tun, welchem sich manifestierende, also wirkliche Freiheit zuzusprechen ist. Hegels Begriff des Geistes zufolge ist das Wesen des Geistes nicht nur „formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich“;21 vielmehr ist die Bestimmtheit des Geistes in diesem Wesen zusätzlich, dem Inhalt nach, „die Manifestation“. Diese Manifestation aber ist offenbarend,22 und zwar offenbart der Geist dabei „nicht Etwas“;23 sondern „seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst. Seine Möglichkeit ist daher unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit.“24 Hier also begegnet uns zum ersten Mal die Freiheit als Wesensbestimmung eines Realen; und sie begegnet uns sogleich als das Wesen desjenigen Realen, welches der Geist überhaupt im Unterschied zur ganzen Natur ist und das in der Freiheit nicht nur seine konstitutive Bestimmtheit hat, sondern zugleich die mit seiner gesamten Potentialität vereinigte, nicht mehr von außen begrenzte, sondern „unendliche“, schlechthin durch sich bestimmte und sich offenbarend manifestierende Wirklichkeit ist. Die Realisierung 21

Enz (1830) § 382: GW 20, 382. Der hier von Hegel gebrauchte Ausdruck „offenbaren“ ist missverständlich, wenn man ihn nicht mit dem oben im ersten der eingerückten Zitate zur Sprache gekommenen Fortgang von „Dunkelheit“ im Kausalverhältnis zur „sich selbst durchsichtigen Klarheit“ einer ursprünglichen Sache, die nur die Ursache ihrer selbst ist, aufs engste verbunden denkt. Ins klassisch Griechische übersetzt dürfte als das sprachliche Äquivalent dazu gewiss nicht „apojakupteim“ (d. h. bis dahin Verhülltes „enthüllen“) gelten, sondern ausschließlich „dgkoeim“ (d. h. „kund tun“, „klar machen“), da nach Auskunft der philosophischen Wissenschaft der logische Inhalt, der schon vor dem Offenbaren zur Sprache kam, ja nur „frei entlassen“ worden ist, nicht aber etwas (z. B. von Gott) verhüllt wurde, das nun enthüllt werden könnte. Jede Assoziation von „Apokalypse“ wäre also abwegig. Es geht nur um den Begriff bzw. den Geist als „Zurückkommen aus der Natur“ (vgl. Enz (1830) § 381: GW 20, 382). 23 Ebd. § 383: GW 20, 382. 24 Ebd. 22

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der Möglichkeit hierzu findet nicht an irgendeinem Anderen ihre Grenze, die das Realisierungsergebnis beim Zurückkommen aus der Natur allemal nur endlich machen, nicht aber zu einem gänzlich durch, in und aus sich selbst bestimmten Wirklichen werden lassen würde. Genau genommen zeichnet sich das Wesen des Geistes jedoch begrifflich noch durch ein drittes Charakteristikum aus: Zusätzlich zur formellen Bestimmtheit seines Wesens, die Freiheit zu sein, und zur inhaltlichen Bestimmung – offenbarende Manifestation zu sein, welche absolute Wirklichkeit ist – vollzieht der Geist nämlich diese Wirklichkeit hinsichtlich ihrer formellen und inhaltlichen Bestimmtheit, indem er sie beim Zurückkommen des Begriffs aus der Natur offenbarend gewissermaßen ver-wirklicht, und zwar in einer drei Stadien durchlaufenden, aber gestuften Entwicklung.25 Während der ersten beiden Stadien dieser Entwicklung befindet sich der Geist auf einer Stufe, auf welcher sein Freiheit-Offenbaren ein „Setzen der Natur als seiner [d. h. des Geistes] Welt und zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist.“ Unter solcher Voraussetzung stehend kann der Geist freilich nur ein endlicher sein, welcher in der Natur noch sein Anderes hat und womit sein Begriff nicht schon gänzlich aus der Natur zu sich selbst zurückkommt oder gar zurückgekommen ist. Insofern ist der Geist damit auch noch nicht in jeder Hinsicht als Möglichkeit „unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit“. Wohl aber entwickelt er sich zu solcher, deren Möglichkeit er auch jetzt schon unmittelbar ist und womit er auch schon als endlicher sein Wesen, Freiheit zu sein, im Sinne eines Beisichselbstseins im Anderen manifestieren kann. Die Entwicklung vollzieht sich auf dieser Stufe jedoch in zwei aufeinanderfolgenden Stadien: zunächst so, dass der Geist als subjektiver „in der Form der Beziehung auf sich selbst ist“; dann hingegen so, dass er objektiver Geist ist „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“. Erst hingegen ein das Wesen des Geistes als die Freiheit Offenbaren, welches im Begriff selbst stattfindet sowie ein „Erschaffen“ der Welt „als seines [d. h. des Geistes] Seins“ ist und in welchem der Geist „die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt“, zeichnet den Geist schließlich als absoluten aus und verwirklicht ihn auf einer letzten Entwicklungsstufe – „in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und seiner Idealität oder seines Begriffs“. Diese triadische Einteilung wird der Schlüssel zu allem sein, was im Folgenden über verschiedene Weisen zu sagen ist, in denen der Geist die sein Wesen ausmachende Freiheit manifestiert. Offenkundig hat dabei jedoch die Differenzierung des Geistes in einen subjektiven, objektiven und absoluten auch noch mit den oben unterschiedenen drei Stadien der Entwicklung des reinen Begriffs zu tun.

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Vgl. ebd. §§ 384 f.: GW 20, 382 f.

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III. Manifestationen von Freiheit im subjektiven,objektiven und absoluten Geist Wenn mit der Entwicklung des einen, reinen Begriffs die soeben umrissene Entwicklung des Geistbegriffs oberflächlich assoziiert wird, könnte allerdings leicht die Suggestion entstehen, es gehe in begrifflicher Hinsicht schlicht darum, die Struktur jener Entwicklung dieser anderen zu applizieren bzw. die eine für die andere als Schablone, Raster, Modell oder Schema zu gebrauchen. Immerhin kommt es ja beide Male von Subjektivem über dessen Objektivität zur Idee desjenigen, was sich so entwickelt. Doch so richtig dies ist, im Verhältnis beider Entwicklungen kann es sich nicht um eine schematische Anwendung vorgegebener Bestimmungen des einen, reinen Begriffs auf den Geist und seine Entwicklung handeln. Für den Geist überhaupt jedenfalls, sowie für seine obersten Besonderungen ,subjektiver‘, ,objektiver‘, und ,absoluter‘ Geist, sind die rein logischen Bestimmungen des einen Begriffs keine Kategorien im Kantischen Sinn. Zum Beispiel ist der Geist während des ersten Entwicklungsstadiums, d. h. als subjektiver, zwar „in der Form der Beziehung auf sich“, und wird für ihn das, was sein Begriff ist: dass „sein Sein dies ist, bei sich, d. i. frei zu sein“.26 Aber die Entwicklung beginnt bei anthropologisch thematisierter, seelischer Naturbestimmtheit, wie insbesondere dem einfachen Mitleben einzelner Menschen oder Populationen höherer Lebewesen überhaupt mit Gegebenheiten und zyklischen Veränderungen der umgebenden Natur. An solchen Zuständen und Zustandsveränderungen der natürlichen und naturbestimmten Seele lässt sich etwas als frei oder als durch Freiheit ausgezeichnet allenfalls im negativen Sinn bezeichnen: Dann nämlich, wenn es sich, z. B. in der vorausgesetzten Natur befindet und dabei zusätzlich zu seiner seelischen „Idealität“ auch eine vom Seelischen „freie Existenz“ hinter beseelten Naturbestimmtheiten hat;27 oder wenn auf der Gegenseite beim Greis, dessen zur Gewohnheit gewordene Gelassenheit eine Freiheit von den beschränkten Interessen und Verwicklungen der äußerlichen Gegenwart ist.28 Erst über die Entwicklung der fühlenden Seele kann, aufs Entwicklungsende hin vorgreifend, in positivem Sinn gesagt werden, das „erst formelle Fürsichsein“ derselben sei „zu verselbständigen und zu befreien“.29 Aber nur die in der Entwicklung des subjektiven Geistes folgende wirkliche Seele hat „an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt“;30 und erst wenn sie „in ihrer Äußerlichkeit erinnert in sich und unendliche Beziehung auf sich“ ist, ist dies ihr Fürsichsein eines „der freien Allgemeinheit“ und ist sogar „das höhere Erwachen der Seele zum Ich“ eines Bewusstseins.31 Nun endlich befinden wir uns wenigstens in der Perspektive auf das „Ich, als freie Sub26

Ebd. § 385: GW 20, 383. Vgl ebd. § 391 im Gegensatz zu § 392 A: GW 20, 390, 391. 28 Ebd. § 396. Vgl. auch §§ 402 A; 410 + A: GW 20, 393, 400, 415 f. 29 Ebd. § 403: GW 20, 401 f. 30 Ebd. § 411: GW 20, 419 f. 31 Ebd. § 412: GW 20, 420 f. 27

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jektivität gegen die Bestimmtheit“.32 Aktualiter aber ist das Ich bloßen Bewusstseins nur „die reine abstrakte Freiheit für sich“, die „ihre Bestimmtheit, das Naturleben der Seele, als ebenso frei, als selbständiges Objekt“ aus sich „entläßt“.33 Offenkundig ist auch hier weder das eine noch das andere, als „frei“ Bezeichnete der reine Begriff in seiner spontanen Selbstbestimmung und vollständigen Selbstvermittlung, die zu neuer Unmittelbarkeit seiner in begrifflicher Objektivität führt. Das Entwicklungsziel des Geistes als Bewusstsein besteht zwar darin, die Gewissheit seiner selbst, die das Bewusstseins-Subjekt hat und ist, „zur Wahrheit zu erheben“, d. h. zu einer vollen, inhaltlichen Übereinstimmung mit sich selbst.34 Aber auf dem Weg zu diesem Ziel ist zunächst von frei sein, befreien und Freiheit weiterhin in bloß negativem oder zumindest sehr begrenztem Sinn die Rede;35 unmittelbar danach aber nur als von jemandes selbstbewusstem „Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen und für den anderen als solcher da zu sein“.36 Auch wenn dieser Trieb schließlich in einem „allgemeinen Selbstbewußtsein“ seine Befriedigung finden mag, ist die „freie Einzelheit“, die „absolute Selbständigkeit hat“, nur ein „Erscheinen des Substantiellen“, das „auch vom Substantiellen getrennt“ sein und „für sich in gehaltleerer Ehre, eitlem Ruhm usf. festgehalten werden“ kann.37 – Allererst als Vernunft und vernünftiger Geist, der „sich zur Wahrheit der Seele und des Bewußtseins bestimmt“ hat, – also zu Beginn des letzten Teils der Lehre vom subjektiven Geist – ist der Geist nun eindeutig darauf ausgerichtet, den „über die Natur und natürliche Bestimmtheit, wie über die Verwicklung mit einem äußerlichen Gegenstande“ erhobenen „Begriff seiner Freiheit zu realisieren“.38 Aber auch jetzt noch ist das anfangs bloß Ziel,39 und im Fortgang dahin kommt es weiterhin nur zu Bestimmungen spezifisch unvollkommenen und einseitigen frei Seins oder Tätigseins.40 Nur dem Ende des ganzen ersten Stadiums in der Entwicklung des Geistes billigt Hegel die Bestimmung zu, nicht nur „subjektiver“ Geist zu sein, sondern kurzerhand: „Der freie Geist“. Von diesem Geist – eines an und für sich freien Willens, der „freie Intelligenz ist“ – wird dann aber sogleich dargelegt, dass, warum und als was er in seiner durch Aufheben von Vermittlung vollständigen Vermitteltheit mit sich selbst zugleich unmittelbar objektiver Geist ist.41

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Ebd. § 415 A: GW 20, 422 f. Ebd. § 413: GW 20, 421 f. 34 Ebd. § 416: GW 20, 423 f. 35 Ebd. §§ 421, 425, 429: GW 20, 426, 428, 429 f. 36 Ebd. §§ 430; vgl. 431 – 433: GW 20, 430 f. 37 Ebd. § 436 + A: GW 20, 432 f. 38 Ebd. §§ 439 f.: GW 20, 434 f. 39 Vgl. ebd. § 442: GW 20, 436 f. 40 Vgl. ebd. § 443, § 447: GW 20, 437 f., 443 f.; § 452, § 453 A: GW 20, 446 f.; § 456, § 458: GW 20, 450,451 f.; § 468, § 469 A, § 472 A: GW 20, 465, 466, 469 f.; § 476, § 478: GW 20, 473, 474. 41 Ebd. §§ 481 f.: GW 20, 476 f. 33

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Nicht unbeachtet bleiben sollten dabei jedoch zwei weitere, gewichtige Punkte. Zum einen ist der subjektive Geist als der freie selber bereits „an sich die Idee“,42 weil er als subjektiver Geist die durchgängig von ihm unabhängige und insofern selbständige Natur nicht nur voraussetzte, sondern in voraussetzendem Bezug auf sie auch eine – sozusagen immanente – Objektivität in sich trug, mit der seine Selbstbeziehung nun, im an und für sich freien Willen freier Intelligenz, zur Adäquation gekommen ist.43 Der Fortgang von dieser Intelligenz zum objektiven Geist ist daher nur formal korrekt beschrieben als einer, der über vollständige Vermittlung (durch Aufheben dieser) zu neuer Unmittelbarkeit führt. Inhaltlich aber wäre er damit, also nach dem Modell eines Fortgangs vom reinen Begriff selbst zu dessen Objektivität, unzulänglich bestimmt. Zum andern war jedoch keine der vorigen, geistphilosophischen Verwendungen der Ausdrücke „frei“ und „befreien“ eine bloß metaphorische. Die Verwendungen waren vielmehr allesamt sozusagen „anaphorisch“: Die in ihnen gebrauchten Ausdrücke verwiesen auf das höchste, exemplarisch Freie; ja, sie trugen schrittweise wieder zu ihm hinauf auf einem Weg, der schließlich zu ihm gelangen wird und mit dem freien Geist erstmals in eine für den subjektiven Geist größtmögliche Nähe zu ihm gekommen ist. Nur muss sich auch dies noch im weiteren Fortgang bekräftigen. Wenn man es recht bedenkt, hatten wir dazu in der Philosophie des Geistes bisher nicht so sehr am einen Begriff als dem exemplarisch Freien das antizipierende Regulativ, sondern vor allem am Begriff des Geistes überhaupt sowie an den anfänglichen Bestimmungen von dessen Entwicklung – insbesondere aber an der Bestimmung, offenbarendes Manifestieren von Freiheit als Wesen des Geistes beim Zurückkommen desselben aus der Natur zu sein.44 Die Ausdrücke für diese komplexe Bestimmung, die etwas Prozessuales bezeichnen („offenbarendes Manifestieren“, „Wesen des […]“, „Zurückkommen aus […]“), verweisen allesamt in die Wesenslogik, genauer: sie verweisen aufs Manifestieren als Wirkensweise des im wesenslogischen Sinn Wirklichen und wegen des Partizips „offenbarend“ auf die Phase der letzten Schritte seines Fortgangs in die Begriffslogik. Wird dies beachtet, und wird zudem am angekündigten Offenbaren registriert, dass der so bezeichnete Prozess sich in drei Stadien, aber im Fortgang vom zweiten zum dritten Stadium durch prinzipielle Änderung gestuft vollzieht, so ist zu erwarten, dass der Geist erst an seinem äußersten Ende wieder zum einen, reinen Begriff und in ihm zu jener unendlichen, absoluten Wirklichkeit gelangen kann, deren Möglichkeit und auf solche Ver-wirklichung hinwirkende Wirklichkeit er gleichwohl von Anfang an ist; dass er hingegen als subjektiver und objektiver Geist seine größtmögliche Nähe zum reinen Begriff allenfalls dann erreichen kann, wenn er zugleich ans Ende des betreffenden Entwicklungsstadiums kommt, während der Anfang aller 42

Ebd. § 482: GW 20, 476. Vgl. ebd. § 385, unter I: GW 20, 383. 44 Wichtige Hinweise auf die epistemologische Funktion, welche Hegels innerlogische Ideenlehre dabei gleichwohl besitzt, gibt Wildenauer, Miriam: Epistemologie freien Denkens. Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes. Hamburg 2004, S. 278 f. 43

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drei Stadien und zwei Stufen des offenbarenden Manifestierens vom einen, reinen Begriff in seinem entsprechenden Entwicklungsstadium weit entfernt sein muss. Diese Erwartung würde sich bei näherer Inspektion des zweiten und dritten Entwicklungsstadiums bestätigen und dabei noch präzisieren lassen. Entscheidend für den Fortgang innerhalb der drei Stadien, welche die Entwicklung des Geistes durchläuft, dürften daher nicht so sehr die Bestimmungen der ebenfalls triplizitär gegliederten Entwicklung des einen, reinen Begriffs mit der ihnen eigenen Dynamik sein, sondern vor allem die Vorgaben, welche mit dem Begriff des Geistes überhaupt bzw. mit seiner obersten Spezifikation direkt verbunden sind. Für jetzt aber ist vor allem wichtig zu wissen: Wie präsentiert Hegels Darstellung systematischer Philosophie des Geistes (in der Enzyklopädie) das mannigfaltige Sich-Manifestieren von Freiheit und welche Rolle spielen dabei die je speziellen Kontexte der Geistphilosophie? Denn in ihnen wird der Ausdruck „Freiheit“ natürlich nicht nur vom Geist überhaupt bzw. seinem Wesen gebraucht, und wird keineswegs nur das Wesen des Geistes überhaupt mit Freiheit identifiziert, die sich offenbarend manifestiert. Es ist daher auch eigens zu überlegen, was der eine oder andere besondere, kontextuelle Gebrauch des Ausdrucks „Freiheit“ besagt und was dessen spezielle Bedeutungskomponenten mit Manifestation zu tun haben. Ganz generell fällt an Hegels enzyklopädischer Geistphilosophie auf, dass darin anlässlich der zahlreichen Verwendungen des Ausdrucks „Freiheit“ die allgemeine Bedeutung dieses Ausdrucks fast nie erläutert wird,45 der Ausdruck selbst jedoch niemals auf eine Weise gebraucht ist, welche sich mit der Freiheitsbestimmung in der anfänglichen Exposition des Geistbegriffs nicht verträgt. Man hat also guten Grund anzunehmen, dass der Bedeutungskern, welchen der Ausdruck in all diesen Verwendungen enthält, derselbe bleibt wie derjenige, welchen schon die ,Logik‘ am einen Begriff als dem exemplarisch Freien aufdeckte: die komplexe Bedeutung „Beisichselbst-sein (und -bleiben) im (sich) Anders-werden und Anders-sein sowie in entsprechendem Anderen“. Freilich aber ist in den meisten der zahlreichen geistphilosophischen Verwendungen das fürs exemplarisch Freie kennzeichnende Zusammentreten und eine Prozessuale-Einheit-bilden der vielen Facetten rein logisch bestimmten Beisich-seins und -bleibens nicht mitzudenken. Stattdessen kommt es zu zusätzlichen, kontextuell begründeten Bedeutungskomponenten. Wie wäre sonst die ganze Vielfalt begrifflicher Bestimmungen, die das System des rein Logischen in sich trägt, frei entlassen, aber frei Entlassenes daraus auf eigene Weise mit gewissen anderen logischen Bestimmungen sowie mit weiteren, nicht rein logischen, wohl aber begrifflichen Bestimmungen verbindbar – ja, erkennbarerweise realiter verbunden? Doch worin bestehen dann die zusätzlichen und in den jeweiligen Kontexten variierenden Bestimmungen der Freiheit, und inwiefern sind auch sie Bestimmungen sich manifestierender Freiheit? Um hierüber Rechenschaft ablegen zu können, sollte 45 Die einzigen, mir unter die Augen gekommenen Ausnahmen finden sich in den §§ 389 A, 549 A,3 und 552 A,1: GW 20, 388 f., 524 f., 530 f., also charakteristischerweise jeweils in Anmerkungen zum Haupttext.

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man berücksichtigen, (1.) wovon jeweils Freiheit im positiven Sinn – d. h. nicht bloß im Sinn eines privativen frei-seins von etwas – ausgesagt wird, worin sie sich dabei befindet oder womit sie hierbei sogar identifiziert wird; (2.) worin jeweils der spezifische Charakter der ausgesagten Freiheit besteht; und (3.) welche wichtigen Akzente, Aspekte oder Merkmale somit im Hinblick auf mögliches Sich-manifestieren von Freiheit jeweils zu beachten sind, sich aber – hoffentlich – auch finden. (1.) Wie schon angedeutet beziehen sich die Ausdrücke „Freiheit“ und „frei“, wenn sie nicht bloß zur Bezeichnung einer Privation dienen, in der Lehre vom subjektiven Geist außer auf diesen Geist selbst46 zunächst auf die leibliche Gestalt einer wirklichen Seele und die Allgemeinheit des Fürsichseins dieser sowie, anschließend, besonders deutlich auf das Ich bloßen Bewusstseins und um seine Anerkennung kämpfenden Selbstbewusstseins; dann hingegen auf Vernunft, wie sie Thema philosophischer Psychologie ist;47 darin schließlich aber auf Vernunft als an sich freien, danach an und für sich freien Willen einer praktisch erkennenden Intelligenz, die in solcher Tätigkeit dann auch wirklich freier Wille und hiermit sogleich in Einheit mit theoretischer Intelligenz der freie subjektive Geist ist.48 In der Lehre vom objektiven Geist dagegen ist dasjenige, mit dessen Freiheit wir es zu tun haben, zunächst die einzelne Person als Inhaberin von Recht und Rechtsansprüchen abstrakten Rechts sowie das Eigentum derartiger Personen.49 Im Anschluss daran ist es dann das vereinzelte moralische Subjekt, und zwar ebenso in seiner Innerlichkeit wie auch in der davon ausgehenden äußeren, willentlichen und zu verantwortenden Handlung.50 Schließlich ist es die Sittlichkeit einer Sitte, die abstraktes Recht und Moralität, aber auch bereits subjektiven und objektiven Geist in sich vereinigt; und ist es auf ihrer Basis – nunmehr innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – jede rechtlich selbständige Person im System formell-rechtlicher Bestimmungen, welche für die betreffende Person rechtlich mit justizieller Feststellung und notfalls Erzwingung verbunden sind. Hieran anschließend ist das als frei Bezeichnete oder durch Freiheit zu Charakterisierende dann die Rechtsperson als Bürger, aber auch als die begriffsgemäß verfasste und gesetzmäßig organisierte sowie entsprechend personifiziert tätige Staatsmacht im politischen Staat.51 Die politisch verfasste Sittlichkeit ist daher zunächst diejenige eines einzelnen Staats und seiner inneren Verhältnisse – der politischen Gewalten untereinander sowie zwischen diesen und den einzelnen Staatsbürgern samt ihren gesellschaftlichen Institutionen. Sie ist dann Sittlichkeit in den äußeren Verhältnissen zwischen einzelnen Staaten als freien Völkerindividuen, aber auch – im Unterschied dazu – die konkrete Sittlichkeit eines jeweiligen Volksgeistes. Schließlich hingegen ist sie die Sittlichkeit eines Weltgeistes, dessen höchstes, ja ab46

Vgl. z. B. §§ 385, I. und 513: GW 20, 383, 494 f. Vgl. §§ 413, 424, 431 f.; 440 ff.: GW 20, 421 f., 427 f., 430 f. 48 Vgl. §§ 469, 472 A,2; 480 – 482: GW 20, 466, 469 f., 475 ff. 49 Vgl. §§ 483 – 488: GW 20, 478 ff. 50 Vgl. §§ 503, 509: GW 20, 488 f., 492. 51 Vgl. §§ 513 – 515; 523, 529, 532; 538 f., 541 f., 544: GW 20, 494 f., 498, 501 f., 505, 508 f., 514 f., 517 f. 47

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solutes Recht sich über alle jeweilig beschränkten Völkergeister hinweg durchsetzt, während ein dem Weltgeist immanenter, denkender Geist die Endlichkeit alles Objektiv-Geistigen von sich abstreift und sich selbst zum Wissen in seiner Wesentlichkeit erhebt, dabei zuletzt jedoch zum Wissen gelangt, welches der absolute Geist ebenso ist wie von sich ist und hat.52 In der enzyklopädischen Abhandlung dieses absoluten Geistes hingegen bezieht sich die Rede von Freiheit zunächst auf die „schöne“, für die klassisch-antike Kunst substantiell gewesene Sittlichkeit, die sich allerdings schnell selbst zerstört hat und mit sich auch diese Kunst vergehen ließ; dann bezieht sich die – hier auffällig verhaltene53 – Rede von Freiheit auf das inhaltlich adäquate Wissen absoluten Geistes, der als geoffenbarte, christliche Religion in freilich epistemisch immer unvollkommen bleibender Form der Vorstellung „für den Geist“ ist. Schließlich aber geht der Ausdruck „Freiheit“ auf das philosophische Denken in diesem Geist und darin am Ende auf den als philosophische Wissenschaft vollzogenen Begriff sowie das seiner Tätigkeit gemäße begreifende Erkennen, welches, ganz zuletzt, wieder dasjenige spekulativer Logik ist.54 (2.) In Entsprechung zur großen Mannigfaltigkeit all dieser Bezugsrelata, welche die Ausdrücke „Freiheit“ und „frei“ in systematisch-geistphilosophischer Verwendung und in ihrem zu dieser Verwendung gehörendem Sinn haben, ist auch der spezifische Charakter hierin zugesprochener Freiheit vielgestaltig. Bereits die sprachlichen Wendungen, in denen der Charakter jeweils angesprochen wird, sind zahlreich. Soweit sie nicht lediglich in Bezeichnung des jeweiligen Relats bestehen, haben sie oft die Gestalt adjektivischer und/oder präpositionaler oder pronominaler Zusatzausdrücke zum Substantiv „Freiheit“. Außer durch adjektivische Zusatzausdrücke können die Spezifizierungen auch pointierend erfolgen, indem eine Äußerung auf dies oder jenes zur betreffenden Freiheit Gehörende konzentriert ist, wie etwa auf den Inhalt dieser Freiheit oder auf etwas Bestimmtes in ihm; ebenso gut kann die Konzentration etwas hervorheben, worin die Freiheit sich befindet oder was mit ihr geschieht (oder prinzipiell nicht geschieht), oder aber geschehen ist, bzw. was von ihr auszusagen, womit sie gleichzusetzen oder sogar zu identifizieren ist.55 Natürlich kann die Hinzufügung auch die sprachliche Form haben, dass der Ausdruck „Freiheit“ im genitivus subjectivus dazu gebraucht wird. Zudem aber mag der Ausdruck „Freiheit“ – ebenso gut wie im genitivus subjectivus oder als grammatisches Subjekt einer Aussage gebraucht – mit dem partitiv oder qualifizierend oder sogar identifizierend verwendeten „als […]“ verbunden werden. An (realisierten) Möglichkeiten der Spezifizierung jeweils in Rede stehender Freiheit ist somit kein Mangel. Wie die wichtigsten der solchermaßen bezeichneten, 52

Vgl. §§ 538 f., 540 f.; 544; 548, 550, 552: GW 20, 508 f., 513 f., 517 f., 523, 529, 530 f. Nur in der Anmerkung zu § 571: GW 20, 553 f., aber auf Religion und Philosophie zugleich bezogen, wird zweimal das Adjektiv „frei“ gebraucht, das Substantiv „Freiheit“ dagegen nie. 54 Vgl. §§ 557, 560, 562 f., 571 f., 575 f.: GW 20, 543 f., 546 f., 553 f., 569. 55 Vgl. §§ 469, 549, 469 + 502, 513; 503, 549; 472 A + 480: GW 20, 466, 487 f., 494 f., 488 f., 524 ff., 469 ff., 475. 53

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besonderen Weisen von Freiheit in der Entwicklung des Geistes aufeinander folgen, wurde für den subjektiven Geist bereits oben56 skizziert. In der Abhandlung des objektiven Geistes folgt hierauf zunächst (1) die abstrakt rechtliche Freiheit der einzelnen Person sowie des privaten Eigentums und rechtlichen, oder aber rechtswidrigen Handelns derselben, deren Recht durchaus nicht in Einschränkung von Freiheit besteht, sondern lediglich Begrenzung von Willkür impliziert, im Übrigen aber vor allem Dasein der Freiheit freien, subjektiven Geistes „im Äußerlichen“ ist.57 Als Nächstes folgt (2) die „subjektive oder moralische Freiheit“, die „vornehmlich“ „im europäischen Sinne Freiheit heißt.“58 Die Instabilität im Innersten des allein auf die Spitze seiner selbst gestellten Gewissens und dessen unzulängliche Abwehr des Bösen werden jedoch erst überwunden im Sittlichen. Integriert in ihm ist (3) „die subjektive Freiheit als der an und für sich allgemeine vernünftige Wille, der in dem Bewußtsein der einzelnen Subjektivität sein Wissen von sich und die Gesinnung, wie seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat“, sodass darin „die selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden“ ist, was freilich auch zu verstehen gibt, dass es mit dem „Zurückkommen“ des Begriffs aus der Natur noch nicht allzu weit her sein kann. Die „frei sich wissende Substanz“ dieser „Natur“ hingegen ist „die absolute Einheit der Einzelnheit und der Allgemeinheit der Freiheit“.59 Eigens abgehoben von den prinzipiellen Bestimmungen dieser substantiellen Einheit konkretisiert und stabilisiert sich in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft die abstrakt rechtliche Freiheit durch extreme Besonderung der sittlichen Substanz in viele (kollektive oder vereinzelte) Personen (3 a) zu deren „selbständiger Freiheit“ in einem „durch natürliches Bedürfnis und freie Willkür vermittelten System“, in welchem das „Prinzip der zufälligen Besonderheit“ als „die für sich feste Bestimmung der Freiheit zunächst das formelle Recht“ hat. Das „feste Allgemeine“ ist dabei nicht nur „als das Geltende“ zum Bewusstsein gebracht, sondern auch in der Form positiv-rechtlicher Gesetze institutionalisiert und in justizieller Rechtspflege am Werk – mit der Bestimmung, „nur die abstrakte Seite der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft zur Notwendigkeit zu betätigen.“60 Doch nicht schon in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern erst im individuellen politischen Staat sprechen (3 b) die „Gesetze […] die Inhalts-Bestimmungen der objektiven Freiheit aus.“ Die politische Verfassung ist die „Gliederung der Staatsmacht“ und ist (3 c) „die existierende Gerechtigkeit“ als (a) „die Wirklichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen“. Unter denen bringt „die hohe Entwicklung und Ausbildung der modernen Staaten die höchste konkrete Ungleichheit der Individuen in der Wirklichkeit hervor“; hingegen wird „durch die tiefere Vernünftigkeit der Gesetze und Befestigung des gesetzlichen Zustandes um so größere und begründetere Freiheit bewirkt“, welche die Ungleichheit „zulassen und 56

Siehe Absatz zwei im dritten Hauptteil des Vorliegenden. Vgl. 496, 502 + A: GW 20, 485, 488. 58 § 503 + A: GW 20, 489. 59 Vgl. §§ 513 – 515: GW 20, 494 f. 60 Vgl. §§ 529 – 532: GW 20, 501 – 505. 57

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vertragen kann“. Dabei kann jedoch (b) die „politische Freiheit […] im Sinne einer förmlichen Teilnahme des Willens und der Geschäftigkeit auch derjenigen Individuen, welche sich sonst zu ihrer Hauptbestimmung die partikulären Zwecke und Geschäfte der bürgerlichen Gesellschaft machen, an den öffentlichen Angelegenheiten des Staates […] auf allen Fall nur einen Teil“ der Verfassung „ausmachen“. Dass hingegen „die Geschäfte der allgemeinen Interessen des Staats in ihrem notwendigen Unterschiede auch voneinander geschieden organisiert seien, diese Teilung ist“ (c) „das eine absolute Moment der Tiefe und Wirklichkeit der Freiheit; denn diese hat nur so[weit] Tiefe als sie in ihre Unterschiede entwickelt und zu deren Existenz gelangt ist. […] Aber ebenso sehr muß die Teilung, die zur freien Totalität fortgegangene Ausbildung der Momente, in ideelle Einheit, d. i. in Subjektivität zurückgeführt sein.“61 Doch nicht nur der an und für sich allgemeine, vernünftige Wille, der seine Betätigung und unmittelbare allgemeine Wirklichkeit zugleich als Sitte hat, ist zur Natur gewordene selbstbewusste Freiheit. Vielmehr ist auch jeder bestimmte, politisch verfasste, wirkliche Volksgeist in der – durch sein je besonderes Prinzip bestimmten – Entwicklung seines Bewusstseins (3 d) „seine Freiheit als Natur“. Mit der besonderen Geschichte aber, die er innerhalb seiner hat, geht er „in die allgemeine Weltgeschichte über, deren Begebenheiten die Dialektik der besonderen Völkergeister […] darstellt.“ Die Bewegung, als welche sich diese Dialektik vollzieht, ist dabei „der Weg zur Befreiung der geistigen Substanz, die Tat, wodurch der absolute Endzweck der Welt sich in ihr vollführt“. Das „allein Bewegende“ in dieser Geschichte hingegen ist der allgemeine Geist, der sich darin „auch zum äußerlich allgemeinen, zum Weltgeist wird“. Dieser bewegende Geist aber wird schlicht bezeichnet als (3 e) „die Freiheit, d. i. die durch seinen Begriff bestimmte Entwicklung“. Seine Bestimmung sei „die wirksame Vernunft, d. i. der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst, – die Freiheit“.62 An dieser Stelle der Entwicklung des Geistes überhaupt kommt also dessen (sich vermutlich so manifestierende) Freiheit erstmals zu jener Freiheit tout court zurück, die den einen Begriff als das exemplarisch Freie auszeichnet. Weder Hegels Fortgang vom allgemeinen, im Weltgeist denkenden objektiven zum absoluten Geist noch die anschließende Exposition des Begriffs dieses Geistes kann hier expliziert werden.63 Zusätzlich zum wenigen, das hierzu oben angedeutet wurde, gilt es jedoch zu beachten, dass der Geist als absoluter seinem Begriff nach vor allem Wissen ist – und zwar Wissen seiner selbst sowie in je verschiedenen Vollendungsgestalten, zuletzt aber in einer, die solches Wissen nicht mehr in der Form sinnlicher Anschauung und nicht in Form der Vorstellung oder der Vorstellung verhafteten Denkens hat, sondern das Wissen nur noch in der Form begrifflichen, ja, zum Begriff als solchem befreiten Denkens vollzieht. Die Realität nämlich, welche der Begriff des absoluten Geistes im Sich-selbst-Wissen besitzt, hat von Anfang an 61

Vgl. §§ 538 – 542: GW 20, 508 – 516. Vgl. §§ 548, 549 + A,3; 552 A,1: GW 20, 523, 528 f., 530 f. 63 Auskunft dazu gibt mein Aufsatz: Hegels Begriff des absoluten Geistes. In: HegelStudien 36 (2003), S. 167 – 198. 62

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„die notwendige Seite, daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriff befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein.“64 Dieser Notwendigkeit ist auch in der christlichen, „geoffenbarten Religion“ noch nicht voll Rechnung getragen. Erst das von aller Vorstellungsform befreite, „freie Denken, welches seine unendliche Bestimmung zugleich als absoluten, an und für sichseienden Inhalt, und ihn als Objekt hat, in welchem es ebenso frei ist“, vollzieht jene Notwendigkeit in einer ihrem immanenten Zweck adäquaten Gestalt – in derjenigen einer Philosophie, die ihrem Begriff entspricht. Darin ist dann das freie Denken einschließlich seiner subjektiven Seite „selbst nur das Formelle des absoluten Inhalts.“65 Der Begriff von sich hingegen, welchen die so konzipierte Philosophie am Schluss ihrer systematischen Entfaltung erfasst, bestimmt sich fort in drei Schlüssen, deren Termini „das Logische“, „die Natur“, sowie „der Geist“ sind, und gelangt damit zur Idee der Philosophie, welche selbst der dritte dieser Schlüsse ist. In ihm – bzw. in ihr – erlangt das Sich-Wissen des absoluten Geistes jene Freiheit, auf welche dessen Begriff von Anfang an ausgerichtet war. Der Schluss ist ein Schluss der Notwendigkeit „in der Idee“. Im ersten dieser drei Schlüsse hatte „die Vermittlung des Begriffs […] die äußerliche Form des Übergehens, und die Wissenschaft die des Ganges der Notwendigkeit, so daß nur in dem einen Extreme die Freiheit des Begriffs als sein Zusammenschließen mit sich selbst gesetzt ist“, im Logischen nämlich als dem Geistigen bzw. in der ,Logik‘ als letzter Wissenschaft. Der zweite Schluss hingegen war „der Schluß der geistigen Reflexion in der Idee“. In ihm „erscheint“, wie schon zitiert, „die Wissenschaft […] als ein subjektives Erkennen, dessen Zweck die Freiheit und es selbst der Weg ist, sich dieselbe hervorzubringen.“ Im dritten Schluss hingegen bestimmt das „Sich-Urteilen der Idee in die beiden Erscheinungen“, welche die beiden vorhergehenden Schlüsse ausmachen, diese Erscheinungen „als ihre (der sich wissenden Vernunft) Manifestationen“.66 Das Generalthema „Freiheit“ hält uns also durch die gesamte systematische Philosophie des Geistes hindurch in Atem. Gerade in deren Abschluss kommt es noch einmal – wenn nicht sogar nun erst voll – zum Tragen. (3.) Was, zu guter Letzt, haben all die vielen Weisen von Freiheit, frei sein oder Befreiung, die dabei zur Sprache kommen, mit Sich-manifestieren zu tun, und zwar so, dass sie sich in ein den ganzen Geist umfassendes Manifestieren jener Freiheit einfügen, die das Wesen des Geistes ist? – Aufs Ende der systematischen Entwicklung des Geistes bezogen ist das nun leicht zu sehen: Der letzte Satz des letzten Paragraphen der Enzyklopädie sagt selbst das hierzu Entscheidende von den beiden Erscheinungen, mit welchen sich der spekulative Begriff der Philosophie zu deren Idee entwickelt und zu welchen einerseits die Freiheit des Begriffs (als dessen Zusammenschließen mit sich selbst), andererseits aber die Freiheit als Zweck und Hervorbringung subjektiven philosophischen Erkennens gehören: dass das „Sich-Urteilen der 64

§ 553: GW 20, 542. § 571 A: GW 20, 554. 66 Vgl. §§ 574 – 577: GW 20, 569 ff. 65

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Idee“ in die beiden Erscheinungen eben diese Erscheinungen – aber mit ihnen auch die beiden Weisen von Freiheit – „als ihre Manifestationen“ bestimme, d. h. als Manifestationen der Idee der Philosophie. Zweifellos nämlich müssen die Erscheinungen und was zu ihnen gehört, um als solche Manifestationen bestimmt werden zu können, sich auch schon irgendwie manifestiert haben, und das nicht zuletzt auf Seiten dessen, wovon die damit zu ihrem systematischen Ende gelangende Philosophie in ihrem ganzen vorhergegangenen Verlauf handelte. Auf jeden Fall aber müssen sich jene Weisen von Freiheit manifestiert haben als Freiheit sowohl im einen wie auch im anderen Sinn. Das aktiv Bestimmende ist dabei nach Auskunft des Paragraphen freilich in letzter Instanz die Idee der Philosophie als Subjekt-Objekt zu deren Begriff. Aber sie enthält als solches ja nicht nur deren subjektives Wissen bzw. das subjektive Wissen, welches der absolute Geist freilich auch ist; sondern in Adäquation hiermit gerade auch das darin als Manifestation Gewusste, d. h. den ganzen objektiven Inhalt, von welchem längst die Rede war.67 Dem besagten Bestimmen als Manifestationen musste also ein Sich-manifestieren (von was auch immer) vorausgehen; und zu demjenigen, wovon als sich manifestierend Gewusstem schon die Rede war, gehörte auch Freiheit mindestens in den beiden angesprochenen Weisen, höchstwahrscheinlich aber nicht nur in ihnen. Deren Manifestiert-werden und dabei Sich-manifestieren im absoluten Geist sollte also nicht mehr fraglich sein, wenngleich es in den beiden zuletzt angesprochenen Weisen erst nun, am Ende der ganzen Systemphilosophie, als ein solches bestimmt wird. Soweit die Manifestation derjenigen Weisen von Freiheit, welche für den absoluten Geist spezifisch sind. Doch wie verhält es sich mit den Weisen von Freiheit, welche zuvor, d. h. in der Darstellung des objektiven und subjektiven Geistes, zur Sprache gekommen sind? Beim Versuch, diese Frage direkt aus dem Hegelschen Enzyklopädie-Text zu beantworten, kann man sich eine Enttäuschung nicht ersparen: In Bezug hierauf und auch im engeren Kontext der Abhandlung jener Freiheitsweisen redete die Enzyklopädie kaum einmal von manifestieren, Manifestation oder sich manifestieren.68 Man sollte das nicht für bloßen Zufall halten oder auf Nachlässigkeit des Autors bzw. ausschließlich auf den Grundriss-Charakter der Enzyklopädie zurückführen. Viel wahrscheinlicher ist, dass der Autor sich hiermit, seinem Vorbegriff von Philosophie folgend, strikt an den bloßen Begriff der Philosophie hält, ohne dessen Entwicklung – zuletzt zur Idee der Philosophie und in ihr – vorwegzunehmen. Doch es genügt schon eine – gewiss zur Erscheinung der philosophischen Wissenschaft als subjektives Erkennen gehörende – Reflexion auf die logischen Bestimmungen der Wirklichkeit, um einzusehen, dass jedenfalls diejenigen Weisen von Freiheit, welche in der Dar-

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So wurde beispielsweise bereits am Ende der Philosophie des objektiven Geistes, unmittelbar vor der Exposition des Begriffs des absoluten Geistes, gesagt, dieser Geist manifestiere sich zuerst in der Religion (vgl. § 552 A, 8: GW 20, 538). Von der geoffenbarten Religion hingegen heißt es sogar, ihr offenbarendes Wissen sei „schlechthin Manifestieren“ (§ 564: GW 20, 549 f.). 68 Vgl. § 413: GW 20, 421 f., sowie §§ 442, 441: GW 20, 435 f.

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stellung längst aufgetreten und Weisen wirklicher Freiheit sind,69 ebenfalls sich manifestierende sein müssen, weil es zu allem Wirklichen, also auch zu allen Weisen wirklicher Freiheit, gehört, sich zu manifestieren. In Anbetracht der ausdrücklich so bezeichneten wirklichen Freiheit im Sittlichen dürfte das für alle Freiheitsweisen des sittlichen objektiven Geistes gelten, zumal wir es hier, im Staat, mit Verwirklichung der Freiheit und mit dann entwickelter Freiheit zu tun haben, die auch in subjektive Freiheit zurückgeführt ist.70 Besonders eindringlich aber und in besonders großer Nähe zu offenbarendem Manifestieren dürfte das Gesagte gelten für die Weise, in welcher der allgemeine, die Weltgeschichte bewegende und in ihr denkende Geist seine Freiheit ist: als die wirksame Vernunft nämlich, ja sogar als der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst. Vielleicht darf man des Weiteren sagen: Die der Sittlichkeit vorausgehenden Weisen abstrakt rechtlicher und moralischer Freiheit, denen für sich genommen nicht ausdrücklich Wirklichkeit zugesprochen wird, sind auch – und werden im Gang der Darstellung erkannt als – integrale Momente im Sittlichen; sie werden also im sittlichen objektiven Geist wenigstens mit-manifestiert. Nicht weniger mit-manifestiert, wenn auch wohl noch vermittelter, sind im Sittlichen die Freiheitsweisen des subjektiven Geistes, unter ihnen aber insbesondere diejenige des freien Geistes. Für dessen Sich-mit-Manifestieren spricht dabei zusätzlich, dass zuletzt, wie gesagt, an der Idee der Philosophie – sofern sie Erscheinungen, welche deren Begriff noch anhaften, als ihre Manifestationen bestimmt – das Kennzeichen ,sich wissende Vernunft‘ herausgehoben wird. Denn sich wissende Vernunft zu sein, das zeichnet schon den freien Geist als solchen aus, der ja bereits „an sich die Idee“ ist, wenngleich er, so ausgezeichnet, auch noch ein endlicher und bloß in Beziehung auf sich selbst befindlicher ist, dessen Vernunft es „nicht zur vollen Manifestation im Wissen gebracht hat“.71 Allerdings ist er auch „wirklich freier Wille“ und als solcher vermutlich nicht nur mit-manifestiert im Sittlichen. Was es damit auf sich hat, muss hier auf sich beruhen bleiben.. Gleichwohl lässt sich nun das Ganze der zahlreichen Besonderungen von Freiheit im subjektiven, objektiven und absoluten Geist, wie er sich in Hegels Enzyklopädie darstellt, so deutlich überblicken, dass man entdecken kann, was deren Manifestationen in ihrer Abfolge mit der Manifestation jener Freiheit zu tun haben, welche das Wesen des Geistes überhaupt ist. Die Besonderungen werden so präsentiert, dass sie in ihrer Abfolge alle zusammen eine Reihe bilden, welche die Entwicklung des ganzen Geistes bestimmt und dabei ausgerichtet ist auf Freiheit als Zweck jenes Erkennens, das samt seiner Ausführung in der Entwicklung des Begriffs der Philosophie als subjektives Erkennen erscheint, dann aber in der Idee der Philosophie und von dieser Idee als ihre Manifestation bestimmt wird. Zumindest das Manifestieren, welches 69 Nämlich alle in der Sphäre der Sittlichkeit ausgemachten, also die oben unter (2.) registrierten und als (3 a) bis (3 e) nummerierten Freiheitsweisen. 70 Vgl. §§ 541 A, 542 A: GW 20, 514 ff. 71 § 441: GW 20, 436.

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hiermit angesprochen ist, hat als Prozess offenbarend manifestierenden Charakter und ist befreiend sowie ein Sich-Manifestieren der Freiheit; insbesondere aber führt es aus der Erscheinung bloß subjektiven Erkennens zum Begriff als solchem zurück. Da zuvor schon in der ganzen Reihe zahlreiche Weisen von Freiheit aufgetreten sind und sich als manifestierend oder wenigstens mit-manifestierend in die Entwicklung des Geistes eingefügt haben, ist daher wohl auch zuzugestehen, dass sie allesamt beitrugen zu einem offenbarenden Manifestieren und Zurückführen des Geistes in den Begriff als solchen und zuletzt sogar in den Begriff als rein logischen; Letzteres aber selbst dann, wenn in einigen von ihnen die Freiheit oder ihr Wissen noch nicht zu voller Manifestation gelangt war. Näher besehen geschieht das manifestierende „Zurückführen“ so, dass es in jedem der drei Stadien der Entwicklung des Geistes an ein für dieses Stadium spezifisches und nur ihm mögliches Ende gelangt, von welchem aus zunächst kein Schritt weiterer Manifestation stattfindet, sondern nur ein Schritt des Fortgangs spekulativ begreifender Erkenntnis, der allein aufgrund des begrifflich Logischen im Geistigen erfolgt und zum neuen Stadium bzw. Abschluss des letzten Stadiums der Systemphilosophie führt sowie nach Abschluss dieser in andere philosophische Aktivität als die systemphilosophische gelangen lässt. Eine der wichtigsten Pointen des Fortgangs in der Entwicklung des Geistes und ihrer systemphilosophischen Erkenntnis besteht gerade aus dieser – in verschiedenen Fortgangsschritten je spezifischen – Verbindung wesenslogischer Bestimmungen wie „Manifestation“ und begriffslogischer wie „Begreifen“. Die Pointe zugestanden gilt auch, dass alle in die Reihe gehörenden Manifestationen sich zusammenfügen zum umfassenden Sich-Manifestieren jener Freiheit, welche das Wesen des Geistes ist. Alle Manifestationen in toto geben eine für den ganzen Geist in seiner Entwicklung spezifische Dynamik zu erkennen und bestätigen so die zu Beginn der Lehre vom Geist nur antizipatorische Behauptung über dessen Entwicklung und ihre Stadien. Zugleich bekräftigen sie damit auch die anfangs unvollkommen begründete Behauptung, die Bestimmtheit des Geistes sei die Manifestation, in welcher der Geist nicht etwas offenbart, sondern Bestimmtheit und Inhalt dieses Offenbaren selbst ist. Der Erfolg dieser Bekräftigung nämlich hängt davon ab, ob die Reihe der zahlreichen Manifestationen in den Begriff als solchen und in seine rein logische Bestimmtheit sowie Dynamik zurück gelangt. Erst hierin nämlich kann das Zurückkommen des Geistes aus der Natur seinen Abschluss finden. In diesem Abschluss können nun die vielen Weisen je spezifischer Freiheit mit ihrem Manifestieren selbst noch die übrigen zunächst nur antizipatorisch gewesenen Behauptungen über Freiheit als sich offenbarend manifestierendes Wesen des Geistes bestätigt werden. Denn keine bloße Behauptung, sondern spekulativ begreifende Erkenntnis war bereits die zu Beginn der enzyklopädischen Philosophie des Geistes getroffene Feststellung, der Geist habe sich „als die zu ihrem Fürsichsein gelangte Idee ergeben“ und diese sei ihre Identität „zugleich nur als Zurückkommen aus der Natur“. Indem sich dieses Zurückkommen nun vollendet, erfolgt die Bestätigung und wird schließlich das Ende der Hegelschen Systemphilosophie des Geistes mit deren Anfang zusammengeschlossen.

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Soviel zu den Manifestationen der Freiheit des Geistes in dessen Entwicklung. Wie aber steht es dann mit dem Sich-Manifestieren des einen, logischen Begriffs als des Freien? Nach den obigen Ausführungen muss man zweifellos einräumen, dass von einem solchen Manifestieren nur am Ende der ganzen systematischen Geistphilosophie die Rede sein kann. Da aber gerade an diesem Ende das Logische als das Geistige zum Thema wird und dabei die Wissenschaft der Logik mit ihrem Inhalt als diesem Logischen auch die Stellung der letzten philosophischen Wissenschaft erhält, in welcher der Geist definitiv aus der Natur zu sich selbst zurückkommt, muss man wohl auch sagen: Am äußersten Ende dieses Endes, nämlich in der Idee der Philosophie, bestimmt und manifestiert sich der eine, rein logische Begriff, der das exemplarisch Freie ist, als das Freie „par excellence“, indem er die Freiheit dieses Freien manifestiert. Und er schließt dabei – in der Mitte des Schlusses, welcher die Idee der Philosophie ist – sogar sich als der eine Begriff der Logik qua letzter Wissenschaft mit sich als dem exemplarisch Freien der Logik qua erster Wissenschaft zusammen. Die Freiheit dieses Freien ist also nicht mehr nur, wie bei Schelling und Fichte, das A und O der Systemphilosophie. Sie ist auch die Mitte, die das Ganze dieser Philosophie vereinigt.

System der Philosophie Christian Krijnen

Nicht das Gedachte ist das Vortrefflichere, sondern die Energie selbst des Denkens (Hegel, TWA 19, 163)1

„The Best of Hegel“ ist das, was dem gesunden Menschenverstand im allgemeinen und dem philosophischen im besonderen als großes, wenn nicht gar als das größte Übel Hegels erscheint: Hegels Systemgedanke. Freilich irrt dieser vielberufene gesunde Menschenverstand (laut Oscar Wilde eine seltene Krankheit) bei Lichte betrachtet auch hier. Jedenfalls verhindert er dasjenige, was dem philosophischen Denken eigen sollte sein: Gründlichkeit. Der Grund aber ist das Ganze, und das Ganze nur, wie Hegel sagt, „das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“ (PG 19). Ein solches Ganzes ist ein System und die Wissenschaft dieses Systems ebenfalls: das System der Philosophie. Tatsächlich ist Hegels Systemgedanke noch viel besser, als ich ihn vor Jahren in Konfrontation mit der Transzendentalphilosophie ohnehin schon hielt.2 Diese Konfrontation war auch deshalb wichtig, da man trotz des berauschenden Abgesangs, den das 20. Jahrhundert auf den ehrwürdigen Systemgedanken der Philosophie angestimmt hat, bei nüchterner Einschätzung nur zum Schluß kommen kann, daß die Systemfrage einer längst überfälligen erneuten Zuwendung bedarf. Während ich damals der unter der Ägide des Neukantianers Heinrich Rickert entwickelten, für die nachfolgende Transzendentalphilosophie wirkungsmächtige Negationskritik und der damit einhergehenden Transformation logischer Letztbegründungsverhältnisse zu einer Struktur reiner Korrelation (Heterothesis) mehr Chancen zutraute als ich es heute tue, war es im Grunde genommen die Diskussion über die Systemstruktur selbst, bei der sich das Blatt eindeutig zu Gunsten Hegels wendete. Seither bin ich dem Verhältnis zwischen Hegels Philosophie und der Transzendentalphilosophie, besonders der im Vergleich zu Kant fortentwickelten Transzendentalphilosophie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts immer wieder nachgegangen. Dies führte schließlich auch zu einer Neubewertung der Hegelschen Logik.

1

Vgl. für die verwendeten Siglen das Literaturverzeichnis. Krijnen (2008) – Wegen der Kürze des vorliegenden Textes, erlaube ich es mir, in den Fußnoten auf weiterführende Texte meinerseits hinzuweisen; hier finden sich auch Hinweise auf die Forschungsliteratur. 2

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Im Folgenden will ich mit Blick auf die Logik und die damit verbundene Struktur des Systems der Philosophie darlegen, warum die Transzendentalphilosophie ihrem Begründungsanspruch nicht gerecht werden kann. I. Philosophie als System: von Selbstgestaltung zu Selbsterkenntnis Bei Hegel ist die Philosophie nicht nur – wie in der Transzendentalphilosophie bis heute – dem Problem der Selbsterkenntnis des Denkens in radikaler Weise verpflichtet. Vielmehr fungiert die Aufgabe der Selbsterkenntnis zugleich als fundierendes Strukturprinzip der Systemordnung selbst. Entsprechend denkt die Transzendentalphilosophie das Grundverhältnis im System zwar als ein Verhältnis der Selbstgestaltung, diese Selbstgestaltung jedoch nicht wiederum als Funktion der Selbsterkenntnis. Schon Hegels Wissenschaft der Logik ist nicht nur eine Lehre ,begreifenden Denkens‘, sondern zeichnet sich zugleich durch die Selbstbestimmungsbewegung des Begriffs bzw. der Idee aus. Sie geht sodann aus dem abstrakten Element des Denkens in die Sphäre der Natur und des Geistes über, um schließlich bei der Philosophie als höchster geistiger Gestalt der Selbsterkenntnis der Idee zu enden. Auch die Transzendentalphilosophie sieht, daß das Problem der Bestimmtheit des Begriffs sich in all seinen Gestaltungsbereichen stellt, und daß es das Geschäft der Philosophie ist, sich über die Bestimmtheit der jeweiligen Gestaltungen zu vergewissern. Die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis führt so stets auf die Philosophie. Dennoch gibt das Prinzip der Selbsterkenntnis nicht das die Systemordnung organisierende Prinzip ab. Indes bildet das fundierende Verhältnis der Systementwicklung die Trias ,Werte (Ideen, Geltungsprinzipien o. ä.) qua Orientierungsdeterminanten – Subjekte qua Vereinzelungsinstanzen dieser Determinanten – Kultur(-güter)‘ als das Ergebnis dieser Gestaltung der Wirklichkeit durch Subjekte nach Maßgabe des Wertes. Gerade dieses axiotische Grundverhältnis (gr. #nior = wert) macht deutlich: Das fundierende Prinzip der Ordnung ist das der Selbstgestaltung, der Selbstgestaltung des konkreten Subjekts gemäß absolut geltenden Werten, d. h. Werten, die Bestimmungsstücke seiner eigenen Subjektität sind. Diese Selbstgestaltung wird nicht zugleich als ein Sich-Wissen konzipiert, sondern Kantisch als ein Verhältnis von Subjektivität, bedingter Erfüllung, und Objektivität, unbedingter Aufgabe. Dementsprechend bildet in der Transzendentalphilosophie (sofern sie überhaupt an einer sachlichen Ordnung im System noch festhält) – weder generell die Philosophie noch speziell die Logik die letzte Disziplin des Systems, sondern als höchste Wertsphäre gilt die Religion. Während die Logik von der Erkenntnisordnung her gesehen philosophia prima ist, erhält das System von der Sachordnung her gesehen eine andere Gestalt. Bei Hegel hingegen ist die Logik nicht nur erste Wissenschaft des Systems, sondern auch letzte Wissenschaft (II 437): Selbsterkenntnis ist Anfang und Ende des Reflexionsgangs. Im absoluten Geist wendet der Geist sich auf sich zurück, um sich als

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das, was er ist, zu erkennen. Die Pointe des Rückgangs in den Anfang am Ende der Enzyklopädie qua Grundriss des Systems (E § 574), also in die Logik, ist, daß am Ende des philosophischen Systems die Philosophie selbst als schlechthinnige Grundlegungs- oder Totalitätswissenschaft begriffen wird: das Logische ist sich wissendes Logisches, das sich zugleich als Einheit von Natur und Geist weiß, und damit als schlechthinniger Prinzipiationsgrund. Die sich wissende Vernunft ist nunmehr ein Allgemeines, das alle Bestimmtheit in sich enthält sowie Natur und Geist als Manifestationen seiner selbst begreift (E § 577). Zu einem solchen Wissen kann es nicht kommen, wenn man sich, wie in der Transzendentalphilosophie, auf ein Verständnis von Geist als Kultur fabriziert und im Zuge dessen die Differenz von objektivem und absolutem Geist einebnet.3 II. Einheit der Vernunft als Freiheit – ohne Formalismus Mit jenem axiotischen Grundverhältnis steht freilich das Hauptproblem des nachkantischen Idealismus zur Diskussion: die Vollendung der kantischen Kopernikanischen Revolution der Philosophie dergestalt, daß nicht nur die Voraussetzungen der Metaphysik und des Empirismus, sondern auch die der kritischen Philosophie selbst durchdacht und in eine adäquate Systemform gebracht werden. Kants Kritizismus ist für die nachkantischen Idealisten Inspirationsquelle wie unbefriedigend. Besonders gilt dies, wenn die Einheit der Vernunft und damit das System der Philosophie als Freiheit konzipiert werden soll. Ebendies geschieht dem Anspruch nach im axiotischen Grundverhältnis.4 Hier wird Kants Konzeption von Freiheit als Vermögen eigengesetzlicher Kausalität des tätigen Subjekts auf sämtliche Anwendungsbereiche der Vernunft ausgedehnt. Die jeweiligen Kultur- oder Geltungssphären sind allesamt Spezifikationen des axiotischen Grundverhältnisses. Konzipiert man die Einheit der Vernunft und damit das fundierende Verhältnis im System der Philosophie als axiotisches Grundverhältnis, dann ist Freiheit nicht nur primär als eine Qualifikation des Subjekts, sondern zudem als eine Art Kausalität gedacht. Mit dieser subjekt- und kausaltheoretischen Orientierung sind denn auch die für jetzt zwei wichtigsten Differenzen zu Hegels Konzeption der Freiheit benannt, denkt Hegel Freiheit doch als Beisichsein im Anderen, zunächst als Beisichseins des Begriffs. Gerade von einer Hegelschen Perspektive aus wird sichtbar, daß mit dem skizzierten transzendentalphilosophischen Ansatz ein inakzeptabler Formalismus verbunden ist. Das Kausalitätsmodell der Freiheit ist nämlich ein Fall bloß abstrakter Freiheit. Trotz aller ihrer Rede von ,Selbstentfaltung‘, ,Selbstbestimmung‘, ,Selbstbegründung‘ o. ä. läßt sich Freiheit in der Transzendentalphilosophie nicht als Manifestation eines in sich differenzierten Einen begreifen, das in allem anderen bei sich selbst ist. Ist indes, wie bei Hegel, Freiheit primär eine Qualifikation des Begriffs (E § 160; 3 4

Vgl. Krijnen (2010). Vgl. zu diesem Verhältnis etwa Krijnen (2017).

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II 218), dann hat sie eine logische Grundlage.5 Hegel denkt das ursprünglich Freie, das der Begriff bzw. die Idee, oder in anderer Redeweise: die Vernunft ist, somit nicht mehr als ein praktisches Subjekt, Ich, als (Selbst-)Bewußtsein oder eben als wertbezogene Tätigkeit eines sich selbst gestaltenden Subjekts.

III. Äußere Reflexion: verabsolutierte Wesenslogik und unterschlagene Seinslogik Hegel hat Kants Konzeption der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ sowohl hoch gelobt als auch wegen ihres Dualismus scharf kritisiert: die grundlegenden Korrelationen Kants bildeten ein bloß abstraktes Verhältnis. Ebendies ist der inkriminierte ,Formalismus‘: Es fehlt bei Kant das Hegelsch verstandene „Prinzip der Bestimmung“ (E § 508), d. h. die jedwede Äußerlichkeit aufhebende Realisierung des Begriffs durch seine Momente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen.6 Dieser Formalismus ist ebenfalls charakteristisch für das axiotische Grundverhältnis. Es ist Ergebnis einer Reflexionsform, die sich methodisch als äußere Reflexion qualifizieren läßt, wie Hegel die für die Transzendentalphilosophie typische Reflexionsform bezeichnet hat. Eine Analyse der Grundlage des axiotischen Grundverhältnisses würde diese Diagnose bestätigen.7 Aus ihr geht nicht zuletzt hervor, daß in transzendentalphilosophischen Konzeptionen des Ursprungs von Objektivität die das Grundverhältnis qualifizierenden Begriffe (wie etwa Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, das Eine und das Andere) nicht im Zuge einer geltungsfunktionalen Deduktion, einer Selbstkonstitution der Erkenntnis ausgewiesen werden. Sogar Rickerts wirkungsmächtige Heterologie (Ursprung konzipiert als Heterothesis) leidet paradigmatisch daran, daß der logische Anfang der Philosophie als Ursprung, sozusagen als absolute Idee, konzipiert wird, sodaß der Anfang als Anfang der Bestimmung dieses Ursprungs nicht eigens bedacht wird.8 Dadurch bleibt, und dies ist in der Transzendentalphilosophie durchgängig so, eine Differenz von Sache und Darstellung der Sache am Leben, die mit dem Programm einer Selbstkonstitution der Erkenntnis unverträglich ist. Ist jedoch die Einheit von Darstellung und Sache zerbrochen, dann bleibt der Anspruch einer Philosophie des ,Weltganzen‘ unerfüllt. Der Fortgang in der Bestimmung ergibt sich nicht aus der Prozessualität der Selbstkonstitution des Ursprungs, das „Vorwärtsgehen“ der Bestimmung ist nicht zugleich „Rückgang in den Grund“ – er ist Fortgang von ihm zu logisch nachgeordneten Verhältnissen objektiven Sinnes. Das für die Transzendentalphilosophie diesbezüglich typische Modell einer gestuften Apriorität ist systematisch gesehen das Ergebnis einer „äußeren Reflexion“. 5

Krijnen (2016). Krijnen (2022a). 7 Krijnen (2022b). 8 Krijnen (2022b). 6

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Während sich im Zuge von Hegels wesenslogischer Beschreibung des Reflexionsbegriffs das reflexionslogische Profil der transzendentalphilosophischen Geltungsreflexion als das einer verabsolutierten äußeren Reflexion darlegen läßt, ist Hegels Logik als Lehre begreifenden Denkens (und insofern als Logik des Begriffs) anders profiliert. Statt ihre Bestimmungen als Bestimmungen von „Substraten“ aufzufassen, die der „Vorstellung“ entnommen sind, thematisiert sie die Denkbestimmungen frei von solchen seienden Substraten, betrachtet die „Natur“ der Gedankenbestimmungen und ihren „Wert“ „an und für sich“ (I 46 f.). Methodisch kommt es dabei darauf an, daß es im philosophischen Begreifen die „Natur des Inhalts“ selbst ist, die sich „bewegt“, der Inhalt also selbst seine Bestimmung „setzt und erzeugt“ (I 6). Eine solche Logik ist weder eine vorkantische Metaphysik noch eine transzendentale Logik Kantischer Prägung, sondern eine Logik der absoluten Idee (II 484), eine des „sich begreifenden Begriffs“ (II 504), wie Hegel auch sagt, der „absoluten Wahrheit und aller Wahrheit“ (E § 236, vgl. II 484). Sie vollzieht sich in einem immanenten Bestimmungsprozeß vom Anfang des Denkens als ,Sein‘ bis hin zur Vollendung dieser Selbstbewegung im Verständnis seiner Bewegung, das das Denken qua ,absolute Idee‘ ist. In der Wesenslogik erfährt dabei die in der Seinslogik vorherrschende Unbezogenheit der Bestimmungen eine Umwandlung in Relationalität: das, was ist, ist nur innerhalb eines relationalen Bestimmungsgefüges, hat seinen Grund im Wesen als das Bestimmtheit Verleihende. Indem die Wesenslogik aus der Seinslogik hervorgeht, bewältigt Hegel das angedeutete Problem der Transzendentalphilosophie, ihre logischen Grundbestimmungen nur im Reflexionsmodus der äußeren Reflexion einzuführen. Schon der Anfang der Seinslogik muß alle Bestimmungen aus sich selbst entwickeln. Die Sache des Denkens ist dann nicht mehr vom Denken der Sache verschieden; als spekulativer Anfang ist dieser geradezu indifferent hinsichtlich einer solchen Unterscheidung. Indes bleibt die transzendentalphilosophische Anfangskonzeption Rickerts etwa trotz ihres Relationismus im ,Gegensatz des Bewußtseins‘ befangen. Hegels Äußerungen am Anfang der Begriffslogik über Kants Lehre von der transzendentalen Apperzeption (II 221 ff.) treffen auch seine für die Transzendentalphilosophie so bedeutsame Heterologie. Hegel überführt die wesenslogischen Verhältnisse zum einen noch in den Begriff; zum anderen entwickelt er sie im Zuge eines Bestimmungsfortgangs, der Rückgang in den Grund ist. Mit der Entwicklung vom Sein zum Wesen gelangt Hegel zu einem neuen Reflexionsbegriff, der sich grundlegend von dem der Transzendentalphilosophie unterscheidet. Hier ist Reflexion primär gedacht als Reflexion eines Subjekts auf die Prinzipien, die das Konkretum, auf das es reflektiert, in seiner Objektivität bestimmen: Reflexion ist Reflexion-auf-Vorliegendes, auf zufälligerweise so oder so Gegebenes. Hegel indes thematisiert die diesem Reflexionsbegriff logisch vorangehende Bedeutung von Reflexion als solcher selbst. Diese Bedeutung ergibt sich im Zuge der fundierenden Bestimmung des Seins als des Unmittelbaren; Reflexion erweist sich als ein reines Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermittlung des Denkens.

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Hegels Erörterung der äußeren Reflexion diskutiert kritisch den vorausgesetzten Gegensatz des Bewußtseins als Reflexionswissen, als Reflexion-auf-Vorliegendes und weist diese Form von Reflexionswissen als äußere Reflexion aus. Sie hat ihren berechtigten Sinn nur als Moment einer tiefergehenden Reflexion, während sie als verabsolutierte (,Verstandesreflexion‘) eine logische Unmöglichkeit ist. Die sog. ,Reflexionsphilosophie‘, d. i. die Transzendentalphilosophie, ist für Hegel der typische Fall einer solchen verabsolutierten äußeren Reflexion. Das von ihr vorausgesetzte Sein ist in seiner Unmittelbarkeit der Bestimmtheit durch die Reflexion zwar entzogen, allerdings nur deshalb, weil die Reflexion in ihrem Voraussetzen ihr Setzen mißachtet (II 17 ff.). Aufgrund dieser Äußerlichkeit des Gegebenen verfehlt die Reflexion ihre Aufgabe, im Ursprung gegründete reflexive Konstitutivität zu sein. Sie erweist sich vielmehr als Tätigkeit eines Subjekts, das sich auf ein unmittelbar Gegebenes mittels unmittelbar gegebenen Bestimmungen bezieht. Hegel dagegen entwickelt die Bestimmungen der Logik aus dem Gedanken des Anfangs. Zur absoluten Idee als dem Ursprung von allem ist es ein weiter Weg. Im Zuge der Entwicklung des Gedankens kommt es zu solchen Begriffen, die das Verhältnis des Denkens als reflexives kennzeichnen. Rickert hingegen macht aus dem Anfang vorschnell den Ursprung. Entsprechend fehlt eine Seinslogik als Seinslogik, und zwar aus methodischen Gründen: die Geltungsreflexion entwickelt sich nicht aus dem Gedanken des Anfangs, sondern vollzieht sich in der Transzendentalphilosophie durch das Bedenken eines vorliegenden Gehalts in seiner ursprünglichen Bestimmtheit. Folglich wird diese ursprüngliche Bestimmtheit selbst bestimmt durch Begriffe, besonders wesenslogische Begriffe, die nicht durch den Reflexionsgang ausgewiesen sind. Sie verdanken sich ihres methodischen Profils als verabsolutierter Wesenslogik nicht einer Selbstkonstitution, einer radikalen Selbstbestimmung des Denkens. Hegels Begriffslogik aber ist eine Logik radikaler Selbstbestimmung. IV. Radikale Selbstbestimmung: Begriffslogik Wie nimmt sich das Begründungsdefizit der Transzendentalphilosophie begriffslogisch aus? Diese Frage ist insofern eine Provokation, als die begriffslogische Begründungsdimension in der Transzendentalphilosophie qua verabsolutierter Wesenslogik strikte genommen fehlt. Zwar werden begriffslogische Themen wie Begriff, Urteil, Schluß, Idee u. dgl. traktiert – jedoch nicht in ihrer begriffslogischen Bestimmtheit. Auch die Hegelsche Begriffslogik zeigt, daß die Transzendentalphilosophie, gleich ob die Kantische oder die spätere, keine radikale Begründungslehre sein kann. An deren Stelle hat eine spekulative Logik zu treten. Gerade die Begriffslogik macht dabei die radikale Selbstbestimmungskompetenz des Denkens explizit, während die Transzendentalphilosophie Erkennen unter der „theoretischen Idee“ (II 438 f., 477; E § 225) bleibt. Ebendeshalb wird sie ihren Formalismus nicht los. Ihr fehlt das methodische Moment der „Realisierung des Begriffs“. „Formen“ sind

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nicht primär Möglichkeitsbedingungen für Ermöglichtes, sondern zunächst in sich selbst auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu bestimmen. Dies kulminiert in Hegels Begriff der „Idee“, also der Vernunft als Einheit von Begriff und Realität, Subjekt-Objekt-Einheit (II 408 ff.; E §§ 213 – 215). Subjekt und Objekt fungieren als Momente begreifenden Denkens. Dieser Sachverhalt wird auf unterschiedlichen logischen Realisationsstufen erkannt, wobei die Idee sich schließlich als absolute Idee qua sich selbst im Begriff wissende Einheit von Subjekt und Objekt erweist. Dieses Fürsichwerden des Begriffs geht als „Prozeß“ der Idee vonstatten, jenen „härtesten Gegensatz in sich“ zu überwinden (II 412 f., vgl. E § 215). In der Transzendentalphilosophie hingegen bleibt der Gegensatz erhalten, auch wenn schon im Neukantianismus und dann sowieso bei den Späteren Kants apperzeptionstheoretisches Profil der „ursprünglichen Einheit“ ebenso wie bei Hegel durch eine (geltungsnoematische) Struktur des Denkens ersetzt wird: Die Begriffslogik thematisiert die Gedankenbestimmungen des Gedachten zunächst als Bestimmungen der Tätigkeit des Denkens, durch die die Sache auf ihren Begriff gebracht wird (Subjektivität), sodann die sich daraus ergebende Objektivität des Denkens und schließlich deren ideellen Charakter (Idee). Anders als in der Transzendentalphilosophie, auch in ihren sublimierten, den Kantischen Stämmedualismus von Sinnlichkeit und Verstand zugunsten eines intrinsischen Bestimmungsverhältnisses des Denkens überwindenden Fortbildungen, wird bei Hegel Objektivität rein aus dem Begriff entwickelt. Als reines Verhältnis von Selbstbestimmung hat der Begriff jedweden Ontizismus abgestreift. Der Begriff ist das Begreifende, das Begriffene sein Begriff. Er gibt sich selbst seine Realität. Indem die Entwicklung der Subjektivität des Begriffs gleich der Realisierung der Selbstbezogenheit des Begriffs ist, begreift der Begriff sich selbst als Inhalt, gibt sich also selbst seine Realität: Es kommt zum Begriff in seiner Objektivität. Gerade mit Blick auf das Programm des Hegelschen spekulativen Idealismus, Selbsterkenntnis der Idee als Grund von allem und so System der Philosophie zu sein, bietet es sich an, den Sachverhalt der Objektivität in seiner selbsterkenntnisfunktionalen Funktionalität oder Bestimmtheit zu pointieren: Während die Transzendentalphilosophie die prinzipientheoretische Verfaßtheit des Erkannten im Rahmen einer Stufung von (konstitutiven und regulativen) Aprioritäten denkt, die das gesamte Bestimmungsspektrum abzudecken beansprucht, gliedert Hegels Logik sich in eine des Seins, Wesens und Begriffs. Der Begriff thematisiert das reine Sichbestimmen des Begriffs. Diese Dimension reiner Selbstbestimmung ist in der Transzendentalphilosophie als Heterologie expliziert. Hiernach zeichnet sich die Ursprungssynthesis durch Selbstanwendung und Selbsterzeugung ihrer Momente aus, durch, sagen wir mit einem Terminus der Transzendentalphilosophie der Nachkriegszeit: reflexive Konstitutivität. Nur dadurch gewinnt die transzendentalphilosophische Geltungsreflexion, jedenfalls dem Anspruch nach, die Absolutheit ihres Sinnes.

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Bei Hegel ist der Begriff ebensolches reflexiv-konstitutives reines Sichbestimmen, reine Selbstbestimmung: Bestimmung als unendliche Beziehung des Begriffs auf sich (II 240), und die Begriffslogik sich selbst thematisierende und damit selbstbestimmende reflexive Konstitutivität. Die jeweiligen Gedankenbestimmungen sind thematisch als Realisierungsformen absoluter Selbstbestimmung. Freilich wird dabei Kants Einsicht Rechnung getragen, daß der Begriff nicht nur ein Sichbestimmen, sondern darin zugleich ein Bestimmen des Bestimmten ist. Ebenfalls dem Kantischen Vorgang gemäß, der zu den reinen Verstandesbegriffen als Prinzipien gegenständlicher Bestimmtheit über die Urteilsformen als Prinzipien des Denkens kommt, entwickelt Hegel die Bestimmungen des Begriffs über dessen Subjektivität als Formen des Begreifens (II 238 ff.; E §§ 163 ff.) sowie zur Adäquation von Subjektivität und Objektivität in der Idee als absoluter, durch beide hindurchgegangener und daher selbstvermittelter Selbstbestimmung (II 407 ff.; E §§ 213 ff.). Was Hegel von der Transzendentalphilosophie allerdings prinzipiell unterscheidet, ist, daß die Bestimmung reiner Selbstbestimmung des Begriffs ohne irgendeinen noch so verdeckten Rekurs auf Fremdbedingtheit auskommt. Zwar macht das transzendentalphilosophische Modell gestufter Apriorität die Vereinzelung des Ursprungs sichtbar – er vereinzelt sich jedoch nicht zu sich selbst, sondern zu Anderem. Dagegen wird mit Hegels Übergang von der Wesens- in die Begriffslogik die Substanz als Subjekt begriffen (II 219). Es ist ein selbstbezügliches Verhältnis „absoluter Negativität“ erreicht, das Hegel nicht nur als Freiheit, sondern damit zugleich als „manifestierte“ Identität qualifiziert (II 218). Die Vermittlung des Begriffs ist zu einer „Vermittlung des Begriffs mit sich selbst“ geworden“ (II 242). Entsprechend ist nicht nur die Entwicklung der Begriffslogik vom Begriff zur Idee als Manifestation des Begriffs konzipiert, sondern Natur und Geist sind ebenfalls in je spezifischer Weise Manifestationen des Begriffs, und damit des Freien als sich manifestierender Selbstbeziehung: Beisichsein und -bleiben des Begriffs im Anderen. Im Aprioritätsmodell der Transzendentalphilosophie indes bleibt das Verhältnis von Form und Inhalt durch Fremdheit oder Äußerlichkeit gekennzeichnet, trotz aller Versuche, Kants Stämmedualismus durch eine durchgängige Geltungsstruktur der Erkenntnis zu überwinden, die keine abstrakte Allgemeinheit sein soll, sondern Konstituens jedweder Objektivität. Die Form bestimmt sich nicht selbst zum Inhalt; Inhalt bleibt ungeachtet dessen Formbestimmtheit als Inhalt auch Nicht-Form, Nicht-Ich, um es mit Fichte zu sagen. Mirabile dictu wird dies besonders deutlich an eben jenem paradigmatischen Lehrstück, das die intrinsische Synthesisstruktur des Denkens transzendentalphilosophisch auf ihren Begriff bringen soll: die Heterologie. Obwohl sich hier Inhalt als Form und die Bezogenheit des Denkens auf Inhalt insofern als Selbstbezogenheit des Denkens auf Inhalt erweist, sieht Rickert sich genötigt, von der Form ,Inhalt‘ den „Inhalt des Inhalts“ zu unterscheiden, den wir, wie es heißt, nur noch „erleben“, „schauen“ oder sonstwie „alogisch erfassen“ können,9 9

Rickert (1921, 53 f., 62 f.; 1924, 13, 15).

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mag ihm seiner Denkbarkeit wegen auch Form eignen. Der Inhalt ist also nicht als manifestierte Selbstbeziehung konzipiert, sondern enthält ein perennierendes Anderes, das sich der Form entzieht. Insofern bleibt Kants Stämmedualismus logisch erhalten. Einen solchen Dualismus gibt es bei Hegel nicht. Hier ist Vereinzelung als Manifestation des Allgemeinen über das Besondere zum Einzelnen gedacht, nicht als eine noch so sublimierte Form von Extrafundierung, von Reflexion auf Anderes. Überhaupt ist der Sachverhalt eines Inhalts, den ,wir‘ nur alogisch erfassen können, nicht logischer, sondern geistphilosophischer Art; näherhin handelt es sich in Hegels Philosophie um einen Sachverhalt des theoretischen Geistes (E §§ 445 ff.). Aus logischer Sicht hat der Begriff sich am Ende der Wesenslogik als absolute Selbstbestimmung ergeben: alles Weitere im System der Philosophie ist Manifestation des Begriffs in den die Systemgliederung bestimmenden „Elementen“ des Logischen, der Natur und des Geistes. Indem der Begriff seine Momente vollständig miteinander vermittelt, kommt es zur „Objektivität des Begriffs“ (II 352, vgl. 310 und E §§ 192 f.). Der Begriff als Subjekt hat sich nicht mit einem Anderen zusammengeschlossen, sondern mit sich selbst. Ebendiese Realisierung des Begriffs ist für Hegel das „Objekt“ (E § 193). Der Begriff bestimmt sich selbst zur Objektivität (II 353, 357). Hegels Argumentationsgang von der Subjektivität zur Objektivität des Begriffs ist also durchaus Kantisch, sofern auch für Kant etwas Objekt nur durch die „Einheit des Begriffs“ (II 222; vgl. KrV B 137) ist; zudem, wie angedeutet, ergeben sich Kants Kategorien aus den Urteilsformen. Hegels Argumentationsgang ist aber auch unkantisch, da Hegel, egal ob in der Perspektive des Kantischen Dualismus von Anschauung und Begriff oder etwa der Rickertschen Differenz von Inhalt als Form und Inhalt des Inhalts, den Begriff der Objektivität ohne Rekurs auf ein solches Anderes des Begriffs bzw. der Form erreicht. Der Begriff manifestiert sich selbst. Dieses radikale Begründungsprogramm nimmt die Form des sich selbst zur Idee realisierenden und dadurch sich selbst bestimmenden Begriffs an. Während in der Logik diese „Realisation“ „innerhalb derselben Sphäre“ bleibt (II 504 f.), sind die sog. Realphilosophien Wissenschaften der Idee nicht im Element des Denkens, sondern des ,Reellen‘. Das Element der sog. Realphilosophie ist nicht der Begriff, sondern das Dasein des Begriffs. Natur und Geist sind unterschiedliche Weisen, das „Dasein“ der absoluten Idee „darzustellen“ (II 484). Die Bestimmung des Realen erfolgt dabei gemäß der Methode begreifenden Denkens; allerdings wird das Verfahren nicht mehr an reinen Gedankenbestimmungen ausgeübt, sondern an Realem, genauer: Naturales und Geistiges werden als Konkretion von Logischem begriffen. Die Naturphilosophie erhält ihren Anfangsbegriff von der Logik, die Geistphilosophie ihren wiederum von der Naturphilosophie. Anders also als die Logik, die der Bedingung schlechthinniger Voraussetzungslosigkeit verbunden ist und daher das Sein als das unbestimmte Unmittelbare selbst zum Anfangsbegriff hat, gehen beide Realphilosophien von einem gegebenen Begriff aus, der sodann ,realisiert‘ wird. Dadurch zeigt sich, wie die Idee sich in den Sphären der Natur und des Geistes Dasein gibt: die lo-

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gische und die ,daseiende‘ Dimension des Begriffs schließen sich zusammen. Natur und Geist sind in je spezifischer Weise Manifestationen des Begriffs. Freilich ist die Logik als Wissenschaft der Idee im ,abstrakten‘ Element des Denkens (E § 19) eine „formelle Wissenschaft“ (II 230). Sie ist es nicht im Sinne des bloß abstrakten Formbegriffs, demgemäß sich Form und Inhalt äußerlich entgegenstehen, sondern Form verstanden als spekulative Form, die an der intrinsischen Beziehung beider festhält und es Hegel ermöglicht, die Logik als Wissenschaft der „absoluten Form“ zu bezeichnen. Diese formelle Wissenschaft enthält als „reine Gestalt“ der „Intellektualansicht des Universums“ (I 31) noch nicht diejenige Realität, die Inhalt der Realphilosophie ist (II 230 f.). Die philosophischen Wissenschaften der Natur und des Geistes treten vielmehr aus einer „reellern“ Form der Idee heraus als die Logik (II 231). Diese zeigt die Erhebung zur Idee nur bis Setzung der Natur als eines zu bestimmenden Gegenstandes. Ist die Logik formelle Wissenschaft, so sind die Realphilosophien, wie Hegel in diesem Kontext sagt, „konkrete Wissenschaften“, die das Logische zum „innern Bildner“ und „Vorbildner“ haben (II 231). Im Ausgang vom Denken in seiner rein unbestimmten Unmittelbarkeit führt die Selbstverständigung des Denkens als Grund aller Bestimmtheit über das abstrakte Element seiner selbst hinaus zur Natur und schließlich zur Philosophie als der adäquaten Gestalt des Sich-Wissens der absoluten Idee im Element des Geistes. So und nicht anders ist die Philosophie System, ist Denken begreifendes Denken, Philosophie. Literaturverzeichnis Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, hg. v. Georg Lasson, Leipzig 1951, 2 Bd. (Bd. 1 = I; Bd. 2 = II). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971 (= TWA). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, hg. v. Wolfgang Bonsiepen/ Reinhard Heede (Gesammelte Werke, hrsg. von Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Bd. 9), Hamburg 1980 (= PG). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. Friedhelm Nicolin/Otto Pöggeler, 8. Aufl., Hamburg 1991 (= E). Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, in: Kants gesammelte Schriften. Bd. I-XXIX. Hrsg. von Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften et al. (Berlin 1910 ff.), Bd. V (= KrV). Krijnen, Christian: Philosophie als System. Prinzipientheoretische Untersuchungen zum Systemgedanken bei Hegel, im Neukantianismus und in der Gegenwartsphilosophie, Würzburg 2008. Krijnen, Christian: Kulturalisierung des Geistes?, in: Paul Cruysberghs/Andrzej Przylebski (Hrsg.): Geist?, Berlin 2010, S. 253 – 258.

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Krijnen, Christian: Freiheit als ursprüngliche Einheit der Vernunft. Hegels begriffslogische Lösung eines Kantischen Problems, in: Neuser, Wolfgang/Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hrsg.): Natur und Geist, Würzburg 2016, S. 25 – 52. Krijnen, Christian: Freiheit und geltungsnoematische Struktur oder wie tief reicht das axiotische Grundverhältnis der Transzendentalphilosophie?, in: Krijnen, Christian/Zeidler, Kurt Walter (Hrsg.): Reflexion und konkrete Subjektivität. Beiträge zum 100. Geburtstag von Hans Wagner (1917 – 2000), Wien 2017, S. 205 – 224. Krijnen, Christian: Verabsolutierte äußere Reflexion. Gegenwärtige Transzendentalphilosophie im Spiegel der Hegelschen Logik, in: Zander, Folko/Vieweg, Klaus (Hrsg.): Logik und Moderne. Hegels Wissenschaft der Logik als Paradigma moderner Subjektivität, Leiden/Boston 2021, S. 37 – 61. Krijnen, Christian: Die Wirklichkeit der Freiheit begreifen. Hegels Begriff von Sittlichkeit als Voraussetzung der Sittlichkeitskonzeption Kants, in: Flach, Werner/Krijnen, Christian: Kant und Hegel über Freiheit, Leiden/Boston 2022a, S. 35 – 136. Krijnen, Christian: Heterologie oder Dialektik? Rickerts Lehre vom Ursprung des Denkens im Spiegel der Hegelschen Logik, in: Hegel-Studien 56, 2022b (im Erscheinen). Rickert, Heinrich: System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921. Rickert, Heinrich: Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffs, 2. Aufl., Tübingen 1924.

Hegels Auffassung von Kritik als das Beste seiner Philosophie Dina Emundts I. Kritik als Thema der Philosophie Die Frage nach dem Besten von Hegel ist eine Frage, die zu Hegels Verständnis der Philosophie nicht zu passen scheint. Denn sie könnte so verstanden werden, als könne man Punkte, Aspekte, Themen oder Thesen von Hegel herausgreifen und aus dem Zusammenhang lösen. Aber bei Hegels Philosophie scheint dies nicht möglich zu sein, da die Philosophie Hegels als ein Ganzes verstanden werden soll, bei dem man nicht eine Sache nehmen und die andere weglassen kann. Dieses Problem ist auch nicht einfach aus der Welt, wenn man die Frage nach dem Besten so versteht, dass man nur seine eigenen Vorlieben verrät. Selbst hier zeigt sich in nahezu tückischer Weise, dass die besten mit den problematischsten Thesen von Hegel zusammenhängen. So möchte ich die Frage, was das Beste bei Hegel sei und was es zu bewahren gelte, so beantworten, dass dies Hegels Auffassung von Kritik ist, aber mit dieser Antwort ist ein Zögern verbunden, weil das Spektrum dessen, was ich damit affirmiere, so unübersichtlich ist. Die Antwort lautet: Das Beste bei Hegel ist ein Verständnis von Kritik, demzufolge Kritik ein Prozess ist, in dem es darum geht, sich in der Negation von etwas dieses auch anzueignen und etwas an ihm zu bewahren. Ein Prozess, in dem es darum geht, dass ich von der Position des anderen ausgehe und wir je unsere Standpunkte an ihre Grenzen führen und einen gemeinsamen Standpunkt entwickeln können, der dann unser gemeinsamer, aber auch wieder nur ein revidierbarer Standpunkt sein kann. Dies ist ein Verständnis von Kritik, das sich in Hegels Phänomenologie findet, aber auch als Programm bei dem mit Schelling herausgegebenen Kritischen Journal im Hintergrund steht.1 Hegel teilt diese Auffassung mit vielen seiner Zeitgenossen – u. a. mit Kant und den Frühromantikern – und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf Kritik als auf ein für Erkenntnis konstitutives Moment sowie auf Kritik als einem Instrument für eine gelingende Selbstbestimmung. Führt man diese Idee bei Hegel aus, um zu zeigen, was an seiner Auffassung spezifisch ist, so kommt man auf andere grundlegende Überlegungen seiner Philosophie. Manche davon kommen mir bei meiner Schätzung dieses Gedankens entgegen. So scheint mir diese Kritikauffassung eine hervorragende Basis, um für die Wichtigkeit der Philosophiegeschichte für die Philosophie zu argumentieren. Der Dialogcharak1 Hegel: GW IV, S. 542. Vgl. hierzu und auch zu einer Kontextualisierung von Hegels Kritikkonzeption: Röttgers (1975).

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ter der Philosophie, der gleichwohl von eigentümlichen Rückzügen auf sich selbst geprägt ist, kann sehr gut mit dieser Bedeutung von Kritik in Zusammenhang gebracht werden. Die politische Dimension selbst unserer theoretischen Gedanken scheint mir auch eine wichtige philosophische Einsicht zu sein, die mit der Kritikauffassung in engem Zusammenhang steht. Ebenso können wir die Thesen zu Respekt und Anerkennung sowie die zu Krisen und Selbsttäuschungen hier anschließen, bei denen es in meinen Augen auch viel zu gewinnen gibt. Diese vielen engmaschigen Verbindungen zu anderen Gedanken führen aber auch auf Thesen, die mir weniger lieb sind, da mir bei ihnen die Zustimmung weniger leicht oder nicht möglich scheint. Verpflichten sie einen nicht auch zu einem Fortschrittsgedanken, bei dem die Rationalität des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts als Krönung aller möglichen Entwicklungen angesehen werden muss? Kann man den an sich attraktiven Gedanken, dass Kritik an reale Erfahrungen geknüpft wird, lösen von der These, dass Missstände und sogar Versklavung und Krieg für eine gelungene Entwicklung erforderlich sind? Wenn man dies alles bedenkt, ist aber bald auch unklar, ob bei Hegel Kritik nicht überhaupt nur eine sehr eingeschränkte Rolle erhält. Diese Unklarheit entsteht schon bei einer näheren Betrachtung der Phänomenologie, weil Hegel beim Übergang zum Geistkapitel das Verfahren der einseitigen Positionierung gerade aufgibt und man dies auch als Verabschiedung des Kritikmodells ansehen kann. Kritik ist dann nur auf dem Weg zu einer geistigen und gesellschaftlichen Verfassung hin notwendig, mit deren Erreichung aber verabschiedet. Insbesondere für Hegels politische Philosophie könnte dies die Pointe haben, dass die Kritik in einem Staat, der die Sittlichkeit realisiert, zur bloßen Gesinnung für den Staat herabsinken müsste. Dies ist eine Pointe, die zwar einigen willkommen sein könnte, weil sie als passend zur Rechtsphilosophie angesehen wird, aber in meinen Augen ist dies nicht der Kern der Rechtsphilosophie, und wäre er es, so müsste dies auf jeden Fall auch dazu führen, sich von Hegels Philosophie eindeutig zu distanzieren. Das Beste seiner Philosophie hätte sich bei einem genaueren Blick in der Form, in der er es auffasst, als problematisch gezeigt. Worin besteht der Zusammenhang der verschiedenen Annahmen, die sich um das Thema Kritik herum anordnen und von denen ich einige oben genannt habe? Und inwieweit ist für Hegel Kritik am Ende die Methode des Denkens, bzw. welche Rolle spielt Kritik für die Methode des Denkens? Sowohl die Frage nach dem Zusammenhang von verschiedenen Annahmen als auch die nach der Rolle der Kritik für das Denken führen auf Hegels Logik. Ob die Methode des Denkens als Kritik verstanden werden kann, muss sich in der Logik zeigen. Aber darüber hinaus muss ohnehin für die Verbindung eines Gedankens zu anderen die Logik befragt werden, da der Zusammenhang von Gedanken für Hegel gerade durch die logische Struktur gegeben wird, die er in der Logik entwickelt. Denn die Logik ist die Schrift, durch die Hegel die Inhalte seiner Philosophie und die Methode des philosophischen Denkens insgesamt explizieren und als alternativlos ausweisen und damit auch den Zusammenhang von Gedankengängen aufzeigen will. Wenn man Kritik als das Beste von Hegel herausstellen möchte und damit auch beansprucht, sie in seinem Sinn

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zu affirmieren (was man allerdings natürlich nicht muss), so führt der Vorschlag zur Logik. Im Folgenden werde ich mich daher vor allem mit der Frage nach dem Verhältnis von Kritik und Logik und der Frage beschäftigen, ob bei Hegel Kritik nicht letztlich nur eine sehr eingeschränkte Rolle erhält. Diese Diskussion wird uns auch in die Lage versetzen, weitere Fragen zu diskutieren. Das werde ich im letzten Abschnitt andeuten und so versuchen, meine Entscheidung für das Beste bei Hegel nicht nur zu erläutern, sondern auch gegenüber dem Einwand zu verteidigen, dass mit dieser Kritikauffassung auch wenig attraktive Thesen verbunden sind. II. Logik und Kritik Dass es eine enge Beziehung zwischen der Idee einer Kritik, zum Beispiel einer Kritik im politischen Bereich, und der (oder einer) Logik gibt, in der letztere (die Logik) irgendwie erstere auch begründen soll, ist selbst eine philosophische These, und zwar auch eine, über die man gut streiten kann. Wenn man mich nach meinen Gründen dafür fragen würde, Hegels Kritikauffassung bewahren zu wollen, würde ich zunächst sicherlich nicht auf eine Logik verweisen. Und zwar nicht nur im engen philosophischen Sinne nicht, sondern auch nicht im eher weiteren Sinn unserer Rede von der Logik einer Sache. Ist diese Kritik nicht vielmehr politisch zu fordern und mit Verweis auf etwa Rechte zur Mitbestimmung zu verteidigen? Die philosophische These, dass eine bestimmte, in politischen Zusammenhängen fruchtbare Kritikauffassung der Logik der Sache und des Denkens entspricht, enthält im Kern eine Abkehr von einer Moral des Sollens und der strikt praktischen und sozialen Begründung von Verfahren. Hier liegt also etwas Spezifisches von Hegels Konzeption von Kritik. Man kann dies auch kritisch sehen und in meinen Augen ist eine solche Kritik auch diskussionswürdig. Aber Hegels Abkehr von einer rein politischen oder moralischen Begründung trifft meines Erachtens auf jeden Fall einen wichtigen Punkt unseres Selbstverständnisses und kann verteidigt werden. Hegel verbindet den praxisbezogenen Gedanken der Wichtigkeit der Kritik mit einer ontologischen Pointe, da sie nicht nur die Praxis, sondern die Frage der Verfasstheit der Wirklichkeit betrifft. Dies könnte man (mit einigem Abstand von Hegel) so explizieren: Hegels hier schon ansatzweise erläuterte Kritikauffassung ist richtig, weil sie dem menschlichen Miteinander zuträglich ist, sie stellt vor allem aber die Weise des sich auf sein Gegenüber Beziehens dar, die dem angemessen ist, was wir sind, nämlich individuelle, gleichberechtigte, aufeinander angewiesene Wesen, deren Gemeinsamkeit mehr ist als die Summe ihrer individuell verstandenen Beiträge. Die Person, die Kritik nicht als Prozess der gemeinsamen Selbstverständigung begreift, hat daher nicht nur eine kulturelle Praxis missachtet, sie hat auch epistemische Defizite, die sie die Wirklichkeit nicht vollständig erfassen lassen: Sie hat nämlich unter anderem nicht verstanden, was es heißt, ein denkendes Wesen zu sein.

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Folgt man mir bis hierher, haben wir es jetzt offensichtlich mit zwei Thesen Hegels zu tun, die zu verteidigen sind, wenn man Hegels Kritikauffassung verteidigen möchte. Um zu prüfen, ob wir Hegels These zur Kritikauffassung als etwas Bewahrenswertes ansehen können, habe ich sie auf seine Logik zurückbezogen. Dass der Rückbezug auf die Logik aufschlussreich sein soll, habe ich dann aber selbst als eine philosophische These eingesehen. Nun mag sogar der Eindruck entstehen, dass wir es gar nicht mehr mit Hegels Kritikauffassung, sondern nur noch mit der These zu tun haben, dass wir zur Prüfung unserer Überzeugungen und Annahmen letztlich die Logik, verstanden auch als die Geschichte der gedanklichen Struktur der Wirklichkeit, untersuchen müssen. An dieser Stelle hilft uns allerdings die Unterscheidung von Rechtfertigung und Charakterisierung. Es geht mir zunächst nicht darum, dass man mit der Logik Hegels Auffassung von Kritik rechtfertigen kann oder sollte, sondern dass man klärt, was im Ausgang von der Logik als Kritik verstanden werden muss. Diese Unterscheidung von Rechtfertigen und Charakterisieren ist eine, die Hegel selbst vielleicht gerade nicht machen möchte. Die Frage, ob und wie er sie machen möchte, hängt tatsächlich, wie sich noch näher zeigen wird, mit der hier behandelten Frage nach der Rolle der Kritik zusammen. Man könnte sagen: Für Hegel klärt sich durch die Logik der Zusammenhang eines Gedankens oder Begriffes oder Prinzips zu anderen Gedanken oder Begriffen oder Prinzipien. Dabei tritt diese Operation einer Klärung an die Stelle von Rechtfertigungen und Argumentationen für etwas – und damit vielleicht auch an die Stelle der Kritik. Alternative Sichtweisen entstehen dadurch, dass man etwas nicht weiter und nicht zu Ende denkt – dem logischen Gang nicht folgen, heißt, einseitig sein. Wenn man zum Beispiel Kausalität und Wechselwirkung für die einzigen die Natur konstituierenden Prinzipien hält, dann sieht man nicht, dass diese Prinzipien letztlich nur durch begriffliche Operationen wirksam sind, die selbst nicht kausal sind und sich durch diese Prinzipien allein auch nicht erklären lassen. Die Logik soll uns, so Hegel, die Methode des Denkens geben. Es ist eine naheliegende Annahme, dass sie damit auch angibt, was Kritik ist. Ich habe allerdings schon angedeutet, dass man auch annehmen könnte, dass Hegel Kritik eigentlich eher für ein zu überwindendes Verfahren hält. Ich werde im Folgenden kurz skizzieren, wie ich Hegels Logik verstehe, und sie dann zur Kritik in Beziehung setzen. Die folgenden Ausführungen haben also vor, Hegels Logik auf die eine oder die andere Weise für seinen Begriff von Kritik fruchtbar zu machen. III. Hegels Verständnis der Logik Ich verstehe Hegels Logik so, dass sie die Methode des Denkens – und damit natürlich auch die Methode der Philosophie – darlegt. Das tut sie grob gesagt auf folgende Weise: Sie versucht einen Anfang bei dem zu machen, was selbst voraussetzungslos ist. Dabei lässt sie in manchmal übersehener, aber sehr bewusster Weise

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offen, ob sie nach einem voraussetzungslosen ersten Begriff oder nach dem ersten Sein fragt.2 Es erweist sich jedenfalls bei diesem Versuch, dass das Denken des Seins etwas voraussetzt. Das Denken des Begriffs des Seins setzt den kognitiven Prozess des Abstrahierens voraus, das Denken eines irgendwie bestimmten Seins setzt anderes – nicht zuletzt Dasein – voraus. Der Prozess des Denkens, der mit dem Versuch, einen voraussetzungslosen Anfang zu denken, in Gang gekommen ist, besteht nun eigentlich in nichts anderem, als nachzuvollziehen, was bisher gemacht worden ist.3 Dies geht deshalb, weil das systematische Nachdenken über den Anfang auf alles führt, was überhaupt denkend stattfindet. Dies gilt nun wiederum nicht nur insofern, als man irgendwann überlegen wird, welche Rolle hier bestimmte Verfahren und Denkprinzipien spielen – zum Beispiel Widersprüche oder beispielsweise Kausalität als Prinzip und auf diese Weise soll man das begriffliche Repertoire von Bestimmungen überhaupt erhalten. Es gilt auch in dem Sinne, dass man vollziehen wird, worüber man nachdenkt, so dass man eine Art performativen Akt durchführt, indem dasjenige, was man zur Bestimmung erforderlich herausstellt, auch tut – wie zum Beispiel, dass man Widersprüche durchdenken muss. Davon gibt der Anfang zusammen mit dem Ende der Logik ein gutes Beispiel, insofern über den Anfang zu gelten scheint, dass er als Anfang sowohl voraussetzungslos ist als auch nicht voraussetzungslos ist – während am Ende der Logik klar geworden ist, dass wirklich beides gilt und wie beides möglich ist. Hierbei soll sich dann allerdings wiederum auch gezeigt haben, dass man die Sache ganz durchdenken muss, um so etwas sagen zu können, und nicht bei formalen Prinzipien, wie etwa dem Satz vom Widerspruch in seiner einfachen Lesart, stehen bleiben darf. Das Denken, das in der Logik dargestellt wird, erweist sich damit als erinnernd und rückbezogen ebenso wie als vollständig selbstbezüglich – es nimmt in gewisser Weise nur auf seinen eigenen Anfang Bezug und es nimmt auf alles immer wieder Bezug, was zum Denken dieses Anfangs eigentlich schon erforderlich war oder gewesen wäre. Was es dort aufzudecken gilt, ist keineswegs einfach oder harmonisch, es sind widersprüchliche Bewegungen und Begrifflichkeiten, die sich nur dann zusammen als verständlich erweisen, wenn man sie fortschreitend ausführt. Aus diesem Grund spielt die Negation bei diesem Fortschreiten eine große Rolle: Etwas soll verneint und zugleich in seinem Kern bewahrt werden, weil dadurch die Vereinbarkeit mit etwas ihm zunächst Widersprechendes möglich ist. Zu sagen, die Wahrheit sei auch als ,Resultat‘ eines Prozesses zu verstehen, bedeutet, dass sich erst am Ende erwiesen hat, dass man am Anfang alles legitim behaupten und machen konnte, was man gemacht hat – nur unter der Voraussetzung allerdings, man hat tatsächlich so weiter gemacht, wie man weiter gemacht hat.

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Im ersten Absatz ist davon die Rede, dass das „reflexionslose Sein“ „nur an ihm selber ist“. Dann geht es darum, dass diesem reinen Sein „der Charakter der Unbestimmtheit nur im Gegensatz gegen das Bestimmte oder Qualitative zu[kommt].“ GW 21, S. 68. 3 Vgl. zu dieser These auch Heuberger (erscheint 2022).

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In diesem Prozess der Logik, dem man die Leitfrage unterstellen könnte, was es für Prinzipien des Bestimmens gibt und geben muss, ergibt sich auch, dass die gesuchten Prinzipien nicht nur formal sind, sondern dass mit ihnen auch ,Inhalte‘ einhergehen, womit hier gemeint ist, dass dabei auch theologische, ontologische und ethische Fragen behandelt werden. Beispielsweise hat die Logik, theologisch betrachtet, als Ergebnis das Folgende: Wenn man sagt, am Anfang war das Absolute, aus dem alles andere hervorgegangen ist, dann kann man dies rechtmäßig sagen, aber nur, wenn und indem man auch sagt, dass das Absolute nur der Anfang ist, weil er aus unserem menschlichen Dasein heraus so bestimmt worden ist. IV. Hegels Kritikbegriff Vor dem Hintergrund dieser Skizze der Logik möchte ich mich nun wieder dem Thema Kritik zuwenden. Man könnte sagen, dass die Methode des Denkens in der Logik dem entspricht, was für Hegel Kritik ist. Demnach muss Kritik verstanden werden als 1.) ein Prozess und eine Entwicklung, bei dem man 2.) immer wieder auf frühere Überlegungen Bezug nimmt und diese überdenkt. Auf diese Weise wird der Prozess selbstbezüglich und ist durch Rückbezug und Erinnerung geprägt. 3.) Es ist kein harmonischer Prozess, sondern ein Prozess, in dem widersprüchliche Aussagen gemacht und in eine differenziertere Beziehung zueinander gebracht werden. Hierbei spielen Verneinungen eine entscheidende Rolle, wobei deren Resultat gerade ist, dass deutlich wird, was es an dem Verneinten zu bewahren gilt. So kann man das, was Kritik ist, in einer Weise charakterisieren, in der man auch den Prozess der Logik beschreiben kann. Wenn man das so sagen kann, steht Hegels Kritikbegriff in einer Nähe zu dem Kantischen Projekt einer Kritik der reinen Vernunft. Im Unterschied zur Kantischen wäre diese Kritik so angelegt, dass Widersprüche in dem kritischen Prozess eine andere, konstruktivere Rolle spielen sollen. Aber wie bei Kant wäre Kritik ein Verfahren der denkenden Selbstverständigung, in dem Prüfungen und Widersprüche leitend sind – ein Verfahren zudem, das im Prinzip auch allein stattfinden kann, während Kritik als dialogische, soziale Form damit zumindest zunächst nicht gemeint zu sein scheint. Man könnte allerdings auch der Andeutung folgen, die ich im letzten Abschnitt gemacht habe, als ich gesagt habe, dass in der Logik Rechtfertigung eigentlich nicht stattfindet, weil die Dynamik der Entwicklung diese erübrigt. Angenommen dies stimmt, so könnte dies darauf hinauslaufen, dass man die Methode des Denkens in der Logik nicht als Verfahren der Kritik versteht. Denn man könnte sagen, dass zur Kritik konstitutiv etwas gehört wie Beanspruchen, Herausfordern und Verteidigen. Wenn man annimmt, dass die Logik Hegels keine Rechtfertigungen liefern will, würde man vielleicht besser ein Fundierungsverhältnis von Logik und Kritik annehmen. Man könnte sagen, dass die in der Logik entwickelte Methode des Denkens allen unseren erfolgreichen Denkoperationen zugrunde liegt und daher auch der ge-

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lingenden Kritik. Wenn jemand einen Standpunkt in einer Diskussion einnimmt, so grenzt er sich von anderen ab und stellt sich ihnen gegenüber. Die Kritik an seinem Standpunkt bedeutet, ihn mit anderem – also zunächst sicherlich in der Diskussion mit dem ihm entgegenstehenden Standpunkt – zu vermitteln und daher seine Einseitigkeit aufzulösen. Die Logik als Methode des Denkens wäre also die logische Struktur, die auch Bewegungen des Denkens umschließt, und die jeder guten Kritik als Basis zugrunde liegt. Basis meint hier, wenn wir gut kritisieren, vollziehen wir gemeinsam die Logik des Denkens so nach, dass Einseitigkeiten überwundern werden. Dieser Gedanke hat in meinen Augen etwas Attraktives: Im Denken überwinden wir jede Einseitigkeit, und diese Bewegung zeigt die Logik, während wir diese Bewegung in der Kritik gemeinsam aus verschiedenen Perspektiven zustande bringen und so unsere jeweiligen Standpunkte aufgeben. Dieses Verständnis von Kritik, dem die Logik als Basis dient, weil man der Sache des Denkens folgen muss, klingt auch in der Logik selbst immer wieder an. Etwa wenn es am Anfang der Begriffslogik heißt: „Allein insofern kann das System nicht als falsch, als der Widerlegung bedu¨ rftig und fähig angesehen werden; sondern nur dies daran ist als das Falsche zu betrachten, daß es der höchste Standpunkt sei. Das wahre System kann daher auch nicht das Verhältnis zu ihm haben, ihm nur entgegengesetzt zu sein; denn so wäre dieses entgegengesetzte selbst ein einseitiges. Vielmehr als das höhere muß es das untergeordnete in sich enthalten“ (GW 12, 14)4. Trotz aller Attraktivität sehe ich aber eine Schattenseite dieses Vorschlags: So wie hier vorgestellt, scheint dies darauf hinauszulaufen, dass wir der Kritik ihre Bedeutung und Dynamik zumindest ein Stück weit nehmen. Man könnte zugespitzt sagen, dass Hegel nach diesem Vorschlag an die Stelle von Kritik eigentlich die Logik setzt. Während Kritik von verschiedenen Positionen ausgeht, die in einem konkurrierenden Verhältnis zueinanderstehen und es bei Kritik immer um Prüfung, Verteidigung und Aufgabe einer Position zu Gunsten einer anderen geht – eben genau das, was in den ersten Kapiteln der Phänomenologie des Geistes vor Augen geführt wird – , so entwickelt Hegel dann in dem Geistkapitel der Phänomenologie und, mehr noch, später in der Logik, ein eher generisches Modell des Denkens – dieses kann zwar einer Kritik zugrunde liegen, ist aber nicht wesentlich kritisch. Während die Kritik sozial und dialogisch ausgerichtet ist, besteht die Logik in einer Art Selbstverständigung des Denkens, in der letztlich auch Kant seine Kritik der reinen Vernunft gesehen hat. Aber ist das wirklich Hegels Idee? V. Zur Rolle der Kritik bei Hegel Zunächst muss ich zugeben, dass die Antwort auf die Frage, ob Hegel die Kritik durch Logik ersetzen will, nicht einfach zu geben ist. Dies kann man sich leicht an 4 Weiter heißt es: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn ausserhalb seiner selbst angreiffen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht“, GW 12, S. 14 – 15.

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Folgendem klar machen: Was ich gesagt habe, klingt ähnlich dem, was man mit dem Namen Karl Marx in Verbindung bringt – aber so meine ich es nicht. Man könnte sagen, die Logik oder Dialektik Hegels ist unkritisch, und damit meinen, dass sie das Bestehende bestätige.5 Ich wollte eher sagen, dass die Dialektik Hegels – also seine Logik – durchaus als Basis für Kritik dienen kann. Dennoch vertritt er darüber hinaus möglicherweise die These, dass Kritik letztlich durch eine Art Einsicht in die Logik der Sache ersetzt werden kann. Aber auch wenn das anders als bei Marx ist, so würde doch auch nach dieser Lesart Kritik abgewertet, und darin kann man eine Schattenseite des Vorschlags sehen. Durch folgende Überlegungen kann man hier nun allerdings wiederum den Kritikgedanken stärken und als konstitutiv für Denken ansehen: Hegel vertritt – meines Erachtens – auch die Thesen, dass die Entwicklung von allgemeinen Prinzipien – also das, was in der Logik dargestellt wird, – konkrete Verwirklichungen braucht. Weiterhin vertritt er die These, dass sich bei der Entwicklung zeigt, dass für diese Entwicklung sogar denkende Individuen aufeinander Bezug nehmen müssen. Dies zeigt, so denke ich, die Logik. Die entsprechende Darstellung findet sich insbesondere beim Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik. Und dies bedeutet dann meines Erachtens auch, dass Denken sich letztlich auch immer dialogisch und kritisch vollziehen muss. Diese These kann ich hier nicht gründlich entwickeln. Aber ein Resultat von ihr, das direkt mit dem Kritikbegriff zu tun hat, möchte ich angeben. Ich denke, wir sollten bei (und mit) Hegel zwei Verfahren und Prozesse der Kritik voneinander unterscheiden: Es ist für Hegel so, dass die Menschen dazu neigen, ihre jeweilige Einseitigkeit strukturell zu übersehen und so eine Art blinder Flecken zu entwickeln. Dies kann dadurch verhindert werden, dass sich eine andere Person ihren Überlegungen aktiv entgegenstellt, ihnen widerspricht und sie damit kritisiert. Die menschliche Haltung, die der Neigung zur Ausbildung blinder Flecken entspricht, ist allerdings in meinen Augen für Hegel tatsächlich eine überwindbare Haltung – sie wird, denke ich, im Verlauf der Phänomenologie des Geistes nach Hegel überwunden. Es ist auch Aufgabe der Philosophie, eine andere Haltung zu erlangen, nämlich eine Haltung, in der es nicht um das eigene Rechthaben geht. Es ist darüber hinaus aber auch so, dass ohne Kritik Gedanken und Begriffe gar nicht präzise formuliert und expliziert würden. Dies scheint für Hegel aber weniger eine psychologische als selbst eine in die Logik gehörende Annahme zu sein. Denn auch die Logik folgt der Anforderung, etwas anhand von Begriffen zu bestimmen und anderen Ansprüchen gerecht zu werden, und diese Ansprüche werden geprüft und kritisiert. Hier scheint die Logik daher doch mehr selbst die Methode der Kritik zu sein bzw. ihr zu folgen, als dass sie nur deren Basis darstellt. Man kann also einen psychologischen und einen logischen Prozess von Kritik unterscheiden: Psychologisch kann Kritik zum Beharren und zur Verzweiflung führen. Das muss aber nicht sein, wir können 5 Das ist natürlich so sehr plakativ gesagt. In der Bezugnahme von Marx auf Hegel spielt in verschiedenen Hinsichten die Forderung nach einem „kritischen“ Umgang eine wichtige Rolle. Vgl. Röttgers (1975) und Arndt (2012), u. a. S. 226.

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diese psychologische Haltung ablegen. Logisch ist Kritik ein Prozess der Veränderung, den wir mitmachen und den wir als unseren eigenen affirmieren. Tatsächlich passt dies zum Text der Logik in folgender Weise. Die Übergänge der Logik – also das Übergehen von einem Begriff zum nächsten und von einer Logik in die andere – kann immer in zwei Weisen wiedergegeben werden: als Scheitern des Bisherigen und als Bewegung zum Nächsten. Betrachten wir dazu kurz den Übergang des ersten zum zweiten Teil der Logik, also den von Seins- zu Wesenslogik: Man kann sagen, dass sich am Ende der Seinslogik zeigt, dass man mit den Seinsbestimmungen allein keine Bestimmungen von etwas erfolgreich vornehmen kann. Es gibt einen Anspruch der Bestimmung von etwas, dieser wird geprüft und es zeigt sich, dass der durch das bisherige Repertoire nicht erfüllt werden kann.6 Positionen, die denken, allein mit den Seinsbestimmungen könnte man etwas bestimmen, werden kritisiert und zurückgewiesen – und nicht selten wird dies von Hegel auch mit Namen von anderen Philosophen in Verbindung gebracht. Man kann den Übergang aber auch so beschreiben, dass Seins- und Wesenslogik den Arten der insgesamt notwendigen Bestimmungselemente entsprechen und man von der einen Art zur anderen übergeht: in der Seinslogik geht es um qualitative und quantitative Bestimmungen (denen entsprechen vor allem Raum und Zeit und damit auch die mathematischen Begriffe), in der Wesenslogik geht es vor allem um Bestimmungen von Verhältnissen – dem entsprechen logische Festlegungen wie Satz vom Widerspruch etc. und Modalitäts- und Relationskategorien. Für die Bestimmungen von Verhältnissen, bezieht man sich auf die bisherigen qualitativen und quantitativen Bestimmungen und setzt dadurch das Projekt der Logik fort. In dieser Beschreibung geht es nicht um Zurückweisung und Aufgabe einer Position, sondern um eine dynamische, fortlaufende Bestimmung. Nach all dem muss man sagen: Die Logik ist nicht nur die Basis für Kritik, sondern sie vollzieht sich, ohne dass es ihr immer anzusehen ist, als ein Prozess, in dem auch Ansprüche auftreten und zurückgewiesen werden bzw. das logische Repertoire entsprechend neu gefasst wird und dadurch immer umfangreicher wird. Sie verfolgt damit auch selbst die Methode der Kritik.7 Dies bedeutet, die These, die ich zwischendurch angeführt hatte, dass Hegel Rechtfertigung und Argumentation durch die logische Entwicklung ersetzt, trifft nicht zu. Vielmehr ist die logische Entwicklung auch mit Kritik verbunden und sogar immer auch Produkt von Kritik. Dies muss sie sein, weil innerhalb der Fortentwicklung immer wieder deutlich werden muss, für was eine Fortentwicklung nötig ist, und dies dadurch deutlich wird, dass man sich die Grenzen dessen, was bis6 Da es diesen Anspruch gibt, kommt es auch zu Selbstwidersprüchen. Vgl. hierzu Quante (2018), S. 276. 7 Dennoch ist damit nicht gesagt, dass Hegels Philosophie nicht letztlich auch das Bestehende bestätigen könnte. Es könnte nach wie vor sein, dass die Logik selbst wiederum als ein Prozess verstanden werden muss, der zu einem endgültig höchsten Standpunkt führt, und dass das diesem Standpunkt entsprechende Entwicklungsstadium der Realität keiner Kritik mehr bedürftig wäre – das glaube ich nicht, wie ich ganz am Ende noch ausführen werde.

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her gemacht worden ist, verdeutlicht. So verstanden ist dies Kritik in einem logischen Prozess. Wenn jemand – wie das in der Geschichte der Philosophie nach Hegels Meinung passiert ist – Momente dieses Prozesses zu seinem eigenen philosophischen Standpunkt macht, mit dem er sich identifiziert, so ist die Kritik an seiner Position auch Teil eines psychologischen Prozesses, der mit der Aufgabe einer Position verbunden ist. VI. Hegels Kritik als das Beste seiner Philosophie Ich habe in meinen Ausführungen die Frage verneint, ob Hegel Kritik letztlich zugunsten einer Logik als wahrer Bewegung des Denkens aufgibt. Damit ist auch der Meinung widersprochen, dass es Hegels philosophischen Grundgedanken entspricht, Kritik aus erfolgreichen politischen Verhältnissen auszuschließen. Überwunden werden soll nur die Haltung von Kritik, die einem Beharren auf dem eigenen Standpunkt gleichkommt. Die Methode des Denkens, die in der Logik dargelegt wird, ist, so war dann meine These, vielmehr selbst kritisch, indem sie immer wieder Vermittlungen und Übergänge zu komplexeren Prinzipien sucht, und hierbei Ansprüche, Prüfungen und Fortschritte durchaus eine Rolle spielen. Hegel versteht Kritik also als einen Prozess, bei dem es zu Ansprüchen, Prüfungen und Übergängen zu neuen Konzeptionen kommt. In diesem Prozess spielen Widersprüche eine wichtige Rolle. Hervorzuheben ist aber auch, dass dieser Prozess kein Gegeneinander von Individuen oder Gruppen bedeuten muss, sondern gemeinsam stattfinden soll, und dass das Ergebnis auch nur dadurch wirklich und verbindlich ist, dass es gemeinsam erreicht wird. Dies scheint mir auch – nach wie vor – eine echte politische Herausforderung, die natürlich auch sogleich eine Menge kritischer Fragen hervorruft. Hier liegt meines Erachtens aber auch nach wie vor Hegels Aktualität. Ich habe bisher noch nicht die Fragen nach dem Zusammenhang zu anderen Thesen beantwortet. Kann man den an sich attraktiven Gedanken, dass Kritik an reale Erfahrungen geknüpft wird, lösen von der These, dass Missstände und sogar Versklavung und Krieg für eine gelungene Entwicklung erforderlich sind? Es scheint, dass zumindest ein Teil der Extreme in Kriegen und Asymmetrien Produkt der Haltung sind, die, nach meinem vorstehenden Vorschlag, mit der Philosophie gerade überwunden werden sollen: dass man sich der Logik des Denkens verschließt, weil man sich an seinen einseitigen Standpunkt bindet. Man müsste also fragen, inwiefern die Überwindung des psychologischen Prozesses von Kritik auch zur Logik des Denkens gehört und diese Extreme nach Hegel in der Vergangenheit aus diesem Grund notwendig waren. Immerhin wären sie dann auch nur notwendig gewesen, um etwas zu überwinden, das man überwinden muss, und das immer als einseitig zu erkennen gewesen ist. Aber so kann man die These der realen Asymmetrien nicht auflösen, da die Extreme nach Hegel sicherlich nicht nur der psychologischen Haltung des Beharrens entsprungen sind, sondern auch direkter damit zusammenhängen, dass die logi-

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schen Konflikte eine reale Seite haben müssen. Das ist deshalb ein schwieriger Fall, weil hier das Attraktive, dass Thesen und Gedanken sich realisieren und erfahren werden müssen, mit dem nicht Attraktiven der Rechtfertigung von Extremen in Form von Kriegen, Versklavung und Missständen verbunden scheint. Könnte man dies nicht gemeinsam in Kunstformen darstellen, von denen ja auch Hegel mit Antigone ein Beispiel gibt?8 Solche Fragen, die hier einen Ausweg darstellen könnten, kann ich hier nicht mehr beantworten. Offen ist auch noch, ob man, wenn man Hegels Kritikbegriff als das Beste und als etwas Bewahrenswertes ansieht, auch seine Auffassung teilen muss, dass es Fortschritt gibt. Nach dem Gesagten ist zumindest sicher, dass es für Hegel Fortschritt in einem gewissen Sinn geben kann – denn es gibt demnach eine Logik des Denkens, anhand derer wir Denkprozesse gemeinsam vollziehen können. Muss dann aber auch die Rationalität des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts als Krönung aller möglichen Entwicklungen angesehen werden? Auch diese Frage kann man aus meinen bisherigen Überlegungen heraus ansatzweise beantworten: Die Logik des Denkens hat sich nach Hegel geschichtlich entwickelt, vor allem ist sie mit der Zeit (bis zu Hegels Lebzeiten) transparent geworden. Daher gab es zumindest noch nie so klar die Möglichkeit, von ihr gemeinsam Gebrauch zu machen. Wer angesichts der Transparenz der Logik des Denkens immer noch in alten Denkmustern des Kampfes verharrt, macht einen größeren (zunächst epistemischen) und auch unnötigeren Fehler als Menschen früherer Zeiten. Für wie statisch und final man diesen Fortschritt ansieht, hängt allerdings wieder davon ab, wie man einzelne Abschnitte der Logik liest. Ich würde sagen, dass Hegels Pointe hierzu im Wirklichkeitskapitel zu finden ist.9 Demnach will Hegel darauf hinaus, dass es 1.) kein Wesen von etwas in dem Sinn gibt, dass dieses Wesen feststeht und gegeben ist, dass etwas aber 2.) dadurch absolut notwendig und verbindlich wird, dass wir es als gesetzt und vermittelt in unserer gemeinsamen durchdachten Praxis etablieren. Es gibt also nicht an sich ein Wesen, sondern es wird etwas zum Wesen, dadurch dass wir es in bestimmten denkenden Prozessen zu einem solchen machen. Wenn man dies als eine Pointe Hegels ansieht, so muss jeder gemeinsame kritische Prozess immer wieder so sein, dass die verbindliche Wirklichkeit in ihm gemeinsam so gestaltet wird, dass er dann verbindlich ist. Ich denke, wenn man das so liest, dann kann man sich das Kritikverständnis Hegels tatsächlich zu eigen machen. Aber hier muss man sich dann auch über Folgendes im Klaren sein: Eine andere Lesart der Logik führt zu einer anderen Auffassung von Kritik und ihrer Rolle. Ich finde sie so, wie sie sich jetzt darstellt – also verbunden mit der Auffassung von wandelbaren, im Denkprozess verbindlich werdenden Prinzipien – tatsächlich das Beste von Hegel. 8

Vor einem solchen Hintergrund versteht man allerdings auch die These besser, die sich v. a. im neunzehnten Jahrhundert bei einigen findet (beispielsweise bei Kierkegaard oder Stifter), dass man die Erkenntnisse darüber, wie die Wirklichkeit verfasst ist, gerade nicht im Drama und in der Tragödie (oder im Ausnahezustand), sondern in einer Prosa findet, die sich am „Kleinen“, „Normalen“, „Alltäglichen“ orientiert. 9 Emundts (2018).

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Literaturverzeichnis Arndt, Andreas: Karl Marx Versuch u¨ ber den Zusammenhang seiner Theorie, 2. Aufl., Berlin 2012. Emundts, Dina: Kommentar zum Abschnitt ,Wirklichkeit‘ in Hegels Logik, in: Michael Quante, Nadine Mooren (Hrsg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2018, S. 387 – 56. Heuberger, Adrian: „Das Erste ist das Letzte und das Letzte ist das Erste“, Manuskript, ab 2022 veröffentlicht im Archiv der Universität Potsdam. Quante, Michael: Die Lehre vom Wesen. Erster Abschnitt. Das Wesen als Reflexion in ihm selbst, in: Michael Quante, Nadine Mooren (Hrsg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2018, S. 275 – 324. Röttgers, Kurt: Kritik und Praxis, Berlin, New York 1975.

Idealismus und Philosophie bei Hegel Rafael Aragüés Aliaga Der Urheber der spekulativen Logik oder vom Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, der Philosoph der Dialektik von Herr und Knecht, der Begründer des Gedankens eines Sozialstaates, der Denker von Vernunft und Freiheit – Hegel ist so vielfältig wie einflussreich. Ihm verdanken wir entscheidende Einsichten in Begriffe wie Aufhebung, Leben, Wahrheit, Vernunft, Recht, Freiheit, Geist, Bewusstsein, Selbstbewusstsein und viele andere. Hegel wird nach wie vor eifrig gelesen, verteidigt, kritisiert, verleumdet. Seine Philosophie ist genauso aktuell wie umstritten, sein Wirken reicht bis in die Gegenwart. Umso schwer kommt es einem vor, das Beste von Hegel auszuwählen. Es sei deshalb eine leichte Änderung in der Aufgabe gestattet. Anstatt das Beste, wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige zentrale Gedanken Hegels skizzenhaft darzulegen. Der vorliegende Text wird sich also mit keinem besonderen Thema bei Hegel auseinandersetzen, sondern eine allgemeine Darstellung vom Kern seines Denkens wagen anhand von Schlüsselbegriffen wie Philosophie, Idealismus und System. Eine nicht weniger heikle Sache, die jedoch der Mühe wert ist, um doch das Beste von Hegel zu würdigen.

I. Hegel ist ein idealistischer Denker. Er wird in den üblichen Lehrbüchern zur Geschichte der Philosophie innerhalb des Deutschen Idealismus präsentiert. Diese Bezeichnung dient lediglich zur ersten Orientierung, denn bekanntlich unterscheiden sich die Philosophien etwa von Plato und George Berkeley grundsätzlich, obschon beide als Idealisten gelten mögen. Man sollte deshalb zunächst einmal erklären, was man unter Idealismus bei Hegel versteht, oder noch besser, was Hegel selbst für Idealismus hielt. In der 1831 kurz vor dem Tod Hegels veröffentlichten, zweiten Ausgabe der Seinslogik fügte er eine Anmerkung zum zweiten Kapitel des ersten Abschnittes, Das Dasein, hinzu, die mit folgendem einleuchtenden Text beginnt: „Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem, als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seyendes anzuerkennen. Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus, oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist.“ (GW 21, 142)

Der Idealismus, so Hegel, besteht in der Einsicht, dass das Endliche keine Wahrheit enthält, dass die Wahrheit keineswegs im Endlichen liegt. Er beruht auf der Er-

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kenntnis, dass die Wahrheit des Endlichen vielmehr im Ideellen liegt. Die idealistische Philosophie wendet deshalb ihren Blick vom Endlichen ab und steigt zum Ideellen, zum reinen Denken auf. Ferner behauptet Hegel ebenfalls, dass jede Philosophie den Idealismus wenigstens zu ihrem Prinzip hat. Es kommt darauf an zu sehen, inwieweit dieser Idealismus vollbracht worden ist. Denn Philosophie bedeutet Nachdenken und jede Philosophie impliziert deshalb eine Änderung der Sichtweise, eine Befreiung vom Endlichen, eine Abkehr von den gewöhnlichen Angelegenheiten hin zu allgemeinen Themen, zum Denken überhaupt. Philosophie ist deshalb für Hegel Idealismus, und der Idealismus bedeutet, sich vom Endlichen wegzuwenden und auf das Allgemeine zu achten. Nicht umsonst gehört jene Anmerkung Hegels dem Kapitel über das Dasein an. Dasein ist bestimmtes Sein. Es ist die starre Einheit von Sein und Nichts. Als bestimmtes Sein, erläutert Hegel in jenem Kapitel, definiert sich das Dasein sowohl durch das, was es ist, als auch durch das, was es nicht ist, nämlich durch sein Anderes. Das Dasein ist Etwas, und Etwas bestimmt sich immer im Gegensatz zum Anderen. Die Denkbestimmung des Daseins führt notwendig zum Anderen, denn als qualitativ bestimmtes Sein enthält die Negation in sich und definiert sich durch das, was es nicht ist, durch das Andere. Das Dasein ist deshalb ein qualitativ beschränktes Sein, von daher ein endliches Sein. Es handelt sich nicht mehr um das Sein, reines Sein, ohne weitere Bestimmung, das die Logik zu Anfang behandelt. Nunmehr geht es um ein bestimmtes, endliches Sein. Von dem sagt Hegel in der Anmerkung, dass es keine Wahrheit enthält. Dies zu verstehen ist wesentlich, um den Idealismus der Philosophie zu begreifen. Nun könnte gefragt werden, warum man sich vom Endlichen abwenden und zum Denken erheben sollte. Hegels Antwort dazu ist uns sehr vertraut, denn er weist auf etwas hin, was jedem Menschen bekannt ist. Das eigentliche, im philosophischen Sinne ursprünglich Wahre liegt nicht im Endlichen, weil das Endliche, das wissen wir, früher oder später vergeht. Alles Endliche geht zugrunde, sei es schnell oder langsam. Ob in einem oder in hundert Jahren, das Endliche hat ein Ende, geht unter, wird nichts. Der Mensch beobachtet dieses Faktum schon ab seiner Kindheit, und diese Erfahrung wird mit den Jahren umso gegenwärtiger. Selbst unser Leib wird irgendwann sterben, sich langsam verderben und nach genügend Zeit in nichts auflösen. Dasselbe trifft diesen Laptop, dieses Zimmer, selbst nach Jahrtausenden die ganze Erde. Das ist die Natur des Endlichen, so Hegel in diesem Kapitel der Logik. Denn das Endliche ist ein bestimmtes, beschränktes Sein, das heißt, es enthält das Nichtsein in sich. Es vergeht früher oder später. Hegel drückt diesen Gedanken prägend aus: „Das Seyn der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichseyn zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes.“ (GW 21, 116) Aufgrund dessen beruht die Wahrheit des Endlichen im Ideellen. Das Endliche hat nur Wahrheit, insofern es Denkbestimmungen verkörpert bzw. insofern es das Vernünftige darstellt. Was die endlichen Dingen an Wahrheit und Objektivität besitzen, das erhalten sie vom Denken, von der universellen Vernunft oder, was bei Hegel dasselbe ist, von der Idee.

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Die Philosophie ist also Idealismus. Sie besteht in der Erkenntnis, dass das Endliche als wahres oder, insofern es Wahrheit enthält, ideell ist. Philosophie ist Liebe zur Wahrheit und beansprucht die Vernunfterkenntnis des Allgemeinen. Selbstverständlich handelt die Philosophie ebenfalls vom Endlichen. Hegel selbst behandelt das Endliche in seinem philosophischen Werk. Jedoch handelt die Philosophie über das Endliche nur insofern es ideell ist. Sie thematisiert das Endliche lediglich als Darstellung des Vernünftigen und Freien. Sie betrachtet das Endliche nur insofern es ein Dasein der Vernunft ist, bloß insofern es die Vernunft darstellt. Darüber hinaus ist dieses gegebene Dasein endlich, vorübergehend und falsch. Streng genommen handelt die Philosophie lediglich über das Denken. Die Idee ist ihr einziger Gegenstand und Inhalt. Denn nur in der Vernunft, so Hegel, liegt die Wahrheit. Um diese interpretative These zu bekräftigen, gehen wir zum Ende der Logik. Die Wissenschaft der Logik wird mit ihrem letzten Abschnitt über die Idee abgeschlossen. Dieser letzte Abschnitt beginnt mit einem Gedanken, der in seiner ganzen Bedeutsamkeit zu nehmen ist: die Idee ist das Wahre. Alles andere ist nur wahr, insofern es Idee ist. Und allein um die Erkenntnis der Wahrheit kümmert sich die Philosophie. Im letzten Kapitel der gesamten Logik drückt dies Hegel entscheidend aus: „Sie ist der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie. Indem sie alle Bestimmtheit in sich enthält, und ihr Wesen diß ist, durch ihre Selbstbestimmung oder Besonderung zu sich zurückzukehren, so hat sie verschiedene Gestaltungen, und das Geschäft der Philosophie ist, sie in diesen zu erkennen. Die Natur und der Geist, sind überhaupt unterschiedene Weisen, ihr Daseyn darzustellen“. (GW 12, 236)

Ohne Zweifel ist diese Stelle einer der zentralen Texte Hegels. Die Philosophie hat die absolute Idee zum Inhalt. Sie ist ihr einziger Untersuchungsgegenstand. Die Idee ist aber die Vernunft in eigentlich philosophischer Bedeutung. Von daher ist die Vernunft der einzige Inhalt und Gegenstand der Philosophie. Die Wissenschaft der Logik ist nichts anderes als eine Untersuchung der Vernunft und ihrer Bestimmungen in ihrem eigenen Element: im Denken. Dies ist der Begriff der Wissenschaft der Logik, der erst am Schluss des Werkes erreicht wird. Aber die Philosophie beschränkt sich nicht auf die spekulative Logik. Denn die Vernunft oder die Idee enthält in sich den Trieb zur Selbstbestimmung, zur Selbsterkenntnis im Anderen und Rückkehr zu sich selbst. Die Idee hat dementsprechend andere Gestaltungen, und zwar zwei noch: Natur und Geist. Die Arbeit der Philosophie besteht darin, die absolute Idee in Natur und Geist zu erkennen und darzustellen, den Weg ihrer Selbsterkenntnis und ihr Rückkehr zu sich selbst in einem genuinen System der Vernunft zu beschreiben. Hegels Ansicht nach liegt im Kern der Vernunft den Impuls, sich zu besondern, sich im Anderen darzustellen. Die Vernunft ist weder ein Prinzip noch eine Theorie, sondern eine Bewegung, eine Dynamik. Sie hat den Trieb in sich, aus sich herauszutreten, sich in der Natur darzustellen, sich in ihr zu erkennen und allmählich durch einen echten Selbsterkenntnisprozess als Geist zu sich zurückzukehren. Diese innere Dynamik der Vernunft begründet erst am Ende der Wissenschaft der Logik ein System der Philosophie, welches die Selbsterkenntnis der Idee in ihren drei Momenten darlegt. Dabei lohnt es sich noch einmal zu betonen, dass es auf diesem langen Weg durch das Sys-

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tem der Philosophie Hegels letztendlich um die absolute Idee geht. Selbst wenn die Philosophie den Staat, das Recht oder das Sonnensystem behandelt, erkennt sie in all diesen Gegenständen die absolute Idee wieder; sie stellt in der Wirklichkeit den Inhalt der Vernunft dar, denkt also beispielsweise über die Idee des Staates aus Vernunftprinzipien nach. Die Philosophie erklärt uns folglich den Staat der Idee, denn sie handelt lediglich um die absolute Idee. Sie ist, laut Hegel, ihr einziger Inhalt und Gegenstand. Denn allein die Idee ist das Wahre. Alles andere hat für die Philosophie keinen Wert an sich. Hegel ist meines Erachtens diesbezüglich sehr klar: „Alles Uebrige ist Irrtum, Trübheit, Meynung, Streben, Willkühr und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Seyn, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit.“ (GW 12, 236)

Die Philosophie handelt allein von der absoluten Idee, weil sie die Wahrheit und alle Wahrheit, sich wissende Wahrheit ist. Alles andere ist falsch, vorübergehend, vergänglich. Alles andere ist da, existiert, hat aber keinen Wert an sich. Doch warum vertritt Hegel eine solche starke These? Warum behauptet er, dass allein die Idee oder die Vernunft das Wahre und alles Wahre ist? Welche Gründe führen ihn zu einem solchen, dem gesunden Menschenverstande entgegenstehenden Idealismus? II. Zur Beantwortung dieser Frage muss man einen Schritt in Hegels Werk und Leben zurück tun. 1802 veröffentlicht Hegel in Jena Glauben und Wissen. Es handelt sich um ein polemisches Werk, worin Hegel sich eine kritische Position zu Kant, Fichte und Jacobi erarbeitet. Dennoch beinhaltet dieses Werk aufschlussreiche Passagen, die zum Verständnis von Hegels eigener Philosophie dienen. Insbesondere enthält der Abschnitt zu Kant die Antwort auf unsere Frage nach der Grundlegung des Idealismus. Hegel setzt Kants großes Verdienst darein, den Idealismus erwiesen zu haben (GW 4, 325). In der Tat hat nicht Hegel, sondern bereits Kant den Idealismus erwiesen. Allerdings hat er diesen Idealismus nicht zu Ende vollbracht, und darin liegt in Hegels Augen der Mangel seiner Philosophie. Der Beweis des Idealismus finde sich aber bei Kant, und zwar in der transzendentalen Deduktion der Kategorien, innerhalb seiner Kritik der reinen Vernunft. Auf dem Standpunkt des gesunden Menschenverstandes hat man ein gewissermaßen naives Weltbild. Anhand dessen wohnen wir Menschen auf der Welt und nehmen die uns umgebenden Gegenstände wahr. Diese Gegenstände sind unseren Sinnen gegeben: wir sehen die Möbel unserer Wohnung, die Gebäude gegenüber, die Bäume auf der Straße, usw. Wir öffnen unsere Sinne und nehmen eine Menge von Gegenständen wahr, aus denen wir durch intellektuelle Leistungen abstraktere Begriffe bilden. Mit diesem gewöhnlichen Verständnis des gesunden Menschenverstandes bricht Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft. Bekanntlich wurde er dabei von David

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Hume stark beeinflusst, der ihn aus seinem dogmatischen Schlummer weckte. In der transzendentalen Ästhetik zeigt Kant, dass der Sinnlichkeit lediglich Empfindungen, keineswegs aber Gegenstände unmittelbar gegeben werden. Zudem gibt es Kant zufolge zwei apriorische Formen der Sinnlichkeit, die durchaus nicht empirisch gegeben sind: Raum und Zeit. Der Punkt ist entscheidend: streng genommen sind den Sinnen keine Gegenstände, sondern Empfindungen gegeben. Was die Sinnlichkeit erfasst, ist eine formlose Vielfalt von sinnlichen Daten. Zur Erkenntnis eines Gegenstandes reicht also die bloße Sinnlichkeit nicht. Um einen Gegenstand überhaupt wahrzunehmen, ist darüber hinaus die Arbeit des Verstandes nötig. Kants Erklärung des Erkenntnisprozesses lässt sich wie folgt skizzieren. Der Sinnlichkeit ist ein formloses Chaos lauter Empfindungen gegeben. Die transzendentale Einbildungskraft vereinigt jene Empfindungen und bildet Vorstellungen. Der Verstand wiederum vereinigt diese Vielfalt von Vorstellungen in einem Gegenstand unter der Regel eines Begriffs. Dabei setzt der ganze Prozess apriorische Elemente voraus, die als Bedingungen der Möglichkeit zunächst einmal von Gegenständen überhaupt, und dann von der Erfahrung gelten. Unter anderem müssen die reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien vorausgesetzt werden, aufgrund deren die verschiedenen Vorstellungen in Gegenstände vereinigt werden. Die Kategorien umfassen insgesamt zwölf reine Begriffe, welche Kant aus den zwölf Urteilsformen ableitet (KrV B 107 / A 81). Diese erste Deduktion der Kategorien begründet, welche und wie viele Begriffe als reine Begriffe des Verstandes gelten. Sie wird von Kant „metaphysische Deduktion“ genannt und stellt für ihn keine große Herausforderung dar, obwohl sie später umstritten wurde. Einmal die zwölf Kategorien etabliert, unternimmt Kant die sogenannte transzendentale Deduktion derselben, die eine Begründung ihrer objektiven Gültigkeit beansprucht. Die Aufgabe der transzendentalen Deduktion ist zu erklären, warum jene Kategorien die apriorischen Bedingungen eines Gegenstandes überhaupt sind (KrV B 122 / A 90). Um Kants Argument zu verstehen, muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass der Sinnlichkeit lediglich lose Empfindungen gegeben sind. Die Einheit dieser Empfindungen in Vorstellungen wird erst durch die Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft möglich. Weiterhin vereinigt die Synthesis des Verstandes die verschiedenen Vorstellungen in einem Gegenstand, sodass zum Beispiel die unterschiedlichen visuellen Perspektiven als dem einen und selben Gegenstand gehörend erkannt werden. Nun setzen die Synthese von Verstand und Einbildungskraft eine noch ursprünglichere Einheit voraus (KrV B 132 ff.). Denn jede Synthesis ist eine Vereinigung auf der Grundlage einer ursprünglichen Einheit. Es gibt aber lediglich eine noch grundlegendere Einheit, nämlich die Einheit des Denkens. Folglich ist die Einheit des „Ich denke“ oder Apperzeptionseinheit, auch von Kant als Einheit des Selbstbewusstseins bezeichnet, die Grundlage zur Synthesis des Verstandes, zu den Kategorien und letztendlich zur Einheit eines jeden Gegenstandes. An diesem Punkt sieht Hegel den Beweis des Idealismus. In der transzendentalen Deduktion der Kategorien wird Hegel zufolge gezeigt, dass die Einheit aller Gegenstände auf dem Denken beruht. Man denke noch einmal an die Kategorien: Realität,

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Limitation, Existenz, Substanz, usw. Was man dabei behauptet ist eben, dass all dies in der Einheit des Denkens liegt. Das Ergebnis der kantischen Philosophie und ihr großes Verdienst besteht in dieser Einsicht: was die Dinge an Realität, Substantialität und Objektivität besitzen, das erhalten sie dank des Denkens. Ohne das Denken und ohne die Einheit des Selbstbewusstseins löst sich die Wirklichkeit auf. Auf diesen Schluss kommt Hegel, wie man in Glauben und Wissen lesen kann. „Und deßwegen kann, und in dieser Potenz muß das absolute Urtheil des Idealismus in der kantischen Darstellung so aufgefaßt werden, daß das Mannichfaltige der Sinnlichkeit, das empirische Bewußtsein als Anschauung und Empfindung, an sich etwas unverbundenes, die Welt ein in sich zerfallendes ist, das erst durch die Wohltat des Selbstbewußtseyns der verständigen Menschen einen objectiven Zusammenhang und Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit erhält; eine objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft.“ (GW 4, 330)

Ohne Zweifel ist dieser letzte Gedanke, der Mensch projiziere die Kategorien auf die Welt, der Kantischen Darstellung nicht gerecht. Nicht umsonst redet Kant von einer transzendentalen Subjektivität, welche die intersubjektive Grundlage für das Verständnis und die Bildung jeder empirischen Subjektivität ausmacht. Eben sowenig versteht Hegel den Idealismus in so einer subjektivistischen Auffassung. Die Pointe ist vielmehr, wie Hegel die transzendentale Deduktion der Kategorien interpretiert. Ihm zufolge hat Kant darin gezeigt, dass Realität, Substantialität oder Objektivität im Denken liegen. Kant hat erwiesen, dass die Dinge an sich weder Substantialität noch Einheit, Wirklichkeit oder Notwendigkeit besitzen. Er hat aufgezeigt, dass sie nicht einmal für sich alleine Gegenstände sind, dass sie von daher gar keine Wahrheit an sich haben, dass alle Wahrheit aus dem Denken und der Einheit der Vernunft entspringt. Wahrheit liegt in der Vernunft, die Hegel nicht als transzendentales Ich auffasst, sondern als absolutes Wissen denkt, als die sich jenseits des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt befindende universelle Vernunft. Ausgehend von diesem Ergebnis beginnt der Hegelsche Idealismus. Wir haben nun Einsicht in die Gründe, wieso Hegel die endlichen Dinge nicht für das Wahre hält. Jedes Ding hat Einheit und Bestand, ist Etwas lediglich aufgrund des Denkens. An sich selbst sind sie aber nichtig. Die Wahrheit liegt vollständig im Denken bzw. in der absoluten Idee. Deshalb ist die Metaphysik als Fundamentaldisziplin der Philosophie Wissenschaft des Denkens und seiner Bestimmungen. Die Metaphysik ist Logik. III. „Die logische Wissenschaft, welche die eigentliche Metaphysik oder reine speculative Philosophie ausmacht“ (GW 21, 7) – so schreibt Hegel in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Wissenschaft der Logik. Bereits in Jena hatte er Vorlesungen zu Logik und Metaphysik gehalten. Während seiner späteren Nürnberger Zeit vollendet sich dieses genuin Hegelsche Verständnis einer spekulativen Logik, die Logik und

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Metaphysik einigt. Die spekulative Logik nimmt für Hegel den Platz einer ersten Philosophie ein, welche die Fundamente des gesamten Systems legen soll, ebenfalls aber die Stelle einer letzten Philosophie. Das System beginnt also mit der Logik als Fundamentaldisziplin und kommt nach dem Studium von Natur und Geist auf sie wieder zurück als letzte Wahrheit. Zu Beginn wird die Wissenschaft der Logik schlicht als Wissenschaft des Denkens und seiner Bestimmungen definiert. Anhand ihrer Einleitung ist die Logik „als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen.“ (GW 21, 34). Ihr Gegenstand ist „das Denken oder bestimmter das begreiffende Denken“ (GW 21, 27). Aus dem Gesagten erklärt sich warum die Wissenschaft des Denkens und seiner Bestimmungen die Fundamentaldisziplin oder Metaphysik bei Hegel ausmacht. Wenn alle Wahrheit und Objektivität im Denken liegen, wenn also die Dinge an sich und abgesehen von den in ihnen verkörperten Denkbestimmungen nichtig sind, dann versteht sich, dass das Hauptinteresse der Philosophie im Studium des reinen Denkens und seiner logischen Bestimmungen liegt. Dabei betont Hegel in der Einleitung, dass die spekulative Logik keine bloß formelle Wissenschaft ist, sondern einen umfangreichen Inhalt hat. Dieser Inhalt ist das Denken und seine Bestimmungen, und das ist das Wahre. Dementsprechend besteht die Wahrheit bei Hegel nicht in der Übereinstimmung des Denkens mit den wirklichen Tatsachen. Vielmehr beruht die Wahrheit auf der Übereinstimmung des Denkens mit sich selbst. Dieses Wahrheitsverständnis folgt direkt aus dem Hegelschen Idealismus. Wahrheit liegt demzufolge allein in der Selbsterkenntnis der Vernunft, denn sie ist die einzige Quelle aller Wahrheit und Objektivität. Erst am Schluss des Werkes, wie wir vorhin gesehen haben, erreicht die Wissenschaft der Logik ihren vollendeten Begriff: sie ist die Wissenschaft der Idee im Element des Denkens. Bis dahin aber schreitet die spekulative Logik allmählich und völlig a priori fort, indem sie die Denkbestimmungen in steigender Komplexität auseinander generiert. Durch ihre gesamte Darstellung zeigt uns die Logik, dass diese Bestimmungen keineswegs leere Formen seien, die einer empirischen Materie bedürfen würden. Vielmehr handelt es sich um Gedankenbestimmungen, die voller Inhalt in sich selbst sind. Die Aufgabe der spekulativen Logik ist dabei, ihre Entwicklung und ihr Ineinanderfließen zu beschreiben, alle und jede Bestimmungen des Denkens vollständig zu erschöpfen und sie bis zur Vollendung in der absoluten Idee zu bringen. Wir haben vorhin dargelegt, warum die Idee der einzige Untersuchungsgegenstand der Philosophie ausmacht. Dieser Gegenstand artikuliert sich allerdings auf solche Weise, dass er ein gesamtes System der Philosophie rechtfertigt.

IV. Zunächst einmal ist darauf hinzuweisen, dass die Wissenschaft der Logik am Anfang allein die Entwicklung reinen Denkens behandelt. Erst am Ende des Werkes

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wird deutlich, erstens, dass diese Entwicklung vollendet ist, und zweitens, dass sie mit zwei zusätzlichen philosophischen Disziplinen ergänzt werden muss, welche den Rahmen der spekulativen Logik sprengen und deshalb keine Metaphysik als solche ausmachen. Diese zwei weiteren Disziplinen sind bekanntlich die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes. Wir müssen uns aber an dieser Stelle erst einmal fragen, worauf sich die Notwendigkeit dieses Fortgangs jenseits der Wissenschaft der Logik gründet. Wenn auf dem Standpunkt des Hegelschen Idealismus die Wahrheit allein im reinen Denken liegt, wenn die Wahrheit also in der Übereinstimmung der Vernunft als Idee mit sich selbst besteht, und die spekulative Logik die Wissenschaft der Idee ist, dann könnte man sich rechtens fragen: Macht es überhaupt Sinn, sich nach dem Studium der spekulativen Logik einer philosophischen Behandlung von Natur und Geist hinzugeben? Wieso über Natur und Geist nachdenken, wenn die Wahrheit allein im Denken liegt, die Wissenschaft der Logik aber das vollständige Denken des Denkens darstellt? Bei der Betrachtung der Grundlegung des Systems der Philosophie sollte man auf den internen Charakter derselben achten. Hegels Gründe für das Fortgehen von der Logik zur Philosophie der Natur und weiter zur Philosophie des Geistes sind der absoluten Idee intern, welche nach wie vor das einzige Thema der Philosophie ausmacht. Hegel stellt keineswegs eine Philosophie der Natur oder eine philosophische Reflexion etwa über den Staat auf, weil Natur oder Staat existieren und uns interessieren würden. Das mag für eine informelle philosophische Meditation ausreichen, genügt jedoch im strikten Rahmen eines Systems der Vernunft nicht. Der Fortgang zur Philosophie der Natur und weiter des Geistes erfolgt aus Gründen, die aus der inneren Logik der absoluten Idee entspringen. Deshalb ist der Schritt von der Logik zur Naturphilosophie Hegel zufolge explizit nicht als ein Übergang zu verstehen. Dieser Schritt ist vielmehr als eine freie Entlassung der Idee zu fassen. Das Fundament der Naturphilosophie beruht auf den freien Entschluss der Idee, aus sich herauszutreten und sich in der Natur als ihrem Außersichsein zu erkennen. Man wechselt also das Thema nicht, man geht zu keinem anderen Untersuchungsgegenstand über. Vielmehr behandelt die Philosophie immer noch die absolute Idee, nun aber in ihrer Gestaltung als Natur. In ihrer Freiheit tritt die Idee aus sich heraus und stellt sich im Anderen, also in der Natur dar, worin sie sich wiedererkennt. Die Natur ist somit philosophisch als die Idee bzw. die Vernunft außerhalb sich selbst zu fassen, als die Idee in ihrem Anderssein zu begreifen. Doch was bedeutet diese Entlassung der Idee? Wenn die absolute Idee in sich das System des Logischen als die Gesamtheit aller logischen Bestimmungen enthält, dann erscheinen diese Bestimmungen in der Sphäre der Natur außereinander, und die Aufgabe der Naturphilosophie besteht darin, die Vernunft allmählich und stufenweise in der Natur wiederzufinden (Enzyklopädie § 249). Die Philosophie des Geistes behandelt die Idee in ihrer Rückkehr aus der Natur zu sich selbst. Der Fortgang zum Geist beschreibt den Prozess der Vernunft, sich von der Natur loszulösen und sowohl Freiheit wie Selbsterkenntnis als ihr Wesen zu begreifen. Die Vollbringung dieses Prozesses wird im absoluten Geist erreicht, wo der Geist

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sich abgelöst und befreit von seiner natürlichen Grundlage befindet und sich frei in Kunst, Religion und Philosophie entfaltet. Mittels der Philosophie kehrt die Idee zum ihr eigentümlichen Element des Denkens und von daher zur spekulativen Logik zurück. Das gesamte System legt somit den Selbsterkenntnisprozess der absoluten Idee dar. Es gründet sich aber insgesamt auf der inneren Dynamik der Vernunft. Denn die Vernunft zeichnet sich für Hegel durch die konkrete Allgemeinheit aus. Die Vernunft ist das Allgemeine, aber mit dem inneren Trieb zur Besonderung, zur Objektivierung. Die Vernunft, sagten wir oben, enthält den Impuls, sich im Anderen darzustellen und darin zu erkennen, wodurch sie aber wiederum zu sich selbst zurückkommt. Diese Dynamik der Vernunft als Idee gründet sich in der Logik des Begriffs, denn die Idee ist nichts anderes als der sich adäquate Begriff. Genauso wie der spekulative Begriff ist auch die Idee konkrete Allgemeinheit, nämlich eine Besonderheit und Einzelheit in sich umfassende Allgemeinheit, die sich aufgrund dessen in einem Dasein darstellt und sich darin erkennt. Denn die Vernunft erkennt letztendlich nur sich selbst. In der Erkenntnis von Natur und Geist sucht sie lediglich Begriffe, Gesetze, Theorien aufzustellen. Sie sucht also die Allgemeinheit, und denkt das Besondere immer unter dem Allgemeinen. Das Geschäft der Philosophie ist deshalb, diesen Idealismus zu erkennen und die Selbsterkenntnis der Vernunft sowohl in sich selbst als auch im Anderen darzulegen. Zu Hegels System der Philosophie muss weiterhin noch eine Eigentümlichkeit bemerkt werden. Aus der gesamten Architektonik des Systems folgt, dass Hegels Philosophie der Natur und des Geistes nicht als Metaphysik konzipiert sind. Denn die Hegelsche Metaphysik ist im eigentlichen Sinn nur die Wissenschaft der Logik. Das bedeutet nämlich, dass sie nicht ausschließlich reine, apriorische Überlegungen beinhalten, wie das bei der Logik der Fall ist. Sie nehmen vielmehr den Stoff der Fachwissenschaften auf und bilden ihn um. Dieser Stoff setzt sich aus Ergebnissen der empirischen Forschung der Naturwissenschaften, also aus Erkenntnissen der Erfahrung zusammen. Dasselbe gilt für historische und politische Ereignisse. Diese werden in Hegels Philosophie des Geistes eingefügt und als Bausteine der Entwicklung des Geistes erkannt. Nichtsdestotrotz sind beide Philosophien Teile eines Systems der Philosophie, wovon die Wissenschaft der Logik die Grundlage bietet. Denn es handelt sich stets um die eine absolute Idee, die erstens im Element reinen Denkens, zweitens in der Form des Außersichseins und drittens in der Rückkehr zu sich selbst sich befindet. Die Philosophie der Natur und die Philosophie des Geistes sind also aus guten Gründen Teile eines gesamten Systems der Philosophie. Beide gründen sich auf der Wissenschaft der Logik: sie erhalten von ihr erstens, die logischen Bestimmungen, die nun im Bereich der Natur und des Geistes wiedererkennt werden, zweitens ihre genuin philosophische Methode und drittens die jeweiligen Ideen des Lebens und des Geistes, denen ihre philosophischen Erkenntnisse untergeordnet sind. Darüber hinaus spielen in der Natur- und Geistesphilosophie die Erfahrung und die empirischen Erkenntnisse der Fachwissenschaften eine zentrale Rolle, und daraus folgt noch ein weiter wichtiger Punkt. Denn das bedeutet, dass

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beide Disziplinen mit den neuen Entwicklungen der Fachwissenschaften aktualisierbar sind. Metaphysik und Erfahrung sind deshalb in Hegels System der Philosophie paradigmatisch vereint. In seinem Werk kommt Hegel durchaus der Forderung nach, Philosophie systematisch zu betreiben. Er wird seinem eigenen Anspruch gerecht, ein System der Philosophie aufzubauen, das die vielfältigen Erkenntnisse der Naturund Geisteswissenschaften in Einklang bringt. Nebenbei sei auf die Aktualität dieser Aufgabe hingewiesen. Unsere Zeit bedarf mehr denn je einer einheitlichen, systematischen Perspektive über das Ganze des menschlichen Wissens. Das Entwicklungsniveau der Fachwissenschaften hat heutzutage ein Ausmaß erreicht, dass die Verbindung zwischen den Fächern entweder verloren gegangen, oder bloß in der pragmatischen Form einer interdisziplinären Arbeit vorhanden ist. Dennoch ist der Bedarf nach einer Einheit im Wissen nach wie vor da, weil er gerade auf der Einheit der Vernunft sich gründet. Selbst wenn Hegels System, wie es genau von ihm konzipiert wurde, nicht aktualisierbar wäre, bietet es trotzdem ein Modell dafür, in welchem über die Erkenntnisse der Fachwissenschaften, über historische und politische Ereignisse, sowie über die Entwicklungen im Bereich der Kultur philosophisch nachgedacht wird und all diese Kenntnisse systematisch in Verbindung miteinander gebracht werden. Ein großes Verdienst von Hegel ist dabei nicht zuletzt das gelingende Verhältnis von Metaphysik und Erfahrung sowie von Philosophie und Fachwissenschaften. Hegels Philosophie verabschiedet sich nicht von dieser Welt, sondern nimmt die Ergebnisse der Fachwissenschaften zur Kenntnis und integriert sie in ein einheitliches System, genauso wie die Philosophie heute noch tun soll. Zusammenfassend kann man feststellen, dass Hegel ein in der Geschichte beispielloses Verständnis von Philosophie eröffnet. Ihm zufolge ist die Philosophie Idealismus, das heißt, die Erkenntnis der absoluten Idee. Die absolute Idee ist das Wahre, und die Philosophie besteht gerade im Studium der Idee in ihren drei Gestaltungen: als logischer Idee, als Natur und als Geist. Somit beschreibt die Philosophie die Spekulation, welche die universelle Vernunft über sich selbst betreibt, behandelt ihre Selbsterkenntnis in sich selbst und im Anderen. Was jenseits der Idee liegt, „alles Übrige“, das Unvernünftige, ist da, existiert, aber sein Dasein ist vorübergehend, vergänglich, falsch. Allein die absolute Idee ist das Wahre, und aller weiterer Inhalt der Philosophie wird betrachtet, nur insofern er die Idee in sich hat und darstellt. Die Logik der Idee begründet weiterhin das System der Philosophie. Die Idee ist Allgemeinheit, aber konkrete Allgemeinheit, die sich in einem Dasein, im Anderen, nämlich in der Natur darstellt und sich darin wieder erkennt. Dementsprechend verfährt die Naturphilosophie, indem sie den Stoff der Naturwissenschaften, also ihre Begriffe, Gesetze und Theorien aufnimmt und darin die allmähliche Selbsterkenntnis der Vernunft feststellt. Die Erkenntnis ihrer selbst im Anderen impliziert schließlich die Rückkehr der Idee zu sich selbst, und diesen Rückweg schlägt die Philosophie des Geistes ein. In der Philosophie des Geistes schreitet man von der natürlichen Leben des Geistes ausgehend über die zweite Natur, welche der Geist objektiv aufbaut, bis zum absoluten, vom natürlichen Band völlig befreiten Geist. Somit kehrt die

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Idee zur Philosophie, zum Denken und zu sich selbst zurück. Diese Logik der absoluten Idee, die darin besteht, aus sich selbst herauszugehen, sich im Anderen darzustellen und zu erkennen und zu sich selbst zurückzukehren, ist der Grund des Systems. Philosophie ist damit Idealismus, und der Idealismus ist nach der Kantischen Wende in der Geschichte des Denkens schließlich zum System der Vernunft von Hegel erhoben worden.

Der absolute Wille zu begreifen Wolfgang Welsch Was man für das Beste an Hegel hält, hängt von persönlichen Einschätzungen und Vorlieben ab. Und davon, wie man die gegenwärtige Situation der Philosophie einschätzt, inwieweit man in ihr Defizite sieht und sich dagegen einen Hegel der Zukunft wünschen würde. Hegel hat an der Situation der Philosophie seiner Zeit sehr gelitten. Von seiner Früh- bis in die Spätzeit hat er sie hart kritisiert. Schon als er mit Schelling das Kritische Journal der Philosophie plante, wollte er dem herrschenden „unphilosophischen Unwesen“ entgegentreten. So hat er es 1801 in einem Brief formuliert und in der Ankündigung des Journals wiederholt: Es geht darum, dass „die wahre Wissenschaft sich von der Unphilosophie scheide“.1 Im gleichen Jahr kritisiert Hegel in der Differenzschrift die Vorherrschaft des Verstandes, der als „Kraft des Beschränkens“ sein Gebäude „zwischen den Menschen und das Absolute stellt“, in welchem Gebäude dann zwar „die ganze Totalität der Beschränkungen zu finden ist, nur das Absolute selbst nicht“. Der Verstand, der sich zum Absoluten zu erweitern strebt, produziert „endlos nur sich selbst“ (2, 20).2 Die Philosophie der Endlichkeit, wie sie bis auf den heutigen Tag die Moderne durchherrscht, ist für Hegel eine traurige Gestalt. Als Hegel im Oktober 1818 seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität aufnimmt, stellt er in der Antrittsrede klar, dass die Philosophie nur dort florieren kann, wo der Geist nicht an „die Interessen der Not und des Tages“ gebunden ist und wo nicht die „Eitelkeit der Meinungen“ dominiert (10, 401). Das war ihm zufolge jedoch bis vor kurzem in Deutschland der dominierende Zustand. Die Philosophie war zur Bühne einer „Flachheit“ geworden, die den philosophischen Anspruch auf wirkliche Erkenntnis schlicht negierte. Man behauptete, „gefunden und bewiesen zu haben“, dass es „keine Erkenntnis der Wahrheit“ gebe (10, 402). Nicht, „was in Natur und Geist wahr und absolut ist“, könne erkannt werden, sondern „nur das Negative, dass nichts Wahres, sondern allein Unwahres, Zeitliches und Vergängliches“ erkannt 1 Brief Hegels an Hufnagel, 30. 12. 1801, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1: 1785 – 1812, hrsg. v. Johannes Hoffmeister (Hamburg: Meiner 31969), S. 64 f., hier S. 65; bzw. Schelling und Hegel, „Ankündigung des Kritischen Journals“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. v. Hartmut Buchner/Otto Pöggeler (Hamburg: Meiner 1968), 503 f., hier S. 503. 2 Hegels Schriften werden im Folgenden nach der Suhrkamp-Ausgabe (Frankfurt/Main 1986) unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert.

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werden könne (10, 402). Man war „so weit gekommen als Pilatus, der Römische Prokonsul; wie er Christus das Wort Wahrheit nennen hörte, erwiderte er dies mit der Frage: Was ist Wahrheit? – in dem Sinne als einer, der mit solchem Worte fertig sei und wisse, dass es keine Erkenntnis der Wahrheit gebe. So ist das, was von jeher für das Schmählichste, Unwürdigste gegolten hat, der Erkenntnis der Wahrheit zu entsagen, von unseren Zeiten zum höchsten Triumphe des Geistes erhoben worden“ (10, 402 f.). Vor allem „die sogenannte kritische Philosophie“ hat „diesem Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein gutes Gewissen gemacht, indem sie versichert hat, bewiesen zu haben, dass vom Ewigen und Göttlichen, vom Wahren nichts gewusst werde könne […]. Das Wahre nicht zu wissen und nur Erscheinendes, Zeitliches und Zufälliges, nur das Eitle zu erkennen, diese Eitelkeit ist es, welche sich in der Philosophie breitgemacht hat und in unseren Zeiten noch breitmacht und das große Wort führt“ (10, 403). – So Hegel 1818. Gut zweihundert Jahre später könnte man noch immer die gleiche Diagnose stellen. Einer derartigen Reduktion des philosophischen Anspruchs gilt Hegels energischer Einspruch. Er holt zum Gegenschlag aus. Er ist zuversichtlich, der „Morgenröte eines gediegeneren Geistes“ beizuwohnen (10, 403) und setzt auf den jugendlichen Geist, der „noch nicht in dem System der beschränkten Zwecke der Not befangen“, sondern „der Freiheit einer interesselosen wissenschaftlichen Beschäftigung fähig ist“ und den Mut besitzt, „Wahrheit zu verlangen“. Hegel zufolge ist es das Reich solcher Wahrheit, „in welchem die Philosophie zu Hause ist und welches sie erbaut“ (10, 404). Darauf folgen noch einmal emphatische Sätze: „Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muss sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen“ (10, 404). Das ist Hegels Einsatz und Anspruch: die Seichtigkeit des Zeitgeistes hinter sich zu lassen; die Widersprüchlichkeit des Endlichkeitsgefasels offenzulegen; stattdessen Philosophie im anspruchsvollsten Sinne – als Erkenntnis des Wahren – zu praktizieren. Drei Jahre nach seiner Berliner Antrittsrede, in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wird Hegel gar noch deutlicher. Er konstatiert einen „schmählichen Verfall“ der Philosophie (7, 12). Die Zufälligkeit und Willkür von Meinungen und Gefühlen hat die Herrschaft angetreten. Man glaubt, „dass das Wahre selbst nicht erkannt werden könne“ (7, 18). Jeder Anspruch „die Erkenntnis der Wahrheit“ wird „für eine törichte, ja sündhafte Anmaßung“ erklärt (7, 22). Die Wahrheits- und Objektivitätsansprüche sind aufgegeben, man ist im Sumpf von Subjektivismus, Gefühl, bloßer Meinung, Zufälligkeit und Willkür versackt. Die Philosophie hat sich der „Seichtigkeit“ übergeben (7, 18), die „unabwendbaren Ansprüche des Begriffes“ (7, 23) sind ihr „unbequem“ geworden (7, 22).

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Durch sein ganzes Werk hindurch opponiert Hegel der kritischen Philosophie Kants. Bei allen sonstigen Verdiensten hat Kant doch das philosophische Grundübel der gegenwärtigen Zeit befestigt: den Standpunkt bloßer Subjektivität. Alles, was wir zu erkennen vermögen, soll letztlich bloß subjektive Gültigkeit besitzen. Eine solche Beschränkung aber widerstreitet eklatant dem Begriff des Erkennens, der auf ein Begreifen der Gegenstände zielt, wie sie an sich sind: „Ungereimt ist eine wahre Erkenntnis, die den Gegenstand nicht erkennte, wie er an sich ist“ (5, 39). Derlei Objektivität erreicht der subjektive Idealismus aus systematischen Gründen nicht – weshalb er sie dann für unerreichbar erklärt. Kant redet zwar von Objektivität, aber dabei handelt es sich doch immer nur um die „Objektivität“ subjektiv bestimmter Erscheinungen. Eine Erkenntnis à la Kant enthält „nichts Objektives“. Die von Kant den Kategorien zugeschriebene Objektivität ist vielmehr „nur etwas Subjektives“ (8, 123). Die kantische Philosophie ist insgesamt ein „subjektiver Dogmatismus“ (20, 333). Hegels Kritik an diesem subjektivistischen Ansatz lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Seine Geringschätzung ist überdeutlich. Er nennt den subjektiven Idealismus einen „platten“ (8, 123), „albernen“ (17, 445), „philisterhaften“ Idealismus (20, 385) und spricht generell vom „schlechten Idealismus der modernen Zeit“ (18, 405 u. 440). Hat sich seitdem viel geändert? Schwerlich. Das zeitgenössische Denken bewegt sich noch immer im Fahrwasser Kants. Es hat die Kanäle der Beschränktheit allenfalls besser befestigt, feiner ziseliert, hübscher ausgemalt. Man glaubt, viel an Neuerungen bewerkstelligt zu haben, beispielsweise durch die Verabschiedung der Bewusstseinsphilosophie und den Übergang zur Sprachphilosophie. Aber so sehr der Berg auch gekreißt hat, er hat doch – vor und nach dem linguistic turn – nur kantische Mäuse geboren. Erinnern wir uns nur, wie Hilary Putnam nach den vielen Wendungen seiner Position am Ende als große Einsicht verkündete, dass sein interner Realismus eigentlich genau das sei, was schon Kant vorgeschlagen hatte.3 Und so steht es fürwahr. Die analytische Philosophie ist bis auf den heutigen Tag eine getreuliche Schülerschaft Kants geblieben. Hegels Vorhaben, die Moderne aus ihrer Verkantung zu befreien, ist noch immer uneingelöst. Natürlich war Hegel ganz und gar nicht der Auffassung, dass man über die Beschränkungen des subjektiven Idealismus dadurch hinauskommen würde, dass man das Prinzip der Subjektivität preisgibt. Ganz im Gegenteil. Man muss es zu Ende denken. Hegel schätzt das Prinzip der Subjektivität sehr hoch. Als er in seiner Geschichte der Philosophie zu Descartes und damit zur Grundlegung des Prinzips der Subjektivität kommt, schreibt er: „Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ,Land‘ rufen“ (20, 120). „Hiermit ist auf einmal die Philosophie in ein ganz anderes Feld, ganz anderen Standpunkt versetzt, nämlich in die Sphäre der Subjektivität“ (20, 130). 3 Hilary Putnam, Reason, Truth and History (Cambridge et al.: Cambridge University Press 1981), S. 60.

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Ungenügend ist aber, bei der bloßen Subjektivität zu verharren, sie selbst als etwas nur Subjektives zu verstehen, das dem Objektiven gegenübersteht. Erst wenn man die Identität des Subjektiven und Objektiven begreift, hat man auch die Subjektivität richtig aufgefasst. In der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts drückt Hegel dies so aus, dass an die subjektive Freiheit, wie die Philosophie der Subjektivität sie entfaltet hat, doch zugleich die unabweisbare „innere Anforderung ergangen ist“, nicht bei sich zu verharren, sondern die vorhandene Wirklichkeit „zu begreifen“ (7, 27). Allein bei der Subjektivität stehenzubleiben, wie die Endlichkeitsphilosophie es tut, amputiert die Subjektivität, beraubt sie ihres objektiven Potenzials. Die subjektive Freiheit muss erkennen, dass sie „in dem, was substantiell ist“, nicht untergeht oder beschränkt wird, sondern dass sie darin gerade aufrechterhalten und gestärkt wird, weil sie, mit diesem sich zusammenschließend, sich nicht mehr „in einem Besonderen und Zufälligen“ befindet, sondern im objektiv Vernünftigen ankert, „in dem, was an und für sich ist“ (7, 27). Hegel geht es um diese Versöhnung der subjektiven Freiheit mit der objektiven Vernunft, „der selbstbewussten Vernunft mit der seienden Vernunft“ (8, 47). Das ist der eigentliche Fokus seines zu Unrecht immer wieder inkriminierten Satzes „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“.4 Hegel geht es – und damit komme ich zum entscheidenden Punkt seines philosophischen Unternehmens – um das volle, das uneingeschränkte, das wahre und umfassende Begreifen. Gegen das Endlichkeitsgefasel ist er überzeugt, dass volles Begreifen möglich ist. Sein ganzer philosophischer Einsatz geht dahin, dieses volle Begreifen zu realisieren. Heute gilt es für ausgemacht, dass ein solcher Anspruch hypertroph sei. Das ist er für die Kleingeisterei der gegenwärtigen Tage in der Tat. Aber ist er es auch für eine Philosophie – egal welcher Couleur –, die wirklich Philosophie sein will? Gewiss war er es nicht für die großen Philosophien der Tradition, egal ob man an Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza und viele andere denkt. Ein solcher Anspruch musste nicht einmal im 20. Jahrhundert überzogen erscheinen. Er konnte sogar dort erhoben werden, wo nicht großphilosophische Projekte, sondern szientifische Präzision verfolgt wurde. Es sei nur daran erinnert, dass sich Otto Neurath, der führende Vertreter des Wiener Kreises (der eines Hegelianismus gewiss unverdächtig war), 1930/31 in seinem programmatischen Aufsatz „Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung“ voller Stolz an die zuvor zitierte Auffassung Hegels anschloss: „Wir befinden uns wieder in ähnlicher Stimmung, wie einst Hegel, mit dem wir […] sagen können: ,Der Mensch kann von der Größe und der Macht des Geistes nicht groß genug denken.‘“5 – Die Wege mögen unterschiedlich sein, das Pathos der Philosophie ist unverrückbar: Es geht um wahre Erkenntnis. 4 Vgl. dazu ausführlicher: Wolfgang Welsch, „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“, in: Wolfgang Welsch, Umdenken – Miniaturen zu Hegel (Berlin: Matthes & Seitz 2021), S. 162 ff. 5 Otto Neurath, „Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung“, Erkenntnis 1 (1930/31), S. 106 – 125, hier S. 125.

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Dem hat Hegel sich in seinem immens imponierenden Lebenswerk gewidmet. Die begriffliche Durchdringung der Wirklichkeit war sein Projekt und ist seine bleibende Leistung geworden. Hegels Wille zum absoluten Begreifen ist für immer vorbildlich. Das einzelne Philosophieren kann unter diesem Anspruch bleiben, aber dann bleibt es auch unter dem verbindlichen Maß der Philosophie. Begreifen ist deren Impetus, und ein vollständiges Begreifen ihr Ideal. In der Tat zielte Hegels Begreifensleistung auf die Durchdringung der gesamten Wirklichkeit. Keine von deren Sphären ist bei ihm unberücksichtigt geblieben. Hegel hat die Philosophie der Natur ebenso ausgeführt wie die des Geistes, er hat Logik, Religion und Ästhetik ebenso dargestellt wie er auch die ethische und die politische Sphäre expliziert hat. Hegel ist nicht nur tief, er ist auch umfassend. Wie war das möglich? Ausgedehnte Materialforschung, darüber täusche man sich nicht, war erforderlich. Hegel hat gelesen, studiert, sich umfassend kundig gemacht. Man könnte sich an Aristoteles erinnert fühlen, den Hegel als „Geistesbruder“ ansah und der bekanntlich ebenfalls immense Materialstudien betrieb und von ihnen aus zu einer geradezu enzyklopädischen Überschau über die gesamte Wirklichkeit (von der Eigenart der Pflanzen und der Verfassung des Kosmos bis hin zur Typologie politischer Verfassungen oder der Seinsweise Gottes) gelangte.6 Aber die Materialerforschung allein macht es nicht. Sie garantiert beileibe noch nicht das eigentliche Begreifen. Für dieses hat Hegel einen ganz eigenen und ihn im Kern kennzeichnenden Schlüssel entwickelt: seine Logik. An Hegels Logik sind zwei Aspekte besonders bemerkenswert. Erstens ist sie nicht einfach eine formale Logik, sondern eine Onto-Logik: sie gibt die Grundstrukturen alles Seienden an. Und zweitens ist sie von genetischem Zuschnitt: sie formuliert nicht eine feststehende Ordnung der Begriffe, sondern sie entfaltet deren sukzessiven Hervorgang auseinander, sie ist eine genetische Logik. Zum ersten Aspekt: Hegel zufolge liegen allen Formen der Wirklichkeit – der natürlichen wie der geistigen Wirklichkeit – logische Strukturen zugrunde. Die Formen der Logik, sagt Hegel, müssen als „von unendlich größerer Wirksamkeit auf das Konkrete gedacht werden, als es gewöhnlich genommen wird“ (6, 267 f.); sie sind „der an und für sich seiende Grund von allem“ (8, 85). „Die Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens beruht auf der Natur der reinen Wesenheiten, die den Inhalt der Logik ausmachen“ (5, 17). Die logische Bewegung ist also der „Vorbildner“ bzw. „innere Bildner“ alles Realen (6, 265). Die logischen Formen sind ontologisch fundamental.7 Dies bedeutet zugleich, dass durch die logischen Formen alles Seiende – welcher Sphäre es auch immer im Einzelnen angehören mag – grundlegend vereinheitlicht ist. Es ist dieser Basischarakter des Logischen, der Hegel seine enzyklopädische Umfassendheit erlaubt. Welchem Bereich auch immer er sich zuwendet, sein Blick rich6

Vgl. dazu Wolfgang Welsch, „Geistesbruder Aristoteles“, in: Wolfgang Welsch, Umdenken, a. a. O., S. 35 ff. 7 Vgl. Wolfgang Welsch, „Das Seiende als wandelnder Begriff“, in: Wolfgang Welsch, Umdenken, a. a. O. S. 64 ff.

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tet sich in erster Linie auf die logischen Formen, welche für diesen Bereich charakteristisch sind. Diese logische Perspektive ist für Hegel der Schlüssel, um erstens den jeweiligen Bereich zu erschließen und zweitens den Zusammenhang aller Bereiche zu erkennen. Somit steht bei Hegels enzyklopädischem Projekt, eben doch anders als bei Aristoteles, nicht Materialkenntnis im Vordergrund, sondern der Blick auf die logischen Strukturen. Es ist die ontologische Relevanz des Logischen, die zu Hegels System führt und dieses trägt. Kommen wir zur zweiten Eigentümlichkeit von Hegels Logik, zu ihrem genetischen Charakter. Hierin liegt der absolut neue Aspekt der hegelschen Logik. Dass die Logik ontologische Bedeutung hat, fand sich auch schon bei Platon oder Aristoteles und anderen. Aber dass die Begriffe nicht statischen, sondern dynamischen Charakters sind, dass sie in der logischen Bewegung auseinander hervorgehen – diesen Gedanken hatte vor Hegel noch niemand gefasst. Das „System der Begriffe“, sagt Hegel, bildet und vollendet sich in einem „von außen nichts hereinnehmenden Gange“ (5, 49). Es organisiert sich allein durch „die Selbstbewegung des Begriffs“ (3, 65).8 Jeder Begriff wird im Verlauf dieser Bewegung erzeugt. Man mache sich klar, was das bedeutet. Bislang waren die Begriffe stets als statische Größen aufgefasst worden. Über den einzelnen Begriff hinausgehende Überlegungen betrafen allenfalls das Verhältnis der Begriffe. So hat Aristoteles seine Grundbegriffe, die Kategorien, nach dem Verhältnis von Substanz und Akzidens geordnet; oder Platon hatte seine Grundbegriffe, die Ideen, in einem Verhältnis der Verflechtung (symploke´¯ ) gesehen. Aber niemals war erwogen worden, dass der Zusammenhang der Begriffe ein nicht nur relationaler, sondern ein genetischer sein könnte – dass nicht Begriffe, die zuerst einmal so sind, wie sie sind, dann sekundär in Beziehungen stehen, sondern dass die Begriffe von Grund auf einem gemeinsamen Bildungsprozess entstammen, dass sie auseinander hervorgehen. Das ist Hegels große und singuläre Neuerung. Was folgt daraus? Offenbar ist dies der Eröffnungszug für ein genuin geschichtliches Denken. Denn nur ein derartiges Begriffsverständnis gibt das Rüstzeug an die Hand für eine Konzeption, welche die Geschichte als prinzipiell offenes Feld begreift, wo der Ablauf also nicht etwa vorprogrammiert ist, sondern vom bisherigen Verlauf abhäng und in Kippmomenten immer wieder neu auf dem Spiel steht. Kurzum: Hegels genetische Konzeption der Begriffe legt die Fundamente für ein wahrhaft historisches Denken. Nun mag man allerdings einwenden, dass ein solches Denken doch schon vor Hegel auf den Weg gebracht worden war, etwa durch Vico oder Voltaire oder Herder. Das ist richtig. Hegel ist de facto weder der Begründer des historischen Denkens noch dessen klarster Exponent, hat er doch selber die Geschichte teleologisch verstanden – mit dem Fluchtpunkt der Freiheit. 8 Bzw. durch die „immanente Entwicklung des Begriffs“ (5, 17); „durch das eigene Leben des Begriffs“ (3, 51).

Der absolute Wille zu begreifen

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Aber die Geschichte der menschlichen Welt ist nicht die einzige Geschichte und schon gar nicht die umfassendste. Das ist eher die Geschichte der Natur. Und diesbezüglich hat Hegels genetische Revision des Logischen eine der größten Revolutionen des Denkens freigesetzt: die von Darwin entwickelte evolutionistische Sicht der Natur. Friedrich Nietzsche, den man nicht gerade für einen Adepten Hegels halten wird, hat dies klar erkannt und ausgesprochen. „Ohne Hegel“, sagte er, „kein Darwin.“9 Nietzsche sah das Neuartige der Hegelschen Logik zu Recht darin, dass Hegel gegen die bisherigen „logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen“ dargelegt hatte, „dass die Artbegriffe sich aus einander entwickeln“.10 Diese Veränderung des Verständnisses der Begriffe war so grundstürzend, dass sie den Weg für eine parallele Veränderung in der Konzeption der Natur freimachte. Indem Hegel die Begriffe aus einer statischen Konfiguration, wo sie neben- und untereinander standen, in eine dynamische Bewegung überführte, in der sie auseinander hervorgehen, hatte er die grundlegende Leistung vollbracht, den Durchbruch zu einem genetischen Denken bewirkt. Darwin konnte das Entsprechende dann im Blick auf die natürlichen Arten tun, indem er das jahrtausendealte Theorem der Konstanz der Arten verabschiedete und die neue Sicht begründete, dass die Arten sich auseinander entwickelt haben. Von daher sieht Nietzsche Darwins Theorie der Evolution als einen Sprössling von Hegels Revision des Logischen an. Darwin, sagt er, ist eigentlich „nur eine Nachwirkung“ Hegels gewesen.11 Fast wäre ich in meiner Eloge Hegels auf Abwege geraten. Hegels logische Neuerung mit Nietzsche und Darwin zu unterfüttern, könnte als verfehlt erscheinen. Zunächst Nietzsche: War dieser nicht ein emphatischer Erkenntnisdefaitist, also gerade das Gegenteil von Hegel? Vorsicht, Vorsicht! War Platon etwa ein Kunstverächter (wie man ebenfalls allzu leichtfertig daherposaunt), weil er im VII. Buch seiner Politeia eine einschneidende Kritik an der Kunst seiner Zeit vortrug? Platons Kunstkritik beruht auf höheren Ansprüchen an eine wahrhafte Kunst als die gängigen schalen Lobrednereien. In ähnlicher Weise zeigt Nietzsches Erkenntniskritik, dass dieser eigentlich (ebenso wie Hegel) ein Erkenntnis-Enthusiast war12 – nur (aufgrund von zu früher und zu viel Kant-Lektüre) ein tief enttäuschter Erkenntnissucher. Apostaten sind manchmal die strengeren Gläubigen.

9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [1887], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari (München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980), Bd. 3, 598 [357]. 10 Ebd. 11 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 bis Herbst 1885, in: Sämtliche Werke, Bd. 11, 442 [April – Juni 1885, 34/73]. 12 Im Übrigen: Nietzsche sah sich, was die Hochschätzung des Werdens angeht, stets als Hegelianer. Er meinte sogar, die Deutschen insgesamt seien es: „Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir […] dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zumessen als dem, was ,ist‘ – wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs ,Sein‘“ (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, a. a. O., 599 [357]). – Ach, wenn wir doch tatsächlich Hegelianer wären!

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Und Darwin? Der Gegensatz zu Hegel ist evident. Darwin hat eine strikte Evolution, einen sukzessiven Hervorgang der natürlichen Arten auseinander gelehrt. Hegel hingegen hat gemeint, dass es in der Natur nicht einmal eine zeitliche Aufeinanderfolge, geschweige denn einen Hervorgang der Formen auseinander gebe. Er vertrat ein Nil-novi-Prinzip: „Die Veränderungen in der Natur […] zeigen nur einen Kreislauf, der sich immer wiederholt; in der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne“ (12, 74). Die Gestalten des Lebendigen, meinte er, haben sich nicht langsam nacheinander entwickelt, sondern sind mit einem Schlag vollendet aufgetreten, so „wie Minerva aus Jupiters Haupte bewaffnet entspringt“ (9, 349). Evolutionistische Erklärungen sind in Hegels Augen völlig verfehlt.13 Darwin hat Hegel nicht gelesen. Dessen Ablehnung einer Evolution in der Natur wäre gewiss nicht geeignet gewesen, Darwin auf die Sprünge zu helfen. Aber Darwin bewegte sich in einem geistigen Klima, in dem Entwicklungsgedanken, die sich nicht auf periphere Geschehensketten, sondern auf Grundvorgänge beziehen, immer mehr in den Vordergrund getreten waren. Der Gedanke der Evolution lag sozusagen in der Luft. Bezüglich einer kosmischen Evolution könnte man schon auf Kants Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 verweisen, und dem Gedanken einer biologischen Evolution hatte vor Darwin schon Alfred Russel Wallace den Raum verschafft, in dem Darwin dann schließlich ein schlüssiges evolutionistisches Gebäude errichtete. Hegels Gedanke einer logischen Evolution hatte dieser Umstellung, wie untergründig auch immer, Auftrieb gegeben. Ähnlich vielleicht wie ein Maulwurf, mit dem Hegel einmal den Geist verglich, der unter der Erde fortgräbt und sein Werk vollendet (20, 462 u. 456). * Es geht nicht um Personen. Es geht – so hatte ich meine Hegel-Würdigung begonnen – um Erkenntnis und Wahrheit. So wie Hegel meinte,14 dass alle Philosophen Mitwirkende an dem einen großen Bau der bei philosophischen Wahrheit sind, so geht es im Gang der Philosophie wie der Wissenschaften, der Religionen wie der Künste, der ethischen wie der politischen Ordnungen und auch der Lebensformen und kulturellen Innovationen um Fortgang und Weiterbau, um den Aufbruch zu neuen Ufern, die manches hinter sich lassen, aber nicht alles preisgeben, es geht um einen Zuwachs an Leben, an Erkenntnis, an Glück. Niemand hat alles erfasst. Niemand besitzt ultimative Patente. Niemand hat das Paradies in Besitz genommen. Man muss auch mit Nietzsche, mit Darwin und mit vielen anderen (von Mahler bis Cage, von Duchamp bis Picasso, von Martin Luther King bis Greta Thunberg und und und …) den hegelschen Faden fortspinnen und vielleicht auch über ihn hinausgehen. Das ist ganz in Hegels Sinn. 13 „Es ist völlig leer, die Gattungen vorzustellen als sich nach und nach in der Zeit evolvierend“ (9, 32). 14 Hegel hat dieser Überzeugung in seiner Geschichte der Philosophie nachhaltig Ausdruck gegeben. Vgl. Wolfgang Welsch, „Die vielen Gestalten der einen Philosophie“, in: Wolfgang Welsch, Umdenken, a. a. O., S. 17 ff.

Ein Hegelianisches Modell Interkultureller Philosophie Ralf Beuthan I. Vorbemerkung: Interkulturelle Philosophie und Hegel1 Zwischenzonen und Austauschprozesse zwischen verschiedenen Kulturen – kurz: Interkulturalität – prägen Kulturen seit jeher,2 auch dort, wo diese sich zu verschließen suchen.3 Unter den gegenwärtigen Bedingungen einer global vernetzten Welt ist auch das Bewusstsein der Interkulturalität gewachsen und ein Zeichen unserer Zeit geworden.4 „Interkulturelle Philosophie“ trägt dieser Situation in besonderer Weise Rechnung. Sie setzt Interkulturalität auf die Agenda der Philosophie und forciert die Reflexion auf die kulturelle Implikatur der Philosophie selbst.5 Interkulturelle Philosophie ist damit nicht auf einen spezifischen Bereich der Philosophie (z. B. Ethik, Logik, Ontologie etc.) oder einen philosophischen Autor (z. B. Konfuzius, Platon, Kant, Quine etc.) oder eine spezifische Tradition (z. B. Neokonfuzianismus, German Idealism, Analytische Philosophie etc.) festgelegt. Vielmehr bestimmt sich Interkulturelle Philosophie ungeachtet der unterschiedlichen thematischen Perspektiven und Schwerpunkte oder methodischen Differenzen (hermeneutischer oder dekonstruktiver Textexegese, komparatistischer Kulturphilosophie, begriffstheoretische Metareflexion etc.) zunächst als Reflexion auf die kulturellen Differenzen und Konfigurationen, welche sich in der philosophischen Theoriebildung niederschlagen. Ihr methodisches Leitbild lautet vereinfacht: Einsicht in Gedanken durch Explikation von kultureller Differenz.6 1

Der vorliegende Beitrag stellt eine überarbeitete Fassung eines bereits publizierten Artikels dar (Beuthan (2017), „Interkulturelle Philosophie nach Hegel“, in: Koreanische HegelStudien 42), der für eine Sektion der Tagung „Das Beste von Hegel“ (Jena, 2021) als Diskussionsgrundlage diente. 2 Vgl. Holenstein (2004). 3 Vgl. Mall (2013). 4 Ohashi (1998, S. 168) spricht sogar vom „Zeitalter der Interkulturalität“. 5 Zur pluralen Kulturalität als Bedingung der Philosophie vgl. auch Thies (2011). Zur Bedeutung der Reflexion, näher: einer über die jeweilige Herkunftskultur hinausgehende Reflexion, für die Etablierung eines interkulturellen Dialogs vgl. Fornet-Betancourt (1998) und G. Paul (2008, S. 15 f.). Das komplexe Ineinander-Spielen des Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus in der asiatischen Welt bestätigt geradezu in paradigmatischer Weise den Befund einer interkulturellen Signatur der Philosophie. Vgl. dazu Wolfgang Bauer (2006), Geschichte der chinesischen Philosophie. 6 Dabei kann die Explikation „kultureller Differenz“ sowohl auf die kritische Analyse einer systematisch ausgeblendeten kulturellen Differenz abzielen als auch auf die Evaluation einer

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Das Interesse an Interkultureller Philosophie ist im Zuge der historischen und philosophiegeschichtlichen Entwicklungen7 der rund letzten 30 Jahren deutlich gewachsen.8 Folgt man markanten Leitmotiven und Grundüberzeugungen interkultureller Philosophie, dann entsteht jedoch der Eindruck, dass sie sich nicht nur historisch erst „nach Hegel“ als solche etablierte, sondern vor allem aus systematischen Gründen: Interkulturelle Philosophie, so sieht es aus, markiert zugleich eine deutliche systematische Distanz zu Hegel. „Nach Hegel“ heißt hier nicht nur ,zeitlich später‘, sondern vielmehr auch ,unabhängig von‘ und kaum „mit Hegel“. Zu sehr scheint Hegel wegweisenden postmodernen und postkolonialen Überzeugungen – etwa die einer nicht hegemonial überformten Pluralität von Lebensformen und Philosophien – zu widerstreiten, ohne welche interkulturelle Philosophie wohl kaum vorstellbar ist.9 Der Bezug auf Hegel ist in diesem Kontext ein kritisch-distanzierter. Hegel, so möchte man glauben, eignet sich hier nur noch als Gegenstand der Kritik und hat im Kern nichts oder wenig zu einer zeitgemäßen interkulturellen Philosophie beizutragen. – Muss man dieser Einschätzung folgen? Soweit ich sehe, hat bisher kaum jemand versucht, positiv an Hegel anzuschließen. Eine Ausnahme stellt die Arbeit von Kimmerle dar, der jedoch einem gängigen Interpretationsmuster folgend versucht, die positiven Aspekte primär im „jungen“ Hegel zu verorten, und damit den „reifen Hegel“, wie ich meine, deutlich unter-

theorieintern thematischen kulturellen Differenz und deren Konsequenzen. Vgl. dazu auch Wimmers programmatische Idee eines „Polylogs“ (2004, S. 66), womit sich die Forderung verbindet, dass „das Programm des Philosophierens trotz und mit Hilfe kultureller Differenzen durchführbar sein [soll]“ (ebd.). 7 Erwähnt seien hier nur der Prozess der Globalisierung und das Abklingen des Kalten Krieges einerseits sowie die verschiedenen postmodernen und postkolonialen Tendenzen in der Philosophie andererseits. 8 Seit mehr als 20 Jahren gibt es z. B. die Gesellschaft für „interkulturelle Philosophie“. Das Projekt interkultureller Philosophie wurde zweifellos durch verschiedenste Theorieansätze, Autoren und Lebenswerke begünstigt und avant la lettre betrieben. Hier sei nur an die enorme Übersetzungsarbeit des philosophisch reflektierten Sinologen Richard Wilhelm zu Beginn des 20. Jh. oder an Karl Jaspers Arbeiten erinnert (vgl. Jaspers 1957 und 1964). Zum breiteren Interesse am Thema der Interkulturalität haben vor rund 25 Jahre verschiedene Arbeiten insbesondere von Mall (1993), Welsch (1992), Wimmer (1993) und Kimmerle (1991) maßgeblich beigetragen, die versuchten, den Begriff der Interkulturalität zu klären oder alternative Konzepte vorzuschlagen (siehe „Transkulturalität“ bei Welsch). Zur Diskussion der beiden rivalisierenden Konzepte „Interkulturalität“ und „Transkulturalität“ siehe Pacyna (2016) und Yousefi/Braun (2011, S. 102 – 109). Zur Geschichte der interkulturellen Philosophie (mit Fokus auf den deutschsprachigen Raum) vgl. Jammal (2012). 9 Vgl. dazu die sehr scharfe Hegelkritik aus asiatischer Perspektive von Jonseok Na (2015); ferner auch die Kritiken von Patricia Purtschert (2010) hinsichtlich „Hegel’s Africa“ (ebd., S. 1039) und von Alain Casimir Zongo (2012), sowie auch die vielbeachtete Hegelkritik hinsichtlich „Hegel and Haiti“ von Susan Buck-Morss (2014). Alle Kritiken konvergieren letztlich in der These eines Eurozentrismus (bzw. eurozentristischen Moderneverständnisses). Dazu später.

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schätzt.10 Doch welche Kritikpunkte scheinen es zunächst grundsätzlich auszuschließen, „mit Hegel“ einen sinnvollen Beitrag zur interkulturellen Philosophie leisten zu können? – Ich werde im Folgenden zwei prominente Kritikpunkte diskutieren und dabei für eine Neuperspektivierung argumentieren, welche interkulturelle Philosophie programmatisch „mit Hegel“ zu begreifen sucht. Die Hegelsche Philosophie, so meine These, enthält ein Modell für die interkulturelle Philosophie heute. Und es möchte das Beste von Hegel für unser interkulturell sensibilisiertes Bewusstsein sein, wenn anders auch wir in unserem Denken nicht einer lokalen Typik eingeschliffener Urteilspattern erliegen wollen und sollen. II. Die Kritik interkultureller Philosophie an Hegel Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die angedeutete methodische Maxime11: ,Einsicht in Gedanken durch Differenz‘. In ihr kommt zugleich ein kritischer Impetus interkultureller Philosophie12 zum Tragen. Ein für die reflexive Arbeit interkulturellen Philosophierens charakteristisches Ziel ist der Aufweis von blinden Flecken in Theoriekonfigurationen bzw. die Entdeckung von Absenz in der jeweiligen Präsenz. Im Gegenlicht kulturell differenter Theoriekonfiguration können idealerweise Gedanken und Argumentationsfiguren, die innerhalb eines Theorie- und Traditionssettings systematisch ausgeblendet werden, zunächst herausgearbeitet werden, sodass ferner die monolithisch geschlossene Gestalt einer philosophischen Theorie oder Theorietradition wieder geöffnet und in einen symmetrischen interkulturellen Dialog13 einbezogen werden kann. – Diese Zielperspektive scheint mir philosophisch attraktiv. Umso problematischer sind aber Argumentationslinien, die diesem Ziel zwar verpflichtet sind, aber meines Erachtens zu kurz greifen, um dem darin umrissenen Anliegen gerecht zu werden. Dass dabei üblicherweise Hegel nur in einer sehr engen Lesart in Betracht kommt, scheint mir durchaus auch ein Indiz für ein 10 Es ist das besondere Verdienst von Heinz Kimmerle (2005), als ausgewiesener Vertreter der interkulturellen Philosophie (vgl. Kimmerle 2002) Hegel explizit in die Debatte der interkulturellen Philosophie einbezogen zu haben und dabei nicht nur kritische Punkte der Hegelschen Philosophie zu benennen, sondern ganz im Sinne der doppelten Ausrichtung einer dekonstruktiven Lektüre auch einige Anschlussmöglichkeiten herausgearbeitet zu haben. 11 Diese methodische Maxime empfiehlt sich zunächst deshalb, weil interkulturelle Philosophie weder durch Inhalte, Themen noch Fragestellungen klar begrenzt oder definiert ist. 12 Vgl. dazu Gregor Paul (2008), der „Interkulturelle Philosophie als kritische Philosophie der Philosophie“ (16) bestimmt. 13 Zur Auffassung der interkulturellen Philosophie als interkulturellen Dialog vgl. FornetBetancourt (1998). Es sei hier nur angemerkt, dass die Vorstellung eines symmetrischen interkulturellen Dialogs nicht nur Hegelianer an einen Kernbegriff Hegelscher Philosophie erinnern könnte: den Begriff der „Anerkennung“. Zur Diskussion von Hegels Anerkennungsbegriffs als Anschlussmöglichkeit interkultureller Philosophie siehe den Beitrag von Carlos Rendon. – Generell zur Idee einer Öffnung eines philosophischen Traditionszusammenhangs durch Bezugnahme auf andere Traditionszusammenhänge vgl. besonders die beispielhafte Untersuchung von Francois Jullien (2018, S. 9).

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verbreitetes Missverständnis in der Sache der interkulturellen Philosophie selbst zu sein. Interessant ist zunächst ein gängiges hegelkritisches Argument, das an die Beschreibung sprachlich-kultureller Prägungen philosophischer Theorien anknüpft. Es folgt der prima facie unproblematischen, aber auch suggestiven Überzeugung, dass jede Philosophie ein Ausdruck des Denkens, und jedes Denken wesentlich sprachlich verfasst ist. Da Sprachen faktisch und historisch unterschieden sind, sind auch Gedanken durch ihre historisch-sprachlichen Bedingungen unterschiedlich geprägt.14 Eine universelle Geltung von sprachlich-historisch relativen Gedanken, so die gängige Schlussfolgerung, ist unmöglich.15 Interkulturelle Philosophie wird im Sinne dieser Argumentationsfigur die konstitutiven Restriktionen einer Philosophie – gerade gegen ihre vermeintlich ,allgemeingültigen‘ Ansprüche – aufdecken („dekonstruieren“) und sie jeweils im Blick auf den kulturellen und sprachlichen Kontext relativieren. Eine Philosophie, die wie die Hegelsche dennoch darauf Anspruch macht, über die Historizität ihrer sprachlich-kulturellen Gestalt hinaus auch noch eine nichtrelative, absolute gedankliche Struktur von allgemeiner Geltung zu explizieren, müsste auf dieser Argumentationslinie als überzogen zurückgewiesen werden. Hegel erscheint hier als exemplarischer Fall eines wirklichkeitsfernen ,Logozentrismus‘. (Ich verwende den Ausdruck „Logozentrismus“ hier im Sinne einer Theorie, die ihre sprachlich-historische Kontextualität in Richtung eines universell gültigen Begriffs, „Logos“ zu übersteigen beansprucht. Der seit Derrida einschlägige Ausdruck ist besonders geeignet, ein Leitmotiv interkultureller Philosophie zu bezeichnen, nämlich die Zurückweisung solcher Vorstellungen, die kulturelle Differenzen zugunsten einer sich als universalistisch gerierenden Seite einebnen.)16 Der Vorwurf des ,Logozentrismus‘ ist eng verwoben mit einem anderen Vorwurf und einer zweiten Argumentationslinie, an deren Ende Hegel allem Anschein nach ultimativ als Referenzautor interkultureller Philosophie verabschiedet werden muss. Ich möchte diesen Vorwurf unter dem Titelwort „Eurozentrismus“ diskutieren. Neben der schlicht bornierten Variante des „Eurozentrismus“, kulturelle Differenzen auszublenden oder zu marginalisieren, indem man den jeweils ,eigenen‘ Kulturkreis als einzig relevanten setzt, gibt es im Sinne der „Logozentrismus“-Argumentations-

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Vgl. dazu Schmidt (2005, insbes. S. 269 ff.). Kimmerle (2005): „[…] jeder Begriff ist der Begriff einer an Zeit und Raum gebundenen Sprache.“ (62) Kimmerle diskutiert die These vom Sprachrelativismus des begrifflichen Denkens jedoch weniger sprachtheoretisch als vielmehr zeittheoretisch. Zum sprachtheoretischen Fokus vgl. Schmidt (2005, S. 269 ff.). 16 Der für Derrida mit dem Ausdruck des „Logozentrismus“ verbundene Problemzusammenhang des „Phonozentrismus“ wird hier nicht weiterverfolgt. Vgl. dazu Smart (2002, S. 500 f.), der versucht diesen Derridaschen Problemzusammenhang in einer umfangreichen topographischen „Weltgeschichte des Denkens“ einzuordnen. Überzeugender in Sachen Derrida ist allerdings Kimmerle (2002, S. 65). 15

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linie noch eine zweite, raffiniertere und philosophisch anspruchsvolle Variante.17 Diese besteht darin, dass vorderhand gar nicht die ,eigene Kultur‘ als Maß der Dinge behauptet wird, sondern eben ein kulturunabhängiges, universelles Maß. Ein solches Maß, ein solch universell gültiger Gedanke erscheint aber in der Perspektive des ,Logozentrismus‘-Vorwurfs als eine gesteigerte Form intellektueller Hybris. Die europäische Kultur, die zwar ganz gewiss nicht als einzige die Vorstellung eines universellen Maßstabes, eines universell gültigen Vernunftprinzips, hervorgebracht hat,18 macht sich aber aufgrund ihres historisch unbestreitbaren expansiven Charakters (siehe Kolonialismus, Missionierung und globale Ökonomisierung) in besonderer Form schuldig, unter dem Deckmantel einer universell gültigen Rationalität kulturelle Spezifik und Differenz zu missachten oder zu verbergen (auch sich selbst zu verbergen!) und so umso ungehemmter ihre eigenen Interessen in anderen Kulturkreisen durchzusetzen. Mit anderen Worten: Im Spiel der Kulturzentrismen ist bis auf weiteres die europäische Kultur beispielhaft ,erfolgreich‘ gewesen (das könnte sich freilich auch mal ändern, und nicht nur zum Besseren). „Eurozentrismus“ kann als paradigmatische Gestalt eines elaborierten Kulturzentrismus gelten, welche sich darin auszeichnet, dass sie sich gerade nicht als Kulturzentrismus versteht, sondern als Ausdruck einer universal gültigen Rationalität.19 Und man wird nicht ohne weiteres von der Hand weisen können, dass Hegels Philosophie der Vorstellung einer universellen Vernunft verpflichtet ist, die sich auch in seiner Einschätzung nicht gerade zu Ungunsten der europäischen Kultur im Verhältnis zu anderen großen Kulturkreisen (insbesondere den asiatischen und afrikanischen) ausgewirkt hat. Hegel scheint also aufgrund seines „Logozentrismus“ das Paradebeispiel eines „Eurozentrismus“ zu sein, der den kulturellen Differenzen prinzipiell nicht gerecht werden kann. Folgerichtig muss er in der Perspektive interkultureller Philosophie ein Stein des Anstoßes sein.20 Gerade der Hegelkenner Heinz Kimmerle hat zu Recht auf kritische Stellen aufmerksam gemacht, in denen die Hegelsche Argumentation sich sehr an historisch gängige, aber spätestens aus heutiger Perspektive nicht mehr teilbare Urteile annähert (wie Beispielsweise eine „Rechtfertigung des Kolonialismus“). Die Frage ist allerdings, ob Hegels ,historische Urteile‘ seine Theorie im Kern desavouieren. Kimm17 Erstere ist unter Umständen existenziell, sozial und politisch eine größere Zumutung, aber philosophisch weniger relevant. Borniertheit ist weniger ein philosophisches Problem, als vielmehr eine Zumutung, der man lebenspraktisch zu begegnen hat, und es gehört zur Hegelschen Lebenspraxis Borniertheit u. U. philosophisch mit Ignoranz zu begegnen (siehe Hegels Rede vom „trockenen Ich“). 18 Vgl. dazu den hilfreichen Überblick über die Philosophien dieser Welt von Smart (2002). 19 So Kimmerle (2005, S. 13): „Es erweist sich, dass Universalität im Kontext der europäisch-westlichen Philosophie in Wahrheit häufig die Universalisierung dieser philosophischen Tradition bedeutet.“ Diesen Fehler sieht Kimmerle gerade bei Hegel und diagnostiziert entsprechend einen „radikal eurozentristischen Standpunkt Hegels“ (14). 20 Eine solche Hegelkritik wird in lateinamerikanischer Perspektive besonders von Enrique Dussel vertreten. Zu Dussels Kritik des Universalismus (Dussel, 2013) vgl. Mario Rojas Hernandez (2015).

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erle argumentiert, dies sei zumindest für den „reifen Hegel“ der Fall.21 Ich möchte dieser Frage im Blick auf die beiden genannten, und wie ich meine: für das Projekt einer interkulturellen Philosophie signifikanten Argumentationslinien des „Logozentrismus“ und des „Eurozentrismus“ näher diskutieren. Beide Argumentationslinien bzw. Varianten der Hegelkritik sind von Kimmerle im Namen der interkulturellen Philosophie durchgeführt worden. Bezieht man die hier in Anspruch genommenen Prämissen interkultureller Philosophie mit ein, dann ergibt sich unterm Strich als Quintessenz der Argumentation, dass Hegel – so oder so, und allenfalls mit Ausnahme des „frühen Hegel“ – aus der interkulturellen Philosophie verabschiedet werden muss. Teilweise moderate, hegelfreundliche Formulierungen können dann letztlich nur Feigenblattfunktion haben. Die entscheidenden Überlegungen sind vereinfacht: (i) Interkulturelle Philosophie bedeutet (auch) ,Abkehr vom Eurozentrismus‘. (ii) Interkulturelle Philosophie bedeutet wesentlich (auch) ,Abkehr vom Logozentrismus‘. (iii) Hegel ist ein Vertreter des Eurozentrismus. (iv) Hegel ist ein Vertreter des Logozentrismus. (v) Also: Interkulturelle Philosophie bedeutet so oder so „Abkehr von Hegel“.

Wie also das Projekt der interkulturellen Philosophie noch ernsthaft „mit Hegel“ denken? III. Für meine These, dass interkulturelle Philosophie „mit Hegel“ weiterzuentwickeln ist, werde ich im Folgenden argumentieren, indem ich zunächst zeige, dass der Hegelsche Gedanke auf einen Typus von Philosophie abzielt, der nicht unter den skizzierten Formen des „Eurozentrismus“ und „Logozentrismus“ subsummiert werden kann. Dabei setze ich weiterhin voraus, dass die ersten beiden Prämissen (i) und (ii) wahr sind. Beide sind für das Projekt der interkulturellen Philosophie grundlegend, wenngleich das genauere Verständnis der zweiten Prämisse schwieriger sein dürfte und mehr Streitpunkte birgt als ich hier im Weiteren ausführen kann.

21 Kimmerle entdeckt zuletzt nur im frühen Jenaer Hegel ein für die interkulturelle Philosophie wirklich anschlussfähiges Modell (siehe Kimmerle 2005, S. 10). Er bezieht sich verschiedentlich auf die in der von Hegel in der Differenzschrift entwickelte „geschichtliche Ansicht philosophischer Systeme“ (siehe bereits Kimmerle 2002, S. 131), welche er dann „auf die kulturellen Unterschiede der Philosophien“ (ebd.) zu übertragen beabsichtigt. Damit wird zugleich erkennbar, worin der besondere Vorzug des frühen Hegels gegenüber dem späteren Hegel liegen soll: Es dominiert hier noch nicht das geschichtliche Entwicklungsmodell, das höhere und niedere Stufen zu unterscheiden bemüht ist; stattdessen dominiert eine Art Parataxe von gleichwertigen Philosophien.

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Beginnen wir mit dem gängigen Vorwurf, Hegel verfolge einen wirklichkeitsfernen Logozentrismus.22 Der für diesen Vorwurf ohne Zweifel einschlägige Referenztext ist Hegels „Wissenschaft der Logik“.23 Eine Logik, die den Anspruch erhebt, einen Gedanken auszubuchstabieren, der „die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“24 (GW 21, 34), und die diesen Gedanken zuletzt als einen sich autonom strukturierenden „Begriff“ verstanden wissen will, der schließlich noch unter dem Titel der „Idee“ mit der Realität identisch ist, – eine solche Logik weist die Option, begrifflich operierende Gedanken als wesentlich in kulturell determinierten Sprachspielen verankert zu betrachten, offenkundig zurück. Insofern scheint es sich bei Hegels Logik um einen dramatischen, schwerlich überbietbaren Fall von „Logozentrismus“ zu handeln. Seine Logik kulminiert in einer scheinbar hyperbolischen, weil absoluten und realitätseinschließenden, also ,metaphysischen‘ Begriffstheorie. Das kann irritieren – wenn man nicht genauer darauf schaut, was in der Sache mit dem „Begriff“ gedacht wird. Tatsächlich entfaltet Hegel in der Logik, und dort insbesondere unter dem Titel des „Begriffs“ (bzw. der sog. ,Begriffslogik‘) eine Theorie der Freiheit, oder zugespitzt: eine Metaphysik der Freiheit. Es geht hier weniger um einen Logos, als um Freiheit, und es geht hier nur insofern um Logos als es der Logos – die begriffliche Struktur – der Freiheit ist.25 Hegel expliziert das für ihn im eigentliche Sinne philosophische Denken als einen freien – d. i. absoluten und von gegebenen Gegenständen und entsprechenden Bewusstseinsakten befreiten (siehe „Phänomenologie des Geistes“) – kategorialen Prozess, in dem sich das Denken als eine Totalität von Denkbestimmungen (kategorialen Distinktionen und verschiedenartig komplexen Identitätsstrukturen, die sich stufenartig ausdifferenzieren) auslegt. Die22 Dieser Vorwurf einer wirklichkeitsfernen Begriffsphilosophie durchzieht seit jeher weite Teile der Hegelrezeption (man denke nur an die Marxsche Hegelkritik; vgl. dazu Quante/ Schweikard (2016, S. 34 f.) und wird innerhalb der interkulturellen Philosophie von Kimmerle im Zusammenhang seiner Kritik der Hegelschen Zeitphilosophie diskutiert, insbesondere im Blick auf die allgemein anstößige Rede einer „Tilgung der Zeit“ (2005, S. 47 – 76), die als Indiz für einen logozentristisch-metaphysischen Überstieg aus der Wirklichkeit gedeutet wird (vgl. ebd. S. 62). 23 Es kommt nicht von ungefähr, dass viele Interpreten, die die Aktualität der Hegelschen Philosophie herausstreichen wollen, sich vorzugsweise auf die sog. „Geistphilosophie“ beziehen und dort insbesondere auf die Teile, in denen sozial-politische Themen verhandelt werden; vgl. dazu die vieldiskutierten Interpretationen von Pippin (1989) und Pinkard (1996). Die ,Logik‘ wird dagegen immer noch und überwiegend als ein besonders prekäres Hegelwerk betrachtet, auf deren Boden nicht viel Staat zu machen ist. Erst in jüngster Zeit hat Klaus Vieweg (2005) den gegenwärtig ungewöhnlichen Versuch unternommen, ein geistphilosophisches Thema (die Hegelsche Rechtsphilosophie) eigens im Rekurs auf die Logik zu deuten und dabei für die Aktualität der Hegelschen Philosophie zu argumentieren. Darüber hinaus hat James Kreines (2015) in jüngster Zeit einen vielbeachteten Versuch vorgelegt, Hegels Logik wieder ins Zentrum zu rücken; vgl. dazu die Diskussion von B. Bowman, J. Kreines, T. Pinkard und C. Tolley in Hegel-Studien 50 (2017), S. 129 – 173. 24 Hier und im Folgenden werden alle Hegelstellen nach Hegel (1968 ff.), Gesammelten Werken [GW] zitiert; Band und Seiten werden im Haupttext angegeben. 25 Vgl. Fulda (2014).

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ser rein logisch (i. S. von: rein im Denken, ohne Bezug auf externe Gegenstände, und ohne Rekurs auf Vorstellungen von Gegenständen) entwickelte kategoriale Zusammenhang von Seins-, Wesens- und Begriffslogik kann von zwei Seiten aus betrachtet und charakterisiert werden: (i) Im Blick auf sein Prinzip oder (ii) im Blick auf seinen durch dieses Prinzip generierten und strukturierten Inhalt (das Prinzipiierte). Im Blick auf sein Prinzip ist zu betonen, dass es Hegel nicht um einen platonisierenden Ideenhimmel geht, sondern um einen kategorialen Zusammenhang, der als ganzer vom Prinzip der Freiheit getragen ist bzw. durch das Prinzip der Freiheit bestimmt ist. Mit anderen Worten: Es geht um einen Zusammenhang, der weder denkunabhängig in einem eigenen transzendenten Raum existiert, noch, wie insbesondere im nach-hegelschen Denken üblich, seinerseits aus einer opaken Ursprungsdimension abzuleiten ist. Das heißt: In der Sache geht es in der Hegelschen Logik nicht um einen ,vorgegeben Logos‘, sondern um Freiheit in prinzipieller Bedeutung. Damit sind wir zugleich auf die andere Seite dieses kategorialen Zusammenhangs verwiesen. Die Logik zeigt, wie das Prinzip ,logisch‘ (d. h. rein im Blick auf die Denkbestimmungen) die Totalität der Gehalte dieses Zusammenhangs durchzieht, generiert und strukturiert. Dabei macht Hegel deutlich, dass es sich hierbei nicht etwa um ein System von ,Denkschemata‘ handelt, welche dann auf ,Gegebenes‘ ,angewendet‘ werden müssten, damit seine „Begriffe“ nicht im kantischen Sinne „leer“ bleiben oder im Sinne McDowells ,leerlaufen‘ („spinning in the void“)26, sondern dass dieser kategoriale Zusammenhang an ihm selbst Realität einschließt, nämlich die logischen Dimensionen der Wirklichkeit. Die hierbei leitende Vorstellung möchte ich so beschreiben: Der kategoriale Zusammenhang der ,Logik‘ ist m. m. die Syntax der Welt; und sowenig man die Syntax einer Sprache lernen kann, ohne sich bereits in ihr zu bewegen, sowenig kann man die Syntax der Welt begreifen, ohne nicht zugleich ihre ,logische‘ Realität damit aufzuschließen. Die Realität ist hier kein äußerlich Hinzukommendes (alles, was da der logischen Realität äußerlich sein möchte, setzt qua ,Äußerliches‘ bereits die Geltung logischer Distinktionen voraus, selbst dasjenige Äußerliche, das, wie Hegel betont, der Logik insgesamt äußerlich, nämlich aus ihr „entlassen“, so eigens freigesetzt ist und so auch von der Logik unabhängig in ihrer Eigengesetzlichkeit aufgefasst werden darf – die als „Natur“ und „Geist“ titulierten Realitätsdimensionen). Und die ,logische‘ Wirklichkeit ist, wie leicht zu sehen ist (aber nicht leicht zu verstehen ist, weshalb Hegel u. a. seinem mit der Logik auftaktenden System eine „Phänomenologie“ vorangestellt hatte, damit die quasi-natürlichen Verständnisprobleme sich nicht zwangsläufig zu Denkblockaden auftürmen), nicht von der Art eines raum-zeitlich gegebenen und so vorstellbaren Gegenstandes, auf den ich mich so oder so empirisch beziehen könnte, sondern sie ist gleichsam ,gegenstandslos‘ wirklich – wirklich als Prozess des reinen (nicht empirisch verfahrenden) Denkens. Aber nicht erst von ihrem Ende her – der Dimension der „Idee“ als der „Einheit von Begriff und Realität“ – wird man die Hegelsche Logik als eine nicht wirklich26

McDowell (1996, S. 11).

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keitsferne, transzendente begriffliche Ordnung, sondern als eine Ordnung (Syntax) der Wirklichkeit selbst, als eine Theorie der Wirklichkeit lesen können. Schon gesehen auf die ,Wesenslogik‘ und dort näher auf den Abschnitt „Wirklichkeit“ wird man sagen müssen: Die Logik ist gerade dort, wo sie tradierte Auffassungen der Metaphysik (als eine Theorie der ,hinter‘ der Phänomenalität liegenden Grundordnung des Seins, näher: des Wesens) aufnimmt und (!) transformiert, gerade keine hyperbolische Begriffstheorie, aber auch keine bloße Metatheorie, die in einer Kritik und begrifflichen Orthographie gegebener Redeweisen von „Wirklichkeit“ mündet. Eine Pointe dieser Wirklichkeitstheorie ist, dass Freiheit eben nicht nur bloß transzendental möglich oder gar christlich-lutherisch unmöglich (weil in der unvorgreiflichen göttlichen Natur beschlossen) ist, sondern eben Prinzip der Wirklichkeit selbst ist – kurz: Freiheit ist (,logischerweise‘) wirklich. Und umgekehrt: Wirklichkeit ist prinzipiell eine Struktur der Freiheit. Das schafft dann nicht nur epistemologisch Platz für die „Möglichkeit der Freiheit“, sondern auch ontologisch Platz für die Wirklichkeit der Freiheit, welche sich dann in den humanspezifischen Formen der Praxis (von den einfachen reaktiven Formen im unmittelbaren Weltverhältnis bis hin zu den Formen künstlerischer, religiöser und wissenschaftlicher Praxis) entfaltet. Die im Hegelschen Sinne ,logische‘ Darstellung der Wirklichkeit als einer Struktur der Freiheit erfolgt im Wesentlichen über die Entfaltung eines komplexen Zusammenhangs von Alteritätsverhältnissen aus der Dynamik reflexiver Relationen. Diese Entwicklung kulminiert in einem Begriff von Wirklichkeit, in der Notwendigkeit, Kontingenz und Kausalitätsrelationen zusammengedacht werden und am Ende die verschiedenartigen Alteritätsrelationen als Tätigkeiten, näher: als Selbstbestimmungsprozesse erkennen lassen.27 Liest man die ,Logik‘ in dieser Weise, dann wird man gegenüber dem „Logozentrismus“-Vorwurf geltend machen, dass Hegel nicht einen abstrakten, weil wirklichkeitsfernen Begriff inauguriert, sondern dass er den Begriff der Freiheit als ein Prinzip der Wirklichkeit entwickelt, und dabei Freiheit auch nicht mehr als bloß „metaphysische Idee“ anvisiert, sondern mutatis mutandis als intraphysisches Prinzip ontologisch begründet (bevor es dann unter naturphilosophischen und geistphilosophischen Prämissen eigens als intraphysisches Prinzip entwickelt wird). Der Gedanke einer wirklichkeitsimmanenten Freiheit wird man zumal heute, da der Begriff der Wirklichkeit verschiedentlich anhand des Begriffs der „Autopoiesis“ modelliert wird, nicht mehr schlechthin als passé abtun können. Und so verschieden auch die methodischen Zugänge und Begriffe der Wirklichkeit sein mögen – selbst der gegenwärtige Naturalismus wird den Hegelschen Grundgedanken im Prinzip nicht zurückweisen müssen, zumindest dann nicht, wenn es auch hier darum geht, zu verstehen, wie Freiheit sich in und durch Notwendigkeitsrelationen (Natur) realisiert.28

27 28

Vgl. dazu Beuthan (2014). Vgl. Thompson (2007, S. 149 – 152).

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IV. Im Blick auf den Vorwurf des „Eurozentrismus“ ist die „Phänomenologie des Geistes“ – also der Text, mit dem Hegel die beschränkten Perspektiven des sog. „natürlichen Bewusstseins“ zugunsten eines unbeschränkten und universell geltenden, rein begrifflichen Denkens aufzuheben versuchte – besonders interessant.29 Hier könnte man zunächst im Sinne der interkulturellen Philosophie wohlmeinend argumentieren, Hegel vernachlässige in der Phänomenologie gegen seinen eigenen Anspruch einen allzu strikten Begriffslogizismus zugunsten einer expliziten Historizität der Begriffe. Zweifellos steht die „Phänomenologie des Geistes“ sowohl philosophiegeschichtlich als auch systematisch für die These, dass Grundbegriffe der Philosophie, und insbesondere epistemologische Grundfiguren nicht rein-theoretische Setzungen in einem ausschließlich durch Konsistenzregeln bestimmten homogenen und zeitlosen Begriffsraum sind. Vielmehr expliziert Hegel hier eigens die Historizität des philosophischen Denkens und seiner Begriffe (was z. B. in der Logik eher subkutan eine Rolle spielt). Wahrheitsansprüche werden von Hegel nicht einfach als eine parataktische Ordnung von Wissensbehauptungen dargestellt oder als Folge von inkonsistenten Behauptungen kritisiert und eliminiert, sondern vor allem – insbesondere in der zweiten Hälfte der Phänomenologie – historisch differenziert. Philosophische Begriffe erscheinen hier als Begriffe einer spezifischen Zeit bzw. einer historischen Epoche des wesentlich geschichtlichen Geistes.30 Die dezidiert historische Differenzierung philosophischer Leitbegriffe (z. B. der geschichtliche Wandel des Subjektbegriffs und der damit korrelierten Normativität – von der antiken „Sittlichkeit“ bis zur modernen „Moralität“) kommt einer interkulturellen Philosophie entgegen. Ihr Anspruch, Begriffe in ihrem geschichtlichen Kontext zu begreifen und zu bewerten, scheint in der Phänomenologie ansatzweise erfüllt. – Aber kann die historische Differenzierung der Phänomenologie dem Anspruch der interkulturellen Philosophie genügen? Schauen wir uns ein Abschnitt näher an, in dem Hegel ohne Zweifel seine Argumentation im Sinne einer historischen Differenzierung entfaltet: das Religionskapitel. Gesehen auf den Anfang des Religionskapitels wird man Hegel zunächst noch zugutehalten, dass seine historische Differenzierung auch in geographischer Hinsicht sowohl die westliche als auch die östliche Welt zu umfassen sucht, und damit prima facie nicht eurozentristisch verengt argumentiert. Aber betrachtet man das ganze Kapitel und insbesondere die Abfolge der dabei entwickelten Gestalten des religiösen Geistes, dann drängt sich unweigerlich ein schwerwiegender und oft zu hörender Verdacht auf: Hegels historische Differenzierung folgt einer historischen Teleologi29 Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, auf die üblicherweise referiert wird (siehe Na (2015)), sind natürlich nicht minder interessant. Dort ist es allerdings angesichts der beeindruckenden Materialfülle, aber auch angesichts der stärker im historischen Kontext zu verstehenden Urteile, schwieriger, den systematischen Kern zu erfassen, der vorderhand für einen raffinierten, nämlich sich ,universalistisch‘ gerierenden „Eurozentrismus“ Hegels spricht. 30 Vgl. dazu Jaeschke (2003, S. 198 und 401).

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sierung, an deren Ende (von Anfang an) das Christentum steht, welche als höchste Gestalt der Religion alle anderen hinter- und unter sich lässt. Kurz: Man gewinnt den Eindruck, dass die historische Differenzierung, die den Logozentrismus zu überschreiben und sich von diesem loszulösen scheint, mutatis mutandis in einem religiös fundierten Eurozentrismus kulminiert. Das hieße allerdings, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. – Doch schauen wir genauer hin: Man täuscht sich über das phänomenologische Religionskapitel, wenn man allzu sehr auf die privilegierte Stellung der christlichen Offenbarungsreligion (am Ende des Kapitels) abhebt – zumindest dann, wenn man nicht mit in Betracht zieht, dass hier auch und gerade die christliche Religion einer scharfen Kritik unterzogen wird.31 Hegel formuliert die Kritik bekanntermaßen als eine Formkritik: Der sich in der christlichen Religion reflektierende absolute Gehalt wird noch in der Form der „Vorstellung“, und noch nicht in der Form des „Begriffs“ gedacht. Doch die Formkritik lässt nicht ohne weiteres die Schärfe der Hegelschen Kritik erkennen. Im Kern zielt die Hegelsche Kritik an der christlichen Religion auf ihre Vernunftwidrigkeit. Denn auch die christliche Religion – welche allerdings einen signifikanten geschichtlichen Schritt in Richtung der Subjektivität des Geistes markiert32 – verschließt sich zugleich gegen die Vernünftigkeit der durch sie erbrachten Gestalt des geistigen Lebens bzw. Wissens. Nicht zuletzt die Lutherische Gnadenlehre, in welcher sich die Absolutheit des Geistes und die Innerlichkeit des Individuums verbinden, blockiert die Einsicht in die Vernünftigkeit des Geistes. In dieser religiösen Vorstellung des Geistes tritt die Vernunftwidrigkeit hervor: Es verkehrt sich die vernünftige Überzeugung eines in seiner Subjektivität freien Geistes in das Bild von einer Wirklichkeit, in der die Unfreiheit der Subjekte in einer religiösen Distanz zu ihrem (im Glauben „jenseitigen“) Prinzip besiegelt scheint. Im Sinne der Vernunft muss hier die Philosophie über die religiöse Verkehrung hinausgehen. Gegen die Religion – und auch gegen die christliche Religion – kommt es für Hegel eben der philosophischen Reflexion zu, die durch die Religion realisierte Gestalt des Geistes sowohl in ihrer Vernünftigkeit als auch in ihrer Vernunftwidrigkeit zu erkennen, und d. h. zuletzt: das ,Interesse der Vernunft‘ zu realisieren, nämlich die Wirklichkeit durch das Prinzip der Freiheit zu begreifen. Und genau diese prinzipielle Freiheit der Vernunft wird durch die christliche Religion in besonders widersinniger Weise (weil bereits auf dem Primat der Subjektivität des Geistes zielend) verstellt bzw. in eine Vorstellung von prinzipieller Unfreiheit verkehrt. Die Phänomenologie zeigt, dass es eine genuine Sache der Vernunft ist, 31 Das entspricht dem methodischen Muster der gesamten Phänomenologie des Geistes: Alle Schlussgestalten der größeren Abschnitte zeichnen sich durch eine dramatische Zuspitzung einer Form des Widersinns aus – von der „verkehrten Welt“, über das „unglückliche Bewusstsein“ und einer sich um ihre Sachhaltigkeit ,betrügende‘, weil in ihrer „Individualität“ sich einschließende Vernunft, bis hin zu einer ,unversöhnlichen‘ und ,wirklichkeitslosen‘ Moralität, und schließlich bis hin zur „geistlosen Erinnerung“, die die Wirklichkeit des Geistes in ein Jenseits bannt bzw. diese nur in der Form der „Vorstellung“ aufzufassen vermag. 32 Vgl. dazu entsprechend auch Hegels Rechtsphilosophie (§ 124) [GW 14], die den besonderen und irreduziblen Stellenwert der Innerlichkeit im geistigen, d. i. persönlichen und sozialem Leben der Individuen betont.

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die Religion philosophisch zu begreifen, d. h. in ihrer Vernünftigkeit darzustellen. Und dort, wo die Religion sich gegen die Vernunft (also letztlich gegen ihr inneres Prinzip) stellt, ihre Grenzen systematisch zu klären und zu überschreiten. Hegels Schritt über die Religion hinaus zu einem dezidiert philosophischen Wissen (das „absolute Wissen“) macht unmissverständlich deutlich: Das Telos seiner phänomenologischen Religionsgeschichte ist nicht die christliche Religion, sondern die Vernunft selbst in ihrer eigenen Bestimmtheit, nämlich nur durch und als Selbstbestimmung (Freiheit) wirklich zu sein. V. Folgt man der skizzierten Interpretationslinie, nach der Hegel nicht als „Eurozentriker“ aus dem Projekt interkultureller Philosophie zu verabschieden ist, weil seine historisch differenzierte Darstellung der Wirklichkeit der Vernunft (= „Geist“) in der Sache nicht in einer europäischen Religionsgestalt, sondern im Gedanken der Freiheit kulminiert, dann drängt sich aber sogleich ein anderer, in Zeiten der globalisierten Welt besonders einschlägiger Einwand gegen die These von der „Interkulturalität mit Hegel“ auf: Der Gedanke der Freiheit selbst mag gerade die Spitze der Eurozentrik sein. Nicht jede Kultur muss sich der Bestimmung der Freiheit verpflichtet fühlen. Und, so könnte man hinzufügen, verschiedene Kulturen mögen gar verschiedene Vorstellungen von Freiheit ausbilden. Kritiker des Eurozentrismus legen es als ein Merkmal europäischer Arroganz aus, nicht-europäischen Kulturen europäische Vorstellung von Freiheit überstülpen zu wollen.33 – Es stellt sich also folgende Frage: Kann „Freiheit“ „eurozentristisch“ sein? Natürlich steht es außer Frage, dass man „Freiheit“ „eurozentristisch“ interpretieren, sprich: zugunsten (oder zuungunsten) der eigenen Kultur und zuungunsten (oder zugunsten) anderer Kulturen auslegen kann. Die Frage ist hier nur: Ist die Hegelsche Freiheitskonzeption prinzipiell „eurozentristisch“? – Die Freiheit, die von Hegel als Prinzip der Vernunft entwickelt wird, ist jedoch schwerlich als eurozentristisch zu bezeichnen. Vier Argumente sprechen klar dagegen: (1) Ein freiheitstheoretisches Argument. – Obwohl Hegels Konzeption der Freiheit mehrere Dimensionen umfasst,34 so ist dennoch klar, dass der Gedanke der Selbstbestimmung wesentlich für sie ist. Freiheit qua Selbstbestimmung spielt zum Beispiel eine zentrale Rolle im Hegelschen Verständnis der Subjektivität, des „Ich“, dessen konstitutive Selbstbezüglichkeit sich als ein Selbstbestimmungsprozess entfaltet, durch den sich das „Ich“ zuletzt durch seine verschiedenen Wirklichkeitssphären und Identitäten hindurch (z. B. als Rechtssubjekt, als moralisches Subjekt und als Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft) als Subjekt der Freiheit weiß

33 34

Vgl. dazu auch Na (2015), Dussel (2013). Vgl. dazu Siep (1992, S. 159 – 171), Beuthan (2006).

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(oder zumindest wissen kann).35 Selbstbestimmung gehört zum Kern der Hegelschen Freiheitsauffassung. Diese Auffassung im Rahmen interkultureller Philosophie als eurozentristisch zurückzuweisen, wäre unsinnig. Wenn anders interkulturelle Philosophie gerade für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit verschiedener Kulturen und Philosophien argumentiert, dann setzt sie die Gültigkeit dieser Freiheitsauffassung voraus. Und sie muss sie gerade dann in Anspruch nehmen, wenn sie kulturelle Übergriffe und Dependenzen kritisieren will. – Das Argument lautet also kurz: Die Freiheit qua Selbstbestimmung als eurozentristisch zu kritisieren, mündet in einem Selbstwiderspruch. Der Gedanke der Freiheit ist – auch mit Hegel – nicht eurozentristisch. (2) Ein Argument gegen ,historischen Reduktionismus‘. – Insbesondere die Phänomenologie zeigt: Die höchste, weil reichste und konkreteste Gestalt der Freiheit erreichen wir nach Hegel, wenn wir uns als Subjekt des Wissens bestimmen und zum Subjekt des absoluten Wissens fortbestimmen („bilden“). Diese Denkfigur ist, wie gesehen, nicht auf eine Gestalt der Religion zurückführbar. Genauer betrachtet wird man sagen müssen, dass sich der spezifische Reichtum an Bestimmungen und ihr konkreter Zusammenhang, der mit dem „absoluten Wissen“ annonciert wird, nicht auf eine historische Gestalt wird reduzieren lassen. Die historische Konkretion wird vielmehr erst als eine begriffliche Transversale im Durchgang durch die verschiedenen Gestalten ,sichtbar‘. Der volle Sinn der Freiheit kann also nicht durch eine historische Gestalt exemplifiziert werden, sondern ist erst in der Konkretion einer begrifflichen Zusammenschau des historisch Disparaten fassbar. Kurz: Der einseitig europäische Fokus wird hier zugunsten einer Transformation verschiedener Perspektiven als dem adäquaten Bild der Freiheit überwunden. (3) Argumentum pro differentiae. – Der im vorangegangenen Argument (2) benannte Strukturzusammenhang einer begrifflichen Transversale enthält zugleich ein Argument dafür, dass die damit explizierte Freiheitskonzeption keineswegs kulturelle Differenzen einebnet, sondern vielmehr Differenzen expliziert. Der Strukturzusammenhang wird in der Phänomenologie des Geistes (wie auch in der Logik) gerade als ein Maximum von Differenz und Alterität entwickelt. Dabei wird jedoch nicht einfach im Sinne historischer Gegebenheiten auf raumzeitliche Differenzen oder auf unendlich variierbare Deutungsrahmen und Kontextualisierungen abgehoben. Es geht vielmehr um ein Maximum an Differenzierung, das für Hegel in der Sache einer an sich freien und sich deshalb auch religiös vorstellenden Vernunft liegt, und so nicht einfach historisch vorliegt (obwohl sie sich eben ,recht gesehen‘ geschichtlich realisiert hat). Recht gesehen ist für Hegel die geschichtliche Entfaltung eben nicht Entdifferenzierung, sondern maximale Differenzierung. Erst diese kann am Ende, das heißt im Ganzen, den Reichtum der begrifflichen Distinktionen zeitigen, welche für die Freiheit in ihrer höchsten Form (siehe „absolutes Wissen“) zu 35 Vgl. dazu Vieweg (2012). Vieweg entwickelt den Gedanken der Freiheit durch die verschiedenen Dimensionen der Rechtsphilosophie hindurch bis hin zu Hegels Geschichtsphilosophie (vgl. ebd. S. 515).

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denken ist. – Kurz: Die Hegelsche Freiheit steht gerade nicht für die Einkehr in einen ultimativen Zustand der Differenzlosigkeit, sondern für eine begrifflich begründete und so ,unendlich‘ bewegte Differenzierung. Kulturelle Differenz ist hier ein Implikat der Freiheit.36 (4) Genesis/Geltung-Argument. – Hegels gerade für die Phänomenologie des Geistes entscheidende These, dass die Begriffe, die in der philosophischen Reflexion verhandelt werden, und so auch alle Distinktionen, die für den Begriff der Freiheit maßgebend sind, nicht einfach ,erdacht‘, sondern dem zuvor geschichtlich ,erbracht‘ worden sind, scheint unweigerlich zu der These zu führen, dass alle Begriffe geschichtlich bedingt und mithin nur innerhalb ihres Bedingungszusammenhangs Gültigkeit beanspruchen können. Demnach könnte man argumentieren, dass auch Hegels Begriff der Freiheit gemäß seiner eigenen Prämisse an einen bestimmten historischen Entstehungskontext gebunden ist und somit nicht universal gültig sein kann. Das aber hieße, Genesis und Geltung nicht zu unterscheiden. Dass etwas in einem bestimmten Kontext entwickelt wurde, bedeutet nicht, dass es nur in diesem Kontext gilt. Genesis und Geltung des Freiheitsbegriffs müssen auch für Hegel unterschieden werden. Das steht nur scheinbar im Widerspruch damit, dass Hegel beide eng verkoppelt. Der Freiheitsbegriff ist für Hegel aus einer ganz bestimmten geschichtlichen Entwicklung hervorgegangen – das spiegelt sich in seiner begrifflichen Struktur, näher: in seinen begrifflichen Distinktionen wieder. Das heißt: Die begriffliche Form der Freiheit trägt die Signatur ihrer Genesis. Aber als Prinzip geht sie über ihre regionalen Entstehungsprozesse hinaus. Anders gesagt: Was hier universale Geltung beansprucht, hängt an der Genesis, nicht aber, dass und wo es fortan Geltung beanspruchen kann. Es müssen also zwei Sachverhalte zusammengedacht werden: (i) Freiheit ist durch regional spezifizierbare Prozesse als Prinzip in die Welt getreten (= Engführung von Genesis und Geltung); (ii) Freiheit ist prinzipiell keine regionale Norm (= Nichtreduzierbarkeit der Geltung auf ihre Genesis). Pointiert gesagt: Freiheit ist auch für Hegel nicht gebunden an eine preußische Befindlichkeit. Die für die Freiheitnotwendige Einsichtsfähigkeit hängt letztlich nur daran, dass sich das Denken durch seine Freiheit bestimmt sein lässt. Die einzige Bedingung, die zählt, ist die Denkfähigkeit. Ihre Extension steckt den Geltungsrahmen ab. Dementsprechend beanspruchen die Schlussfolgerungen der Phänomenologie des Geistes, die zum vollen Begriff der Freiheit qua „absolutes Wissen“ führen, eben nicht nur Geltung für einen Europäer oder selbstkritischen Christen, sondern de jure für alle Menschen und Vernunftwesen in allen Zeiten.

36 Vgl. dazu auch Hegels Ausblick auf einen offenen weltgeschichtlichen Prozess am Ende der Rechtsphilosophie, womit sich der Gedanke der Interkulturalität verbindet. Siehe Vieweg (2012), S. 503.

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VI. „Interkulturalität mit Hegel“. – Folgt man der Argumentation, dass Hegels Denken weder eines wirklichkeitsfernen „Logozentrismus“ noch eines naiven oder raffinierten „Eurozentrismus“ bezichtigt werden kann, sofern sein Denken ein Denken der Freiheit ist, dann sind aber zunächst nur die negativen Bedingungen der „Interkulturalität mit Hegel“ diskutiert: Es kann das eingangs skizzierte Argumentationsmuster zurückgewiesen werden, interkulturelle Philosophie sei nicht mit Hegel möglich, weil er sowohl ein Vertreter des „Logozentrismus“ als auch des „Eurozentrismus“ sei. Hegel ist aber weder das eine noch das andere. Mit dieser These sind auch die Weichen gestellt, dass sich interkulturelle Philosophie in positiver Weise auf Hegel zurückbeziehen kann. – Was also wären die Grundgedanken eines Hegelianischen Modells interkultureller Philosophie? Die Antwort kann an dieser Stelle nur sehr allgemein und programmatisch ausfallen. Sosehr Hegel daran gelegen ist, dass die begriffliche Arbeit sich in ihre Zeit zu vertiefen und die Differenzialität der Welt im Licht des Denkens zu konkretisieren hat – an dieser Stelle sollen ganz ,unhegelsch‘ nur Kernthesen vorgestellt und Perspektiven einer „interkulturellen Philosophie mit Hegel“ benannt werden. (i) Ein grundlegender Gedanke, der sich im Anschluss an die Hegelschen Freiheitstheorie ergibt, ist, dass es keine Gegebenheit geben kann – weder eine natürliche noch kulturelle –, welche dem Denken prinzipiell unzugänglich wäre. Dass Freiheit auch ,ontologisch‘ (wesenslogisch) begründet, ja, letztlich als intraphysisches Prinzip ausgewiesen wird, bedeutet auch, dass es nichts geben kann, was sich dem Denken prinzipiell verschließen und dieses als weltfremdes aus sich ausschließen könnte.37 Eine Konsequenz des Hegelschen Gedankens ist, dass eine in der interkulturellen Philosophie oft selbstverständliche Prämisse hinterfragt werden müsste: Ist die Annahme eines Sprach-Apriori und der historisch unzweifelhaft gegebenen Vielfalt der Sprachen die ultima ratio interkultureller Philosophie? Oder ist nicht vielmehr mit Hegel zu argumentieren, dass auch diese Gestalt der Gegebenheit, die Sprache, kein Letztes (oder Erstes) und keine Schranke des Denkens sein kann? Sicher ist, dass man mit Hegel wird sagen müssen, dass interkulturelle Philosophie die sprachliche Vielfalt (wie andere empirisch-historische Gegebenheiten auch) zu berücksichtigen 37 Zum weltfremden Denken als einer Figur des modernen Denkens vgl. Welsch (2012). Welsch hat aufgrund seiner anthropologisch-naturalistischen Prämissen allerdings auch noch Hegel, genauer: die Hegelsche Geistphilosophie in die Tradition des „anthropischen“ Denkens (ebd. S. 238 f.) und damit in die Nähe des weltdistanzierten Denkens gestellt. Diese Perspektive teile ich nicht. Im gegebenen Kontext kann auf eine Diskussion Hegels als anthropischen Denker verzichtet werden. Ein im Kern weltdistanziertes Denken modernen Typs scheint mir jedoch eher auf der Linie der Schopenhauerschen Theorie (und ihrer Filiationen bis hin zu den Spielarten des Konstruktivismus) plausibel. Schopenhauers pro-asiatische Ausflüge werden allerdings oft gegen Hegel in Anschlag gebracht, doch deren theoretisches Fundament erlaubt „interkulturell“ kaum mehr als Ausflüge. Das Bild anderer Kulturen kann auf diesem Fundament ähnlich suggestiv ausfallen, wie die Bilderwelt Karl Mays – einnehmend, aber wenig klärend.

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hat, dass aber das historisch ausdifferenzierte Feld der sprachlichen Welt keineswegs eine unüberwindbare Schranke des begrifflichen Denkens darstellt. Damit ist eine zunächst unscheinbare, doch folgenschwere Rückung vorgenommen: Sprachliche Differenzen bleiben relevant, sind aber kein Grund das Denken vor dem Übermaß an sprachlicher Pluralität und dem damit einhergehenden Expertenwissen resignieren zu lassen. Der Hegelsche Ansatz provoziert, da er über die zwei üblichen Gestalten philosophischer Resignation hinausweist, nämlich entweder das Denken selbst gänzlich als eine Gestalt des Expertenwissens über einen bestimmten Sprachraum (z. B. der Welt der „griechischen, lateinischen, französischen, deutschen Sprache“, oder der „chinesischen, koreanischen, japanischen Sprache“ etc.) auftreten zu lassen, oder das Denken ganz aus ihren historischen Sprachgestalten herauszunehmen und zur weltlosen Sprachphilosophie aufzuspreizen. Beides bleibt in einer Interkulturellen Philosophie unbefriedigend. Die Hegelsche Option ist demgegenüber – vereinfacht gesprochen –, die gegebenen Sprachen als Medium der Welt und als heuristisches Mittel ihrer Struktur zu begreifen. Doch für ein philosophisches Weltverständnis hat nicht die gegebene Sprache das letzte Wort, sondern eben das begreifende Denken, was immer auch über eine gegebene Sprache (auch die eigene!) hinausgeht, gehen kann und gehen soll.38 – Interkulturelle Philosophie mit Hegel bedeutet also zunächst: Die kulturell differenten Philosophien ,in Gedanken zu erfassen‘, und damit Differenzen weder primär als Sprachdifferenzen zu sistieren noch diese als historisch gleichgültig zu nivellieren. (ii) Darin, dass sich „interkulturelle Philosophie mit Hegel“ frei in und zwischen den kulturell differenzierten Feldern bewegen kann, weil es hier keine denkfernen Letztgegebenheiten gibt, denen sich das Denken unterzuordnen hätte, liegt: Interkulturelle Philosophie zielt auf eine begriffliche Klärung bzw. Rekonstruktion kultureller Differenzen. Die Beschreibung der Differenzen (inkl. der Kenntnis signifikanter sprachlicher Differenzen) steht hier am Anfang, nicht am Ende ihres Tuns. Am Ende steht die Einsicht in eine begriffliche Differenz, d. h. in einen Unterschied, der einen Unterschied für das Denken macht, welches seine Bestimmungen (Denkbestimmungen) in argumentativen, prinzipiellen oder konzeptionellen Zusammenhängen be38

Dieses Hinausgehen des Denkens über eine gegebene Sprache lässt sich in verschiedener Weise fassen. Um hier nur zwei Aspekte anzudeuten: (i) In der Regel darf man wohl davon ausgehen, dass Philosophen ohnehin immer auch über ihre Muttersprache hinauszugehen im Stande sind (z. B. mindestens Deutsch/Latein/Griechisch/Französisch bei Hegel). Ferner – und das wird erstaunlich wenig bedacht – ist das Denken keineswegs nur auf rein sprachliche Distinktionen und Formen beschränkt. So bewegt und artikuliert es sich zum Beispiel eben auch in musikalischen oder visuellen Formen; vgl. dazu Lohmar (2016), Beuthan (2014), Vogel (2001). Der verbreitete Sprachzentrismus ist vermutlich ein Türöffner für den einen oder anderen Kulturzentrismus – und müsste einmal im Kontext anderer medialer Formen betrachtet werden. (ii) Des Weiteren kann und soll das philosophische Denken über ein gegebenes Sprachspiel hinausgehen, sofern Philosophie eben nicht allein auf Deskription, sondern auf Wahrheit abzielt, was zwar manchem ein anstößig großer Begriff sein mag, aber in jedem Fall anzeigt, dass es um mehr als Deskription eines historischen Feldes geht, z. B. um Analyse von Argumentationen und normativen Settings, die u. a. auch auf ihre Konsistenz und Erschließungskraft hin befragt werden müssen.

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greift. Hier nämlich gilt: Unterscheidungen im Denken sind de jure jedem Denken zugänglich und für jedes Denken von Bedeutung – ungeachtet lokalpolitischer Interessenlagen (die de facto natürlich selektieren; aber philosophisches Denken beginnt ohnehin erst dort, wo mindestens die Reflexion auf die gegebene, tradierte ,Interessenlage‘ begonnen hat und somit auch de facto immer schon über diese hinaus ist). Ein Unterschied im Denken, das heißt einen begrifflichen Unterschied zu machen, bedeutet nicht, eine Differenz einzuebnen oder zu kaschieren, sondern im Gegenteil: Erst Differenzen, die begrifflich gefasst sind, erhalten ihre Schärfe als Unterschiede in der Sache statt als Unterschiede letztlich kontingenter Standpunkte. Interkulturelle Philosophie kann so einen sterilen Standpunktrelativismus überwinden und zu einer Differenz in der Sache vordringen, die von jedem Standpunkt denkend erfasst werden kann. (iii) Übergänge. – Eine entscheidende, vielleicht die wichtigste Konsequenz einer hegelinspirierten interkulturellen Philosophie ist der Fokus auf die begrifflichen Übergänge zwischen den Differenzen. Es ist bereits empirisch falsch, einem Kulturverständnis nachzuhängen, in denen sich differente Kulturen monolithisch gegenüberstehen, und sich entweder prinzipiell voneinander abschotten oder ,bekriegen‘. Tatsache ist, dass es in der Genese großer und kleiner Kulturzusammenhänge immer wieder zu Cross-over Bewegungen, Verbindungen und Einflüssen kam.39 Und in Zeiten der Globalisierung ist mehr denn je die Vorstellung abgeschossener Kulturmonaden passé. Auch Ökonomie und Politik agieren in nicht akzidenteller Weise transnational und transkulturell. Betrachtet man – um nicht nur auf ökonomische und transnationale politische Prozesse zu referieren – das Feld der ästhetischen Präferenzen (wie sie sich in etwa in der Mode manifestieren), dann ist das Cross-over von kulturellen Traditionen allenthalben sichtbar.40 – Was empirisch letztlich nicht überzeugen kann, wird auch begrifflich nicht zu halten sein. An Hegel lässt sich lernen, wie man Differenzen nicht nur begrifflich fasst und geltend macht, sondern vielmehr auch, wie man im Medium des Begriffs Übergänge erkennen kann (auch kontrafaktisch, d. h. auch dort, wo ein Konfliktszenario tiefere Zusammenhänge zu verbergen droht). Anstelle einer bloßen Parataxe von kulturellen Formationen und ihren Philosophien kann und sollte interkulturelle Philosophie eben auch die gedanklichen Übergänge zwischen denselben zu begreifen suchen. Das „inter“ der interkulturellen 39

Vgl. Welsch (1992). Der koreanische Exportschlager im Bereich der Pop-Musik, der sogenannte „K-Pop“ trifft offenkundig eine Geschmackspräferenz in fast ganz Asien (besonders in China und Japan), ist aber zugleich deutlich geprägt von der westlichen Tradition der Pop-Musik (insbesondere der sog. Boy-Groups/Girl-Groups der 80er und 90er). Diese Filiations- und Transformationslinien sind natürlich nicht auf die sog. Unterhaltungskunst beschränkt, sondern ebenso sehr in ,avancierter‘ Museumskunst etc. zu finden. Ferner verlaufen diese Linien keineswegs nur in eine Richtung. Exemplarisch sei auf die Comic-Ästhetik verwiesen, wo nach starken westlichen Einflüssen (wie Walt Disney) eine eigene Tradition im asiatischen Raum, insbesondere in Japan, entstanden ist (sog. „Manga“), die längst aus dem asiatischen Raum auf die westliche Welt zurückwirkt. Die Reihe der Beispiele ließe sich leicht fortsetzen – und ein Ende ist mehr denn je nicht in Sicht und auch nicht zu wünschen. 40

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Philosophie stünde dann nicht für die Setzung von Leerzeichen zwischen den historisch aufgenommenen kulturell divergenten Auffassungen und Theorien – was in der Archivierung von Differentem mündet. Vielmehr stünde das „inter“ für eine begriffliche Durchquerung des Zwischen – für die begriffliche Erforschung der Verbindungslinien. Mit Hegel könnte man sagen: Der Begriff ist eben das Zwischen, das trennt, Differentes setzt (unterscheidbar macht) und verbindet (als Unterschied im Ganzen zu erkennen gibt). Erst damit verlässt sie auch in methodischer Hinsicht den Boden bloßer Doxographie und tritt in eine Sphäre der Normativität ein, in der der Maßstab des Verbindlichen dem Denken in seiner Freiheit entspringt.

VII. Ausblick Ein maßvoller Universalismus. – Fasst man die wichtigsten Elemente des hier skizzierten Hegelschen Modells zusammen, dann wird eine generelle These erkennbar, welche letztlich akzeptiert werden müsste, wenn man das Projekt Interkultureller Philosophie „mit Hegel“ verfolgen wollte. Es ist – wie ich es nennen möchte – die These eines maßvollen Universalismus (measured universalism). Der zentrale Gedanke ist dabei, dass die universalistische These von allgemein gültigen Normen nicht durch die Einsicht in historisch-kulturelle Differenzen preisgegeben, sondern durch deren begriffliche Rekonstruktion konkretisiert wird. Die begrifflichen Grenzen werden nicht als Argumente gegen einen allgemeinen Zusammenhang und für einen Relativismus verstanden, sondern vielmehr als Argumente für einen sich erst durch die Differenzen realisierenden Universalismus des Denkens betrachtet.41 Ein solcher Universalismus ist eben auch ein begrifflicher Differenzierungsprozess, und hat mit einem maßlosen, weil unterschiedslosen Universalismus nichts gemein. Vielmehr wird der maßvolle Universalismus die dem Denken eigene Allgemeingültigkeit immer durch die Differenzen hindurch zu beweisen suchen, und nicht über diese hinweg. – Wenn anders also interkulturelle Philosophie, wie anfangs gesagt, bedeutet, ,Einsicht durch Differenz‘, dann bedeutet „Interkulturelle Philosophie mit Hegel“: ,Einsicht in das Verbindende durch begriffliche Differenzierung‘. Die auf solche Einsicht zielende begriffliche Arbeit der interkulturellen Philosophie hat bereits an verschiedenen Orten dieser Welt – und nicht selten explizit mit Hegel – begonnen und verspricht einen nicht unerheblichen Beitrag zum Dialog der Kulturen zu leisten. 41

Die Idee eines maßvollen, d. h. kulturelle Differenzen Rechnung tragenden, Universalismus ist freilich auch in hegelfernen oder hegelkritischen Theoriekontexten zu finden. Umso besser für die Wirklichkeit, möchte man da sagen. Vgl. hier besonders Achille Mbembes (2017) erhellende Kritik des Rassismus und der damit einhergehenden Nationalismen (und zwar sowohl auf Seiten rassistischer Europäer als auch auf Seiten der durch den Rassismus diskriminierten Afrikaner) und seine dabei ebenso entschieden wie behutsam formulierte Argumentation für einen Universalismus, die unschwer eine gewisse Familienähnlichkeit zur Hegelschen Philosophie erkennen lässt: „Universelles gibt es nur als Gemeinschaft aus Singularitäten und Differenzen, eine Aufteilung, die zugleich verbindet und trennt.“ (Mbembe 2017, S. 288; siehe auch ebd. S. 331 f.)

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Phänomenologie und Logik

Hegel und das Gewicht der Erfahrung in der ,Phänomenologie des Geistes‘ Andreas Schmidt Ich möchte im Folgenden anhand einer Lektüre einiger Passagen aus Hegels Phänomenologie des Geistes eine Interpretation Hegels vorschlagen, die ihm nicht eine „panlogizistische“ Position zuschreibt, sondern eine Philosophie, die sich durch eine besondere Offenheit für die Erfahrung und die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften auszeichnet. Ich glaube, daß Hegels Ansatz ausgesprochen instruktiv sein kann für philosophische Ansätze, die sich der Transzendentalphilosophie zumindest insofern verpflichtet fühlen, als sie Philosophie für ein weitgehend apriorisches Unternehmen halten, aber sich andererseits der Einsicht nicht verschließen wollen, daß eine zeitgemäße Philosophie auch empirisch informiert sein muß. I. Die Rolle der Erfahrung in der praktischen Philosophie: Hegels Kant-Kritik Als erstes möchte ich mich diesem Thema nähern über Hegels Kant-Kritik, genauer über den sog. Formalismus-Einwand, den er gegen Kants praktische Philosophie erhebt: Der kategorische Imperativ sei leer und tauge nicht als Moralkriterium. Ein Kantianer könnte gegen den Formalismus-Einwand wohl Folgendes erwidern: „Sicher liefert uns Kant kein mechanisches Verfahren, um mit Hilfe des kategorischen Imperativs die guten Maximen ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen einzusortieren. Aber das ist doch ein Vorteil, kein Nachteil: Moralische Entscheidungen sind manchmal schwierig, und das sollte sich in der Theorie auch abbilden. Einen unfehlbaren Moral-Algorithmus sollten wir auch gar nicht erwarten.“ Doch das Problem, auf das Hegel hinweist, reicht tiefer. Das sieht man, wenn man näher betrachtet, wie Kant den kategorischen Imperativ einführt – nicht so sehr die Art und Weise, wie er ihn dann tatsächlich anwendet. Sehen wir uns Kants Theorie zur Einstimmung ganz kurz an. Während z. B. bei Hume die Vernunft nie das letzte Ziel einer Handlung bestimmen kann, sondern nur für die Erkenntnis von Zweck-Mittel-Relationen zuständig ist, – das Ziel wird durch individuelle Neigungen und Wünsche (desires) bestimmt – ist die Vernunft bei Kant praktisch. Das heißt – etwas vereinfacht ausgedrückt –, es gibt ein Ziel, das die Vernunft selbst generiert, ein Ziel, das jedes Vernunftwesen, so verschieden es von uns auch sein mag, haben muß, sofern es nur vernünftig ist. Diese Ziele haben also auch nichts mit unserer anthropologischen Verfassung zu tun – es sind Ziele, die auch

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Engel, Götter und extraterrestrische Energiewesen aus Star Trek mit uns teilen, sofern sie nur Vernunftwesen sind. Nach Kant ist dieses Ziel die allgemeine Zustimmungsfähigkeit.1 Im Fall der theoretischen Vernunft ist damit die allgemeine Zustimmungsfähigkeit von Behauptungen, die mit Erkenntnisanspruch erhoben werden, gemeint – das, was Kant gelegentlich „subjektive Allgemeinheit“ nennt;2 im Fall der praktischen Vernunft (im engeren Sinn) die allgemeine Zustimmungsfähigkeit von Maximen, nach denen gehandelt wird. Als Sinnenwesen haben wir auch noch viele andere Ziele, die aus unseren Neigungen entspringen. Aber der der Vernunft immanente Wille kann aus dieser Gemengelage herausisoliert werden; und wenn er – und er allein – handlungsmotivierend wird, dann handeln wir moralisch. Diese allgemeine Zustimmungsfähigkeit dient daher als Moralkriterium und wird von Kant im kategorischen Imperativ formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“3 Handelt der Mensch im Einklang mit diesem Imperativ, handelt er autonom, denn es ist die Vernunft allein, die dieses Gesetz generiert; und da der Mensch wesentlich ein Vernunftwesen ist, ist es sein Gesetz, und kein fremdes Gesetz, das ihm von außen auferlegt wird. Hegel hat bekanntermaßen Kants kategorischen Imperativ kritisiert, z. B. in dem Kapitel „Die gesetzprüfende Vernunft“ der Phänomenologie des Geistes.4 Ich will hier nicht auf die Details der Textexegese eingehen, sondern nur sagen, was ich für den Kern der Hegelschen Kritik halte. Diesen Kern des Hegelschen Einwandes kann man sich verdeutlichen, wenn man die Frage stellt, was unter „Zustimmung“ in Kants Moralkriterium denn eigentlich gemeint sein kann. Wer muß zustimmen können? Müssen die konkreten betroffenen Personen, mit ihren Neigungen und Lastern, zustimmen können? Würde es also reichen, eine Umfrage zu machen? Nein; denn sie könnten ja allesamt unmoralische Neigungen haben und der Test der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit würde zu intuitiv falschen (unmoralischen) Ergebnissen führen. Von allen empirischen Neigungen muß also abstrahiert werden, und es muß gefragt werden, ob sie, rein als Vernunftwesen, zustimmen könnten – unter Abstraktion von allen sonstigen Neigungen, Wünschen und Bedürfnissen. Aber der einzige Wille, den man rein als Vernunftwesen hat, ist eben der Wille zur allgemeinen Zustimmungsfähigkeit selbst. Und das ist zu abstrakt, um für einen Maximentest hilfreich zu sein. Kants Moralkriterium läuft leer. Damit der Test allgemeiner Zustimmungsfähigkeit anwendbar wird, müssen wir ihn also konkreter fassen. Wenn ich mir überlege, was für alle zustimmungsfähig ist, muß ich zurückgreifen auf Ansichten darüber, worin das Wohlergehen und Gedeihen

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Siehe Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 402. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V 215. 3 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 30. 4 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW 9, 232 – 237.

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der anderen besteht – ich muß auf, wenn man so will, materiale Werte zurückgreifen.5 Das heißt: Ich muß mir die Frage stellen, was Wesen, entsprechend ihrer anthropologischen Verfassung und der historisch gewordenen Lebensform, in der sie sich befinden, vernünftigerweise für wünschenswert halten müßten. Ein solcher Rekurs auf anthropologisch und historisch bedingte Faktoren moralischer Bewertung ist unumgänglich, damit das Kriterium der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit anwendbar wird. Daher geht Hegel in der Phänomenologie des Geistes vom Vernunft-Kapitel, an dessen Ende sich seine Kant-Kritik befindet, über zum Geist-Kapitel, in dem historisch gewordene kollektive Lebensformen, von Hegel als „sittliche Substanz“ bezeichnet, diskutiert werden.6 Dabei aber ist zu beachten, daß dieser Schritt nicht zu einer relativistischen Position führt: Die Universalisierbarkeit als vernunftimmanentes und insofern apriorisches Moralkriterium bleibt bestehen, es muß aber ergänzt werden durch aposteriorische Momente; erst durch diese Ergänzung durch ihr „Anderes“ – die Erfahrung – kann die praktische Vernunft „bei sich selbst sein“. Man könnte zur Illustration ein Beispiel von Kant heranziehen. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt er: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen, und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen.“7

So muß man es sich wohl bei Hegel mit der praktischen Vernunft vorstellen. Die anthropologische Verfassung des Menschen und die Historizität seiner Lebensformen bilden bei der Beurteilung moralischer Sachverhalte einen Vernunftwiderstand, aber einen, der unumgänglich und notwendig ist – ohne ihn könnte die praktische Vernunft nicht funktionieren. Aber gerade darum ist diese anthropologische und historische Bedingtheit Teil des Wesens der praktischen Vernunft; nur in ihr kann die praktische Vernunft „bei sich selbst sein“. Konkret heißt das aber, daß der Begriff der moralischen Rechtfertigung ein hybrider Begriff ist: Er umfaßt einen a-priori-Teil (Universalisierbarkeit) und einen a-posteriori-Teil (Universalisierbarkeit für Wesen mit dieser und jener empirischen Verfaßtheit). Nur zusammen bilden sie den Begriff der moralischen Rechtfertigung, der apriorische Teilbegriff wäre für sich genommen, wie gesagt, dysfunktional und nicht anwendbar. 5 Und wenn Kants Maximentest positive Ergebnisse zeitigt – so Hegels Vorwurf –, dann nur deswegen, weil er implizit materiale Werte voraussetzt, die sich ihrerseits dem Test entziehen. Daß das zumindest für viele der Kantischen Beispiele zutrifft, läßt sich wohl kaum bestreiten. 6 Sie werden unter einem sehr spezifischen Gesichtspunkt diskutiert, nämlich dem Verhältnis von Individuum und Staat bzw. Gesellschaft. 7 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 8 f., AA IV, 19.

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II. Die Rolle der Erfahrung in der theoretischen Philosophie: Die Einzelwissenschaften Im Folgenden möchte ich mir nun die Frage stellen, ob es eine ähnliche Situation bei Hegel auch im Fall der theoretischen Vernunft gibt, und ob sich insbesondere dazu etwas in Hegels Phänomenologie des Geistes findet. Tatsächlich wird man fündig am Anfang des Vernunft-Kapitels, in dem Hegel sich mit Kant und Fichte auseinandersetzt. Insbesondere formuliert er drei Einwände gegen Kant und Fichte. Der erste Einwand bezieht sich auf Fichte. Hegel kritisiert Fichte dafür, daß er mit seinem Systemprinzip – dem absoluten Ich – einfach anfängt und es dadurch legitimieren möchte, daß er für es unmittelbare Gewißheit beansprucht. Für Hegel ist das methodisch unzureichend: Die Berufung auf bloße Gewißheit legitimiert nach Hegel noch gar nichts. Er schreibt: „Der Idealismus, der […] mit dieser Behauptung anfängt, ist daher auch reine Versicherung, welche sich selbst nicht begreift, noch sich andern begreiflich machen kann. Er spricht eine unmittelbare Gewißheit aus, welcher andere unmittelbare Gewißheiten gegenüberstehen […].“ ({ 234, GW 9, 133)8

Die Legitimation eines Prinzips kann sich für Hegel nur aus der immanenten Kritik aller Vorgängergestalten des Bewußtseins ergeben, aus denen sich diese neue Gestalt entwickelt hat. Der Weg zu dieser Gestalt des Bewußtseins ist zugleich ihre Rechtfertigung, und deshalb ist es nicht möglich, mit ihr einfach so zu beginnen, wie Fichte das tut. Das Prinzip der Philosophie kann nicht am Anfang der Philosophie stehen. Der zweite Einwand wendet sich speziell gegen Kant. Nach Kant gibt es zwölf reine Verstandesbegriffe (zwölf Kategorien), die eine erfahrungskonstitutive Rolle spielen. Aber wieso zwölf? Wieso nicht sieben? Oder dreiundzwanzig? Was Hegel an der Kategorientafel stört, ist, daß es bei Kant kein methodisches Verfahren gibt, das es erlauben würde, die einzelnen Kategorien abzuleiten und auf diese Weise sowohl ihre Notwendigkeit als auch die Vollständigkeit der Kategorientafel zu beweisen. Hegel schreibt: „Die Vielheit der Kategorien aber auf irgendeine Weise wieder als einen Fund, z. B. aus den Urteilen, aufnehmen und sich dieselben so gefallen lassen, ist in der Tat als eine Schmach der Wissenschaft anzusehen; wo sollte noch der Verstand eine Notwendigkeit aufzuzeigen vermögen, wenn er dies an ihm selbst, der reinen Notwendigkeit, nicht vermag?“ ({ 235, GW 9, 135)

Es wird Aufgabe der Wissenschaft der Logik sein, hier Abhilfe zu schaffen. Der dritte Einwand bezieht sich sowohl auf Fichte als auch auf Kant; ich werde mich im Folgenden aber auf Kant konzentrieren. Hegel kritisiert, Kants Transzendentalphilosophie sei ein „leere[r] Idealismus“ ({ 238, GW 9, 136), der aufgrund seiner Leerheit zu einem „absolute[n] Empirismus“ (ibid.) werden müsse. Was Hegel 8

Für die Phänomenologie des Geistes wird die Absatzzahl nach „{“ mit angegeben.

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hier kritisiert, ist die Zwei-Stämme-Lehre Kants, der zufolge für Erkenntnis sowohl ein Begriff als auch ein Mannigfaltiges der Anschauung nötig ist, wobei das Subjekt nur die reinen Verstandesbegriffe (und die Form der Anschauung) beisteuert; das Mannigfaltige der Anschauung wird dem Subjekt einfach gegeben. Aber hier muß man sich nun genau überlegen, worin überhaupt die Kritik an Kant bestehen soll. Wenn Hegels Kritik nur darin bestünde, daß durch das Mannigfaltige der Anschauung ein fremdes Ingrediens in die Erkenntnis hineinkommt, dann wäre diese Kritik keine immanente, denn die Tätigkeit des Subjekts sollte von vorneherein bei Kant nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dafür sein, daß es eine objektive Welt der Erscheinungen gibt. It’s not a bug, it’s a feature, würde ein Kantianer sagen. Daß es sich hier um eine illegitime Kritik handelt, meint z. B. Ludwig Siep: „Daß der Idealismus sich in einen ,Widerspruch‘ verwickelt, leuchtet aber nur ein, wenn das Ich bzw. die ,Einheit der Apperzeption‘ in der Tat ,alle Realität‘ bzw. ,die Wahrheit des Wissens‘ sein sollte. Dann könnte in der Tat nicht gleichzeitig die ,Realität‘ des Nicht-Ich bzw. des Dinges an sich behauptet werden. Indessen haben weder Kant noch Fichte diese Behauptung aufgestellt. Selbst für Fichte kann zwar nur das ,real‘ genannt werden, was wir uns durch spontane Tätigkeit zu Bewußtsein bringen. Aber diese Tätigkeit erfährt sich selber als ,angestoßen‘ oder gehemmt.“9

Es lohnt sich daher, genauer nachzufragen, worin genau Hegels Kritik an Kant eigentlich besteht. Der Text zu Beginn des Vernunft-Kapitels gibt uns leider nicht viele Hinweise – außer daß Hegel meint, daß die Transzendentalphilosophie Kants aufgrund ihres Dualismus in den Skeptizismus zurückfalle: „sie verurteilt sich […] zu einem unwahren Wissen, und kann vom Meinen und Wahrnehmen, die für sie selber keine Wahrheit haben, nicht ablassen“ ({ 238, GW 9, 136). Und da Kants Theorie in der Tat anti-skeptisch sein will, wäre ein Argument, das solche skeptischen Konsequenzen der Kantischen Theorie aufzeigt, tatsächlich eine immanente Kritik. Aber welche skeptischen Konsequenzen sind gemeint? Da gibt es mehrere Möglichkeiten, die im Hintergrund des Einwandes stehen könnten: Erste Möglichkeit: Wenn, so könnte man argumentieren, der Verstand mit seinen Begriffen und die Anschauung vollständig heterogen sind, dann versteht man nicht, wie die Begriffe auf die Anschauung überhaupt anwendbar sein sollen. Es scheint, daß sie an der glatten Oberfläche der Anschauung keine Haftung finden und, sozusagen, leerdrehen: Hier handelt es sich um ein Problem, zu dem Kant zwar selbst in der Kritik der reinen Vernunft ein Lösungsangebot liefert – im Schematismus-Kapitel, wo die Einbildungskraft das Vermittlungsproblem lösen soll –, aber es könnte sein, daß Hegel diesen Lösungsvorschlag für unbefriedigend hält. Und in der Tat kritisiert Hegel Kants Theorie der Einbildungskraft (etwa in Glauben und Wissen).10 9

Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels Differenzschrift und Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 123). 10 Die Einbildungskraft dürfe nicht „als das Mittelglied, welches zwischen ein existierendes absolutes Subjekt und eine absolute existierende Welt erst eingeschoben wird, sondern [müsse] als das, welches das Erste und Ursprüngliche ist und aus welchem das subjektive Ich

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Zweite Möglichkeit: Kant versucht, die objektive Geltung der Verstandesbegriffe nachzuweisen, indem er zeigt, daß sie konstitutiv sind für die Objekterfahrung überhaupt. Aber selbst wenn das gelingt, betrifft dieser Objektivitätsnachweis doch allein und ausschließlich die reinen Verstandesbegriffe, also die zwölf Kategorien. Was dabei zunächst völlig offen gelassen wird, ist der Status der empirischen Begriffe, die wir doch benötigen, um Aussagen über kontingente Zustände in der Welt zu machen, und der empirischen Gesetze, um sie zu erklären. Der Geltungsnachweis in bezug auf die reinen Verstandesbegriffe schließt noch nicht aus, daß keinem einzigen unserer empirischen Begriffe oder Gesetzesaussagen etwas in der Welt entspricht. Um das etwas deutlicher zu machen, ist es hilfreich, sich auf die Kausalkategorie zu konzentrieren. Wenn die Kausalkategorie objektive Geltung hat, dann wissen wir, daß alles in der Welt eine Ursache hat. Aber einzelne empirische Kausalgesetze haben wir damit noch nicht erkannt. Darüber ist sich natürlich auch Kant im Klaren, der z. B. schreibt: „Weder Verstand noch Vernunft können a priori ein […] Naturgesetz begründen. Denn, daß sich die Natur in ihren blos formalen Gesetzen (wodurch sie Gegenstand der Erfahrung überhaupt ist) nach unserm Verstande richte, läßt sich wohl einsehen, aber in Ansehung der besondern Gesetze […] ist sie von allen Einschränkungen unseres gesetzgebenden Erkenntnisvermögens frei“11

Insofern ist die Wahrheit der Kantischen Theorie mit einer völligen Skepsis hinsichtlich der empirischen Erkenntnis verträglich. Und man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, daß Skepsis hinsichtlich des empirischen Wissens aus der Kantischen Position sogar folgt. In der Kritik der Urteilskraft argumentiert Kant nämlich, daß Naturgesetze Notwendigkeit besitzen müssen – sonst wären es keine Gesetze. Aber zugleich ist für Kant nur das notwendig, was a priori zu rechtfertigen ist, also z. B. die Kausalitätskategorie. Da aus der Kausalitätskategorie kein bestimmtes Naturgesetz folgt, sind Naturgesetze kontingent, nicht notwendig. Also kann es im Rahmen der kantischen Theorie gar keine Naturgesetze geben – so könnte man zumindest meinen.12 Die Transzendentalphilosophie, so scheint es jetzt, schließt empirisches Wissen sogar aus!13 Auch hier macht Kant ein Lösungsangebot: Den Naturgesetzen wächst Notwendigkeit kraft ihrer Einbettung in ein System von Naturgesetzen zu, und daß ein solches für uns erkennbares System der Naturgesetze möglich ist, wird durch ein Postulat der reflektierenden Urteilskraft gesichert. Aber auch hier könnte es sein, daß Hegel mit dieser Lösung unzufrieden ist. Und in der Tat kri-

sowohl als die objektive Welt erst zur notwendig zweiteiligen Erscheinung und Produkt sich trennen“ (GW 4, 329) verstanden werden. 11 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1. Einleitung, AA XX 210. 12 S. Kritik der Urteilskraft, AA V 183. 13 S. dazu Paul Guyer, Kant’s System of Nature and Freedom. Selected Essays, Oxford: Clarendon Press, 2005, S. 34 ff.

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tisiert Hegel Kants Theorieangebot, die empirischen Naturgesetze über ein Postulat der reflektierenden Urteilskraft einzuholen, in der Differenzschrift.14 Um Hegels wahre Absicht zu erkennen, müssen wir den Text des Vernunft-Kapitels einfach weiterlesen. Zu Beginn der Phänomenologie des Geistes kündigt Hegel ja an, die Phänomenologie bestehe aus einer Sequenz inadäquater Theorien – sog. „Gestalten des Bewußtseins“ –, wobei, wie Hegel sich ausdrückt, jede Theorie im Verhältnis der „bestimmte[n] Negation“ ({ 79, GW 9 57) zu ihrer Vorgängertheorie steht: Die neue Theorie ist ihre Negation, weil sie die Vorgängertheorie als falsch erkennt und sich an ihre Stelle setzt, sie ist eine bestimmte Negation, weil sie die Vorgängertheorie nicht einfach verwirft, sondern aus den Fehlern der Vorgängertheorie gelernt hat und diese Fehler (mit dem geringstmöglichen Aufwand) zu vermeiden sucht. Wenn wir also wissen wollen, was der Fehler der Gestalt des Bewußtseins ist, die zu Beginn des Vernunft-Kapitels durch Kant und Fichte repräsentiert wird, müssen wir einfach weiterlesen und sehen, wie die Nachfolgekonzeption aussieht, welche Korrektur sie an ihrer Vorgängerin vornimmt. Und siehe da, Hegel geht weder auf das Problem der Einbildungskraft und die Frage der Vermittlung von Sinnlichkeit und Begriff ein, noch auf das Problem der Notwendigkeit empirischer Naturgesetze und die Frage, ob diese durch ein Postulat der reflektierenden Urteilskraft eingeholt werden kann. Wenn wir uns ansehen, wie Hegel tatsächlich fortfährt, erleben wir nämlich eine Überraschung: Er geht über zu dem, was er die „wirkliche Vernunft“ ({ 239, GW 9, 137) nennt, im Gegensatz zur „abstrakte[n] Vernunft“ ({ 241, GW 9, 138) und meint damit offenbar die tatsächlichen Praktiken der Naturwissenschaftler: Er setzt sich auseinander mit Linné, Treviranus, Kielmeyer, Steffens, dann mit Gall, Lavater etc. Er behandelt also konkrete Versuche seiner Zeitgenossen, das Naturreich zu klassifizieren oder auf Gesetze zu bringen, Versuche, die Physiologie von Lebewesen funktional zu beschreiben etc. Das ist auch der Grund, wieso das Kapitel bei Interpreten eher unbeliebt ist: weil viele dieser Diskussionen heute wissenschaftlich obsolet sind. Aber der Schritt ist wichtig. Hier liegt nämlich Hegels Kritik an der Kantischen Theorie: Wir können dasjenige, was Vernunft ist, nicht vollständig abtrennen von solchen konkreten wissenschaftlichen Praktiken, die von Disziplin zu Disziplin unterschiedlich sind, sich historisch ändern und sich ihre Resultate zumindest teilweise der Verfassung der beobachteten Natur ablauschen. Das heißt nun in bezug auf die Vernunft zweierlei. Erstens heißt es, daß der Begriff rationaler Rechtfertigung leer und abstrakt bleibt, solange wir nicht betrachten, wie die Vernunft sich in konkreten und durch Erfahrung gesättigten epistemischen Praktiken ins Werk setzt. Es heißt zweitens, daß auch die Kategorien, die Hegel in der Wissenschaft der Logik entwickelt, nicht angemessen verstanden werden können, ohne zu untersu14 „Es bleibt außer den objektiven Bestimmungen durch die Kategorien ein ungeheures empirisches Reich der Sinnlichkeit und Wahrnehmung, eine absolute Aposteriorität, für welche keine Apriorität als nur eine subjektive Maxime der reflektierenden Urteilskraft aufgezeigt ist; d. h. die Nichtidentität wird zum absoluten Grundsatz erhoben.“ (GW 4, 6)

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chen, wie sie in den verschiedenen empirischen Einzelwissenschaften operativ sind. Natürlich kann das nicht heißen, daß es keine kategorialen Bestimmungen gibt, die sich a priori formulieren ließen. Wäre es so, wäre dem Relativismus Tür und Tor geöffnet und das Projekt einer Wissenschaft der Logik würde zuschanden werden. Um diese relativistische Konsequenz zu vermeiden, müssen wir, wie bereits im Fall der praktischen Vernunft, mit hybriden Begriffen operieren. Die Gedankenbestimmungen müssen einen minimalen apriorischen Bestandteil haben, der es erlaubt, sie in der Logik auf rein immanente Weise aus den vorausgehenden Gedankenbestimmungen abzuleiten. Wer freilich die Logik gelesen hat, weiß z. B. immer noch nicht, was die Kategorie der Kausalität wirklich besagt; um das zu wissen, muß man den aposteriorischen Teil hinzufügen, den man aus der sorgfältigen Lektüre der (empirisch gesättigten) Realphilosophie entnehmen kann. Wichtig ist, daß zur Kategorie beides gehört – der minimale apriorische Kern und das ausgreifendere empirische Supplement. Die Überschriften der Logik sind also, so möchte ich zumindest vorschlagen, durchaus proleptisch zu verstehen. Dieses positive Verhältnis Hegels zur Empirie wird leicht übersehen, da er bei seiner Schilderung der Einzelpraktiken der Naturwissenschaften in der Phänomenologie des Geistes sofort wieder kritisch vorgeht und sie z. B. kategorialer Naivität zeiht. Aber daß Hegel ein im Kern positives Bild der empirischen Einzelwissenschaften und ihrer durchaus konstitutiven Rolle für die Philosophie hat, zeigt sich gut in seiner Geschichte der Philosophie, wo er schreibt: „Das Wissen aus Erfahrung, das Räsonnieren aus derselben, steht gegenüber dem Wissen aus dem Begriff, aus dem Spekulativen; und man faßt oft den Gegensatz wohl gar so scharf auf, daß das Wissen aus dem Begriff sich schäme der Erkenntnis aus der Erfahrung, wie sich dann diese auch wieder entgegenstelle dem Erkennen durch den Begriff. […] [A]ber es ist für die Idee notwendig, daß die Partikularität des Inhalts ausgebildet werde. Eine wesentliche Seite ist der Begriff, aber ebenso wesentlich die Endlichkeit desselben als solchen. Der Geist gibt sich Gegenwart, äußerliche Existenz; diese Existenz kennenlernen, das Weltwesen, wie es ist, das sinnliche Universum, sich als diesen, d. i. mit seiner erscheinenden, sinnlichen Ausbreitung, ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Beziehung auf die Idee.“ (W XX, 78 ff.)

III. Erfahrung und System Was heißt das nun ganz allgemein für die Perspektiven einer Systemphilosophie? Eine geläufige Ansicht eines philosophischen Systems beruht erstens auf einer dualistischen Ansicht über die Prinzipien und das durch sie Begründete – wir haben auf der einen Seite Gegenstände der Erfahrung, auf der anderen Seite die Prinzipien, die sie bedingen –, zweitens auf einer holistischen Verfassung der Prinzipien untereinander – diese Prinzipien bilden ihrerseits einen Prinzipienverband, eine joimym_a, nach dem Vorbild der Platonischen l]cista c]mg, dessen holistische Verfassung es erlaubt, auf methodisch geregelte Weise von einem Prinzip zum anderen überzuge-

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hen, bis der gesamte Bereich der Prinzipien vollständig beschrieben wurde.15 So schreibt z. B. Reinhard Lauth in Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie: „Da Philosophie Erkenntnis der Prinzipien und aus Prinzipien sein will, scheidet sie sich von anderen Arten der Erkenntnis, z. B. vom historischen Erkennen, insofern dieses nur auf das besondere Einzelne geht. Die Erkenntnis eines Besonderen, Einzelnen in seiner so beschaffenen konkreten Einzelheit beschäftigt die Philosophie laut Definition nie.“16

Das ist die Dualismus-Prämisse. Den Prinzipienholismus finden wir auch, wenn Lauth schreibt: „Daß die Grundbestimmungen der Wirklichkeit ein Gefüge ausmachen darf nicht nur, sondern muß vorausgesetzt werden, da das Ganze der Wirklichkeit erkannt werden soll. Erkenntnis geschieht in der Einheit des Bewußtseins, in dieser Einheit können Gehalte nur als miteinander zusammenhängend vorgestellt werden.“17

Und ganz Ähnliches finden wir bei Nicolai Hartmanns Aufsatz Systematische Methode: Auch hier wird behauptet, ein Dualismus zwischen Gegenstand und Prinzip müsse in jeder systematischen Philosophie notwendig vorausgesetzt werden. Auf dieser Basis unterscheidet Hartmann eine deskriptive, eine transzendentale und eine dialektische Methode, die sich gegenseitig ergänzen: Die deskriptive Methode beschreibt das Gegebene hinsichtlich seiner allgemeinen Strukturen und bestimmt damit seinen Gegenstandstypus;18 die transzendentale Methode schließt von den beschrieben Gegenstandstypen auf die begründenden Prinzipien zurück – die Möglichkeitsbedingungen der so beschriebenen Gegenstandstypen;19 die dialektische Methode untersucht die begrifflichen Verbindungen innerhalb des Gefüges der Prinzipien: „Es wird zur Aufgabe einer besonderen Untersuchung gemacht, diese Gemeinschaft im einzelnen herauszuarbeiten, die Beziehungen herzustellen. Das ergibt ein Verfahren rein in Begriffen. Die Beziehung zum Dinge wird untergeordnet, sekundär. Wesentlich ist nur die Beziehung unter den koordinierten Prinzipienbegriffen. Diese Methode bewegt sich also in 15

S. Platon, Sophistes 254b ff. Reinhard Lauth, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München, Salzburg: Pustet, 1967. S. 40. 17 Ibid., S. 42. 18 „Vom Gegenstande ging sie [sc, die transzendentale Methode] ja aus. Sie mußte ihn also voraussetzen. Was bedeutet aber dieses Voraussetzen? Ist der Gegenstand ihr etwa ,gegeben‘? Oder muß er gefunden werden? […] Daß es nun eine derartige Methode wirklich gibt, zeigt am deutlichsten das Beispiel der Naturwissenschaften. Diese beginnen alle mit einem Verfahren, welches nur dazu dient, den Gegenstand vorläufig zu ,geben‘, d. h. ihn irgendwie vor der Hand so festzulegen und gleichsam zu ,umreißen‘, daß er dem Rückschluß auf seine Bedingungen bestimmte Problemrichtungen darbietet“ (Nicolai Hartmann, Systematische Methode [1912], in: ders.: Kleinere Schriften Bd. III: Vom Neukantianismus zur Ontologie, Berlin: de Gruyter 1958, S. 22 – 60, dort S. 31, 33). 19 „transzendentale Methode ist […] dasjenige Verfahren, nach welchem man, von der Wirklichkeit des Gegenstandes ausgehend, die Bedingungen seiner Möglichkeit erschließt.“ (ibid. 26). 16

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Andreas Schmidt

einer anderen logischen Dimension. Wenn man die Richtung der transzendentalen Methode als Aufstieg verbildlicht und im oberen Pol die Prinzipien ansetzt, so tritt dieser vertikalen Dimension in der Dialektik eine horizontale gegenüber, welche den für die Vertikale nur punktuellen oberen Pol in eine Kette zusammenhängender Glieder auszieht.“20

Dieses dualistische Bild des Systems – hier die Erfahrung, dort das Prinzipiengefüge – wird nun von Hegel in Frage gestellt. Erste Ansätze dazu finden wir bereits bei Kant und Fichte; denn das Faktum, daß es Erfahrung gibt, erhält hier selbst Prinzipienstatus und wirkt sich kraft der Wechselbestimmung der Prinzipien auch auf deren Bestimmtheit aus. So schreibt Kant von den reinen Verstandesbegriffen, ohne Bezug auf die Erfahrung seien sie „ohne Sinn und Bedeutung“21. Man kann sie – auch als Prinzipienbegriffe – nur verstehen, wenn man sie auf das Faktum der Erfahrung bezieht, in bezug auf die sie eine funktionale Rolle spielen. Wenn meine Interpretation Hegels korrekt ist, ist die Rolle der Erfahrung innerhalb des Verbands der Prinzipien bei ihm noch wesentlich tiefer: Die Erfahrungserkenntnis selbst, in ihrem empirischen Reichtum, wird Teil der joimym_a der Prinzipien. Was heißt das? Es heißt erstens, daß, wie zu erwarten, die Erfahrungserkenntnis durch die anderen Prinzipien bestimmt wird. Es heißt aber zweitens eben auch, und das ist der springende Punkt, daß alle anderen Prinzipengrößen kraft ihrer Wechselbestimmungen in den Gravitationsbereich der Empirie treten und durch sie modifiziert werden. Keine der Prinzipiengrößen kann verstanden werden ohne Rückbindung an die Erfahrungserkenntnis in ihrer empirischen Spezifität. Freilich muß es, drittens, bei aller Verzerrung der Prinzipien im Gravitationsbereich der Erfahrung einen minimalen davon unbetroffenen apriorischen Kern geben, der es erlaubt, die Resultate der Erfahrungserkenntnis zeitweise methodisch auszuschalten und die reine Wechselbestimmung der restlichen Prinzipengrößen durch Denken allein zu untersuchen. Die Rede von „hybriden Begriffen“ mit apriorischen und aposteriorischen „Bestandteilen“ mag manchen als ein der Hegelschen Philosophie unangemessenes isolierendes Verstandesdenken erscheinen – und das zu Recht. An dieser Stelle wäre eine eingehende Lektüre von Hegels Logik des Begriffs in seiner Wissenschaft der Logik nötig. Hegel betont hier – ganz im Sinne des oben Vorgetragenen –, daß das Einzelne erstens ein notwendiges Moment des Begriffs ist, daß es zweitens innerhalb des Begriffs notwendigerweise vom Allgemeinen dependiert, durch das es zum Besonderen wird, daß aber auch umgekehrt drittens das Allgemeine vom Einzelnen dependiert, das es zwar abstrahierend negiert, aber so, daß es in dieser Abstraktion von ihm abhängig bleibt. So sind das Allgemeine und das Einzelne zwei Seiten ein und derselben Medaille. 22 Eine genaue Untersuchung dieser schwierigen Passagen der Begriffslogik muß späteren Arbeiten überlassen werden. Soviel scheint mir aber festzustehen: Mit seiner Konzeption der Denkbestimmungen ist Hegel weit davon ent20

Ibid 42. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 195/A 156. 22 S. G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, GW 12, 32 – 52. Daß die Logik in die Realphilosophie übergehen muß, ist daher nicht zu verwundern. 21

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fernt, eine „panlogistische“ Position zu vertreten. Im Gegenteil: Seine Stärke liegt gerade darin, daß sein System der Empirie eine ungewöhnlich große Rolle zubilligt, ohne deswegen das Projekt einer apriorischen Philosophia prima aufgeben zu müssen. Es ist kein Zufall, wenn Hegel immer wieder betont, daß die These vom Selbstsein der Idee im Anderen auch verlangt, daß dieses Andere in seinem ganzen Gewicht genommen werden muß. Es muß, schreibt Hegel „als wirkliches Fortgehen bis zur zeitlichen, gänzlichen Äußerlichkeit der auch unmittelbaren und natürlichen Existenz“ (W XIV, 23) erfaßt werden. Literatur: Guyer, Paul: Kant’s System of Nature and Freedom. Selected Essays, Oxford: Clarendon Press, 2005. Hartmann, Nicolai: Systematische Methode [1912], in ders.: Kleinere Schriften Bd. III: Vom Neukantianismus zur Ontologie, Berlin: de Gruyter 1958, S. 22 – 60. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke, in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Hamburg: Felix Meiner 1968 ff. (= GW). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Hegel, G.W.F.: Werke, ed. Eva Moldenhauer and Karl Markus Michel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 ff. (= W). Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. v. der Preußischen [jetzt: Berlin-Brandenburgischen] Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1900 ff. (=AA). Lauth, Reinhard: Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München, Salzburg: Pustet, 1967. Siep, Ludwig: Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels Differenzschrift und Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

Das absolute Wissen – sparsam gelesen Jean-François Kervégan I. Selten hat ein Philosoph eine verhängnisvollere Entscheidung getroffen als Hegel, als er das letzte Kapitel der Phänomenologie des Geistes „Das absolute Wissen“ betitelte. Des Adjektivs wegen wird nunmehr dieser Ausdruck an Hegel, dem angeblichen Vertreter des „absoluten Idealismus“, haften bleiben, obzwar die letzterwähnte Wendung in keinem von ihm veröffentlichten Text zu finden ist.1 Hegel hat sogar den Nagel eingeschlagen, als er seine beiden großen systematischen Werke, die Wissenschaft der Logik und die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, mit einem Hinweis auf jene hochgepriesene Absolutheit beendet: „Die absolute Idee“ und „Der absolute Geist“ sind nämlich die jeweiligen Titel des letzten Kapitels der Logik und des letzten Abschnitts der Enzyklopädie. Hegel gilt also als der Philosoph, der sich in vollem Eigendünkel damit brüste, das absolute Wissen erreicht zu haben. Daher kommt der übliche Verdacht, Hegels absolutes Wissen wäre eine „Chimäre“.2 II. Wenn man aber die Sache etwas näher betrachtet, sieht sie nicht so eindeutig und einfach aus. Das hat die Fachliteratur zum Thema mit guten Argumenten festgestellt3, obgleich mit gemischtem Erfolg: das legendäre Verständnis des absoluten 1

Soweit ich weiß ist dieser Ausdruck nur in Vorlesungsnachschriften erwähnt: siehe u. a. Hegel, Enzyklopädie, § 45 Zusatz, Gesammelte Werke 23 – 3, S. 845; § 160 Zusatz, Gesammelte Werke 23 – 3, S. 928; § 337 Zusatz, Werke 9, S. 338; § 350 Zusatz, Werke 9, S. 430. 2 Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1988, S. 361: „The Absolute Knowledge of the Hegelian system is a chimaera“. 3 Außer den hierunten zitierten Beiträgen, siehe u. a.: G. Baptist, „Das absolute Wissen. Zeit, Geschichte, Wissenschaft“, in: D. Köhler u. O. Pöggeler, G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Berlin: Akademie Verlag 2006, S. 245 – 261; A. De Laurentiis, „Absolute Knowing“, in: K. R. Westphal (hrsg.), The Blackwell Guide to Hegel’s Phenomenology of Spirit, Malden-Oxford: Wiley-Blackwell: 2009, S. 246 – 264; J. Hyppolite, Genèse et structure de la Phénoménologie de l’Esprit, Paris: Aubier 1946, S. 553 – 583; W. Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg: F. Meiner 2020, S. 71 – 97; P.-J. Labarrière, „La sursomption du temps et le vrai sens de l’histoire conçue“, in: G. Jarczyk u. P.-J. Labarrière, Hegeliana, Paris: PUF 1986, S. 149 – 157; P.-J. Labarrière, Introduction à une lecture de la Phénoménologie de

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Wissens bleibt heute noch überwiegend. Versuchen wir jedoch, die Sache nochmals zu untersuchen. Zuerst soll daran erinnert werden, dass Hegel die Verwendung des gesamten Wortschatzfeldes des ,Absoluten‘ misstraut. Auf Schelling und seine Schule abzielend, verhöhnt er in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes diejenigen, die ins Absolute mit beiden Füssen hineinplatzen wollen, ohne zu verstehen, dass sie im „Abgrund des Leeren“ in der Tat segeln (GW 9, 17); im letzten Kapitel erwähnt er in gleicher Art und Weise den „leeren Abgrund des Absoluten“ (GW 9, 431). Auch die Einleitung warnt vor der unvorsichtigen Verwendung des Wortschatzes des Absoluten: der „Gebrauch von Worten als dem Absoluten“ könnte „sogar als Betrug angesehen werden“ (GW 9, 55). Eine ähnliche Vorsicht treffen wir in der Wissenschaft der Logik: am Anfang des dem Absoluten gewidmeten Kapitels (welches in der Enzyklopädie schlichtweg verschwindet) liest man Folgendes: „das Absolute selbst erscheint nur als die Negation aller Prädikate und als das Leere“.4 Es ist übrigens bemerkenswert, dass dieses Kapitel das einzige in der ganzen Wissenschaft der Logik ist, das zu keinem ,positiven‘ Ergebnis führt, als ob es von der „einfache[n] gediegene[n] Identität des Absoluten“ nichts weiter zu sagen wäre, als dass sie der Grund/Abgrund irgendwelcher endlichen Bestimmung ist: als Benennung Gottes braucht das Absolute einer bloßen Auslegung, die als eine Art negativer Theologie erscheint.5 In der Enzyklopädie greift Hegel eine andere Strategie auf, die dennoch auf ein ähnliches Ergebnis zielt: das Absolute wird hier mit den Hauptbegriffen des Systems schrittweise bezeichnet, denn „die logischen Bestimmungen überhaupt können als Definitionen des Absoluten, als die metaphysischen Definitionen Gottes angesehen werden“.6 „Das Absolute“ gilt also als ein Etikett, das auf irgendwelche logisch-systematischen Begriffe aufgeklebt werden kann, so dass es keine spezifische Bedeutung mehr behält. Es ist also nicht besonders erstaunend, dass in der Phänomenologie des Geistes der Ausdruck ,absolutes Wissen‘ sparsam angewendet ist. Er ist vor dem gleichnamigen Kapitel nur zweimal benutzt: einmal in der bekanntlich hinterher geschriebenen Vorrede (S. 24), und ein anderes Mal am Ende der Einleitung (S. 62). Im Kapitel VIII selbst ist er (mit Ausnahme des Titels) nur dreimal erwähnt (S. 427, 428, 433). Auch im übrigen veröffentlichten Werk ist der Ausdruck kaum zu finden. Zum Beispiel gibt es nur drei Erwähnungen des absoluten Wissens in der Wissenschaft der Logik: eine in der allgemeinen Einleitung, wo Hegel das Ergebnis der Phänomenologie kurz darstellt;7 eine zweite im Abschnitt über den Anfang der Wissenschaft8; l’Esprit de Hegel, Paris: Aubier 1979, S. 255 – 279; L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2014; P. Stekeler-Weithofer, Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Band 2: Geist und Religion, Hamburg: F. Meiner 2014, S. 962 – 1037. 4 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 370. 5 Ebd. 6 Hegel, Enzyklopädie, § 85, Gesammelte Werke 20, S. 121. 7 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 20 / Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 33: „Das absolute Wissen ist die Wahrheit aller Weisen des

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und eine dritte in der Einleitung zum Abschnitt „Die Idee“.9 Ansonsten ist das absolute Wissen nur in Niederschriften (Zusätze der Enzyklopädie, Nürnberger und Berliner Vorlesungen), also in Texten, die nicht aus der Hand Hegels direkt stammen, erwähnt. Eine weitere Bemerkung ist lehrreich: als Hegel am Anfang der Wissenschaft der Logik die Frage des Verhältnisses von Logik und Phänomenologie behandelt, wird die Wendung „das absolute Wissen“ durch „das reine Wissen“ systematisch ersetzt, und zwar schon im ersten Satz der betroffenen Stelle, „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“: Aus der Phänomenologie des Geistes oder der Wissenschaft des Bewusstseins als des erscheinenden Geistes wird vorausgesetzt, dass sich als dessen letzte, absolute Wahrheit das reine Wissen ergibt. Die Logik ist die reine Wissenschaft, das reine Wissen in seinem Umfang und seiner Ausbreitung.10

Meines Erachtens zeigen diese Ausführungen eindeutig, dass für den Verfasser der Wissenschaft der Logik der in dieser Stelle etwa zwanzigmal vorkommende Ausdruck „reines Wissen“ ein Synonym des „absoluten Wissens“ im Sinne der Phänomenologie des Geistes ist. Übrigens liefert der Text eine wichtige Angabe über den Inhalt des absoluten Wissens: „in seinem Umfang“ genommen ist der Inhalt des reinen – also des absoluten – Wissens die „reine Wissenschaft“, also die Logik selbst. Diese Angabe bestätigt und präzisiert das Ergebnis der Phänomenologie des Geistes, und zwar dass das absolute Wissen als das „begreifende Wissen“ den Boden – nur den Boden, würde ich sagen – der (philosophischen) „Wissenschaft“ ausmacht (427/8). Hegel liefert keinen expliziten Grund für diese Umbenennung desjenigen an, das auf einmal den Endpunkt der Phänomenologie und den Boden der „reinen Wesenheiten“ der Logik ausmacht, worauf selbst die „Fortbewegung“ des Geistes sowie „die Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens“, also: die Phänomenologie nach hinten, und die ,Realphilosophie‘ nach vorne, beruhen.11 Man darf dennoch verBewusstseins, weil, wie jener Gang desselben es hervorbrachte, nur in dem absoluten Wissen die Trennung des Gegenstandes von der Gewissheit seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat und die Wahrheit dieser Gewissheit sowie diese Gewissheit der Wahrheit gleich geworden ist.“ 8 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 31 / Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 57: „So wird das Bewusstsein auf seinem Wege von der Unmittelbarkeit aus, mit der es anfängt, zum absoluten Wissen als seiner innersten Wahrheit zurückgeführt.“ 9 Hegel, Wissenschaft der Logik 3, Gesammelte Werke 12, S. 178: „Drittens erkennt der Geist die Idee als seine absolute Wahrheit, als die Wahrheit, die an und für sich ist; die unendliche Idee, in welcher Erkennen und Tun sich ausgeglichen hat und die das absolute Wissen ihrer selbst ist.“ 10 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 33. Auch in der zweiten, posthumen Auflage der Lehre vom Sein ist der Ausdruck „absolutes Wissen“ durch „reines Wissen“ ersetzt. 11 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 8.

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muten, das Unverständnis oder sogar die Neckerei, welche die vermutliche Anmaßung des selbsternannten Wortführers des absoluten Wissens in der philosophischen Öffentlichkeit erweckt hat, habe darin eine gewisse Rolle gespielt; übrigens hat Hegels persönliche Abneigung gegen das Pathos des Absoluten sicherlich auch dazu beigetragen. Hegel-Forscher haben also mit Recht behauptet, „das absolute Wissen sei [für Hegel] nicht das Absolute des Wissens“.12 Die Parole des absoluten Wissens bezeichnet kein vermutlich komplettes, fertig gemachtes, endgültiges Wissen, sondern vielmehr den Boden, worauf sich die philosophische Spekulation bis zum „System der Wissenschaft“ frei entwickeln kann. Mit anderen Worten darf man mit Terry Pinkard sagen, dass das absolute Wissen den „sozialen Raum“ bildet, worin die Selbstreflexion des Wissens möglich wird.13 III. Wenn es uns nun mehr oder weniger klar geworden ist, was das absolute Wissen nicht ist, und zwar eine totale, oder sogar totalitäre ,Wissenschaft‘, was ist es eigentlich? Woraus besteht es? Welcher ist sein Gehalt? Darüber liefert das Kapitel VIII der Phänomenologie des Geistes sehr sparsame Hinweise. Wenn man dort erfahren will, aus welchen bestimmten Inhalten das absolute Wissen besteht, wird man sicherlich enttäuschst werden. Die darin angegebenen Hinweise betreffen vielmehr den Status des reinen Wissens und seine Position in doppeltem Bezug einerseits auf die Reihe von Gestalten, die den Inhalt der Phänomenologie des Geistes (oder nach ihrer ursprünglichen Benennung der „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“) ausmachen, andererseits auf das „System der Wissenschaft“, besser gesagt auf das gesamte System der philosophischen Disziplinen (Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes), dessen erster Teil die Phänomenologie des Geistes damals sein sollte.14 Als „letzte Gestalt des Geistes“ (427) soll das absolute Wissen als der bloße Raum des „begreifende[n] Wissen[s]“ verstanden werden (427). Nach dem Beschluss der „Bewegung seines Gestaltens“ (431) hat nämlich der Geist „das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewonnen“ (432). Durch die Selbsttätigkeit des begreifenden Denkens, welches kein von außen her Gegebenes voraussetzt, sondern „als unendliche, schöpferische Form, welche die Fülle alles Inhalts in sich beschließt und zugleich aus sich entlässt“,15 verstanden werden muss, werden also die vom phä12

Gw. Jarczyk u. P.-J. Labarrière, De Kojève à Hegel. Paris: Albin Michel 1996, S. 217. Siehe T. Pinkard, Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 261 – 268. 14 Eine im Text der Vorrede zur ersten Auflage hinzugesetzte Fußnote der 1832 erschienenen zweiten Auflage der Lehre vom Sein weist darauf hin, dass der Haupttitel „System der Wissenschaft, erster Teil“ in der damals in Vorbereitung neuen Auflage der Phänomenologie des Geistes verschwinden soll (Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 9), und dass die damals konzipierte Gesamtstruktur des Systems, wonach die Phänomenologie als erster Teil galt, nach dem Erscheinen der Enzyklopädie obsolet geworden ist. 15 Hegel, Enzyklopädie, § 160 Zusatz, Gesammelte Werke 23 – 3, S. 928. 13

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nomenologischen Prozess charakteristischen Formen von „Gestalten“ des Geistes aufgehoben, wonach derselbe „mit dem Fremdartigen, das nur für es und als ein anderes ist, behaftet zu sein“, scheint (62). 1. Sei vorübergehend vermerkt, dass solche Aussagen eine komplette Umkehrung des klassischen Begriffs des Geistes als einer res cogitans (Descartes), oder als einer gewissen Funktionsweise menschlicher „endlicher“ Subjektivität voraussetzen. Der Geist ist für Hegel keine Substanz, kein Standort gewisser psychischer Funktionen, sondern, wie die logische Idee selbst, ein Prozess, und zwar ein Prozess der Realisierung seiner zuerst abstrakten Bestimmung, der Freiheit. Ein solcher Begriff des Geistes erfordert aber eine Objektivierung seiner primär subjektiven Bestimmtheit. Der Geist stimmt erst mit seinem eigenen Begriff überein, wenn er sich als eine „von ihm hervorzubringende und hervorgebrachte Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“, entwickelt.16 Diese Objektivitätsdimension dessen, das in der Enzyklopädie als ,objektiver Geist‘ ausgeschrieben wird, hat Hegel erst während der Redaktion der Phänomenologie des Geistes klar konzipiert, als er sich von der Notwendigkeit überzeugte, den ursprünglichen Entwurf einer ,Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‘ beiseite zu lassen, der von einer Auffassung des Geistes als einer ,subjektiven‘ Entität abhängig war, und sie durch eine ,Phänomenologie des Geistes‘ zu ersetzen, die die objektive sowie subjektive Dimension desselben berücksichtigt, um zum ,absoluten‘, subjektiv-objektiven Begriff des Geistes zu gelangen. 2. Nach dieser Parenthese kehren wir zum Gedankengang der Phänomenologie des Geistes zurück, um die phänomenologische Bedeutung des absoluten Wissens zu untersuchen. Welches ist eigentlich, vom Standpunkt des philosophischen Phänomenologen („Uns“), der die Erfahrungen des Bewusstseins begrifflich, d. h. immanent-genetisch beschreibt, die allgemeine Charakteristik der jenen „Erfahrungen“ innewohnenden Gestaltung des Geistes? Anlässlich solcher Erfahrungen öffnete sich eine Lücke zwischen dem „Bewusstsein des Gegenstandes“ und dem „Bewusstsein seiner selbst“ (59), zwischen den beiden Polen der Wahrheit und der Gewissheit (427), oder mit anderen Worten zwischen den beiden, in jedem Akt des Geistes aktiv wirkenden Dimensionen der Gegenständlichkeit und der Reflexivität; jede geistige (nicht nur intellektuelle) Operation zielt nämlich auf etwas als ihren Gegenstand ab, und ist in diesem Akt reflexiv präsent zu sich selbst, beides auf ein Mal. Es soll in diesem Zusammenhang die von Hegel strikt gemachte Unterscheidung von Objekt und Gegenstand hervorgehoben werden: der Etymologie zum Trotz ist das Objekt ,an sich selbst‘ etwas ganz Anderes als der Gegenstand, der vor und für ein Bewusstsein steht und die Entgegensetzung von ,ich‘ und ,es‘ voraussetzt. Das Wort ,Gegenstand‘ hebt die für das endliche Bewusstsein immer bestehen bleibende Distanz zwischen dem Ich und seinem Ziel hervor, selbst wenn dieses Ziel das Bewusstsein selbst ist: dem subjektiven Idealismus zum Trotz hebt die Selbstreflexion des (endlichen) Geistes die Grundstruktur der Gegenständlichkeit nicht auf. 16

Hegel, Enzyklopädie, § 385, Gesammelte Werke 20, S. 383.

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Nach seiner vorläufigen Definition ist also das absolute oder reine Wissen diejenige Form der geistigen Tätigkeit, die sich jenseits der gegenständlichen Struktur des Bewusstseins als Bewusstseins von Etwas befindet, welches sich von ihm ontologisch und epistemologisch unterscheidet. Dies wird in der Wissenschaft der Logik festgestellt, als der Vorsatz der Phänomenologie dort wiederum dargestellt wird: Der Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduktion wird in gegenwärtiger Abhandlung […] insofern vorausgesetzt, als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die Deduktion desselben ist. Das absolute Wissen ist die Wahrheit aller Weisen des Bewusstseins, weil, wie jener Gang desselben es hervorbrachte, nur in dem absoluten Wissen die Trennung des Gegenstandes von der Gewissheit seiner selbst vollkommen sich aufgelöst hat und die Wahrheit dieser Gewissheit sowie diese Gewissheit der Wahrheit gleich geworden ist. Die reine Wissenschaft setzt somit die Befreiung von dem Gegensatze des Bewusstseins voraus.17

3. Man kann diese Ausführungen durch einen Hinweis auf Fichtes Wissenschaftslehre umschreiben. In der Tat hatte Hegel dieses Werke, sowie Schellings System des transzendentalen Idealismus und Darstellung meines Systems der Philosophie, ständig im Blick, als er die Phänomenologie des Geistes verfasste;18 es ist übrigens festgestellt worden, dass die Wendung „absolutes Wissen“ aus der Wissenschaftslehre 1802/3 entliehen worden ist.19 In der Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1797 werden „zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns“ strikt unterschieden: „die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen“.20 Die beiden, vom idealistischen Philosoph als ein „Experiment“ angestellten Reihen laufen parallel, und es ist hochwichtig, sie nicht zu verwechseln, wie der ordinäre Philosoph es tut, damit die eigene Lebendigkeit des Beobachteten und das reine begriffsmäßige Zusehen des Philosophen nicht verwechselt werden.21 Man darf vielleicht die Hypothese formulieren, dass das absolute Wissen im Sinne Hegels den (selbstverständlich imaginären) Treffpunkt beider parallelen Reihen des ,Experiments‘ Fichtes ist; solch ein Bild hat übrigens den Vorteil, den notwendig unvollendeten und unvollständigen Charakter solchen Wissens zu veranschaulichen. An diesem imaginären Punkt schließen sich die Reihe der Akte des von ihrer Richtigkeit ,gewissen‘ Bewusstseins und die Reihe der kriti17

Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 33. Siehe Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 20 – 21. 18 Es darf daran erinnert werden, dass die erste Jenaer Veröffentlichung Hegels die Differenz der Fichtesten und Schellingschen Systems der Philosophie heißt. 19 Siehe J. G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), insbesondere § 6 – 8, in: Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Band II, S. 13 – 18. – Siehe darüber Hans Friedrich Fulda, „Das absolute Wissen: sein Begriff, sein Werden und Wirklich-werden“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 2007/3, Fn. 16, S. 396. 20 Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, in: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Hamburg: Meiner 1975, S. 34 [oder Fichtes Werke, hrsg. von I. H. Fichte, Band I, S. 454]. 21 Ebd.

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schen Prüfung ihrer ,Wahrheit‘ durch den Philosophen zusammen. Dies bedeutet, dass die Wissensleistung eines endlichen Subjekts und ihr Gegenstand (allgemein gesagt: die „Sache selbst“) nicht mehr getrennt sind. Indem es die „Gestalt“ des „reinen Begriffs“ erhält (eine Gestalt, die eigentlich keine Gestalt mehr ist, weil jede Gestalt des Geistes „mit dem unüberwundnen Unterschiede des Bewusstseins behaftet ist“ (431/2), distanziert sich ein solches Wissen „von seiner Erscheinung im Bewusstsein“, daher von der „gegenständliche[n] Form der Wahrheit“, indem sie von dem „wissenden Selbst“ getrennt bleibt (432). Kurz gesagt, das absolute oder reine Wissen ist ein solches, das sein eigenes Subjekt ausgeklammert hat, indem damit der empirische Wortführer jenes Wissens verstanden ist; wie es in der Wissenschaft der Logik steht, das wirkliche Subjekt des reinen Wissens ist nicht das trübe und wirre Bewusstsein einer endlichen Subjektivität, eines ,Ich‘ mehr, sondern der Begriff selbst, insofern er der Akt ist, wodurch das Denken sich selbst und seinen Gegenstand auf einmal erzeugt: „der Begriff, das Subjekt“.22 Das „absolute“ Wissen ist nichts anderes als das Ziel eines Entsubjektivierungsprozesses des Denkens, wovon der in der Enzyklopädie benutzte Ausdruck „objektiver Gedanke“ (als globale Benennung der „logischen Wesenheiten“) ein Zeugnis ausmacht. Obwohl dieser Ausdruck „darum unbequem [ist], weil Gedanke zu gewöhnlich nur als dem Geiste, dem Bewusstsein angehörig“ verstanden wird, bedeutet er, es sei „Vernunft, Verstand in der Welt“.23 Deshalb ist dieses objektive Denken der Boden, auf dem, ohne Einmischung der nunmehr ausgeklammerten „schlechte[n] und endliche[n] Subjektivität“,24 die voraussetzungslose Arbeit des Begriffs sich entwickeln kann. IV. Das Ergebnis dieser Untersuchung kann auf folgende Weise zusammengefasst werden. Das absolute, besser gesagt das reine Wissen ist keine Fülle endgültiger Wahrheiten, sondern ein „Standpunkt“, wie es in der Wissenschaft der Logik steht,25 oder, wie ich es gerne nennen würde, eine Wissensposition, nach welcher das Wissen „nicht mehr über sich selbst hinaus zu gehen nötig hat“ (57). Auf dieser Ebene wird die Entgegensetzung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Gewissheit und Wahrheit, von Gegenständlichkeit und Reflexivität, dank des phänomenologischen Prozesses der Beschreibung, Widerlegung und Aufhebung der subjektiven Wissenserfahrungen endlich überwunden, so dass das philosophierende Subjekt („Wir“) das empirische Subjekt („es“) bis auf sein eigenes Niveau hinaufge22

Hegel, Wissenschaft der Logik 3, Gesammelte Werke 12, S. 14. Hegel, Enzyklopädie, § 24, Gesammelte Werke 20, S. 67 – 8. – Siehe auch Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 11, S. 21: „Dieses objektive Denken ist denn der Inhalt der reinen Wissenschaft“. 24 Hegel, Enzyklopädie, § 147 Zusatz, Gesammelte Werke 23 – 3, S. 921. 25 Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 55. 23

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zogen hat, und selbst zugunsten vom logisch-spekulativen Wissen in den Hintergrund tritt. Nunmehr sind „Wir“ bloße Lautsprecher oder, wie Hegel anderswo sagt, Sekretäre des begreifenden Wissens. Die Wendung „absolutes Wissen“ ist also eine sparsame Umschreibung jener Rückzugsbewegung der ,endlichen‘ Subjektivität, wodurch die Selbstbewegung des Denkens als eines ,subjektlosen Prozesses‘ in den Vordergrund tritt. Kurz gesagt: die Phänomenologie des Geistes, die Wissenschaft des Bewusstseins, [ist] die Darstellung davon, dass das Bewusstsein den Begriff der Wissenschaft, d. i. das reine Wissen, zum Resultat hat.26

Fazit: das absolute Wissen, wie es am Ende des phänomenologischen Prozesses auftaucht, ist kein Korpus endgültiger Wahrheiten, die in vernünftiger Reihenfolge dargestellt werden könnten, sondern eine bloße Wissensposition. Insofern ist es diejenige ,Gestalt‘ des Geistes, die jenseits von irgendwelchem ,Gestalten‘ liegt, eben weil sie dank der Sequenz der ,Erfahrungen‘ des Bewusstseins den charakteristischen Gegensatz von Subjekt und Objekt, von ,Ich‘ und ,dies‘, d. h. die Grundstruktur der Vor-stellung überwunden hat. Der Inhalt jenes Wissens ist daher noch im Werdegang, weil er – und folglich die „Wissenschaft“ (die spekulative Philosophie) selbst – ein bloßer Prozess ist.

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Hegel, Wissenschaft der Logik 1, Gesammelte Werke 21, S. 54.

Hegel im Wunderland – Die moderne Verlegenheit um den Anfang der Philosophie* Klaus Vieweg I. Das weiße Kaninchen fragte: „Wo soll ich anfangen?“ „Fang am Anfang an, befahl der König würdevoll.“ Diese Antwort des Königs in Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland hat Ähnlichkeit mit der klassischen Formulierung des Königs der modernen Philosophie zum Problem des Startpunktes eines philosophischen Entwurfs: „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Für Heidegger gab dieser Titel „in jedem Wort genug zu denken.“1 Er verdient es ausbuchstabiert, genau interpretiert zu werden. Der Dichter und Kant-Freund Theodor Gottlieb von Hippel hatte die außerordentliche Relevanz des Beginns eines Werkes betont: ,Wozu dieser Anfang? […] in diesem Anfange liegt alles: Ist der gut, so ist mehr gut; ist er schlecht, so geb’ ich für die ganze Schrift keinen Dreier‘.2 Hippels Hauptwerk Lebensläufe nach aufsteigender Linie beginnt mit dem Wort ICH, der wohl treffendste Anfang für einen modernen Roman. Wie sieht es mit Hegels philosophischem Zauberkunststück aus – ähnlich wie bei Lewis Carroll das weiße Kaninchen des Anfangs aus dem Hute der Weisheit zu ziehen? Die Beantwortung der Frage nach dem Beginnen in Hegels Philosophie gilt als einer der umstrittensten Punkte der Hegel-Forschung. Mit den entsprechenden Passagen in der Wissenschaft der Logik, deren Einleitung, sowie den eröffnenden Paragraphen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften schließt Hegel an seine Jenaer Überlegungen an und bringt diese jetzt in eine argumentativ-abgerundete Form. Jetzt erst erschließt sich zureichend, was Hegel mit dem paradoxen Diktum einer dritten Philosophie, die weder Dogmatismus noch Skeptizismus, weder Realismus noch Konstruktionismus, sondern beides ist, intendiert. Er offeriert einen Ausweg aus der Verlegenheit um den Anfang – dem ,ersten Anfang‘. Diese Grundsteinlegung zählt zum Besten der Hegelschen Philosophie. Es geht bei diesem Beginnen um nichts weniger als um ein Kernherausforderung für die Philosophie. Aristoteles brachte dies auf den Punkt: „Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen, so dass auch ein kleiner Fehler im Beginn entsprechend große Fehler im weiteren Ver* Eine englische Version erschien in: Vieweg, Klaus: The Idealism of Freedom. For a Hegelian Turn in Philosophy. Boston/Leiden 2020. 1 Heidegger, Martin: Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, GA 11, S. 43. 2 Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die Ehe, Berlin 1793, S. V.

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lauf zur Folge hat.“3 Hegel sprach treffend von der modernen ,Verlegenheit um den Anfang‘ und erkannte darin eine Herkulesaufgabe für die Philosophie. Dem Anfang der Wissenschaft wird hoher Wert für sich zugemessen als Bedingung für wahrhaftes philosophisches Erkennen, dazu hier einige knappe Überlegungen.4 II. Der logische Anfang Insofern dieser Anfang ein bestimmter, vermittelter wäre, schließt er sich als Anfang aus, denn er müsste etwas ihn Begründendes annehmen und gerät in den unabschließbaren Regress der Relativität. Insofern der Anfang Unbestimmtes, Unbegründetes, Unmittelbares sein soll, wäre es ein Dogmatismus des puren Behauptens. Zu Beginn wendet sich der Autor unter Rückgriff auf die Jenaer Argumente dezidiert gegen solches willkürliche Postulieren des Anfangs ,geschossen aus der Pistole innerer Offenbarung, des Glaubens, der intellektuellen Anschauung‘ (GW 21, 53), gegen Jacobi und Schelling, welche die Methode der Logik von vornherein ignorieren und damit den Anspruch auf Wissen preisgeben. Demgegenüber wird wiederum das Verdienst Fichtes, des ,consequenter durchgeführten transcendentalen Idealismus‘, gepriesen, „die Vernunft aus sich selbst ihre Bestimmungen darstellen zu lassen“ (GW 21, 31). In der Einleitung wird dreimal der Tatbestand des überwundenen Gegensatzes des Bewusstseins herausgestellt, das Starten mit dem reinen Wissen, dem reinen Begriff, ist kein bittweise Angenommenes oder bloß Versichertes, sondern erhielt die Rechtfertigung, den Beweis in Form des notwendigen Hervorgangs in der Phänomenologie des Geistes. Der Begriff der reinen Wissenschaft und seine Deduktion wird in der Logik insofern vorausgesetzt, als die Phänomenologie des Geistes nichts anderes als die Deduktion desselben ist, die Logik setzt somit die Befreiung von dem Gegensatze des Bewußtseins voraus. Auch die 2. Auflage der Logik 1831 bestätigt dies, die Jenaer Phänomenologie des Geistes liefert die Legitimation des Begriffs der reinen Wissenschaft, des Anfangs der Philosophie überhaupt und darin auch des Anfangs der Logik. Der Begriff der Logik kann als Resultat einer anderen Wissenschaft gelten, als eine Voraussetzung, deren Inhalt in der Überwindung des Paradigmas des Bewusstseins, die Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins, des Gegensatzes von Gedanken und Gegenstand liegt. Dieser ,vorige Standpunkt‘ muss verlassen werden, die logische Wissenschaft muss die Einheit von Sein und Begriff ,voraussetzen können‘ (TWA 5, 56 – 58. 43 – 45). Der Begriff der Wissenschaft als dieser Erste muss von der philosophischen Wissenschaft selbst erfasst und bewiesen werden, ihr einziger Zweck besteht darin, zum Begriff ihres Begriffes zu kommen, die Selbstreferenz, das Selbstverhältnis als Bei-sich-selbst-Sein im Anderen

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Aristoteles: Politik 1303b V.4. Hegel: Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832), Hamburg 1990, S. 18. Eine ausführliche Darstellung erfolgt in der Monographie: Vieweg, Klaus: Eine andere Geschichte der Philosophie – Womit muß der Anfang gemacht werden? München 2023. 4

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seiner selbst zu erfüllen.5 Auf die für die Phänomenologie charakteristische ,Leiter‘ des vollbrachten Skeptizismus kann allerdings insofern verzichtet werden, als man sich unmittelbar zum reinen Denken entschließt. Nur bietet die Phänomenologie den Beweis, dass ich nicht mit Ahnen, Meinen, Glauben, Postulieren, intellektuellem Anschauen etc. etc. starten darf, sondern mit dem reinen, begreifenden Denken. Insofern verfahren wir voraussetzungslos und mit Voraussetzung, der Dualismus beider soll aufgehoben werden. Der Anfang kann nicht vor den Toren, nicht jenseits des Wissens liegen, er kann kein dogmatischer Grundsatz, kein Axiom, keine Hypothese, kein unbegreiflicher Anfangspunkt, keine Offenbarung, keine bittweise Annahme, keine trockene Versicherung sein, auch hier gilt der Anspruch auf Wissen und die unerbittliche Forderung des Beweisens. Der logische Anfang scheint zunächst nach zwei Seiten genommen werden zu können, auf vermittelte und auf unmittelbare Weise. Fast am Beginn des Abschnitts Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden? betont Hegel die ,beiden Seiten‘ des logischen Anfangs. Mit Rekurs auf seine Enzyklopädie hebt Hegel hervor, „daß es Nichts gibt, nichts im Himmel oder in der Natur oder im Geiste oder wo es sei, was nicht ebenso die Unmittelbarkeit enthält als die Vermittlung, so dass diese beiden Bestimmungen als ungetrennt und untrennbar und jener Gegensatz sich als ein Nichtiges zeigt.“ (TWA 5, 66) Ähnlich Odysseus versuchte Hegel in seiner Wissenschaft der Logik aus einer Zwickmühle zu entfliehen, bekanntlich bleibt dies beim Schachspiel ein aussichtsloses Unterfangen, denn gleich welchen Zug, welche Alternative man wählt, es folgt der Untergang auf dem Fuße. Obschon eine klassische Eröffnung im königlichen Spiel auf 64 Feldern ausgerechnet den Namen Sizilianische Verteidigung trägt, war die sizilianische Odyssee bekanntlich kein Schachspiel. Dem antiken Helden gelang es nämlich der monströsen Zwickmühle zu entwischen, den an beiden Seiten der zu durchfahrenden Meerenge lauernden Ungeheuern Skylla und Charybdis zu entkommen. Hegels Logik gleicht in manchem dem tollkühnen Unternehmen des Odysseus, das Erkennen in der Logik soll laut eigener Auskunft weder dem allverschlingenden Sog der Skylla namens Unmittelbarkeit noch den Charybdis-Fangarmen der gefräßigen Vermittlung anheimfallen.6 Zwei gleich große Übel sind zu vermeiden, weder einseitige bloße Unmittelbarkeit noch einseitige Mittelbarkeit. Ähnlich wie damals in der Odyssee wird es auch bei dieser Konzeption sehr eng und diffizil. In § 12 Enzyklopädie lesen wir: Wenn beide Momente, Unmittelbarkeit und Vermittlung „auch als unterschieden erscheinen, keines von beiden fehlen kann und daß sie in unzertrennlicher Verbindung sind.“ (TWA 8, 56) § 65 Enzyklopädie argumentiert gegen ein Entweder-Oder von unmittelbarem und mittelbarem Wissen, es komme Hegel zufolge auf das Logische des Gegensatzes von Unmittelbarkeit und Vermittlung an. „Der ganz zweite Teil der

5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 17. 78. 6 TWA 8, § 75.

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Logik, die Lehre von dem Wesen, ist Abhandlung der wesentlichen sich setzenden Einheit der Unmittelbarkeit und der Vermittlung.“ (TWA 8, 156) Auch hier in der Frage des Anfangs kann nicht gegen die skizzierten Grundprinzipien der Methode, nicht gegen die interne Struktur des Begriffs – die selbstbezügliche Negativität – verstoßen werden. Demzufolge entfällt die Möglichkeit eines Entweder-Oder, es kann weder mit bloßer Unmittelbarkeit noch mit bloßer Vermittlung eröffnet werden. Auch wenn beide Momente als unterschieden erscheinen, müssen sie in unzertrennlicher Verbindung verstanden werden. So liefert der Autor zwei ,Variationen‘, zwei ,Perspektiven‘ des einen Anfangs, zwei logische Wege als zwei Momente in ihrer jeweiligen Einseitigkeit, die eben zugleich die Aufhebung ihrer selbst enthalten, die Negativität in sich haben und darin die Identität, die Ein-heit von Unmittelbarkeit und Vermittlung belegen: In der Variation A – Version der Vermittlung – figuriert das Resultat der Phänomenologie als der logische Anfang, somit vermittelt durch den dort erfolgten Beweis des Standpunktes des reinen Wissens, des begreifenden Denkens.7 Alle anderen möglichen Startpunkte sind ausgeschlossen – Meinen, Empfinden, Glauben, Vorstellen etc. Insofern ist es eine Voraussetzung der Logik in Form der Legitimation des Anfangs mittels der Negation des Bewusstseinsparadigmas – durch den sich vollbringenden Skeptizismus – als Aufhebung der Relativität, der Vermittlung im reinen, begreifenden Denken: Damit kehrt sich das ,Resultat‘ direkt, unmittelbar in den ,Anfang‘, das Beenden in das Beginnen um. Die Konsequenz des Weges der Vermittlung war die Aufhebung der Vermittlung, das reine begreifende Wissen als einfache Unmittelbarkeit, ohne alle weitere Bestimmung. Die Vermittlung beinhaltet die Aufhebung ihrer selbst im rein Unmittelbaren – der reine Gedanke. In der Variation B – der Version der Unmittelbarkeit als Alternative – soll der Anfang unmittelbar genommen werden, mittels des Entschlusses, rein denken zu wollen, das Denken als solches zu denken. Dieses Ent-Schließen bedeutet ,Er-Öffnen‘, impliziert unmittelbares Setzen, das IST des beginnenden Denkens, keinesfalls etwas Anderes. Hier könnte Hegel an einen Gedanken von Parmenides anschließen: Dasselbe ist Denken und der Gedanke, dass IST ist – dasselbe ist Denken und Sein.8 Vor dem Entschluss kann von einem solchen ,Bestehen‘ nicht die Rede sein – Hegel verwendet die kryptische Formel ,der Anfang ist der Anfang‘ (GW 21, 62). Damit ist das reine Sein als das erste Unmittelbare gesetzt, ausgesprochen. Solches Sein als reiner Gedanke, als nichts weiter Bestimmtes, ist nicht zu empfinden, nicht anzuschauen, nicht vorzustellen. Hierbei wird nichts vorausgesetzt, keine Vermittlung in Anspruch genommen. Jedoch erweist sich das reine Ist, das reine Sein, das Absolut-Unmittelbare als ebenso Absolut-Vermitteltes. Durch den notwendigen Fortgang der Deduktion verliert der Anfang, was er in dieser ersten Bestimmtheit darstellt, nämlich ein Unbestimmtes und Abstraktes überhaupt zu sein. Auch das reine Wissen ist negative 7 8

Vgl. den in diesem Band gedruckten Beitrag von Ermylos Plevrakis. Parmenides: Diels Kranz, B 8, S. 34 – 35.

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Bestimmung, hat die Negativität an ihm selbst, hat so die Minimalbestimmung des Unbestimmten. Beide Wege führen nach Rom, zum reinen Sein als einer Bestimmung, die im Wissen zuerst hervortreten muss, dem Unmittelbaren, Einfachen, das noch nicht fortbestimmt, nur Anfangen ist. Mit diesem Punkt erklärt Hegel die Darlegung für argumentativ abgeschlossen, das Weitere dient nur der Erläuterung und Illustration. Die Legitimation des Anfangs verbindet die einseitige Mittelbarkeit mit der ebenso einseitigen Unmittelbarkeit, die ,Voraussetzung‘ mit der ,Voraussetzungslosigkeit‘ – beide Varianten als Alternativen führen zum reinen Ist, zum reinen Sein. Streng genommen beginnt die Logik mit dem reinen begreifenden Denken und dem damit gesetzten reinen Ist dieses Denkens, dem Begriff in der Formierung des Seins. Die Logik beinhaltet durchgängig das rein sich selbst begreifende Denken, nichts anderes; sie startet mit diesem Denken, mit dem Begriff als Sein. In metaphorischer Näherung: Der zum Schachspielen sich Ent-schließende, die Ver-schlossenheit Öffnende manifestiert diesen Entschluss zur Teilnahme am Spiel erst durch den eröffnenden Zug, dem jedoch das (Schach)Denken als Vorausgesetztes inhäriert, der dem Prinzip des Spiels, dessen Regeln, gemäß sein muss. Mit dem Sein, dem reinen Sein artikuliert sich das Minimum der Bestimmung des Begriffs, das ,erste‘ Sein, die Unmittelbarkeit, das An-sich bestimmt als Unbestimmtheit, ohne alle weitere Bestimmung, nur als Gleichheit mit sich. Hegel verwendet zur Beschreibung verschiedene Negationsausdrücke: Unmittelbar, unbestimmt, ,nicht ungleich gegen anderes‘, ,keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen‘, im „Un“ des Unmittelbaren zeigt sich die Negativität: der affirmative Anfang hat grundsätzlich negative Struktur.9 Wichtiger Zusatz: Wenn in der deutschen Sprache „ohne alle weitere Bestimmung“ gesagt wird, so impliziert dies, dass es nicht ohne alle Bestimmung bleibt, mindestens eine Bestimmung gegeben sein muss, nur weitere bzw. andere ausgeschlossen sind – ohne Beziehung auf Anderes, nur als Gleichheit mit sich. „Sein ist die Allgemeinheit in ihrem leeren abstraktesten Sinn genommen, die reine Beziehung auf sich, ohne weitere Relation […] Sein ist die Allgemeinheit als abstrakte Allgemeinheit. […] Das Sein ist so in dem Allgemeinen enthalten, und wenn ich sage: das Allgemeine ist, so spreche ich auch nur seine trockene, reine, abstrakte Beziehung auf sich aus, diese dürre Unmittelbarkeit, die das Sein ist, […] die leerste, dürftigste Bestimmung.“ (TWA 16, 120 f.) Auf dieses Minimale insistiert der Verfasser mit dem Gebrauch des Superlativs: Sein ist ,die allerärmste, die abstrakteste Bestimmung‘, für den Gedanken kann es dem Gehalte nach ,nichts Geringeres‘ geben als reines Sein. Diese abstrakteste Allgemeinheit als vollständige Unterschiedslosigkeit verwirft jede Relation auf Anderes. Es ist das Wenigste, was im Begriff aufgezeigt werden kann, die allerdürftigste, abstrakteste, schlechthin anfängliche ,Definition‘ (GW 20, 92. 175. 122 f.), das einzige, alleinige Unmittelbare – eben das scheinbare Paradoxon der Unbestimmtheit als Bestimmtheit oder der Bestimmtheit der Unbestimmtheit. Dieser Anfang als Anfang 9

Vgl. hierzu den in diesem Band zu findenden Aufsatz von Folko Zander.

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muss in dieser radikalen Einfachheit, der einfachen Bestimmung mit Sein bezeichnet werden – „arm an sich[…] das Allgemeine ist unmittelbar selbst diß Unmittelbare“ (GW 12, 240), die dürre, kahle Unmittelbarkeit, die hohle, leere Identität, der Gipfelpunkt der trockenen Abstraktion. (GW 29.1, 143) Die Unbestimmtheit des Seins macht selbst die Bestimmtheit des Seins aus (GW 21, 68). Auch das Bewusstsein in der Phänomenologie begann mit der unmittelbarsten, ärmsten, abstraktesten Gestalt, deren Armut ihr einziger Reichtum und selbst ein Verschwinden war – nur mit dem Bewusstsein des Ist und des Meinens. Der logische Anfang kann als erste Einheit des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen beschrieben werden, worin diese Momente noch nicht als Entfaltete unterschieden, noch unterbestimmt, aber doch schon im Spiele sind – Gleichheit mit sich als abstrakteste Allgemeinheit, der ganz abstrakte Unterschied als das unbestimmt Besondere, Singularität als unterbestimmte Einzelheit.10 Dieses Extrem des Defizitären verlangt den ihm entsprechenden sprachlichen Ausdruck, hier kann kein Satz, keine Proposition und auch kein Urteil stehen,11 sondern eben nur das pure Wort Sein, eine Exklamatio, die Verwandlung eines Satzes in einen Ausruf, hier also ein isoliertes Wort, die minimalistische sprachliche Vor-Form für den Begriff – der Anfangs des Begriff als ,seiender Begriff‘, als Begriff an sich – aber ungeachtet dessen mit der Keimstruktur des Begriffs. Der Anfang kommt als das an ihm selbst Mangelhafte, das schlechthin Defizitäre zur Sprache, das einfache Anfangen „gesetzt als mit einer Negation behaftet“ (GW 12, 240) – die allerdürftigste, geringste Bestimmung von Negativität – reine Negativität – das Nichts (Nichtsein). Solch erstes Weitergehen als zweiter Schritt, solch Fortgehen bleibt noch unmittelbar, insofern das Sein unmittelbar gesetzt ist, „bricht das Nichts an ihm nur unmittelbar hervor“ (GW 21, 86). Der Superlativ vermag der Bestimmtheit, der Vermittlung nicht zu entkommen, die Relation ist ihm immanent. Das logisch Zweite, der ,zweite Fall‘ (Zwei-fel, das Negative), erweist sich als ein ursprünglich ,am‘ Ersten ,haftendes‘, das reine Sein ist gesetzt als ,mit der Negation behaftet‘, das Nichts bleibt ebenfalls die pure Gleichheit mit sich selbst. Die exklamatorische sprachliche Fassung könnte lauten: Sein-Nichts, zwei gegensätzliche, sich ausschließende Worte in einem – eine Art Oxymoron, das selbst ein solches ist (scharfinnig-dumm), sprachlich etwas ,unsagbar Sagbares‘ (Goethe).12 In Hegels Version: Sein und Nichts sind dasselbe, absolut identisch, das Minimale der Einheit (Identität), jedoch besteht der ,ganz abstrakte Unterschied‘ zwischen dem ersten Wort oder ersten Fall ,Sein‘ und dem zweiten Wort oder zweiten Fall ,Nichts‘. Damit findet sich die Minimalform von Unterscheidung (Ur-Form der Nicht-Identität, Differenz) und Widerspruch (Kontradiktion) artikuliert – das logisch Erste und das logisch Zweite, mehr nicht. Jedes hat die Negation an ihm selbst und jedes ,verschwindet‘ so unmittelbar in sein Gegenteil. Infolge seiner Exklusion der Differenz muss das Sein sich selbst die Differenz als das Nichts setzen, das Nichts als Rück10

Vgl. Koch, Anton Friedrich: Evolution des logischen Raumes, Tübingen 2014, S. 62 ff. Enz § 31, § 82. 12 TWA 8, S. 188, § 88.

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nahme der Differenz führt zur Gleichheit der beiden Differenten. So wird als Aufhebung logisch stringent eine Einheit als ein Drittes konstituiert – das logische Fundament bildet die gedoppelte bestimmte Negation – das Sein, indem es das Nichts ist und das Nichts, indem es nicht das Sein ist.13 Dies impliziert die erste abstrakt gefasste, minimale Bewegung als anfängliche logische Bewegung – von Hegel das abstrakte Werden genannt. Der Anfang enthält so zwingend die Einheit von Sein und Nichts im Werden und seinem Negativ, dem Dasein, worin Sein und Nichts erst ihr Bestehen als Moment haben. Dies kennzeichnet Hegel als ,erste Wahrheit‘, die jetzt allem Weiteren ein für alle Mal zugrunde liegt,14 qua reflexive Negativität sind Sein und Nichts Vorformen des Anderen seiner selbst, dessen radikal unterbestimmte logische Formation. Die sich auf sich beziehende Negativität, die bestimmte Negation erweist sich als die Grundverfassung, als die Keimzelle des Begriffs, als der ,freie‘ Begriff an sich. Dies findet sich in den Abschnitten mit der eingefügten Überschrift Zusatz im Blick auf Formationen der Philosophie illustriert, mit einem im Folgenden noch ausführlicher zu behandelnden Ansatz für die Knotenpunkte der Philosophiegeschichte, für deren idealtypische Ordnung: Der erste Fall mit Parmenides’ Sein, der zweite Fall mit dem Nichts des Buddhismus und der dritte Fall mit dem tiefsinnigen Heraklit, der die einfachen und einseitigen Abstraktionen von Sein und Nichts in einem Höheren aufgehoben habe – im Werden – in minimaler, abstraktester Form: Alles ist Eins, Alles ist Werden – der erste konkrete Knotenpunkt.15 Es wäre hier mit Gadamer anzumerken, dass Hegel zusammen mit Schleiermacher das Tor zur Erforschung der Vorsokratik geöffnet hat und mit Hegel ein produktiver Dialog der Philosophie mit den Vorsokratikern beginnt.16 Hinzufügen wäre allerdings, dass Hegel darüber hinaus ins ebenso gewichtige Gespräch mit den orientalischen Gedanken des Nichts eintritt. Die ,geheimnisvoll einfachen, aber grundlegenden Begriffe‘ werden eben nicht nur, wie Gadamer suggeriert, ,an den Vorsokratikern‘ vollzogen17, sondern am Gegenstrebigen vom Eleatischen und Indisch-Buddhistischen, an den Extremen Sein und Nichts. Parmenideisches Sein und buddhistisches Nichts repräsentieren die unbestimmte Negation. Dagegen geht um das logisch legitimierte Verwandeln der Wortfigur des Oxymorons in die des Paradoxons, des Paradoxesten, der Satzfigur des allerersten Widerspruchs (TWA 5, 208). Gedacht werden muss die Negation eines besonderen, nicht bestimmungslosen Inhalts – die abstrakte Allgemeinheit, insofern sie Anderes schlechthin exkludiert, ist selbst zwingend Besonderes, Bestimmtes, Einseitiges, weil es die Abstraktion von aller Bestimmtheit ist, bleibt sie eben nicht ohne Be13

Hierzu näher Zanders Beitrag a. a. O. Vgl. GW 21, S. 72. Eine Art ,Umkehrung‘ des Anfangs der Logik oder ein ,zweiter Anfang‘. 15 Diese logische Reihe entspricht nicht der historischen Folge. 16 Gadamer, Hans Georg: Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1996, S. 11. 17 Ebd. S. 12. 14

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stimmtheit. Als Abstraktes, Einseitiges (nur eine Seite) zu sein, diese Mangelhaftigkeit stellt die Bestimmtheit, die Besonderheit dar. Die Unbestimmtheit, die reine ganz abstrakte Negation macht die Bestimmtheit von Sein und Nichts aus. Reines Sein und reines Nichts ,verschwinden‘ unmittelbar in das jeweils Andere, ein ,Übergehen ineinander‘ eine Bewegung, deren Resultat als Werden fixiert wird – im Parmenideischen Sein und im buddhistischen Nichts wird dieser ,Übergang‘ abgewiesen. Beide bestehen jedoch nicht für sich selbst, sind kein Fürsichsein, ihr Unterschied ist leer, ist nicht ,zwischen‘ ihnen selbst. Er kann nur ein Drittes, Anderes als sie sein. Im Werden sind sie als bestehende Unterschiedene festgehalten, in ihrer Einheit als Ungetrenntheit. Dies gilt als Standpunkt des philosophischen Idealismus, die Dinge sind veränderlich, ihnen kommt Sein wie Nicht-Sein zu, es werden einseitige Bestimmungen in einem Ganzen aufgehoben. Das Resultat ist keineswegs das reine Nichts, sondern hier ein Inhalt in der logischen Form des Übergangs ineinander, der Unruhe in Form des Übergehens, die für die Sphäre des Seins charakteristische Weise der Bewegung – die abstrakteste, einfachste, ärmste, dürftigste Fassung von Bewegen (in aufsteigender Bestimmung wird die Dynamik in der Sphäre des Wesens dann als Scheinen in Anderes, Reflexion, Beziehung, und in der Sphäre des Begriffs als Entwicklung genommen). Diese Einheit impliziert die Ungetrenntheit, die Untrennbarkeit von Sein und Nichts als den Momenten des Werdens. Zudem fügt Hegel Beispiele von eklatanten, geistlosen Missdeutungen der Rede von Sein und Nichts als dasselbe an: Sein und Nichts müssen ganz streng in der erwähnten radikalen, extremen Abstraktheit genommen werden, als abstrakte ,Gedankendinge‘, nicht als etwas näher Bestimmtes, abstrakte Gedanken ohne sinnliche oder andere Beimischung. Die Annahme eines weiter bestimmten Seins oder bestimmten Nichts an diesem Punkt des logischen Gedankengangs bleibt abwegig und unsinnig, sie würde dasselbe darin sehen, ob dieses Haus oder die Sonne ist oder nicht ist, ob 100 Taler mein Vermögen sind oder nicht. Mit dieser ,ersten‘, minimalistischen Einheit der Entgegengesetzten wird der erste Markstein für den Begriff gesetzt, das Fundament für die immanente Bewegung der weiteren Denkbestimmungen gelegt, für die folgenden Formationen dieser Einheit als einen ,sich selbst konstruierenden Weg‘. Wir haben die Keimform, die Minimalstruktur des einen Begriffs, seine allererste, abstrakte Bestimmtheit. Auf diese Weise gelingt es, unzulässige Voraussetzungen und dogmatische Erschleichungen zu vermeiden, durch die Einheit des ,Voraussetzenden‘ und ,Voraussetzunglosen‘. Der folgende Stufengang muss jedoch, speziell in den Übergängen, logische Stringenz aufweisen, eine weitere unumgängliche Herausforderung an die neue Logik des Begriffs.

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III. Die Idee Die Idee steht für den adäquaten, reinen Begriff, den ,freien, sich selbst und hiermit zur logischen Realität sich selbst bestimmenden Begriff‘ (GW 20, 216).18 In der Idee wird die absolute Einheit von logischer Subjektivität und logischer Objektivität hergestellt, die Einheit des Begriffs mit sich selbst. Im reinen Begriff als Endpunkt der Idee erlangt der Begriff seine vollständige Freiheit, sein vollkommenes Bei-sichselbst-Sein, er ist jetzt im höchsten und endgültigen Sinne das Freie, die höchste Formation des Selbstverhältnisses – die Idee hat sich selbst zum Gegenstand, als Denken des Denkens ist sie das einzig vollkommene Selbstverhältnis. Mit der denkenden, logischen Idee kulminiert Hegels Logik als neue Metaphysik, die Grundlegung seines monistischen Idealismus als Wissenschaft der Vernunft und Freiheit. Im Resultat der Idee haben wir ebenso sehr die Vermittlung wie die Unmittelbarkeit, die Einheit beider. Die Form der Unmittelbarkeit, die am Anfang stand, kann jetzt als bewiesene, als vermittelte gelten, darin wird der Kreis durch den Rückgang auf den Anfang geschlossen. Hegels Lieblingshumorist von Hippel drückte dies in poetischer Form aus: „Wurzeln, Zweige und Blätter haben einerlei Struktur. Begrabe die Zweige in die Erde, und laß die Wurzeln in die freie Luft gen Himmel sehen: Es wird ein Baum.“19 Hinsichtlich der Unmittelbarkeit liefert Hegel eine Skizze der Fortbestimmung, in der Sphäre des Seins geprägt von den Termini Sein (der ersten Unmittelbarkeit), Dasein, Realität und An-sich-Sein, in der Sphäre des Wesens von Existenz, Wirklichkeit und Substantialität und in der Sphäre des Begriffs von abstrakter Allgemeinheit und Objektivität – zu letzterer Unmittelbarkeit bestimmt sich der Begriff „durch Aufhebung seiner Abstraction und Vermittlung“ (GW 12, 130). Ergänzend kann der diesem Aufstieg entsprechende, komplementäre Fortgang des Mittelbaren anhand einiger Hauptstationen umrissen werden: das Nichts, das Andere und das Für-sich-Sein in der Sphäre des Seins, der Unterschied und Widerspruch, die Erscheinung, das wesentliche Verhältnis in der Sphäre des Wesens sowie die abstrakte Besonderheit und die Subjektivität in der Sphäre des Begriffs. Im Vollzug des Denkens einer Seite, einer Reihe des Fortbestimmens, tritt logisch schlüssig jeweils die andere, entgegengesetzte Seite als ihre andere hervor, beispielsweise am Sein das Nichts oder am disjunktiven Schluss die Objektivität. Hegel demonstriert seinen Grundgedanken der Überwindung der Extreme der einseitigen Subjektivität ohne Objektivität und der ebenso einseitigen Objektivität ohne Subjektivität. Mit der absoluten, reinen Idee haben wir den Begriff, der logisch sich selbst bestimmt, sich selbst begriffen hat, a) zum einen als das System der Inhaltsbestimmungen, das systemische Ganze der logischen Bestimmungen ,eingedampft‘ in der einen Idee und b) die Form als die Methode des spekulativ begreifenden Fortgangs, die Methode als methodos, als Verfahren der Untersuchung, als Weg18 19

Dazu näher: Vieweg, Klaus: Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München 2019. Hippel, Theodor Gottlieb von: Lebensläufe nach aufsteigender Linie, Berlin 1827, S. 2.

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strecke, die das reine Denken bis zur Ganzheit der logischen Idee durchschreitet. Jetzt im Abschluss des systemisch Logischen erfolgt der endgültige Beleg, dass die vermeintlich pure Unbestimmtheit bzw. Unmittelbarkeit des logischen Anfangens dies ist, was ihre Bestimmtheit ausmacht, der unmittelbare Anfang kann jetzt als zugleich Vermitteltes bewiesen werden, darin besteht die Leistung des Ganzen als eines Systems. Zugleich erfolgt im Resultat die Wiederherstellung der ersten Unbestimmtheit, der Rückgang in den Startpunkt. Der Fortgang vom Anfang, der gesamte logische Weg, erscheint so auf allen Stufen als Rückannäherung zum Beginn, so die Explikation der metaphorischen Rede von einem „Kreis von Kreisen“ (GW 12, 250 ff.). Jeder der vorher behandelten ,Kreise‘ durchbricht seine eigene Begrenzung, hebt die Schranke seiner Sphäre auf. Der neue ,Kreis‘ repräsentiert eine höhere Weise der Komplexität des Begriffs auf dem Wege von der ,Anreicherung‘ der Keimstruktur und stets sich wiederholender ,Reduktion‘ des aufsteigend ,Reicheren‘ bis hin zur Vollständigkeit des einen Kreises. In der ganzen Kreisbewegung fallen das rückwärtsgehende Begründen und das vorwärtsgehende Weiterbestimmen durchgängig ineinander. Mit der Idee wird die ein konstitutives, nicht regulatives Verhältnis zum Wissen aufweisende Vernunft erfasst, Idee ist die eigentliche Bedeutung von Vernunft und die Philosophie immer denkende Erkenntnis der Idee. In der Idee sind das Realistische als Aufnehmen der immanenten Entwicklung des Gegenstandes und das Konstruktionistische der Entwicklung der Vernunft eines Gegenstandes aus dem Begriff als zwei Momente verbunden, in ihr aufgehoben. Im Geist als höchste Formierung der Idee, der höchsten Bestimmung des Absoluten, verschmelzen in dieser Weise das Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur und das Setzen der Natur als seiner Welt (TWA 10, 29). Zugleich erweisen sich Realismus und Konstruktionismus als doktrinelle Fassungen des realistischen und konstruktionistischen Gedankens als einseitig und unhaltbar. Der Realismus setzt dogmatisch die Objektivität, der Konstruktionismus dogmatisch die Subjektivität absolut – Hegel hingegen geht es um „den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst ist, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist.“ (TWA 5, 43) IV. Der logische Hintergrund des Anfangs der Philosophie des objektiven Geistes Zu den überzeugendsten Textstücken von Hegels Philosophie überhaupt gehören die brillanten Paragraphen 5 bis 7, in welchen die logische Verankerung der philosophischen Theorie des freien Willens und Handelns, von Hegels Philosophie des objektiven Geistes, in subtiler Weise vorgeführt wird. Zudem findet sich anhand eines besonderen Gegenstands, eines speziellen Systemteils eine klare Exposition der für Hegels Philosophieren essentiellen Relation von Unmittelbarkeit und Vermit-

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teltheit.20 Dabei verweist der Autor dezidiert auf das logische Fundament, auf das in der Wissenschaft der Logik exponierte spekulative Denken – das Ganze wie die Ausbildung seiner Glieder beruhe ,auf dem logischen Geiste‘ – „Worin das wissenschaftliche Verfahren der Philosophie bestehe, ist hier [in der Philosophie des Rechts] aus der philosophischen Logik vorauszusetzen.“ (TWA 7, 12 f. 32) Die Unbestimmtheit, die abstrakte Identität ist die alleinige, einzige Bestimmtheit, diejenige, welche sich in der Bestimmtheit der Identität findet. In diesem reinen Denken will ich mich als ein Allgemeines und schließe darin alle Besonderheit aus, nehme alle Bestimmungen als Möglichkeiten in mir. Aber dieses erste Moment ist „selbst nicht ohne die Bestimmtheit; und als ein abstractes, einseitiges zu seyn, macht seine Bestimmtheit“ aus.21 Der Begriff des Willens als noch unterbestimmt, – zur Erinnerung an die Logik-Stelle „ohne alle weitere Bestimmung, jedoch keinesfalls völlig unbestimmt oder rein unmittelbar, sondern eben in seiner Minimalität der bloß einen, alleinigen Bestimmtheit. Hier haben wir wiederum einen Dreh- und Angelpunkt Hegelschen Philosophierens: das jeweils Andere der Unmittelbarkeit und der Vermittlung, der Allgemeinheit und Besonderheit, ist an ihnen selbst, wir haben so die Keimform des aufzuhebenden Widerspruchs. Nur auf diesem Weg öffnet sich das Tor zu einem logisch untersetzten Übergang von der Allgemeinheit als (vermeintlich totaler) Unbestimmtheit zur Besonderheit. Es handelt sich zuerst um die „absolute Möglichkeit von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde, oder die Ich in mich gesetzt habe, abstrahiren zu können“. Dieses Moment a bleibt eine notwendige, aber nicht hinreichende Bestimmung der Freiheit. Paragraph 6 behandelt das Moment b des freien Willens, seine Besonderheit. Das Ich muss (wegen der prinzipiellen Einseitigkeit des ersten Bestimmungsmoments) zugleich als das Verlassen der Unbestimmtheit, als das Auf-Schließen der Verschlossenheit, als Öffnen, Unterscheiden, Ur-Teilen, Setzen von Bestimmtheit eines Inhalts oder Gegenstands gedacht werden. Der Wille tritt logisch notwendig aus seiner Allgemeinheit in seine Besonderheit heraus. Essentielle Tatbestände des Besonderen wie Zurechnung, Verantwortung, Urheberschaft beruhen auf diesem Theorem. Mit dem Vollzug dieses Ent-Schließens kann das Ich als Akteur, als handelndes Ich beschrieben werden. Durch dieses Setzen seiner selbst als eines Bestimmten – ,EntSchließen als ,Auf-Schließen‘ – wird das Ich zum Dasein, zum Endlichen. Darin artikuliert sich die Besonderung des Ich. Das zweite Moment ist im ersten schon enthalten, es ist – so die Schlüsselstelle – ,nur ein Bestimmtes, Einseitiges; nämlich weil es die Abstraktion von aller Bestimmtheit ist, ist es selbst nicht ohne die Bestimmtheit; und als ein abstraktes, einseitiges zu sein, macht seine Bestimmtheit, Mangelhaftigkeit und Endlichkeit aus‘.22 Dieses Moment b wird nicht einfach additiv im Sinne des ,Auch‘ hinzugefügt. Das Negative kommt eben gerade nicht in einem zwei20 Dazu näher Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012. 21 GW 14.1, S. 33. 22 GW 14.1, S. 33.

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ten Schritt bloß hinzu, sondern ist dem ersten von vornherein inhärent. Das erste Moment impliziert schon das, was es ausschließt, es ist nicht reine, wahrhafte Unendlichkeit und Allgemeinheit, noch nicht der ganze Begriff, sondern in seinem Status als Unbestimmtes und Abstraktes liegt gerade seine allererste Bestimmtheit. Das Ich vermag zwar von Allem zu abstrahieren, nur nicht vom Denken, denn das Abstrahieren ist selbst das Denken, das Abstrakte die zunächst einzige Bestimmtheit dieses Moments. Somit bleibt es eben nicht ohne Bestimmung, nicht leer, sondern die Unbestimmtheit macht vielmehr die Bestimmtheit aus. Die reine Abstraktion hat ,die Bestimmtheit der Unbestimmtheit‘ – diese vermeintliche Unbestimmtheit muss als eine Bestimmtheit gelten. Den Weg zum Grund von Allgemeinheit und Besonderheit exponiert Paragraph 7 – die logische Einheit beider Momente, in der Einzelheit (E). ,Unmittelbarkeit und Vermittlung des Wissens sind eine einseitige Abstraktion, das eine wie das andere‘. Das wahrhafte, spekulative Denken – das Begreifen – schließt nicht eines aus, sondern vereint beide in sich. In der Einzelheit haben die beiden Begriffsbestimmungen ihren Grund, an dem sie nur Momente, nur ,Zusammen-Geschlossene‘ sind, die Ur-Teilung geht in den Zusammen-Schluss über, die logische Form des Urteils in die logische Form des Schlusses. Die Einzelheit gilt als die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit, die Negativität der Negativität, die echte Selbstbestimmtheit des Ich, das sich bestimmt, damit ein Besonderes ist, aber mit sich identisch bleibt, und ,sich nur mit sich selbst zusammenschließt‘. V. Kurzer Schluss Hegel insistiert klar auf der Einheit der gegensätzlichen Unmittelbarkeit und Vermittlung, sie sind isoliert genommen einseitige Abstraktionen. Das Zugrundegehen der Vermittlung ist zugleich der Grund, aus dem das Unmittelbare hervorgeht und umgekehrt, das Zugrundegehen der Unmittelbarkeit, dass die skeptischen Argumente beweisen, ist der Grund des Hervorgehens der Vermittlung. Denken, so Hegel ist Vermittlung und Aufhebung der Vermittlung, Unmittelbarkeit und Aufheben des Unmittelbaren – so muss die Untrennbarkeit beider gegensätzlicher Bestimmungen im Ganzen gedacht werden. Im eigentlichen Anfangskapitel der Logik kommt Hegel hinsichtlich Sein und Nichts mit fast gleichen Worten auf das zwingende Zusammendenken von Unmittelbarkeit und Vermittlung zurück: „Es muß dasselbe, was oben von der Unmittelbarkeit und der Vermittlung (welche letztere eine Beziehung aufeinander, damit Negation enthält) vom Sein und Nichts gesagt werden, daß es nirgends im Himmel und auf Erden etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich enthielte.“ (TWA 5, 86) Die Ausschließung eines dieser Momente, die Exklusion der Unmittelbarkeit oder der Vermittlung, wird unmissverständlich ausgeschlossen. Dies wäre ein unhaltbares Festhalten an einseitigen Bestimmungen. Ohne Wenn und Aber muss dies auch für den Anfang der Philosophie gelten.

Hegel im Wunderland – Die moderne Verlegenheit um den Anfang der Philosophie 137

Soweit zur ersten Station von Hegels Reise ins Wunderland. Bei Lewis Carroll befahl der König dann später: „Lies bis zum Ende und hör dann auf!“ Genau das erfolgt jetzt, das Aufhören mit dem Reden über den Anfang.

Die bestimmte Negation als Hegels Grundoperation, am Beispiel des Seins Folko Zander Die Verlegenheit um den Anfang der Philosophie folgt aus dem Bedürfnis, einen sicheren Grundsatz zu finden, dessen Sicherheit die Gültigkeit der daraus abgeleiteten Bestimmungen verbürgt. Mit dem Anfang steht und fällt ein philosophisches System. Entweder es wird dabei von allem Unwesentlichen, Veränderlichen abstrahiert, um eine wesentliche, unveränderliche Grundlage zu erhalten, oder aber es wird nach etwas gesucht, was schlechthin von keinem Vernünftigen bestritten werden kann, um von dort aus weiterzuschreiten. Wäre dies möglich, so würde es genau einen unstrittigen Anfang geben. Es ist aber durchaus nicht so, wie die Philosophiegeschichte zeigt. Es herrscht eben keine Einigkeit darüber, wovon als Unwesentlichem abstrahiert werden muss oder was als unbestreitbar und unbezweifelbar zu gelten hat. Das liegt daran, dass die gewisse Grundlage alles Vernünftigen selbst nicht begründet werden kann. Denn könnte sie es, so wäre sie selbst nicht der Anfang, sondern das den Anfang Begründende wäre es – welches dann selbst begründet werden müsste. Kann der Anfang indes nicht begründet werden, so ist er jedem Einwand ausgesetzt, selbst einem grundlosen, denn dieser Einwand muss vor dem vermeintlichen Anfang keine Rechenschaft ablegen, da er billigerweise auch nicht begründet sein muss. Doch damit fangen die Probleme erst an. Denn auch die Methode, mit der weitere Ableitungsschritte erfolgen sollen, muss sich rechtfertigen lassen. Wenn Bestimmungen im System nur als gerechtfertigte wahr genannt werden können, so gilt das a fortiori von den logischen Regeln, durch die sie gerechtfertigt werden. Mit der ersten Bestimmung müssen zugleich die Regeln ihrer Fortbestimmung gegeben sein, sie müssen die weitere Ableitung normieren,1 eine Anwendung intuitiv gewisser Regeln verbietet sich aus demselben Grund wie der Beginn mit einer intuitiv gewissen Prämisse. Auch diese unterliegen den obengenannten Einwänden: Lassen sie sich rechtfertigen, so muss auch diese Rechtfertigung methodisch erzeugt sein, lassen sie sich nicht rechtfertigen, so bleiben sie anarchisch und somit unverbindlich. Weiter muss diese Methode auf ihren Stoff appliziert werden. Dies kann subjektiv geschehen, dann obliegt es der Willkür des Philosophen, in der Ableitung fortzu1 Vgl. Claudia Wirsing, Grund und Begründung. Die normative Funktion des Unterschieds in Hegels Wesenslogik, in: Anton Friedrich Koch/Friedrike Schick/Klaus Vieweg/Claudia Wirsing (Hrsg.), Hegel – 200 Jahre Wissenschaft der Logik, Hamburg 2014, S. 155 – 177; Terje Sparby, Hegel’s Conception of the Determinate Negation, Leiden/Boston 2015, S. 164.

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schreiten, abzubrechen, andere Wege zu gehen, kurz, den Stoff durch subjektive Beimengungen in seiner Objektivität zu beeinträchtigen. Wie dies andererseits objektiv geschehen soll, ist zweifelhaft, schließlich scheint der Stoff den Philosophen nicht von sich aus auf weitere Ableitungsschritte festlegen zu können. Darüber hinaus müssen alle weitere Vermittlungsschritte ein notwendiges Resultat haben; ließen sie mehrere Resultate zu, so wäre das System ein beliebiges, kein notwendiges, könnte also nicht beanspruchen, notwendiges, wahres Wissen zu sein. Dies zeigt sich daran, dass es viele Anwärter gibt, die sich als Anfang eines philosophischen Systems zu qualifizieren scheinen. Nichts scheint unmittelbar gewisser zu sein als der Satz der Identität, der deswegen von Fichte als Anfangsbestimmung gewählt wurde. Ebenso ist die Tatsache des Bewusstseins oder die des Selbstbewusstseins ein solcher Kandidat, oder das Absolute als Inbegriff allen Seins, oder die Geltung des Satzes des Widerspruchs. Genau genommen gibt es viele unmittelbar gewisse Tatsachen, deren Geltung sich keiner Ableitung verdankt. Das Problem mangelnder Rechtfertigung betrifft also nicht nur den Anfang eines philosophischen Systems, es betrifft auch erkenntnistheoretische und logische Darstellungen, die keinen systematischen Anspruch erheben. Die Sinnesdaten, aber auch die Bestimmungen der Logik scheinen allesamt unmittelbar gewiss und die Logik selbst ein Aggregat letzterer Bestimmungen zu sein. Hierin liegt aber eine Schwierigkeit, denn es stellt sich die Frage, was dann die genaue Bestimmtheit von Bestimmungen des Wissens verbürgt. Denn es bleibt unklar, wo der Geltungsbereich der einen Bestimmung beginnt und der der anderen anfängt; es bleibt offen, wie sie voneinander abzugrenzen und zu begreifen sind. Begeht man einen Kategorienfehler, wenn man die Kategorie der Kausalität auf menschliches Handeln anwendet? Worin unterscheidet sich die Kategorie des Grundes von der der Kausalität? Kann der Satz des Widerspruchs als die negative Fassung des Satzes der Identität gelten? Dies sind wichtige Fragen, die aber mit dem Instrumentarium der formalen Logik, welche die Denkbestimmungen als unmittelbar gewiss ansieht, nicht beantwortet werden können. Angesichts der massiven, scheinbar unlösbaren Anforderungen an ein philosophisches System stellt sich unweigerlich die Frage, warum man sich das Leben derart schwer machen muss. Würde es nicht auch ein weniger anspruchsvoller Wissensbegriff tun? Reichte es nicht hin, heuristisch zu verfahren und bei auftretenden Schwierigkeiten die behelfsweise angenommenen Grundbegriffe, Prämissen und Regeln zu korrigieren? Das geht leider nicht: Unstimmigkeiten können nur als solche adressiert werden, wenn wir schon über eine Logik verfügen, an welcher die deduzierte Logik sich zu bewähren hätte. Aber um die Gewinnung einer validen Logik geht es ja gerade, sie darf also gar nicht vorausgesetzt werden. An den Phänomenen können logische Kategorien auch nicht gemessen werden, denn die Phänomene bedürfen selbst logischer Kategorien, um begriffen zu werden. Auch hier muss also die Logik für sich selber sorgen. Hegel sah in der bestimmten Negation ein Verfahren, welches all die genannten Probleme umgeht. Dieses werde ich jetzt, nach diesem kurzen Problemaufriss, vor-

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stellen, und dabei vor allem auf die mit ihr verbundene Kategorie des Widerspruchs eingehen, wie Hegel sie in der Wesenslogik entwickelt. Anschließend will ich zeigen, wie allein das so erworbene Methodenverständnis in die Lage versetzt, den ersten Übergang in Hegels Wissenschaft der Logik, nämlich den von Sein und Nichts und zurück, adäquat zu begreifen und damit zu zeigen, wie das Konzept der bestimmten Negation das Problem des Anfangs und der Rechtfertigung alles scheinbar nur unmittelbar Gewissen löst. Dass dies ermöglicht, Hegels Diktum vom Unmittelbaren, das stets schon vermittelt ist, zu verstehen, werde ich anschließend erörtern, um dann im Fazit einen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Logik zu geben. Dabei werde ich einen strikt deflationären Ansatz vertreten. Weder ist Hegels Logik eine Metaphysik in dem Sinn, als in ihr beansprucht wird, das Wesen der Phänomene rein denkend zu erfassen, um empirische Forschung auf diesem Wege ersparen zu können. Noch wird in ihr versucht, eine Ontologie zu deduzieren. Es ist hierbei Hegels Anspruch, eine Logik zu verfassen, ernst zu nehmen, zumal Hegel sich in der Einleitung und den Vorreden ausdrücklich auf Logik im engen, althergebrachten Sinn und ihren in seinen Augen beklagenswerten Zustand zu seiner Zeit bezieht. Zwar macht Hegel in diesem Werk gelegentlich in den Anmerkungen metaphysische und ontologische Streifzüge. Bei diesen geht es aber Hegel darum, die logische Struktur überkommener metaphysischer und ontologischer philosophischer Werke zu erhellen und zu kritisieren. Wenn überhaupt, finden sich ontologische Aussagen in seiner Naturphilosophie. Es geht Hegel darum, die Logik als eine Methode der Philosophie zu etablieren und somit zur „eigentlichen Metaphysik“2 zu machen. Dabei zeigt sich, dass formale Logik und gemeiner Menschenverstand nur eine Seite des Logischen zu erblicken in der Lage sind, die abstrakte. Aus dieser ergeben sich aber bei näherer Analyse die anderen Seiten des Logischen, die dialektische und spekulative, welche die vermeintlich isolierten Bestimmungen des Denkens miteinander verknüpfen und ins Verhältnis setzen. Die bestimmte Negation legt diese Seiten des Logischen frei und macht damit eine systematische Logik als eine Relativitätstheorie des Denkens erst möglich. I. Die bestimmte Negation Die Wichtigkeit der bestimmten Negation unterstreicht Hegel gleich zu Beginn der Wissenschaft der Logik, unter dem Titel „Allgemeiner Begriff der Logik“: Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – und um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist –,“, so Hegel, „ist die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein (1832) (fortan: Seinslogik), Hamburg 1990, S. 6.

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die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert […]. Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt.3

Das Positive und das Negative, auf die Hegel anspielt, sind die Momente des Gegensatzes. Dass Hegel den logischen Fortgang über Gegensätze sichern will, leuchtet ein, denn nur im Gegensatz hat ein Gegensatzrelat notwendig nur ein anderes sich gegenüber, weshalb ja von dessen Verneinung auf die Wahrheit des ersten geschlossen werden darf. Allein: Dies in Anwendung zu bringen hieße ja auch, Gebrauch von einer unthematisierten Voraussetzung zu machen – der Gegensatz steht zunächst ja nicht zur Verfügung. Hegel schreibt denn auch, dass diese Erkenntnis erst noch erlangt werden muss, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen. Was gewonnen werden muss, ist die Erkenntnis, dass das Negative ebensosehr positiv ist.4 Was bedeutet das? Es ist damit sicherlich keine Einerleiheit gemeint, denn dann wären die Bezeichnungen „das Positive“ und „das Negative“ sinnlos. Es kann nur gemeint sein, dass das Negative durch eine wie immer geartete Operation sich selbst zum Positiven macht, ohne dabei, wie in der doppelten Negation, das Negative zu annullieren – denn dann hätte Hegel schreiben müssen, das Negative sei in Wahrheit das Positive, er hat aber geschrieben: das Negative sei ebensosehr positiv. Was Hegel hier einzusehen fordert, scheint indes unsinnig: Der Satz „Das Negative ist das Positive“ sagt wie der Satz „Sokrates ist weise und nicht weise“ einfach einen Widerspruch aus. Das scheint Hegel sogar zuzugeben, denn so gefasst ist tatsächlich nichts ausgesagt, die Aussagen hätten sich in Null aufgelöst. Aber die Negation, die Hegel im Auge hat, ist die „Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation“ (meine Hervorhebung). Zum Verständnis dieser Aussage ist erforderlich, sich klar zu machen, dass das Negative Negatives nur hinsichtlich von etwas sein kann, dessen Negation es ist. Ist es aber dessen Negation, dann muss hinwiederum dieses Etwas auch negativ sein, nämlich das Negative des Negativen. Dies Negative kann aber nicht äußerlich hinzutreten, sonst wäre es nicht abgeleitet. Da Hegel hier aber vom Widersprechenden spricht, so kann das zweite Negative kein anderes sein, sondern das erste Negative muss gefasst werden als das Negative seiner selbst. Soll sich dieser Widerspruch auflösen lassen, dann so, dass durch die Verneinung die Gegensatzrelate als positive gesichert werden. Kurz: Zunächst muss sich das Negative als Negatives seiner darstellen lassen, also als dessen Widerspruch, dann aber muss es sich nichtsdestotrotz als identisch mit diesem Negativen zeigen lassen, also positiv werden. Also nicht nur: Das Positive ist das Negative, denn das wäre der Widerspruch, sondern: Das Positive ist das Positive, indem es nicht das Negative ist, und zwar in einem empathischen Sinne nicht als Exklusion des Negativen, sondern als dessen Inklusion. Der systematische Sinn der bestimmten Negation ist somit klar: Zunächst muss eine notwendige 3

Seinslogik, S. 38. Vgl. für das Folgende auch: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen (1813), Hamburg 1992, S. 42 ff. 4

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neue logische Bestimmung sich aus einer alten ergeben, und zwar als deren Negativität. Jedoch zunächst nur um den Preis des Widerspruchs der alten Bestimmung mit sich selbst. Um diesen Widerspruch zu überwinden, kann nun nicht etwa die alte Bestimmung preisgegeben werden, die ja gleichwohl als wahre fest und nicht etwa, wie beim indirekten Beweis, zur Disposition steht. Eben so wenig kann, aus demselben Grund, die neue Bestimmung preisgegeben werden. Bleibt nur, beide Bestimmungen beizubehalten. Dies geht aber nur, wenn beide miteinander identifiziert werden. Nur führt die Identifizierung nur des Positiven mit dem Negativen zum Widerspruch. Also muss in einem zweiten Schritt das Negative wieder mit dem Positiven identifiziert, um als Momente eines Dritten erfasst zu werden, in das sich der Widerspruch auflöst. Da damit zudem gezeigt ist, dass jedes der Momente genau ein Gegenüber hat, und nicht mehrere Alternativen, ist die Notwendigkeit des logischen Fortschritts gesichert. Dies werde ich am Beispiel des Seins zeigen. Es muss jedoch der Verdacht erlaubt sein, hier lediglich mit Dieter Henrich den Willen zur Konstruktion am Werk zu sehen.5 Keineswegs ist ja gesagt, dass sich die Sache der Logik so verhält, dass sie sich den Anforderungen des Systematikers fügt. Es scheint vielmehr Skepsis angebracht, ob Hegel nicht vielleicht doch der Versuchung erlegen ist, die Sache der Logik nach Art des Prokrustes an seine systematischen Erfordernisse anzupassen. Ich hoffe, diese Skepsis zerstreuen zu können. Denn dass es ihm um die Logik der Sache geht, kann schon daran erkannt werden, dass er seine Logik nun nicht mit einer Abstraktion im geläufigen Sinne beginnen lässt, denn eine Abstraktion würde das voraussetzen, wovon abstrahiert würde und wäre zudem eine Vermittlungsleistung, die nur aus dem Motiv heraus zu erklären ist, zu gesichertem Wissen zu gelangen, aber keineswegs eine Notwendigkeit des Wissens selbst anzeigt. II. Die bestimmte Negation am Beispiel des Seins Das Unmittelbare, mit dem Hegel anhebt, ist bar jeder Abstraktion. Hegel beginnt also mit keiner Operation, sondern macht eigentlich gar nichts, er schaut, um seine eigene Wendung aufzugreifen, der Sache einfach zu, welche sich für ihn so zunächst als der „logische Raum“ als ein „Ursachverhalt“ zeigt,6 wobei sich allerdings erweisen wird, dass dieser vom Denken selbst gegeben und erzeugt wurde.7 Deshalb gibt es 5

Vgl. Dieter Henrich, Formen der Negation in Hegels Logik, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels. Herausgegeben und eingeleitet von Rolf-Peter Horstmann, Frankfurt am Main 1978, S. 213 – 229 (S. 226). 6 Vgl. Anton Friedrich Koch, Die Selbstbeziehung der Negation in Hegels Logik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 53, H.1 (1999), S. 1 – 29 (S. 9 ff.). Dieser Ursacherhalt ist aber nicht als etwas Gegebenes zu nehmen, er ist vielmehr etwas Aufgegebenes, welches das Denken nicht als etwas Vorlogisches zu akzeptieren, sondern durchzuarbeiten und zu legitimieren hat. 7 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt am Main 1986 (= Werke 8), §17.

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in dieser ersten Bestimmung des Denkens auch keine Differenz, sie ist so nachgerade das Differenzlose. Dem Bedenken, wie aus diesem Differenzlosen heraus eine Entwicklung erfolgen soll, gesellt sich die Feststellung, dass dieses Unmittelbare nicht anders als mit Negationsausdrücken beschrieben werden kann. Das Sein, das Hegel beschreibt, ist „ohne alle weitere Bestimmung“, „unbestimmt“, „unmittelbar“, es hat „keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen“8 (meine Hervorhebungen). Bislang wurde bei der Interpretation dieser Stellen vor allem darauf hingewiesen, Hegel habe die Absicht gehabt, den Gedanken an eine reflexive Verfasstheit des Seins abzuweisen. Das ist insoweit sicher richtig, als es sich beim Sein um keine Reflexionsbestimmung handelt, deren Eigenart es ja ist, unmittelbar ohne die Negation ihres Widerparts gar nicht gedacht werden zu können. Die Betonung liegt hier beim Sein in diesen Formulierungen aber auf der Negativität als solcher. Das wird besonders deutlich, werden bestimmte Formulierungen genauer in den Blick genommen. So heißt es, das Sein sei „nicht ungleich gegen anderes“ und habe „keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen“.9 Ist das nicht ein wenig umständlich formuliert? Was besagt denn „nicht ungleich gegen anderes“ mehr als die unmittelbar vorhergehende Formulierung, das Sein sei „nur sich selbst gleich“? Bedenkt man, dass Gleichheit und Ungleichheit beide Bestimmungen der Verschiedenheit sind, ist der Ausdruck „keine Verschiedenheit innerhalb seiner noch nach außen“ gleichsam redundant. Für einen so konzisen Autor wie Hegel ist das merkwürdig. Es sei denn, er wolle betonen, dass selbst der voraussetzungslose, unmittelbare Anfang gar nicht anders gedacht werden kann als von grundsätzlich negativer Struktur. Um zu sehen, dass es sich bei der bestimmten Negation um einen absolut grundlegenden logischen Sachverhalt handelt, bleibt so nur übrig, diese schon am unmittelbaren Sein nachzuweisen. Wenn dem so ist, dann ist allerdings das Unmittelbare ohne seine Vermittlung durch bestimmte Negation gar nicht denkbar, das Unmittelbare ist also immer ein Vermitteltes. Demzufolge muss jede Vermittlungsbewegung ein Resultat haben, welches als Unmittelbares anzusprechen ist. Das würde die Tatsache erklären, dass Hegel, wie es eigentlich zu erwarten wäre, nicht nur den Anfang der Logik als Unmittelbares bezeichnet. Vielmehr zeitigt die Logik immer wieder Resultate, die Hegel als unmittelbar ausweist. Ich werde zunächst zeigen, wie dies zu verstehen ist, um dann die Konsequenzen dessen für Hegels Philosophie auszuführen. Ähnlich wie bei der „Sinnlichen Gewissheit“ der Phänomenologie des Geistes darf sich in den Anfang keine Vermittlung einmischen. Eine Vermittlung hätte, ganz abstrakt gesprochen, zum Ergebnis, eine Differenz in den unmittelbaren Gegenstand des Denkens zu setzen. Das Unmittelbare ist also, wie oben schon gezeigt, als das Differenzlose zu nehmen. Wenn in das Unmittelbare keine Differenz eingetragen ist, dann handelt es sich genau genommen nicht um eine Abstraktion im Sinne einer subjektiven Operation, im Gegenteil, denn es wird von der Bestimmung des Denkens 8 9

Seinslogik, S. 71. Ebd.

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oder der ersten Gestalt des Bewusstseins ja nichts weggelassen, weswegen Hegel im Falle der „Sinnlichen Gewissheit“ auch von der reichsten Erkenntnis spricht. Aber es zeigt sich, dass es dem Unmittelbaren dennoch selbst zukommt, eine Abstraktion zu sein, denn schon in der Vorsilbe „Ab-“ zeigt sich wie im „Un-“ des Unmittelbaren dessen Negativität. Selbst wenn der Ausdruck „das Differenzlose“ gebraucht würde, zeigt sie sich dahingehend, dass dann die Differenz eben darin besteht, zur Differenz different zu sein. Somit ist genaugenommen die Differenzlosigkeit erst die Differenz, und gerade in der Abwehr der Negativität erweist sich das Unmittelbare, selbst die abgewehrte Negativität zu sein.10 Es wird nämlich kein anderes Differentes gesetzt, von welchem das Unmittelbare different wäre. Sondern das Unmittelbare ist, da es seine Natur der Differenzlosigkeit nicht anders als durch Differenz anzeigen kann, sich selbst das Differente.11 Beim Sein zeigt es sich darin, dass es, 10 „Das Positive ,ist‘ an sich schon negativ. Im negativen Extrem zeigt sich das Bedingtsein jedes Begriffs durch sein Anderes nur deutlicher. In diesem Sinne muss man das dictum verstehen, das Hegel Spinoza zuschreibt, nach dem ,jede Bestimmung eine Negation ist‘. […] Im Positiven ist das Negative nur ,versteckt‘.“ Daniel Brauer, Die dialektische Natur der Vernunft: Über Hegels Auffassung von Negation und Widerspruch, in: Hegel-Studien, Vol. 30 (1995), S. 89 – 104 (S. 102). 11 Nach Dieter Wandschneider, Dialektik als antinomische Logik, in: Hegel-Jahrbuch 1991, S. 227 – 242 (S. 228 ff.), gehöre zum Sinn von Sein die Ausschließung dessen, was Sein nicht ist, und ergebe sich nach dem Komplementaritätsprinzip für Sein und nicht Nichtsein eine gleiche Bedeutung. Da Sein so nicht Nichtsein sei, so habe durch dieses „ist nicht“ der Begriff Sein gerade diejenige Eigenschaft, welche der Bedeutung von Nichtsein entspreche. Da Teil des „ist nicht“ aber das „ist“ sei, so gelte eine Entsprechung des Seins zum Nichtsein wie „nicht“ zum Nichtsein gleichermaßen. Wenn nun sich aus dem „ist nicht“ des Seins eine Nichtseinsentsprechung ergebe, aus dem „ist“ aber wieder eine Seinsentsprechung, so sei von letzterem zu sagen, dass sich daraus wieder eine Nichtseinsentsprechung resultiere – das Sein ist nicht das Nicht-sein. Damit sei der Übergang vom Sein zum Nichts hergeleitet und die antinomische Struktur beider Begriffe herausgearbeitet, da die Argumentation für beide Begriffe ad infinitum wiederholt werden könne. Es ergebe sich so für die antinomischen Begriffe Sein und Nichtsein deren Bedeutungsidentität. – Diese Interpretation ist in einigen Punkten zu kritisieren. Als komplementär bezeichnet Wandschneider nämlich Gegensätze, welche „nicht einfach nur kontradiktorisch“ bei unbestimmter Negation sind wie z. B. nicht-rot, noch bezeichnet er damit konträre Gegensätze, welche wie schwarz und weiß Zwischenmöglichkeiten zuließen, sondern solche, die „einen abgegrenzten, wohlbestimmten ,semantischen Raum‘ erfüllten, wie z. B. ,möbliert‘ und ,unmöbliert‘“, (vgl. Dieter Wandschneider, Dialektik als Letztbegründung der Logik, in: Koreanische Hegelgesellschaft [Hrsg.], Festschrift für SokZin Lim [Seoul], Seoul 1999, S. 255 – 278 (S. 262), und damit dem entsprächen, was Hegel als bestimmte Negation bezeichnet. Wäre dem so, dann würde es den Gegensatz, auf den Hegel in den entsprechenden vorgreifenden methodischen Passagen verweist, gar nicht geben, sondern nur konkrete Gegensätze, wie sie sich entsprechend der jeweiligen dialektischen Bestimmung bilden. Wenn aber das Gegensätzliche dieser Gegensätze nicht offengelegt werden kann, bleibt unklar, wieso sich diese Gegensätze tatsächlich alle als Gegensätze verhalten, d. h. sich einer Dialektik fügen. Außerdem führt Wandschneider seine Analyse auf der Urteilsebene, indem er das Sein prädikativ versteht und mit der Kopula „ist“ identifiziert. Das ist aber hier noch gar nicht statthaft, da Urteile erst in der Begriffslogik analysiert werden. Zudem wird das Komplentaritätsprinzip von Wandschneider einfach vorausgesetzt und ist zudem nichts, was als unmittelbare Bestimmung gelten könnte. (An einer zu voraussetzungsvollen Deutung des Anfangs der Seinslogik kranken die meisten Interpretationen.) Denn die Ausschließung seines

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gerade weil es nicht ungleich gegen Anderes ist, in diesem „nicht“ die Negativität und deswegen die Differenz aufweisen muss. Das berechtigt Hegel dazu, das Unmittelbare, indem es zunächst affirmativ, also Sein ist, in dieser Abstraktion als Nichts zu bezeichnen. Es scheint also, als wäre es unberechtigt, von einem affirmativen Anfang zu sprechen, und die Wahrheit des Seins läge nicht in der Positivität, in welcher das Unmittelbare angesprochen wurde, sondern in seiner Negativität. Das Sein wäre also in Wahrheit das Nichts. Wenn dem jedoch so wäre, könnte hier nicht von einem logischen Fortgang durch bestimmte Negation gesprochen werden – und diese ist ja „das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen“–, da nicht zu sehen wäre, wo im Nichts das Sein noch enthalten und wie das Negative – hier das Nichts – zugleich positiv wäre. Eine Antwort liegt in der Charakterisierung des Nichts als „Ununterschiedenheit in ihm selbst“. Denn hier liegt genau die Leugnung der Differenz, die das Sein bestimmte. Aber hier macht sich ein gewichtiger Einwand geltend: Wenn das Sein unmittelbar als die Differenzlosigkeit bestimmt wird, dann muss das so entstandene Nichts ja gerade dadurch markiert sein, zur Differenzlosigkeit different und folglich selbst different zu sein, also eben gerade nicht die „Ununterschiedenheit in ihm selbst“ zu sein. Aber das Unmittelbare hat sich gerade als Differenzloses ja selbst ergeben, Differenz zu sein. Also liegt nicht eine Beziehung vor von Differenzlosigkeit auf Differenz, sondern eine Selbigkeit des Differenten, denn Differenz, die sich auf sich selbst bezieht, kann gar nicht anders angegeben werden denn als „Ununterschiedenheit in ihr selbst“. Wenn das Sein als diese Ununterschiedenheit bestimmt ist, dann hat es dem Aspekt des Unterschieds Rechnung zu tragen, also zu Nichts zu werden, um diesen Unterschiedenheit als Ununterschiedenheit unmittelbar wieder zurück zu nehmen. Beide, Sein und Nichts, sind insofern Abstraktionen, als sie die Negation ihrer Differenz sind. Insofern beide Negation ihrer Differenz sind, sind sie dasselbe. Und da die Negation von Differenz das alleinige Merkmal beider Bestimmungen ist, entfällt dies Insofern und sie sind unmittelbar dasselbe. Um Negationen dieser Differenz zu sein, müssen sie sich aber beide zuerst als Differente setzen. Deswegen nennt Hegel beide auch „absolut unterschieden“. Dies erklärt den irritierenden Umstand, dass unter den Überschriften „Sein“ und „Nichts“ sich fast identische Texte finden, gleichwohl aber behauptet wird, Sein und Nichts seien unterschieden. Wenn nun aber ihre Differenz allein ihre Identität begründet, wäre es nicht egal, womit der Anfang der Wissenschaft gemacht würde? Hätte nicht ebenso mit dem „Nichts“ begonnen werden können? Dies verbietet sich deshalb, weil ja zunächst mit einer klaren Absage an Negativität begonnen werden musste, einer reinen, differenzlosen Affirmation, an welcher erst die Negativität hervorgebrochen ist. Als

semantischen Gegenteils, des Nichtseins, gehört eben nicht notwendig zum Sinn von Sein, wie Wandschneider suggeriert, aber von den Eleaten bestritten werden würde, sondern sie ergibt sich erst aus seiner Unmittelbarkeit und ist zudem als Selbstausschließung zu fassen.

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gänzlich unbestimmt ist es Sein, es erweist sich erst als Nichts, indem diese Unbestimmtheit als Differenz jeder Bestimmtheit gedacht werden muss. Oben wurde schon gesagt, dass es nicht sein Bewenden dabei haben kann, dass das Sein in Wahrheit Nichts ist. Es hat sich gezeigt, dass eben so sehr das Nichts in Wahrheit Sein ist. Da das Sein in Wahrheit Nichts, das Nichts in Wahrheit Sein ist, könnte gefolgert werden, dass sie in Wahrheit eines seien. Aber zu dieser Schlussfolgerung gibt es noch keine Berechtigung. Zudem würde diese auch eines wesentlichen Momentes der bestimmten Negation entbehren, nämlich das Widersprechende und seine Auflösung. Ebenfalls wird vermisst ein anderes wesentliches Moment der bestimmten Negation, nämlich die Aufhebung. Aufhebung hat in der bestimmten Negation ja bekanntermaßen dreierlei Bedeutung, nämlich die Negation der ursprünglichen Bestimmung, sodann deren Beibehaltung, schließlich die Erhebung in eine neue Bestimmung. All dies ist von Hegel hier in der Bestimmung des „Werdens“ genommen. Werden reflektiert dabei von einer logischen Perspektive aus zunächst die wichtige Erkenntnis, dass tatsächlich eine Ableitung von Denkbestimmung erfolgt, dass aus unmittelbaren Bestimmungen sich andere Bestimmungen vermitteln – das Werden der Logik.12 Wichtiger noch ist, dass sich das Unmittelbare selbst vermittelt, dass es also nicht grundlose, der Skepsis verfallende Setzung bleibt. Wie geschieht das? Zunächst ist der banale Umstand festzuhalten, dass Sein in Nichts, und Nichts in Sein, nicht übergeht, und darauf weist Hegel eigens hin, sondern übergegangen ist. Auf den ersten Blick geht indes Sein in Nichts und Nichts in Sein über. Hegels Formulierung zwingt aber, schon das Sein als Anfang der Wissenschaft als eine Bestimmung zu denken, die übergegangen ist. Das heißt, es muss schon als unmittelbares Sein vom Nichts her in das Sein übergegangen sein. Das würde erklären, warum Hegel Sein wie Nichts als doppelte Negation charakterisiert: Das eine Mal als „nichtungleich gegen anderes“, das andere Mal als „Ununterschiedenheit in ihm selbst“. Bevor der Charakter dieses Übergangs abschließend gewürdigt werden kann, sind aber noch weitere Schritte notwendig. Sein ist in Nichts übergegangen und Nichts in Sein: Es ist also Nichts aus Sein und Sein aus Nichts geworden. Dieser bei der Lektüre leicht zu übersehende Umstand hat jedoch die Konsequenz, dass tatsächlich ein „wissenschaftlicher Fortgang“ erreicht worden ist – ganz wie von Hegel in seiner Charakteristik der bestimmten Negation postuliert. Zudem jedoch ist Sein in Nichts und Nichts in Sein vergangen – ein Umstand, der zunächst dem Negationsaspekt der bestimmten Negation Rechnung trägt. Aber nicht nur das: Beide, Sein wie Nichts, sind ja nicht einfach verschwunden, sondern haben sich in eine andere Denkbestimmung verwandelt, sie sind in ihrem Vergehen auch entstehend.13 Zunächst scheint das für das Hegelsche Projekt der Wissenschaft desaströs: Wenn nämlich Sein Nichts und Nichts Sein ist, so sind beide Bestimmungen mitnichten gewonnen, sondern beide sind durch die jeweils andere ausgelöscht, der vermeintliche Fortgang der Wissenschaft erweist sich als dessen Scheitern. 12 13

Vgl. Terje Sparby, Hegel’s Conception of the Determinate Negation, S. 190. Vgl. Seinslogik, S. 99 f.

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Hegel charakterisiert diesen Umstand des Werdens mit den Worten: „Es widerspricht sich also in sich selbst, weil es solches in sich vereint, das sich entgegengesetzt ist; eine solche Vereinigung aber zerstört sich.“14 Diese Formulierung ist cum grano salis zu nehmen, denn Hegel greift hier auf etwas vor, was erst noch in späteren Partien der Logik zu entwickeln ist, nämlich den Gegensatz und den Widerspruch. Nach Verständnis der traditionellen und immer noch vorherrschenden Logik ist ein Widerspruch an eine Aussage gebunden, die einander negierende Eigenschaften ein und demselben Subjekt unter unveränderten Bedingungen zuschreibt. Bei Hegel ist ein Widerspruch nicht nur eine Denkbestimmung eigenen Rechts, noch unterhalb der Urteilsebene, nicht ein fehlerhaft aufgebautes Urteil, sondern ein intrinsisches Merkmal einer jeden endlichen Denkbestimmung. Das muss auch so sein, denn wenn tatsächlich der wissenschaftliche Fortgang einzig über bestimmte Negation zu gewinnen ist, müssen alle endlichen Bestimmungen in sich widersprechend sein, um sich umwillen des wissenschaftlichen Fortgangs in eine höhere Bestimmung auflösen zu können. Freilich ist der Widerspruch eine Reflexionsbestimmung, die sich aus der reflexiven Variante des Seins, nämlich der Identität entwickelt, und demzufolge erst dort explizit vorkommt, von Hegel aber bereits hier als allen Denkbestimmungen implizit angesprochen wird, gewiss auch, um zu zeigen, dass wir es hier, beim ersten wissenschaftlichen Schritt, wie von ihm angekündigt, bereits mit einer bestimmten Negation zu tun haben. Der Widerspruch deutet sich hier unter seinem zerstörerischen Aspekt an. Aber um tatsächlich einen wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, muss der Widerspruch aufgelöst werden, um sich der bestimmten Negation dienstbar zu machen. Wie dies geschieht, ist allerdings auch recht banal, und wurde von Hegel schon mit der Charakterisierung des Seins und des Nichts mit einer doppelten Negation angedeutet: Freilich ist es wahr, dass Sein in Nichts und Nichts in Sein übergegangen ist. Aber ebenso wahr ist es, dass sich Sein wie Nichts aus ihrem Anderen wieder herstellen. Somit ist das Sein in Nichts, dann aber wieder in Sein übergegangen, wie auch das Nichts in Sein, dann aber wieder in Nichts übergegangen ist. Das ist nicht ein wechselseitiges Auslöschen, sondern eine wechselseitige Rückgewinnung. Damit ist nicht etwa eine Iteration eingeleitet, sondern eine Einheit nachgewiesen. Unter den Überschriften „Sein“ und „Nichts“ mögen fast identische Texte stehen, aber das aus buchstäblich gegensätzlichen Gründen: Zunächst geht es um den Abweis jeder Differenz, der aber gerade darum selbst Differenz als das Nichts setzt. Das Nichts hingegen erweist sich als Rücknahme dieser Differenz, als Selbigkeit der Differenten. Das positive Sein wird sich negativ, Nichts; dieses Nichts ist aber das Nichts dessen, woraus es resultiert, somit positiv, ununterschieden vom Sein. Das Sein erzeugt von sich aus seine eigene Negation, durch Geltendmachen des Unterschieds, um sich durch Negation dieser Negation, durch Dementieren dieses Unterschieds affirmativ als Ununterschiedenes wiederherzustellen und so als Sein überhaupt begreifbar zu sein. Damit wird Unmittelbarkeit erst über ihre Vermittlung fass14

Seinslogik, S. 100.

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bar. „Sein, ohne alle weitere Bestimmung“ muss daher gedeutet werden nicht als Bestimmungslosigkeit, denn sonst hieße es „ohne alle Bestimmung“. Tatsächlich liegt es in der Bestimmung der Negativität vor und ergänzt sich somit – nicht zum Sein, das nicht das Nichts ist, denn das wäre die Exklusion seines Gegensatzes und bloße doppelte Negation, sondern als Sein, indem es nicht das Nicht ist – ebenso wie sich das Nichts bestimmt als das Nichts, indem es nicht das Sein ist. In beiden Fällen haben wir es also mit einer bestimmten Negation zu tun, nicht bloß mit einer doppelten, indem der Gegensatz als konstitutiv für die Affirmation der Bestimmung gedacht ist. III. Fazit: Die bestimmte Negation als Hegels Grundoperation Die so entstandene negierte Negation bedeutet im Gegensatz zur doppelten Negation keineswegs einfach Aufhebung oder Rücknahme des Negationszeichens. Sondern beide, Sein wie Nichts, müssen als ihre Negationen doppelt vorliegen,15 da sie nur bestehen können als Negation ihres Gegensatzes. Beide, Sein und Nichts, liegen also insofern als eine Einheit vor, als sie selbst in ihr Anderes übergehen und sich aus diesem Anderen wiederherstellen. Dieses Wiederherstellen ist das, was Hegel Aufhebung nennt: das Resultat der bestimmten Negation, oder anders: die Auflösung des sich notwendig einstellenden Widerspruchs. Dazu kann, anders als bei der doppelten Negation, des Anderen nicht entbehrt werden: Das Unmittelbare muss sich negativ werden, um als Negation dieses Negativen als Unmittelbares überhaupt erst ansprechbar zu sein. Die Vermittlung ist somit der Grund, dass es als Unmittelbares überhaupt adressierbar ist. Der Grund als Denkbestimmung eigenen Rechts ist die Kategorie, in welche sich die Bestimmung des Widerspruchs in der Wesenslogik auflöst, und in ihr ist das Paradigma der bestimmten Negation explizit gemacht, die hier, am Anfang der Seinslogik, aber bereits in Geltung ist. Damit ist aber der Einwand vom Tisch, wonach jedes philosophische System eine oder mehrere intuitive Gewissheiten zum Ausgang nehmen muss, die selbst nicht bewiesen werden können, oder, mit Aristoteles zu sprechen, nicht zu bewiesen werden brauchen, und damit unrettbar skeptischer Kritik anheimfällt. Denn da das Unmittelbare sich als vermittelt erwiesen hat, und anders als Unmittelbares gar nicht gefasst werden kann, holt es seine logische Legitimation ein: Die Einheit des Sein und Nichts ist der Grund, warum mit dem Sein als Unmittelbaren angefangen wird und warum am Sein unmittelbar sich das Nichts gleichsam entlädt in einem logischen Urknall, aus dem durch die Kraft des Negativen das logische Universum entsteht. Auch deshalb erscheint es mir geboten, die bestimmte Negation mit Dieter Henrich als Hegels Grundoperation zu bezeichnen, aber zudem, anders als Henrich, diese Grundoperation klar auf die bestimmte Negation zu beziehen. Hegel weist nun das Resultat der

15 Vgl. Dieter Henrich, Hegels Grundoperation, in: Ute Guzzoni, Bernhard Rang und Ludwig Siep (Hrsg.), Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx, Hamburg 1976, S. 208 – 230 (S. 214 ff.).

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bestimmten Negation zugleich als Grund aus, und zwar im Abschnitt „Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden“: Man muß zugeben, daß es eine wesentliche Betrachtung ist – die sich innerhalb der Logik selbst näher ergeben wird -, daß das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund, zu dem Ursprünglichen und Wahrhaften ist, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, abhängt und in der Tat hervorgebracht wird.16

Zwar zeitigt die Entwicklung ein neues Resultat, in das sich die Bestimmungen des Seins, des Nichts und des Werdens aufgehoben haben: Das Dasein. Als solches ist es der Grund des unmittelbaren Seins und des daraus abgeleiteten Nichts. Wieso aber kann das Sein nicht als der Grund des Daseins gelten? Dies deshalb nicht, weil erst im Resultat des Seins, dem Dasein, explizit wird, warum das Sein unmittelbar ins Nichts umschlägt und dieses unmittelbar ins Sein. Warum nun aber im Dasein Sein und Nichts identisch sind, hat sich an dieser neuen Denkbestimmung erneut explizit zu machen, auch diese harrt eines Grundes, d. i. einer Vermittlung. Denn da in der Einheit des Seins und des Nichts eine Vermittlung liegt, diese aber einer Negationsbewegung folgt, die in zwei negierten Negationen bestand, so hat sich mit der Negation der Negation durch die bestimmte Negation die Vermittlung des Seins im Dasein aufgehoben, sie liegt, wie Hegel sich ausdrückt „hinter ihm“. Das Dasein hat daher selbst „die Form von einem Unmittelbaren“17. Da es die Form eines Unmittelbaren hat, folgt, dass nun das Dasein „als ein erstes“ erscheint, von dem ausgegangen werde18. Wie ich bereits am Beispiel des Seins gezeigt habe, folgt aus dieser Unmittelbarkeit selbst die Notwendigkeit ihrer Vermittlung, wobei es sich beim Dasein freilich um ein reicheres Unmittelbares handelt, nämlich dem der Einheit von Sein und Nichts, die im unmittelbaren Sein noch nicht gegeben war. Die dialektischen Bewegungen beruhigen sich in der ganzen Logik wieder zu etwas abstrakt Unmittelbaren,19 womit dem Umstand Rechnung getragen wird, dass Denkbestimmungen, nicht dialektisch betrachtet, tatsächlich als unmittelbare Gewissheiten erscheinen können. Es hat sich gezeigt, dass die bestimmte Negation tatsächlich eine objektiv-notwendige Ableitung zulässt, weil die logischen affirmativen Bestimmungen von Anfang an nur als selbstbezogene Negativität sind und sich so in der Fortentwicklung ihre Negation, von der es eben nur eine gibt, inkorporieren, diese Ableitung hat sich zwanglos aus der Sache ergeben, sie zeitigt Zwischenergebnisse, die sich als frei von 16

Seinslogik, S. 59 f. Seinslogik, S. 103. 18 Vgl. ebd. 19 Z. B.: „Das Wesen ist die einfache Unmittelbarkeit als aufgehobene Unmittelbarkeit.“ (Wesenslogik, S. 27) „Die zur Unmittelbarkeit fortgegangene Wesenheit ist zunächst Existenz und Existierendes oder Ding“. (Ebd., S. 104) „Der Begriff ist zuerst der formelle, der Begriff im Anfang oder der als unmittelbarer ist.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Begriff [1816], Hamburg 2003, S. 31) „Das Urteil, wie es unmittelbar ist, ist es zunächst das Urteil des Daseins“. (Ebd., S. 66) „Vors erste nun ist die Objektivität in ihrer Unmittelbarkeit“. (Ebd., S. 156). 17

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Vermittlung zeigen und die uns vertraute Gestalt von Kategorien haben, und sie löst das skeptische Problem des Anfangs und vermeintlich unmittelbarer Gewissheiten, die ja weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung sein können, indem in der bestimmten Negation sich die Vermittlung unmittelbar aus der Unmittelbarkeit ergibt. Da bestimmte Negation all dies leistet, gehört sie auf jedem Fall zum Besten von Hegel.

Hegels Wende in der Erkenntnistheorie Friedrike Schick I. „Was kann ich wissen?“ Wenn man von Erkenntnistheorie spricht, denkt man gemeinhin an jene philosophische Disziplin, die sich in der Neuzeit herausgebildet hat und deren charakteristisches Erkenntnisinteresse sich kurz und bündig in Kants berühmter Frage aus der Kritik der reinen Vernunft ausdrückt: „Was kann ich wissen?“1 Hegel unterzieht diese Ausrichtung von Erkenntnistheorie einer – wie der zweite Teil des Beitrags zeigen soll: einleuchtenden – grundsätzlichen Kritik und gibt der Erkenntnistheorie in der Konsequenz eine – im dritten Teil kurz beschriebene – neue Ausrichtung. Damit seine Kritik klar nachvollzogen werden kann, möchte ich zunächst im rohen Umriss die Besonderheit jener Art von Erkenntnistheorie beschreiben, auf die Hegels Kritik gemünzt ist. Ihre Besonderheit besteht darin, dass der Akzent des theoretischen Interesses von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit von Erkenntnis verlagert wird. Das heißt nicht, dass das Thema, was Erkenntnis ist und wie sie wirklich von statten geht, gar nicht vorkäme; aber Bestimmungen des Erkennens, wie man es in seiner Wirklichkeit kennt, kommen dann wesentlich relativ, im Hinblick auf die übergreifende Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis, zum Tragen. Diese Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis zielt im Rahmen der neuzeitlichen Erkenntnistheorie vornehmlich auf eine Bestimmung der Reichweite – damit also umgekehrt der Grenzen – möglicher Erkenntnis, und das auch in qualitativem Sinn: es geht darum, zu erkunden, ob menschliche Erkenntnis in bestimmten Gegenstandsbereichen möglich, in anderen dagegen unmöglich sein könnte. Damit richtet sich der Blick auf die Leistungsfähigkeit des Erkenntnisvermögens, was dessen eigene Ausstattung betrifft, sowie auf die Bedingungen, die externen Voraussetzungen, an die die Ausübung des Erkenntnisvermögens gebunden ist. Die Rede von „dem“ Erkenntnisvermögen lässt sich dabei bestimmter qualifizieren: In der Regel ist es das Denken – das Vermögen zu Verstandes- oder Vernunfttätigkeit2 in Begriffen, Urteilen und Schlüssen –, das daraufhin untersucht werden soll, wie weit seine Kräfte reichen – eo ipso: wohin sie dann nicht mehr reichen – und worauf der erfolgversprechende Gebrauch dieses Vermögens beruht, wovon er dann aber auch abhängt.

1

Kant, KrV A 805/B 833; siehe auch Kant, Logik Jäsche, S. 25. Die Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, wie sie einerseits bei Kant, andererseits bei Hegel durchgeführt ist, spielt für diese Ausgangscharakteristik keine Rolle. 2

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Diese spezifische Weise, sich dem Verstand theoretisch zu widmen, zeugt von einer Art grundsätzlichem Selbstzweifel. Woher diese Verstandeszweifel rühren, darüber geben die Klassiker der Erkenntnistheorie vor Hegel in ihren Einleitungen oder Vorreden auch Auskunft – so, eher andeutungsweise, John Locke im „Sendschreiben an den Leser“ zu seinem Versuch über den menschlichen Verstand (1689); eindeutig dann David Hume im ersten Abschnitt der Untersuchung über den menschlichen Verstand (1748); und schließlich, ganz ausführlich, Immanuel Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik reinen Vernunft (1787).3 Demnach liegt der Ausgangspunkt in den schlechten Erfahrungen, die man mit den höchsten oder letzten Fragen, mit den Themen der Metaphysik und hier besonders der metaphysica specialis, gemacht hat. So bescheinigt Kant der Metaphysik, dass sie es trotz ihres hohen Alters bisher nicht geschafft habe, „den sichern Gang einer Wissenschaft einzuschlagen“ (KrV B XIV), nämlich zu Erkenntnissen zu kommen, auf denen sie fortschreitend hätte aufbauen und auf die sich die Vertreter des Fachs einhellig hätten verständigen können – woraus Kant den Schluss zieht, „dass ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei“ (KrV B XV). Diesen schlechten Erfahrungen mit der Metaphysik stehen gute Erfahrungen in anderen Wissenschaften gegenüber – den älteren der Mathematik und der Logik, den jüngeren, dann so genannten „empirischen“ Wissenschaften, besonders den Naturwissenschaften. Diese gemischte Erfahrung nährt den Anfangsverdacht oder die Ausgangshypothese, dass der menschliche Verstand so eingerichtet sein könnte, dass er zwar für bestimmte, begrenzte Erklärungsleistungen im Feld der Erfahrung geeignet sei, aber möglicherweise ungeeignet, einfach nicht gebaut für die theoretische Bearbeitung der höchsten Fragen, die auf die höchste Wahrheit und das höchste Gute, die letzten Gründe der Welt im Ganzen und der Stellung des Menschen darin zielen. In dieser Frage Klarheit zu gewinnen – das ist, nach Auskunft der klassischen neuzeitlichen Erkenntnistheorie, der Grund dafür, sich eigens einer Untersuchung des menschlichen Verstandes zu widmen. Bezogen auf die Fragen der Metaphysik bedeutet das, die theoretische Befassung mit ihnen jedenfalls vorderhand auszusetzen zugunsten der Untersuchung des Verstandes – als des möglicherweise ungeeigneten Vermögens, jene Fragen zu beantworten.4 In dieser Wende von der Metaphysik zur 3

Vgl. Locke, Versuch, S. 7; Hume, Untersuchung, S. 4; KrV B XIV–B XV. So exemplarisch Locke im „Sendschreiben an den Leser“: „Dürfte ich Dich mit der Entstehungsgeschichte dieses Essays behelligen, so würde ich Dir folgendes erzählen: fünf oder sechs Freunde trafen sich in meiner Wohnung und erörterten ein von dem gegenwärtigen sehr weit abliegendes Thema; hierbei gelangten sie bald durch Schwierigkeiten, die sich von allen Seiten erhoben, an einen toten Punkt. Nachdem wir uns so eine Zeitlang abgemüht hatten, ohne einer Lösung der uns quälenden Zweifel irgendwie näherzukommen, kam mir der Gedanke, daß wir einen falschen Weg eingeschlagen hätten und vor Beginn solcher Untersuchungen notwendig unsere eigenen geistigen Anlagen prüfen und zusehen müßten, mit welchen Objekten sich zu befassen unser Verstand tauglich sei. Ich setzte das der Gesellschaft auseinander, und alle stimmten mir bereitwillig zu, worauf wir vereinbarten, daß dieser Frage 4

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Erkenntnistheorie steckt freilich mehr als ein einfacher Themenwechsel: Indem sich das kritische Augenmerk von den metaphysischen Fragen, die den Anstoß zur erkenntnistheoretischen Reflexion gegeben haben, weg- und der Kritik des Verstandes zuwendet, ist eines über die metaphysischen Fragen selbst vorentschieden. Sollten sie sich tatsächlich als unbeantwortbar zeigen, dann geht das auf die Rechnung des menschlichen Verstandes beziehungsweise eines Missverhältnisses zwischen der Aufgabe und den Mitteln, die zu ihrer Bewältigung zur Verfügung stehen. In dieser Hinsicht lässt also die Wende in die Erkenntnistheorie die Metaphysik selber ungeschoren. Das Schlimmste, was dieser durch die Erkenntniskritik widerfahren kann, ist unter diesen Vorzeichen ihre Trennung vom menschlichen Verstand. Das allerdings, meint Hegel, wäre eine Konsequenz, die weder die Metaphysik noch der menschliche Verstand aushielten. II. Hegels Kritik der Kritik des Erkenntnisvermögens Hegel hat diese Form von Erkenntnistheorie, einer Erkenntnistheorie, die angelegt ist als eine Kritik des Erkenntnisvermögens angesichts wirklich oder vermeintlich unbeantwortbarer letzter Fragen, grundsätzlich kritisiert. Seine Kritik lässt sich in drei zusammenhängende Teilkritiken gliedern, nämlich erstens den Zirkeleinwand; zweitens die Kritik der instrumentellen Auffassung des Denkens; und drittens die Kritik der Annahme von Grenzen denkender Erkenntnis. Diese drei Teilkritiken ergänzen einander zu einer umfassenden Kritik der Kritik des Erkenntnisvermögens, indem sie erstens die Prüfung selbst, zweitens die darin unterstellte Definition des Prüfungsgegenstands und drittens das darin vorprogrammierte Resultat der Prüfung betreffen.5 1. Der Zirkel der erkennenden Prüfung des Erkenntnisvermögens Was sich die skizzierte Erkenntnistheorie zu prüfen vornimmt, ist das Erkenntnisvermögen. Ehe man es weiterhin unbesehen in der Verfolgung letzter Fragen einsetzt, nimmt man es selbst in den Blick, um festzustellen, ob es zu solchen Aufgaben geunsere erste Untersuchung gelten sollte.“ (Locke, Versuch, S. 7). –Vgl. auch Hume, Untersuchung, S. 5 f.; und Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft: „Noch weniger [als ein Organon der reinen Vernunft; d. V.] darf man hier eine Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft erwarten, sondern die des reinen Vernunftvermögens selbst. Nur allein, wenn diese zum Grunde liegt, hat man einen sicheren Probirstein, den philosophischen Gehalt alter und neuer Werke in diesem Fache zu schätzen; widrigenfalls beurtheilt der unbefugte Geschichtschreiber und Richter grundlose Behauptungen anderer durch seine eigene, die eben so grundlos sind.“ (KrV B 27). 5 Ein Hinweis zur Reichweite der im Folgenden vorgestellten Kritik: Wenn sich auch die meisten der angeführten Passagen direkt auf Kant beziehen – sie stammen etwa aus dem KantKapitel von Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie oder aus den auf Kant bezogenen Paragraphen des „Vorbegriff“ zur Logik der Enzyklopädie –, so schließt das nicht aus, dass damit die ganze eben skizzierte Art von Erkenntnistheorie getroffen ist.

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eignet ist. Dieses Projekt der Prüfung begeht einen prekären Zirkel, den Hegel wie folgt diagnostiziert: Das Erkenntnisvermögen untersuchen heißt, es erkennen. Die Forderung ist also diese: man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist, – nicht zu sich kommen, weil es bei sich ist.6

Die Prüfung des Erkenntnisvermögens ist selbst eine Betätigung, ein Anwendungsfall des Vermögens, dessen Tauglichkeit gerade geprüft werden soll. Man kommt nicht umhin, für die Prüfung selbst in Anspruch zu nehmen, was man zugleich erst und bestenfalls als Resultat der Prüfung zu erreichen meint. Das Vorhaben begründet sich durch einen Zweifel in die Leistungsfähigkeit des Erkennens, der für die Erkenntnis seiner Leistungsfähigkeit gerade nicht gelten soll. Dieser Zirkel – das bestimmte Resultat in der Prüfung selbst schon voraussetzen zu müssen – lässt sich auch als Dilemma ausführen. Einerseits gilt die Prüfung als nötig. Es besteht der Verdacht, dass das Erkenntnisvermögen Mängel produziert, die oder deren Grund am Produkt – an den Begriffen, Urteilen, Schlüssen – nicht erkennbar und auflösbar wären, sondern eben erst im Rückgang auf das sie produzierende Vermögen. Unter dem Vorzeichen dieses Verdachts ist aber nicht abzusehen, warum dasselbe Erkenntnisvermögen sich und uns in seinem Sondereinsatz zur Selbstprüfung nicht den gleichen Streich spielen und seine Beschränktheit genauso in die Prüfung selbst einschmuggeln sollte wie es das gegebenenfalls in metaphysischen Fragen zu tun in Verdacht steht. Andererseits gilt die Prüfung nicht nur als nötig, sondern eben auch als möglich. Für die Prüfung des Erkenntnisvermögens, für diesen Fall seiner Aktivierung, muss also davon ausgegangen werden, dass wirkliche Erkenntnis ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens zu haben sein wird. Wenn das aber in diesem Fall so ist – warum sollte es dann in anderen Fällen nicht so sein? Die Prüfung des Vermögens des Verstandes, Erkenntnis zuwege zubringen, ist also nicht möglich, wenn sie notwendig ist, und überflüssig, wenn sie möglich ist. 2. Hegels Kritik der instrumentellen Auffassung des Denkens Das Projekt der Prüfung des Erkenntnisvermögens führt nicht nur die Prüfung selbst in den Zirkel, das Resultat der Prüfung in ihr selbst voraussetzen zu müssen, sondern enthält auch eine irreführende Vorstellung von ihrem Gegenstand. Es macht für die kritische Rückwendung auf das Erkennen selbst ja einen bedeutenden Unterschied, ob man es in der Befassung mit bestimmten Gegenständen betrachtet oder aber „vor“ aller solcher Befassung, unabhängig von jedem bestimmten Einsatz. Diese Unterscheidung scheint auch erst einmal ganz plausibel – und doch steckt 6 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, S. 334; vgl. GW 30.2 (Nachschrift Hotho 1823/24), S. 750.

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nach Hegel auch darin ein Irrtum, den er (in derselben Passage aus dem Kant-Kapitel seiner Philosophiegeschichte) wie folgt aufspießt: Sie wird auch kritische Philosophie genannt, indem ihr Zweck zunächst ist, sagt Kant, eine Kritik des Erkenntnisvermögens zu sein. Vor dem Erkennen muß man das Erkenntnisvermögen untersuchen. Das ist dem Menschenverstand plausibel, ein Fund für den gesunden Menschenverstand. Das Erkennen wird vorgestellt als ein Instrument, die Art und Weise, wie wir uns der Wahrheit bemächtigen wollen; ehe man also an die Wahrheit selbst gehen könne, müsse man zuerst die Natur, die Art seines Instruments erkennen. Es ist tätig; man müsse sehen, ob dies fähig sei, das zu leisten, was gefordert wird, – den Gegenstand zu packen; man muß wissen, was es an dem Gegenstand ändert, um diese Änderungen nicht mit den Bestimmungen des Gegenstandes selbst zu verwechseln. – Es ist, als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte.7

Was heißt es genau und inwiefern ist es der Fall, dass eine Kritik des Erkenntnisvermögens eine instrumentelle Auffassung vom Erkennen impliziert – und inwiefern ist eine solche Auffassung verkehrt? Auf den ersten Blick ist es nicht offenkundig, dass mit dem Vorhaben, das Erkenntnisvermögen einer Kritik zu unterziehen, schon eine bestimmte, eingeschränkte Auffassung von der Natur des Erkennens verbunden ist. Ob man sich einer Tätigkeit als wirklich ausgeübter oder dem Vermögen zu ihr widmet, scheint am Inhalt der Untersuchung kaum etwas zu ändern – ist doch das Vermögen nichts anderes als das Beherrschen ebender Tätigkeit, die wirklich ausgeübt wird. Zwar ist das Vermögen zu einer bestimmten Tätigkeit stets allgemeiner als jede einzelne Aktualisierung desselben, aber nicht allgemeiner als das Allgemeine jener Tätigkeit selbst. Doch der Fall liegt hier, bei der Kritik des Erkenntnisvermögens, anders. Hier ist die Sache so vorgestellt, dass auf der einen Seite unser Erkenntnisvermögen, nämlich als für sich selbstständig bestimmte Voraussetzung des Erkennens, steht und auf der anderen Seite das Ziel, auf das hin dieses Vermögen eingesetzt wird: die Wahrheit über den jeweiligen Gegenstand herauszufinden, ihn zu erkennen. In der als Kritik des Erkenntnisvermögens angelegten Erkenntnistheorie ist gerade die Frage, wie es um die Beziehung dieser beiden Seiten steht: ob oder wie weit also das Erkenntnisvermögen mit der ihm eigenen Grundausstattung (den Kategorien, Urteils- und Schlussformen) auf das Ziel Wahrheit, objektive Gegenstandserkenntnis, geeicht ist. Das impliziert, dass jener vorausgesetzten Ausstattung dieses Ziel nicht einbeschrieben ist – indem es eben dieser Vorstellung zufolge schon außer der Beziehung auf dieses Ziel ist, was es ist. Das Allgemeine des Erkennens ist in diesem Sinn wie ein Ding oder wie ein Set von Verfahrensweisen behandelt, das zwar der Absicht seines Verwenders nach für wirkliche Erkenntnis eingesetzt werden soll, nach seiner eigenen Beschaffenheit dafür aber mehr oder weniger geeignet sein kann, indem es in die Beziehung zu diesem Zweck, in seinen Einsatz als Mittel, seine eigene Natur mitbringt, die unabhängig von diesem Zweck bestimmt ist. Anders gesagt: Er7 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, TWA 20, S. 333 f.; GW 30.2 (Nachschrift Hotho 1823/24), S. 750.

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kenntnis im Sinn des angezielten Resultats wird implizit wie ein dem Allgemeinen des Erkennens externer Zweck behandelt. Insofern gehört zum Programm der Kritik des Erkenntnisvermögens tatsächlich eine instrumentelle Auffassung vom Erkennen selber: Indem die Prüfung erst noch ergeben soll, wie sich die subjektive Voraussetzung zum Ziel verhält, ist das Verhältnis des Erkennens zu seinem eigenen Ziel unter der Hand einem Verhältnis äußerer Zweckmäßigkeit assimiliert. Diese Sichtweise ist, wie das Zitat zeigt, für Hegel offensichtlich ein theoretischer Skandal. Worin liegt jetzt das Unsinnige einer instrumentellen Auffassung vom Erkennen qua Erkenntnisvermögen? Indem gemäß dieser Auffassung das Erkennen qua Vermögen unabhängig von seinem Gegenstandsbezug bestimmt ist, folgt, dass das Vermögen in seinem Einsatz diese seine eigenen Bestimmungen am Gegenstand geltend machen wird. Der Gegenstand wird also aus dem Einsatz der Verstandeskräfte formiert, verändert hervorgehen – und zwar verändert in einer Weise, die damit, was er ist, nichts zu tun hat. Die Wirklichkeit und das Resultat der Betätigung des instrumentell gedachten Erkenntnisvermögens müssen, konsequent weitergedacht, als Verfremdung, als Entstellung des Gegenstands erscheinen – also als das Gegenteil dessen, worum es beim Erkennen geht: den Gegenstand in dem zu erfassen, was er an sich selber ist. Genauer besehen behandelt Hegel in der zitierten Passage zwei Vorstellungen, die beide zu dem äußerlichen Verhältnis gehören, das die Kritik des Erkenntnisvermögens impliziert: einmal das eben besprochene Bild der Formierung des Gegenstands durch das Denken; das andere Mal das Bild des Erkennens als Jagdszene, nach der es gilt, den Gegenstand zu packen. Nach diesem Bild liegt die Wahrheit über den Gegenstand, also das Ziel des Erkennens, ihrerseits schon unabhängig vom Erkennen vor. Erkenntnis wird nicht hervorgebracht, sondern nur eingefangen; und unsere Erkenntnisausstattung ist dafür das Jagd- oder Fangmittel. Zu dieser ersten Vorstellungsvariante schreibt Hegel in der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes: Sollte das Absolute durch das Werkzeug uns nur überhaupt nähergebracht werden, ohne etwas an ihm zu verändern wie etwa durch die Leimrute der Vogel, so würde es wohl, wenn es nicht an und für sich schon bei uns wäre und sein wollte, dieser List spotten; denn eine List wäre in diesem Falle das Erkennen, da es durch sein vielfaches Bemühen ganz etwas anderes zu treiben sich die Miene gibt, als nur die unmittelbare und somit mühelose Beziehung hervorzubringen.8

Das heißt in unserem Zusammenhang: Wäre das Ziel des Erkennens seinerseits etwas, was unabhängig vom Erkennen vorliegt wie ein äußerliches Ding, das man finden, über das man stolpern kann, so wäre unerfindlich, wieso wir uns in der Tätigkeit des Erkennens so viel Mühe geben; denn in der Tätigkeit des Erkennens steckt ja, dass die Wahrheit über einen Gegenstand nicht vorgefunden, sondern durch Nachdenken erschlossen wird.

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TWA 3, S. 69; GW 9, S. 53.

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Die Einleitung in die Phänomenologie des Geistes spinnt den Faden noch ein Stück weiter: Innerhalb der Vorstellung vom Erkennen als eines Erkenntnismittels sieht es zunächst so aus, als könnte gerade die selbständig unternommene Untersuchung jenes Mittels die Veränderungen, die es am Gegenstand vorgenommen hat, erkennen helfen, um diese Veränderungen dann wieder vom Resultat abziehen zu können und den Gegenstand endlich so zu erhalten, wie er an sich selber sei: Allein diese Verbesserung würde uns in der Tat nur dahin zurückbringen, wo wir vorher waren. Wenn wir von einem formierten Dinge das wieder wegnehmen, was das Werkzeug daran getan hat, so ist uns das Ding – hier das Absolute – gerade wieder soviel als vor dieser überflüssigen Bemühung.9

Erkenntnistheorie als Kritik des Erkenntnisvermögens impliziert also eine Ansicht über das Erkennen, in der es das Ziel, nach dem es benannt und das auch von der Erkenntnistheorie selbstverständlich als sein Ziel vorausgesetzt wird, unmöglich erreichen kann. 3. Der Widerspruch erkannter prinzipieller Grenzen der Erkenntnis Im letzten Abschnitt ging es darum, die irreführende Auffassung des Erkennens zu identifizieren, die im Programm der Kritik des Erkenntnisvermögens impliziert ist – die es mitführt, unabhängig davon, ob Erkenntnistheoretiker, die dieses Programm verfolgen, diese Auffassung selbst vertreten. Doch die Erkenntnistheorie kommt auch selbst im Ergebnis explizit zu negativen, näher: einschränkenden, relativierenden Urteilen über die Kapazitäten des menschlichen Erkenntnisvermögens. Sie diagnostiziert im Resultat prinzipielle Grenzen der Erkenntnis. Diesen Anspruch, prinzipielle Grenzen der Erkenntnis als solche erkennen zu können, kritisiert Hegel, ebenfalls direkt bezogen auf die Kantische Philosophie, doch wiederum mit allgemeinerer Bedeutung. Sein Kernargument dazu lautet: Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. […] Schranke, Mangel des Erkennens ist ebenso nur als Schranke, Mangel bestimmt durch die Vergleichung mit der vorhandenen Idee des Allgemeinen, eines Ganzen und Vollendeten. Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist.10

Zur Abgrenzung des Gegenstands von Hegels Kritik mag es hilfreich sein, daran zu erinnern, worum es dabei nicht geht: Von Grenzen ist hier nicht die Rede im Sinn der Umfangsunterscheidung zwischen dem, was auf einem je gegebenen Stand zum Fundus des Wissens der Menschheit gehört, und dem, was nicht dazu gehört. Es ist kein Widerspruch, anzunehmen, dass der je vorhandene Fundus erweiterbar ist. Man muss ihn nicht schon erweitert haben, um zu dieser Annahme zu kommen; dafür rei9

TWA 3, S. 69; GW 9, S. 53 f. Hegel, Enzyklopädie, § 60 Anmerkung; TWA 8, S. 144; GW 20, S. 97 f.

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chen vielmehr schon bestimmte offene Fragen aus, die sich von dem je vorhandenen Fundus aus stellen. Die Grenzthese, um die es hier geht, will aber nicht das schon Erkannte vom noch nicht Erkannten unterscheiden, sondern, prinzipieller, den Bereich des objektiv Erkennbaren auf der einen Seite von einem Bereich des objektiv Unerkennbaren auf der anderen Seite. Worin sieht Hegel hier einen Widerspruch? Seine Kritik setzt da an, wo die Erkenntnistheorie gerade nicht von – verschiebbaren, variablen – Umfangsgrenzen spricht, sondern von Grenze im Sinn von Schranke oder Mangel. Im Begriff der Schranke steckt ganz allgemein ein kritischer Vergleich zwischen der Allgemeinheit und Besonderheit eines Individuums: Das beschränkte Wesen bleibt in seiner aktuellen Verfassung hinter dem zurück, was ihm seinem Begriff nach zukommt. Wie es gerade ist, entspricht nicht seiner allgemeinen Natur. Was heißt das für den Anspruch, Schranken der Erkenntnis erkannt zu haben oder erkennen zu können? Es heißt, dass dieser Anspruch impliziert, dass Erkenntnis als solche, ihrem Begriff, ihrer allgemeinen Natur nach, nicht das Beschränkte, sondern das Maßstabsetzende ist; und dass Erkenntnis, insofern sie beschränkt ist, nicht so ist, wie sie – als Erkenntnis – sein sollte und sein könnte. Insofern steckt im Anspruch der Grenzziehung zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren immer auch das Dementi der – einer solchen – Grenze. Dieses Argument Hegels hängt nicht davon ab, wie weit sich ein Vertreter der Grenzthese selber schon auf das neblige Terrain des Unerkennbaren begeben hat. Es nutzt z. B. nichts, in Verteidigung der Grenzthese in Bezug auf das Unerkennbare wirklich, ganz konsequent, Urteilsenthaltung zu üben. Man kann den Bereich so unangetastet lassen wie man will – der Widerspruch steckt im Urteil über das Erkennen. Die Grenzdiagnose unterscheidet das Erkennen (im Besonderen) von sich (im Allgemeinen) – und muss ihm für die Triftigkeit des negativen Urteils selber die Erkenntnis als möglich und zugehörig zubilligen, die sie ihr zugleich verweigert.

III. Positive Konsequenzen: Erkenntnistheorie in der Konzeption der Wissenschaft der Logik Dass die Formen des Erkennens selbst auch zum Gegenstand des Erkennens gemacht werden – dieses wissenschaftliche Unternehmen hat Hegel mit seiner Kritik keineswegs verabschiedet. Vielmehr zieht er aus der negativen Abteilung seiner Kritik einen Schluss darauf, wie dieses Unterfangen in einer eigenen philosophischen Disziplin, nämlich einer Wissenschaft der Logik, zu verwirklichen sei, und widmet der Durchführung (nicht nur) sein gleichnamiges Buch. Im Schlussteil dieses Beitrags soll kurz nachvollzogen werden, wie sich Grundzüge der Konzeption dieser neuen Theorie des Erkennens aus der Kritik der Erkenntnistheorie, verstanden als Kritik des Erkenntnisvermögens, ergeben. Näher geht es um drei Grundzüge der Neukonzeption, die den drei behandelten Kritikpunkten korrespondieren. Der erste Einwand betraf den Zirkel, in den sich die erkennende Prüfung des Erkenntnisvermögens begibt. Wie kann nun angesichts dieses Einwands eine Theorie

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des Erkennens verfasst sein, die sich nicht in diesem Zirkel verfängt und trotzdem nichts von dem Anspruch nachlässt, eine erkennende kritische Selbstprüfung zu sein? Dazu ein Zitat aus dem Vorbegriff der enzyklopädischen Logik, wieder direkt bezogen auf die Kritische Philosophie: Allerdings sollen die Formen des Denkens nicht ununtersucht gebraucht werden, aber dies Untersuchen ist selbst schon ein Erkennen. Es muß also die Tätigkeit der Denkformen und ihre Kritik im Erkennen vereinigt sein. Die Denkformen müssen an und für sich betrachtet werden; sie sind der Gegenstand und die Tätigkeit des Gegenstandes selbst; sie selbst untersuchen sich, müssen an ihnen selbst sich ihre Grenze bestimmen und ihren Mangel aufzeigen.11

Die zitierte Stelle schließt direkt an den Zirkeleinwand an. Was aber heißt das – „die Tätigkeit der Denkformen und ihre Kritik müssen vereinigt sein“? Die Gegenvorstellung war ja: Eigentlich sollten die Denkformen jetzt einmal außer Aktion, außer Gebrauch gestellt und zur Inspektion gebracht werden. Das ergab den Widerspruch: Das Inspizieren geht nicht, ohne selber ein Betätigen der Denkformen zu sein. Gerade dieses Zusammenfallen von prüfender Tätigkeit und zu prüfendem Gegenstand bildete das Problem. Tut Hegel hier nun etwas anderes als just diesen Zusammenfall kaltlächelnd als Lösung, als Überwindung des Zirkels auszugeben? – Das wäre ein Missverständnis, das nämlich nach wie vor vom Werkzeugmodell des Erkennens ausginge. In dessen Rahmen bliebe freilich die Einsicht, dass man zur Inspektion auf dasselbe Werkzeug festgelegt ist, an dessen Tauglichkeit man schon Grund zu zweifeln fand, eine schlechte Nachricht. In diesem Rahmen bliebe es bei einem resignierenden „Etwas Besseres haben wir aber nun mal nicht“. Aber die Assimilation des Erkennens an den Werkzeuggebrauch ist ja selber schon kritisiert. Was also ist dann Hegels Aussage, was bedeutet es jetzt, dass das Untersuchen des Erkennens selber ein Erkennen ist? Es bedeutet: Denkformen – den Kategorien, Urteils- und Schlussformen – ist das Ziel des Erkennens, nämlich den jeweiligen Gegenstand des Denkens adäquat zu bestimmen, selbst einbeschrieben. Sie müssen nicht erst extern, anwendungsweise, auf dieses Ziel bezogen werden, sondern sind selber nichts anderes als Fassungen dessen, was es heißt, einen Gegenstand zu bestimmen. Das sei kurz an einem Beispiel, der elementaren Form des Urteils, erläutert: Ein einzelner Gegenstand wird durch eine allgemeine Qualität bestimmt. Im Licht der Frage nach der Identität von Tätigkeit und Kritik kann daran auffallen: Diese Denkform enthält offenbar selber schon die ganze Unterscheidung und Beziehung zwischen Gegenstand und Bestimmung, nach der die Erkenntnistheorie fragt; ja sie besteht überhaupt in nichts anderem als darin, diese Unterscheidung und Beziehung in einer bestimmten Art und Weise durchzuführen. Das elementare Urteil definiert sowohl die Form des Gegenstands als auch die Form von Bestimmung und damit die Form der Beziehung beider aufeinander.

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Enz § 41, Zusatz 1; TWA 8, 114.

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Als Vorstellungshilfe des hier an der elementaren Urteilsform Festgestellten kann man sich zu jeder Form des Erkennens eine entsprechende Aussage darüber denken, in der eine Definition dessen festgehalten wird, was es heißt, etwas zu erkennen. Im Beispiel würde diese Aussage etwa lauten: Erkennen besteht darin, den gegebenen einzelnen Gegenstand durch eine allgemeine Qualität zu bestimmen. Parallel dazu hätten wir dazu eine Definition dessen, was es heißt, ein Gegenstand zu sein. Die Parallelaussage würde lauten: Ein Gegenstand zu sein – das besteht darin, ein qualitativ bestimmtes Einzelnes zu sein. In diesen Aussagefassungen haben wir prüfbare allgemeine Aussagen über Bestimmen und Bestimmtsein vor uns. Und woher kommt dann der Maßstab für eine entsprechende Prüfung von Denkformen? Es sind die Denkformen selber, die den ihnen adäquaten Maßstab für ihre Prüfung mitbringen. An unserem Beispiel lässt sich etwa gut erkennen, dass diese Form – bzw. die ihr beigesellte explizite Definition – des Erkennens noch nicht der letzte Stand sein kann. Dagegen steht nämlich die beiderseitige Inkongruenz von Subjekt und Prädikat: Das Einzelne hat mehr als eine Qualität, die Qualität hat umgekehrt mehr einzelne Instantiierungen als nur dieses Einzelne. Was hier nur erst exemplarisch skizziert wurde, heißt allgemein gesprochen: Das Nach-Denken, das Auseinanderlegen einer Denkform in ihre Bestimmungsmomente und das Zusammenhalten dieser Momente, ist zugleich ihre Kritik – ist das Feststellen dessen, ob oder wie weit sie dem genügt, was ihr selber als immanentes Ziel einbeschrieben ist. Damit zeichnet sich auch in Bezug auf den zweiten Kritikpunkt die positive Alternative, die Alternative zur instrumentellen Ansicht des Erkennens, ab. Erkenntnisformen selber ist das Ziel – zu erkennen, was ist – immanent, und darum ist ihr jeweiliges Verhältnis zu diesem Ziel auch an ihnen selbst zu erkennen. Damit erübrigt sich die Ansicht, dass es zwei getrennte Fragen gäbe, einmal die Frage, was Formen des Erkennens sind, und zum anderen die Frage, was sie taugen, so als wäre die Tauglichkeit eine Beziehung auf einen außerhalb der je eigenen Bestimmung gelegenen Verwendungszweck. Die Kritik der Formen des Erkennens besteht folglich auch nicht darin, dass diese an etwas anderes gehalten oder mit etwas anderem verglichen werden müssten oder könnten. Die Formen des Erkennens können sehr wohl Gegenstand kritischer Prüfung sein – aber eben einer immanenten Kritik. Was ergibt sich für eine solche Konzeption von Erkenntnistheorie schließlich hinsichtlich des dritten kritischen Punktes, der Frage prinzipieller Grenzen der Erkenntnis? Auch das ist eigentlich schon mitausgesprochen in Hegels Wendung zur immanenten Kritik der Denk- oder Erkenntnisformen: Diese Konzeption ist offen dafür, auf „Schranken“ oder „Mängel“ im Feld der Erkenntnisformen selbst zu stoßen. Aber sie setzt dabei die Einsicht in die Tat um, dass ein solcher negativer Befund einen Begriff vom Denken oder Erkennen voraussetzt und freisetzt, weiterentwickelt, der im Denken und für das Denken objektive Gültigkeit besitzt. Die Einsicht in die Beschränktheit einer Denkform ist dann identisch mit der Kritik des bestimmten Gedankens, den diese Denkform über das Erkennen transportiert, unterscheidet

Hegels Wende in der Erkenntnistheorie

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den Mangel der bestimmten Art und Weise davon, wie diese bestimmte Art und Weise selber noch ins Erkennen gehört. So verwandelt sich die vorige Pauschalkritik des Erkenntnisvermögens in die systematische Rekonstruktion der Selbstverwirklichung des Erkennens. Literaturverzeichnis Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden (= Theorie Werkausgabe), Bd. 8, Frankfurt am Main 1970. (In den Gesammelten Werken: GW 20). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden (= Theorie Werkausgabe), Bd. 3, Frankfurt am Main 1970. (In den Gesammelten Werken: GW 9). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden (= Theorie Werkausgabe), Bd. 20, Frankfurt am Main 1971. (In den Gesammelten Werken: GW 30.1 und 30.2). Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übersetzt von R. Richter, hrsg. v. J. Kulenkampff, Hamburg (12. Aufl.) 1993. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe Bd. III, Berlin 1968 (= KrV B). Kant, Immanuel: Logik, hrsg. v. G. B. Jäsche, in: Kants Werke. Akademie Textausgabe Bd. IX, Berlin 1968, S. 1 – 150. (= Logik Jäsche). Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, übersetzt von C. Winckler, Bd. I, Hamburg (4. Auflage) 1981.

Begreifendes Denken Ermylos Plevrakis I. Das Beste von Hegel? Die Frage nach dem ,Besten von Hegel‘ hat etwas Exoterisches an sich. Nicht weil sie in ihrer gewollt unspezifischen Formulierung auch ,von außen‘ hätte gestellt werden können, als Ausdruck des geläufigen Wunsches nach einer gemein verständlichen Auskunft über die Quintessenz hegelscher Philosophie im Vergleich etwa zu anderen Philosophien. Vielmehr ist die Frage nach dem Besten von Hegel bereits in intrinsischer Hinsicht exoterisch. Denn zum einen stellt sie sich immanent in der Philosophie Hegels selbst, sofern diese an verschiedenen Stellen Absolutheitsansprüche nicht nur systematisch problematisiert, sondern auch selbst erhebt. Zum anderen deutet die demonstrativ auf typisch hegelsches technisches Vokabular verzichtende Formulierung doch weiteres und anders spezifiziertes Gedankengut an, das eben ,außerhalb‘ des systematisch und historisch wohl definierten Rahmens hegelscher Philosophie liegt. Stellt sich daher die Frage nach dem, was man gemeinhin als ,das Beste‘ bezeichnen würde, tatsächlich vom philosophischen System Hegels selbst, so heißt dies, dieses System berge das Potential in sich, sich selbst zu kontextualisieren, in Bezug auf andere Philosophien, Wissenschaften oder Alltagswissen und -interessen zu setzen und sich somit selbst und als Ganzes mit Blick auf sein Äußeres zu aktualisieren. So ist die Frage nach dem Besten von Hegel exoterisch im zugegebenermaßen speziellen Sinne, dass sie von einer Offenheit und Öffnung der spekulativ-begreifenden Philosophie Hegels auf ihr faktisch Äußeres hin ausgeht. Der Ansicht, dass spekulativ-begreifende Philosophie das Potential in sich trage, sich zu öffnen, zu kontextualisieren, gar zu aktualisieren, schließt sich der vorliegende Beitrag ausdrücklich an. Seine Argumentation läuft sogar darauf hinaus, solchen Charakter spekulativ-begreifender Philosophie gerade auf ihr ,Bestes‘ zurückzuführen. Für genauso wichtig für das adäquate Verständnis der enzyklopädisch verfassten Philosophie Hegels aber hält vorliegender Beitrag ihren Systemcharakter, also den Charakter eines autonom mit sich zusammengeschlossenen Ganzen. Auch diesen Charakter führt der vorliegende Beitrag auf dasselbe avisierte Beste zurück. Insgesamt wird der Frage nach dem Besten im Folgenden exegetisch und argumentanalytisch nachgegangen. Hegels eigene einleitende Bemerkungen, die von Geschlossenheit und Offenheit des Systems zugleich handeln, lenken das systematische Interesse auf das begreifende Denken (II.), was die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Begreifen aufwirft (III.). Bestimmung und Bedeutung des be-

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greifenden Denkens für die gesamte spekulativ-begreifende Philosophie erklären sich des Weiteren (V.) erst vor dem rein logischen Hintergrund des Begriffs als solchen (IV.). Rückt dabei die subjektivgeistige Dimension dieses spezifischen Denkens nicht völlig aus dem Blick (VI.), so gewährt schließlich das bis dahin Erwogene einen wertvollen metaphilosophischen Ausblick über den intrinsisch-exoterischen Charakter der gesamten enzyklopädisch verfassten spekulativ-begreifenden Philosophie (VII.). II. Hegels einleitende Hinweise Der Einleitung der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse kommt eine Aufgabe zu, die man heute als metaphilosophisch bezeichnen würde. Sie soll die enzyklopädisch aufgefasste spekulativ-begreifende Philosophie als Ganzes von anderen Philosophien und sonst systematisiertem Wissen abheben. Anders gewendet: Sie soll den enzyklopädischen Grundcharakter oder die immanente innere Dynamik aller Teile dieser Philosophie umreißen, sozusagen ihr Allgemeines, demgemäß die besonderen philosophischen Wissenschaften miteinander zusammenhängen und sich etwa von den Erfahrungswissenschaften pauschal unterscheiden. Stellt die Enzyklopädie ferner ausdrücklich nur einen Grundriss dar, so soll ihre Einleitung die Grundregeln zumindest andeutungsweise verständlich machen, nach welchen dieser Entwurf zustande kam und gegebenenfalls noch modifiziert werden könnte, falls äußere, zum gegebenen historischen Zeitpunkt unvorhersehbare Umstände die Durchführbarkeit und Realisierung des Umrissenen zweifelhaft machen sollten. Gleich der erste Satz der enzyklopädischen Einleitung plakatiert die Singularität der spekulativ-begreifenden Philosophie in Abgrenzung von den „andern Wissenschaften“ (GW 20, § 1): Sie besteht darin, dass diese Philosophie ihre „Gegenstände“ und ihre „Methode“ nicht „voraussetzen“ kann. Näherhin werden ihre Gegenstände nicht „unmittelbar von der Vorstellung zugegeben“, und auch ihre „Methode des Erkennens für Anfang und Fortgang“ im Umgang mit denselben Gegenständen wird nicht einfach „als bereits angenommen“ angewandt. Im enzyklopädischen Rahmen wird also etwas anderes als Vorstellungen auf eine andere, nicht herkömmliche Art und Weise erkannt. An Andeutungen, worin die Singularität spekulativ-begreifender Philosophie in inhaltlich-positiver Hinsicht bestehen könnte, fehlt es im § 1 nicht. So sind ihre Gegenstände zwar denkbar unterschieden voneinander – dazu zählen etwa „die Wahrheit […] im höchsten Sinne“, das gesamte „Gebiet[] des Endlichen“, „Natur“ und „menschliche[r] Geist[]“ usw. Doch man hat es im Rahmen spekulativ-begreifender Philosophie mit diesen nicht als Gegenständen zu tun, also mit Entitäten, sofern sie unmittelbar empirisch vorhanden (im wortwörtlichen Sinne: gegenständlich) sind, sondern mit den „Begriffe[n] von denselben“. Entsprechend handelt es sich bei

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der Methode spekulativ-begreifenden Erkennens hegelscher Philosophie um eine spezifische Weise „denkenden Erkennen[s]“, genau genommen um das „Begreifen“. Beides, Begriffe und Begreifen dieser Philosophie, ist, so § 1 weiter, ausdrücklich nicht ohne Weiteres auf „Bewußsteyn“ und „denkende[n] Geist“ zurückzuführen. Im Gegenteil: Die „Bekanntschaft“, die durch Bewusstsein und denkenden Geist in die spekulativ-begreifende Philosophie faktisch miteinfließt, kann die doppelte Singularität dieser Philosophie verschleiern. Hegel stellt sie entsprechend sogleich teils als „unzulässig“, teils als „unzureichend“ hin – gleichwohl ohne sie gänzlich zurückzuweisen. Im Anschluss daran fährt der Text mit verschiedenen einleitenden Bemerkungen fort, die ein Verständnis von Begriffen und Begreifen spekulativ-begreifender Philosophie ex negativo und andeutungsweise vermitteln, etwa indem sie auf Themen vorgreifen, die der Philosophie des subjektiven Geistes angehören. Die Schlüsselfunktion nimmt dabei der Begriff ein, der als Singularetantum sowohl den Begriffen als auch dem begreifenden Denken bzw. Erkennen systematisch zugrunde zu liegen scheint. So ist die spekulativ-begreifende Philosophie nicht bloß „denkende Betrachtung der Gegenstände“, sondern „eine eigentümliche Weise des Denkens […], eine Weise wodurch es Erkennen und begreifendes Erkennen wird“ (GW 20, § 2). Diese Weise ist ausdrücklich nicht „das reflectirende Denken“, nicht „Reflexion, Raisonement und dergleichen“ Weisen von „Nachdenken“ (GW 20, § 2 A), die von „Gegenständen und Begebenheiten, auch Gefühlen, Anschauungen, Meinungen, Vorstellungen u. s. f.“ handeln (GW 20, § 5). Dieselbe hochspezifische Denkweise bezeichnet Hegel als „das speculative Denken“; er macht darauf aufmerksam, dass dies nicht nur vom Nachdenken überhaupt „verschieden ist“, sondern selbst einige „eigenthümliche[n] Formen“ hat (GW 20, § 9). Diese eigentümlichen Formen des spekulativen Denkens – lesen wir im selben Satz weiter – haben auch ihrerseits eine „allgemeine“ Form: den „Begriff“ – was die Vermutung nahelegt, der Begriff als Singularetantum stelle sozusagen die Metaform aller spekulativen Denkweisen dar. Dass Hegel mit solchem Begriff „im speculativen Sinne“ etwas grundsätzlich Unterschiedenes von dem meint, „was gewöhnlich Begriff genannt worden ist“ (GW 20, § 9 A), wird bereits durch die soeben gegebenen lexikalischen Hinweise unübersehbar. Wie ungewöhnlich jedoch in inhaltlicher Hinsicht jener Begriff ist, deutet Hegel erst im vorletzten Paragraphen der Einleitung an: In der spekulativ-begreifenden Philosophie geht es um ein Denken, das in der Lage ist, „sich auf den Standpunkt zu stellen, wo es für sich selber ist und sich hiemit seinen Gegenstand selbst erzeugt und gibt“ (GW 20, § 17). Diese Andeutung ist im engen Rahmen einer Einleitung, ohne Bezugnahme auf das spätere systematische Korpus dieser Philosophie, kaum nachvollziehbar; vier nicht unwichtige Punkte können jedoch bereits hier hervorgehoben werden. Erstens kann dieses (begreifende) Denken andere „Standpunkt[e]“, die es faktisch gibt, hinter sich lassen, d. h., von anderen Denkweisen und Denkinhalten absehen, sich von ihren systematischen Besonderheiten emanzipieren. Dabei wird das begreifende Denken, zweitens, selbstbezüglich und Gegenstand seiner

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selbst („für sich selber“). Zudem, drittens, ist Hegels begreifendes Denken produktiv bzw. reproduktiv, sofern es begriffliche („seine[]“) Gegenstände um seiner selbst willen „erzeugt“. Viertens ist dem begreifenden Denken eine gewisse exoterische Ausrichtung immanent: Es scheint offen für Gegenstände – d. h. mit § 1 für „Begriffe von denselben“ – zu sein, die nicht direkt von ihm „erzeugt“ werden, sondern die auf näher zu spezifizierenden anderen „Standpunkt[en]“ des Denkens, die das begreifende Denken eingangs hinter sich gelassen hat, vorhanden sind. Solche Gegenstände nimmt das begreifende Denken auf und „gibt“ sie sich, jedoch so, dass es seiner Bestimmung nach nicht auf sie angewiesen ist, sondern stets „für sich selber“, also selbstbezüglich, gar -bestimmend bleibt, auch und gerade dann, wenn es sich auf jene ihm äußeren Gegenstände bezieht – ganz im Sinne der bekannten Formel des Bei-sich-selbst-im-Anderen-Seins. Es ist erst dieses den Begriff als seine allgemeine Form habende (begreifende) Denken, dessen „Entwicklung“ in der gesamten „Geschichte der Philosophie“ wiederzuerkennen ist (GW 20, § 14), in systematischer Hinsicht in den enzyklopädischen „Kreis von Kreisen“ mündet (GW 20, § 15), die „Anfänge“ und „Grundbegriffe der besondern Wissenschaften“ intrinsisch miteinander verbindet (GW 20, § 16) und schließlich im Rahmen der Einleitung den antizipatorischen Vorblick auf die Dreiteilung des gesamten enzyklopädischen Systems ermöglicht (vgl. GW 20, § 18). Gibt es also den einen (besten) Gedanken der spekulativ-begreifenden Philosophie, auf den es bei Hegel ankommt, dann könnte er der Einleitung zufolge kein anderer als der Begriff qua Form des begreifenden Denkens sein. Was ist das aber, der Begriff? Wie denkt man begreifend? III. Keine spezifisch subjektivgeistige Angelegenheit Um die Frage zu beantworten, wie man begreifend denkt, erscheint es naheliegend, sich an die Philosophie des subjektiven Geistes zu wenden. Doch was die spezifische Weise angeht, begreifend zu denken, wird man dort nicht fündig. So lautet die einschlägige Sukzession des theoretischen Geistes Anschauung–Vorstellung–Denken und nicht Anschauung–Vorstellung–Begriff, wie häufig etwa im Zusammenhang mit Hegels Religionsphilosophie suggeriert wird. Zudem wird das Denken des subjektiven Geistes gar nicht als begreifend spezifiziert. Stattdessen apostrophiert Hegel in der Abhandlung des theoretischen Geistes das Denken überhaupt als das „Centrum“ der (spekulativ-begreifenden) Wissenschaft, „in welches als in ihre Wahrheit die Gegensätze zurückgehen“; zugleich aber verweist er auf „Theile der Wissenschaft“, insbesondere auf die Logik, in welcher das Denken „erst an sich“ sei und das „gegensatzlose[] Element[]“ bilde, in welchem sich die „Vernunft“ entwickle (GW 20, § 467 A). In Anbetracht des Denkens qua Denken des theoretischen Geistes hingegen ist es allenfalls „der Verstand“, der sich „sich begreifend“ verhält und entsprechend „heißt“, also nur ein Moment dieses Denkens: der „formell identische[] Verstand“

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(GW 20, § 467). Vervollkommnet sich des Weiteren dieses Denken als „formelle Vernunft, schließender Verstand“, so ist es immer noch genau „er“, d. h. der Verstand, der den Inhalt dieses Denkens „verarbeitet“: eine ausdrücklich verstandesmäßige, weder ,spekulative‘ noch ,begreifende‘, Weise, den Denkinhalt zu bestimmen, der ursprünglich von der „Unmittelbarkeit“ stammt. Angesichts der so bestimmten „unmittelbare[n] Bestimmtheit“ deutet Hegel sogar gewisse Verfügungsverhältnisse an („Besitznahme“, „Eigenthum[]“, GW 20, § 468). Dies wiederum schließt ausdrücklich nicht aus, dass die bereits einmal, freilich nur verstandesmäßig bestimmte unmittelbare Bestimmtheit erneut bestimmt werden könnte. So besehen erscheint eine andere Instanz, die – an die Redeweise vom Eigentum anknüpfend – über die Expertise verfügt, das bereits Erarbeitete aktiv zu verwalten, nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll. Solch eine ,Instanz‘ könnte auch das begreifende Denken darstellen. Laut § 17 „gibt“ es sich ja, d. h. es bestimmt entsprechend seiner Bestimmung, solch bereits bestimmte Inhalte erneut. Der weitere Verlauf der Philosophie des Geistes geht aber nicht auf diese Option ein, sondern legt eine Reihe anderer Weisen dar, die verstandesmäßig bestimmte unmittelbare Bestimmtheit erneut zu bestimmen, welche zwar auf dem Denken aufbauen, aber systematisch über das Denken hinausgehen: praktischer, freier, objektiver Geist usw. Das Denken selbst rückt erst gegen Ende der Philosophie des absoluten Geistes in den Mittelpunkt des philosophischen Interesses (vgl. GW 20, § 571) und wird am „Schluß“ der Philosophie weiter spezifiziert (vgl. GW 20, §§ 573 ff.) – und zwar die gesamte spekulativ-begreifende Philosophie überblickend als ein Denken, das systematisch betrachtet das Denken der Logik ist (vgl. GW 20, § 577). Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, dass die Logik gleich auf ihrer ersten Seite pointiert auf „das Denken oder bestimmter das begreifende Denken“ aufmerksam macht; sie nimmt vorweg, dass dieses Denken „wesentlich innerhalb ihrer abgehandelt“ wird; und zugleich kündigt sie an, dass sich „in ihrem Verlaufe“ nicht nur eine Reihe diverser Bestimmungen des begreifenden Denkens, sondern sogar „der Begriff desselben“ selbst erzeugen wird (GW 21, S. 27). Erfreulicherweise lässt sich der Begriff des begreifenden Denkens in der Logik, zumal er der enzyklopädischen Einleitung zufolge mit dem „Begriff“ selbst zusammenfallen soll, unschwer lokalisieren. Sofern dieser Begriff sich tatsächlich „in ihrem Verlaufe“ erzeugt, also weder äußerlich, etwa mit philosophiehistorischem Blick auf das „Ich oder das reine Selbstbewußtseyn“ veranschaulicht (GW 12, S. 17), noch zwar systematisch, aber erst als „ihr letztes Resultat“ exponiert wird, wie etwa bei dem „Begriff selbst der Wissenschaft überhaupt“ (GW 21, S. 27), liegt es auf der Hand, dass nun das gleichnamige erste Kapitel der Begriffslogik unter die Lupe zu nehmen ist.

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IV. Die „Identität des Begriffs“ Auch im Vorfeld des Begriffs als solchen spricht Hegel die Gefahr an, den Begriff (samt Urteil und Schluss) mit dem „Standpunkt“ zu verwechseln, „nach welchem der Begriff ein subjectives Denken, eine der Sache äusserliche Reflexion ist“ (GW 12, S. 30). Umso aufdringlicher wird die Einsicht in die eigentliche „Identität des Begriffs“, die bemerkenswerterweise in nichts anderem als in der Weise bestehen soll, überhaupt all seine, teils auch subjektiv erscheinenden Begriffsbestimmungen „in dialektische Bewegung“ zu setzen (GW 12, S. 30). Diese seine tätige und selbstbetätigende Identität ist nach Hegel primär nicht von seiner logischen Herkunft her, etwa dem „Substantialitäts-Verhältnis“ (GW 12, S. 29), zu interpretieren, sondern emphatisch als „die absolute Identität mit sich“ (GW 12, S. 33) zu betrachten: Der Begriff als solcher ist in sich vollständig und selbstbezüglich, auf nichts anderes angewiesen als auf sich selbst. Eben das statuiert sein erstes Moment, das Allgemeine, über welches Hegel gleich eine doppelte Bestimmung angibt. Das Allgemeine ist „erstens die einfache Beziehung auf sich selbst; es ist nur in sich“, „zweytens“ ist es „in sich absolute Vermittlung; nicht aber ein vermitteltes“ (GW 12, S. 33). Zum einen stellt das in diesem Sinne Allgemeine eine einfache Selbstbeziehung dar, die bereits in Bezug auf sich selbst etwas Inneres ist, eine Selbstbeziehung also, die bereits an sich selbst betrachtet sich als einfach zeigt und zugleich ihr Äußeres andeutet – ihr Äußeres, d. h. sich selbst, aber als bestimmte Selbstbeziehung. Zum anderen ist das Allgemeine keine unmittelbar bestehende bzw. keine in der Unmittelbarkeit sich ausführende Selbstbeziehung und auch kein Resultat einer bloß unmittelbaren Vermittlung, also kein festes Etwas in jeglichem Sinne, sondern Selbstbeziehung als reine Vermittlung. Damit ist der Prozess der selbstbezüglichen Vermittlung gemeint, und zwar nicht als ausgeführter Prozess, nicht als Prozess im Vollzug, sondern als schlechthinniger und „in sich absolute[r]“ Prozess: als Prozess in nuce und als Potential jeglicher Ausführung seiner selbst.1 Das so aufgefasste Allgemeine, akzentuiert Hegel weiter, „continuiert sich ungetrübt durch [alles Werden], und hat die Kraft unveränderlicher, unsterblicher Selbst-

1 In einer ähnlichen Richtung wie die hier hervorgehobene doppelte Grundbestimmung des Allgemeinen bewegt sich Brady Bowman, wenn er unter der Bezeichnung ,der Begriff‘, womit er in Anlehnung an Friedrich Fulda ein Singularetantum meint, einerseits die von Rolf-Peter Horstmann hervorgehobene eher statische Relationsstruktur, andererseits die von Dieter Henrich herausgearbeitete Dynamik autonomer Negation zusammenfasst – freilich ohne sich exegetisch auf die oben zitierte hegelsche Stelle zu beziehen (vgl. Brady Bowman: Hegel and the metaphysics of absolute negativity, Cambridge 2013, S. 26 – 61). Am weitesten, zugleich systematischsten, jedoch nicht auf unkritische Weise, hat diese Tradition Christian Martin an wegweisenden Vorarbeiten Anton Kochs anknüpfend vorangetrieben (Christian Georg Martin: Ontologie der Selbstbestimmung: Eine operationale Rekonstruktion von Hegels „Wissenschaft der Logik“, Tübingen 2012).

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erhaltung“2 – mit Blick auf sein Äußeres und die Ausführung des durch es initiierten Prozesses selbstbezüglicher Vermittlung versteht sich. Zudem hat es nicht „die Form eines äusserlichen Thuns“, sondern es ist „das Wesen seiner [eigenen] Bestimmung, die eigene positive Natur derselben“ oder auch „die Substanz seiner Bestimmungen“. Im direkten Zusammenhang mit dem Allgemeinen darf also nichts „zufälliges“ angenommen werden, da es bei ihm ausschließlich um „die eigne Vermittlung des Begriffs mit sich selbst“ gehen soll, was wiederum bedeutet, dass dabei der Begriff „als absolute Negativität das formirende und erschaffende“ ist, d. h. das alleinige Formierende und alleinige Erschaffende seiner selbst. Hiermit ist des Weiteren bereits vorweggenommen, dass es sich beim Besonderen um keine bloß andere Bestimmtheit handelt, sondern um die immanente Besonderung des Allgemeinen selbst, also um die Ausführung dessen, was im Allgemeinen potentiell enthalten ist, d. h. des Sich-auf-sich-Beziehens und der in sich absoluten Vermittlung des Allgemeinen: „Das Allgemeine bestimmt sich, so ist es selbst das Besondere“ (GW 12, S. 38). Auf eine nähere Auskunft über das konkrete ,Wie‘ oder die Mittel der Selbstbestimmung des Allgemeinen zum Besonderen verzichtet Hegel an dieser Stelle demonstrativ. Offenbar geht es hier allein um das ,Dass‘ überhaupt des immanenten Fortgangs vom Allgemeinen zum Besonderen. Und sofern im Allgemeinen keine bestimmte Bestimmtheit enthalten war, muten auch der Fortgang und das Besondere allgemein (auch im Sinne von ,abstrakt‘) an. Ähnliches gilt auch für das Einzelne, das das Resultat der Ausführung der besagten selbstbezüglichen Vermittlung darstellen soll. Markiert das Allgemeine das Potential dieser Vermittlung überhaupt, und ist das Besondere tatsächlich keine fremde Bestimmtheit, sondern das eigene Bestimmen und die Ausführung der Vermittlung des Allgemeinen, so sollte am Ende eines solchen Vermittlungsvorganges nichts anderes vorhanden sein als dieser Vorgang selbst, der Prozess der „Vermittlung [des Begriffs] durch sich“, nunmehr jedoch als vollzogener, insofern sich also jetzt „der Begriff als sich selbst gleiches hergestellt“ hat, und zwar entsprechend seiner eigenen „Bestimmung“ (GW 12, S. 49; vgl. S. 50 f.), wie sie eben vom Allgemeinen angegeben wurde. Das Einzelne stellt in diesem Sinne die selbstbezügliche Vermittlung im Vollzug und im Einen dar, nicht als ein nur Inneres und Potential (wie beim Allgemeinen), auch nicht als in Ausführung oder work in progress (wie beim Besonderen), sondern als der entwickelte Prototyp selbstbezüglicher Vermittlung im Unterschied zu jeder weiteren selbstbezüglichen Vermittlung – wo auch immer diese zu finden wäre (s. u.). Die hier weitgehend nur paraphrasierend wiedergegebene „Identität des Begriffs“ verfolgte das alleinige Ziel, den immanent-dynamischen Charakter des Begriffs zu

2 Hier und für alle Zitate dieses Absatzes: GW 12, S. 34 f. (Hervorhebung teilweise (aufgehoben) E. P.).

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betonen3: Hegels Singularetantum ,der Begriff‘ steht für keine feste Bestimmtheit, kein Ens, sondern für einen reinen, auszuführenden Prozess, Vorgang, Vermittlung – was man nicht nur mit dem generischen Singular, sondern auch und vielleicht noch treffender mit dem Infinitiv ,Begreifen‘ zum Ausdruck bringt. Näherhin geht es um den nach den Momenten des Allgemeinen, Besondern und Einzelnen in sich konkreten Prozess, sich durch Selbstbestimmen, also durch gewisses Verändern und Hervorbringen – oder Erzeugen nach dem Wortlaut von § 17 – von Bestimmtheiten, zu erhalten und mit sich identisch zu bleiben. Insofern der Begriff tatsächlich nur für diesen Prozess ohne weiteren Inhalt steht, erklärt sich des Weiteren die einleitende Bemerkung von § 9, dass er nur eine „Form[]“ ausmacht. Entsprechend ist schließlich das Denken überhaupt und „das speculative Denken“ im Speziellen genau dann als begreifend zu bezeichnen, wenn sie dieselbe Form aufweisen bzw. seine Inhalte in dieser Form und auf die Weise des Begriffs bestimmen. Dabei kann es etwa Urteile fällen oder auch syllogistisch verfahren. Es erschöpft sich aber nicht darin, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass es seine Urteile, Syllogismen und darin seine Gegenstände bzw. Begriffe so arrangiert – wieder mit dem Wortlaut von § 17: „sich hiemit seinen Gegenstand selbst erzeugt und gibt“ –, dass sie die Dynamik vom Allgemeinen–Besonderen–Einzelnen immanent zu erkennen geben.

V. Die Tragweite des begreifenden Denkens Letztere Bemerkung wirft die Frage nach der Tragweite des begreifenden Denkens auf. Denn offenbar verhält sich nicht alles auf die Weise des Begriffs, und einiges lässt sich nicht ohne Weiteres entsprechend der Form vom Allgemeinen–Besonderen–Einzelnen adäquat denken: Kants von Hegel scharf kritisierte Vorstellung von hundert Talern z. B. nicht (vgl. GW 21, S.75) oder „Abstractionen“ wie „Mensch, Haus, Thier u. s. f.“ (GW 20, § 164 A), deren „Bestimmtheit“ nicht – wie es zum Allgemeinen gehörte – „den Anfang und das Wesen [ihrer] Entwicklung und Realisation“ enthält (GW 12, S. 41). Was bedeutet also das begreifende Denken für anderswie, nicht begreifend, Bestimmtes? Dieser Frage ist nun in drei Schritten nachzugehen. Zunächst ist es entscheidend, den Umfang des Begriffs zu umreißen, also die Extension dessen, was oben in inhaltlicher Hinsicht als die „Identität des Begriffs“ festgehalten wurde. Hegels Auskunft darüber ist ebenso eindeutig wie – vor dem Hintergrund der Inhalt-Umfang- bzw. Intension-Extension-Unterscheidung – verblüffend. Der Umfang des Singularetantums ,der Begriff‘ besteht ausschließlich in Begriffen (nunmehr im Plural) oder, was dasselbe ist, in bestimmten Begriffen. Dazu zählen pauschal alle „logischen Bestimmungen“ und „überhaupt alle Begriffe der 3 Ausführlicher habe ich diese Deutung in Ermylos Plevrakis: Das Absolute und der Begriff: Zur Frage philosophischer Theologie in Hegels „Wissenschaft der Logik“, Tübingen 2017 dargestellt.

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Philosophie“ (GW 21, S. 72), also überhaupt alle Inhalte, die im Rahmen sowohl der Logik als auch der sogenannten Realphilosophie systematisch abgehandelt werden.4 Gewiss variiert dabei die Art der systematischen Abhandlung bzw. des Bestimmens stark je nach Inhalt. Genau solch ausdrückliche Anlehnung des Prozesses des Bestimmens an den jeweiligen Inhalt avisiert aber das Singularetantum ,der Begriff‘, mit welchem, wie oben skizziert, zunächst nur die Form des prozessualen Selbstbestimmens festgehalten wurde, etwa nur das ,Dass‘ (nicht das ,Wie‘) des immanenten Fortgangs vom Allgemeinen zum Besonderen und insgesamt der Prototyp jeglicher Selbstvermittlung dieser Art. Zudem hält Hegel durchaus an spezifischeren Weisen solcher Selbstvermittlung fest (etwa „Uebergehen“, „Scheinen“ und „Entwicklung“), sowie daran, dass es sich dabei stets um dasselbe „Fortgehen des Begriffs“ (GW 20, § 161) und dieselbe „abstracte Form des Fortgangs“ handelt (GW 20, § 240) – was mit der Sequenz von Allgemeinem–Besonderem–Einzelnem markiert wurde (vgl. GW 12, S. 238 f.).5 Dies erklärt auch, warum die enzyklopädische Einleitung den Begriff als die eine „allgemeine“ aller, somit auch unterschiedlicher, „eigenthümliche[r] Formen“ des spekulativen Denkens antizipiert. Dem begreifenden Denken kommt hierbei, d. h. in der gesamten spekulativ-begreifenden Philosophie, die Aufgabe zu, diese Form zu erkennen und aufzuzeigen. Es hat – anders gewendet – die immanente selbstvermittelnde Dynamik solcher Begriffe zu entdecken und nachzuvollziehen. So besehen bildet schließlich das „Ganze“, das hierdurch zustande kommt, also die Enzyklopädie (GW 20, § 15), den Umfang des Begriffs, und zwar im genaueren Sinne eines Grundrisses, insofern sie – ihrem Vorhaben nach – Begriffe einerseits von Nichtbegriffen abhebt, andererseits im genuinen begrifflich-systematischen Zusammenhang darstellt. Als brisant erweist sich der so aufgefasste Umfang des Begriffs, wenn in einem zweiten Schritt berücksichtigt wird, dass dieser Umfang nicht nur herkömmliche philosophische Begriffe wie „Freiheit, Geist, Gott“ einschließt (GW 20, § 8), sondern auch den „rationellen Grund und Anfang“ anderer, d. h. empirischer, „Wissenschaften“ wie „Rechtswissenschaft“, „Naturgeschichte, Erdbeschreibung, Medicin u. s. f.“, „Geschichte“ und „sinnige Experimental-Physik“ (GW 20, § 16 A). Denn zu den Begriffen (im spekulativen Sinne) zählt Hegel ausdrücklich auch „das Allge4 Als (bestimmte) Begriffe oder bestimmte Weisen des einen Begriffs charakterisiert Hegel die Bestimmungen der Logik z. B. in GW 12, S.38; GW 21, S. 44 ff.; GW 20, §§ 83; 162 A. Zu den Bestimmungen der sogenannten Realphilosophie vgl. GW 20, §§ 246 und 247 – 251 sowie 380 und 381 – 384. Zentral ist außerdem GW 12, S. 36, wo alle Inhalte spekulativ-begreifender Philosophie vom Allgemeinen her betrachtet als „bestimmte Begriffe“ gedeutet werden. 5 Hegels eindringliche Verweise auf den Begriff als solchen im Kontext der absoluten Idee und in Ansehung der spekulativ-begreifenden Methode und deren Momente ist ein eindeutiger Hinweis, wie das Verhältnis zwischen Begriff und absoluter Idee aufzufassen ist. Ohne den Begriff ist die absolute Idee und somit auch der weitere Gang spekulativ-begreifender Philosophie undenkbar. Umgekehrt lassen sich aber absolute Idee, Methode, Begriff der Wissenschaft usw. vom Begriff ausgehend durchaus gewinnen. Der Begriff erschöpft die absolute Idee nicht, erscheint aber doch als das ,Beste‘ in ihr.

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meine dieser [d. i. empirischer] Wissenschaften, die Gesetze, die Gattungen, u. s. f.“ (GW 20, § 9 A), was bedeutet, dass mindestens einige der Begriffe einen doppelten Haushalt führen: einen spekulativ-begreifenden und einen erfahrungswissenschaftlichen. Offenbar birgt solch doppelter Haushalt ein hohes Konfliktpotential. Doch ist es eindeutig nicht Hegels Anliegen, einseitig Partei für die Philosophie zu ergreifen: „Das Verhältniß der speculativen Wissenschaft zu den andern Wissenschaften“ besteht nach Hegel (im Grunde) darin, dass jene das kürzlich zitierte „Allgemeine […] anerkennt und zu ihrem eigenen Inhalte verwendet, daß sie aber auch ferner in diese Kategorien andere einführt und geltend macht“ (GW 20, § 9 A). Demnach hat die spekulativ-begreifende Philosophie die empirischen Wissenschaften in ihrer Tätigkeit einerseits zu respektieren, und so kommt dem begreifenden Denken eine ausdrücklich rezeptive Aufgabe zu: Es soll die im Bereich empirischer Forschung vorhandenen Begriffe bzw. die durch empirische Forschung herausgearbeiteten „allgemeinen Bestimmungen, Gattungen und Gesetze“ (GW 20, § 12 A) suchen, als Allgemeine im oben skizzierten spekulativen Sinne identifizieren und in den Umfang des Begriffs aufnehmen. Jedoch verhält sich die spekulativ-begreifende Philosophie andererseits auch souverän, und dem begreifenden Denken kommt die aktive Aufgabe zu, die identifizierten Allgemeinen autonom zu begreifen. Während etwa die empirischen Wissenschaften „das Allgemeine in die empirische Einzelnheit und Wirklichkeit herunterzuführen haben“ (GW 20, § 16 A), um anhand dessen bisher ungeklärte empirische Phänomene erklärlich zu machen, bestimmt das begreifende Denken das Allgemeine erneut entsprechend der Form des Allgemeinen–Besonderen–Einzelnen, was auch neue „Kategorien“, also Begriffe, mit sich bringt, die dem Begreifen – und nicht unbedingt der empirischen Forschung – dienen. So bewegt sich das begreifende Denken tatsächlich im Umfang des Begriffs, ohne zu behaupten, es hätte auch die empirische Entsprechung seiner Begriffe bewiesen – was einer externen und unberechtigten Erteilung von Vorschriften an die empirische Forschung gleichkäme –, aber doch im nicht-reduktionistischen Einklang mit den Ergebnissen der empirischen Forschung und dieselben weiterdenkend. Der dadurch erzielte Erkenntnisgewinn liegt an der Freischaltung der begrifflichen Dimension diverser zentraler Bestimmungen empirischer Forschung, somit an der Gewährung der Einsicht in einen übergreifenden Zusammenhang, anhand dessen der je unterschiedliche begriffliche Mehrwert jener Bestimmungen konkret erkennbar wird. So macht es z. B. eine genuin spekulativ-begreifend philosophische Einsicht aus, die für die Erfahrungswissenschaften als solche nicht relevant, von ihnen aber auch nicht bestreitbar, und zugleich für das (begreifende) Denken und insgesamt für denkende Lebewesen gleichermaßen nachvollziehbar und unverzichtbar ist, dass etwa der tierische Organismus einen höheren Wert hat als die bloß geologische Natur. In voller Breite erschließen sich ferner Brisanz und Tragweite des begreifenden Denkens, wenn man sich in einem dritten und letzten Schritt den Umfang der Begriffe (in Plural) vergegenwärtigt. Dabei gilt es, sich vor dem Hintergrund des definierten

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Umfangs des Begriffs an Vorstellungen und Abstraktionen wie die oben erwähnten „Mensch, Haus, Thier u. s. f.“ zu wenden. Auch das gehört zu den Aufgaben des begreifenden Denkens, wie weitläufige „exoterische Anmerkungen“ der Enzyklopädie aber auch diverse Vorlesungsmaterialien Hegels zu Einzelheiten jenseits des enzyklopädischen Rahmens eindrucksvoll zeigen: „abstracte Begriffe dem gewöhnlichen Verständnisse und den concretern Vorstellungen von denselben näher zu rücken“ (GW 20, S.5). Es geht um die Öffnung des begreifenden Denkens ausgerechnet auf „den empirischen Inhalt“ hin (GW 20, § 9 A), welcher auch den Erfahrungswissenschaften zugrunde liegt, um nunmehr auch dort seine Bedeutung geltend zu machen. Die Aufgabe ist nicht bloß illustrativ, zugleich darf sie weiterhin nicht in Konkurrenz treten mit den Erfahrungswissenschaften oder mit „dem gewöhnlichen Verständnisse und den concretern Vorstellungen“. Vielmehr ist sie eine pädagogische und dient der Bildung denkender Lebewesen. Das begreifende Denken betreibt selbst keine empirische Forschung und entwirft auch nicht eigene Vorstellungen, physikalische Gesetze, Gattungen etc. Vielmehr liefert es das begriffliche Kriterium, um zwischen Vorstellungen und übrigen Abstraktionen des Verstandes, die empirisch betrachtet gleichermaßen plausibel erscheinen mögen, normativ zu entscheiden. So sorgt das begreifende Denken für eine begrifflich gesicherte (nicht empiristisch-reduktionistische) Orientierung der denkenden Lebewesen im Umfeld unendlich vieler und unterschiedener, häufig sich gegenseitig widersprechender Vorstellungen und sonstiger Ansichten. Ist es beispielsweise gleichermaßen berechtigt bzw. problematisch, den Menschen als zweibeiniges oder als denkendes Lebewesen zu definieren, so legt uns das begreifende Denken vor dem Hintergrund des spekulativ-begreifend exponierten Geistbegriffes nahe, letztere Definition zu favorisieren und mit Menschen im Alltag als denkenden und nicht bloß zweibeinigen Lebewesen umzugehen (vgl. GW 20, § 2). Analog ist ferner das Verhältnis zwischen Menschen und Tier zu beurteilen, wenn man zusätzlich den naturphilosophischen Begriff ,tierischer Organismus‘ in Betracht zieht. Eine andere, gleichwohl grundsätzliche Frage ist es, ob das begreifende Denken zu solcher – wenn auch begrifflich geordneter – Öffnung auf empirisch Gegebenes (in immanent-systematischer Hinsicht) überhaupt berechtigt ist. VI. Auch eine subjektivgeistige Angelegenheit Die soeben aufgeworfene Frage betrifft die gesamte Tragweite begreifenden Denkens, den Umfang sowohl des Begriffs als auch der Begriffe. Denn offenbar fließt Empirisches in jeden (begreifenden) Denkschritt spekulativ-begreifender Philosophie ein, sei es direkt, sofern sie explizit „ein Aufnehmen des Inhalts und seiner [von den Erfahrungswissenschaften] vorgelegten Bestimmungen“ ist (GW 20, § 12), sei es auch nur indirekt, sofern sie Wörter einer bestimmten Sprache verwendet und sich somit implizit auf unzählige Vorstellungen und sonstiges historisch beding-

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tes Wissen bezieht. Ausdrücklich ist beides im Rahmen nicht nur der sogenannten Realphilosophie, sondern auch bereits der Logik der Fall, in welcher Hegel offensichtlich bestrebt ist, Begriffsbezeichnungen möglichst im Einklang oder zumindest im Dialog mit dem alltagssprachlichen Verständnis, seinen eigenen philosophiehistorischen und erfahrungswissenschaftlichen Kenntnissen auszusuchen. Dass nun solche Öffnung im begreifenden Denken angelegt ist, verrät bereits dieser Ausdruck selbst. Denn der eigenen (subjektivgeistigen) Bestimmung des Denkens entsprechend sind in ihm Anschauungen und „Vorstellungen von Gegenständen“ bereits als aufgehoben vorhanden – von „Bekanntschaft“ im „Bewußtseyn war gleich in § 1 die Rede –, d. h., sie sind im Denken enthalten und (gar in ihrer Wahrheit) wiedererkennbar (vgl. GW 20, § 465; §§ 2 – 5). Mehr noch: Auch alle genuinen (subjektivgeistigen) Denkinhalte – die „Gedanken“ (GW 20, § 465) –, etwa der „Stoff“, den die „empirischen Wissenschaften“ „denkend“ verarbeitet haben (GW 20, § 12 A), ist als aufgehoben im begreifenden Denken vorhanden. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkung ist auch die Formulierung von § 17 nicht weiter verwunderlich, dass „sich“ das begreifende Denken genau „seinen Gegenstand […] gibt“, also etwas das eben durch Denken vermittelt ist – und in dieser Hinsicht auch nicht „als unmittelbar von der Vorstellung zugegeben“ vorausgesetzt wird, wie der erste Satz von § 1 kategorisch ausschließt. In inhaltlicher Hinsicht ist daher das begreifende Denken zweifelsohne subjektiv, historisch, realiter usw. bedingt. Und genau deshalb darf es sich wie selbstverständlich auf empirisch Gegebenes hin öffnen, oder vielmehr: Es ist schon immer auf empirisch Gegebenes hin geöffnet. Worauf es aber beim begreifenden Denken eigentlich ankommt, ist die Form des Begriffs. Diese Form kennzeichnet die spekulativ-begreifende Philosophie insgesamt und trotz all ihrer so häufig betonten Inhaltsidentität mit der „Erfahrung“ (GW 20, § 6), den „Erfahrungswissenschaften“ (GW 20, § 12) oder der „Religion“ (GW 20, § 1), welche zwar auch mit „Denken“ einhergehen (GW 20, § 571), jedoch nicht das begreifende Denken betätigen. Sie ist aber nicht bloß subjektiv, sondern in sich selbst sowie in Ansehung einiger, nicht unwichtiger Inhalte (Begriffe), an welchen sie sich wiedererkennen lässt, wahr. VII. Ausblick Veranlasst durch die in intrinsischer Hinsicht exoterische Frage nach dem Besten von Hegel bin ich in diesem Beitrag zentralen entsprechenden Hinweisen Hegels exegetisch gefolgt. Sachgemäß ging es mir nicht um eine Wiedergabe des Ganzen dieser Philosophie; und aus pragmatischen Gründen musste ich von wichtigen Aspekten meiner Thematik absehen, etwa vom Verhältnis zwischen Denken und Erkennen oder zwischen Form und Methode. Gleichwohl hoffe ich die These plausibel gemacht zu haben, dass es der Begriff ist, auf welchen alle Singularität, Bedeutung und Vollendung der spekulativ-begreifenden Philosophie, die ja genau die Betätigung des

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begreifenden Denkens sein soll, zurückzuführen ist. Ob jedoch solche Vollendung Hegel tatsächlich oder „im Einzelnen“ gelungen ist – worüber Hegel selbst Bedenken äußert (GW 21, S. 38; S. 20) –, blieb ebenfalls dahingestellt. Gerade darin aber, in Hegels Selbstzweifeln, lässt sich ein weiterer, etwas paradox erscheinender Grund erkennen, weshalb der Begriff als das Beste von Hegel anzusehen ist. Vor genau 50 Jahren nahm man sich vor, anhand der Frage nach der Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels eine Hegel-Bilanz zu ziehen.6 Die Frage wurde damals ausdrücklich in historischer Hinsicht gestellt, und Aktualität wurde bestimmten Teilen dieser Philosophie als eine Eigenschaft von außen zugesprochen. Vielleicht müsste man aber heute in systematischer Hinsicht ergänzen: Die Aktualität der spekulativ-begreifenden Philosophie ergibt sich intrinsisch aus ihrer selbst und besteht in der immanenten Aufforderung, Denkinhalte überhaupt zu begreifen, somit sich selbst unter gebührender Berücksichtigung auch zeitlich neuerer Denkinhalte stets zu aktualisieren. Neben den zweifelos vielen guten (,aktuellen‘) Gedanken, die diese Philosophie in ihrer Zeit erfasst hat, bleibt sie gerade aufgrund ihres immanent-dynamischen Charakters aktuell, der sie auf begreifend geordnete Weise stets über sich hinaustreibt. Nicht jedes Philosophiekonzept, geschweige denn ein philosophisches System, versteht sich als immanent-dynamischer Vorgang steter Selbstaktualisierung. Der Begriff ist das Beste spekulativ-begreifender Philosophie, nicht zuletzt weil er davon abhält, Philosophie samt Partikularitäten, veralteten Forschungsstandpunkten oder schlichten Denkfehlern etwa Hegels wie eine doktrinale Lehre historisierend weiter zu tradieren, stattdessen zu einer systematischen Denkhaltung aufruft, die allein der Wahrheit aller Denkinhalte in ihrer gesamten Breite und Tiefe verpflichtet ist. Und dies ist nicht nur das Beste irgendeiner Philosophie, sondern der Kern allen Denkens überhaupt, sofern es sich in irgendeiner Hinsicht von der ,Liebe zur Weisheit‘ leiten lässt.7

6 Reinhard Heede und Joachim Ritter (Hrsg.): Hegel-Bilanz: Zur Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1973. 7 Ich danke Christian Martin und Jannis Pissis für wertvolle Kommentare zu früheren Fassungen dieses Textes. This research is co-financed by Greece and the European Union (European Social FundESF) through the Operational Programme „Human Resources Development, Education and Lifelong Learning“ in the context of the project „Reinforcement of Postdoctoral Researchers – 2nd Cycle“ (MIS-5033021), implemented by the State Scholarships Foundation (IJU).

Philosophische Vernunft und wir: Begriffliche Wahrheit bei Fichte und Hegel Sebastian Stein Im Namen Gottes Ist und ist nicht zu finden Die Einheit aller Weisheit – Heraklit

Angesichts des momentan wachsenden Interesses an meta-metaphysischen und meta-philosophischen Fragen, und einer gewissen Unzufriedenheit mit subjektivistischen Ontologien und pragmatistischen und subjektiv-transzendentalen Lesarten Hegels, vor allem in der englischsprachigen Literatur, erscheinen mir Hegels Gedanken zur Fichte’schen Formulierung des Problems der Doppelnatur philosophischen Wissens heute besonders relevant. Im Folgenden werden entsprechend Fichtes Überlegungen zum Philosophiebegriff, nach einer Diskussion der Stärken und Schwächen von Fichtes Ansatz, mit Hegels konstruktiver Kritik konfrontiert, um abschließend die Konsequenzen von Hegels Ansatz für unser eigenes Philosophieren anzusprechen. I. Philosophisches Wissen Einerseits ist laut Fichte philosophisches Wissen ,der lebendige Gedanke, der sich selbst als Wissen, auf absolute Weise nach seinem absoluten Wesen anschaut‘.1 Philosophie ist für ihn also die unbedingt-allgemeine Vernunft, die sich selbst denkt wie sie ist. Gleichzeitig ist philosophisches Denken auch immer durch unser Bewusstsein und dessen Bestimmtheit bedingt. Wir als philosophische Denker sind in der Zeit und im konkreten Sein und somit ist unser Denken ,gebunden‘. Mit dieser Vorstellung wird nach Fichtes Einschätzung Kants Einsicht Tribut gezollt, dass philosophisch denkende Vernunftwesen einerseits endliche Subjekte sind und dennoch an einer allgemeinen Unbedingtheit Anteil haben, ohne welche wiederum ihre eigene ontologische und gedankliche Besonderheit weder begrifflich einsichtig noch als real denkbar wäre.2 Hegel folgt Fichte und Kant diesbezüglich und führt an, dass ohne Zugeständnis an die immer schon gesetzte Realität einer unbedingt-objektiven Vernunft selbst der 1 2

Fichte, Wissenschaftslehre 1801, S. 73. Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 15.

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empiristische Gedanke, dass alles immer schon bedingt ist, nicht denkbar wäre. Alles Denken, und sei es noch so bedingt-meinungsartig, impliziert also immer schon Teilhabe an allgemein-unbedingt gültigen Vernunft-Kategorien, welche die Philosophie beschreiben muss.3 Des Empiristen ,es ist unbedingt wahr, dass alles subjektiv ist‘ beansprucht genauso allgemeingültig-unbedingt zu sein, wie das empiristische ,es ist unbedingt wahr, dass alles Wissen erfahrungsbasiert ist‘. Das Wissen, dass alles subjektiv oder erfahrungsbasiert ist, kann selbst nicht subjektiv oder erfahrungsbasiert sein. Wäre dies der Fall, wäre die philosophische Aussage, dass alles Wissen so sei, selbst kein philosophisches Wissen obwohl sie doch beansprucht, dies zu sein. Dies wäre also selbstwidersprüchlich. Möchte der Empiriker diesen Selbstwiderspruch vermeiden und unterscheidet zu diesem Zwecke einerseits zwischen sinnesbasiertem Wissen und andererseits zwischen philosophischem Wissen, welches besagt, dass alles andere Wissen sinnesbasiert sei, muss er die Quelle und Verständlichkeit des philosophischen Wissens ohne Verweis auf empirisches Wissen erklären, da das philosophische Wissen sonst ebenso subjektiviert bedingt wäre, wie das empirische. Dass man weiß, dass Wissen empirisch ist, kann man nicht empirisch wissen und dass man weiß, dass philosophisches Wissen unbedingt ist, muss man philosophisch wissen.4 Dieses Problem wird laut Fichte und Hegel bei Kant nicht eindeutig gelöst, so dass beide Nachfolger Kants den Bedarf sehen, Kants Aussagen zu seiner eigenen philosophischen Methode neu zu interpretieren. II. Fichte und Hegel zu Kants Methoden- und Philosophiebegriff Fichte und Hegel lesen Kants philosophische Aussagen also entgegen Kants methodologischem Selbstverständnis in direkter Konkurrenz zum Rationalismus und zum metaphysisch interpretierten Empirismus in der Fassung Berkeleys und Humes: Der Fehler des Rationalismus sei nicht, wie Kant diagnostizierte, sein Anspruch über die unbedingte Wahrheit des Ding an Sichs direkt zu referieren. Diesen Anspruch der Beschreibung unbedingter Wahrheit ist für die Philosophie laut Fichte und Hegel unvermeidbar. Entsprechend interpretiert Fichte den Empirismus als subjektiven Dogmatismus, welcher unbedingte Wahrheit als rein subjektiv fasst5, während Hegel ihn als eine Philosophie liest, die unbedingte Wahrheit als subjektivistisch-geistige Sequenz besonderer Erfahrungen und Ideen beschreibt.6 So lässt sich mit Fichte gegen Kants Selbstverständnis argumentieren, dass insofern Kant sein eigenes philosophisches Wissen um die kategoriale Form der Erkenntnis und der rationalen Praxis, des Glaubens etc. als eine Alternative zum unbedingten Wissen des Rationalismus um metaphysische Wahrheit und des Empirismus um die 3

Hegel, Geschichte der Philosophie III, S. 269, S. 276. Hegel, Encyclopedia Logic, S. 78. 5 Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 40. 6 Hegel, Geschichte der Philosophie III, S. 276. 4

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subjektive Struktur der Erfahrung präsentiert, Kants Wissen ebenso unbedingt-allgemein, wie das rationalistische Wissen und das rationalistisch interpretierte Wissen des Empirismus sein muss. So interpretiert, macht Kant dann tatsächlich Aussagen über unbedingte Wahrheit, nur nicht in Form eines als nicht-subjektiv bestimmten Dinges an sich, sondern über die unbedingt wahre, kategoriale Verschränkung von Subjekt und Objekt in theoretischer und praktischer Vernunft und in der Urteilskraft. Dies macht Kants Beschreibungen der kategorialen Verfasstheit des Bewusstseins und seiner Welt selbst zu Beschreibungen der unbedingten Wahrheit und somit zum Äquivalent der Aussagen der Rationalisten über Substanz, über das Absolute/ Gott und der Aussagen des Empirismus über die unbedingt wahre Form sinnlicher Erkenntnis. Somit ist Kants eigenes, jedoch denk- und beschreibbares ,Ding an sich‘ und damit die unbedingte Wahrheit jene von ihm analysierten kategorialen Formen der theoretischen und praktischen Vernunft, des Vernunftglaubens, der Urteilskraft und der philosophischen Methode. Dies scheint insofern Kants Selbstverständnis zu entsprechen, als er sich im Kontext der Moralphilosophie in direkter Konkurrenz zur Geschichte der Philosophie im Allgemeinen und zu Aristoteles im Besonderen versteht7 und in der theoretischen Philosophie die Aussage tätigt, auf unbedingte Weise zu wissen, dass die Methoden des Unbedingtheit beanspruchenden Rationalismus und des Empirismus falsch seien.8 So lässt sich fragen, warum Kant glaubt in der Lage zu sein Rationalismus und Empirismus zu widerlegen. Damit dies möglich ist, müssen entweder diese auf seinem Wissens-Niveau oder er auf ihrem argumentieren. Sollten sie und er auf verschiedenen Niveaus argumentieren, konkurrieren sie nicht und sind nicht vergleichbar, so dass keiner den anderen widerlegen kann. Obwohl Kant mit Verweis auf seine Denkmethode den Vergleich auf gleichem Niveau ausdrücklich ablehnt, scheint er dennoch einen mit Rationalismus und Empirismus gemeinsamen Nenner und die damit einhergehende Vergleichbarkeit zu implizieren. Laut Fichte und Hegel ist dieser gemeinsame Nenner der vorkantischen mit der kantischen Philosophie der Anspruch auf Artikulation unbedingter Wahrheit, welche als einzige in der Lage ist, philosophisches Wissen vor leerer Zirkularität, infinitem Regress und willkürlichem Abreißen von Rechtfertigungsketten zu bewahren: Insofern das Wissen der Philosophie unbedingt ist, kann angesichts seiner nicht nach weiteren Rechtfertigungen gefragt werden. Insofern es sich selbst begründet und dabei kategoriale Inhalte vermittelt, ist es nicht leer. Und insofern es seine eigene Begründung innehat, reißt es Rechtfertigungsketten nicht willkürlich ab, sondern beschreibt als System einen übergreifend-inhaltsvollen Kreis.9 So interpretiert, bietet Kant einen neuen Begriff unbedingter-metaphysischer Wahrheit an. Während Substanzmetaphysik und Rationalismus argumentieren, dass die unbedingte, metaphysische Wahrheit – zu weilen auch ,das Absolute‘ ge7

Kant, Morals, S. 378. Kant, Reine Vernunft, S. 31. 9 Hegel, Encyclopedia Logic, S. 41.

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nannt – objektiv verfasst ist, wie etwa die Substanz Spinozas oder die harmonisierten Monaden von Leibniz, impliziert der Empirismus, dass unbedingte Wahrheit der erfahrende, rein subjektiv strukturierte Geist ist. So ist Kants Vorgängern die metaphysische Wahrheit entweder rein objektiv oder rein subjektiv.10 Dagegen hält Kant laut Fichte und Hegel, dass unbedingte Wahrheit und damit das Absolute als begriffliche Verschränkung und damit als gegenseitige Bezüglichkeit von Subjektivität und Objektivität gedacht werden muss.11 Kants neue Einsicht in das Wesen der Wahrheit besteht laut Fichte und Hegel also darin, dass sich sowohl der Subjektivismus als auch der Objektivismus unterminieren, indem sie das ihrem Grundprinzip gegenüberstehende Gegenteil reduzieren und damit ihrem eigenen Grundprinzip den zur Bestimmung nötigen Kontrast nehmen. Die objektivistische Substanzmetaphysik erklärt entsprechend alle Subjektivität durch die ihr zugrunde liegende Objektivität. So wird bei Spinoza zum Beispiel die Subjektivität des endlichen Bewusstseins mit Verweis auf die objektive Substanz als Grundprinzip allen Seins erklärt. Endliche, Bewusstsein besitzende Wesen wie wir sind nur Schein der Substanz.12 Eigentlich ist alles, auch was subjektiv erscheint, so objektiv wie die Substanz denn alles ist Substanz.13 Somit findet sich auf dem metaphysischen Niveau der Objektivität der Substanz keine mit dieser kontrastierende Subjektivität. Dies macht jedoch die Objektivität selbst undenkbar, da sie nicht in Abgrenzung zu ihrem Gegenteil bestimmt ist: Wenn alles Objektivität ist, ist nicht einsichtig als was Objektivität bestimmt ist. Umgekehrt geschieht dies auch beim Subjektivismus. Wenn zum Beispiel Hume die Existenz der subjektsexternen, objektiven Außenwelt verneint, impliziert er, dass die einzige unbedingte Wahrheit die Subjektivität des Ich-losen Stromes besonderer Erfahrungsepisoden ist. Das Absolute Humes ist also Subjektivität, welche auf ihrem begrifflichen Niveau alleine dasteht. Somit fehlt ihr aber auch die Kontrastierung mit der Objektivität, was zur Folge hat, dass die Subjektivität selbst nicht als solche bestimmt ist. Es lässt sich fragen: Wenn alles Subjektivität ist, was ist Subjektivität? Laut Fichte und Hegel vermeidet Kant diesen Selbstwiderspruch des absoluten Subjektivismus und des absoluten Objektivismus wenn er die phänomenale Subjektivität als immer schon auf die phänomenale Objektivität bezogen beschreibt, beziehungsweise die von der Subjektivität geprägte Einheit von phänomenalem Subjekt und Objekt als immer schon auf die Noumenalität bezogen fasst, welche zwar nicht als Objekt im phänomenalen Sinn aber doch als Negation der subjektivistischen Phänomenalität zu denken ist. Laut Kant muss Subjektivität immer schon auf Objektivität bezogen sein und andersherum um die gegenseitige Bestimmung und Vermittlung der Momente zu ermöglichen.

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Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 76, 77. Kant, Reinen Vernunft, S. 38, 653 f. 12 Spinoza, Ethics, S. 85; Hegel, Logic, S. 333. 13 Spinoza, Ethics, S. 94, S. 102. 11

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Laut Fichte begründet diese Grundeinsicht Kants die Freiheitsphilosophie14, weil das Subjekt so als eigenständig-unabhängig und gleichzeitig als objektsbezogen denkbar wird: Kants Subjekt setzt sich selbst, entscheidet und synthetisiert spontan und steht nicht in Abhängigkeit von Natur, Substanz oder göttlichem Willen.15 Gleichzeitig ist dieses Subjekt trotz seiner eigenen Selbstgenügsamkeit immer schon auf ein mit ihm kontrastierendes, ebenfalls irreduzibles Objekt bezogen, so dass das Denken, das Urteilen, die Erkenntnis und das Handeln des Subjekt nicht inhaltsleer sind. Der Inhalt dieser Tätigkeiten ist also nie nur subjektiv sondern immer auch objektsbezogen. III. Hegels Wahrheitskriterium Fichtes Interpretation folgend, liest Hegel Kants philosophische Analyse der theoretischen und praktischen Vernunft und der Urteilskraft entsprechend als eine Bewusstseins- und damit Freiheits-basierte Alternative zum rationalistischen Dogmatismus objektivistischer Prägung laut dem alles und damit auch philosophisches Wissen unbedingt, objektiv und allgemein ist. Gleichzeitig wird Kants Freiheitsphilosophie als in Konkurrenz zum subjektivistischen Dogmatismus gelesen, der laut Fichte selbstwidersprüchlicherweise behauptet, dass alles Wissen – und damit auch das philosophische – subjektiv und damit nicht allgemein-unbedingt gültig ist.16 Gegen Fichte argumentiert Hegel jedoch, dass es nicht Charakter- und Glaubensfrage sei, ob man Freiheitsphilosophie oder Dogmatismus betreibe.17 Vielmehr will Hegel beweisen, dass die Vernunft selbst allen Dogmatismus disqualifiziert und Hegels Logik kann entsprechend als deduktiver Beweis der Scheiterns aller Alternativen zu seiner begriffsbasierten Metaphysik gelesen werden. Dabei präsentiert Hegel seine Kritik insofern als seinen Konkurrenten immanent, als das von ihm grundsätzlich postulierte Prinzip ,der Begriff‘18 als implizierter Ursprung und Endzweck aller rivalisierenden Begriffe metaphysischer Wahrheit definiert ist. Mit dem ,Begriff‘ liefert Hegel nun zum ersten Mal ein Kriterium zur Bewertung von Wissensansprüchen auf die Form unbedingter Wahrheit welches alle Philosophien auf dem gleichen begrifflichen Niveau verhandelt und somit deren Vergleich ermöglicht. Wo Kant seinen Überlegenheitsanspruch den Vorgängern19 gegenüber nicht mit Verweis auf einen gleichen begrifflichen Nenner und damit ein Vergleichskriterium rechtfertigen konnte, und Fichte es der willkürlich scheinenden Entscheidung bzw. dem Glauben überließ, welcher Wahrheitsbegriff als überlegen akzeptiert würde, ist Hegel in der Lage 14

Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 77 f.; Fichte, Wissenschaftslehre 1804, S. 10 f. Vgl. Kant, Reine Vernunft, S. 18, S. 41, S. 567 f. 16 Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 76. 17 Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 17. Fichte, Erste Einleitung 1797, S. 433. Fichte, Erste Einleitung 1797, S. 434. 18 Hegel, Encyclopedia Logic, S. 242. 19 Vgl. Kant, Reine Vernunft, S. 474. 15

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mit dem Verweis auf die Struktur der Vernunft selbst zu begründen, warum er bestimmte Begriffe des Absoluten anderen vorzieht.20 IV. Hegel und Fichtes Philosophiebegriff Dennoch bleibt die Frage, wie Hegel mit Fichtes Anspruch umgeht, dass Philosophie unbedingtes Wissen darstellt, welches Subjekte innehaben, die zumindest teilweise bedingt sind. Wie genau erheben Kant, Fichte und Hegel den Anspruch, dass endliche Subjekte, und damit auch sie als Philosophen, im Prinzip Zugang zu unbedingtem Wissen, das heißt zu Wissen um die unbedingte Wahrheit haben? In Kants Fall sind die philosophisch Wissenden phänomenale Subjekte, welche in einem nicht näher bestimmten Verhältnis zur unbedingten Noumenalität stehen und welche unbedingtes Wissen um die Struktur der Erkenntnis, der rationalen Praxis und der Urteilskraft besitzen. Laut Fichte ist der philosophisch Wissende das endliche, empirische Ich, welches sich wissend zum unbedingt-allgemeinen Ich verhält. Während Kant laut Fichte nicht erklären kann, wie die Unbedingtheit des Noumenon auf das bedingte Subjekt und sein Wissen um unbedingte, philosophische Wahrheit übertragen wird, führt Fichte an, dass das empirische Ich aus dem freien Selbstsetzen des allgemein-unbedingten Ich resultiert.21 Allgemein-unbedingtes Ich und bedingtempirisches Ich sind somit identifiziert, als das empirische Ich Manifestation des allgemeinen Ich ist und das allgemeine Ich seine Substanzialität vom empirischen Ich erhält.22 Das empirische Ich weiß um das allgemeine Ich, weil es mit ihm identisch ist. Laut Fichte ist die subjektive Fähigkeit des empirischen Ich von allen bloß besonderen Meinungen, Vorurteilen, Annahmen und Bedingungen zu abstrahieren, und sich auf die unbedingte Wahrheit als solche zu besinnen, auf diese Teilhabe am allgemeinen Ich zurückzuführen. Wir als besonders, raumzeitlich, kulturell etc. situierte Denker können die rein allgemein-unbedingte Wahrheit der Philosophie denken, weil wir auch immer schon an der übersinnlichen Unbedingtheit des allgemeinen Ich teilhaben, da wir dessen besondere, frei gesetzte Manifestation sind. Dennoch hängt das allgemeine Ich gleichzeitig vom empirischen Ich und somit von ,uns‘ insofern ab, als das allgemeine Ich ohne uns nicht besondert manifest wäre. Unser Denken bestimmt das allgemeine Ich ebenso wie das allgemeine Ich unser Denken erst ermöglicht.23 Mit Blick auf die höchste Abstraktionsebene von Fichtes Philosophie kann dieses allgemeine Ich mit dem alles begründenden Prinzip ,Ich‘24 und das empi-

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Hegel, Lectures Religion, S. 417 f. Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 26 – 30. 22 Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 15. 23 Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo, S. 82. 24 Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 30.

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risch-bedingte Ich mit dem vom Ich gesetzten Prinzip ,Nicht-Ich‘25 gleichgesetzt werden. Grundsätzlich führt Fichte alle subjektive und objektive Realität auf die Tätigkeit des Ich zurück, welches sich zuerst frei selbst setzt, um sich dann zum Nicht-Ich zu verneinen und dann dieses zu setzen.26 Ich und Nicht Ich sind somit vereint, da beide Formen des Ichs darstellen und sie sind gleichzeitig irreduzibel unterschieden, da die Verneinung des Ich zum Nicht-Ich im Begriff der Freiheit des Ich veranlagt ist. So wie diese grundlegendsten Prinzipien Fichtes durch die freie Tätigkeit des Ich erzeugt und verschränkt sind, verhalten sich auch allgemeines und empirisches Ich zueinander: Das empirische Ich ist also vom allgemeinen Ich gesetzt und hat damit eine vom allgemeinen Ich verschiedene und dennoch gleichzeitig mit diesem identische Form, so wie dies bezüglich des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich der Fall ist.27 Das allgemeine Ich setzt sich als empirisches Ich, wie das Ich das Nicht-Ich setzt, wobei das erste selbst nicht denkbar, bestimmt und konkret wäre ohne das zweite. Dies fundiert auch die Erkenntnisakte und die Praxis: das allgemeine Ich ermöglicht unsere Erkenntnis und unser Handeln, und gleichzeitig ist es unser Erkennen und unser Handeln, welches dem allgemeinen Ich erst Besonderheit und Konkretion ermöglicht. V. Fichte über Gott Dabei unterscheidet Fichte das allgemeine Ich, welches selbst unbedingte Wahrheit ist und unsere Teilhabe an der unbedingten Wahrheit ermöglicht, auch noch von der unerkennbaren, absoluten Wahrheit als solcher, welche er ,Gott‘28 nennt. Diese uneinholbare Wahrheit Gottes ist dabei als grundlegender definiert als die Sphäre des Bewusstseins und damit auch des allgemeinen und des empirischen Bewusstseins: Gott erscheint als Bewusstsein aber ist von diesem grundsätzlich unterschieden und ist somit sogar grundlegender als die alles Bewusstsein strukturierende Dynamik von Ich und Nicht-Ich. Die Welt des Bewusstseins und des Ich wird von Fichte somit als die Erscheinung Gottes bestimmt, dessen Einheit der Teilung des Bewusstseins gegenübersteht und von dieser entsprechend nicht eingeholt werden kann. Die Identität Gottes mit seiner Erscheinung ist also nicht hinreichend um seiner Erscheinung – und damit uns – Wissen um Gott zu ermöglichen. Die Wissen-unterminierende Differenz zwischen Gott und Erscheinung wirkt tiefer als deren Wissen-ermöglichende Identität. Fichte definiert philosophisches Denken entsprechend immer als Streben nach der absolut-unbedingten Wahrheit über das Bewusstsein und über Gott durch einzelne 25

Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 26. Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 24. 27 Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 15, S. 20. 28 Fichte, Wissenschaftslehre 1810, S. 696.

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Denker, welche die vollkommene Wahrheit Gottes, auf welche Sie als philosophisch Denkende uneinlösbaren Anspruch erheben müssen, nicht vollständig begreifen und beschreiben können.29 Sowohl die absolute, abgeschlossen-kategoriale Verfasstheit des Bewusstseins als auch das Wesen Gottes liegen also per definitionem jenseits des philosophischen Wissens, welches jedoch stetig nach Erkenntnis über beide ,Gegenstände‘ strebt und Teilerfolge verbuchen können soll.30 Philosophen mögen so einiges über das die kategoriale Verfasstheit des Bewusstseins und seiner Welt begreifen doch wissen sie dabei philosophisch, dass sich ihr philosophisches Wissen als unvollständig oder als Unwissen entlarven kann, so dass ihr Streben nach philosophischem Wissen linear-unendlich fortfahren muss. VI. Hegel über Fichtes Begriff philosophischen Wissens Hegel widerspricht dieser Vorstellung, da sie seiner Meinung nach das Problem des Selbstwiderspruchs des Wissens auf höherer Stufe wiederholt: Insofern die tatsächlich unbedingte, erste und letzte Wahrheit Gottes außerhalb der Reichweite der Philosophie angesiedelt wird, impliziert Fichtes Begriff der Philosophie, dass sie auf unbedingt-wahre Weise weiß, dass sie um die Wahrheit nicht wissen kann. Laut Fichte können philosophische Aussagen immer falsch sein, was seine und alle anderen Aussagen über die Philosophie einschließt: Es kann falsch sein, dass Philosophie irren kann. Fichtes philosophische Denker wissen, dass ihr Wissen um das Wissen falsch sein kann, denn das Wissen um philosophisches Wissen ist selbst philosophisches Wissen. Insofern Fichtes durch empirisches und allgemeines Ich geprägte Denker immer nur um das Bewusstsein und seine Welt und damit um die Erscheinung zu wissen streben, und nie um die tatsächlich unbedingt-absolute Wahrheit, welche sich in der Form und Welt des Bewusstseins manifestiert, erscheint das Wissen der Philosophen nur wahr, ist es aber nicht. Als erscheinendes und somit nicht wirkliches Wissen, ist philosophisches Wissen nicht selbstrechtfertigend. So meinen Fichtes Philosophen zu wissen, aber tatsächlich tun sie es nicht, weil die wirkliche Wahrheit anders als die von Ihnen gewussten kategorialen Verhältnisse sein könnte. Fichte scheint dies zu relativieren, indem er alle bewussten Denker und damit auch die Philosophen als ,Erscheinung Gottes‘ definiert, was impliziert, dass sie eine bestimmte Art der Identität mit Gott teilen. Dies kann den Gedanken ermöglichen, dass unsere Philosophie die Erscheinung des Selbstwissens Gottes ist. Insofern die endlichen Philosophen Erscheinung Gottes sind, ist seine Aktivität ihre, und doch ist ihre Perspektive laut Fichte über die Gottes insofern priorisiert, als die endlichen Denker durch die Bewusstseinstrennung Gott nur durch und im Rahmen dieser Trennung erfassen. Wir können nicht die Perspektive Gottes einnehmen, weil wir laut Fichte auf die Sphäre des Bewusstseins und damit der durch Trennung charakterisier29 30

Fichte, Wissenschaftslehre 1794, S. 21. Fichte, Wissenschaftslehre 1804, S. 76.

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ten Gotteserscheinung beschränkt sind. Die tatsächlich-wirkliche, alle Differenzen harmonisierende Einheit Gottes, aus welcher das Bewusstsein mitsamt seiner Selbsttrennung entspringt, ist dem getrennten Bewusstsein nicht ergründbar, obwohl das Bewusstsein die getrennte Erscheinung von Gottes Einheit und Aktivität darstellt. So kann die Perspektive Gottes nicht vom bewusst-endlichen Denker eingenommen werden, da der alle Subjektivität und Objektivität einende Gott per definitionem vom Denker und seinem Bewusstsein und dessen Welt verschieden ist, so dass stets Raum für von uns verantworteten Irrtum, Zweifel und Ignoranz bezüglich der Wahrheit bleibt. Fichtes Philosoph weiß also unbedingt, dass er nicht absolut wissen kann, was dem Skeptiker erlaubt, gegen jede philosophische Aussage einzuwenden, dass sie potentiell nur Streben nach Wahrheit dokumentiert, nicht aber die Wahrheit selbst. VII. Hegels Philosophiebegriff Um diese Schwäche dem Skeptiker gegenüber und den Selbstwiderspruch der Philosophie zu vermeiden, argumentiert Hegel, dass das bewusste, endliche, philosophisch denkende Subjekt in einem Identitätsverhältnis zur unbedingten Wahrheit steht, welches sowohl eine Unterscheidung zwischen endlichem Denker und unendlicher Wahrheit zulässt, als auch deren Identität garantiert. Hegel ersetzt zu diesem Zwecke Fichtes unbedingt wahren und wirklichen Gott mit dem Begriff des immer auch unbedingt-allgemeinen ,Geist‘.31 Gleichzeitig bestimmt Hegel den bewusstendlichen Denker als Erscheinung des Geistes, bettet dabei den Erscheinungsbegriff jedoch in den Begriff der Wahrheit als Begriff ein.32 So ist die Erscheinung des unbedingten Geistes der nach innen gewendete Schein des Geistes, in dem er und das Erscheinende, also die endlichen Subjekte und Denker, vollkommen transparent sind. Die Identität von Geist und Erscheinung bettet nun deren Differenz ein. Der Geist ist nicht mehr ein seiner Erscheinung fremder Grund sondern das, was vollkommen in der Erscheinung manifest ist. Insofern der Geist als bewusst-endlicher Denker erscheint, ist der Denker also Geist, was auch bedeutet, dass der Geist ohne endlich-bewusste Denker nicht ist. Ohne Geist, als in uns allgemein-inhärentes und transparentes Prinzip, wären wir nicht. Ohne uns, als besonders-endliche, wäre der Geist nicht wirklich. Wir sind also Geist, wenn auch Geist in besonders-endlicher Form. So ist seine allgemeine Unbedingtheit in uns inhärent und ermöglicht unsere Endlichkeit, während unsere Endlichkeit seine Manifestation und Wirklichkeit repräsentiert. Während bei Fichte Gott noch als unerkennbar-unwissbarer Grund der Erscheinung definiert war, ist der Geist bei Hegel also das in der Erscheinung inhärente, vollkommen präsente und begreifbare Grundprinzip alles erscheinenden Seins und Den31 32

Hegel, Logic, S. 81. Hegel, Encyclopedia Logic, S. 239.

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kens. Die Identität von Geist und uns, als seiner Erscheinung, ist also grundlegender als unsere Differenz zu ihm. Dabei bleibt der Unterschied zwischen des Geistes Allgemeinheit und unserer Besonderheit bestehen, er ist tatsächlich allgemein und wir sind tatsächlich besonders. Doch gleichzeitig ist unsere Besonderheit seine Allgemeinheit in besonderer, selbstverneinter Form, während seine Allgemeinheit die Negation unserer Besonderheit ist. Dank uns ist der Geist besonders, dank ihm sind wir, er ist in und durch uns, wir sind durch ihn. Mit dieser Figur liefert Hegel die Grundlage für sein Argument, dass wir um die unbedingte, philosophische Wahrheit des Geistes wissen: Wir begreifen die unbedingte Wahrheit des Geistes, weil wir selbst Geist sind. Indem wir ihn begreifen, begreift er sich selbst, ohne dass wir als endlich-bewusste und unsere Freiheit dabei kompromittiert werden würden. Denn die Fähigkeit und Wirklichkeit der Selbstsetzung, welche die Allgemeinheit des Geistes bestimmt, ist in uns und durch uns erst wirklich. Philosophisches Denken ist somit Tätigkeit des Geistes und unsere Tätigkeit, beziehungsweise unsere Tätigkeit und Tätigkeit des Geistes. Da der Gegenstand der Philosophie die unbedingte Wahrheit des Geistes selbst ist, ist Philosophie das Selbstdenken des Geistes. Da der Geist als wir ist, ist das Selbstdenken des Geistes auch immer unser Denken des Geistes und damit unser Denken unseres eigenen, unbedingten Denkens. Aufgrund der spekulativen Identität, die wir mit dem Geist teilen, bleibt für Hegel des Geistes Entscheidung, philosophische Wahrheit zu denken, unausweichlich auch unsere Entscheidung. Der Geist entscheidet also nicht nur für uns, sondern wir auch für ihn, wir tun nicht nur, was er tut, sondern er tut auch was wir tun. Seine Selbstbestimmung ist unsere, und unsere ist seine, so dass eine Realität, in welcher der Geist sich zum Denken seiner selbst bestimmt, ohne dass wir uns selbst bestimmen, nicht denkbar ist. VIII. Hegel über Geist und Idee Dabei dehnt Hegel den Bereich philosophischen Wissens und Denkens auch über die Sphäre des Geistes in den Bereich der Natur und der reinen Logik aus.33 Diese sind einerseits im Geist aufgehoben und existieren somit als Teil des Geistes. Und dennoch werden sie als eigenständige Sphären identifiziert: Ohne Natur wäre der Geist nicht als subjektive Form der logischen, absoluten Idee bestimmt, ohne Geist wäre die Natur nicht als objektive Idee bestimmt. Und ohne Natur und Geist wäre die logische Idee nicht als rein logisch im Gegensatz zur ,realen‘ Existenz von ,Idee als Natur, und ,Idee als Geist‘ bestimmt.34 Letztlich ist für Hegel also der Geist, ebenso wie die Natur eine Form der Idee und wir als geistige Denker können Natur und Idee denken, weil wir Teil der Idee als Geist sind, während Philosophie das Selbstwissen der Idee durch ihre Form des Geistes darstellt. 33 34

Hegel, Encyclopedia Logic, S. 42. Ibid.

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IX. Wir und das Selbstwissen der Idee Mit seiner Figur der allgemein-unbedingten Idee als Geist, der in unserer besonders-endlichen Bedingtheit manifest ist, versucht Hegel also den beiden Dimensionen philosophischen Denkens Rechnung zu tragen, welche bereits Kant und Fichte einforderten: Endliche, philosophische Denker müssen als unbedingt und gleichzeitig als besonders, als in bestimmten Umständen situiert und dennoch als unbedingt gedacht werden. Ihr Wissen ist laut Hegel jedoch nicht Streben nach unerreichbarunbedingter Wahrheit sondern Identität der besonderen Form der Idee als Geist mit der tatsächlich begrifflichen Form der Wahrheit der Idee in ihren drei Formen. Auch laut Hegel ist philosophisches Wissen demnach beides: objektiv-allgemein und somit unbedingt und gleichzeitig besonders, subjektiv-lebendig. Wenn wir philosophisch wissen, sind wir die selbstwissende Idee des absoluten Geistes. Wenn wir irren, sind wir die Idee, welche sich nicht weiß, wie sie wahrhaftig ist. Aufgrund des begriffsbasierten, freien Verhältnisses zwischen uns und der Allgemeinheit der Idee bedeutet dies gleichwertiger Weise, dass unser Irrtum verhindert, dass die Idee sich weiß, und unser Entschluss zum wahren Denken das Selbstwissen der Idee wirklich macht. So ist es aus unserer Perspektive möglich, dass wir irren und somit nicht philosophisch wissen, genauso wie es immer möglich ist, dass wir wissen. Welches von beiden wirklich ist, hängt von unserer Entscheidung ab. Dies trifft entsprechend auch auf Hegels philosophische Aussagen und die aller anderen Philosophen zu: Indem es einem Philosophen gelang, dem eigenen Philosophieanspruch gerecht zu werden, sind die kategorialen Aussagen Ausdruck der unbedingten Wahrheit. Insofern philosophische Aussagen nicht gelingen, sind sie nur einseitige oder verzerrende Meinung. Als philosophisch denkende Subjekte müssen wir also alles, was möglicherweise wahr an den philosophischen Aussagen der Vergangenheit oder Gegenwart ist, erwerben und uns eigenständig begrifflich erarbeiten, es kritisch prüfen und mit ihm oder gegen es deduzieren. Insofern uns dies gelingt, ist die unbedingte Wahrheit in unserem bedingten Denken präsent. So wäre zum Beispiel Hegels System auch nach seinem Selbstverständnis solange nur als Vorschlag und Angebot bzw. Herausforderung zu verstehen, bis wir selbst begriffen haben, was daran wahr und was falsch ist. Sowohl Hegel als auch wir als gegenwärtige Denker stehen denkerisch im Dienste unbedingter Wahrheit. Dabei lassen die Denker weder die Fragwürdigkeit des philosophischen Rechtfertigungsanspruchs noch die mögliche Fehlbarkeit philosophischen Denkens außer Acht. Noch nehmen sie ihr Fehlen an oder bestimmen ihr Wissensstreben als unerfüllbar. Aus unserer Perspektive besagt Hegels Philosophiebegriff also die Gleichwertigkeit der Möglichkeiten von philosophischem Wissen und bloßer Meinung, welche durch unseren Entschluss zum Denken der Wahrheit zugunsten des tatsächlichen Wissens aufgelöst wird.

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Literaturverzeichnis Fichte, Johann Gottlieb: Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1801 in Fichtes Werke, Berlin 1971. Fichte, Johann Gottlieb: Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse (1810) in Fichtes Werke, Berlin 1971. Fichte, Johann Gottlieb: Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre 1797 in Fichtes Werke, Berlin 1971. Fichte, Johann Gottlieb: Wissenschaftslehre nova methodo, in Fichtes Werke, Berlin 1971. Fichte, Johann Gottlieb: Die Wissenschaftslehre: Zweiter Vortrag im Jahre 1804, Hamburg 1986. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794, Hamburg 1997. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt 1986. Hegel, G. W. F.: Lectures on the Philosophy of Religion: One Volume Edition, The Lectures of 1827. Trans. R. F. Brown, P. C. Hodgson, and J. M. Stewart, with the assistance of H. S. Harris. Edited by P. C. Hodgson, Berkeley: 1988. Hegel, G.W.F.: The Encyclopedia Logic (with the Zusätze): Part I of the Encyclopedia of Philosophical Sciences with the Zusätze. Geraets, T.F.; Suchting, W.A.; Cambridge 1991. Hegel, G.W.F.: The Science of Logic, trans. G. di Giovanni, Cambridge 2010. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956. Kant, Immanuel: The Metaphysics of Morals, trans. M. J. Gregor, Cambridge 1991. Spinoza, Baruch de: Ethics, in „A Spinoza Reader“, Trans. and edited by E. Curley, Princeton 1994.

Die begriffliche Struktur des Sinnlichen Eine Erörterung der sinnlichen Gewissheit vom Standpunkt der Begriffslogik Jannis Kozatsas I. Hegels Kritik an den ,Sinnesdatentheorien‘ Die ,Hegel-Renaissance‘ wird in der gegenwärtigen philosophischen Literatur häufig festgestellt. Die Aktualität des Hegelschen Denkens kann, zumindest empirisch, leicht bestätigt werden, sobald man ans Publikationsvolumen denkt, das sich heute auf die Hegelsche Philosophie bezieht. Besonders im Bereich der sogennanten ,analytischen‘ Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes steht Hegel heutzutage als ein wichtiger Partner mehrerer Philosophen, die Probleme früherer empiristischer Annahmen zu überwinden versuchen. Besonders die Kritik Wilfrid Sellars’ an den Sinnesdatentheorien und sein Versuch, die epistemische Rolle der Sinnlichkeit in nicht-empiristischer Richtung zu begründen, hat einen neuen epistemologischen Rahmen festgelegt und die Möglichkeit einer Debatte mit der Hegelschen Tradition eröffnet. Mehrere Arbeiten haben in den letzten Jahrzehnten versucht, die Sellarschen und die Hegelschen Argumente parallel zu betrachten,1 während andere die Möglichkeit untersucht haben, die Philosophie Hegels in Gespräch mit umfassenderen Fragen der analytischen Erkenntnistheorie zu setzen.2 Besonders die ,Sinnliche Gewissheit‘ der Phänomenologie des Geistes ist zu Recht als der Text par excellence angenommen werden, worin sich Hegel mit einer radikalen Kritik der grundlegendsten Ansichten des empiristischen Fundamentalismus auseinandergesetzt hat, insbesondere seines Glaubens an der epistemischen Rolle des Sinnlichen als eines einfachen, kognitiv selbständigen, unabhängigen von begrifflichen Strukturen und unmittelbar gewissen Elements des Wissens. In der Phänomenologie kann man nicht nur die Kritik Hegels am neuzeitlichen Empirismus feststellen,3 sondern ihn auch als Aspekte späterer Kritik, besonders derjenigen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu antizipieren betrachten.4 Jenseits von diesen Versuchen, die Ansicht Hegels in Beziehung mit heutigen Debatten der Philosophie zu bringen, besteht die interne Frage noch offen, wie die He1

Heidemann; McDowell; Schick (2012); de Vries. Nuzzo; Redding. 3 Düsing; Graeser; Solomon; für eine weitere Diskussion s. Kozatsas. 4 Nuzzo; Welsch. 2

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gelsche Problematik selbst zu verstehen ist, worin Hegels Kritik am vermeintlichen unmittelbar sinnlichen Wissen besteht und wie sein Argument zu rekonstruieren ist. Hegels programmatisches Ziel geht über Kants Ansatz hinaus, die Unmöglichkeit einer Thematisierung des Sinnlichen für das Bewusstsein ohne die Einbeziehung von Verstandesbegriffe zu beweisen. Nach Hegel überwindet die Kantische Darstellung nicht erfolgreich den Dualismus von Sinnlichkeit und Begriff, indem die Synthese der Elemente ihre Getrenntheit voraussetzt, so dass ihnen die wahrhafte Einheit immer entflieht. Wie Hegel selbst bemerkt: „Schon der Ausdruck Synthesis leitet leicht wieder zur Vorstellung einer äußerlichen Einheit und bloßen Verbindung von solchen, die an und für sich getrennt sind“, so dass auf der einen Seite die sinnliche Mannigfaltigkeit und auf der anderen „der Begriff […] ohne das Mannigfaltige der Anschauung inhaltslos und leer“ steht.5 In Bezug auf den Begriff können wir das den Dualismus überwindende Programm Hegels vor allem in der Logik betrachten. In Bezug auf die Sinnlichkeit bzw. die sinnliche Anschauung entwickelt sich Hegels Widerlegung des Dualismus zunächst im Rahmen der Dialektik des Bewusstseins. Wie Hegel in der Logik hervorhebt: „Indem sie [die sinnliche Anschauung] die Bestimmtheit des Begriffs, damit die absolute Bestimmtheit, die Einzelheit, ist, ist der Begriff Grund und Quelle aller endlichen Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit“.6 Eben dieses Aufdecken der immanenten begrifflichen Bestimmtheit des Sinnlichen, das Beweisen der Immanenz des Begriffs und aller seiner Momente im Sinnlichen selbst ist die nächste Aufgabe der ,Sinnlichen Gewissheit‘. In Hinsicht auf diese Bemerkungen, möchte ich im Folgenden versuchen, das gleichnamige Kapitel der Phänomenologie im Licht der Begriffslogik zu lesen. Selbst die Relevanz der Seinslogik für die Problematik der sinnlichen Gewissheit7 wird allein von diesem Standpunkt verständlich. Wie ich behaupten möchte, liegt die Strategie Hegels darin: nicht bloß den notwendigen Bezug auf Begriffe für die Bestimmung des Sinnlichen zu begründen, sondern vielmehr zu zeigen, dass die Einzelheit diejenige immanente logische Bestimmung des Sinnlichen ausmacht, wodurch die Totalität der Momente des Begriffs mitgedacht und ihre logische Bewegung manifestiert werden kann. Die Geschichte der Erfahrung der sinnlichen Gewissheit macht so die notwendige Entfaltung und Darstellung der Begriffsmomente selbst aus. Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit zeigen sich als der einheimische Inhalt der Sinnlichkeit und stellen gerade keine äußerlich hinzukommenden Formen dar.

II. Die Flüchtigkeit des sinnlich Einzelnen Locke ist in der Neuzeit derjenige Philosoph gewesen, der sich für eine radikale Absonderung der allgemeinen Formen des Denkens von den Inhalten der Sinnlich5

TWA 6, S. 261. TWA 6, S. 261. 7 Meyer.

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keit ausgesprochen und die Ansicht vertreten hat, dass alles Wissen durch Analyse, im Sinne eines Separationsprozesses,8 auf die elementaren Teile der sinnlichen Wahrnehmung zurückzuführen und darauf zu fundieren ist.9 Nicht bloß einzelne Dinge, sondern einfache Ideen, d. i. absolut einzelne Sinnesdaten informieren uns über die Beschaffenheit der Welt und treten als unmittelbar gegebene und gewisse Elemente unseres Wissens auf. Die anscheinend unbestreitbare Präsenz und Gewissheit dieser Gehalte erlaubte noch Hume die einzelnen Eindrücke als die elementarsten wirklichen Substanzen der Welt zu benennen: „[W]enn wir unter Substanz etwas verstehen, das für sich allein existieren kann, jede Perzeption offenbar eine Substanz und jeder gesonderte Teil einer Perzeption eine gesonderte Substanz ist“.10 So ist ein blauer Punkt aus Tinte auf einem Stück Papier, der nicht mehr zu verkleinern ist, ein solcher ,vollkommen einfacher und unteilbarer‘ Eindruck, eine winzige Substanz, die „ohne vollständige Vernichtung nicht mehr verkleinert werden kann“.11 Was ein blauer Eindruck ist, erfahren wir unmittelbar, oder anders gesagt: wir verfügen über ein unmittelbares Wissen von etwas Blauem, wir verfügen über eine Art von Kenntnis durch Bekanntschaft im Sinne von Russells Sinnesdatentheorie.12 Um Bekanntschaft mit der Bläue zu machen, d. i. das Wissen zu haben, dass etwas Blaues hier und jetzt vor uns liegt (dass „jetzt, hier, Blau“, wie etwa M. Schlick sagen würde)13 brauchen wir weder eine Mehrheit von blauen Punkten noch einen roten Punkt gesehen zu haben, den wir vom blauen unterscheiden könnten. Auf jeden Fall brauchen wir über keinen allgemeinen Begriff zu verfügen, um dieses Blau als solches in unserem Bewusstsein zu haben. Allgemeine Kategorien, Art- und Gattungsbegriffe, die wir während der Artikulation unserer Wissensansprüche in Urteile und Schlüsse verwenden, werden nicht als notwendige Elemente dieses sinnlichen Wissens mit vorausgesetzt. Die mittelbare Wahrheit des propositionalen Wissens wird durch Reduktion auf die unmittelbare Gewissheit der einfachen Ideen gewährleistet. Sowohl das Wissen von zusammengesetzten Vorstellungen als auch das in Urteilen und Schlüssen artikuliertes Wissen muss durch angemessene analytische Operationen auf diese „Anfänge oder Materialien der Erkenntnis“ zurückgeführt werden.14 Die Spaltung in Gewissheit und Wahrheit wird so konstitutiv für das fundamentalistische Programm des neuzeitlichen Empirismus. Aber, wo gründet sich die Gewissheit? Was verleiht den Sinnesdaten den Charakter der Gewissheit? Offensichtlich ist es weder der besondere Inhalt der einfachen Ideen, noch ihre äußerliche Beziehung aufeinander (d. i. die Art und Weise ihres Zusammenseins 8

Locke, S. 175 – 177. Locke, S. 126 ff. 10 Hume, S. 317 – 318. 11 Hume, S. 42. 12 Russell. 13 Schlick. 14 Locke, S. 126. 9

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in Vorstellungen), der es ihnen gestattet, die Rolle einer absolut sicheren Grundlage des Wissens zu übernehmen. Im Gegenteil, es ist allein die logische Form der Einfachheit bzw. Einzelheit, die das Reduktionsmodel des Empirismus legitimiert und worauf die Gewissheit fundiert wird. Wie Locke selbst erklärt: „Nichts kann für den Menschen deutlicher sein als die klare und deutliche Wahrnehmung, die er von den einfachen Ideen hat, von denen jede einzelne, weil sie in sich nicht zusammengesetzt ist, nichts in sich enthält als eine einheitliche Erscheinung oder Vorstellung im Geist“.15 Die Gewissheit der Sinnesdaten gründet so in der Form der logischen Bestimmung der Einzelheit. Diese Einzelheit ist beziehungslos und abstrakt, insofern der Akzent auf die abstrakte Identität des Sinnlichen mit sich selbst (des ,A = A‘, des ,Blau = Blau‘, des ,Dieses = Dieses‘ usw.) gelegt wird. Das analytische Erkennen sucht das absolut mit sich Identische, das allen Unterschied und damit jede Beziehung auf Anderes von sich ausschließt, oder wie Hegel selbst bemerkt, „hat [es] immer nur die abstrakte Identität vor sich und außer und neben derselben den Unterschied“.16 Es hat als seine Wahrheit die absolute, abstrakte Sichselbstgleichheit; es hat „überhaupt diese Identität zu seinem Prinzip und der Übergang in Anderes, die Verknüpfung Verschiedener ist aus ihm selbst, aus seiner Tätigkeit ausgeschlossen“.17 Jedoch ist eine solche Einzelheit gerade nicht unmittelbar in der Erfahrung gegeben. Wie man sehen kann, wird in der Tat der einzelne Inhalt nach dem Empirismus für uns gegeben durch den subjektiven Akt der Analyse, d. i. der Unterscheidung, der Separation der zusammengesetzten Vorstellungen in ihre einfachen Bestandteile. Dieses Verfahren kann stattfinden entweder in der Einbildungskraft, als eine Zergliederung der schon erworbenen Vorstellungen, oder in vivo, in der Anschauung selbst. Im letzten Fall kann man eine einfache Idee entweder direkt zeigen oder seine Aufmerksamkeit auf sie richten oder noch einen solchen Akt mit einem Demonstrativpronomen begleiten (dieser blaue Punkt, diese rote Fläche usw.). Den konstitutiven methodologischen Glauben des Empirismus, dass der analysierende Prozess ein neutrales Verfahren ist, das den sinnlichen Inhalt allein reinigt, ohne ihn zu verändern, stellt Hegel in Frage und sieht in ihm den Angelpunkt für die dialektische Umkehrung der empiristischen Kernansicht von der kognitiven Selbständigkeit und dem erkenntnistheoretischen Vorrang des nicht-begrifflichen Inhalts. Wie Hegel etwa skoptisch bemerkt, hat für den Empirismus die Analyse der Erfahrung, die Isolierung eines vorgegebenen Inhalts, „den Sinn, daß man die zusammengewachsenen Bestimmungen auflöst, zerlegt und nichts hinzutut als die subjektive Tätigkeit des Zerlegens“.18 Aber, seiner Meinung nach, ist eine solche Überzeugung ein fataler Irrtum des Empirismus. Statt einer neutralen Zergliederung ist die Analyse die aktive Vereinzelung eines Inhalts, und somit eine Abstraktion, die den 15

Locke, S. 127. TWA 6, S. 39. 17 TWA 6, S. 502 – 3. 18 TWA 8, § 38 Z.

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sinnlichen Stoff als das Gegenteil dessen zeigt, als was der Empirismus es ausweist. In der Analyse erhalten „die Bestimmungen, welche der analysierte Gegenstand in sich vereinigt enthält, dadurch, daß sie getrennt werden, die Form der Allgemeinheit“.19 Durch das „Analysieren“ wird „ein Teil des am Konkreten vorhandenen Mannigfaltigen weggelassen“, sodass das Wissen nur an der „formellen oder Verstandesidentität […] festgehalten und von dem Unterschied abstrahiert wird“.20 Auf dieser Weise befindet sich „der Empirismus, indem er die Gegenstände analysiert, […] im Irrtum, wenn er meint, er lasse dieselben wie sie sind, da er doch das Konkrete in ein Abstraktes verwandelt“.21 Das Resultat der Analyse kann insofern für Hegel keine neutrale Separation sein, sondern die vollkommene Abstraktion des Inhalts, wodurch er in die Form abstrakter Identität aufgelöst wird. Das Einzelne des Empirismus wird zu einem absolut Abstrakten und die intendierte bestimmte Einzelheit eine bloß gemeinte, die dem abstrakt Allgemeinen gleichgestellt ist: alles ist ein Einzelnes. Die absolute Vereinzelung ist der absoluten Verallgemeinerung gleich.22 Diese merkwürdige Dialektik des Sinnlichen offenbart sich vor allem im Falle der Lockeschen einfachen Ideen selbst. Dabei kommt Locke tatsächlich in Verlegenheit, denn er kann kaum den Sinn z. B. dieses einzelnen Roten (hier und jetzt) vom Sinn des Roten überhaupt, als der abstrakt allgemeinen Vorstellung der Röte unterscheiden.23 Denn wenn der Gegenstand den Unterschied nicht an ihm hat, kann er sich von anderen nicht unterscheiden und ist insofern allen gleich, allen identisch. Seine abstrakte Identität mit sich ist eher seine Undifferenziertheit, seine Identität mit allen und somit seine abstrakte Verallgemeinerung.24 Das ist genau ein ,Weg der Verzweiflung‘ für jemanden, der auf der Ebene eines solchen Empirismus stehen bleiben will. Die einzige Bestimmtheit des Sinnlichen wird nunmehr seine Unbestimmtheit, seine Aufhebung in der Form eines reinen Seins. Dies ist jedoch für Hegel nicht bloß die Auflösung des Sinnlichen, sondern zugleich der Anfang der Entfaltung der Momente des Begriffs selbst, die das Sinnliche in seiner logischen Strukturierung beinhaltet. Die Geschichte der Erfahrung der sinnlichen Gewissheit ist eben die Darstellung der Bewegung des Begriffs als eine Setzung und Aufhebung des Gegensatzes von Einzelnem und Allgemeinem, wodurch das Bewusstsein über die Abstraktion der bloßen Sinnlichkeit hinausgetrieben wird. In diesem Lauf wird der Begriff selbst gespürt. Und wie im Begriff, wird auch hier aufgedeckt, dass trotz des „Scheins“ des Gegensatzes von Einzelnem und All19

TWA 8, § 38 Z. TWA 8, § 115. 21 TWA 8, § 38 Z. 22 Vgl. TWA 6, S. 253. 23 Für eine Diskussion, s. auch Kozatsas 2016: S. 200 ff. 24 Aber weil das Abstrakte dabei herrscht, geht umgekehrt auch die Allgemeinheit, die von ihrer Besonderung und Beziehung auf das Einzelne abstrahiert worden ist, in die Einzelheit über: das abstrakte, isolierte Allgemeine ist nichts anderes als eine einzelne Bestimmung. 20

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gemeinem, „jedes […] die Bestimmung des Anderen in sich [enthält]“, sodass „indem das eine begriffen und ausgesprochen wird, darin das andere unmittelbar begriffen und ausgesprochen wird“.25 Darin werden die Momente des Begriffs entfaltet, obwohl sie noch nicht in ihrer vernünftigen Einheit, sondern nur als ineinander übergehende aufgefasst werden können.

III. Die begriffliche Struktur des Sinnlichen Wie gesagt, will Hegel das sinnliche Wissen jenseits der Form einer äußerlichen Synergie eines nicht-begrifflichen Inhalts mit der Allgemeinheit des Begriffs verstehen. Er will zeigen, dass ein Verstandesbegriff nicht bloß die synthetische Organisation der sinnlichen Mannigfaltigkeit aufnimmt, damit sie für das Bewusstsein erst gegeben werden kann.26 Das Sinnliche wird nicht in einen begrifflichen Rahmen eingeführt. Um den Dualismus von nicht-begrifflichem Inhalt und begrifflicher Form zu überwinden, muss sich das Sinnliche von vornherein als ein innerhalb des Reichs des Begriffs liegendes Wissen erweisen. Dazu zeigt Hegel durch die Prüfung der Anmaßungen der sinnlichen Gewissheit, dass die Einzelheit nur eine der Bestimmungen des Sinnlichen ist, die in ihrer Abstraktion unmittelbar in die Allgemeinheit und Besonderheit übergeht. Das Sinnliche selbst signalisiert die Bewegung und das Ineinandergehen der Begriffsbestimmungen, deren konkrete Artikulation nur in ihrer eigenen Entwicklung als urteil- und schlussförmiges Wissen nachzuvollziehen ist. Damit der Dualismus überwunden werden kann, muss das Sinnliche schon alle Begriffsbestimmungen ausstrahlen. Das abgesonderte sinnliche Einzelne deckt seine begriffliche Bestimmtheit auf, indem seine Unmittelbarkeit als eine gesetzte, als eine Aufhebung der Vermittlung, und es als das vermittelte Vermittelte bewiesen wird. Das Zeigen, die analytische Isolation des Sinnlichen deckt auf, wie es in Wahrheit beschaffen ist: nicht als eine statische Gegebenheit, eine unmittelbare Einzelheit, sondern als das Resultat einer logischen Bewegung, „welche verschiedene Momente an ihr hat“.27 Oder wie Hegel in der Logik hervorhebt: „Das Monstrieren ist die reflektierende Bewegung, welche sich in sich zusammennimmt und die Unmittelbarkeit setzt […] – Das Einzelne nun ist wohl auch Dieses als das aus der Vermittlung hergestellte Unmittelbare“.28 Das Sinnliche ist nicht ein vor-gegebenes, unmittelbar Einzelnes, das als die inhaltliche Füllung eines formellen, leeren Begriffs ihm gegenübersteht, sondern es ist der Begriff selbst und deswegen kann es nur in der propositionalen Form des Begriffs gefasst werden. Das sinnliche Einzelne existiert nur innerhalb der entfalteten Struktur des Urteils und der syllogistischen Begründung des Wissens, und getrennt genommen ist es nur eine Abstraktion von diesen Strukturen. Seine Abstraktion deckt seine 25

TWA 6, S. 252. Vgl. TWA 6, S. 258, 261. 27 TWA 3, S. 89. 28 TWA 6, S. 300.

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negative konstitutive Beziehung auf die Allgemeinheit auf. Das Wesentliche ist präzise das, was Hegel in der ,Sinnlichen Gewissheit‘ der Phänomenologie zunächst zu beweisen unternimmt: nämlich, dass diese Abstraktion, als analytische Identifikation des Sinnlichen, statt es als ein wahrhaft Einzelnes zu thematisieren, es in alle drei Momente des Begriffs auflöst, wobei seine wahrhafte, vollständige Auffassung die Form einer Negation der Negation hat.29 Es ist genau dieselbe Bewegung, die auch durch die sprachliche Thematisierung des Sinnlichen mittels von Demonstrativpronomen aufgedeckt wird. Die Form des ,Dieses‘ umfasst und bringt zu Tage die begriffliche Bestimmung des Sinnlichen und dessen immanente Stelle in der Totalität des Begriffs. Die Dialektik der sinnlichen Gewissheit zeigt nicht, dass die Thematisierung des Sinnlichen zu seiner Transformation in ein abstrakt Allgemeines führt. Sowenig das sprachliche ,Dieses‘, das Sinnliche als ein unmittelbar vorgegebenes, absolut Einzelnes ausdrucken kann, genau so wenig kann dieses ,Dieses‘ als eine bloß abstrakt allgemeine, leere Form angenommen werden. Das Allgemeine, wird als die Wahrheit des nur gemeinten Einzelnen gezeigt, insofern als ein „Einfaches, das durch Negation ist, weder Dieses noch Jenes, ein Nichtdieses, und ebenso gleichgültig, auch Dieses wie Jenes“ ist.30 Es ist selber „ein vermitteltes“31 und somit gehören die sich gegeneinander bestimmenden, also die sich gegeneinander negativ verhaltenden und gegenseitig aufhebenden vielen ,Diesen‘ zu seiner wesentlichen Bestimmtheit. Das abstrahierte Allgemeine setzt das Weglassen anderer Bestimmungen voraus und insofern ist es ein „Negieren“; aber auch „diese Bestimmungen sind als Determinationen überhaupt Negationen“.32 „Es kommt also beim Abstrakten gleichfalls die Negation der Negation vor“33 und das Allgemeine ist „das Negative des Negativen“ oder „die Identität des Negativen mit sich“.34 Diese ,Bewegung‘ zeigt sich schon auf der Ebene der bloßen Sinnlichkeit, alsbald man nämlich das Sinnliche als ein absolut Einzelnes aufzufassen versucht: [E]s wird Dieses gesetzt, es wird aber vielmehr ein Anderes gesetzt, oder das Diese wird aufgehoben: und dieses Anderssein oder Aufheben des ersten wird selbst wieder aufgehoben und so zu dem ersten zurückgekehrt. Aber dieses in sich reflektierte erste ist nicht ganz genau dasselbe, was es zuerst, nämlich ein Unmittelbares, war; sondern es ist eben ein in sich Reflektiertes oder Einfaches, welches im Anderssein bleibt was es ist.35

Nämlich (um Hegel zu paraphrasieren): Es ist ,ein Dieses, welches absolut viele Diese ist; und dies ist das wahrhaft Diese, das Diese als einfaches Dieses, das viele Diese in sich hat‘. 29

TWA 3, S. 89. TWA 3, S. 85. 31 TWA 3, S. 84. 32 TWA 6, S. 275. 33 TWA 6, S. 275. 34 TWA 6, S. 276. 35 TWA 3, S. 89.

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Auf der Ebene der bloßen Sinnlichkeit, wo die Momente des Begriffs noch nicht in den Formen des Urteils und des Schlusses miteinander verbunden sind, zeigt diese etwas komische Wiederholung des ,Dieses‘ eben die Identität des Begriffs, dessen Momente undifferenziert ineinander übergehen. Das „Diese ist“ also, erstens, als Einzelnes, „als das in sich reflektierte Eins für sich ohne Repulsion“,36 nämlich es wird ohne seine negative Beziehung auf anderes angenommen, und diese Negativität wird einem äußerlichen Monstrieren bzw. Aufzeigen zugeschrieben. Aber das Aufzeigen des einzelnen Diesen, als eines solchen Unmittelbaren, kann (wie schon gesehen) nicht verbergen, dass dieses Einzelne eine „gesetzte Abstraktion“ ist, „welche den Begriff nach seinem ideellen Moment des Seins als ein Unmittelbares bestimmt“.37 Diese Unmittelbarkeit ist also eine nur vermittelte bzw. durch Negation der anderen Bestimmungen gesetzte Unmittelbarkeit, die so die Unterschiedenen als Unterschiedene, nämlich als in Bezug auf ihre Allgemeinheit zu unterscheidende Bestimmtheiten nimmt. So ist das „Dieses“ auch, zweitens, ein bestimmtes. Es ist dieses und nicht jenes. Es ist ein „qualitatives Eins“ oder „Fürsichseiendes“: es ist „als sich auf sich beziehende Negativität unmittelbare Identität des Negativen mit sich“ und so „Repulsion seiner von sich selbst, wodurch die vielen anderen Eins vorausgesetzt werden“.38 Somit ist es ein besonderes Einzelnes unter mehreren, das sich dadurch bestimmt, indem es sich negativ gegen andere bestimmte Einzelne verhält. Es ist ein Besonderes, das die Negation an ihm selbst als seine eigene Determination hat. Es ist so ausschließende Einzelheit und so wesentlich Bezogensein. Oder wie Hegel in einem mündlichen Zusatz der Enzyklopädie bemerkt: „[I]ndem der einzelne Inhalt Anderes von sich ausschließt, bezieht er sich auf Anderes, erweist er sich als über sich hinausgehend, als abhängig vom Anderem, als durch dasselbe vermittelt, als in sich selber Anderes habend. Die nächste Wahrheit des unmittelbar Einzelnen ist also sein Bezogenwerden auf Anderes.“39 Das ist ein schon in die Allgemeinheit erhobenes Einzelnes oder ein Einzelnes das klassifiziert ist; seine besondere Bestimmtheit ist als einfache Identität mit sich im Unterschied zu anderen Bestimmtheiten anerkannt und so „ein Setzen der Unterschiede selbst als allgemeiner, sich auf sich beziehender“.40 Das Diese hat nun die Bestimmtheit einer Art, einer Klasse. Aber zudem, ist das Diese, drittens, ebenso Ausdruck der Allgemeinheit als der Identität der besonderen Einzelnen. Das Diese tritt als derjenige Terminus auf, der die Gleichheit oder die Gemeinschaftlichkeit der Diesen ausdrückt. Es ist das einfache Diese der Diesen, die negative Einheit des Diesen und des Nichtdiesen oder der immanente Grund ihrer Möglichkeit als Unterschiedenen. Wie Friedrike Schick bemerkt: „Das Allgemeine ist hier zu fassen als das Allgemeine, das selbst die Identität und das Prinzip der Unterschiede der Unterschiedenen ist, deren Allgemeines es ist.“41 Aber des36

TWA 6, S. 300. TWA 6, S. 299 – 300. 38 TWA 6, S 299 – 300. 39 TWA 10, § 419 Z. 40 TWA 6, S. 279. 41 Schick (2017), S. 477.

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wegen ist das Allgemeine, wie es in der Dialektik der Sinnlichkeit dargestellt wird, nicht ein bloß Abstraktes oder Leeres, sondern eine „vermittelte Einfachheit“42 oder, wie Hegel es in der Logik bezeichnet, ein Einfaches, „welches durch die absolute Negativität den höchsten Unterschied in sich schließt“ und „das Reichste in sich selbst ist“.43 Es ist eben diese Konzeption der Allgemeinheit, die zeigt, dass Hegel sich im Anfangskapitel der Phänomenologie nicht für eine Diskrepanz der Sprache, das Sinnliche als solches auszudrücken, sowie nicht für eine Asymmetrie zwischen Sprache und Sinnlichkeit ausspricht. Die Asymmetrie entsteht nur, wenn man die Sprache und das Wort als das Zeichen des Formellen, des Leeren oder des Verstandesbegriffs annimmt und nicht als Expression der begrifflichen Bewegung selbst in allen ihren Momenten. Ein Allgemeines, das von jeder besonderen Beziehung auf die Einzelheit abstrahiert wäre, wäre auch nichts als ein ebenso Einzelnes, eine abstrakte Einzelheit.44 Das ,Diese‘ der Sprache ist nicht bloß eine abstrakte, leere Allgemeinheit, sondern in seiner Abstraktheit äußert es zugleich die Allgemeinheit, die Besonderheit und die Einzelheit des Inhalts selbst – obwohl diese Momente als auseinandergefallen und nicht in ihren bestimmten Beziehungen dargestellt werden, was nur dem entwickelten propositionalen Wissen möglich wäre. Die Sprache, wie W. Welsch es formuliert, hat nur eine „aufklärende Funktion“, indem sie zur Tage bringt, „daß wir für die Bezugnahme auf Einzelnes des Allgemeinen bedürfen, daß das scheinbar Unmittelbare begrifflich vermittelt ist“.45 Hinter dem Ausgesprochenen bleibt kein Unausgesprochenes als ein innerer bzw. privater sinnlicher Inhalt, der einer ,nichtbegrifflichen Wahrnehmung‘ noch zur Verfügung stehen würde, wie manche Lesarten des Hegelschen Texts anzunehmen scheinen.46 Die Annahme einer Asymmetrie würde unmittelbar die Wiederherstellung des Dualismus und des Empirismus implizieren. Unsagbar ist nicht das Sinnliche als solches, sondern das von seinem begrifflichen Zusammenhang abstrahierte Sinnliche und die Isolation seiner logischen Bestimmtheit als eines Einzelnen von der Totalität seines Bestimmtseins. Die Sprache in der Form eines abstrakt allgemeinen Terminus ist nicht weniger defizitär als das gemeinte einzelne Sinnliche. Der Mangel liegt eben darin, dass auf der Ebene der bloßen Sinnlichkeit die Momente des Begriffs nicht in bestimmten Beziehungen gesetzt werden können. Sie heben sich so gegenseitig auf und jedes geht unmittelbar in das andere über. Das Sinnliche kann nicht als solches fixiert werden und seine Einzelheit, die nur aufgrund von bestimmten Relationen möglich ist, bleibt eine nur gemeinte und kann nicht als erkannte Bestimmtheit thematisiert werden. Das wahrhafte Diese der Sinnlichkeit ist nicht das abstrakt Allgemeine, sondern die ganze Bewegung, die die Momente der Einzelheit, der Besonderheit und der All42

TWA 3, S. 85. TWA 6, S. 275. 44 Vgl. auch Schick (2017), S. 480 – 481. 45 Welsch, S. 26 – 27. 46 S. z. B. Emundts, S. 178, 192.

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gemeinheit durchläuft und nur im Rahmen des begrifflichen Wissens, das von den Sachen urteilt und schließt, in vollständiger Form auftritt. Die Erfahrung dieser zirkulären dialektischen Bewegung der Begriffsmomente drängt das Wissen dazu, über den Rahmen der bloßen Sinnlichkeit und ihr abstraktes Kriterium der Unmittelbarkeit hinauszugehen und, im Bereich des Bewusstseins, in die Form der Wahrnehmung zu übergehen. Es ist eben das Fällen von Urteilen über die Welt – zunächst über die Dinge und ihre Beziehungen– und die logische Begründung unserer Wissensansprüche anhand der Formen des Schlusses, die die sinnliche Erfahrung selbst möglich machen. Wie T. Pinkard bemerkt, besteht die epistemische Rolle von Anschauungen und Begriffen nur darin, dass sie Momente eines Ganzen sind, das die Form eines Schlusses hat, mithin eine inferenzielle Struktur ist.47 Der vermeintlich vorbegriffliche, vorsprachliche, vorpropositionale sinnliche Inhalt des Wissens existiert allein in der Weise des Wissens als begrifflichen Erkennens und unabhängig davon steht es uns in keiner wie auch immer gearteten Weise zur Verfügung. Wie die Unmittelbarkeit nur als eine Aufhebung der Vermittlung möglich ist, genauso ist die Gewissheit nur durch und innerhalb eines allgemeinen Wahrheitsrahmens gesetzt. Das sinnlich Einzelne in seiner absoluten Isolation vermittelt keine Information, macht keine Bekanntschaft möglich und gewährt dem Wissen keine fundamentale Gewissheit. Streng genommen, kann ich nicht den geringsten ,einfachen Eindruck‘ des Blauen (kein ,jetzt, hier, blau‘) als Inhalt meines Wissens haben, ohne zugleich einen ,einfachen Eindruck‘ des Roten oder des Gelben haben und den ersten von den letzteren differenzieren und identifizieren, d. h. begriffliches Denken einbeziehen. Ich könnte das Blaue (,hier‘ und ,jetzt‘) nicht wissen, nicht in meinem Bewusstsein haben, nicht nur wenn ich Blind wäre, sondern auch wenn ich keine andere Farbe gesehen hätte. Es gibt kein ,reines Sehen‘ des Sinnlichen. Ein ,reines Sehen‘ wäre wohl ein ,Sehen von Nichts‘ – ,in der absoluten Klarheit sieht man soviel und sowenig als in der absoluten Finsternis‘.48 Das vermeintlich primordiale Sinnliche ist ein durch die Negation und die Entfaltung des begrifflichen Denkens gesetztes, das, sobald es isoliert und abstrahiert wird, in der Unbestimmtheit und abstrakten Allgemeinheit eines bloßen seienden ,Diesen‘ verschwindet. Das Sinnliche wird möglich als Element des Wissens nur in Zusammenhang mit der vereinigenden Tätigkeit des begrifflichen Denkens, und die nächste Form, in der Hegel die interne Artikulation von Einzelheit und Allgemeinheit sieht, ist, im Rahmens des Begriffs, das Urteil und im Feld des Bewusstseins die Wahrnehmung. Das Gegebene wird gegeben erst im Urteilen über die Welt, wobei unsere Aussagen wahr oder falsch sein können und der Rechtfertigung, d. i. einer syllogistischen Artikulation, bedürfen. Wie D. Heidemann bemerkt, impliziert das, was man jedes Mal als ,sinnlich gewiss‘ annehmen will, „eine Mannigfaltigkeit anderer Bestimmungen und der Versuch ihrer Rechtfertigung legt offen, daß eine begriffliche Bezugnahme 47 48

Pinkard, S. 125. TWA 5, S. 96.

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des Wissens auf einen gegebenen Einzelgegenstand niemals unmittelbar, sondern nur auf der Grundlage eines Netzwerks vielfältiger Begriffe erfolgt“.49 Die abstrakte Vereinzelung ist allein das Werk der „als Verstand tätige[n] Vernunft“50 und insofern das Sinnliche auch vernünftig, aber nur als Moment einer Totalität. Die wahrhafte Vereinzelung ist das Werk der Vernunft, die als analysierender und abstrahierender Verstand wirkt und sich zugleich ihres Werks bewusst bleibt. In der Erfahrung, die wir während unserer Erziehung machen, machen wir keine bloße Bekanntschaft mit den sinnlichen Inhalten der Welt und bilden keinen Haufen von Sinnesdaten, sondern wir lernen vernünftig zu denken, d. h. das Bezogensein des Sinnlichen zu erkennen, Urteile über es zu fällen, unsere Wissensansprüche zu begründen und prüfen, und die Welt in ihrer Einheit und Zusammenhang zu begreifen. Literaturverzeichnis TWA: G.W.F. Hegel. Werke in zwanzig Bände. Theorie Werkausgabe, auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu editierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. – Phänomenologie des Geistes (TWA 3). – Wissenschaft der Logik, Bd. I & II (TWA 5 & 6). – Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. I (TWA 8). – Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. III (TWA 10). Dulckeit, Katharina: Unlikely bedfellows? Putnam and Hegel on natural kind terms, in: Angelica Nuzzo (Hrsg.), Hegel and the analytic tradition, London: 2010, S. 113 – 134. Düsing, Klaus:. Die Bedeutung des antiken Skeptizismus für Hegels Kritik der sinnlichen Gewissheit, in: Hegel-Studien 8, 1973, S. 119 – 130. Emundts, Dina: Erfahren und Erkennen, Frankfurt a. M. 2012. Graeser, Andreas: Hegels Kritik der sinnlichen Gewissheit und Platons Kritik der Sinneswahrnehmung im Theaitet, in: Revue de philosophie ancienne 2, 1985, S. 39 – 57. Heidemann, Dietmar H.: Hegel, Sellars und der Mythos des Gegebenen, in: Hegel-Jahrbuch 2002: S. 362 – 368. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur. I. Buch: Über den Verstand, Hamburg 1989. Kozatsas, Jannis: Hegels Kritik am Empirismus, Paderborn 2016. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. I, Hamburg 2006. Meyer, Rudolf W.: Dialektik der sinnlichen Gewissheit und der Anfang der Seinslogik, in: R.-P. Horstmann (Hrsg.), Hegel und die antike Dialektik, Frankfurt a. M. 1990, S. 245 – 267. 49 50

Heidemann, S. 365; vgl. auch Dulckeit, S. 120. TWA 8, § 226.

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McDowell, John: Hegel and the myth of the given, in: Wolfgang Welsch/Klaus Vieweg (Hrsg.), Das Interesse des Denkens – Hegel aus heutiger Sicht, München 2003, S. 75 – 88. Nuzzo, Angelica: Hegel and the analytic tradition, London 2010. Pinkard, Terry: Objektivität und Wahrheit innerhalb einer subjektiven Logik, in: Anton Friedrich Koch (Hrsg.), Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn 2003. Redding, Paul: Analytic philosophy and the return of the Hegelian thought, Cambridge/New York 2007. Russell, Bertrand: Knowledge by acquaintance and knowledge by description, in: Proceedings of the Aristotelian Society 11, 1911, S. 108 – 128. Schick, Friedricke: Der Mythos des Gegebenen und das Meinen sinnlicher Gewissheit. Sellars’ und Hegels Kritik des empiristischen Fundamentalismus, in: Michael Gerten (Hrsg.), Hegel und die Phänomenologie des Geistes. Neue Perspektiven und Interpretationsansätze, Würzburg 2012, S. 179 – 199. Schick, Friedricke: Die Lehre vom Begriff. Erster Abschnitt. Die Subjektivität, in: Michael Quante/Nadine Mooren (Hrsg.), Kommentar zu Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2017, S. 457 – 558. Schlick, Moritz: Über das Fundament der Erkenntnis, Erkenntnis 4, 1934, S. 77 – 99. Solomon, Robert C.: 1983. In the spirit of Hegel. A study of G.W.F. Hegel’s Phenomenology of spirit, New York/Oxford 1983. de Vries, Wilhelm A.: Sense-certainty and the ,this-such‘, in: Dean Moyar/Michael Quante (Hrsg.), Hegel’s Phenomenology of Spirit. A critical guide, Cambridge/New York 2008, S. 63 – 75. Welsch, Wolfgang: Hegel und die analytische Philosophie. Über einige Kongruenzen in Grundfragen der Philosophie, in: Klaus Vieweg/Brady Bowman (Hrsg.), Wissen und Begründung. Die Skeptizismus-Debatte um 1800 im Kontext neuzeitlicher Wissenskonzeptionen, Würzburg 2003, S. 11 – 73.

Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes

Das lebende Subjekt Luca Illetterati I. Einleitung Einer der einflussreichsten Begriffe, die Hegel in seinem System wissenschaftlich artikuliert, ist zweifelsohne der Begriff der Subjektivität. Anders, als man zuerst vermutlich erwarten könnte, findet die erste konkrete Verwirklichung der Seinsweise des Subjekts nach Hegel nicht im Geist, sondern im Horizont des natürlichen Lebens statt. Was ist aber damit gemeint? Was genau ist denn nun das Leben, das auf das Heraustreten der Subjektivität in die äußerliche Welt der Natur hinweist? In diesem Text werde ich versuchen, die charakteristischen Merkmale der lebendigen Subjektivität durch die Auslegung einiger Zeilen des Kommentars zu § 359 der letzten Ausgabe der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß hervorzuheben. Es geht nämlich um den ersten Teil der Anmerkung zum § 359 der Naturphilosophie. Der Text lautet: Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation nur für ein Drittes, für eine äußerliche Vergleichung. Mangel aber ist sie, insofern in einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Widerspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus. – Auch wenn von endlicher Vernunft gesprochen wird, so beweist sie, daß sie unendlich ist, eben darin, indem sie sich als endlich bestimmt. (GW 20, §359 A)

Die Anmerkung zum § 359, die die Seinsart des Lebendigen behandelt, enthält viele der grundlegenden Themen der Hegelschen Philosophie überhaupt und bringt einige fundamentale Punkte von dem Lebensbegriff hervor, um die es mir hier geht. Im Folgenden werde ich mich an einige solcher Fragen wenden, und zwar a) an den Begriff des Lebendigen als ein strukturell durch Mangel gekennzeichnetes Wesen; b) an den Begriff des Subjekts, und schließlich c) an den Begriff der Unendlichkeit.

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II. Das Leben Der allgemeine Hintergrund meines Beitrags bezieht sich auf den Begriff des Lebens, dessen Semantik stark auf den Begriff der Natur und des Organismus verweist. Innerhalb der ganzen nachkantischen Debatte spielt der Lebensbegriff eine wichtige Rolle, da er den Mittelpunkt des Denkens der berühmtesten Autoren jener Zeit ist1. Bei Schiller z. B. bezeichnet das Leben die Gesamtheit der Verhältnisse des menschlichen Lebewesens, das in Einklang mit dem moralischen Ideal durch eine Erziehung gebracht werden muss, die keine Zwangs- und Einsperrform des Lebens selbst sein darf. Bei Herder stellt das Leben eine geistige Verbindung dar, die keiner mechanischen Erklärung zugänglich ist und die ihre tatsächliche Verwirklichung nur im Menschen findet, d. h. in der Identität zwischen Fühlendem und Gefühltem, also dort wo es Identität zwischen Fühlendem und Gefühltem gibt. Bei Goethe ist das Leben der Ort der Verwandlung und Ausdruck der untrennbaren Verbindung zwischen den Teilen und dem Ganzen. Auf die Unmöglichkeit für das Denken, etwas wie das Leben zu verstehen, stützt sich Jacobis Kritik am Rationalismus. Laut Jacobi ist das Leben auf den Begriff irreduzibel. Auch bei Fichte ist das Thema des Lebens zentral, zumindest ab den Fassungen der Wissensschaftslehre des frühen neunzehnten Jahrhunderts. In diesen Schriften weist Fichte mit dem Begriff „Leben“ auf das Absolute selbst hin, oder, besser gesagt, noch einmal auf die Irreduzibilität des Absoluten auf den Begriff. Die begriffliche Betrachtung kann nämlich, so Fichte, das Absolute nur bestimmen und begrenzen, also in diesem Sinne in eine Dimension einschließen, die ihm als solchem widerspricht. Vom Absoluten als Leben zu sprechen und, noch entscheidender, das Absolute als Übereinstimmung von Sein und Leben zu fassen, verlangt für Fichte, das Absolute durch eine Perspektive zu fassen, die den Überschuss des Absoluten selbst gegenüber seinem begrifflichen Erfassen ausdrückt. Ein Exzess, den der Begriff selbst hervorbringt – ein Exzess also, der nur durch den Begriff entstehen kann –, der aber dennoch notwendigerweise jenseits des Begriffs ist, d. h. jenseits jeder Bestimmung, die dazu tendiert, ihn zu objektivieren und in diesem Sinne zu hypostasieren. Die Herausarbeitung der Zentralität und des problematischen Charakters des Lebensbegriffs ist bekanntlich ein Erbe von Kant. Kant ist nämlich derjenige, der die Betrachtung des Lebendigen aus der Sphäre des Mechanismus herausgeholt hat und die Notwendigkeit erkannt hat, sich entweder auf eine andere begriffliche Form als den effizienten Kausalzusammenhang oder auf einen teleologischen Kausalitätsbegriff zu beziehen, um das Lebendige zu verstehen. Gleichwohl ist aber Kant, derjenige, der dem teleologischen Modell keinen konstitutiven Wert in Bezug auf die Seinsart der Organismen zuerkennt, sondern jenem nur einen regulativen Wert zuschreibt – was die Unmöglichkeit einer begrifflichen Erkenntnis des

1

Für einen weiteren Überblick siehe Sandkaulen (2019).

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Lebens dekretiert2. Das teleologische Urteil über die Naturwesen, die Organismen sind, ist für Kant zwar notwendig. Es kann aber niemals die Form eines determinierenden, sondern nur die eines reflektierenden Urteils annehmen. Würde man die teleologische Kausalität als konstitutiv in Bezug auf Organismen anerkennen und damit mit einem bestimmenden Urteil verbinden, würde dies nach Kant notwendigerweise auch die Anerkennung einer Absicht hinter der Natur implizieren, also die Idee eines Designers, von dem aus die Idee des Zwecks in einer natürlichen Entität Bedeutung erlangt. In der Tat ist für Kant ein Zweck nur aus der Absicht eines Künstlers erklärbar. Einen Zweck, ohne einen Künstler zu denken (wie es der Begriff der inneren Zweckmäßigkeit in gewisser Hinsicht erzwingt), bedeutet, den Zweck ohne die Struktur, die ihn trägt, zu denken. Deshalb bleibt das Leben für Kant ein Geheimnis. Die bildende Kraft, die Selbstorganisation, also das, was das Leben ausmacht, ist etwas, das für Kant eine unerforschliche Eigenschaft bleibt, etwas Unerforschliches und daher Geheimnisvolles. In der Perspektive des Kantischen Kritizismus ist das Leben eigentlich unvorstellbar: Davon können wir keinen Begriff haben. Wir können Lebewesen betrachten, ihre Organisationsstruktur, die Komplexität der Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen, die sie ausmachen, ihre spezifische Autopoiesis erforschen – doch damit haben wir das Leben nicht begriffen. Die Idee der Undurchdringlichkeit des Lebens prägt bekanntlich auch das Denken des jungen Hegels. Das Leben ist die Seinsart, die die Unmöglichkeit für das intellektualistische Denken aufzeigt, die Wirklichkeit zu denken. Die Wirklichkeit, die vom Verstand gedacht wird (d. h. sowohl die Wirklichkeit, die der Verstand zu denken vermag, als auch die Wirklichkeit als Produkt der Reflexion des Verstandes) ist nach Hegel immer und nur eine tote Wirklichkeit. Der – wahrscheinlich – stärkste Ausdruck dieser Unmöglichkeit des Verstandes, eine Seinsart wie die des Lebens zu erfassen, findet sich im Text 58 der Jugendschriften, ein Text aus den Frankfurter Jahren, wo Hegel über die menschliche und zugleich göttliche Natur Jesus wie folgt schreibt: das Göttliche in einer besonderen Gestalt erscheint als ein Mensch; der Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen ist freilich ein heiliges Geheimnis, weil dieser Zusammenhang das Leben selbst ist. (GW 2, 260)

Bereits hier – wenn auch in einem ganz anderen Kontext als dem des Systems und damit auch des Textes, den ich zu analysieren beabsichtige – ergibt sich eine Verknüpfung zwischen dem Thema des Lebens und dem Thema der Beziehung zwischen Endlichem und Unendlichem. Dies macht eine Verbindung aus, die für das Hegelsche spekulative Denken kennzeichnend ist. Das Leben ist aber ein heiliges Geheimnis – sagt Hegel – nur für die Reflexion, nicht für die Wahrheit. Bei der Betrachtung des Lebens spaltet die Reflexion nämlich die Einheit und trennt das Unendliche vom Endlichen in einer gegenseitigen Gegenüberstellung, die, so Hegel, „außerhalb der Reflexion in der Wahrheit“ (GW 2, 260 – 261) nicht stattfindet. 2 Zum Thema, auch für die Sekundärliteratur, siehe Illetterati, Gambarotto (2020a, 2020b, 2014).

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Das Denken des Lebens ist für Hegel in diesen Jahren ein notgedrungen aporetisches Denken. Die Aporie besteht aus dem folgenden Dilemma: Entweder (1) denkt man das Leben, aber dann tötet man das konkrete Leben, da das Denken jenen tiefen Zusammenhang von Identität und Differenz, von Ganzem und Teilen, von Einheit und Vielheit, der das Leben ist, nicht ergreifen kann, ohne ihn zu trennen; oder (2) man verzichtet auf das Denken, aber dann ist man gezwungen, das Leben außerhalb seiner selbst zu lassen, als etwas nämlich, das ist, das aber nicht ergriffen und gedacht werden kann. In Hegels Frankfurter Schriften ist „Leben“ das Wort, das sich auf die konkrete Totalität bezieht: auf jene Totalität, die in dem Maße wirklich ist, wie sie auch ihren Gegensatz, ihre Negation in sich hält. Gerade wegen dieser Widersprüchlichkeit kann das Leben keinen adäquaten Ausdruck in einer konzeptuellen Struktur finden. Als etwas Konkretes ist das Leben für Hegel eine Identität, die Differenz impliziert, sowie eine Totalität, die das Andere in sich selbst hat und es nicht als sein Gegenteil von sich fernhält – kurz: es ist eine in sich selbst vielfältige Einheit. Was der bloße Begriff nicht ausdrücken kann, ist genau dieses Zusammengehen von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit, von Totalität und Zerrissenheit. Aus diesem Grund scheint es denn nicht übertrieben zu sagen, dass die Idee der Philosophie, die Hegel nach den Frankfurter Jahren und somit in Jena ab 1800 ausarbeitet, auf das Bedürfnis eines Begriffs der Vernunft antwortet, der das, was die traditionelle Logik nicht (begreifen) kann, nämlich jene Verbindung des Endlichen und des Unendlichen, jene Einheit des Ganzen und der Teile sowie des Identischen mit dem Verschiedenen, eine Einheit, die das Leben selbst ausmacht, nicht zu begreifen vermag. Eine solche philosophische Forderung veranlasst Hegel dazu, eine Konzeption des Lebewesens als Organismus und Subjekt und damit als Endlichkeit zu entwickeln, die zur wahren Unendlichkeit wird. Diese Überlegung kommt genau im § 359 zum Ausdruck. 1. Die systematische Verortung des Textes Ich komme jetzt zu dem zitierten Text. Bevor ich nun mit den Themen fortfahre, die in der Anmerkung auftauchen, scheint es mir angebracht, den Text topologisch im System zu verorten. Der Paragraph 359 ist innerhalb der Naturphilosophie angesiedelt, und zwar im dritten und letzten Teil der Naturphilosophie, die Organische Physik, wo die verschiedenen Lebensformen in der Natur behandelt werden. Diese Formen sind bekanntlich: a) der geologische Organismus, den Hegel für das allgemeine Bild des Lebens hält; b) der vegetabilische Organismus, den Hegel für die einzige formale und unmittelbare Verwirklichung des Lebens hält; und schließlich c) der tierische Organismus, der nach Hegel die konkrete Verwirklichung des Lebens darstellt. § 359 findet sich in dem tierischen Organismus gewidmeten Teil, d. h. in dem abschließenden Teil der ganzen Naturphilosophie, wo die Natur jene begriffliche Struktur zum Aus-

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druck bringt, die in den anderen Sphären (d. h. in der Mechanik und Physik, aber auch in den ersten beiden Teilen der organischen Physik) immer nur als unzureichend in Bezug auf die konkreten Formen der Natur erschienen war. Der tierische Organismus ist vielmehr für Hegel der wahrhafte Organismus – genau genommen kann man für Hegel nur in Bezug auf das Tier von Organismus sprechen –, weil in ihm „die äußere Gestaltung mit dem Begriffe übereinstimmt, daß die Teile wesentlich Glieder und die Subjektivität als die durchdringende eine des Ganzen existiert“ (GW 20, § 349). Die Behandlung des tierischen Organismus ist ihrerseits in drei Prozesse gegliedert. Der erste Prozess ist das, was Hegel Gestaltungsprozess nennt. Jener ist der Prozess, in dem der Organismus im Inneren nach einer eigentümlichen Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen strukturiert wird, die irreduzibel ist auf die mechanische oder physische Beziehung zwischen dem Ganzen und den Teilen. Der zweite Prozess ist dann der Assimilationsprozess, in dem das Verhältnis des Organismus zu der Äußerlichkeit betrachtet wird, in die der Organismus eingetaucht ist und durch die er sich von ihr abgrenzt. Der dritte Prozess ist schließlich der Gattungsprozess, in dem die Beziehung des Organismus zu einem anderen erforscht wird, der nicht mehr ein gattungsmäßiges Anderes ist, sondern ein anderes Selbst oder ein anderer Organismus derselben Art ist. Durch diese Beziehung – und insbesondere durch die durch sexuelle Beziehungen erzeugte Generation – geht die Natur über sich selbst hinaus, indem sich die Gattung als ein Universelles verwirklicht, das die reine natürliche Äußerlichkeit übersteigt. 2. Der Lebensbegriff im § 359 Der Paragraph 359 befindet sich im Bereich der Behandlung des Assimilationsprozesses. Der Assimilationsprozess gliedert sich seinerseits in eine theoretische Assimilation und eine reale oder auch praktische Assimilation. Die theoretische Assimilation ist die Assimilation der Außenwelt, die der Organismus durch die Sinne vornimmt. Die reale Assimilation ist hingegen die praktische und konkrete Assimilation der äußeren Realität von dem Lebendigen, d. h. die Art und Weise, auf die sich das Lebendige von seiner Umgebung trennt und daraus aufnimmt, was es zum Weiterleben braucht. Der Text, auf den ich aufmerksam gemacht habe, ist genau die Anmerkung zu dem Absatz, in dem Hegel die reale Assimilation als solche beschreibt. Worum geht es in diesem Text? Im Folgenden geht es mir darum, die auf die Subjektivität verweisende Semantik des Lebensbegriff anhand drei miteinander verbundener Begriffe zu untersuchen: der Mangel (a), das Subjekt (b), die Unendlichkeit (c). a) Der Mangel In § 359 behauptet Hegel, dass die reale Assimilation „(…) mit dem Gefühl des Mangels und dem Trieb, ihn aufzuheben [beginnt]“ (GW 20, § 359). Und in der An-

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merkung betont er sogleich, dass diese Fähigkeit, Mangel zu fühlen, nur den Lebenden eigen ist: „Nur ein Lebendiges fühlt Mangel“. Gemeint ist damit, dass die Fähigkeit, Mangel zu fühlen – und nicht der Mangel als solcher – die Bedingung der Möglichkeit dieses Prozesses ist. Wenn ein Wesen einen Mangel hat, aber diesen Mangel nicht fühlt, ist das Wesen überhaupt nicht getrieben, diesen Mangel aufzuheben. Was das Lebendige zu einem solchen macht, ist also nicht sein Mangel, sondern vielmehr seine Fähigkeit, Mangel zu fühlen. Die Fähigkeit, Mangel zu fühlen, ist sowohl das, was der Struktur des Bedürfnisses selbst zugrunde liegt – nur von dem Wesen, das Mangel fühlt, kann man im eigentlichen Sinne von Bedürfnis sprechen – als auch das, was den Trieb des Lebewesens bestimmt, den Mangel aufzuheben, was die Bewegung des Lebewesens selbst bestimmt. Man könnte sagen, dass das Bedürfnis die Erfahrung des Mangels ist, während der Trieb die Bewegung ist, die durch diese Erfahrung erzeugt wird. Deshalb ist das Lebendige – und hier zeigt sich jene problematische und widersprüchliche Natur des Lebens, die Hegel von Jugend an hervorhob – sowohl in Einheit mit sich selbst als auch von sich selbst getrennt; das Lebendige ist in der Tat ein Selbst, das, um seinen konstitutiven Mangel auszugleichen, getrieben ist, aus sich selbst herauszukommen, mithin aus seiner Bedürftigkeit, die es daran zu hindern droht, weiterhin zu sein, was es ist. Dieses Herauskommen ist genau die Bewegung des Anderswerdens, worin aber das Lebewesen zugleich in Einheit mit sich selbst bleibt. Aus diesem Grund ist das Lebewesen – um sich eines hier völlig passenden Ausdrucks aus der Wissenschaft der Logik zu bedienen – „absoluter Widerspruch“ (GW 12, 181). Das Gefühl dieses Widerspruchs, also die Fähigkeit des Lebewesens, diesen Widerspruch zu fühlen, zu spüren und zu erleben, nimmt im Lebewesen die bestimmte Form des Schmerzes an. Der Schmerz, der das Lebendige affiziert und der für Hegel nur dem Lebendigen eigen ist, ist wesentlich der Ausdruck dieses Widerspruchs, „das Gefühl dieses Wiederspruchs“ (GW 12, 187): Der Schmerz ist daher das Vorrecht lebendiger Naturen ; (…). Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz. (GW 12, 187 – 188)

Das Wort „Widerspruch“ wird hier von Hegel nicht in einem bloßen metaphorischen Sinn verwendet. Mit diesem Wort – ein Wort, vor dem der gesunde Menschenverstand flieht wie der Vampir bei den ersten Anzeichen von Licht – will Hegel vielmehr auf die dynamische Struktur des Lebens hinweisen. Diese Struktur impliziert, dass das Lebewesen gleichzeitig und in gleicher Hinsicht mit sich selbst identisch und nicht (identisch) ist: Gleichzeitig und in gleicher Hinsicht von sich selbst verschieden und nicht (verschieden) ist. Dass die Struktur des Lebendigen eine Form ist, die den Widerspruch impliziert, ergibt sich nach Hegel bereits aus Kants Begriff der inneren Zweckmäßigkeit, also gerade aus derjenigen Struktur, die nach Kant die Seinsweise der Lebewesen begreifbar macht. Die innere Zweckmäßigkeit impliziert nämlich, dass das Lebewesen eine Bewegung nach seiner eigenen Verwirklichung ist. Eine Bewegung in Richtung eines Zwecks zu sein, bedeutet, dass das Lebewesen

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diese Spannung ist, oder vielmehr, dass es ist, nur solange es diese Spannung selbst ist. In der Anmerkung zum § 204 der Enzyklopädie schreibt Hegel: Mit dem Begriffe von innerer Zweckmäßigkeit hat Kant die Idee überhaupt und insbesondere die des Lebens wieder erweckt. Die Bestimmung des Aristoteles vom Leben enthält schon die innere Zweckmäßigkeit und steht daher unendlich weit über dem Begriffe moderner Teleologie, welche nur die endliche, die äußere Zweckmäßigkeit vor sich hatte. (GW 20, § 204 A)

Der Bezug auf Aristoteles ist wie immer bei Hegel entscheidend. Zu sagen, dass die Seele die Ursache und das Prinzip des lebendigen Körpers ist, bedeutet für Aristoteles nicht, wie es bei der Seinsart der Wesen, die technai sind, geschieht, dass die Seele der Erzeuger ist, der von außen einem Körper Form gibt. Die Seele ist Ursache, sagt Aristoteles im De Anima, „als Bewegungsprinzip, als Zweck und als Wesen“3. Die Seele ist also nach allen drei Bestimmungen Ursache, weshalb man sagen kann, dass das Leben die Verwirklichung seiner selbst ist, der Prozess, durch den es in jedem Moment die Verwirklichung seines eigenen Wesens ist. Ebenfalls mit den Worten Aristoteles’ gesagt: „Dass die Seele als Wesen Ursache ist, ist offensichtlich. In der Tat ist das Wesen für alle Sachen die Ursache ihres Seins, und das Sein für die Lebewesen ist das Leben, und Ursache und Prinzip des Lebens ist die Seele“4. Der Satz „das Sein für die Lebewesen ist das Leben“ verweist auf eine andere sehr berühmte Stelle in Aristoteles’ Politica: „das Leben ist praxis, nicht poiesis“5. Dem Leben die konkrete Form der praxis zuzuschreiben, bedeutet, vor allem auf negative Weise zu sagen, dass das Leben keine Bewegung in Richtung von etwas ihm Äußerem ist und dass das Leben deshalb keinen Ort oder Umstand ist, zu dem das Leben führen würde. Das Leben ist vielmehr praxis. Das Wesen des Lebens ist leben selbst, was bedeutet, dass das Leben in jedem Moment seiner selbst, die eigene Vollheit, die Vollkommenheit seines Seins ist. Mit nicht aristotelischen Worten ausgedrückt, bedeutet es, dass das Leben innere Zweckmäßigkeit, der Prozess vom eigenen Sich-bilden ist. Zu sagen, dass das Leben praxis ist und damit innere Zweckmäßigkeit, bedeutet für Hegel zweitens aber auch, dass das Leben eine widersprüchliche Dynamik ist, die das Bedürfnis, die Entzweiung, den Schmerz, den Mangel und das Negative miteinschließt. So ist das Leben in seiner tiefsten Seinsart eine negative Einheit: eine Einheit, nämlich, die ein beständiges Sich-von-sich-selbst-unterscheiden ist, ein beständiges Aufspalten in eine Mehrzahl und Vielfältigkeit, das dennoch entscheidend für ihre Bildung als Einheit ist. Mangel und Schmerz sind also nach Hegel der Ursprung des Bedürfnisses und des Triebes im Leben. Im Mangel und im Schmerz spürt das Lebewesen nämlich seine

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Aristot., De An., B, 4, 415 b 11. Ivi, B, 4, 415 b 12 – 14. 5 Aristot., Pol., I, 4, 1254 a 7. 4

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Endlichkeit, seine ontologische Zerbrechlichkeit, und indem es sie spürt, wird es angetrieben, sie zu überwinden. In einem vorbereitenden Fragment der Wissenschaft der Logik, das auf die Jahre datiert werden kann, die Hegel in Bamberg und Nürnberg verbrachte, und das als Beilage zur kritischen Ausgabe der Wissenschaft der Logik unter dem Titel Zum Mechanismus, Chemismus, Organismus und Erkennen veröffentlicht wurde, benutzt Hegel einen Ausdruck, der vielleicht mehr als andere etwas über die Seinsart des Lebendigen und somit über das Leben im Allgemeinen enthüllt: er bezeichnet den konstitutiven Trieb des Lebendigen als eine „Thätigkeit des Mangels“ (GW 12, 280). Es ist gerade „die Tätigkeit des Mangels“ zu sein, das, was das Organische vom Anorganischen unterscheidet. Denn das Anorganische ist, da es keine von ihm selbst ausgehende Mutation impliziert, durch seine eigene Konstitution völlig ungeeignet, von so etwas wie einem Mangel aktiv getroffen zu werden. Leben ist dagegen „Tätigkeit des Mangels“, das Tätigwerden eines Mangels. Dieser Mangel ist nicht einfach eine Negation, die das Lebewesen affiziert. Vielmehr ist dieser Mangel das, was für die Seinsart dieses Wesens konstitutiv ist und daher seine Tätigkeit selbst bestimmt. Wohlgemerkt bedeutet das auch, dass das Leben nicht eine Form der Vollkommenheit ist, die einen Mangel erfährt und daraufhin eine Tätigkeit entwickelt, die lediglich auf die Wiederherstellung der verlorenen Vollkommenheit zielt. Das Leben ist vollkommen nur insofern es mangelnd ist und folglich nur in der Wunde, in der Entzweiung, in der die Spaltung verursachenden und erzeugenden Bewegung. Das Leben ist also nicht erst dann es selbst, wenn es den Mangel beseitigt hat. Die Einheit und die Vollkommenheit des Lebens drücken sich im Mangel selbst aus, sind eins mit der Entzweiung, die der Mangel impliziert. Der Mangel ist deshalb für das Leben nicht die Erscheinung eines Fehlers, der repariert werden kann, um ihm zu erlauben, in seiner vollkommenen Form zu bestehen. Das Dasein des Mangels selbst ist eins mit der vollkommenen Form des Lebens selbst. Mit einer nur anscheinend paradoxen Formel ausgedrückt ist das, was dem Leben nicht fehlen darf, um vollständig und vollkommen es selbst zu sein, eben der Mangel. Das Fehlen des Mangels ist für das Lebendige das Zeichen seines Todes. Ohne diese Tätigkeit des Mangels, ohne die Negativität, die für es konstitutiv ist, würde das Leben nicht sein. Insofern es die Fähigkeit ist, das Negative zu ertragen, den Widerspruch in sich aufzunehmen; insofern es Identität ist, die die Unterscheidung nicht ausschließt, sondern impliziert, ist das Lebendige daher für Hegel ein Subjekt. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, der mit dem Begriff des Subjekts zu tun hat. b) Das Subjekt Das Lebendige ist Subjekt, weil es in seiner Tätigkeit auf nichts anderes als auf sich selbst gerichtet ist. Die Aktivität des Lebendigen zielt auf Selbstverwirklichung ab. Das, was in sich selbst den Drehpunkt seiner eigenen Bewegung hat, das, was in sich selbst den Zweck seines eigenen Ausgreifens hat, ist nach Hegel eben Subjekt.

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Mir scheint es wichtig hervorzuheben, dass die erste konkrete Verwirklichung der Seinsweise des Subjekts nach Hegel in der Natur und nicht im Geist stattfindet. Es ist diese Verortung des Keims der Subjektivität innerhalb der natürlichen Dimension, die meiner Meinung nach erlaubt, von der Hegelschen Philosophie als eine Form von Naturalismus zu sprechen – wenn auch Hegels Naturalismus sicherlich ein Naturalismus sui generis ist: ein Naturalismus, bei dem ich dazu neige, ihn nicht-naturalistischen Naturalismus zu nennen6. Mit dem Einbruch des Prinzips der Subjektivität ist das Tier der Selbstbewegung fähig, d. h. es ist fähig, sich – wenn auch nur zum Teil – der Herrschaft der Äußerlichkeit zu entziehen und sich in Bezug auf den Ort selbst zu bestimmen, nicht nach einer äußeren Macht, sondern auf Grund der Bedürfnisse, die sich im Inneren des Organismus selbst befinden. Es ist also kein Zufall, dass genau hier, in der letzten Abteilung der organischen Physik und im Rahmen des Begriffs der tierischen Subjektivität, der Begriff der Freiheit auftritt. Die Begriffe von Subjektivität und Freiheit sind bei Hegel so eng miteinander verbunden, dass die beiden Wörter in einigen Zusammenhängen jeweils als Ausdruck oder Verdeutlichung des anderen erscheinen. Hegel erklärt die Möglichkeit und die Fähigkeit des Tieres, seine Behausung zu wechseln, mit einem Bezug auf das ganz besondere Verhältnis, dass in der natürlichen Welt die vollendete Form des Organismus zur Zeit unterhält. Die Pflanze ist der äußeren Macht des Lichts unterstellt, vor allem was ihre Bewegung betrifft, und sie bezieht sich gleichsam völlig auf die zyklische Zeit der Natur, was die Phasen ihres Wachstums, der Ernährung und der Fortpflanzung betrifft. Das Tier hingegen ist als Subjektivität eine Seinsart, die das erfordert, was Hegel bezeichnenderweise „eine freie Zeit“ nennt (GW 20, § 351). Damit ist eine gewisse Form der Unabhängigkeit des Tieres von der äußeren und rein natürlichen Zeit und somit eine Fähigkeit zur Selbständigkeit und zur Selbstbestimmung gemeint, die zum ersten Mal konkret im Reich der Natur Einzug hält. Wenn sich die „freie Zeit“ dieser Subjektivität in der Selbstbewegung des Tieres offenbart, dann darf diese Fähigkeit – die Selbstbewegung – jedoch nicht nur als spontane Änderungsmöglichkeit des Ortes verstanden werden, sondern auch, insofern man von einer „idealen“ Selbstbewegung sprechen kann (GW 20, § 351), als der Zustand, der fähig ist, zu rechtfertigen, und sich an den Ursprung all jener Eigenschaften setzen kann, die in ihrer Spezifität die Seinsart dieser natürlichen Subjektivität auszeichnen. Das sind die Phänomene der Stimme, der animalischen Wärme, der unterbrochenen Intussuszeption und vor allem des Gefühls. Nur insoweit es sich fühlt, insoweit es sich als fehlend erfühlt, ist das Tier ein Selbst, das heißt wirklich Subjekt. Insofern es fühlt, spürt das Subjekt sein eigenes endliches Sein, erfährt seine eigene Negativität, lebt seine eigene Begrenzung als Mangel und als Drang, diese zu überwinden. Diese Fähigkeit des Lebewesens, sich selbst als endlich zu spüren, und als fehlend zu erleben, nennt Hegel seine Unendlichkeit, seine Fähigkeit, die Endlichkeit aufzuheben, die es auch in seinem tiefsten Wesen ausmacht. 6

Dazu siehe Illetterati (2020).

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Luca Illetterati

Damit komme ich zu meinem dritten und letzten Punkt, der genau mit dem Begriff der Unendlichkeit zu tun hat. c) Die Unendlichkeit Die tierische Subjektivität ist nach Hegel durch Unendlichkeit gekennzeichnet, indem sie den Widerspruch des Endlichen, das sich selbst erlebt, ausdrückt. Die Unendlichkeit ist im Lebendigen nicht das Gegenteil der Endlichkeit, sondern vielmehr die Fähigkeit des endlichen Subjekts, sich selbst zu transzendieren, gerade in dem Akt, in dem es seine eigene Endlichkeit fühlt. Das endliche Subjekt ist in sich selbst unendlich, nicht weil es sich in eine andere und von der Endlichkeit getrennte Dimension stellt. Es ist insofern unendlich, als es die Unruhe und der Widerspruch ist, der das Endliche über sich hinausschiebt. Die Unendlichkeit, die hier der Seinsart des Subjekts zugeschrieben wird, ist also nicht als die Möglichkeit des Subjekts zu verstehen, die konkreten Formen des Mangels und der Bedürftigkeit hinter sich zu lassen oder, anders ausgedrückt, sich jenseits seiner Natur zu stellen. Außerhalb von Mangel und Bedürfnis findet das Lebewesen nur seinen Tod, nicht seine Verwirklichung. Die Unendlichkeit des Subjekts besteht vielmehr in der Transzendenz, die mit der Fähigkeit des Lebendigen verbunden ist, sich selbst als fehlend und zerrissen zu fühlen, seine eigene Negativität zu erfahren, selbst diejenige Bewegung zu sein, die durch den Mangel, den Riss und das Negative erzeugt wird. Die Unendlichkeit des Subjekts offenbart sich in diesem Sinne als die Fähigkeit des Endlichen, sich selbst zu transzendieren, und zwar gerade in dem Akt, in dem es sich als begrenztes Selbst fühlt, das heißt in dem Gefühl des Mangels, das es eben als endliches Subjekt konstituiert. Das lebendige Subjekt ist also das Endliche, das in seiner aporetischen Struktur immer auch unendlich ist, das also im Erspüren seiner selbst durch den Mangel seiner selbst, niemals einfach ein Endliches ist. In diesem Sinne ist die Unendlichkeit des Subjekts, die Unendlichkeit des Endlichen, das sich selbst erlebt, sozusagen eine immanente Transzendenz: eine Bewegung des Überschreitens, eine Tendenz, die immer und unaufhörlich über sich selbst hinausgeht, die aber nicht so sehr in Richtung einer anderen Unendlichkeit, in der der Mangel beseitigt oder aufgehoben wird, sondern vielmehr in Richtung jener Unendlichkeit geht, in der das Endliche sich als das erkennt, was es ist. III. Schluss Ich komme mit einigen Überlegungen nun zum Schluss. In meinem Beitrag hat sich gezeigt, dass Leben, Subjektivität und Unendlichkeit drei Begriffe bezeichnen, die sich aufeinander beziehen und aus diesem Grund in der Anmerkung zu § 359 miteinander verknüpft sind. Das Leben zu denken, heißt für Hegel, eine Struktur zu denken, die zugleich Identität und Differenz ist, die gerade in der Differenzierung von sich selbst mit sich selbst identisch ist. Die Fähigkeit, diesen Widerspruch zu ertragen – zugleich Identität und Differenz zu sein – ist nach Hegel der grundlegende Cha-

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rakter der Subjektivität, die ihre erste Verwirklichung im Tier und damit in der Welt der Natur findet. Das Tier ist fähig, den Widerspruch zu ertragen, nämlich insoweit es den konstituierenden Mangel fühlt. In diesem Gefühl des Mangels ist das lebendige Subjekt, das endlich ist, die fortwährende Überschreitung seiner selbst durch sich selbst. Insofern es sein eigenes endliches Sein spürt, ist das lebendige Subjekt also, nach Hegel, unendlich. Diese Unendlichkeit ist jedoch kein Jenseits von und aus dem Endlichen, sie ist keine von der Endlichkeit losgelöste Dimension. Die Unendlichkeit ist vielmehr, wenn überhaupt, die eigentliche Erfahrung des Endlichen, das Endliche, das in der Erfahrung seiner selbst, in der Erfahrung seines eigenen Widerspruchs, immer jenseits seines reinen endlichen Seins ist. Zu denken, dass das Leben unendlich ist – und wohlgemerkt nicht nur das Leben des Geistes, sondern das in der natürlichen Äußerlichkeit eingetauchte Leben – gerade weil es sein eigenes Sein konstitutiv durch den Mangel, den Schmerz und den Tod gezeichnet fühlt, ist deshalb, glaube ich, eine der Aufgaben, die zu verfolgen ist, wenn man im Sinne Hegels denken will. Eine Aufgabe nämlich, die es erfordert, das Verhältnis von Natur und Geist neu zu denken – auch dies im Sinne Hegels. Literaturverzeichnis Illetterati, Luca: Nature’s Externality: Hegel’s Non-Naturalistic Naturalism, Problemi International (4/2020). Illetterati, Luca/Gambarotto, Andrea: The Realism of Purposes: Schelling and Hegel on Kant’s Critique of Teleological Judgement, Rivista di Estetica 74 (2020a), S. 106 – 118. Illetterati, Luca/Gambarotto, Andrea: Hegel’s Philosophy of Biology? A Programmatic Overview, Hegel Bulletin, 41(3), (2020b), S. 349 – 370. Illetterati, Luca/Gambarotto, Andrea: The Notion of Organism. Historical and Conceptual Approaches, Verifiche XLIII, N. 1 – 4, (2014). Sandkaulen, Birgit: Der Begriff des Lebens in der Klassischen Deutschen Philosophie – eine naturphilosophische oder lebensweltliche Frage?, Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2019) 67, 6, S. 911 – 929.

Hegel’s Realism Robert Pippin I. Preliminaries The question I want to raise about Hegel’s theory of objective spirit will require a brief summary of the distinctive claims of his Elements of the Philosophy of Right, how it differs from canonical positions in ancient and modern political thought. These are not only distinctive claims, in all cases more or less unique to Hegel, but also, in my view, the “best” aspects of Hegel’s approach, what makes him worth of contemporary attention. What I want to claim is that It is precisely the innovative and the attractive alternative he presents that will unfortunately also create a difficulty that casts serious doubt on the potential relevance of his account for modern political life. These distinctive features are all densely interrelated and well-known, although not perhaps in the terms expressed here. They include (1) Hegel’s whole approach to a theory of justice or right; (2) Hegel’s conception of practical rationality; (3) his ontological and constitutive understanding of human social dependence; (4) his understanding of the crucial role played in a just social and political order by what I will call the realization of a form of legal and social standing; and (5) Hegel’s realism, most famously captured by his claim that “philosophy is its own time comprehended in thought.” (1) The central question of political philosophy is the question of justice. The core of most modern approaches to the question concerns legitimacy. The solution is assumed to be that the use of state power is rational because it rests on reasons that any rational being must accept. This in turn usually involves some claim about the “rationally re-constructed consent of the governed,” determined sometimes in somewhat fanciful counterfactual ways. With respect to social justice, the question concerns the rational distribution of the resources and benefits available in an historical period, particularly the division and organization of labor. So the simple idea is that in obeying the law or accepting and participating in social institutions, you are really only “obeying yourself.” Hegel’s objections are well-known. First, legitimacy as so understood is not at the center of his concerns. Contractualism suggests that political order derives from acts of will and commitment that can either be made or not made, or even withdrawn, and Hegel regards political life as necessary and grounded in the nature of Geist as such. The conception of ex ante individuals relying on reason alone as the ground of authority is an argumentative artifice that has nothing to do with “actual” human beings

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and especially plays no role in the creation and sustaining of allegiance and commitment to a regime. No one pays their taxes or votes or shows up when drafted because of any original position argument or some mediated representation of it. (This is not to deny that subjects have the concepts or right, obligation, value, or that they do not understand them. But they do not have them or understand them as the result of philosophical ratiocination.) And, as he famously notes in the Preface, there is simply no role for any philosophical (or “scientific”) reflection on right and its attendant arguments, to play either in the subjective nor the objective dimensions of political and social life. (This is not to say that the Philosophy of Right is superfluous or unimportant; just that it is for philosophers, not for citizens.) In a general sense that begins to raise the problem I want to discuss, Hegel does not separate the issue of political authority from several others about the worthiness or value of institutions, which is roughly where he locates the possibly inspiring source of allegiance. Finally, he agrees that the mark of a free being is rationality, but he denies that some exceptionless nomological principle, supposedly agreed to in idealized conditions, or some ideally negotiated compromise, is the mark of such rationality. (2) He has instead a substantive and not a formal theory of rationality. Human beings are essentially rationally reflective, socially dependent, historically self-transformative embodied free beings. If he is right about this, then every aspect of our reflection on just political and social institutions must take account of it, and our understanding of what it is to be such a being must be historically diagnostic, not “ideal.” (This is sometimes also called a “naturalism,” and while that can be misleading in the Hegelian context, it is not wrong.)1 We must try to understand what a historical life at a time is like, does to, inspires in, the persons who find themselves subject to it. If they come to live in a way that, as he would put it, does not agree with the right concept of Geist, then that way is irrational and unjust. (Cf. PR § 145) (There should not be elephants in circuses or whales in tiny tanks at Sea World, or a form of human life that empowers an elite based on supposedly inherited blood lines.) This conception of Geist is not an “ideal standard” for its differentiated expression in the various institutional domains of the PR because these capacities and potential collective self-understandings have various putative actualizations that cannot be straightforwardly derived from the nature of the capacities themselves. This claim of actualization has a dual meaning. It refers both to concrete historical communities, and also to their actuality or rational essence, not to a collection of empirical historical details. That is, Wirklichkeit, is not what Hegel means by Realität, reality. The latter would refer to modern life in Prussia or England or France in 1821, and would consist of empirical details about what is going on now. So while it is true that Hegel borrows some details from contemporary Prussia, and often refers to contemporary matters in the remarks delivered in the lectures, he also adds several elements that have no empirical reality (yet) but are what he still considers “actual.” The idea would be that the empirical details are not of themselves doing any philosophical work. Whatever de1

As, inter alia, in Wood’s account.

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tails are proposed have to be “redeemed” by what does all the work in the book, both the historically diagnostic and the conceptual-developmental claim, directed at what currently available institutional arrangements (even if only in potentia) can be argued to actualize the philosophical claims about the nature of freedom, of agency, the relation between subjective and objective and so forth developed largely in the work’s Introduction. But the objective side of this still indicates that Right is not a pure philosophical concept, like finitude, limit, essence, appearance, cause, teleology, Concept or what Hegel calls the thought-determinations of the Science of Logic. Its content captures the historical actuality of a time, something like its rational core or essence or even “real possibility,” to invoke the modality that Kant invented; its Wirklichkeit in that sense. That his philosophic assessment has this sort of historical focus is clear from the beginning of his analysis of civil society: “The creation [Schöpfung] of civil society belongs to the modern world, which for the first time allows all determinations of the Idea to attain their rights.” [ihr Recht widerfahren läßt] (PR § 182 R).2 (3) His claim about social dependence is ontological not empirical, and concerns what it is to be a person at all. This means that a human being can only be what it is, a free being, in participating with others in institutions like the family, civil society and the state. His full claim about social dependence is that the realization of freedom for such a being consists in: “being with oneself in an other,” often otherwise expressed in the PR as a unity of subjective and objective freedom. Remarkably, and in a way that is not as prominent in discussions of the fundamental issues in Hegel’s social ontology as one would expect (given their oddness), Hegel’s prized examples of actualized freedom are love and friendship.3 So, I don’t compromise my freedom in a sacrifice for the sake of a friend or my child; I see their good as my own as well as theirs. Just institutions can be shown to conform to that requirement. (4) Our socially dependent and historically self-transformative nature also means that our experience of this mutuality cannot be merely formal or legal. This is the basis of his insistence that modern institutions must embody the experience of equal standing and respect among participants for it is only out of such an experience that allegiance is possible.4 That is, it does not satisfy the requirements of right or 2 Hegel’s own bewilderment that anyone could have taken the Doppelsatz in the Preface to mean that he thinks everything to occurs historically must be as it ought to be is expressed, with some frustration, in EL § 6. For more on the notion see Pippin. 3 See the Addition to § 7 in the PR. “This, then, is the concrete concept of freedom, whereas the two previous moments have been found to be thoroughly abstract and one-sided. But we already possess this freedom in the form of feeling [Empfindung], for example in friendship and love. Here we are not one-sidedly within ourselves with reference to an other, even while knowing ourselves in this limitation as ourselves. In this determinacy, the human being should not feel determined; on the contrary, he has his self-awareness only by regarding the other as other.” S. 42. 4 This can be put as Yeomans does: that at the center of Hegel’s relation to Kant and so a founding principle of his own theory of objective spirit is moral psychology, not the logic of

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justice if it can be shown that institutions only formally or legally protect this notion of equality as mutual respect, or equal standing. We must be able to show that a commitment to such standing and what it requires (including the modern state) arises as a lived aspect of the quotidian participation in these institutions. Just consider the subjective moment of ethical life as described by Hegel, a state of non-alienation where the subject “bears spiritual witness to them [institutions and laws] as to its own essence in which it has its self-feeling [Selbstgefühl].” (PR § 147) Just as it is one thing to believe in the pagan religion and another to be a pagan ( PR § 147 Z), there is a difference between coming to be persuaded in a belief about liberal democracy and coming to be a liberal democrat. This all means that it is quite possible that the character of neo-liberal, globalized finance capitalism makes such a search futile, and would count “for a Hegelian” as profound injustice, not a marginal psychological worry about “how people feel about themselves.” This particularly concerns the world of work, something we need to discuss further in the next section. Especially in his lectures, like those now translated as Lectures on Natural Right and Political Science, Hegel’s concerns about the organization of labor in early capitalism already reflect a remarkable pessimism that a reformist approach to such practices would be possible. “A factory presents a sad picture of the deadening (Abstumpfung) of human beings, which is also why on Sundays factory workers lose no time in spending and squandering their entire weekly wages.” (LNR § 101) He appears to mean a factory as such, and this is an aspect of Hegel’s position that is relatively unexplored. And it is not a point that is restricted to industrial factories, as any good account of the daily grind of Amazon or Walmart workers or nursing home attendants or telemarketers or clerical workers will make clear. Finally (5), I understand Hegel’s social and political thought to be a realism, as that term is understood in political philosophy today and in a way this is the most important dimension, one that includes all the others. This means that reflection on political and social order must begin with human beings “as they are,” and in Hegel that means, “as they have come to be.” But access to such a beginning orientation is not straightforwardly empirical. It is interpretive (including interpretations of its “actualization of right” potential), and also requires some account of why they are as we might claim they have come to be. To many this seems impossibly ambitious, that the late modern world, even in the restricted domain of Western European and North American societies, is too fragmented, religiously and culturally diverse for any such an attempt to succeed. But from a “Hegelian” point of view (not the historical Hegel’s) there are sufficiently widespread features of the organization of power in modern societies to make such an interpretive-diagnostic task generally feasible. With some variations, the organization of labor under global capitalism, and its material inequalities and humiliating working conditions, a consumerist culture, the extreme concentration of wealth in ever fewer hands, the decreasing power of states judgment. Yeomans interprets such psychology in political terms, so it is in effect not as individualist as it can appear. Political psychology might be a more apt term.

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in the face of finance capitalism, the phenomenon of mass migrations and the apparent inability of advanced societies to control the racism that increases with the disappearance of the nation state (and the subsequent compensatory rise of nationalism), and the emergence of reactionary religious movements are substantial enough to count as a coherent object of critique. In addition, to return to and to emphasize again a point made before, one of the virtues of Hegel’s realism is that he treats the question of our allegiance to, investment in, willingness to work for and sacrifice for what such a form of life requires as a natural expression of the kinds of desires, concerns, self-understanding and especially the formative effects of a kind of social order that a society produces in its citizens, including an experience of the frustration of these capacities. Finally, if rational self-interest and a calculation of material advantages cannot be the basis of such allegiance to public social and political order, Hegel’s owe us an account of what the “belonging” required for the social solidarity he sees as so valuable consists in. Hegel was not a proponent of the nation state as that came to be understood after Herder, but his accounts of the institutions and practices that comprise the “Bildung” of burghers in a Rechtsstaat do not appear to be adequate for a mass, culturally diverse societies, and anyone interested in Hegel has the task of explaining what could contribute to this desideratum in modern societies. All of this raises the question of what a “Hegelian” committed to such a substantively rational, social dependence realism must also be committed to when it comes to historical actuality. This is all the more critical when one considers his claim in the Preface that his account “must distance itself as far as possible from the obligation to construct a state as it ought to be,” (PR, 21) and that we do not just resign ourselves to historical actuality as some approximation of rational actualization but “the peace which cognition establishes with the actual world has more warmth in it than that.” But what conclusion should we draw if that “peace” is utterly impossible? II. Historical Actuality I have already said I believe that Hegel has a substantive rather than formal conception of rationality and treats human beings as fundamentally, or ontologically, socially dependent beings. Accordingly, the realization of freedom requires not merely the absence of arbitrary external constraint, but the achievement of a kind of social solidarity he calls being-with-self-in-other. Being free is being free to live as one is, as such a socially dependent being, or to live “in the truth.” This is too controversial to try to defend here, but I believe it entails that for him practical rationality in this context at least is best understood as a social practice, the mutual offering of considerations that persons offer others when what they do conflicts with what others would otherwise be able to do. But such an exchange of considerations need not be argumentative reasons, but considerations tied to various possible modes of reconciliation with others (like “because we are colleagues,” or “because this is what a good worker or a good father should do”).

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The problem is how the most important desideratum of his social and political philosophy, the concrete actualization and lived out recognition of social solidarity as a matter of equal standing within modern institutions, is to be understood since it is not something that can be the object of legislative will. Legal remedies are inherently coercive and coerced recognition or solidarity is not recognition or solidarity. The solution is supposed to be the ways in which civil society educates, forms, as in Bildung, the workers and Burghers about their stake in each other, their mutual dependencies and the importance of an acknowledged standing among others. This education is what creates the “second nature” that makes the relation between any subject and ethical substance a matter of “self-feeling,” a mediated identity. The very difficult question this raises has already been discussed here as Hegel’s historical realism, and aspects of historical development that he does not think can disappear without ethical harm, like the distinction between civil society and the state. What he did not appreciate was how badly modern capitalism would require massive state intervention, and how such a situation after World War One would invite the major stake holders in civil society to work to obliterate this distinction between the regulatory and the political state or that they would succeed so decisively after the rise of neoliberalism. The dissolution of this distinction also means the absence of allegiance to a common good, or any strategy of Bildung that could restore it. This is something that threatens everything from tax-based financing of public education to all forms of social insurance to the merely theatrical character of modern elections to “the security of a safe street in a state.” If Hegel is even minimally right about historical change, this situation ought to prove (eventually) unbearable. There are indications today that it is. III. The Problem of Ethical Standing Now the case for the rationality of this novel dimension of modern society – essentially a capitalist or profit driven, money economy and its regulation – depends on a complex a priori account of the logical relation between particularity, universality and what Hegel will call individuality, as the mediation of universal and particular, something itself supposedly not properly understood until Hegel’s speculative metaphysics.5 The one principal of civil society is the “concrete” person, das Besondere, someone who has her own particular ends, unique to her, and who is, …is in relation to other similar particulars [Besonderheit], and their relation is such that each asserts itself and gains satisfaction through the others, and thus at the same time through the

5 For the best explanation known to me of the bearing of theory of the syllogism on the practical philosophy, see Moyar: S. 223 – 227. For a somewhat different account, see Knappik, S. 189 – 268, especially S. 253 – 268.

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exclusive mediation of the form of universality (Allgemeinheit], which is the second principle. (PR § 182 Z)6

If considered on its own and in isolation, this realm of agents pursuing those unique ends is “Boundless, extravagant, and the forms of this extravagance are themselves boundless.” (PR § 184 Z) But as we have noted, civil society is also supposed to be bildende, educative. In the attempt by particular subjects to realize their distinctive ends they experience a mutual dependence on others which they come to understand not as limiting but as self-realizing for each, an ethical bond in service of a genuine common good, the realization of an aspect of freedom as a good. And this is just one of the reasons why the labor situation is so important to Hegel, an evaluation that stretches back to the discussion of the Knecht in the Phenomenology and beyond. It is a vehicle of self-actualization, the confirmation of one’s distinctive talents and individuality. Workers come to understand a substantive and universal norm that all amounts to Hegel’s case for the partial and circumscribed rationality of civil society and so the ethical significance of the modern economy. As he puts it, “the principle of particularity passes over into universality, and only in the latter does it have its truth and its right to positive actuality,” (PR § 186), and the education it effects “is therefore liberation and work towards a higher liberation.” (PR § 187 A) He means that the way I direct and limit my pursuits is not determined solely by my individual self-interest, but comes to be, the way he always puts it, “mediated,” also suffused by a consciousness of a universal principle that binds all rational beings. This universality is not yet adequate, is still a version of a common interest, not full ethical universality, but it is “conciliatory” (versöhnende), he came to believe, in a significant way. As noted, this is not what Hegel would call an “immediate” identification with such a universal norm, but is “mediated” by the various ways in which one comes to have standing in the eyes of others, not just as another self-serving bargainer, but as a member first of Stände or classes (a mediated universal in his terms), acknowledged as necessary for the well-being and self-respect of all; the agricultural, the manufacturing and what he calls the “universal” class, most prominent in the civil servants who rise to such significance in Hegel’s account, and as members of the various Corporations, associations defined by work roles, within which one also has standing as, say a carpenter, or cooper, or teacher or skilled laborer or administrator of any kind. As Hegel puts it, the universality at issue “is the quality of being recognized, is the moment which makes isolated and abstract needs, means, and modes of satisfaction into concrete, i. e. social ones.” (PR § 192) And this recognition “involves the requirement of equality.” (PR § 193) Again, Hegel points out that this is still a limited conception in the stake we have in each other, and so still more of a “commonality” of interests as a limited universal. And he certainly defends some regulatory connection (by the Polizei, see PR § 233) between entitlement rights and welfare, including the right to work. (See PR § 230) However, very little of his notion of ethical standing or genuine recognition of worth 6

See also PR § 199.

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is addressed by such minimal welfarism. Moreover, he goes well beyond that in his accounts of the negative and indeed unethical aspects of life in a modern economy. It is only at the level of a political identification, as fellow citizens, that this true universality and a finally satisfying form of recognition is possible. The strict distinction between the political state and civil society is a foundation of his whole approach. But Hegel raises a number of problems for which intervention does not seem relevant. On the one hand, Hegel, like so many early theorists of capitalism, imagined a domain of craft and production that assumes a certain scale; self-owned small business, industrial production that makes use of the distinctive talents of workers (a craft-like model). On the other hand, he could see what was coming. He was well aware of the economic advantages for the owners of capital to simplify and mechanize labor in ways that drastically alter the pride one takes in own’s standing and so one’s honor; the advantages, indeed, of eliminating all dependence on worker talent, the source of their standing in a corporation.7 One’s expectations of being recognized as having worth, one’s standing, is threatened by the internal dynamic necessary in capitalism, the accumulation of surplus capital, or wealth, the engine of capitalist growth itself. These aspects of a manufacturing economy, the deadening effects of factory routine and the increasing simplification and de-skilling of the labor process, are obviously serious problems in a systematic account so focused on the social bases of the respect or recognition that is criterial for that particular-universal relation that is supposed to count as limited but real justice of civil society. Competitiveness makes the very difficulties he points out inevitable, and one begins to worry whether the deprivations and pathologies produced will be so severe that they make completely implausible the idea that one’s role as a citizen can re-establish that dignity and sense of worth so inevitably destroyed by these conditions. Moreover, Hegel does not much discuss the fact that modern commodity production would not be possible if it did not also create values distinct to a market economy, well beyond the general commitment to the value of freedom and some potential for solidarity. Capital for Hegel is just accumulated wealth; it does not become a value in itself. But it obviously does in capitalism, inverting Hegel’s treatment of money as a mere means, as the ends of capitalism subordinate all human value, including the human value most important for Hegel, equality as mutuality of recognition.8 Anyone who ignores the value of maximizing profit for the sake of some such human end insures their competitive disadvantage and eventual ruin. This is the familiar capitalist ideology of necessity, Thatcher’s “TINA” ideology (There Is No Alternative) and Hegel does not seem sensitive to it.

7 See Yeomans for a compelling case for the centrality of talent in Hegel’s picture of the role of these institutions. 8 Cf. Herzog’s account of this problem.

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The issue all of this raises is clear and goes to the heart of what Hegel is trying to do. The question is: how are we to view what appear to be intractable and destructive ethical aspects of a market economy? Given the problems he has focused on, his claim in PR § 253 R that the corporation’s ability to alleviate poverty also alleviates its “humiliating character” would appear to miss the point about the source of that humiliation and so seems tone-deaf. We recall that for Hegel, social and political systems that are regarded as grounded in putative ahistorical ideals actually always simply already reflect the level of self-knowledge available at a historical time. In the example of Plato and his Republic that Hegel cites in the Preface, justice was understood as threatened by the demand for acknowledgement by the individual subject for standing and respect as such distinct individuals, not merely as fellow citizens. The assertion of the subject as having standing in itself was regarded as the assertion of mere inner caprice, whim, feeling and so forth, and the task of education was to sublimate such eros in favor of an organic identification with the Politeia. But we can now see, in Hegelian hindsight, that this principle of subjective standing was a world historically significant demand, a demand of reason manifest in historical time, one that made the continuation of the polis, that form of regime, impossible. Its emergence as a critical problem in the ancient world was a sign that that world itself would soon disappear under the pressure an ever more self-conscious realization of that world’s irrationality, something made fully manifest in Christianity. As we have seen, Hegel has interpreted a market economy, capitalism, as unavoidably producing, in the deskilling trajectory of modern labor (something he was warning about well before Fordism and Taylorism), and among the chronically unemployed and the wealthy a detachment from the only available social bases of self-respect and recognitive status; the labor process. As he puts it, “without the mediation of work” there would be no feeling of “self-sufficiency and honor among its individual members.” (PR § 245) Given the constellation of Hegel’s distinctive claims about allegiance and therewith authority that we discussed at the outset, this creates a fatal problem for Hegel. Ensuring economic security, at some minimal level, cannot possibly educate workers in modern capitalism to their stake in each other that creates anything like the solidarity Hegel’s position on the nature of allegiance requires. And here we should stress that this problem is not a minor psychological issue when, say, compared with such material well-being or security. The basic claim of Hegel’s account is that there can be a logical relation between the independence and dependence among individuals in civil society, in economic activity, productive labor, management and exchange, that is neither disjunctive nor a mere compromise, but that the educative experience of civil society can teach its members that true independence is not qualified by but realized by a form of dependence, and that being dependent in the right way in a society with a division of labor is the achievement of independence. The key to this unusual claim is the experience of one’s standing among one’s fellow burghers. True to that idea, he tries to show, or at least to assert, that one’s standing in an estate, and in a more mediated way, in corporations or work associations can preserve that recognitive status even if wealthy or unemployed. Even though, he claims,

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civil society teaches one that in acting for himself, he is acting for others, this “is not enough; only in the corporation does it become a knowing and thinking part of ethical life.” (PR § 255 Z) And finally, he thinks whatever residue of ethical damage by capitalism’s relentless need to eliminate the bases of societal respect can also be decisively mediated by the political state and one’s experience of others as fellow citizens. A typical claim about the state proper: “The end of the corporation, which is limited and finite, has its truth in the end which is universal in and for itself and in the absolute actuality of this end.” (PR § 256) But his responses to the problems Hegel himself points out in modern generalized commodity production are remarkably weak; remarkable given the seriousness of the problems. Corporations that are organized around the particular interests of different (and inevitably competing) worker groups cannot be the basis of any true universal equal standing among all. Moreover, it is hard to see that solidarity in such a group would not be undermined by an inevitable patronizing for those who cannot find work, and Hegel leaves unexplained how merely being a member with such a reduced standing would generate that solidarity at all (as opposed to resentment of those who still, contingently, and for no good reason, still happen to have work). And it is unHegelian to suggest that the state functions merely as some sort of compensatory experience; it is supposed to be the realization of an emergent ethical ideal experienced in civil society: standing, or Standesehre (PR § 253 A) let us say, a contentful measure of respect and importance that can generate a real stake in the common good. And a compensatory function would leave all the problems of civil society intact, just ameliorated not “sublated.”9 So despite Hegel’s apparent reluctance to put it this way, the question is whether the diagnosed situation is like the historical situation of Plato or not. Is what Hegel has diagnosed a form of life confronted by what might seem to be problems of the sort that any finite, imperfect social and political system must confront as best it can, or is it a form threatened in toto by what are really indications of a far deeper irrationality, a threat to the realization of freedom that announces the necessity of a major historical transformation? The threat is not wealth or poverty in itself for Hegel, just as the mechanization and simplification of the labor process is not the problem of tedium or boredom. On Hegel’s view, market economies create massive incentives for the owners of capital to undertake measures that inevitably reduce the experienced bases of any contentful standing among one’s fellow human beings and so distorts any Bildung that might inspire a commitment to a common good or even participation in politics. From everything we have seen thus far, I think it is impossible to avoid concluding that on Hegel’s own terms the situation he describes is a clear echo of the situation he 9 Hegel does claim that Standesehre, which he admits is unavoidably harmed in modern work, requires the restoration of that Ehre in a corporation, as at (PR § 253 A).

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claims Plato was facing. Capitalism, generalized commodity production that everywhere assumes a profit motive and the constraints of competition, are inconsistent with what I have been calling an ethical standing that counts for Hegel as the basis of mutual respect and so the experience of one’s own worth, demands he thinks of as genuine historical achievements that cannot be ignored. This makes it very hard to understand how allegiance is supposed to be an “identification” with ethical substance, not mere consent to it or the strategic realization of its usefulness. The experience of civil society is supposed to create this form of allegiance but Hegel himself provides the evidence, even at this early stage of industrial capitalism, that it cannot. Even though he doesn’t put it this way, what I have been calling this problem of one’s standing cannot be a regrettable but still acceptable one of a system of production that would still stand as on balance a concrete and objective actualization of freedom. This is because this question of mutuality is inseparable from Hegel’s account of freedom itself and thereby of the possibility of allegiance. There may still be a great deal of work to be done to explain the paradoxical claim that I cannot be free unless I am recognized as free in a concrete institutional way, but it is certainly Hegel’s position, given his coupling of the essentiality of labor to human worth, together with Hegel’s hesitations about whether this recognition is possible in a competitive system of production. This has to mean that the situation he describes is much like the one he assigns to Plato (or to Sophocles or to feudal institutions or to French Jacobinism). In the case of Plato, the “new principle” was what he called “the right of subjectivity.” In this case, the problem is the incompatibility of a productive system in which the constraints of competitiveness require the maximization of profit and the minimization of the cost of labor, with the real social bases of self-respect and the achievement of standing in the eyes of others. Given how Hegel understands the concept of freedom, there is no way to avoid the conclusion that this form of actualization of freedom “does not agree with its concept,” the Hegelian mark of irrationality. It is not easy to understand how Hegel would want to retain what he regards as the positive socializing and educative effects of a market economy if, let us say, private ownership of the means of production were ended, or whether some radically reformist measure, like worker control of the conditions of their labor, or if there were design of production technology that takes into account the need to insure the dignity and social standing of workers. But the case I have tried to make is that Hegel’s own account invites or even demands such speculation, and we should not hesitate to hope that there are such possibilities building in the political pressures caused by the dissatisfactions so obvious today and to see them as deeply consistent with Hegel’s approach to historical actuality.

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Works Cited Buchwalter, Andrew (ed.): Hegel and Capitalism, Albany 2015. Fichte, Johann Gottlieb: Foundations of Natural Right, Cambridge 2008. Hegel, G.W.F: Elements of the Philosophy of Right, A. Wood (ed.); transl. H.B. Nisbet, Cambridge 1991. (PR) Hegel, G.W.F.: Lectures on Natural Right and Political Science, transl. J. Stewart, P. Hodgson, Berkeley 1995 (LNR). Hegel, G.W.F.: The Phenomenology of Spirit, transl. T. Pinkard, Cambridge 2018 (PhG). Herzog, Lisa: Inventing the Market. Smith, Hegel and Political Theory, Oxford 2013. Knappik, Franz: Im Reich der Freiheit. Hegels Theorie autonomer Vernunft, Berlin 2013. Moyar, Dean: Hegel’s Value. Justice as the Living Good, Oxford 2021. Pippin, Robert: Hegel’s Realm of Shadows. Logic as Metaphysics in the Science of Logic, Chicago 2018. Thompson, Michael: Capitalism as Deficient Modernity: Hegel Against the Modern Economy, in: Buchwalter, S. 117 – 132. Wood, Allen: Hegel’s Ethical Thought, Cambridge 1990. Yeomans, Christopher: The Expansion of Autonomy: Hegel’s Pluralistic Philosophy of Action, Oxford 2015.

Hegel und die Zukunft der Welt Thomas Pogge „Die Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst,“ schreibt Hegel in der Vorrede zu seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (kurz nach Rhodos (GW 14.1., 15)). Mein Aufsatz ist ein Versuch, unsere Zeit – 200 Jahre nach Hegel – in Gedanken zu erfassen. Das soll im Stil von Hegel geschehen, also als Versuch, unsere heutige politische Welt als eine in sich Vernünftige zu begreifen und darzustellen, so, wie Hegel den Staat als etwas in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen suchte (kurz vor Rhodos). Wo Hegel vom Staat i. w. S. sprach, spreche ich vage von „unserer politischen Welt“, davon, wie Menschen sich in unserer Zeit politisch organisieren. Zwar sind Staaten dafür weiterhin zentral, aber ihr Charakter ist doch, insbesondere durch andauernde Globalisierung, ein anderer geworden. Zu Hegels Zeit war ein Staat im Wesentlichen ein einzigartiges Individuum: der preußische Staat, oder der französische; und der Charakter jedes dieser damals recht wenigen Staaten war wesentlich von Innen bestimmt, vor allem durch die besondere Sittlichkeit des ihn konstituierenden Volkes. Jedes dieser führenden Völker hatte sein eigenes nationales Institutionengefüge, seine eigene Art, sich zu organisierten und nach außen zu repräsentierten. Im Gegensatz dazu war und ist die Familie in erster Linie eine generische Organisationsform, die Menschen, unter dem Druck normativer Erwartungen und innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen, immer wieder neu reproduzieren. Das ist seit Hegel auch aus dem Staat geworden: ein globalisiertes Schema, das allen Weltgegenden und Bevölkerungen von außen aufgedrückt wird. Unsere politische Welt hat sich zu einem Staatensystem weiterentwickelt. Und damit widerspreche ich denen, die in fragwürdiger Berufung auf Hegel ein Ende der Geschichte postuliert haben – ohne allerdings deren These hier genauer untersuchen zu wollen. I. Die Idee des heutigen Staatensystems Um in Hegels Stil zu reflektieren, müssen wir uns auf die Idee unserer heutigen politischen Organisiertheit konzentrieren – so, wie Hegel sich auf die Idee vom Staat – vom preußischen Staat – konzentriert hat.1 Um unsere politische Welt ver1 Er schreibt: „Weil es aber leichter ist, Mängel aufzufinden, als das Affirmative zu begreifen, verfällt man leicht in den Fehler, über einzelne Seiten den inwendigen Organismus

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nünftig zu erkennen, müssen wir sie als vernünftige erkennen. Was also ist das Affirmative der heutigen Weltordnung, ihre Idee oder Wirklichkeit? Plakativ gesagt: Rechtssicherheit unter gerechten Regeln. Zur Rechtssicherheit. Ein wichtiger Gegensatz zwischen unserer Zeit und Hegels ist, dass in unserer der Rechtsgrundsatz internationalisiert ist.2 Er gilt generell für die Beilegung aller Konflikte – nicht nur für Konflikte unter Rechtspersonen desselben Staates, sondern auch für Konflikte von Staaten untereinander sowie auch für Konflikte zwischen Staaten einerseits und inländischen oder ausländischen Privatpersonen, Verbänden, Korporationen und Gemeinschaften andererseits. Der Idee nach ist unsere politische Welt rechtlich voll durchorganisiert – und somit die Gewalt als Methode der Konfliktlösung abgeschafft – übrigens auch offiziell, mit dem Pariser Kellogg-Briand Abkommen vom 27. August 1928. Zur Gerechtigkeit. Ihrer Idee nach ist unsere Weltordnung eine, in der sowohl Staaten als auch Individuen und deren Verbände, Korporationen und Gemeinschaften sich frei entfalten können. Unsere Weltordnung lebt im Spannungsverhältnis zwischen dem Selbstbestimmungsanspruch von Staaten, einerseits, und dem Anspruch ihrer Bürger auf freie Entfaltung andererseits. Gerechte Regeln müssen die Freiheit von Staaten und von Menschen schützen, ermöglichen und fördern. Dabei sind die verschiedenen Freiheitsansprüche gegeneinander auszubalancieren: Die Menschenrechte jedes Menschen sind so zu verstehen, dass sie mit den Menschenrechten anderer Menschen vereinbar sind. Und das Recht auf Selbstbestimmung jedes Staates ist so zu verstehen, dass es mit der Selbstbestimmung anderer Staaten und mit den Menschenrechten von Staatsbürgern und Ausländern vereinbar ist. Die Leitidee unserer politischen Welt – Rechtssicherheit unter gerechten Regeln – kann heute voll verwirklicht werden. Allerdings sind wir davon weit entfernt. Gewalt und Androhung von Gewalt sind weiterhin alltägliche Vorkommnisse im Verkehr unter Staaten – es fehlt an Rechtssicherheit. Und extreme wirtschaftliche Ungleichheit hindert viele Menschen und Staaten daran, sich auch nur ansatzweise frei zu entfalten – es fehlt an Gerechtigkeit. Wir könnten diese erheblichen Defizite als Zufälligkeiten herunterspielen. Ich will hier stattdessen versuchen, ihre systemischen Ursachen zu verstehen und dabei besonders auf Hegels Begriff des Allgemeinen zurückgreifen. Rechtssicherheit des Staates selbst zu vergessen. Der Staat ist kein Kunstwerk, er steht in der Welt, somit in der Sphäre der Willkür, des Zufalls und des Irrtums; übles Benehmen kann ihn nach vielen Seiten defigurieren. Aber der hässlichste Mensch, der Verbrecher, ein Kranker und Krüppel ist immer noch ein lebender Mensch; das Affirmative, das Leben, besteht trotz des Mangels, und um dieses Affirmative ist es hier zu tun“ (§ 258 A). 2 Hegel wiederholt den zu seiner Zeit populären Gedanken, dass längerer Frieden eine „Versumpfung des Menschen“ sei: „Der Krieg … hat die höhere Bedeutung, dass durch ihn … die sittliche Gesundheit der Völker … erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede versetzen würde“ (§ 324Z) fügt aber hinzu, „dass im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist“ (§ 338).

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unter gerechten Regeln stellt sich nicht einfach ein, sondern muss institutionell eingerichtet und dann aktiv aufrechterhalten und durchgesetzt werden. Wir müssen verstehen, wie das vernünftig möglich ist, so wie Hegel versucht hat zu verstehen, wie das Allgemeine im preußischen Staat sich gegen die vielfältigen Partikularinteressen durchsetzen kann. Ich werde zuerst das Gerechtigkeitsdefizit und dann das Rechtssicherheitsdefizit ansprechen. II. Gerechtigkeit: Ungleichheit und Armut Das Gerechtigkeitsdefizit kommt vor allem in extremer wirtschaftlicher Ungleichheit zum Ausdruck, die sich auch in sozialer und politischer Ungleichheit niederschlägt. Das ist Ungleichheit unter Bürgern desselben Staates, Ungleichheit unter Staaten und – am extremsten – Ungleichheit unter Menschen. Am oberen Ende besitzen die 2755 Dollarmilliardäre rund 11 Billionen Euros. Im unteren Viertel müssen die ärmsten 2 Milliarden mit rund einer Billion Euros pro Jahr auskommen – zu wenig um auch nur gesunde Ernährung ihrer Familien zu gewährleisten.3 Wie schon zu Hegels Zeit sind Armut und Hunger das hässliche Angesicht der Ungerechtigkeit – nur sind sie heute, durch ihre viel leichtere und offensichtlichere Vermeidbarkeit, zu einem noch viel größeren Skandal geworden. Hegel hatte ein hochentwickeltes Armutsverständnis, das sich in drei Sätzen zusammenfassen lässt. Erstens sah er, dass Armut nicht einfach im Rekurs auf die Entscheidungen einzelner Akteure zu erklären ist, sondern dass ihre soziale Erscheinung – Umfang und Schwere – entscheidend davon abhängt, wie der Staat (i. w. S.) zivilgesellschaftlich organisiert ist. Daran anschließend, verstand Hegel es zweitens als zentrale Funktion des Staates, allen Mitgliedern die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu ermöglichen; somit war der Staat seiner Idee nach zivilgesellschaftlich so zu organisieren, dass er Armut, soweit vernünftig möglich, vermeidet. Drittens drängte Hegel darauf, dass diese Armutsvermeidung ohne Demütigung zu bewerkstelligen sei, also weder durch – immer unzuverlässige – Almosen bessergestellter Mitbürger, noch durch Sozialhilfe aus öffentlicher Hand. Hegels Gedanken darüber, wie ein Staat in Hinsicht auf Armutsvermeidung seiner Idee gerecht werden kann, führen, wie er selbst sieht, zu keiner wirklichen Lösung. Aus heutiger Sicht, mit stark erweiterten Erkenntnissen der Wirtschaftswissenschaften, würde man fünf Elemente zu einer endgültigen Abschaffung von Armut kombiniert in Anschlag bringen wollen – sowohl auf nationaler, wie auch auf supranationaler Ebene. Erstens ein starkes, für alle frei zugängliches und egalitäres Bildungs- und Ausbildungssystem mit der Aufgabe, Vererbung von Armut zu verhindern. Dieses gäbe 3 Für das Jahr 2020 wird die Anzahl der Menschen weltweit, die unter Ernährungsunsicherheit leiden, offiziell mit 2,368 Milliarden beziffert, über 30 % der Weltbevölkerung. FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO, The State of Food Security and Nutrition in the World 2021, Rom, FAO 2021, https://doi.org/10.4060/cb4474en, S. 18.

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auch Kindern armer und ungebildeter Eltern Ermutigung, Ansporn und gleichen Zugang zu Bildungschancen – nicht als Sozialleistung, sondern um des Gemeinwohls willen. Jedem jungen Menschen ist zu signalisieren, dass sie oder er uns wichtig ist. Alle sind umworben, ihre Fähigkeiten zu entfalten und zum Nutzen ihrer Gesellschaft und der Menschheit einzubringen. Das zweite Element ist ein globales Grundeinkommen, welches einzelne Staaten oder Staatenverbände (etwa die EU) durch zusätzliche nationale Grundeinkommen ergänzen können. Ein solches Grundeinkommen ist nicht als eine aus der Arbeit anderer gespeiste Sozialleistung anzusehen, sondern als Anteil eines jeden Menschen am Erbe der Menschheit, welches aus den Naturschätzen unseres Planeten und aus dem Kapital besteht, das frühere Generationen aufgebaut haben. Ein Grundeinkommen würde die Erfüllung von Grundbedürfnissen sichern. Dadurch hätten Menschen erweiterte Freiheit, sich auf je eigene Weise zu entfalten, auch wenn dafür keine aus Marktnachfrage resultierende Bezahlung verfügbar sein sollte. Diese erweiterte Freiheit würde außerdem das Angebot auf dem Arbeitsmarkt reduzieren, wodurch die soziale und finanzielle Position der sogenannten Arbeitnehmer gestärkt würde. Selbst ein geringes globales Grundeinkommen von 3 – 4 % des Weltprodukts wäre heute ausreichend, extreme Armut vollständig zu beseitigen. Die ersten beiden Elemente verweisen, in unterschiedlicher Weise, auf das dritte Element: eine starke Abdämpfung der Vererbung von Reichtum. Es macht Sinn, die Wirtschaft so zu konstruieren, dass diejenigen, die beim Einsatz knapper Mittel außergewöhnliche Fähigkeiten bewiesen haben, größere Kontrolle über knappe Mittel gewinnen. Es macht keinen Sinn, dieses Privileg als Veräußerbares zu konstruieren, also zum Beispiel mir Milliardenwerte anzuvertrauen, nur weil meine Mutter eine geniale Unternehmerin war. Natürlich, wer Geld verdient hat, soll es ausgeben dürfen, auch suboptimal. Sie soll mir ruhig ein Auto kaufen können, oder sogar ein Haus. Aber bei höheren Werten ist dann ein hoher Steuersatz zu erheben, der den Löwenanteil am – ja letztlich doch immer gemeinsam erwirtschafteten – Kapital über Bildung und Grundeinkommen allen Mitgliedern der nächsten Generation zugutekommen lässt. Das vierte Element ist progressive Besteuerung von Einkommen und Vermögen. Das heißt zunächst einmal höhere Steuerraten für höhere Einkommen. Aber das reale Problem in unserer Welt ist nicht einfach nur, dass hohe Einkommen mit einer zu niedrigen Steuerrate belegt werden, sondern vor allem, dass der mit Abstand größte Teil des Einkommens reicher Bürger überhaupt nicht besteuert wird. Diese Nichtbesteuerung ist ein – absichtlich! – enorm kompliziertes Phänomen, welches ich hier nur ganz kurz und beispielhaft in drei Punkten umreißen kann. 1. Jeff Bezos, der reichste Mensch der Welt, zahlt keinerlei Steuern auf den 100Milliarden-Euro Wertzuwachs seiner Amazon Anteile in den letzten paar Jahren, weil es sie nicht verkauft, sondern beleiht. 2. Reiche Bürger vermeiden Besteuerung ihrer Kapitaleinkünfte dadurch, dass sie ihr Kapital verheimlichen.

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3. Multinationale Konzerne, die natürlich überwiegend reichen Bürgern gehören, haben vielfältige gute Möglichkeiten, durch interne Transaktionen zwischen ihren Tochtergesellschaften, Konzerngewinne in Länder zu verschieben, in denen solche Gewinne nicht oder nur geringfügig besteuert werden. Kurzum, das vierte Element ist zwar nominell ansatzweise verwirklicht, real jedoch unterliegen reiche Bürger viel geringeren Steuerraten. Oft gehen Staaten sogar ganz leer aus, bekommen also Steuereinnahmen weder von ihren reichen Bürgern, noch von den ihnen gehörenden Konzernen. Das fünfte Element ist Präferenz für egalitäre Strukturlösungen. Obschon enorm wichtig, wird es oft übersehen. Die Evolution von Armut und Ungleichheit wird nicht nur durch die auf sie abgestellten Institutionen – Steuern und Transferleistungen – beeinflusst, sondern auch durch vielerlei andere Aspekte der Wirtschafts- und Sozialordnung, die ebenfalls erheblich auf das sozioökonomische Verteilungsprofil einwirken. Ein Beispiel wurde beim Thema Grundeinkommen kurz genannt: Unsere Welt ist so eingerichtet, dass Erlöse aus dem Verkauf von Bodenschätzen nur einer kleinen reichen Minderheit zufließen. Eine egalitärere Lösung wäre, die Natur als Gemeineigentum zu verstehen und die betreffenden Verkaufserlöse – sowie auch Abgaben auf verschiedene Schadstoffemissionen – zur Finanzierung eines Grundeinkommens zu verwenden. Ein anderes Beispiel sind Innovationsanreize. In unserer Welt werden Innovationen durch Monopolpatente belohnt, die es Patentinhabern ermöglichen, extrem hohe Preisaufschläge oder Lizenzgebühren zu erheben – mit der Folge, dass Arzneimittel z. B. oft zum 1000-fachen der Herstellungskosten verkauft werden und deshalb viele arme Menschen nicht erreichen. Im Jahr 2013 kam endlich ein gutes Medikament gegen Hepatitis-C auf den Markt – in den USA zum Preis von 84.000 Dollar pro 84 Tabletten.4 In den acht Jahren seit Markteinführung hat es – infolge seines hohen Preises – weltweit nur 7 % der einschlägigen Patienten erreicht. Die übrigen 66 Millionen meist ärmeren HepatitisC Patienten bleiben krank und steckend laufend weitere Personen an.5 Monopolpatente forcieren Ungleichheit und Armut, weil sie systematisch die Beteiligung ärmerer Menschen an der Nutznießung von Innovationen behindern. Das muss nicht so sein. Eine egalitärere Lösung wäre, Innovationen durch Leistungsprämien aus öffentlicher Hand zu belohnen – also ein neues Medikament gemäß der mit ihm erzielten Gesundheitsauswirkungen, oder eine neue grüne Technologie gemäß der mit ihr erzielten Emissionsverringerungen. Innovationen wären so nicht nur einer kleinen reichen Minderheit zugänglich, sondern würden sich rasch weltweit verbreiten. Dieses Alternativsystem von Innovationsanreizen würde außerdem Innovatoren Anreize geben, auch auf ärmere Menschen konzentrierte Probleme anzugehen. Gesundheits4 Jeffrey Sachs, „The Drug that is Bankrupting America“, Huffington Post, 18. April 2015, https://www.huffpost.com/entry/the-drug-that-is-bankrupt_b_6692340. 5 Clinton Health Access Initiative (CHAI), Hepatitis C market report (2020), https:// 3cdmh310dov3470e6x160esb-wpengine.netdna-ssl.com/wp-content/uploads/2020/05/Hepati tis-C-Market-Report_Issue-1_Web.pdf.

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gewinnprämien würden auch die Forschung an Armutskrankheiten wie Tuberkulose und Malaria lukrativ machen. III. Politik Am Beispiel Armutsvermeidung haben wir gesehen, wie mehr Gerechtigkeit möglich ist. Aber Einsicht genügt nicht. Gerechte und das Gemeinwohl fördernde Regeln müssen politisch gegen allerlei Partikularinteressen durchgesetzt werden. Hegel thematisiert dieses Problem als Spannung zwischen Allgemeinheit und Gliederung des Staates. Gliederung heißt, dass Menschen, neben ihrer Rolle als Staatsbürger, noch andere Rollen spielen: in ihren jeweiligen Familien, Korporationen, Verbänden, Gemeinschaften und Ständen. Dadurch haben sie partikulare Verantwortungen und Interessen, die dem allgemeinen Staatsinteresse zuwiderlaufen können. Hegel sah die Lösung dieses Problems in einer das allgemeine Staatsinteresse begünstigenden politischen Machtverteilung, in der der Staat i. e. S., d. h. die Regierung, dominiert – unterstützt durch den ihr zu Diensten stehenden allgemeinen Stand der Beamten (§ 250, § 303) und durch den substantiellen Stand der Landbesitzer (§ 203), deren Standesinteressen Hegel zufolge den allgemeinen Staatsinteressen nahestehen (§ 307). Diese Lösung mag aus heutiger Sicht naiv erscheinen. Unter dem Schlagwort der „regulatory capture“ gibt es eine riesige Literatur die – theoretisch und empirisch – analysiert, wie Regierungen von Partikularinteressen korrumpiert werden, insbesondere von reichen Konzernen und Individuen, die sich, mithilfe von Lobbyisten und Wahlkampfspenden, die Regeln ihrer Gesellschaft und auch die supranationalen Spielregeln zu ihren eigenen Gunsten zurechtzubiegen wissen. Die Ungerechtigkeit der Regeln, der Fortbestand bitterer Armut – das liegt nicht an mangelnder Einsicht oder an mangelnden Ressourcen, sondern einfach an dieser Korruption politischer Macht. Dieser Einwand hat seine Berechtigung. Und doch können wir aus Hegels Diskussion des Staates vier Lehren ziehen, die uns in unserer heutigen politischen Welt weiterhelfen könnten. Erstens gibt es nach wie vor, in so ziemlich allen Kulturkreisen, eine besondere Standesehre der mit allgemeinen Interessen betrauten Rollen. Das kommt besonders in der Ächtung des Nepotismus zum Ausdruck. Zweitens sieht Hegel auch ganz klar, dass ein Staat, der von einem allgemeinen Stand mit einer solchen Standesehre regiert und reguliert wird, einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Staaten und Völkern hat. Dadurch lässt sich die erstaunliche Zivilisationserrungenschaft erklären, dass nämlich die graue Allgemeinheit der Beamtenloyalität sich so souverän durchsetzen konnte gegen die wohl tiefste Liebe, derer Menschen fähig sind: die Liebe zur eigenen Familie.

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Drittens finden wir bei Hegel den Gedanken, dass die Verpflichtung zur Allgemeinheit gar nicht auf das Beamtentum beschränkt ist. Hegel schreibt über jedes Mitglied des Staates: „Seine allgemeine Bestimmung überhaupt enthält das gedoppelte Moment, Privatperson und als denkendes ebensosehr Bewußtsein und Wollen des Allgemeinen zu sein“ (§ 308). Zwar verstehen sich viele Bürger nicht gut darauf, über das Staatsgedeihen und die ewigen Prinzipien der Gerechtigkeit nachzudenken (vgl. § 308, §§ 316 – 17). „In der öffentlichen Meinung ist aber jedem der Weg offen, auch sein subjektives Meinen über das Allgemeine zu äußern und geltend zu machen“ (§ 308). Was Hegel hier – ein wenig Habermasisch – sagt, ist, dass wir alle jederzeit den Standpunkt des Allgemeinen einnehmen können, z. B. dadurch, dass wir uns an öffentlichen politischen Diskursen beteiligen. Dazu sind wir nicht verpflichtet. Aber wenn wir es tun, dann sind wir verpflichtet, unsere anderen Rollenloyalitäten vollständig zu ignorieren. Viertens sind wir, wenn wir wirklich unsere Welt in Gedanken erfassen wollen, der Idee globaler Rechtssicherheit unter gerechten Regeln verpflichtet. Dieser Idee wird der Rest dieses Aufsatzes gewidmet sein. Wie eingangs dargelegt, ist der Staat heute nicht mehr höchste Stufe der Allgemeinheit, sondern selbst Glied eines weltumspannenden Staatensystems, das durch ein dichtes Netzwerk überstaatlicher Regeln und Organisationen strukturiert ist, welche das Innenleben von Staaten und das Zusammenleben von Menschen tiefgreifend bestimmen. So sind die Innovationsanreize, deren ungleichheitsfördernde Auswirkungen ich ansprach, auf überstaatlicher Ebene festgelegt, und zwar im TRIPS Abkommen, Annex 1C des Gründungsvertrags der Welthandelsorganisation WTO. Jeder Mitgliedsstaat der WTO, und das sind heute praktisch alle Staaten, ist vertraglich verpflichtet, Innovationen verschiedener Art mit 20-jährigen Produktpatenten zu honorieren und diese Monopole dann auf seinem Territorium effektiv durchzusetzen. TRIPS ist nur ein überstaatliches Abkommen von vielen; die WTO nur eine überstaatliche Organisation von Dutzenden. Und dieses gewaltige Netzwerk überstaatlicher Regeln und Organisationen hat natürlich seine eigene überstaatliche Bürokratie. Ihrer Idee nach repräsentieren diese internationalen Regeln, Organisationen und Beamten die höchste Stufe der Allgemeinheit: das allgemeine Interesse am Wohl der Menschheit und an Gerechtigkeit auf Erden. Aber diese Idee ist heute nur in allerersten Ansätzen verwirklicht – im Amtseid des UN Generalsekretärs z. B. Die überwältigende Realität ist eine andere: Die Struktur unserer Weltordnung reflektiert die Verteilung der Verhandlungsmacht der Staaten und der hinter ihnen stehenden großen Konzerne. Und die vorherrschende Rollenerwartung an internationale Beamte ist, dass sie sich vorwiegend für die Interessen ihres jeweiligen Herkunftslandes einsetzen. Das zeigt sich z. B. darin, dass nationale Regierungen erhebliche Anstrengungen unternehmen, um wichtige überstaatliche Posten mit einem der Ihren zu besetzen. Man denke an die Mühe, die die US-Regierung sich regelmäßig macht, um sicherzustellen, dass der Weltbankpräsident Amerikaner ist. Demgegenüber unternehmen die Bevölkerung und Regierung von Texas oder Niedersachsen kaum Anstrengungen, um sicherzustellen, dass das Amt des Präsidenten bzw. Bundeskanz-

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lers mit einem der Ihren besetzt ist. Dieser Unterschied kann nicht durch die größere Machtfülle des Weltbankpräsidenten erklärt werden – ganz im Gegenteil! Vielmehr lässt sich der Unterschied meistenteils dadurch erklären, dass Texaner und Niedersachsen wissen, dass ein US Präsident, oder eine Bundeskanzlerin, die Interessen ihrer Heimatprovinz nicht besonders fördern wird oder kann; – während Regierungen und Bürger in aller Welt wohl verstehen, dass der Weltbankpräsident die Bank so führen wird, dass die ökonomischen und politischen Interessen sowie die ideologischen Vorlieben der USA besonders berücksichtigt werden, und dass solches Handeln von den globalen Eliten erwartet und akzeptiert und von anderen internationalen Amtsinhabern repliziert wird. Wir sind weit entfernt von einer Weltordnung, die im Sinne des allgemeinen Interesses an Rechtssicherheit unter gerechten Regeln so strukturiert wäre, dass sowohl die Menschenrechte als auch die Selbstbestimmungsrechte der Staaten gesichert wären. Die meisten überstaatlichen Beamten lassen sich ganz offen von Partikularinteressen leiten. Dasselbe gilt erst recht für Regierungschefs und ihre Delegierten bei der Aushandlung supranationaler Spielregeln. Und auch die meisten Bürger und Unternehmen, die an globalen Strukturregeln Interesse nehmen, drängen nicht auf gerechte Regelungen, sondern ganz offen auf Regelungen, die für sie selbst günstig sind. Ist diese Art von Welt real das Ende der Geschichte, oder kann die Menschheit die große Kluft zur globalen Allgemeinheit doch noch überwinden – so, wie sie ja auf nationaler Ebene, in den besten Staaten jedenfalls, die Kluft zur Allgemeinheit des Staatsinteresses überwunden hat? IV. Rechtssicherheit Analysieren wir das Problem. Unter politischen Akteuren ist allgemein bekannt, dass es für sie alle besser ist, wenn ihre Beziehungen und Interaktionen unter Regeln stehen. Solche Regeln erschließen enorme kooperative Überschüsse dadurch, dass Akteure sich viel besser aufeinander einstellen und dann viel komplexere und wechselseitig vorteilhaftere Kooperationsbeziehungen unterhalten können, als das ohne Regeln möglich wäre. Diese Vorteilhaftigkeit von Regeln erklärt den Übergang vom unbegrenzten Krieg aller gegen alle zu koordinierter Selbstbeschränkung: Politische Akteure (Individuen, Stämme, Staaten …) verstehen, dass jeder von ihnen in seinem Handeln bestimmte Regeln einhält, um dadurch eine reziproke Selbsteinschränkung anderer politischer Akteure zu erwirken. Ein solches Übereinkommen muss nicht explizit sein. Und es bedarf auch keiner Moral – denn gegenseitiges Vertrauen kann ausschließlich auf der Einschätzung jedes Akteurs beruhen, dass es für den anderen – in Anbetracht seiner Interessen, Möglichkeiten und Umstände – unklug wäre, das Übereinkommen zu brechen. Ist eine solche gewaltfreie Koexistenz unter Regeln einmal etabliert, erhält sie sich dadurch, dass alle Beteiligten hinreichende Anreize haben, weiter mitzumachen, unter der Voraussetzung, dass auch die anderen weiter mitmachen werden. Man kann

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dieserlei auf Klugheitsgründen basierende geregelte Koexistenz unter den von John Rawls wiederbelebten Begriff eines Modus Vivendi bringen,6 dessen Teilnehmer primär durch ihre selbst-definierten Interessen und Werte motiviert sind und kein Interesse an den Interessen und Werten der anderen Teilnehmer als solchen nehmen. Dennoch hat jeder Teilnehmer ein Interesse daran, ein gemeinsames Ordnungssystem von Regeln, Konventionen, Praktiken, Verfahren, Organen und Ämtern aufrechtzuerhalten, das den Interessen der anderen Akteure soweit entgegenkommt, dass diese es klug finden, weiter mitzuspielen. Das gemeinsame Ordnungssystem muss also so ausgestaltet sein, dass es die Bedingung eines Klugheitsgleichgewichts erfüllt, dass es also im Interesse eines jeden Teilnehmers liegt, im Rahmen dieser Spielregeln weiterhin zu kooperieren. Ob nun ein bestimmter Teilnehmer T die bestehenden Regeln akzeptabel findet, hängt von verschiedenen Variablen ab – insbesondere von dessen selbst-definierten Werten und Interessen sowie von seiner Stellung in der bestehenden Machtverteilung, die von seinen Verwundbarkeiten abhängt sowie auch von den Opportunitätskosten, die ihm durch seine Teilnahme entstehen. Welche Spielregeln die Bedingung eines Klugheitsgleichgewichts erfüllen, kann sich demnach ändern. Das kann durch Veränderung der Werte oder Interessen einiger Teilnehmer passieren oder, viel häufiger, durch eine Machtverschiebung. Wenn T1 zum Beispiel einen Machtzuwachs auf Kosten von T2 erzielt, so dass T1 jetzt von einem partiellen oder völligen Zusammenbruch des bestehenden Übereinkommens weniger und T2 mehr zu verlieren hat, dann kann es für T1 klug sein, auf einer Neuaushandlung der Spielregeln zu bestehen. Und andere Teilnehmer werden dieser Forderung klugerweise stattgeben, wobei Teilnehmer, die schwächer geworden sind, für sich ungünstigere Spielregeln akzeptieren müssen infolge ihrer erhöhten Verwundbarkeit und ihres verminderten Drohpotentials. Soll ein Modus Vivendi langfristig überleben, muss seine Regelung der Verteilung von Gütern und Lasten fortlaufend angepasst werden, so dass weitere Teilnahme die kluge Option eines jeden Teilnehmers bleibt. Solche Anpassung liegt nicht nur im Interesse derer, die politisch erstarkt sind, sondern auch im Interesse derer, die politisch schwächer wurden: Letztere haben ein großes Interesse daran, dass die Erstarkenden hinreichend motiviert sind, weiterhin an der Aufrechterhaltung eines wohlgeregelten Sozialsystems mitzuwirken. Effektive Spielregeln, die die Schwachen ungerecht benachteiligen, sind für die Schwachen immer noch besser als gerechte Spielregeln, welche die Starken im Ernstfall straflos brechen werden. Während also ein Modus Vivendi oberflächlich betrachtet Selbstbeschränkungen seiner Teilnehmer involviert, ist es dennoch der Fall, dass seine Spielregeln unter dieser Oberfläche Gegenstand eines permanenten Wettstreits sind, der keinerlei Einschränkungen unterliegt. Hier kann die Macht eines Teilnehmers unbegrenzt abgeschwächt werden durch eine Art Todesspirale, bei der eine Machteinbuße dieses Teil6 John Rawls, Political Liberalism (New York: Columbia University Press 1993), S. xxxixxliv und 146 f.

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nehmers eine Abwandlung der Spielregeln zu seinen Ungunsten zur Folge hat, welche dann eine weitere Machteinbuße nach sich zieht und so weiter. Es gibt keine Begrenzung der in sozialen Regeln niedergelegten Erniedrigung, in die ein absinkender Teilnehmer klugerweise lieber einwilligen wird als einen Zusammenbruch des Modus Vivendi zu riskieren. Ein internationaler Modus Vivendi kann also die Idee des heutigen Staatensystems nicht verwirklichen – weder Menschenrechte noch staatliche Selbstbestimmung sichern. Das ist nicht nur deshalb so, weil die schwachen Staaten und Bevölkerungen den starken letztlich schutzlos ausgeliefert sind, sondern auch deshalb, weil selbst die stärksten Staaten ihre Außen- und sogar ihre Innenpolitik auf Machtmaximierung ausrichten müssen. Ein Staat, der sich im internationalen Wettbewerb von Moral oder Sittlichkeit behindern ließe, würde langfristig von anderen Staaten verdrängt werden, die ihre Entscheidungen effektiv und rücksichtlos auf Machtgewinn ausrichten. In einem Modus Vivendi wird letztlich alles zu einem nationalen Sicherheitsfall. Damit macht ein Modus Vivendi nicht nur die Hoffnung auf gerechte Regeln zunichte, sondern auch die Hoffnung der Bürger eines jeden Staates, ihren Staat ihrer jeweiligen Sittlichkeit gemäß zu gestalten. Und noch eine dritte Hoffnung kann ein Modus Vivendi nicht erfüllen: Die Hoffnung auf gewaltfreie Konfliktbeilegung, oder Rechtssicherheit. Das ergibt sich aus der unbegrenzten Anpassungsfähigkeit eines Modus Vivendi an Machtverschiebungen. Ein Staat mit schrumpfender Macht kann voraussehen, dass er in eine Todesspirale geraten wird, in der sein Machtverlust immer wieder dadurch verschlimmert wird, dass erstarkende Staaten die internationalen Regeln zu seinen Ungunsten abwandeln. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein solcher Staat, anstatt sich in sein Schicksal zu ergeben, lieber durch Ablehnung solcher Regelabwandlung einen Krieg riskiert solange er noch einigermaßen stark ist. Dass die Sowjetunion das nicht getan hat, war ein Glücksfall. Es ist zumindest ungewiss, ob die USA sich kampflos von China überholen lassen würde. Und auch regionale Machtverschiebungen, z. B. zwischen Pakistan und Indien, könnten den sinkenden Staat zu einem Präventivschlag verleiten, mit katastrophalen Folgen für die gesamte Menschheit. Ein Modus Vivendi birgt noch eine weitere Kriegsgefahr. Diese ergibt sich daraus, dass seine Regeln aufgrund der bestehenden politischen Machtverteilung ausgehandelt werden. Die Macht von Staaten speist sich aus drei Quellen: militärische Stärke, wirtschaftliche Stärke und eine heterogene Restkategorie: das internationale Ansehen von Staaten, welches oft als „soft power“ bezeichnet wird. Das relative Gewicht dieser drei Machtquellen hängt vom Kontext ab. Im Krieg ist militärische Macht von größter Wichtigkeit und soft power ziemlich irrelevant – siehe Stalins spöttische Frage in Jalta: „Wie viele Divisionen hat der Papst?“ In Zeiten stabilen Friedens, andererseits, wie heute innerhalb wohlgeordneter Staaten oder in der friedlichen EU, ist das Gewaltpotential der Parteien ziemlich irrelevant für die Machtverteilung. Nun differieren Staaten in der Komposition ihrer politischen Macht und haben deshalb gegensätzliche Interessen was Frieden anbelangt. Militärisch schwächere

Hegel und die Zukunft der Welt

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Staaten und auch solche, die in der internationalen Verteilung wirtschaftlicher und kultureller Stärke besser abschneiden als in der internationalen Verteilung militärischer Stärke, profitieren von einem Kontext stabilen Friedens. Das ist die große Mehrheit. Aber es gibt immer auch eine Minderheit von militärisch starken Staaten, die in der internationalen Verteilung militärischer Stärke besser abschneiden als in der internationalen Verteilung wirtschaftlicher und kultureller Stärke. Diese wenigen Staaten – heute sind es wohl Russland, die USA, Pakistan, Israel und Nordkorea – haben ein Interesse daran, dass staatliche Gewaltpotentiale relevant bleiben. Das ist nicht ein Interesse an Krieg, der für alle Beteiligten katastrophal sein könnte; sondern ein Interesse daran, die politische Relevanz von Gewaltmitteln zu erhalten. Dazu brauchen diese Staaten immer mal wieder internationale Spannungen, Krisen und Konflikte, in denen dann Truppen verschoben und militärische Optionen erregt diskutiert werden, um politische Akteure an die bestehende Verteilung von Gewaltmitteln zu erinnern und diese militärischen Ressourcen dann auch gelegentlich einzusetzen, um dadurch den Fortbestand der Relevanz von Gewaltmitteln zu sichern. Obwohl diese Staaten klar in der Minderheit sind, liegt es in der Natur der Sache, dass sie sich in diesem Punkt gegen die Mehrheit durchsetzen können – also das politische Klima der Welt, notfalls durch Desinformation, Manipulation oder geschickte Provokation, in einem kalten Kriegszustand erhalten können. Diese Kriegsgefahr wird noch deutlicher, wenn man auch auf die zentralen Akteure innerhalb der mächtigen Staaten reflektiert. Im innerstaatlichen Konkurrenzkampf um Macht kann es für Politiker vorteilhaft sein, sich mit Gerede von Gewalt als besonders patriotisch hervorzutun und seine Rivalen dann als unpatriotisch, naiv oder ausländerfreundlich zu brandmarken. Solche Strategien lassen sich durch vernünftige Argumente aushebeln, und es mag sogar möglich sein, die Bevölkerung gegen Aufführungen dieser Art zu immunisieren. Viel gefährlicher ist die Tatsache, dass die Inhaber bestimmter wichtiger Ämter ein systematisches Interesse an der Aufrechterhaltung der Relevanz von Gewaltmitteln haben. Die Exekutive eines Staates gewinnt an Macht und Einfluss, wenn sie sich, in streitbarer Auseinandersetzung mit anderen Staaten, die nationale Flagge umhängen und bei der Bevölkerung Patriotismus, Nationalstolz, Ehrgefühl, Chauvinismus oder Furcht und Misstrauen gegen Ausländer produzieren kann. Spitzenleute in Militär, Geheimdienst und Rüstungssektor gewinnen durch aggressive Streitereien unter Staaten an Einfluss, Wohlstand und sozialem Ansehen. Und dasselbe gilt besonders auch vom Chef der Exekutive, dessen Status und Durchsetzungsvermögen relativ zur Legislative und Judikative durch Irrelevanz von Gewaltmitteln erheblich abnehmen würden. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist – sozusagen ex officio – ein natürlicher Feind von Frieden, weil sowohl sein Staat, international, als auch er selbst, innerstaatlich, dadurch an Macht und Einfluss verlieren würden.7 7 Schon zu Hegels Zeiten argumentierte James Madison, dass „the executive is the department of power most distinguished by its propensity to war: hence it is the practice of all states, in proportion as they are free, to disarm this propensity of its influence.“ Aus diesem Grund befürwortete er „a rigid adherence to the simple, the received and the fundamental

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V. Abschluss Am Ende dieses Aufsatzes sehen wir nicht ein Ende der menschlichen Geschichte, sondern deren zwei. Das erste ist ein reales Ende, durch Unfall. Es kann gut sein, dass die Menschheit aus dem bestehenden internationalen Modus Vivendi nicht herausfinden wird und deshalb, früher oder später, einem – langfristig todsicheren – Dritten Weltkrieg zum Opfer fallen wird. Das andere Ende ist ein Ende in Hegels Sinn, nämlich der Horizont unserer Zeit, das Ende unseres Gesichtsfeldes. Dieses bessere Ende involviert die Verwirklichung der in unserer heutigen Welt angelegten Idee einer genuin friedlichen Weltordnung, die Rechtssicherheit unter gerechten Regeln gewährleistet. Eine solche Weltordnung genauer zu konzipieren und den äußerst schwierigen Weg zu ihr zu markieren – das sind heute die vornehmsten Aufgaben der politischen Philosophie.

doctrine of the constitution, that the power to declare war including the power of judging of the causes of war is fully and exclusively vested in the legislature: that the executive has no right, in any case to decide the question, whether there is or is not cause for declaring war.“ Morton J. Frisch (Hrsg.), The Pacificus-Helvidius Debates of 1793 – 1794: Toward the Completion of the American Founding, Indianapolis, Liberty Fund 2007, https://oll.libertyfund.org/title/ frisch-the-pacificus-helvidius-debates-of-1793-1794#lf3953_head_005, S. 86 – 87.

Hegels Handlungstheorie und ihr Erbe: einige Vorschläge Giulia Battistoni I. Einleitung In den letzten dreißig Jahren konnte Hegels Handlungstheorie sowohl in den moralphilosophischen als auch in den rechtsphilosophischen Debatten ihre Aktualität zeigen: Vor allem sind die Begriffe von Schuld und Verantwortung des Individuums, die Handlung und deren Zurechnung, wie diese im Moralitätskapitel der Grundlinien der Philosophie des Rechts behandelt sind, analysiert und diskutiert worden, sowie auch Hegels Begründung der Strafe im Abstrakten Recht und ihre Verwicklungen im Teil zur Sittlichkeit bzw. im gesellschaftlichen sozio-politischen Kontext.1 Diese Themen beziehen freilich Hegels Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Individuum, mit seinen juristischen und moralischen Rechten einerseits, und der soziopolitischen Gemeinschaft, welche andererseits ihre eigenen Ansprüche gegenüber den Einzelnen zu ihrer eigenen Erhaltung hat, mit ein: Es geht ferner um den Einfluss individueller Handlungen und Freiheit auf die Gemeinschaft und umgekehrt. Dies konnte insbesondere in den Jahren der Covid-19 Pandemie seine eigene Aktualität und Relevanz zeigen: Die Menschheit hat eine Weltkrise, eine Situation von gesundheitlicher Notlage erlebt, die meiner Ansicht nach die Aktualität von Hegels Gedanken mit Bezug auf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft neu belebt hat. Die Lockdowns, die Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit und der Freiheit, andere Leute und die Angehörige zu treffen, haben zwangsläufig folgende Fragen aufgeworfen: Stellten die nationalen und internationalen Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Pandemie unzulässige Einschränkungen der individuellen Freiheit oder waren sie unvermeidliche Regelungen, welche ihre Rechtfertigung in einem besonderen Notstand fanden? Einerseits schienen sie vielen Leuten inakzeptabel und sogar unmenschlich (man denke z. B. an die Aussetzung von Totenwachen). Andererseits wüteten diejenigen, die die staatlichen Regeln akribisch

1 Vgl. Alznauers, Caspers’ und Meyers aktuelle Studien zu den Begriffen der „Schuld“ und der „Verantwortung“ in ihrer Beziehung zu dem der „Verursachung“; Menegoni und Quante gelten dann als die ersten systematischen Studien zu Hegels Handlungstheorie. Vgl. Fuselli für eine Studie über das Gericht und den entsprechenden evaluierenden Prozess im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft; Komasinski und Mohr über Hegels Verständnis des Unrechts und der entsprechenden Strafe; Schild und Seelmann über Hegels Begriff der Zurechnung und seine Verwicklungen im rechtlichen (insbesondere strafrechtlichen) Bereich.

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einhielten, gegen die Leute, die die Situation als Freiheitsentzug wahrnahmen und sie nicht aushalten konnten. Man fragte sich daher, wie die Rechte der Individuen mit den Rechten bzw. den Ansprüchen der gesellschaftlichen Ordnung zu versöhnen sind und ob die ersten gegenüber den zweiten geopfert werden oder einen gewissen Vorrang behalten sollen. Um diese schwierigen Fragen zu antworten, sieht Hegels Denken besonders einschlägig, hilfreich und noch sehr aktuell aus. Dieser Beitrag zielt also darauf ab, die Aktualität seiner Handlungstheorie zunächst durch einige Beispiele und Vorschläge, insbesondere im rechtlichen Bereich, darzustellen (II.), und dann einige besondere Gedanken Hegels hervorzuheben, die tatsächlich für das heutige Problem des Verhältnisses zwischen individuellem Handeln und gemeinschaftlicher Ordnung von Bedeutung sind (III.). Dies soll dazu dienen, die Aktualität von Hegels Rechtsphilosophie sowohl aus einer wissenschaftlichen, strafrechtsphilosophischen Perspektive als auch mit Bezug auf die gegenwärtige Weltkrise zu beweisen, in der Überzeugung, dass Hegels Handlungstheorie noch nützliche begriffliche, theoretische Mittel anbieten kann. II. Die Aktualität von Hegels Handlungstheorie: zwischen Recht und Moral Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Hegels Rechtsphilosophie, welche im Jahr 2020 ihre 200 Jahre Veröffentlichung gefeiert hat. Wie bekannt, gibt die Titelseite der Grundlinien der Philosophie des Rechts das Jahr 1821 an: Trotzdem erschien das Buch schon im Herbst 1820. Es geht – mit Klaus Viewegs Worten – um das „wirkungsmächtigste und am schärfsten kritisierte“ Werk Hegels.2 Wirkungsmächtig und noch sehr aktuell sind die Grundlinien im Allgemeinen insofern, als dass sie Begriffe und Themen wie die Anerkennung, das menschliche Handeln und die Verwirklichung der menschlichen Freiheit im gesellschaftlichen Kontext behandeln, also Themen, die auch für die Strafrechtswissenschaft und die Soziologie von großer Bedeutung sind. Gegen die Behauptung, Hegel habe den zentralen Begriff der Anerkennung erst in seinen früheren Werken entwickelt und ihn dann in dem späteren Werk beiseitegelassen,3 sei nun an den ersten Paragraphen des Abstrakten Rechtes erinnert, in denen Hegel folgendes fundamentale Rechtsgebot einführt: „sey eine Person und respectire die andern als Personen“ (GW 14.1, § 36, 52). Was soll es sonst sein als eine Verpflichtung zur Anerkennung – in der

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Vieweg (2019), 464. Wie bekannt, wird Hegels Begriff der Anerkennung normalerweise mit Bezug auf das in der Phänomenologie des Geistes entwickelte Verhältnis zwischen Herrschaft und Knechtschaft innerhalb des Selbstbewusstseinskapitels und auf den entsprechenden „Kampf um die Anerkennung“ gedeutet. Zu Hegels Begriff der Anerkennung, wie er insbesondere in den Jenaer Schriften entwickelt ist, vgl. Siep. 3

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zweifachen Bedeutung von „erkennen“ und eben von „respektieren“ – des anderen und seiner Rechte?4 Mit Bezug auf die im Moralitätsteil seiner Rechtsphilosophie entwickelte Handlungstheorie sollte darüber hinaus nicht übersehen werden, dass Hegel als der Vater des strafrechtlichen Handlungsbegriffs bezeichnet wurde,5 indem er die wichtigen Begriffe von Tat und Handlung voneinander unterschieden und die letzte als Basis der Zurechnung erkannt hat, den Schuldbegriff in seinen verschiedenen Bedeutungen diskutiert, den freien denkenden Willen als Grundlage des verantwortlichen menschlichen Handelns gestellt hat und somit eine Reihe von Rechtsphilosophen durch das 19. und 20. Jahrhundert beeinflusst hat.6 Obwohl Hegel durch sein Werk ohne Zweifel nicht vorhatte, den Rechtsgelehrten ein rechtliches Lehrbuch zu liefern, da sein Interesse eher spekulativ und philosophisch war, verflechten seine handlungstheoretischen und moralischen Überlegungen zugleich auch rechtliche Fragen. Indem er z. B. im Paragraphen 117 der Grundlinien das Recht des subjektiven Willens einführt, „in seiner That nur dieß als seine Handlung anzuerkennen, und nur an dem Schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem Vorsatze lag“, wird nicht nur der Unterschied zwischen den Begriffen von Tat und Handlung genauer bestimmt, als zwischen einem vom Subjekt in der Außenwelt hervorgebrachten Geschehen im Allgemeinen und einem vom Subjekt gewussten und gewollten Geschehen,7 sondern wird somit auch die Grundlage moralischer und strafrechtlicher Zurechnung geliefert und zwar, dass „die That […] nur als Schuld des Willens zugerechnet werden [kann]“, und insofern als „Handlung“ zu bezeichnen ist (GW 14.1, § 117, 105).8 Dies macht bekannterweise das Recht des Wissens aus, welches klare aristotelische Wurzeln aufweist, indem schon Aristoteles das „Wissen um die Umstände“ 4

Zum Begriff der Person bei Kant und Hegel vgl. Menegoni (2019). Radbruch (1903), S. 101. Wie es in Kubiciel/Pawlik/Seelmann bewiesen wurde, lässt sich „ohne den Hegelianismus weder die Geschichte noch die Gegenwart des strafrechtswissenschaftlichen Denkens in Deutschland angemessen begreifen“ Kubiciel/Pawlik/Seelmann, S. 4. 6 Vgl. dazu die Studien der direkten Schüler Hegels, Karl Ludwig Michelet und Eduard Gans, aber auch die Lehrbücher der Rechtsphilosophen Albert Friedrich Berner und Christian Reinhold Köstlin, die als „Hegelianer“ des 19. Jahrhunderts bekannt sind. Michelet (1824), Michelet (1828), Berner, Köstlin. Zusätzlich darf ich auf meine Studien verweisen: Battistoni (2020b) und Battistoni (2019). Für eine Übersicht über die weitere Entwicklung von Hegels strafrechtsphilosophischen Gedanken im 20. Jahrhundert vgl. Meyer (2017). 7 Für eine Übersicht über die Interpretationen von Hegels Begriffen von Tat und Handlung und deren Unterschied verweise ich auf Battistoni (2020b), S. 72 ff. Mehrere Interpreten haben dieses Problem angesprochen, u. a. Knowles, Menegoni (1993), Vieweg (2012), Pippin, Quante und Alznauer. Die am weitesten geteilte Interpretation ist diejenige, die hier im Text kurz zusammengefasst wird. 8 Dies wird maßgeblich Michelet, Berner und Köstlin beeinflussen: Die letzten werden nämlich aus Hegels Gedanken folgern, dass sich die „Handlung“ mit der Zurechnung deckt und dass also keine Zurechnung bestehen kann, wenn die Bedingungen der Verwirklichung einer Handlung im Hegelschen Sinne nicht erfüllt sind. 5

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als eine der Bedingungen eines freiwilligen – und also dem Subjekt zugeschriebenen – Handelns erkannte.9 Der explizite Bezug auf das Wissen um die Umstände in seinem Verhältnis zum Recht des subjektiven Willens in der Nachschrift Hotho der Jahre 1822/23 scheint in diesem Sinne kein Zufall zu sein: „Ich handle nach den Umständen wie ich sie weiß, und das Recht meines Willens ist, daß mir nur das zugerechnet werden kann, was ich von den Umständen wußte“ (GW 26.2, §§ 117 – 118, 873 – 874). Die andere Bedingung des freiwilligen Handelns beinhaltet seit Aristoteles, dass das Subjekt causa libera bzw. freie Ursache seiner Handlung sei und zwar, dass er nicht gezwungen werde.10 Das Wissen und das Wollen des Subjekts bzw. der denkende Wille11 soll beim Handeln daher anwesend sein, damit eine Tat – also wiederum eine Veränderung in der Welt – auf das Subjekt als seine Handlung zurückgeführt und ihm zugerechnet werden kann. Das macht die „eigentliche Schuld“12 des Individuums aus, insofern das vorliegende Dasein in seinem Vorsatze und Wissen lag. Hegel bestimmt das Recht des subjektiven Willens weiter als Recht der Absicht, nach welchem der Mensch als denkendes Wesen das Recht, aber auch die Pflicht (als Recht der Objektivität) hat, die allgemeine Qualität seiner Handlung zu kennen (Hegels Beispiele sind Mord und Brandstiftung), damit diese ihm zugerechnet werden kann. Aus dem Gesagten entnimmt Hegel eine verminderte Zurechnungsfähigkeit oder eine vollständige Zurechnungsunfähigkeit von Kindern und psychisch gestörten Individuen, eben weil sie nicht in der Lage sind, mit denkendem Willen zu handeln, d. h. sie sind nicht dazu fähig, die äußeren Umstände vor der Verwirklichung ihrer Handlungen zu reflektieren und sie sich vorzustellen: Damit sind sie also nicht dazu fähig, sich vollständig zu bestimmen.13 Das zeigte sich damals als besonders originell, da nur die permanente Trübung des Denkens bzw. die schwere psychische Störung ohne Zweifel zur Zurechnungsunfähigkeit und Straflosigkeit führte, wäh-

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Vgl. NE, III Buch. Bei Hegel kann man meiner Ansicht nach Spuren dieser Bedingung im § 115 der Grundlinien entdecken, in dem er eine erste Bedeutung des Schuldbegriffs einführt, welche sich eben mit der Verursachung einer Veränderung in der Welt verbindet. Dieser Gedanke wird von Michelet weiterentwickelt, welcher Hegels Bedingungen der Schuld und der Zurechnung um Aristoteles’ Bedingungen des Freiwilligen ergänzt. Vgl. Michelet (1828). 11 Es soll hier daran erinnert werden, dass der Wille bei Hegel immer mit dem Denken verbunden ist und dass das theoretische und das praktische Verhalten des Individuums einander implizieren. Vorsatz stammt vom Verb vor-setzen und impliziert, dass das Subjekt sich etwas vor seiner Handlung innerlich eben vor-setzt bzw. es sich vorstellt. 12 Die Rede der „eigentlichen Schuld“ befindet sich in der Nachschrift Ringier – Anonymus der Jahre 1819/20: „die eigentliche Schuld fängt bestimter da an daß ich Schuld an dem, in der That schuld habe in so fern diese in meinem Vorsaz liegt insofern ich es gewollt habe“. GW 26.1, S. 390. 13 So in der Anmerkung zu § 120: „Dieß Recht zu dieser Einsicht führt die gänzliche oder geringere Zurechnungsunfähigkeit der Kinder, Blödsinnigen, Verrückten u. s. f. bey ihren Handlungen mit sich“. GW 14.1, § 120 An, S. 108. 10

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rend die Fälle von Individuen, die unter temporärer Trübung des Denkens litten, hingegen sehr umstritten waren.14 Hegels Gedanken beeinflussten diesbezüglich einige Juristen des 19. Jahrhunderts wie Albert Friedrich Berner, welcher auf der Basis von Hegels Zurechnungslehre und Verständnis der psychischen Störung eine Art „relativer Zurechnungsunfähigkeit“ einführte, nach welcher der Kranke nur mit Bezug auf seine besondere verrückte Vorstellung für unzurechnungsfähig erklärt werden kann (in diesem Sinne ist „relative“ gemeint), während er unabhängig von derselben verständig handeln und zurechnungsfähig sein kann: Dadurch wurde die psychische Störung nach ihren Rechten behandelt.15 Es ist auch zu erwähnen, dass Hegel eine Art zivilrechtlichen Schuldbegriff ankündigte, die erst am Ende des 19. Jahrhundert ins Zivilrecht eingeführt wurde (d. h. die Gefährdungshaftung) und dass er mit mehr oder weniger Bewusstsein an der strafrechtlichen Debatte seiner Zeit über den Begriff des dolus indirectus als „indirekter Absicht“ teilnahm.16 Noch heutzutage unterstreichen Rechtsphilosophen, dass die Bedingung der strafrechtlichen Zurechnung eines vorsätzlichen Unrechts die rechtswidrige freiwillige Handlung eines handelnden Subjekts ist, welches die Umstände sowie auch die Gefährlichkeit und den Wert seiner Handlung im gesellschaftlichen Kontext kennen konnte.17 Es erhellt, dass Hegels Handlungstheorie insbesondere im rechtlichen Bereich noch viele Denkanstöße liefert und in diesem Sinne sind die Grundlinien der Philosophie des Rechts sicherlich „positiv“ wirkmächtig. Das sind sie aber auch in dem Sinne, dass sie viel Kritik auf sich zogen. Man denke z. B. an Karl Poppers berühmte Interpretation von Hegel als Prophet oder Vorläufer des Totalitarismus: Es wird behauptet, dass der Staat und mit ihm das gemeinsame Interesse laut Hegel das Individuum bzw. seine partikulären Interessen, seine Rechte und seine Freiheit unterdrücke.18 Dies widerspricht sich aber sofort, wenn man Hegels Moralitätskapitel und die darin enthaltene Handlungstheorie richtig versteht und insbesondere die Rechte des subjektiven Willens beachten: Daraus ergibt sich, dass die Grundlinien eigentlich ein gelungenes Verständnis des Verhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft, subjektiven Rechten und gesellschaftlichen Ansprüche beinhalten, dessen Aktualität sich insbesondere in den schwierigsten Monaten der Pandemie 14 Man denke z. B. an Fälle verrückter Handlungen von Individuen „bei anscheinender Abwesenheit aller Geisteskrankheit“: Es gab eine harte Debatte „über ihre Qualificazion ob fürs Zucht – oder ob fürs Irrenhaus“, wie Friedrich Groos belegt. Vgl Groos, S. 11. 15 Vgl. Berner, S. 161. 16 Ein Fall der Gefährdungshaftung ist im § 116 der Grundlinien angekündigt. Vgl. dann auch die Einordnung des Begriffs des dolus indirectus im Abschnitt „Die Absicht und das Wohl“ und insbesondere die §§ 119 – 120. Für eine ausführliche Behandlung dieser Themen verweise ich auf Battistoni (2020b). 17 Vgl. dazu unter anderen Safferling, S. 198. 18 Vgl. Popper. Diese These wird von Ernst Tugendhat verteidigt und von Gabriel Amengual hingegen widerlegt. Vgl. Amengual.

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der Jahre 2020 und 2021 offenbart hat. Darauf wird sich der zweite Teil des Beitrags besonders konzentrieren. III. Die Spannung zwischen Rechten der Subjektivität und Rechten der Objektivität: mit Hegel durch die Pandemie Im Folgenden wird die im Moralitätskapitel entwickelte Spannung zwischen den Rechten der Subjektivität und den Gegenrechten der Objektivität analysiert, um zu beweisen, inwiefern Hegel zufolge die subjektiven Rechten des moralischen Individuums eine Errungenschaft der Moderne sind und trotzdem sogar gefährlich sein können, falls sie verabsolutiert werden: In dieser Hinsicht erweisen sich die Rechte der Objektivität, als Rechte der äußeren Naturwelt einerseits und als Rechte der äußeren gesellschaftlichen Ordnung andererseits als „Korrektiv“.19 Einerseits liest man im Paragraphen 132 der Grundlinien, dass das Recht des subjectiven Willens ist, daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde, und daß ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objectivität tretende Zweck, nach seiner Kenntniß von ihrem Werthe, den sie in dieser Objectivität [hat], als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde (GW 14.1, § 132, 115).

Andererseits stellt aber Hegel nachher fest, dass die gerichtliche Zurechnung nicht bei dem stehen bleiben kann, „was einer seiner Vernunft gemäß hält, oder nicht, nicht bey der subjectiven Einsicht in die Rechtlichkeit oder Unrechtlichkeit, in das Gute oder Böse, und bey den Foderungen [sic!] die er für die Befriedigung seiner Ueberzeugung macht“ (GW 14.1, § 132 An, 116). Die zwei Passagen scheinen sich prima facie zu widersprechen. Dies ist aber nicht der Fall, wie aus folgendem Zitat klar wird: Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjects, aber durch seine subjective Bestimmung, zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject bleibt dagegen fest stehen. – Wegen ihrer formellen Bestimmung ist die Einsicht eben sowohl fähig, wahr, als bloße Meynung und Irrthum zu seyn. (GW 14.1, § 132 An, 115)

Welche Folgerungen kann man daraus in Bezug auf die Aktualitätsthese anstellen? Zunächst gegen den skizzierten Vorwurf gegenüber Hegel, hebt dieser hervor, dass der Mensch gerade als vernünftiges und denkendes Wesen die Fähigkeit hat, sich selbst zu bestimmen und das Recht hat, in seinen Handlungen seine eigene Be-

19 Für eine Vertiefung der Bedeutung der Rechte der Objektivität auf den verschiedenen Stufen des Entwicklungsprozesses des Handlungsbegriffs in der Moralität vgl. Battistoni (2019).

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friedigung zu finden (wie es aus dem Paragrafen 121 insbesondere klar wird).20 Die Seite der Subjektivität darf also laut Hegel auf keinem Fall unterdrückt werden. Im zitierten Paragraphen bezieht sich Hegel insbesondere auf das sogenannte Recht der „Einsicht in das Gute“ als drittes, weiteres Recht des subjektiven Willens: Es geht um das höchste Recht des Subjekts, nur das als gültig anzuerkennen, was es seiner Überzeugung, seinem Gewissen und seiner Kenntnis nach als gut und vernünftig einsehen kann. Man denke z. B. an die Sklaverei: In der Vergangenheit, wie im alten Rom, war sie legitim und vom positiven rechtlichen System sogar geregelt; darüber hinaus ist sie noch heutzutage in manchen Teilen der Welt Realität. Nichtsdestotrotz widerspricht die Sklaverei auffällig dem Begriff des Menschen als vernünftigen freien Wesens und das Individuum hätte somit das Recht nach seiner Kenntnis des Guten, nach seinem Selbstbewusstsein als freies Wesen, die Sklaverei als unvernünftig und illegitim zurückzuweisen.21 Auf der anderen Seite nimmt Hegel aber auch an, dass solche Rechte des Subjekts formell, und damit gleichbedeutend, einseitig sind: Ein einzelnes Individuum kann sich über das Gute auch irren. Die Stufe der Moralität entspricht tatsächlich einer Art formellen Gewissens, welches sich als Gewissheit seiner selbst versteht und welches das Gute bzw. das Objektive aus sich selbst heraus zu bestimmen verlangt (vgl. GW 14.1, §§ 136 ff.). Somit kann aber das an sich Objektive durch die Subjektivität verflüchtigt werden. Im Sinne einer „Phänomenologie der Verabsolutierung der Subjek20 Hier wird explizit auf die „subjective Freyheit“ des Subjekts aufmerksam gemacht: Dieses hat das Recht, einen besonderen Inhalt bei seiner Handlung zu haben, sein eigenes Interesse dabei zu verwirklichen. GW 14.1, §§ 121 – 123, 108 – 109. 21 Hegels Verständnis der Sklaverei ist besonders interessant. Obwohl der Mensch seinem Begriff nach frei ist, soll er sich laut Hegel seiner Freiheit auch bewusst werden und somit sie verwirklichen, um an und für sich bzw. wirklich frei zu sein. Aus einer geistlich-historischen Perspektive konnte also die Sklaverei ihre Legitimation in vergangenen Gesellschaften finden, in denen sich das Bewusstsein des Menschen als freien Wesens noch nicht völlig entwickelt hatte. Der Sklave selbst hätte sich in diesen Gesellschaften vielleicht sogar nicht erheben können, weil er sich nicht als freies Wesen erkannte. In diesem Sinne wäre der § 57 der Grundlinien zu deuten, in dem Hegel die Antinomie bezüglich der Berechtigung oder Nichtberechtigung der Sklaverei einführt: Seiner Meinung nach ist die Berechtigung der Sklaverei dem Begriff des Menschen unangemessen, indem sie ihn als bloßes Naturwesen nimmt: „Die Seite der Antinomie, die den Begriff der Freyheit behauptet, hat daher den Vorzug, den absoluten Ausgangspunkt, aber auch nur den Ausgangspunkt für die Wahrheit zu enthalten, während die andere Seite, welche bey der begrifflosen Existenz stehen bleibt, den Gesichtspunkt von Vernünftigkeit und Recht gar nicht enthält“. GW 14.1, § 57 An, 65. Zugleich schreibt Eduard Gans als Zusatz dazu: „Die Sklaverei fällt in den Übergang von der Natürlichkeit der Menschen zum wahrhaft sittlichen Zustande; sie fällt in eine Welt, wo noch ein Unrecht Recht ist. Hier gilt das Unrecht und befindet sich ebenso notwendig an seinem Platz“. TWA § 57 Z, 126. Dies entspricht Hegels Randbemerkungen zu demselben Paragraphen und macht sie explizit: „Sclaverey ist etwas geschichtliches – d. h. sie fällt gehört in einen Zustand vor dem Rechte – ist relativ – der ganze Zustand soll nicht seyn, ist nicht ein Zustand des absoluten Rechts – aber innerhalb eines solchen Zustands nothwendig rechtlich d. h. dasjenige Selbstbewußtseyn der Freyheit, das auf einer solchen Stuffe ist, hat sein Daseyn – Wenn man sagt, Sclaverey ist an und für sich Unrecht, – ist ganz richtig“. GW 14.2, 431. Dazu vgl. von Waldegge, S. 280 ff.

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tivität“ sollte meiner Ansicht nach diesbezüglich der Paragraph 140 der Grundlinien gedeutet werden. Hier zeigt Hegel auf sehr aktuelle Weise, was geschieht, wenn das Subjekt seine eigene subjektiven Rechte verabsolutiert und zwar wenn sein Handeln bloß durch sein formelles moralisches Gewissen, seine Meinungen und Überzeugungen gerechtfertigt wird. Die Ergebnisse sind folgende: Wenn die Entscheidung über das Objektive bloß der Subjektivität überlassen wird, dann kann das Böse als gut behauptet werden; wenn die Befriedigung des subjektiven Willens das Positive und das Einzige sein soll, was in der Bewertung einer Handlung gilt, dann kann auch jedes Verbrechen zu einer guten Absicht verwandelt und gerechtfertigt werden.22 Somit verschwindet auch „der Schein von einer sittlichen Objectivität“ und „der Unterschied von Wichtigem und Unwichtigem fällt hinweg“ (GW 14.1, § 140 An, 129, 131).23 Das formelle moralische Gewissen und mit ihm der Standpunkt der Moralität zeigt sich also als mangelhaft und führt notwendigerweise zu seiner Aufhebung. Erst auf der Stufe der Sittlichkeit – im Hegelschen Sinne –, d. h. auf der Stufe der gesellschaftlichen und sittlichen Ordnung verwirklicht sich die Freiheit des Subjekts und können seine Handlungen einen objektiven Wert erhalten, welcher auch intersubjektiv geteilt bzw. nachvollzogen werden kann. Erst auf dieser Stufe verwirklicht sich das wahrhafte sittliche Gewissen, welches die Gesinnung ist, „das, was an und für sich gut ist, zu wollen“ (GW 14.1, § 137, 119).

22 So Hegel: „um die Handlung zu einer guten zu machen, kommt es nur darauf an, diese positive Seite als meine Absicht bei derselben zu wissen, und diese Seite ist für die Bestimmung der Handlung, daß sie gut ist, die wesentliche, darum weil ich sie als das Gute in meiner Absicht weiß. Diebstahl, um den Armen Gutes zu thun, Diebstahl, Entlaufen aus der Schlacht, um der Pflicht willen für sein Leben, für seine (vielleicht auch dazu arme) Familie zu sorgen – Mord, aus Haß und Rache, d. i. um das Selbstgefühl seines Rechts, des Rechts überhaupt, und das Gefühl der Schlechtigkeit des andern, seines Unrechtes gegen mich oder gegen andere, gegen die Welt oder das Volk überhaupt, durch die Vertilgung dieses schlechten Menschen, der das Schlechte selbst in sich hat, womit zum Zwecke der Ausrottung des Schlechten wenigstens ein Beytrag geliefert wird, zu befriedigen, sind auf diese Weise, um der positiven Seite ihres Inhalts willen, zur guten Absicht und damit zur guten Handlung gemacht“. GW 14.1, § 140 An, 127. Hier verschwindet also der Unterschied von Gut und Böse, sowie auch alle Pflichten. Die Bestimmung von dem, was als gut gelten soll, wird der Willkür des Subjekts übergelassen – welche aber laut Hegel erst eine Art formeller Freiheit ist bzw. natürlicher, wenn auch reflektierender Wille ist. Dazu GW 14.1, § 15 ff. und GW 20, §§ 476 – 478. Alles, sowie auch das Gegenteil davon kann gelten: Wenn alles auf die subjektive Überzeugung ankommt, bedeutet dies, dass das Subjekt Recht hat, indem es seine Handlung für gut hält, aber auch dass die anderen gleichermaßen Recht haben, indem sie seine Handlung für ein Verbrechen halten. Das ist aber eine Inkonsequenz. 23 Sebastian Ostritsch vielversprechende Deutung der Moralität als systematischer Ort, der ein Argument gegen den moralischen Anti-Realismus entwickelt, ermöglicht es diesbezüglich, Hegels Gedanken in die Realismus-Konstruktivismus-Debatte auf fruchtbare Weise einzuordnen. In den letzten Paragraphen des Moralitätskapitels beweist Hegel tatsächlich, dass der Wert menschlicher Handlungen nicht von den subjektiven Überzeugungen der einzelnen Individuen abhängen darf. Dazu vgl. Ostritsch.

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Wenn man das wiederum in aktuelles Wort übersetzen will, bedeutet dies Folgendes: Wenn das Individuum sich von der Ganzheit der Gemeinschaft abkoppelt und sein Handeln nur im Verhältnis auf sein jeweiliges Interesse bestimmt, dann handelt es unvernünftig und böse. Indem es denkt, „frei zu handeln“, weil es das macht, was es will, handelt es eigentlich unfrei, verletzt das Gemeinwesen und somit auch seine eigenen Rechte. Das Gegen-Recht des an sich Vernünftigen macht sich also gegen die Rechte des Subjekts geltend. Wenn man dies richtig versteht, bedeutet es aber nicht, dass der Staat und seine Gesetze im Allgemeinen vor dem Subjekt Vorrang haben: Wiederum, gegen Unvernünftigkeiten und sogenannte „unrechtliche Zwänge“ wie die Sklaverei hätte das Subjekt sogar das Recht, sich zu erheben.24 Wenn die Institutionen und die Gesetze hingegen wahrhaft vernünftig sind, verwirklichen sie die Rechte und die Freiheit der Bürger, welche in ihnen sich also als ihre eigenen Produkte wiederfinden.25 Die Verwirklichung der menschlichen Freiheit besteht also in dem Zusammenwirken von subjektiven Rechten der Individuen und objektiven Gegen-Rechten bzw. Ansprüchen der sittlichen Ordnung. Die zwei Seiten implizieren einander wechselseitig. Wenn die Gemeinschaft und die staatliche Ordnung in Gefahr sind, dann sind auch alle Bürger in Gefahr und umgekehrt: Die Situation der letzten Jahre hat gezeigt, dass jeder Bürger durch seine Handlungen an der Rettung und Erhaltung der Gemeinschaft mitwirken sollte, damit seine eigenen Rechte auf Leben und Gesundheit gewährleistet werden können. Zugleich brauchten die Staaten die Mühe jedes einzelnen Individuums, um zu überleben.

IV. Schlussbemerkungen Insbesondere die zwei Hegelschen Begriffe von Moralität und Sittlichkeit erweisen sich also heutzutage als sehr aktuell, um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, individueller Freiheit und gesellschaftlicher Sphäre besser zu verstehen. Zusammenfassend ist die Moralität der Standpunkt des subjektiven Willens, welcher frei ist, insofern als die sittlichen Bestimmungen, also die gesellschaftlichen Normen und die positiven Gesetze, vom einzelnen Individuum in seiner Subjektivität anerkannt werden können als etwas, das es innerlich teilen kann und wozu er selbst als Mitglied einer Gesellschaft beigetragen hat. Das Element der innerlichen Überzeugung, des Wissens des Subjekts und seines moralischen Gewissens erweisen sich 24

Laut Klaus Vieweg sind Unterdrückungen des Persönlichkeitsrechts als „erster Zwang“ zu verstehen, welcher bei Hegel das Recht auf Widerstand als „zweiten Zwang“ begründet: „Herrschaft oder Sklaverei, jegliche Unterwerfung und Unterdrückung, Gewissens- oder Religionszwang sind unzulässige, unrechtliche Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht. […] Alle solche Zuwiderhandlungen gegen das Fundamentalrecht gestatten den zweiten Zwang, den Widerstand als Zuwiderhandlungen gegen die Zuwiderhandlungen, die Affirmation der Inversion des ersten, unrechtlichen Zwanges“. Vieweg (2012), 449 f. 25 Dies liegt im Zentrum des aktuellen Realismus-Konstruktivismus-Debatte, in welcher Hegels politischer Gedanke neu belebt wird: Diese dreht sich darum, ob die sittlichen Werte, die Institutionen einer Gesellschaft usw. bei Hegel etwas Vorgefundenes sind oder von den Individuen aufgebaut werden. Dazu vgl. Gledhill, Stein.

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als wesentlich in der Bestimmung der menschlichen Handlung, sowohl aus einer moralischen, als auch aus einer strafrechtlichen Perspektive. Nichtsdestotrotz kann das Individuum seine eigene Freiheit und seine subjektiven Rechte erst in der sittlichen Sphäre, bzw. in der Sittlichkeit im Hegelschen Sinne, verwirklichen, indem sie eben in einen normativen und sozialen Kontext eingeordnet werden. Die bloß innerliche Bestimmung des Willens des Subjekts kann nämlich, wenn verabsolutiert, sogar das Gemeinwohl und mit ihm auf indirekter Weise auch das eigene Wohl des Einzelnen zerstören. Das, was während der Weltkrise der Covid-Pandemie als Einschränkung der Freiheit von vielen wahrgenommen wurde – d. h. den Sicherheitsanweisungen zu folgen – war also eigentlich eine Begrenzung der formellen Freiheit der Individuen bzw. ihrer Willkür und zielte tatsächlich darauf ab, die wirkliche Freiheit und die Grundlage aller Rechte, das Leben der Individuen, zu bewahren. Jede Handlung des Einzelnen hat sich als entscheidend für das Gesundheitswesen erwiesen. Die schwierige Situation, die die Menschheit durch die Pandemie erlebt hat, hat somit das Bewusstsein erweckt, dass das Handeln jedes Individuum immer im Zusammenhang mit den Anderen steht und dass jeder also mit Blick auf das „gemeinschaftliches sittliches Wir“ und nicht als moralisches isoliertes egoistisches Subjekt handeln sollte. Wir sind Teil eines sittlichen Ganzen, welches eben in seiner Ganzheit bewahrt werden soll, und damit auch die subjektiven Rechte, unter denen die Grundrechte auf Leben und Gesundheit, bewahrt werden können. Somit ist an diesen Beispielen die Aktualität von Hegels Denken gezeigt worden.26 Literaturverzeichnis Alznauer, Mark: Hegel’s Theory of Responsibility, Cambridge 2015. Amengual, Gabriel: Subjektivität in der Rechtsphilosophie Hegels, in: Barbara Merker, Georg Mohr, Michael Quante (Hrsg.), Subjektivität und Anerkennung, Paderborn 2004, S. 195 – 212. Aristoteles: Nikomachische Ethik, erster Halbband, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Dorothea Frede, in: Christof Rapp (Hrsg.), Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, Berlin/ Boston 2020 (Abkürzung im Text: NE). Baermann, Rolf-Artur: Sittlichkeit und Verbrechen bei Hegel, Frankfurt am Main 1980. Battistoni, Giulia: Hegels Zurechnungslehre mit Rücksicht auf ihre juristischen Implikationen, in: „Hegel-Jahrbuch“ 1/2019, S. 623 – 630. Battistoni, Giulia: The Normative Function of the Right of Objectivity in Hegel’s Theory of Imputation, in: Christian Krijnen (Hrsg.), Concepts of Normativity: Kant or Hegel?, Critical Studies in German Idealism, Vol. 24, Leiden 2019, S. 120 – 140. Battistoni, Giulia: Wissen und Wollen: il fondamento dell’imputazione della responsabilità in G.W.F. Hegel, in: Giulia Battistoni (Hrsg.), Fondamenti per un agire responsabile. Riflessioni a partire dalla filosofia classica tedesca, Milano 2020a, S. 101 – 122. 26

tes.

Die Autorin bedankt sich bei Anselm Richter für die sprachliche Überprüfung des Tex-

Hegels Handlungstheorie und ihr Erbe: einige Vorschläge

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Hegels pluralistisches Staatskonzept Über die Geschichte und Aktualität des Korporationsbegriffs in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts Taiju Okochi Einleitung Es ist wohl bekannt, dass Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts eine besondere Art von Körperschaft, die „Korporation“ genannt wird, in seiner Lehre der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates behandelt. Sie gehört zusammen mit der Polizei (nachdem das System der Bedürfnisse und die Rechtspflege bereits abgehandelt wurden) zu einer dritten und letzten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft. Die egoistischen, atomistischen Individuen, die nur ihren eigenen Interessen nachstreben, treten aber eben dadurch in den Warenaustausch ein und errichten so ein System der Abhängigkeit voneinander. Dieses System der Bedürfnisse sollte einerseits durch die „unsichtbare Hand“ das Wohl aller verwirklichen können. Aber andererseits ist in diesem System die soziale Herausbildung von Reichen und Armen (Pöbel) unvermeidbar, was zu einem Faktor der sozialen Unsicherheit wird. Um letztere zu regulieren, trifft der Verstandesstaat von oben soziale Maßnahmen, die zusammenfassend „Polizei“ genannt werden. Es ist dann die Korporation, die nun von unten für ihre Mitglieder Schutz gegen dieses Risiko der sozialen Unsicherheit anbietet. Die Korporation ist eine Körperschaft, die auf der Basis der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft gebildet werden soll. Das Risiko, vor dem sie Schutz gibt, ist nicht nur ein materiales, wirtschaftliches, sondern auch ein psychologisches: der Verlust der Selbstachtung. Sie bietet nicht nur die Mittel zur materiellen Sicherheit ihrer Mitglieder und deren Familien an, sondern ermöglicht ihnen auch ein Anerkennungsgefühl als Bürger (Ehre) (GPR § 253) und kann somit das Stigma reduzieren, das die soziale Hilfe erwecken könnte. Damit lässt die Korporation als zweite Familie ihre Mitglieder ein Gemeinschaftsgefühl wieder gewinnen, das mit der Auflösung der reellen Familie und der Entlassung ihrer Mitglieder als individuelle autonome Bürger in die bürgerliche Gesellschaft verloren ging. Die Korporation ist auch in den Hegelschen Staat eingegliedert: Einerseits werden in der Regierungsgewalt deren Abgeordnete aus den Korporationen herausgewählt, wenn auch sie noch vom Staat bestätigt werden sollen. Andererseits besteht die gesetzgebende Gewalt selbst aus den Momenten der Regierungsgewalt, des Monarchi-

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schen und des Ständischen. In das letztere entsenden die bürgergesellschaftlichen Körperschaften wie „Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen“ (GPR § 308) Abgeordnete. Es bildet zwei Kammern, eine, die den allgemeinen Stand, d. h. Bauerstand und eine weitere, die den besonderen Stand, den Gewerbestand, repräsentiert. In dieser organischen Staatsfassung wird von der Korporation erwartet, die besonderen Interessen der Bürger mit dem Allgemeinen des Staates zu vermitteln. Die Korporation ist nun ein Organ des Staates, das aber eine gewisse Unabhängigkeit vom Staat behält. Während Hegel betont, dass seine Korporation keine mittelalterliche, zunftmäßige Körperschaft sei (GPR § 255 Zusatz), wurde Hegels Staat, der sie auf seine Weise doch einschließt, oft als vormodernes Staatskonzept verworfen: Schon R. Haym1 hat nicht nur behauptet, dass Hegel ein Ideologe des damaligen restaurativen preußischen Staates sei, sondern auch dass in Hegels Staatslehre „der Sieg … des antiken über das moderne, des römisch-griechischen über das germanische Prinzip“ kulminiert (Haym [1857] 1962, 377). Es ist bekannt, dass auch K. Popper (1947) Hegel vorwarf, ein Feind der offenen Gesellschaft zu sein und seine Philosophie erweise sich als totalitär. Es gibt aber andererseits neuerdings eine Tendenz, Hegels Begriff der Korporation als eine Art von autonomer, demokratischer Genossenschaft wieder lebendig werden zu lassen. In seinen Versuch der Rehabilitierung der Hegelschen Rechtsphilosophie z. B. nimmt Honneth (2001, 2011) die Korporation als den Kern ihrer Aktualität auf. Schmitt am Busch (2011), der auch versucht, in seiner Rekonstruktion der Anerkennungstheorie Hegels Rechtsphilosophie zu aktualisieren, können wir auch zu dieser Tendenz rechnen. In Japan findet Fukuyoshi (2010) in Hegels Konzept der Korporation eine Theorie, die zur heutigen Diskussion über die local community, social business oder social cooperation beitragen könnte.2 Während diese heutige Tendenz hauptsächlich im Konzept der Korporation in der bürgerlichen Gesellschaft die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie findet, gibt es auch die Theoretiker, die Hegels organische Staatslehre positiv beurteilt haben. Als Repräsentant dieser Richtung kann Avineri gelten: Nach ihm ist die Korporation die notwendige Voraussetzung („necessary prerequisite“) für Hegels pluralistische Staatslehre (Avineri 1972, 167). Neuerdings findet Ruda (2011) den Wert der Korporation im Staat darin, dass sie eine Gesinnung für das allgemeine Interesse sich herausbilden lässt, während er über ihre Vorsorgefunktion in der bürgerlichen Gesellschaft negativ urteilt, weil diese zu exklusiv sei. Sogar hat schon der genannte

1

„Das Hegelsche Systeme wurde zur wissenschaftlichen Behausung des Geistes der preußischen Restauration.“ Vgl. Haym (1962), S. 359. 2 In Japan ist es über die Korporation öfter als in Deutschland geforscht worden. Außer dem genannten Buch von Fukuyoshi (2010) sind noch Hayase (1995), Harada (1994), und Takayanagi (2000) als wichtige Leistungen in der japanischen Diskussion um die Korporation bei Hegel zu nennen.

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Haym auch „das Hauptverdienst und de[n] eigentliche[n] Werth des Hegelschen Staatsrechts“ „in der Rettung des Organischen“ gefunden.3 Ob nun Hegels Rechtsphilosophie positiv oder negativ beurteilt wird, so stützen sich oftmals die Meinungen in der Forschung bloß auf die eigenen politischen Ideen und Überzeugungen, an die jeweils geglaubt werden, seien sie nun liberal-demokratisch, sozial-demokratisch oder noch weiter links orientiert. Solch ein Verhalten wird Hegels Text nicht gerecht, weil es erstens die politische, gesellschaftliche Situation seiner Zeit und die Umstände der damaligen Diskussion ignoriert und es zweitens das kritische Potential von Hegels Rechtsphilosophie dadurch reduziert, dass es – wie bewusst oder unbewusst auch immer – die Idee, nach der geurteilt wird, nur voraussetzt. Wenn dann insbesondere solche Beurteilungen von der liberal-demokratischen Idee des politischen Subjekts abhängig sind, die dieses Subjekt als autonomes Individuum annimmt, es sodann unmittelbar als gleiches Rechtssubjekt behandelt und keine andere soziale Differenz außer dem persönlichen, individuellen Unterschied des Eigeninteresses berücksichtigt, so verpassen sie das Potential der Hegelschen Rechtsphilosophie für die heutigen Diskussionen über Demokratie. Im Folgenden möchte ich mich zuerst mit dem Kontext auseinandersetzen, in dem Hegel den Begriff der Korporation anwendet, so dass damit Hegels eigene Absicht in Bezug auf seine Lehre von der Korporation klarer hervortreten kann. Meine These ist: Hegel bietet ein Modell des korporativen Staates an, das auch zur heutigen Diskussion über die Demokratie beitragen kann. Hegels Staatslehre ist genau darin aktualisierbar, dass sie ein Modell des Staates anbietet, das die individuellen Rechtspersonen nicht einfach voraussetzt, sondern das auf der Differenz ihrer Interessen basiert, die die Staatsbürger nicht als Individuen, sondern differentiell kollektiv haben. Hier ist der korporative Staat nicht in einem gegenwärtig gängigen Sinne zu verstehen, als ein solcher der durch einen Kompromiss der sozialen Klassen entstanden ist (wie im italienischen Faschismus). Sondern es handelt sich um eine Staatsverfassung, in der mittlere, relativ selbständige Kollektive zwischen dem Staat und den Individuen existieren und deren relative Autonomie vom Staat anerkannt werden sollte. Zuerst möchte ich mich etwas länger auf die Bestimmungen des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 einlassen, damit wir einige Aufschlüsse darüber gewinnen, was zu Hegels Zeit unter Korporation verstanden wurde und was er selbst in den Grundlinien vor Augen hatte. Und dies vergleiche ich dann mit den Bestimmungen der Korporation bei Hegel (1, 2). Zweitens werde ich mich mit Hegels Verständnis der Großen Revolution, die in Frankreich die corporations zerstört haben soll, in der Phänomenologie des Geistes beschäftigen (3). Dann möchte ich anhand der Hegelschen politischen Texte zwischen 1801 und 1817 zeigen, dass Hegel mit seinem 3 „In der Rettung des Organischen gegen den starren Absolutismus des antiken, insbesondere des römischen, noch mehr aber gegen den Atomismus und Mechanismus des französischen Staates, liegt der Hauptverdienst und der eigentliche Werth des Hegelschen Staatsrechts“ Vgl. Haym 1962, S. 389.

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Entwurf eines korporativen Staates die Absicht hatte, ein neues, nicht prä-revolutionäres sondern post-revolutionäres Staatsmodell anzubieten (4), bevor ich zum Schluss einige Hinweise darauf zu geben versuche, wie Hegels Konzept zur heutigen Diskussion über die Demokratie beitragen kann. I. Korporation im preußischen Allgemeinen Landesrecht Es ist einerseits kein Wunder, dass Hegel in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften auf den Begriff der Korporation zurückgreift. Denn die Korporation war eins der Themen, die von den deutschen Gesellschaftstheoretikern am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie z. B. J. G. Fichte, A. Müller, Franz von Liszt u. a. diskutiert wurde.4 Aber andererseits war die ,corporation‘, wenn wir auf das damalige Frankreich einen Blick werfen, ein Begriff, der eine privilegierte Körperschaft des ,Ancien Regime‘ bezeichnete, die in der Großen Revolution und im Prozess der napoleonischen Reformen zerstört wurde. Auf diesen Kontext weisen die oben erwähnten Beurteilungen über Hegels Konzept der Korporation zurück: Von einem post-revolutionären Standpunkt aus gesehen, sollte es als Ausdruck der Rückständigkeit und des Konservatismus der deutschen Gesellschaftstheorie gelten, dass Hegel und andere deutsche Gesellschaftstheoretiker überhaupt noch über diesen Begriff diskutierten. Um Hegels Konzept gerecht zu werden, muss man sich noch einen anderen Kontext einlassen, in dem dieser Begriff benutzt wurde. Korporation war nicht nur ein theoretischer Begriff, sondern auch einer der in den damaligen Gesetzbüchern vorkam. Als eine Quelle möchte ich das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten heranziehen. Das Projekt der Herausgabe eines modernen Gesetzbuches für Preußen ist auf ein Edikt Friedrich Wilhelms I. von 1713 zurückzuführen. Auf diesen Anlass hin wurde dieses Unternehmen im folgenden Jahr dem Juristen Thomasius aufgetragen. Die Arbeit an diesem Gesetzeswerk kommt aber erst in den 1780er Jahren unter der Herrschaft Friedrichs des Großen zu einem greifbaren Ergebnis und resultiert in der Veröffentlichung des Allgemeinen Gesetzbuchs von 1789. Aber das In-Kraft-Treten dieses Gesetzes wurde aufgrund des Ausbruchs der Französischen Revolution suspendiert. Das Gesetzbuch wurde mit weiteren Modifikationen erst 1794 als Allgemeines Landrecht in Kraft gesetzt. Dieses Allgemeine Landrecht ist keine Verfassung im eigentlichen Sinne5, sondern ein umfangreiches Gesetzbuch mit 2500 Seiten in vier Bänden, in denen 1918 Artikel ausgeführt sind. Es ist auch inhaltlich umfassend und enthält zivilrecht4 Zu Müllers Lehre von der Korporation: Harada (1989), Harada (1994), und zu Franz von Liszts: Takayanagi (2006). 5 Hocˇ evar betont aber seinen verfassungsmäßigen Charakter. (Hocˇ evar 1973). Er hat in diesem Buch noch ausführlicher das Allgemeine Landrecht in seine Studien zu den Grundlinien von 1820 einbezogen. Aber leider hat er dabei die Korporation nur beiläufig behandelt.

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liche, strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Gesetze. Autoren des Landrechts wie Carmer und Suarez wollten damit Preußens Gesetzen eine systematische Form im Sinne eines modernen Rechtssystems geben und sich damit von allen überlieferten mittelalterlichen Konventionen trennen. Nach Hocˇ evar: „Dieses umfassende Gesetzeswerk gab nicht nur den Rahmen für die Stein-Hardenbergischen Reformen der Jahre nach 1806 ab, sondern war auch die Ersatzverfassung Preußens bis zum Jahre 1850 und blieb selbst danach für das bürgerliche und öffentliche Recht Preußens bestimmend.“ (Hocˇ evar 1973 13)6 Hegel selbst betont – wenn auch das Preußische Landrecht ungenannt bleibt – die Bedeutung der Herausgabe eines modernen Gesetzbuches. Sie soll nicht nur von den Völkern gepriesen werden, sondern sie wird auch ein „großer Akt der Gerechtigkeit“ (GPR § 215 Anmerkung) genannt, weil die Gesetze sonst den Völkern unbekannt bleiben. Allgemein bekannt gemacht zu werden ist für die Gesetze deswegen notwendig, damit die betroffenen Völker in die Lage versetzt werden, ein entsprechendes Selbstbewusstsein ihrer selbst zu entwickeln. Das gilt umso mehr für „ein Landrecht als geordnetes und bestimmtes Gesetzbuch“ als für „eine unförmliche Sammlung wie [die – T. O.] von Justinian.“ (GPR § 215) Es ist plausibel zu vermuten, dass Hegel dabei nicht nur den Einfluss des Code Napoleon und die damit zusammenhängenden Verfassungen der Rheinbundstaaten würdigen wollte, sondern dabei auch das preußische Allgemeine Landrecht vor Augen hatte. Der rechtliche Status, der dem preußischen Allgemeinen Landrecht gegeben wurde, war aber nur derjenige eines Ergänzungsrechts, indem es nicht die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte, sondern diese eben nur ergänzen sollte: Wenn es schon geschriebene Gesetze gab, so wurden deren Bestimmungen denen des Landrechts vorgezogen. Dies bedeutete aber andererseits auch, dass in den Fällen, wo es bisher keine schriftlichen Bestimmungen, sondern nur Konventionen gab, jenen gefolgt werden musste. Dieser merkwürdige Charakter des Rechts kann als Resultat eines politischen Kompromisses zwischen den alten feudalistischen Mächten, d. h. hauptsächlich dem Adel und dem aufgeklärten Absolutismus bzw. den Beamten erklärt werden. Wenn wir auf das Gesetzbuch selbst einen Blick werfen, so sehen wir, dass das Allgemeine Landrecht in die zwei Teile eingeteilt wird: Im ersten Teil werden z. B. das Eigentum, die Verträge, Personen und Sachen, d. h. die privatrechtlichen Bestimmungen, bei denen es aber insbesondere um die Individuen geht, behandelt, wäh6 Über den Bezug der Hegelschen Rechtsphilosophie auf das Allgemeine Landrecht wurde schon in der Literatur diskutiert. Es war Rosenzweig, der als erster, und sogar am ausführlichsten, über den Einfluss dieses Gesetzes auf die Entwicklung der Hegelschen Rechtsphilosophie gearbeitet hat. (Rosenzweig 2010) Er musste sich dabei aber auf die damals gebräuchliche Datierung der Hegelschen Frühschriften stützen, die nach den heutigen Kenntnissen als falsch gelten muss. Während er auch Hinweise auf den Einfluss des allgemeinen Landrechts auf die Hegelschen Grundlinien von 1820 gibt, so beschränkt sich aber seine Prüfung auf nur einige Themen wie z. B. die Ehe und er lässt in diesem Zusammenhang das Thema der Korporation aus.

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rend es im zweiten Teil um die interpersonalen Gegenstände des Rechts geht wie Ehe, Familie, Haus und Staat. Von dieser Anordnung der Themen aus kann man den ersten Teil des Allgemeinen Landrechts mit dem ersten der Hegelschen Grundlinien, dem abstrakten Recht, und den zweiten des Allgemeinen Landrechts mit dem dritten Teil der Grundlinien, der Sittlichkeit vergleichen: Die Einteilung folgt nicht der heute üblichen zwischen dem Privat- und dem Öffentlichen Recht, sondern Rechtsmaterien werden beide Male danach eingeteilt, ob es um die einzelnen Individuen oder um Gemeinschaftliches geht, das mindestens in dem Bezug von zwei Personen zueinander besteht. Es ist aber im Allgemeinen Landrecht nicht zu verkennen, dass moderne Prinzipien und feudalistische Rechte oder Privilegien nebeneinander bestehen: Während im ersten Teil hauptsächlich die Bestimmungen, die zu den modernen allgemeinen Rechten und Pflichten gehören, vorkommen, behandelt der zweite Teil auch die Rechte und Pflichten z. B. der Herrschaften und des Gesindes des Adelstandes. Erst der sechste Teil (resp. ,Titel‘) ist dann der Ort, wo von den „Gesellschaften überhaupt, und von Corporationen und Gemeinen insonderheit“ die Rede ist. Der Paragraph 1 dieses 6. Titels definiert Gesellschaften als „Verbindungen mehrerer Mitglieder des Staates zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke“ (§ 1). Nach dem zweiten Paragraphen werden Gesellschaften zugelassen, „insofern dieser Zweck mit dem gemeinen Wohl bestehen kann.“ (§ 2) Das bedeutet aber, dass der Staat diejenigen Gesellschaften verbieten kann, deren Zweck gegen „das gemeine Wohl“ verstößt, d. h. „der gemeinen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ zuwiderläuft. (§§ 3 ff.) Für diese Vereinigungen wird nur bestimmt, dass ihre Mitglieder einen gemeinsamen Zweck haben. Wenn sie nicht gegen das gemeine Wohl des Staates verstoßen, sollen Privatgesellschaften erlaubt werden. Zur Bestimmung der Rechte und Pflichten ihrer Mitglieder werden Verträge zwischen ihnen anempfohlen. Diesen autonomen Gesellschaften gegenüber werden auch Gesellschaften zugelassen, die dann „vom Staat genehmigt und privilegiert“ werden. Die „Corporation“ ist neben den „Gemeinen“ (d. h. den Gemeinden) die vom Staat privilegierte Gesellschaftsform und muss zwingend ihre Mitglieder „zu einem fortdauernden gemeinnützigen Zwecke verbinden.“ Dem Paragraphen 22 zufolge müssen ihre „Rechte und Verhältnisse (…) hauptsächlich nach dem Inhalte des ihr ertheilten Privilegii“ beurtheilt werden. Anders gesagt, kann der Staat den Gesellschaften, die fortdauernde gemeinnützige Zwecke haben, Privilegien erteilen.7 Das Landrecht bestimmt auch „Innere Rechte“ und „Aeußere Rechte“ der Corporation. Bei den ,Inneren Rechten‘ werden zuerst die Mitglieder der Corporation verpflichtet, ihrem gemeinsamen Zweck nach zu handeln und „zur Erreichung desselben mitzuwürken.“ (§ 42) Daraus folgt, dass die Corporation befugt ist, den Mitgliedern, die diese Bedingung nicht erfüllen, die Mitgliedschaft zu entziehen. (§ 43) Den 7

Siehe auch Vieweg (2011), S. 340.

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„Corporationen“ wird auch ein Strafrecht gegen ihre Mitglieder unter den so bestimmten Bedingungen zugestanden. (§ 45) Das Landrecht enthält auch Artikel über die demokratische Willensbildung der Corporationen: Der § 51 lautet, „Die innern Angelegenheiten einer Corporation werden durch Berathschlagungen und Schlüsse der Mitglieder“ angeordnet. Für die Beschlüsse wird „die Mehrheit der Stimmen“ gefordert. Es gibt dann noch mehr ins Einzelne gehende Bestimmungen, z. B. darüber wie die Versammlungen eingeladen werden, oder dass sie nicht die Mitglieder einzuladen brauchen, die nicht ihre neue Adresse gemeldet haben, usw. Es gibt u. a. auch Regeln zum Mitgliederbeitrag, Bestimmungen zu ihrem Vermögen oder zu Stiftungen; dies gehört zu den „Inneren Rechten“, während ihre möglichen Schulden in „Äußeren Rechten“ abgehandelt werden, wozu auch die Rechte und Pflichten ihrer Repräsentanten und Vorsteher gehören. Aber sozusagen als Preis für diese staatliche Privilegierung der „Corporationen“ werden sie unter starke staatliche Aufsicht gestellt: Die Corporation hat zwar das Recht, neue Mitglieder aufzunehmen, aber dazu sind „Vorwissen und Beystimmung des Staats“ nötig. (§ 48) Der Staat kann sogar die Corporation aufheben, „[w]enn der im Grundvertrage vorgeschriebene Zweck einer Corporation oder Gemeine nicht ferner erreicht werden kann oder gänzlich hinwegfällt.“ (§ 189) Diese Artikel über die Korporation zielen darauf ab, diese in ein modernes Rechtssystem einzubeziehen und geben ihr formale, neutrale Bestimmungen. Sie privilegieren nicht die gegebenen, bestimmten Körperschaften, sondern geben die Bedingungen an, die die Personenverbände und Institutionen erfüllen müssen, die als Korporation ihre Privilegien genießen wollen. Sie müssen den hier beschriebenen Regeln folgen und sich unter die staatliche Aufsicht stellen, damit ihre Privilegien anerkannt werden. Zwar kann man sich gut vorstellen, dass in der Realität hinreichend bekannte traditionelle Körperschaften als Korporationen unter diesen Bestimmungen staatlich anerkannt worden sind. Und zudem muss dabei, wie es schon gesagt wurde, berücksichtigt werden, dass das Allgemeine Landrecht selbst nur den Status als „Ergänzungsrecht“ hatte. Aber es ist nicht zu verleugnen, dass die Autoren des Gesetzbuches auch mit diesen Bestimmungen über die „Corporationen“ die Absicht hatten, von oben die traditionellen Gesellschaften zu modernisieren.8

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Wenn ich einen kurzen Exkurs machen darf, möchte ich ein Beispiel dieser Korporationen erwähnen: Eine typische Korporation, die in diesem Landrecht abgehandelt wird, ist die Universität. „Universitäten haben“ – so § 67 des 12. Titels des zweiten Teils – „alle Rechte privilegirter Corporationen.“ Universitäten sind autonome Gesellschaften, denen durch den Staat Privilegien zugestanden wurden. Dies wird damit erklärt, dass die Universität aus einem autonomen Verband von Professoren und Studenten hervorgeht. Die Universität war zugleich auch eine Institution, die auch unter der starken Herrschaft des Nationalstaates im 19. und 20. Jahrhundert dennoch eine gewisse Autonomie (vielleicht als Privileg) für sich erhalten konnte. Sie war damals wahrscheinlich die letzte (halbwegs) gelingende Korporation. Auch Vieweg (2011), S. 339.

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II. Hegels Korporation und das Allgemeine Landrecht Dieses Allgemeine Landrecht hilft uns, besser zu verstehen, was Hegel und seine Zeitgenossen damals unter dem Begriff ,Korporation‘ verstanden haben. Wenn das Allgemeine Landrecht auch einige Abweichungen von Hegels Konzept der Korporation beinhaltet – insbesondere scheint das Landrecht die Corporationen stärker unter staatliche Kontrolle zu stellen – können wir Hegels dürftigen Erklärungen über sie damit ergänzen. Auch Hegel gesteht der Korporation Privilegien zu. Aber Hegel fordert auch die Privilegien der Korporation von den Privilegien im üblichen Sinne zu unterscheiden. Das Privileg, das etymologisch das besondere (privus) Gesetz (lex) bedeutet, wird so gemeinhin als Ausnahme vom allgemeinen Gesetz verstanden, was nach Hegel nur in die Zufälligkeit eines unsicheren Gesetzgebens geraten würde. Die Privilegien der Korporation sind aber „nur gesetzlich gemachte Bestimmungen, die in der Natur der Besonderheit eines wesentlichen Zweigs der Gesellschaft selbst liegen.“ (GPR § 252) Sie sind also nur die explizierten Bestimmungen des Besonderen selbst, welche als diese in das Allgemeine eingegliedert sind. Was inhaltlich vor allem interessant ist, ist, dass das Landrecht auch etwas über die sozialen Hilfeleistungen durch die Korporation bestimmt. Im 19. Titel „Von [den, T. O.] Armenanstalten, und andern milden Stiftungen“ wird gesagt: „Privilegierte Corporationen, welche einen besondern Armenfonds haben, oder der gleichen, ihrer Verfassung gemäß durch Beyträge unter sich aufbringen, sind ihre unvermögenden Mitglieder zu ernähren vorzüglich verbunden.“ (§ 9)9 Wie oben bereits erwähnt wurde, ist die Lebensversicherung der Mitglieder eine der wichtigsten Funktionen der Hegelschen Korporation. Der große Unterschied zwischen dem Landrecht und der Hegelschen Rechtphilosophie darf aber nicht vergessen werden. Während die Korporation im Allgemeinen Landrecht einerseits ganz formelle Bestimmungen hat, aber andererseits auch die traditionellen privilegierten Gesellschaften (Adelsvereinigungen, alte Zünfte etc.) enthalten kann, wird Hegels Korporation hauptsächlich auf den sogenannten „Stand des Gewerbes“ eingeschränkt. Die Stände werden hier von Hegel aufgrund ihrer ökonomischen Basis unterschieden. Während der ackerbauende Stand in der unmittelbaren Natur und der allgemeine Stand der Beamten in der Allgemeinheit ihre Betätigung finden, orientiert sich der Stand des Gewerbes an seinen besonderen Interessen und ist nur mittelbar an die Allgemeinheit gebunden. Die Korporation bietet atomistischen Individuen, die von dem Band der Familie getrennt sind und nun zweckrational auf ihre eigenen Interessen abzielen, eine Art von zweiter Familie an, die nun als Anerkennungsgemeinschaft fungiert. Hegels Korporation ist situiert in der gesellschaftlichen Organisation der modernen Arbeitsteilung.10 Sie macht eine wiederhergestellte Gemeinschaft aus, die (sozusagen als gegenläufige Tendenz in ihr) durch die Ar9

Vgl. Vieweg (2012), S. 339 f. Diesen Punkt betont auch Honneth (2001) (2011).

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beitsteilung ermöglicht wurde und die Mängel der bürgerlichen Gesellschaft kompensieren soll. Zuletzt ist zu bemerken, dass Hegels Konzept, die Korporationen auch in die Willensbildung des Staates einzubeziehen, nicht im Allgemeinen Landrecht zu finden ist. Dieses impliziert seine Stellung zur Großen Revolution, auf die ich zunächst eingehen möchte. III. Die Französische Revolution und die Korporation Das Projekt der Herausgabe des preußischen Gesetzbuches resultierte 1791 zunächst einmal nur in der Ankündigung eines „Allgemeinen Gesetzbuches“. Aber dessen In-Kraft-Treten wurde suspendiert und erst 3 Jahre später erschien wirklich das Allgemeine Landrecht. Als Grund für die Suspendierung von 1791 wird, wie schon oben erwähnt wurde, die Große Revolution in Frankreich genannt. Die Revolution hebt die Privilegien des ancien regime auf und zerstört deshalb die sogenannten mittleren Körperschaften (corps intermediaires), nämlich die ,corporations‘. Durch das Dekret d’Allarde und das Gesetz Le Chapelier von 1791 wurden alle corporations gesetzlich aufgehoben und damit aber auch die Gewerkschaften verboten. Erst später ist teilweise die freiwillige, gesellschaftliche Vereinigung von Individuen erlaubt worden. Aber es dauerte noch bis zum Gesetz vom 1. Juli 1901 (Association loi), in dem dann das Verbot der Vereinigung wirklich aufgehoben wurde. Die Französische Revolution und die Regierung Napoleons teilten jeder einzelnen Person Rechte zu, aber dabei wurde gleichzeitig gefordert, die mittleren Körperschaften, die zwischen den Individuen und dem Staat agierten, aufzuheben. Nur die direkte Beziehung der Bürger auf den Staat wurde akzeptiert. Dahinter steckt Rousseaus Gedanke vom allgemeinen Willen. Er sagt im Du contrat social: „Um eine klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es deshalb von Wichtigkeit, daß es im Staate mo¨ glichst keine besonderen Gesellschaf¨ berzeugung ten (socie´te´ partielle) geben und jeder Staatsbu¨ rger nur fu¨ r seine eigene U eintreten soll.“ 11 Hegel verstand Robespierres Schreckensregime als direktes Resultat dieses Gedankens. In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel im Kapitel über „[die]ie absolute Freiheit und [den] Schrecken“ die Französische Revolution als Verwirklichung des Rousseauschen allgemeinen Willens. Dieser ist ein transparentes Selbstbewusstsein, das aber keine Teile in sich enthält: „Hiemit ist der Geist als absolute Freiheit vorhanden; er ist das Selbstbewußtsein, welches sich erfasst, daß seine Gewissheit seiner selbst das Wesen aller geistigen Massen der realen so wie der übersinnlichen Welt, oder umgekehrt, daß Wesen und Wirklichkeit das Wissen des Bewußtseins von sich ist.“ (GW 9, 317) Hegel zufolge kann dieses Bewusstsein, das sich als transparentes in der Realität verwirklicht, „kein positives Werk“ leisten. Sondern in der „Furie des Verschwindens vertilgt es alle Unterschiede und alles Bestehen 11

Rousseau (2012), S. 494.

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des Unterschiedes in sich“ (GW 9, 320). „Das einzige Werk und Tat der allgemeinen Freiheit ist daher der Tod“ (GW 9, 320) So wird ein Tod, „der kälteste, platteste Tod […] als das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers“ hervorgebracht. Dieser Passus weist natürlich auf die Terrorherrschaft von Robespierre hin. Aber zugleich sieht Hegel diese verknüpft mit der Aufhebung der Korporationen in derselben Revolution. Hegel sagt: „Der ungetheilten Substanz der absoluten Freiheit“ kann keine „Macht Widerstand leisten.“ „Ihr ganzes System, das sich durch die Theilung in Massen organisierte und erhielt, (ist) zusammengefallen.“ (GW 9, 317) Die mittleren Körperschaften werden hier geistige Wesen genannt. Aber sie werden in der absoluten Freiheit vertilgt. Hegel interpretiert sowohl die Terrorherrschaft von Robespierre als auch die revolutionäre Aufhebung der mittleren Körperschaften12 anhand derselben Logik des Selbstbewusstseins. Sie sind zwei Seiten einer Münze. Diese Erkenntnis leitet über zu Hegels organischem Staatskonzept. IV. Die mittleren Körperschaften als Platz der Freiheit Das deutsche Wort ,Korporation‘ bzw. ,Corporation‘ nimmt das französische Wort corporation auf. Als die deutschen Gesellschaftstheoretiker dieses Wort benutzten, müssen sie den Lauf der Großen Revolution vor Augen gehabt haben; das gilt wohl auch für Hegel. Hegels Kritik der Revolution betrifft also nicht nur Jakobinerherrschaft, sondern insgesamt auch das Staatsmodell, das durch die Revolution verwirklicht wurde. In einem Fragment zur Kritik der Deutschen Verfassung von 1802/03, das mit dem Satz „Deutschland ist kein Staat mehr“ (GW 5, 161) beginnt, kritisiert er, dass die Staatslehren, mit denen in der Revolution experimentiert wurde, nur als unterdrückend und – wenn ich etwas anachronistisch dieses Wort benutzen darf – ,totalitaristisch‘ anzusehen seien: „Nach den Staatstheorieen freylich, welche in unsern Zeiten theils von seynwollenden Philosophen und Menschheitrechtelehrern aufgestellt, theils in ungeheuern politischen Experimenten realisirt worden sind, wird (…) alles was wir von dem nothwendigen Begriff der Staatsgewalt ausgeschlossen haben der unmittelbaren Thätigkeit der höchsten Staatsgewalt unterworfen, und [zwar so,] daß es von ihr bestimmt, daß alle diese Seiten bis auf ihre kleinsten Fäden hinaus von ihr angezogen werden.“ (GW 5, 172)

Zwar kritisiert Hegel hier nicht die Staatsgewalt selbst, er sagt sogar, dass es selbstverständlich sei, dass das höchste Staatsrecht seine Macht über die Völker und Organisationen ausüben soll und muss. Das sei aber unter Umständen auch das Resultat von den mechanischen Staatslehren. Er kritisiert dann an diesen, dass „alle Seiten“ (der Nation) durch die Staatsgewalt „bis auf ihre kleinsten Fäden“ 12 In der Wirklichkeit hat Robespierre bei der gesetzgebenden Beratung das Recht auf Vereinigung verteidigt. (Takamura 2007).

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hin kontrolliert werden sollen.13 In der Ausführung dieses Mangels der mechanischen Staatslehre erwähnt er dann die Korporation: „Die pedantische Sucht, alles Detail zu bestimmen, die unfreye Eifersucht, auf eigenes Anordnen und Verwalten eines Standes, Korporation u. s. w. diese unedle Mäckeley alles eigenen Thuns der Staatsbürger, das nicht auf die Staatsgewalt, sondern nur irgend eine allgemeine Beziehung hätte, ist in das Gewand von Vernunftgrundsätzen gekleidet worden.“ (GW 5, 174)

Hierdurch kann man auf Hegels positive Stellungnahme für „eigenes Anordnen und Verwalten“ der Korporationen aufmerksam gemacht werden. Die Staatstheorien, die sozusagen zur Großen Revolution hinführen, werden als diejenigen verstanden, die die selbständigen oder autonomen Organisationen im Staat aufheben und alles allein dem höchsten Staatsrecht überlassen. Von Wichtigkeit ist, dass Hegel hier kritisiert, dass die sozialen Hilfeleistungen neben Erziehung, Zoll und Rechtpflege im zentralisierten Staatsystem ohne Erlaubnis und Aufsicht der Regierung unmöglich geworden sind: „[N]ach [Vernunftgrundsätzen] darf kein Heller des gemeinen Aufwands, der in einem Lande von 20, 30 Millionen für Arme gemacht wird, [ausgegeben werden], ohne [dass er] von der höchsten Regierung erst nicht nur erlaubt, sondern befohlen, kontrollirt, besichtigt worden wäre.“ (GW 5, 174) Dieser Passus deutet an, dass Hegel in Bezug auf die Korporationen des ancien regime rückblickend auch ihre soziale Funktion sieht.14 Es wird aus diesen Passagen deutlich, dass Hegel aus einer sozialen und der Armut aufhelfenden Perspektive dem modernen mechanischen den vormodernen korporatistischen Staat vorzieht. Die Maßnahmen für die Armen sollten besser von den mittleren Körperschaften ausgehen, als dass eine zentralisierte, mechanistische Regierung sie von oben her durchorganisiert. Und aus dem folgenden Passus eines etwas früher datierten Fragments, als das schon zitierte, ist zu erfahren, dass Hegel meint, dass die Verwirklichung der Freiheit des Volks ohne Voraussetzungen, die auch die Korporationen betreffen, nicht machbar ist. Hegel sagt, „dass der Mittelpunkt als Staatsgewalt, die Regierung, was ihr nicht für ihre Bestimmung, die Gewalt zu organisiren und zu erhalten, (…) nothwendig ist, der Freyheit der Bürger überlassen und daß ihr nichts so heilig seyn müsse, als das freye Thun der Bürger in solchen Dingen gewähren zu lassen und zu schützen.“ (GW 5, 175)

13 Siehe auch die folgende Stelle: „In den neuen, zum theil ausgeführten Theorieen aber ist es das Grundvorurtheil daß ein Staat eine Maschine mit einer einzigen Feder ist, die allem übrigen unendlichen Räderwerk die Bewegung mittheilt; von der obersten Staatsgewalt sollen alle Einrichtungen, die das Wesen einer Gesellschafft mit sich bringt, ausgehen, regulirt, befohlen, beaufsichtigt, geleitet werden.“ (GW 5, 174). 14 Siehe im Gegenteil dazu, wie Hegel den Zustand im ancien regime beschreibt: „die grossen Summen, welche jährlich in einem grossen Staate für die Armuth verwendet werden, und die hierauf gehenden Einrichtungen von weitem Umfang, die durch alle Theile eines Landes durchgreiffen, werden nicht durch Auflagen, die der Staat anzuordnen hätte, bestritten.“ (GW 5, 173).

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Die französische Republik, deren Prinzip als Freiheit auftrat, beraubte durch ihre zentralisierte Regierungsgewalt das Volk seiner Freiheit selbst. Damit könnten in dieser Perspektive die Bürger auch das Selbstgefühl und die Liebe für die Körperschaften verlieren, denen sie eigentlich angehören sollten; was dann auch den Staat selbst betreffen würde: „[D]er Unterschied ist unendlich, ob die Staatsgewalt sich so einrichtet, dass alles, worauf sie zählen kann, in ihren Händen ist, und dass sie aber eben deßwegen auch auf nichts weiter zählen kann, oder ob sie ausser dem, was in ihren Händen ist, auch [auf] die freye Anhänglichkeit, das Selbstgefühl, und das eigne Bestreben des Volks zählen kann (…)“ (GW 5, 177)

Wie in dem modernen mechanischen Staat, wo alles in Händen der Staatsgewalt liegt, „sich ein ledernes, geistloses Leben erzeugen“ könnte, das wäre – so sagt Hegel – „in der Zukunft erst zu erfahren.“ (GW 5, 177) Vielmehr aber hat dagegen der „allmächtige unüberwindliche Geist“ dort sein Leben, „wo die oberste Staatsgewalt so viel als möglich der eignen Besorgung der Bürger läßt.“ (GW 5, 177) Während es hier so scheint, als würde Hegel einfach für das ancien regime einstehen, so ist er in der Phänomenologie einer anderen Auffassung. Wieder im Kapitel über „[d]ie absolute Freiheit und de[n] Schrecken“ spricht er von dem Werk, das das Bewusstsein der absoluten Freiheit leisten könnte: Es könnte darin bestehen, dass die absolute Freiheit „sich in bestehende geistige Massen und in die Glieder verschiedener Gewalten teilte, teils dass diese Massen Gedankendinge einer gesonderten gesetzgebenden, richterlichen und ausübenden Gewalt wären, teils aber die realen Wesen, die sich in der realen Welt der Bildung ergaben, und indem der Inhalt des allgemeinen Tuns näher beachtet würde, die besondern Massen des Arbeitens, welche weiter als speziellere Stände unterschieden werden. Die allgemeine Freiheit … wäre dadurch frei von der einzelnen Individualität und teilte die Menge der Individuen unter ihre verschiedenen Glieder.“ (GW 9 318 f.)

Der Prozess der (historischen) Bildung, der durch die Französische Revolution und den Schrecken der absoluten Freiheit die Korporation und damit den organischen korporativen Staat zerstörte, wird aber zugleich als die Vorbereitungsphase verstanden, einen neuen organischen Staat zu bilden. Bei dem späteren Hegel in seiner Abhandlung über die „Verhandlungen in der Versammlung der Landstände“, die aus Anlass des Streites über die württembergische Verfassung geschrieben wurde, ist eine ähnliche geschichtliche Auffassung zu finden: „[W]o, nachdem die alte königliche Regierungsgewalt im Mittelalter versunken, und das Ganze sich in Atome aufgelöst hatte, nun die Ritter, die freyen Leute, Klöster, die Herren wie die Handel und Gewerbtreibenden, sich gegen diesen Zustand der Zerrüttung in Genossenschaften und Corporationen bildeten, welche sich dann so lange an einander abrieben bis sie ein leidliches Nebeneinanderbestehen fanden.“ (GW 15, 44) Der korporative Staat vor der Revolution war auch ein Resultat davon, dass die zerstreuten, atomistischen sozialen Individualitäten, die durch den Zerfall der alten politischen Gewalt, hier des mittelalterlichen Königtums, entstanden waren, sich wieder einen neuen gesellschaftlichen Rahmen für ihre Freiheit herausbildeten.

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Hegel findet nun nicht mehr in Frankreich die Möglichkeit der Herausbildung eines neuen korporativen Staates, sondern in Deutschland. Hegel spricht da von den „großen Anfänge[n] zu innern rechtlichen Verhältnissen in Deutschland, wodurch die förmliche Staatsbildung vorbereitet worden“ (GW 15, 44) sei. Sehr wahrscheinlich auf die Reformen in den Rheinbundesländern anspielend sagt Hegel: „Nachdem in den neuesten Zeiten die Ausbildung der obern Staatsgewalten sich vervollkommet hat, sind jene untergeordneten Zunftkreise und Gemeinheiten aufgelöst, oder ihnen wenigstens ihre politische Stelle und Beziehung auf das innere Staatsrecht genommen worden.“ (GW 15, 45)

In der Rheinbund-Akte von 1806 wurden alle Reichsgesetze für ungültig erklärt (§ 1). Die Verfassung des Königreichs Westfalen von 1807, die als erste in den Rheinbundstaaten in Kraft trat und zu einem Modell für die Verfassungen der anderen Länder wird, bestimmte die Aufhebung der Korporationen (§ 11). Die Bayerischen Verfassung, die 1808 folgte, erklärte auch: „Alle besondere Verfassungen, Privilegien, Erbämter und landschaftlichen Corporationen der einzelnen Provinzen sind aufgehoben. Das ganze Königreich wird durch eine Nationalrepräsentation vertreten, nach gleichen Gesetzen gerichtet, und nach gleichen Grundsätzen verwaltet“ (§ 2). In diesen Ländern werden gemäß ihren neuen Verfassungen zentralisierte Regierungen wie in Frankreich eingeführt. Aber nach dieser Epoche des Nachahmens des französischen Vorbilds in Deutschland kommt bald – so sagt Hegel – „wohl wieder [eine andere – T. O.] Zeit, wie man bisher vornemlich in den Kreisen der höhern Staatsbehörden organisirt hat, [um nun – T. O.] auch die untern Sphären wieder zu einer politischen Ordnung und Ehre zurückzubringen“ (GW 15, 45). Und sogar können diese „untern Sphären“, wie sie nun von Privilegien und Unrechten gereinigt worden sind, „in den Staat als eine organische Bildung“ (GW15, 45) sich einfügen. Hier ist Hegels Motivation zu einer Art von organischer Staatsfassung zu gelangen, die die Korporationen eingliedert, gut belegbar. Das aber ist nicht mehr als dem ancien regime gemäß zu betrachten, sondern etwas Neues, das erst nach der Zerrüttung des alten korporativen Staates möglich sein würde. Und dies ist es, was später in der Staatslehre der Grundlinien resultieren sollte. Schlussbemerkungen Die bisherigen Betrachtungen machen es plausibel, dass Hegel – zumindest seiner Absicht nach – mit seiner Lehre von der Korporation und damit auch mit seiner Lehre vom Staat, nicht einen vormodernen, prä-revolutionären korporativen Staat zu rehabilitieren gedenkt. Wir könnten zwar auch die Staatsform, die er in den Grundlinien entwickelt, als eine Art des korporativen Staates bezeichnen. Aber seine Lehre von der Korporation will nicht für eine zunftmäßige Korporation Partei ergreifen. Sondern es handelt sich um eine Korporation, die erst in der Zeit nach der Französischen Revolution, die eine sozusagen gleiche Vereinzelung aller Individuen anvisierte, ge-

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bildet werden kann und die auch der Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft gemäß sein sollte. Diese Sichtweise könnte gegenüber den Stein-Hardenbergischen Reformen in Preußen, die auch die Zünfte auflösten, zu einer ambivalenten Haltung führen: Einerseits würde Hegel sie als notwendige Stufe der Modernisierung akzeptieren, andererseits aber sie auch kritisieren, weil sie so das Volk nur auf die zerstreuten Individuen zurückgeführt hätte. Eine solche Stellungnahme Hegels ist – so will ich behaupten – aber auch für unsere gegenwärtigen Gesellschaften von Wichtigkeit, indem sie auf etwas aufmerksam macht, was die heutige liberale Politische Philosophie ignoriert. Der Liberalismus steht zwar auch für den Pluralismus. Er führt aber die Pluralität der Werte so ein, dass diese sich dabei zentral auf die Individuen beziehen. Hegel zeigt demgegenüber ein alternatives Modell der Demokratie, das nicht auf den atomistischen Individuen basiert, sondern die gesellschaftlichen Körperschaften berücksichtigt, die in der kapitalistischen Gesellschaft autonom gebildet werden können. Diese sollen (1.) gegen die Staatsgewalt die Macht herausbilden, um ihre Mitglieder vor der Staatsgewalt selbst und auch vor der wirtschaftlichen Macht zu schützen. (2.) Sie können auch soziale Unterstützung und soziale Hilfe selbst leisten, die in der globalisierten Welt die nation states allein nicht mehr ausreichend leisten können. (3.) Sie sind zugleich Gemeinschaften, die ihren Mitgliedern insoweit soziale Anerkennung verschaffen, damit diese ihre Identitäten sichern können. Sie stehen aber nicht nur gegen die Staatsgewalt, sondern kooperieren auch mit ihr, wenn sie sich bestimmten sozialen Problemen zuwenden. Hegel bietet ein Staatsmodell an, in dem die Staatsgewalt und die mittleren Körperschaften im Prozess zwischen Kooperation und Streit stehen. Demokratie soll nicht nur zwischen Individuen, sondern auch zwischen Gruppen praktiziert werden und wird in der Tat so Tag für Tag praktiziert. Erst gesellschaftliche Kollektive können eine institutionelle Stütze für die sozialen Bestrebungen im neoliberalen Zeitalter abgeben. Abkürzungen GPR: Georg, Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, Werke in 20 Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main, 1986. GW: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Gesammelte Werke. In Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft, herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg, 1968 ff.

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Literatur 1. Gesetzbücher Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794: Mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von Günther Bernert. Dritte, erweiterte Auflage, Neuwied; Kriftel; Berlin, 1996. Königliches Dekret vom 7. Dezember 1807, wodurch die Publikation der Constitution des Königreichs Westfalen verordnet wird (Verfassung des Königreichs Westfalen von 1807), in: Die Verfassungen in Deutschland (seit 1806) (http://www.verfassungen.de/de/) Rheinbunds-Akte vom 12. Juli 1806, a. a. O. Verfassungen des Königreichs Bayern vom 1. Mai 1808 a. a. O.

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Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou Principes du droit politique, in: Œvres complètes, V/2, Genève/Paris 2012. Ruda, Frank: Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Konstanz 2011. Schmidt am Busch, Hans-Christoph: „Anerkennung“ als Prinzip der kritischen Theorie, Berlin/ Boston 2011. Takamura, Gakuto: Asoshiashion e no jiyu. Kyowakoku no ronri (Freiheit zur Assoziation. Die Logik der Republik), Tokyo 2007. Takayanagi, Ryoji: Hegeru shakairiron no shatei. (Tragweite der Hegelschen Theorie der Gesellschaft), Tokyo 2000. Takayanagi, Ryoji: Seinen F. risutono koruporatsuion ron (Theorie der Korporation vom jugen Franz von Liszts, in: Kokugakuinkeizaigaku, Bd. 54/3 – 4, Tokyo 2006, S. 255 – 283. Takiguchi, Kiyoe: Hegeru hokenri no tetsugaku. Keisei to tenkai. (Hegels Philosophie des Rechts. Ihre Bildung und Entwicklung.), Tokyo 2007. Vieweg, Klaus: Das Denken der Freiheit. Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, München 2012.

Hegels Philosophie als Grundlage zur Überwindung von Diskriminierungen Nikolaus Knoepffler I. Ausgangspunkt Wer sich die Frage stellt, was das Beste an Hegels Philosophie wäre, kann viele Antworten finden. Beispielsweise beantwortet Hegel in einer bis heute systematisch sehr bedeutsamen Weise die religionsphilosophische Frage, warum vernünftige Personen religiöse Glaubenssätze annehmen sollen, die sich auf geschichtliche Personen (z. B. Moses, Jesus oder Mohammed) und Ereignisse (Verkündigung der zehn Gebote, Auferweckung, Erscheinungen des Engels Gabriel) berufen und gegenseitig teilweise ausschließen. So bestreiten gläubige Muslime zwar nicht, dass Jesus jungfräulich empfangen wurde, aber sie bestreiten seine Gottessohnschaft und Auferweckung. Gläubige Christen erkennen umgekehrt nicht an, dass Mohammed durch den Engel Gabriel göttliche Offenbarungen erhalten hat. Es geht um das Grundproblem, ob Kontingentes (geschichtliche Ereignisse) notwendig sein kann, sich also als Wahrheit erweisen kann, auf die der Mensch sein Leben ausrichtet. Während es nämlich für uns existentiell wenig bedeutsam ist, ob Hegel an der Cholera gestorben ist oder doch einer anderen Krankheit, so macht es einen grundlegenden Unterschied aus, ob Jesus von Nazareth sich in der Geschichte als Sohn Gottes erwiesen hat oder eben nicht.1 In diesem Beitrag soll es jedoch um eine andere bahnbrechende Einsicht Hegels gehen, die gerade aufgrund von Diskussionen, ob Hegel möglicherweise ein eurozentristischer Rassist gewesen sei, neues Gewicht bekommen hat, nämlich seiner Grundlage für das Überwinden von Diskriminierungen jeder Art. Dazu werden in einem ersten Schritt die Texte Hegels aufgeführt, die ihn scheinbar als eurozentrischen Rassisten ausweisen. Anschließend erläutere ich, warum diese Texte, die er selbst nicht veröffentlichte, gerade durch seine eigenen veröffentlichten Schriften widerlegt werden und warum genau diese Schriften das Beste von Hegel in praktischer Hinsicht zum Tragen bringen, nämlich die Grundlegung eines universellen Menschenwürdeverständnisses, das jeder Diskriminierung Einhalt gebietet. Abschließend zeige ich jedoch, dass Hegel trotz dieser bahnbrechenden Einsicht, weswegen

1 Vgl. ausführlicher dazu Nikolaus Knoepffler, Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel – ein Überblick. In: Nikolaus Knoepffler/Klaus-Michael Kodalle, Hegel, Krise und Corona – Hegels Aktualität für heutige Konflikte. Königshausen & Neumann: Würzburg, S. 9 – 24.

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er zu Recht als Philosoph der Freiheit verstanden werden kann, in mancher Hinsicht doch ein Kind seiner Zeit gewesen ist. II. Die These: Hegel – ein eurozentristischer Rassist In mehreren Beiträgen haben Daniel James und Franz Knappik, im Oktober 2021 auch prominent in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die These vertreten, „Hegel, aber auch viele andere Personen, die wir heute als Themen unserer Studien, Karrieren und Lehrpläne wählen, haben sich „ohne Zwang zu Ideengebern für die rassistische Verteidigung des Kolonialismus gemacht“2. Dafür führen sie aus den mittlerweile wissenschaftlich editierten Mitschriften von Hegels Vorlesungen aus seiner Berliner Zeit beispielsweise folgende Belegstellen an: „,Die Neger sind eine Kindernation, die aus der kindlichen Interessenlosigkeit nicht herausgehn.‘ Unter ihnen herrsche ,der höchste Mangel von Bewußtsein von Persönlichkeit: daher laßen sie sich auch so leicht zu Sclaven machen‘.“3 Selbst die Revolution der Farbigen auf Haiti hätte Hegel nicht als eigene revolutionäre Leistung dieser Personen anerkannt, sondern würden diese der zivilisatorischen Erziehung durch die Europäer verdanken, was James/Knappik mit: „die haitianischen Revolutionäre hätten also ohne Versklavung gar kein Freiheitsbewusstsein entwickeln können“4, interpretieren. Zudem behaupten sie, Hegels in den Vorlesungsschriften rassistische Äußerungen „eng mit zentralen Positionen in Hegels Philosophie verwoben“5. In einem Internetbeitrag gehen sie noch einen Schritt weiter und werfen Hegel sogar explizit vor, Rassist gewesen zu sein6 und in ihrem Dezember 2021 veröffentlichten Beitrag zum selben Thema formulieren sie sogar pointiert die These: „Hegel war kein Kind seiner Zeit, es gab auch damals Kritiker von Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei, und einige davon waren Hegel nachweislich bekannt. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind nicht bloße persönliche Meinungen außerhalb der Philosophie, vielmehr sind sie sorgfältig in Hegels System integriert und stehen in engem Zusammenhang mit wichtigen Hegelschen Themen wie der Herr-KnechtDialektik, dem Freiheitsbegriff und dem Geschichtsverständnis.“7 Als Konsequenz ergibt sich: „Im europäischen Kolonialismus sieht der Berliner Hegel nicht ein System der Ausbeutung und des physischen wie kulturellen Genozids, sondern ein ,ab2

Daniel James/Franz Knappik, Eine Last der Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 232/2021, S. N3. 3 Ebd., S. N3. 4 Ebd., S. N3. 5 Ebd., N3. Dabei spielen sie auf die §§ 57, 248 und 351 an. Diese Texte aus Hegels Rechtsphilosophie sollen später noch ausführlich untersucht werden. 6 Vgl. Daniel James/Franz Knappik, Das Untote in Hegel: Warum wir über seinen Rassismus reden müssen, in: https://www.praefaktisch.de/hegel/das-untote-in-hegel-warum-wirueber-seinen-rassismus-reden-muessen/, zuletzt eingesehen: 31. 12. 2021. 7 Daniel James/Franz Knappik, Stellungnahmen, in: Information Philosophie 4/2021, S. 38.

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solutes Recht‘ der zivilisatorisch überlegenen Völker“8, wobei er „über Jahre hinweg an einer hierarchischen Theorie der ,Menschenrassen‘ arbeitet und sich in herabsetzenden Fantasien über außereuropäische Kulturen ergeht.“9 Zugespitzt gesagt: Hegel ist ein eurozentrischer Rassist, ein Verteidiger von Kolonialismus und Sklaverei. Eine Bestätigung für diese These scheint zu sein, dass im Streit um die Abschaffung der Sklaverei ein Gegner dieser Abschaffung und Vertreter der amerikanischen Südstaaten, der Philosophieprofessor Lucius Quintus Cincinnatus Lamar, nach dem Bürgerkrieg sogar von 1885 – 1888 erster aus den Südstaaten kommender US-Innenminister und später Richter am US-Supreme Court, aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte zitierte, wonach die „Sklaverei […] der Anlass für die Zunahme des menschlichen Gefühls unter den Negern“10 sei, weswegen die moderne Sklaverei „selbst eine Phase des Fortschritts von der bloß isolierten sinnlichen Existenz, eine Phase der Bildung, eine Art, an einer höheren Moral und der damit verbundenen Kultur teilzuhaben“ realisiere. III. Die Antithese: Hegel – Philosoph einer nicht diskriminierenden Freiheit11 Doch wie war es dann möglich, dass Martin Luther King Jr. explizit Hegel als seinen Lieblingsphilosophen bezeichnete und 1958 ausdrücklich in seinen Memoiren über den Busboykott von Montgomery bekannte, ihn habe Hegels „Philosophie der Gewaltlosigkeit“12 geprägt: „Seine Analyse der dialektischen Prozesse half mir, trotz ihrer Unzulänglichkeiten zu erkennen, dass Wachstum aus dem [gewaltlosen] Kampf hervorgeht.“13 Damit spielt King Jr. möglicherweise auf eine von Hegels wirkmächtigsten Ideen an, die er in der Phänomenologie des Geistes entfaltet hat, nämlich der Weltgeschichte als „Geschichte der dialektischen, d. h. der aktiven Beziehung zwischen Herrschaft und Knechtschaft“14, die zu ihrem Ende kommt, wenn „die Synthese von Herr und Knecht Wirklichkeit geworden ist, nämlich der integrale, heile Mensch, der Bürger des universellen und homogenen […] Staats“15, den Hegel 8

Ebd., S. 38. Daniel James/Franz Knappik, Eine Last der Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 232/2021, N3. 10 Hier zitiert nach der Übersetzung der englischsprachigen Äußerungen Lamars, der die erste damalige englische Veröffentlichung von Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte verwendete, durch: Kevin Harrelson, Schritte zur Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 274/2021, S. N3. 11 Vgl. Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit, wbg-Edition: Darmstadt 2019. 12 Hier zitiert nach ebd., S. N3. 13 Hier zitiert nach ebd., S. N3 (mit eigener Ergänzung und Korrektur). 14 Alexandre Kojève, Zusammenfassender Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der „Phänomenologie des Geistes“, in: Hans Friedrich Fulda/Dieter Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels ,Phänomenologie des Geistes‘, Suhrkamp: Frankfurt (M) 1973, S. 150. 15 Ebd., S. 150 f. 9

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beim Verfassen der Phänomenologie im von Napoleon geschaffenen Staat verwirklicht sah16, in seiner Berliner Zeit im preußischen Staat. In einem solchen Staat erweisen sich alle Menschen als frei im Sinn einer positiven Freiheit: Sie können sich gegenseitig als Freie anerkennen, weil jeder Mensch aufgrund seiner Teilhabe an der einen Vernunft teilhat. Deshalb kann Hegel im § 209 der Grundlinien der Philosophie des Rechts festhalten: „Es gehört der Bildung, dem Denken als Bewußtsein des Einzelnen in Form der Allgemeinheit, daß Ich als allgemeine Person aufgefaßt werde, worin alle identisch sind. Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener u. s. f. ist, – dies Bewußtsein, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit“17. Damit hat Hegel nach Vieweg eine „wissenschaftliche Delegitimierung von Rassismus und Kolonialismus“18 vollzogen. Folko Zander bestätigt diese Sicht, ebenfalls § 209 zitierend, wenn er schreibt: „Die Abwehr von Rassismus und jeglicher Form von Sklaverei ergibt sich also theoretisch zwingend aus dem Kern der Hegel’schen Philosophie.“19 So bietet Hegel aufgrund des „Universalismus seines Anerkennungskonzepts“20, wonach sich die Menschen gegenseitig aufgrund der gemeinsamen Teilhabe an der Vernunft als frei und gleich anerkennen müssen, eine faszinierende Begründung für die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 und zugleich auch für das Würdeprinzip in Verbindung mit den Grundrechten im bundesdeutschen Grundgesetz.21 Sowohl in der Menschenrechtserklärung als auch im Grundgesetz wird die Würde nämlich mit Grundrechten verbunden, also mit der Freiheit, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben22, wobei gleichzeitig die sittliche Ordnung zu wahren bleibt. Freiheit ist in diesem Sinn vernunftgebundene Freiheit, nicht reine Willkürfreiheit. Diese Freiheit impliziert darum notwendig eine Haltung der Antidiskriminierung, denn nach Hegel wie nach der Menschenrechtserklärung und dem Grundgesetz muss man sogar sagen: „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist.“ Damit ist jede Diskriminierung nach Herkunft, Geschlecht, Religion oder Zu16

So nach Kojève ebd., S. 151. GW 14, S. 200. Diese Stelle erinnert an die paulinische Stelle aus dem Galaterbrief (Gal 3,26 – 28): „Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, sodass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! So bezeugt der Geist selbst unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ 18 Klaus Vieweg, Stellungnahmen, in: Information Philosophie 4/2021, S. 40. 19 Folko Zander, Abstammung bestimmt nichts, in Frankfurter Allgemeine Zeitung 292/ 2021, S. N4 20 Ebd., S. N4. 21 Vgl. zu diesen Würdekonzeptionen und ihrem Zusammenhang mit dem Freiheitsgedanken ausführlich Nikolaus Knoepffler, Würde und Freiheit. Vier Konzeptionen im Vergleich, 2. Auflage, Alber: Freiburg i. B. 2021. 22 Vgl. Aaron Barak, Human Dignity. The Constitutional Value and The Constitutional Right. Cambridge University Press: Cambridge 2015, S. xix. 17

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gehörigkeit zu einer Gruppe, sei es der Gruppe der sogenannten Weißen oder sogenannten Farbigen, ausgeschlossen. Selbstverständlich ist damit auch jede Form der Sklaverei in Hegels Grundkonzeption delegitimiert. Dies ist eine bahnbrechende hegelsche Einsicht, die zum Besten gehört, was Hegel philosophisch erarbeitet hat. IV. Die Synthese: Hegel – Philosoph der Freiheit und Kind seiner Zeit Wie aber lassen sich vor diesem Hintergrund, Hegel als Philosophen einer nicht diskriminierenden Freiheit zu verstehen, Hegels eigene publizierte Äußerungen verstehen, in denen er, wie es scheint, diskriminierende Äußerungen macht und sogar eine Kolonisation mit Unterwerfung derer, die bis dahin in den entsprechenden Gebieten gelebt haben, zu rechtfertigen scheint. So schreibt Hegel in der Rechtsphilosophie: „§ 350 In gesetzlichen Bestimmungen und in objektiven Institutionen von der Ehe und dem Ackerbau ausgehend [(…)], hervorzutreten, ist das absolute Recht der Idee, es sei, daß die Form dieser ihrer Verwirklichung als göttliche Gesetzgebung und Wohltat, oder als Gewalt und Unrecht erscheinen; dies Recht ist das Heroenrecht zur Stiftung von Staaten.“23 Was hier im Blick auf den einzelnen Heroen gesagt wird, verdeutlicht der folgende § 351 für Nationen: „Aus derselben Bestimmung geschieht, daß zivilisierte Nationen andere, welche in den substantiellen Momenten des Staats zurückstehen (Viehzuchttreibende die Jägervölker, die Ackerbauende beide u. s. f.) als Barbaren, mit dem Bewußtsein eines ungleichen Rechts, und deren Selbständigkeit als etwas Formelles betrachten und behandeln. In den Kriegen und Streitigkeiten, die unter solchen Verhältnissen entspringen, macht daher das Moment, daß sie Kämpfe des Anerkennens in Beziehung auf einen bestimmten Gehalt sind, den Zug aus, der ihnen eine Bedeutung für die Weltgeschichte gibt.“24 Hegel kann hier so gelesen werden, als ob er mit dieser Stelle die Kolonisation und Unterwerfung der nicht zivilisierten „Barbaren“ durch die zivilisierten Nationen rechtfertigen würde. In den dem § 352 folgenden Paragrafen wird letztlich „dem nordischen Prinzip der germanischen Völker“25 die Aufgabe der „Versöhnung als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienenen objektiven Wahrheit und Freiheit“26 übertragen. Dahinter steht Hegels Annahme, dass in der orientalischen Welt nur der Herrscher frei war, in griechischer und römischer Zeit nur einigen Freiheit zukam, während erst das nordische Prinzip der germanischen Völker begriffen habe, dass alle frei seien. Unter der Annahme, dass aber real bestimmte Völker barbarisch seien und noch nicht die Freiheit aller begriffen haben, lassen sich vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen „zivilisatorische Kolonisationen“ sogar einfordern, weil dadurch die unterworfenen Völker wie Kinder langsam an das Prinzip der 23

GW 14, S. 326. GW 14, S. 326 f. 25 § 358: GW 14, S. 331. 26 Ebd., S. 330 f. Es braucht hier nicht darauf eingegangen werden, wie diese Stellen in der Zeit des Nationalsozialismus missbraucht wurden und bereits damals Hegel in Misskredit gebracht haben. 24

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Freiheit herangeführt werden. In § 248 der Rechtsphilosophie rechtfertigt Hegel die Kolonisation, denn für Völker gilt damit, was er im § 57 auch im Blick auf die einzelnen Menschen ausgesprochen hat: „Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.“27 Darum kann Hegel in diesem Paragrafen die Behauptung, Sklaverei sei ein absolutes Unrecht, für die reale Welt relativieren, sofern es nach seiner Ansicht noch Menschen gibt, die eben in diesem Zustand leben, sich noch nicht als frei erfasst zu haben. Rückbezogen auf die Kolonisation heißt das: Auch hier dürfen Völker, die sich noch nicht als freie erfasst haben, kolonisiert werden, um so nach und nach an die Freiheit herangeführt zu werden. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte28 beschreibt Hegel afrikanischen Despotismus, Kannibalismus, Blutrache und weitere für seine Hörer schreckliche Zustände, um zum Ergebnis zu kommen: „Im algemeinen müssen wir sagen, daß im inren Africas das Bewußtsein noch nicht zur Anschauung eines festen Objectiven, einer Objectivität überhaupt gekomen ist. […]. So ist die afrikanische Natur diese Gedrungenheit in sich; die Africaner sind also noch nicht zu dieser Anerkenung des algemeinen gekomen, was wir Religion, Staat nennen, ist hier nicht vorhanden, und die Gestalt eines solchen Geistes ist daher schwer zu fassen.“29 Hegel stellt sich mit diesen nach heutigem Verständnis rassistischen Äußerungen in den damaligen Mainstream der Überzeugungen, weswegen der bereits oben zitierte Vorwurf, er und andere Personen seiner Zeit „haben sich ohne Zwang zu Ideengebern für die rassistische Verteidigung des Kolonialismus gemacht“30, übersieht, welche Erzählungen Anfang des 19. Jahrhunderts über die Einwohner des südlichen Afrikas kursierten. Aufgrund dieser Vorstellungen „afrikanischer“ Lebensweise, fühlten sich die Europäer als die zivilisierte Welt. Auch ist nicht zu unterschätzen, wie sehr die Annahme von der Überlegenheit der christlichen Religion als einzig wahrer die damaligen Menschen prägte. Wie wirkmächtig sich diese allgemeine Überzeugung von der Inferiorität der „Afrikaner“(und auch anderer Nicht-Europäer) im Lauf des 19. Jahrhunderts in den europäischen Nationen nämlich erwies, zeigt nicht nur die Kolonisation Afrikas, Teile Asiens und Ozeaniens durch die europäischen Mächte in diesem Jahrhundert, sondern auch das konkrete Verhalten kirchlicher Vertreter. So verkauften im 19. Jahrhundert beispielsweise die Jesuiten, die mit ihrer Georgetown University in Washington in Geldschwierigkeiten steckten, Sklaven, ohne auf deren Familienbande zu achten.31 27

GW 14, S. 71. Vgl. GW 27/2, S. 516 – 526. 29 GW 27/2, S. 518. 30 Daniel James/Franz Knappik, Eine Last der Vernunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 232/2021, S. N3. 31 Vgl. dazu: https://www.nytimes.com/2016/04/17/us/georgetown-university-search-forslave-descendants.html (zuletzt eingesehen 31. 12. 2021). 28

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Der Vorwurf gegen Hegel ist deshalb nicht sachgemäß. Daran ändert auch nichts, dass beispielsweise bereits der Dominikaner De las Casas (1484 – 1566), berührt vom Leid der versklavten Indianer, deren Würde als Menschen betonte und gegen ihre Versklavung argumentierte. Auch die Einfuhr von Sklaven aus Afrika sah er als Übel an. Auf protestantischer Seite verfasste der Quäker Burling (1678 – 1743) eine sehr bedeutende Schrift gegen die Sklaverei und initiierte, unterstützt von Glaubensbrüdern und -schwestern, eine Bewegung, die zur Abschaffung der Sklaverei führte. Vielmehr stellt sich Hegel mit seinen Überzeugungen zu Sklaverei und Kolonisation in eine Tradition, die sich philosophisch bis zu Aristoteles zurückführen lässt. Aristoteles geht nämlich davon aus, dass manche Menschen dazu geboren sind, als Sklaven zu leben, weil sie – modern gesprochen – nicht imstande sind, sich ihres Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen.32 Darum sind sie sogar zu Recht Besitz ihres Herrn und sein Werkzeug.33 Auch theologisch stellt sich Hegel in eine Tradition, die bereits in der hebräischen Bibel ihren Ursprung genommen hat, in der die Sklaverei als Institution akzeptiert ist.34 Auch das Neue Testament akzeptiert die Sklaverei als „irdische“ Realität. Im 1. Petrusbrief werden die christlichen Sklaven zum Gehorsam gegenüber ihren Herren aufgefordert und ihr Sklavesein sogar in die Nähe zum Leiden Christi gerückt.35 Eine Synthese von aristotelischem Gedankengut und biblischen Äußerungen findet sich bei Thomas von Aquin. Manche Menschen besäßen keine hinreichende Vernunft, um selbst ihr Leben zu bestimmen. Thomas schränkt dabei ausdrücklich ein, dass dies aufgrund der zufälligen Eigenschaften des betreffenden konkreten Menschen der Fall ist, nicht aber sozusagen aufgrund der eigentlichen Natur des Menschen. Die Institution der Sklaverei ist deshalb nicht absolut, sondern nur relativ gerechtfertigt, nämlich aufgrund bestimmter fehlender Eigenschaften.36 Dem Sklaven sind zudem bestimmte Rechte zuzugestehen, weshalb er nicht wie eine Sache absolut versklavt werden darf, aber dennoch Besitz seines Herrn sein kann, sodass er sogar als ein „etwas“ be-

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Vgl. Aristoteles: Politica, 1254b20 – 24: „Von Natur aus ist Sklave, […], wer insoweit an der Vernunft teilhat, dass er sie wahrnehmen, aber nicht besitzen kann“ (eigene Übersetzung). Aristoteles gesteht sogar eine Praxis der Sklaverei zu, die mit dieser Theorie im Konflikt steht, nämlich wenn beispielsweise Kriegsgefangene versklavt werden (vgl. dazu 1255a3 ff.). 33 Vgl. ebd., 1254a13 – 17. 34 Vgl. Ex 20 – 21. Kurioserweise hat noch im Herbst 2017 bei einer Wahlveranstaltung zur Senatswahl in Alabama ein Teilnehmer ausgerufen: „Show me the place in the Bible where slavery is condemned!“ [„Zeig’ mir die Stelle in der Bibel, wo Sklaverei verdammt wird!“], hier zitiert nach: The Economist, Sept 23rd 2017, 40. 35 Vgl. 1 Petr 2,18: „Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Ehrfurcht euren Herren unter, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften! Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. […] Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt.“ 36 Vgl. ST II-II, q 57 a 3 ad 2.

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zeichnet wird, „das dem Herrn gehört, weil es sein Werkzeug ist“37. Noch im Jahr 1962 heißt es im deutschsprachigen katholischen Standardwerk der Moraltheologie in Anlehnung an Thomas: „Um die Stellung des Christentums zur Sklaverei zu verstehen, muss man einen doppelten Begriff unterscheiden: 1. die Sklaverei im strengen, absoluten Sinne, bei der der Sklave rechtlos ist und nicht als Person, sondern als sachliches Eigentum betrachtet wird; 2. eine mildere Form der Sklaverei, die zwar die Arbeitskraft und äußere Freiheit des Sklaven dem Herrn überliefert, aber seine Menschenwürde und gewisse unverletzliche Menschenrechte anerkennt. Die erstere Form widerspricht dem Naturrecht und der christlichen Moral; sie ist als geschichtliche Tatsache eine der traurigsten Folgen und Strafen der Sünde, gegen die das Christentum stets angekämpft hat. Die zweite Form ist nicht unbedingt verwerflich, obschon sie weder dem natürlichen noch dem christlichen Ideal entspricht; sie ist vom Christentum aus wichtigen sozialen Gründen geduldet und nur allmählich, in Anpassung an die geschichtliche Entwicklung überwunden worden.“38 Hegels Paragrafen in der Rechtsphilosophie zu Sklaverei und Kolonisation können deshalb als entsprechende Überlegungen gedeutet werden. Indem Hegel aber fundamental die Sklaverei, vom Begriff des Menschen her gedacht, im § 57 der Rechtsphilosophie ablehnt, lässt sich erkennen, dass am Ende der Geschichte für die Sklaverei (und jede Form von Herrschaft, was eine sogenannte zivilisierte Kolonisation mit einschließt) kein Platz mehr sein darf: „Die behauptete Berechtigung der Sklaverei [(…)] so wie die Berechtigung einer Herrschaft , als bloßer Herrenschaft überhaupt und alle historische Ansicht über das Recht der Sklaverei und der Herrenschaft beruht auf dem Standpunkt, den Menschen als Naturwesen überhaupt nach einer Existenz (wozu Willkür gehört) zu nehmen, die seinem Begriffe nicht angemessen ist. Die Behauptung des absoluten Unrechts der Sklaverei hingegen hält am Begriffe des Menschen als Geistes, als des an sich freien, fest, und ist einseitig darin, daß sie den Menschen als von Natur frei, oder, was dasselbe ist, den Begriff als solchen in seiner Unmittelbarkeit, nicht die Idee, als das Wahre nimmt.“39 In diesem Paragrafen verweist er dabei auf seine eigene Phänomenologie, in der er herausgearbeitet hat, wie der Knecht zur Freiheit finden kann und so über sein Knechtsein hinausgelangt, wie also die Idee vom absoluten freien Menschen zu einer Wahrheit wird, wie sich also Herrschaft und Knechtschaft aufheben werden: „In dem Momente, welches der Begierde im Bewußtseyn des Herrn entspricht, schien dem dienenden Bewußtseyn zwar die Seite der unwesentlichen Beziehung auf das Ding zugefallen zu seyn, indem das Ding darin seine Selbständigkeit behält. Die Begierde hat sich das reine Negiren des Gegenstandes, und dadurch das unvermischte Selbstgefühl vorbehalten. Diese Befriedigung ist aber deßwegen selbst nur 37 ST II-II, q57 a 3 resp. Im Original lautet die Stelle mit Verweis auf die Stelle bei Aristoteles: „et servus est aliquid domini, quia est instrumentum eius, ut dicitur in I Polit.“ 38 Joseph Mausbach, Katholische Moraltheologie 3/2: Die spezielle Moral. Der irdische Pflichtenkreis. 10. Auflage (neu bearbeitet von G. Ermecke). Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung: Münster 1962, 454 f., der hier praktisch ST II-II a 3 ad 2 paraphrasiert. 39 GW 14, S. 71 f.

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ein Verschwinden, denn es fehlt ihr die gegenständliche Seite oder das Bestehen. Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben und zu einem Bleibenden, weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat. Diese negative Mitte oder das formirende Tun ist zugleich die Einzelnheit oder das reine Fürsichseyn des Bewußtseyns, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtseyn kommt also hiedurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns, als seiner selbst.“40 Darum spricht Hegel in demselben § 57 der Rechtsphilosophie ausdrücklich davon, dass es gerade nicht nur eine Sollensforderung bleiben darf, „daß der Mensch an und für sich nicht zur Sklaverei bestimmt sei“41. Was ergibt sich aus diesen Analysen hegelscher Texte? Der Vorwurf, Hegel sei ein Rassist, lässt sich nicht halten, er bleibt der Philosoph der Freiheit. Dagegen ist der Vorwurf, Hegel wäre rassistischem Denken seiner Zeit im Unterschied zu anderen Zeitgenossen nicht entschieden entgegengetreten ebenso berechtigt wie der (hier nicht thematisierte) Vorwurf, Hegel habe sich nicht entschieden für Demokratie oder Frauenrechte eingesetzt. In diesen Fragen bleibt Hegel ein Kind seiner Zeit. Das hat er selbst sogar in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie eingeräumt. Darum soll dieser Beitrag auch mit Hegels eigenen Worten enden: „Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das, was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. Geht seine Theorie in der Tat darüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen, – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden lässt. Mit weniger Veränderung würde jene Redensart lauten: Hier ist die Rose, hier tanze. Was zwischen der Vernunft als selbstbewusstem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden lässt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist. Die Vernunft als Rose im Kreuz der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die innere Anforderung ergangen ist zu begreifen, und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten, so wie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen.“42

40

GW 9, S. 114 f. GW 14, S. 72. 42 GW14, S. 18.

41

Der Geist als „die wirkende Gattung in der Weltgeschichte“ Weimin Shi Hegels Phänomenologie des Geistes beginnt mit der Darstellung und Kritik der sinnlichen Gewissheit, die der Auffassung ist, dass das unmittelbare Sein die Wahrheit ist. Der gegenüber macht Hegel geltend, dass alles, was ist, vermittelt ist. Er fasst die Ganzheit dessen, was ist, als Geist auf. Der Geist selber muss also geworden sein. Ein Prozess der Entwicklung ist dem Geist innerlich. Die dem Geist innerliche Entwicklung charakterisiert Hegel als eine, der ein Prinzip zugrunde liegt. Die in Frage stehende Entwicklung ist also nicht äußerlich und zufällig, sondern vielmehr die Verwirklichung eines Prinzips. Hegel greift immer wieder auf das organische Leben der Pflanze zurück, um diese Idee zu verdeutlichen. Genauso wie das organische Wesen, so sagt Hegel, macht der Geist sich zu dem, was er an sich ist.1 Das Werden des Geistes ist die Verwirklichung dessen, was er an sich ist. Der Geist fasst alles in sich. Dennoch ist der Geist Hegel zufolge in der Weltgeschichte in seiner konkretesten Wirklichkeit.2 So unterscheidet Hegel den Geist im engeren Sinn von der Natur. Beim organischen Wesen ist die Entwicklung von seinem inneren Prinzip unmittelbar bestimmt und daher „ein ruhiges Hervorgehen,“ während der Geist sich in seiner Entwicklung entgegen und seine Entwicklung „ein harter unendlicher Kampf gegen sich selbst“ ist.3 Das ist der Fall, weil das Sich-Machen des Geistes anders als das des organischen Lebens ist. Ein Eichensame wächst gemäß dem ihm inhärenten biologischen Programm zu einem Eichenbaum, ohne dass der Same etwas von dem Programm wüsste. Die Entwicklung des Geistes ist aber durch seine Auffassung dessen vermittelt, was er selber ist. Denn eine Gestalt des Geistes nur besteht, wenn Menschen ihre Existenz auf eine bestimmte Art und Weise gestalten. Eine Gestalt des Geistes stellt dar, was den in ihr lebenden Menschen die Wahrheit ist, d. h., was ihnen das wahre Recht, das wahre Kunstschöne und das wahre Heilige usw. sind. Solche Ideen machen die inhaltlichen Bestimmungen des Geistes aus. Eine Gestalt des Geistes liegt vor, indem Menschen ihre Existenz gemäß solchen Ideen gestalten. 1

TWA XII 75. Hegels Werke werden nach Theorie-Werkausgabe (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986), abgekürzt als TWA, gefolgt von der Bandzahl in römischen Ziffern und der Seitenzahl bzw. Paragraphenzahl in arabischen Ziffern zitiert. 2 TWA XII 29. 3 TWA XII 75.

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In diesem Zusammenhang denkt Hegel nicht anders als Kant, der das vernünftige Wesen von anderem Wesen unterscheidet. Während jedes Wesen dem Gesetz gemäß wirkt, sagt Kant, vermag nur das vernünftige Wesen, gemäß seiner Vorstellung des Gesetzes zu handeln.4 Die Handlung aus Pflicht ist also nur für ein vernünftiges Wesen möglich, da die Handlung die Erkenntnis des Handelnden voraussetzt, was seine Pflicht ist. Das Naturgesetz wirkt auf Menschen, ohne dass es nötig ist, dass Menschen von dem Gesetz irgendwas wissen. Das moralische Gesetz hat jedoch auf Menschen gar keine Wirkung, wenn es von Menschen nicht als solches anerkannt wird. Der Geist ist sich in seiner Entwicklung entgegen, weil seine Entwicklung darin besteht, die Gestalt des Geistes zu negieren, die einmal als die wahre Gestalt des Geistes galt. Was dabei negiert, ist selber ein selbständiger Geist. Und aus der Negation entsteht ein anderer Geist. Wenn mit Bezug auf das Wachstum einer Pflanze auch von Negation gesprochen wird, wird jedoch bloß ein Moment des Aufbaus der ganzen Pflanze negiert. Aus der Negation des Samens eines Eichenbaums z. B. entsteht der Keim des Eichenbaums. Dasselbe generische Wesen des Eichenbaums bleibt in dem Entwicklungsprozess unverändert und gilt als die Grundlage der gesetzmäßigen Entwickelung des Eichenbaums, welche daher von Hegel als ruhiges Hervorgehen beschrieben wird. Bei der Entwicklung des Geistes ist es offensichtlich anders, weil es gerade darum geht, die inhaltlichen Bestimmungen des Geistes – das Recht, das Kunstschöne, das Heilige usw. – erneut zu schaffen. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Frage erneut zu beantworten, was es heißt, Geist zu sein. Die Geschichte der Philosophie, welche, wie Hegel sie auffasst, der Weltgeschichte parallel ist,5 ist daher eine Reihe „sich erneuernder Veränderungen des Ganzen.“ Hegel geht so weit zu sagen, dass die nacheinander auftretenden philosophischen Positionen nicht einmal durch ein gemeinsames Ziel miteinander verbunden sind.6 Den Unterschied von dem Geist und der Natur vor Augen behaltend, werde ich im Folgenden zunächst ins Blickfeld rücken, dass die Entwicklung des Geistes die Entstehung einer Gattung zur Folge hat, wobei der Entwicklungsprozess die schrittweise Erweiterung der Gattung ist, welche jeweils durch die Veränderung des Gattungsbegriffs zustande kommt. Hegels Idee der Freiheit als das Ziel der Entwicklung des Geistes wird dann in Zusammenhang mit der Erweiterung der Gattung des Geistes gebracht und derart rekonstruiert, dass eine neue Idee nur dann als die Idee einer neuen Gestalt des Geistes in der Gattung des Geistes anerkannt wird, wenn sie Menschen größere Freiheit gegenüber der vorhandenen Gestalt des Geistes ermöglicht. Am Schluss werde ich darauf hindeuten, dass Hegels Idee der Bewegung des Begriffs den Sachverhalt zum Ausdruck bringt, dass die Gattung des Geistes, die durch die

4

AA IV 412. Zitiert nach der Akademieausgabe. Hegel sagt: „Die bestimmte Gestalt einer Philosophie also ist gleichzeitig mit einer bestimmten Gestalt der Völker, unter welchen sie auftritt“ (TWA XVIII 73). 6 TWA XVIII 28. 5

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Entwicklung des Geistes entsteht, anders als eine Gattung des Naturwesens strukturiert ist. Es ist der Unterschied des Geistes von der Natur, der der Idee zugrunde liegt. I. Die Entwicklung des Geistes als die Entstehung einer Gattung Die Idee des Staats identifiziert Hegel mit dem Geist, der sich in der Weltgeschichte verwirklicht. Hegel charakterisiert ihn als „das Allgemeine und als die wirkende Gattung in der Weltgeschichte.“7 Das Sich-Machen des Geistes drückt sich demzufolge in der Entstehung der Gattung des Staats aus, wobei sich die Gattung dadurch entwickelt, dass neue und unvorhersehbare Formen der politischen Organisation auftreten und als Arten in die Gattung des Staats aufgenommen werden. Ebenfalls sind die besonderen Formen der Kunst – die symbolische, die klassische und die romantische – Arten der Gattung der Kunst, und die Idee der Kunst entwickelt sich durch diese besonderen Formen.8 Des Weiteren verhalten sich bestimmten Religionen zu der Religion überhaupt wie Arten zu der Gattung. Ihr Verhältnis muss jedoch so gedacht werden, dass sich das Allgemeine zum Besonderen entschließt. Es ist nämlich nicht der Fall, dass die besonderen erst empirisch aufgenommen werden und das Allgemeine dann daraus gebildet wird.9 Darauf ist noch zurückzukommen. Zunächst ist zu sehen, dass der Entwicklungsprozess, der dem Geist eigen ist, der Entstehungsprozess einer Gattung ist. Hegel betont immer wieder, dass eine solche Gattung anders als die Gattung ist, die durch das Abstraktionsverfahren zustande kommt. Zum einen darf man von Arten, die einer Gattung im üblichen Sinn gehören, nicht sagen, dass sie eine Entwicklungsfolge darstellen. Der Afrikanische Elefant und der Asiatische Elefant sind Arten von Elefanten. Es macht keinen Sinn zu sagen, dass eine Art das Wesen von Elefanten mehr oder besser als die andere Art instanziiert. In der Hegelschen Gattung bilden die Arten jedoch einen Stufengang, so dass jede Art eine relativ wahre oder unwahre Bestimmtheit der Idee der Gattung darstellt.10 Zum anderen ist der Stufengang von Arten für die Hegelschen Gattung wesentlich. Es ist nicht der Fall, dass die Arten gewisse Merkmale gemeinsam aufweisen, welche das Gattungswesen ist, und dabei auch einen Stufengang bilden, sondern vielmehr der Fall, dass sie eine Gattung bilden, weil sie in einen Stufengang eintreten, oder mit Hegels Worten, weil sie dem Prozess hineingehören, in dem sich das Allgemeine der Gattung zum Besonderen entschließt. Dies ist näher zu erklären. 7

TWA VII §259 & Zusatz. TWA XIII 389. 9 TWA XVI 251. 10 Lorenz B. Puntel behauptet, dass Hegel die Idee von „endlichen Wahrheiten“ ablehnt. Siehe Lorenz B. Puntel, „Hegels Wahrheitskonzeption. Kritische Rekonstruktion und eine ,analytische‘ Alternative.“ Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 3 (2005), 219. Demzufolge ließe Hegel graduelle Unterschiede der Wahrheit nicht zu. Es gäbe für Hegel nur Wahrheiten und Unwahrheiten. In Wirklichkeit spricht Hegel doch von einer besonderen Kunstform als „der relativ unwahren oder wahren Bestimmtheit als welche sich die Idee für sich ist“ (TWA XIII 390). 8

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Hegel spricht von Gattungen von Staat, Kunst, Religion usw. Diese sind Institutionen, die Menschen bilden, um ihre Existenz zu gestalten. Hegel ist der Auffassung, dass Menschen, die sich einer solchen Institution verschreiben, betrachten sie oft nicht als das Erzeugnis der menschlichen Kreativität, sondern als etwas Gefundenes. Sie stehen sozusagen auf dem Standpunkt des Bewusstseins. Die Institution, in der Menschen leben, stellt ihnen des Weiteren dar, was diese Institution ist. Für sie erschöpft die spezifische Form der Institution den Begriff jener Institution. In der Zeit einer besonderen Form der Kunst z. B. kennt man nur diese Form der Kunst und daher erkennt auch nur die der besonderen Form entsprechenden Werke als Kunstwerke an. In dem Fall, dass man eine Malerei schafft, deren Form von der besonderen Form der Kunst abweicht, werden die Menschen in der Zeit jener besonderen Kunstform vielleicht zugeben, dass sie etwas Gemaltes ist, dennoch die Malerei nicht unter dem Begriff der Kunst unterbringen. Die Ähnlichkeit dieser von der besonderen Kunstform abweichenden Malerei mit den anderen Malereien, die der Form konform sind, reicht bei Weitem nicht aus, um sie als Kunstwerk anerkannt werden zu lassen. Retrospektiv sieht man, dass es mehr als eine Form der Kunst gibt, so dass es in einem Sinn ein Fehler war, dass ein Werk bloß deswegen nicht als Kunstwerk anerkannt wurde, dass es der besonderen Form der Kunst nicht entsprach, die in der Zeit herrschte, zu der das Werk geschaffen wurde. Retrospektiv liegt es auch nahe, den Fehler einer solchen Zeit derart zu deuten, dass Menschen zu der Zeit das Wesen der Kunst noch nicht richtig erkannten, was dazu führt, dass das Wesen der Kunst irrtümlicherweise mit einer besonderen Form der Kunst gleichgesetzt wurde. Diese Deutung legt ihrerseits nahe, die Entwicklung der Kunst als einen Prozess der Entdeckung des Wesens der Kunst zu verstehen, von welchem angenommen werden muss, dass es sogar zu der Zeit schon besteht, zu der noch kein Mensch es je gekannt hat. Kurz gefasst handelt es sich um den metaphysischen Realismus des Wesens der Kunst. Unter anderem zeichnet sich Hegels Denken dadurch aus, dass Hegel Gegenstandsbereiche, die zuvor nicht philosophisch behandelt wurden, zur Philosophie gebracht hat. Die Kunst ist ein solcher Gegenstandsbereich. In seiner Philosophie der Kunst reflektiert Hegel nicht über das Naturschöne, sondern das Kunstschöne. Auch wenn es noch prima facie plausibel ist, das Naturschöne durch die unveränderliche Struktur der menschlichen Erkenntnisvermögen zu erklären, unterliegt das Kunstschöne den Wechselfällen der Geschichte. Die besonderen Formen der Kunst gehören der Geschichte wesentlich, so dass die Sich-Besonderung der Idee des Kunstschönen Hegel zufolge einen Kreis „wesentlich verschiedener Weltanschauungen“ ergibt.11 Die besonderen Formen der Kunst, die Hegel als Weltanschauungen charakterisiert, sind kulturelle Gebilde, die nur in der Geschichte gebildet werden können. Was die Kunst ist, lässt sich ausschließlich der geschichtlichen Entwicklung ablesen.

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TWA XIV 246.

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II. Die Erweiterung einer Gattung durch die Veränderung des Gattungsbegriffs Fasst man diesen Sachverhalt ins Auge, eröffnet sich eine andere Perspektive, aus der die Natur der Gattung der Kunst zu betrachten ist. Die Frage drängt sich auf, wie man dazu kommt, eine neue Form der Kunst zu erkennen. Wenn die besondere Form der Kunst, die zu einer Zeit herrscht, das Kriterium liefert, gemäß dem zu entscheiden ist, was ein Kunstwerk ist, wie ist es dann möglich, dass ein Werk, welches der Form nicht entspricht, doch als Kunstwerk anerkannt wird? Wenn so was geschieht, ist die Veränderung des Kriteriums dessen, was die Kunst ist, offensichtlich involviert. Denn was zuvor nicht als Kunstwerk anerkannt wird, wird nun als solches anerkannt. Was dabei auch involviert ist, ist die Erweiterung der Gattung. Dadurch, dass ein Werk, das der zuvor herrschenden Form der Kunst nicht entspricht, doch als Kunstwerk gelten gelassen wird, ist eine neue Form der Kunst anerkannt. Da eine Form der Kunst Hegel zufolge eine Art in der Gattung der Kunst ist, ist eine neue Form der Kunst eine neue Art in der Gattung der Kunst. Es ist noch einmal zu betonen, dass die Erweiterung der Gattung der Kunst nicht subjektiv zu verstehen ist, als ob es sich bloß darum geht, dass eine zuvor unbekannte Art in der Gattung nun zur Kenntnis genommen wird. Die Erweiterung der Gattung ist vielmehr objektiv und kommt mit der Veränderung des Gattungsbegriffs einher, da nur der veränderte Gattungsbegriff es ermöglicht, die neue Art in die Gattung aufzunehmen. Es handelt sich um die Erweiterung der Gattung, da die Arten, die zuvor als der Gattung angehörig betrachtet wurde, nach der Veränderung des Gattungsbegriffs doch nicht von der Gattung ausgeschlossen, sondern nun nach dem veränderten Gattungsbegriff als unreifere Arten der Gattung angesehen werden. Hegels Bestimmung des Gattung-Arten-Verhältnisses, dass sich das Allgemeine zum Besonderen entschließt, ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Denn die Veränderung des Gattungsbegriffs kommt nur dadurch zustande, dass eine neue Art in die Gattung aufgenommen wird. Der jeweilige Gattungsbegriff definiert selber eine Art in der Gattung. Mit Bezug auf diesen Sachverhalt ist Hegels Idee der Bewegung des Begriffs wörtlich zu deuten. Der Begriff bewegt sich, indem er sich verändert, ohne dabei aufzuhören, derselbe Begriff zu sein. Ein Begriff kann sich verändern, weil er der Begriff einer menschlichen Institution ist, welche sich verändern kann. Terry Pinkard schlägt vor, den Hegelschen Terminus „Begriff“ nicht als „concept“ (Begriff), sondern als „conception“ (Auffassung) zu übersetzen.12 Wenn Menschen miteinander über einen Gegenstand reden, müssen sie gemeinsam zustimmen, dass dem Gegenstand gewisse Eigenschaften zukommen, damit sie sich verständigen können, worüber sie sprechen. Solche Eigenschaften machen den Begriff (concept) jenes Gegenstands aus. Darüber hinaus mag es sein, dass man unterschiedliche Auffassungen von dem Gegenstand vertritt, so dass ein Mensch den Gegenstand für F, 12 Terry Pinkard, Hegel’s Dialectic. The Explanation of Possibility (Philadelphia: Temple University Press, 1988), 13.

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aber ein anderer ihn für nicht-F hält. Dem Vorschlag gemäß deutet Pinkard Hegels Idee der Bewegung des Begriffs als eine Metapher für das Denken eines Gegenstands, welches sich durch unterschiedliche Auffassungen dieses Gegenstands bewegt. Den Unterschied zwischen Begriff und Auffassung macht auch Ronald Dworkin. Er führt den Unterschied im Zusammenhang seines Versuchs ein, zu erklären, wie genuine Meinungsverschiedenheiten bezüglich einer sozialen Praxis möglich sind, die unterschiedlich darauf hin interpretiert werden kann, welchem Zweck die Praxis dient und welche Handlungen sie benötigt.13 Indem unterschiedliche Interpretationen einer Praxis möglich sind, meint man jeweils anders, wenn man von der Praxis spricht. Man scheint bloß aneinander vorbeigeredet zu haben. Eine genuine Meinungsverschiedenheit ist jedoch zu erkennen, wenn man Begriff von Auffassung unterscheidet. Was man bezüglich der Praxis generell zustimmt, fungiert als die Grundlage der Diskussion und macht den Begriff dieser Praxis aus. Die unterschiedlichen Interpretationen der Praxis gelten als Auffassungen der Praxis.14 Dennoch macht Dworkin klar, dass die Unterscheidung bloß dazu dient, die Einigkeit in einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit hervorzuheben, damit sie als die Grundlage für den weiteren Meinungsaustausch über die Praxis in der Gemeinschaft fungiert. Die Einigkeit könnte nachher brechen und müsste erneut gebildet werden. Von einem inhaltlich stabilen und unveränderlichen Begriff ist nicht die Rede. Dworkin betrachtet den Fall einer imaginären Institution „Höflichkeit“ und weist darauf hin, dass diese Institution von einer Zeit zu einer anderen und von einer Gemeinschaft zu einer anderen ausgebreitet und dabei verändert werden kann. Wenn man erklären wolle, inwiefern all die verschiedenen Formen der Höflichkeit in verschiedenen Zeiten und Gemeinschaften trotzdem Formen derselben Institution seien, so Dworkin, könne man nur eine historische Darlegung geben. Man könne nur auf hinweisen, dass all die Formen historisch ursprünglich von einer Institution der Höflichkeit stammten. Wenn Hegel von Gattungen des Geistes wie Staat, Religion und Kunst spricht, hat er menschliche Institutionen vor Augen, die sich in der Geschichte entwickeln. Eine solche Institution entwickelt sich, indem ihr ein neuer Sinn gegeben wird, der angibt, was diese Institution in Wahrheit ist – wozu sie dient, was man ihr gemäß tun soll, usw. Hegel ist der Ansicht, dass die geschichtliche Entwicklung für solche Institutionen wesentlich ist. So unterscheidet er die Individualität von der Besonderheit als zwei Momente der Idee des Staats und macht geltend, dass die Besonderheit der Geschichte angehört. Ein wirklicher Staat muss ein individueller Staat sein und darüber hinaus noch ein besonderer Staat.15 In der Philosophie der Kunst bietet Hegel zwei Einteilungen der Kunst. Neben den besonderen Formen der Kunst besteht auch das System der einzelnen Künste, welches in sich Architektur, Skulptur, Malerei, Musik 13

Ronald Dworkin, Law’s Empire (Cambridge, Mass.: The Belknap Press, 1986), 47. Dworkin, op. cit., 71. 15 TWA VII §259, Zusatz.

14

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und Poesie fasst. Die besonderen Formen der Kunst treten nacheinander in der Geschichte auf, während das Verhältnis der einzelnen Künste zueinander nicht-zeitlich ist. Dass etwas eine Malerei ist, qualifiziert es daher noch nicht als ein Kunstwerk. Sie muss noch einer besonderen Kunstform entsprechen. III. Wahrheit und die unzufällige Erweiterung der Gattung des Geistes Anders als die von Dworkin auch geteilte übliche Einstellung, dass die geschichtliche Entwicklung menschlicher Institutionen ausschließlich historisch betrachtet werden kann, vertritt Hegel die Auffassung, dass dies bei einigen der Menschheit zugrunde liegenden Institutionen nicht der Fall ist. Fragt man nun, warum die geschichtliche Entwicklung menschlicher Institutionen generell nur historisch betrachtet werden kann, sind mehr als eine Dimension der Zufälligkeit aufzuzählen. Die erste Dimension besteht darin, dass es der menschlichen Kreativität zu verdanken ist, dass neue Interpretationen einer Institution aufgetreten sind. Es ist daher nicht vorauszusehen, wie eine Institution neu interpretiert wird. Des Weiteren muss eine Interpretation als die Interpretation einer Institution akzeptiert werden, um überhaupt als eine solche zu gelten. Wer eine Interpretation einer Institution hervorbringt, beansprucht, dass die Interpretation insofern die wahre ist, als sie den Sinn der Institution besser als andere Interpretationen fasst. Da der Anspruch die Negation des gängigen Sinns der in Frage stehenden Institution impliziert, lässt sich die Entscheidung, ob man einer Interpretation folgt, nicht durch den Rekurs auf den gängigen Sinn treffen. Denn es geht gerade darum, der Institution einen neuen Sinn zu geben. Es scheint der Fall zu sein, dass der Entscheidung, ob eine Interpretation einer Institution als die wahre zu akzeptieren ist, jegliche robuste Grundlage der Erkenntnis fehlt, so dass es rein historischer Zufall ist, dass eine Interpretation als die wahre gelten gelassen wird. Hegel sieht sich mit dieser üblichen Sichtweise konfrontiert. In der Phänomenologie des Geistes spricht Hegel davon, dass die Wahrheit aus der Perspektive des Standpunkts des Bewusstseins als äußerlich und zufällig gefunden betrachtet wird. Demgegenüber bietet Hegel den Standpunkt der Wissenschaft, auf dem die Wahrheit als nicht zufällig gefunden zu betrachtet ist. Hegel spricht sogar von der Notwendigkeit der Entstehung der neuen Wahrheit und beschreibt sie als es, was gleichsam hinter dem Rücken des Bewusstseins vorgeht.16 Was hinter dem Rücken derjenigen, die auf dem Standpunkt des Bewusstseins stehen, ist jedoch nicht die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Selbstentfaltung einer nicht-empirischen Substanz, sondern die Verfahrensweise des menschlichen Geistes, etwas als die wahre Interpretation einer Institution gelten zu lassen. Der Schlüssel zu Hegels Lösung ist die Idee der Wahrheit. Er identifiziert die Wahrheit mit der Freiheit: „Die Wahrheit ist, sich im Gegenständlichen nicht verhalten als zu einem Fremden. Die Freiheit drückt dasselbe aus, was die Wahrheit ist, mit 16

TWA III 80.

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einer Bestimmung der Negation aus.“17 Demgemäß wird eine Interpretation einer menschlichen Institution als die wahre Interpretation gegenüber der gängigen akzeptiert, wenn sie der Existenz des menschlichen Geistes größere Freiheit ermöglicht. Das gilt selbstverständlich nicht jeder menschlichen Institution. Viele menschlichen Institutionen sind für die menschliche Existenz nur marginal und unwesentlich. Ihre Entwicklung ist dem Zufall überlassen. Es gibt jedoch Institutionen, die dem menschlichen Geiste wesentlich sind, weil sie die Existenz des menschlichen Geistes als solche organisieren, z. B. Staat, oder sie zum Ausdruck bringen, z. B. Kunst, Religion und Philosophie. Die Behauptung ist nicht unplausibel, dass es kein reiner Zufall ist, dass eine Interpretation einer solchen Institution von Menschen kollektiv als die wahre aufgenommen wird.

IV. Das freie Schaffen der Menschen Warum ist es die Freiheit, an der zu messen ist, welche Interpretation einer solchen Institution wahr ist? Das muss damit zusammenhängen, dass solche Institutionen ausschließlich Produkte des menschlichen Geistes, also Produkte der Freiheit sind. Menschen erbauen sich eine Welt. Das unterscheidet Menschen als Geist von anderen Wesen in der Natur, welche existieren, wie sie von der Natur bestimmt sind. Menschen sind jedoch dazu bestimmt, frei zu sein, und zwar in dem Sinn, dass sie selber entscheiden und entscheiden müssen, wie sie existieren. Die Welt, die Menschen bewohnen, ist durchaus geistig. Der Gehalt des menschlichen Bewusstseins ist durchs Denken begründet, sagt Hegel, aber erscheint im Bewusstsein in Formen von Gefühl, Anschauung, Vorstellung usw.18 Auch das Gefühl und die Anschauung stellen keinen Zugang zu der Welt dar, der unabhängig vom Denken ist. Was und wie Menschen fühlen und anschauen, hängt nämlich davon ab, wie sie denken. Auf nichts also, was außerhalb des Denkens liegt, kann sich Menschen berufen, um sich zeigen zu lassen, was die Welt ist. Es folgt, dass Menschen nicht einer Welt gegenüberstehen, die ihr fremd ist, sondern eine Welt bewohnen, die sie selber unabhängig von allem erschaffen, was nicht ihrem Denken entspringt. Diese unabhängige Schaffung ist die Freiheit der Menschen. Genauso wie Hegel die Wahrheit mit der Freiheit identifiziert, betrachtet er das Denken und den Willen nicht als zwei Vermögen, sondern den Willen als eine besondere Weise des Denkens, „das Denken als sich übersetzend ins Dasein.“ Er macht geltend: „Die Freiheit ist nämlich ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbestimmung der Körper ist.“19 Dennoch ist die Freiheit dem Willen wesentlich in einem anderen Sinn als dem, in dem die Schwere den Körpern wesentlich ist. Dass die Schwere den Körpern wesentlich ist, impliziert, dass sich alle Körper auf einer bestimmten Art und Weise verhalten, z. B., dass sie auf 17

TWA XVII 203. TWA VIII §2. 19 TWA VII §7 & Zusatz. 18

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der Erde nach unten fallen, wenn sie nicht gestützt sind. Dass die Freiheit dem Willen des Menschen wesentlich ist, impliziert gerade nicht, dass alle Menschen dasselbe wollen. Vielmehr folgt daraus das Gegenteil, nämlich, dass Menschen jeweils anders wollen können und in Wirklichkeit auch gewollt haben. Einige Menschen glauben bekannterweise, dass Menschen Gott gehorchen sollen. Einige anderen glauben, dass Menschen dem Weg des Himmels folgen sollen. Als Menschen sind sie alle frei. Es ist nicht der Fall, dass Menschen etwas glauben oder denken müssen, um in diesem Sinn frei zu sein. Es gibt also keine transzendentalen Bedingungen der Freiheit, da kein unleugbarer Sachverhalt der Freiheit vorhanden ist, der durch notwendige Bedingungen zu ermöglichen wäre. Robert Pippin, der generell im Zusammenhang mit der transzendentalen Lesart von Hegels Philosophie steht, hat sich gelegentlich doch gegen die Lesart ausgesprochen. Indem Pippin Hegel transzendental liest, macht er geltend, dass es Hegel um die Darstellung geht, wie irgendein Subjekt für sich die Welt deutet.20 Hegel ziele also darauf, „irgendeiner möglichen Subjektivität“ zu rekonstruieren.21 Kurz später scheint Pippin zu einer anderen Interpretation übergangen zu haben. Pippin weist zunächst darauf hin, dass Kant sich mit der Frage beschäftigt, was irgendein Subjekt denken muss, um sich einen Gegenstand vorzustellen. Er behauptet jedoch, dass Hegel bestreitet, dass von „irgendeinem Subjekt“ die Rede sein kann.22 Es sei Hegels Auffassung, so Pippin, dass es kein transzendentales Argument gebe, welches die für irgendwelche Erfahrung notwendigen Bedingungen aufschließe. Statt des transzendentalen Arguments müsse man sich auf eine narrative Darstellung berufen, um zu erklären, warum eine Praxis überhaupt als vertrauenswert gilt.23 Nach dieser Interpretation Pippins lehnt Hegel die Annahme Kants ab, dass menschlichen Subjekten eine Struktur gemeinsam zukommt, welche die Erkenntnis und Moralität der Menschen fundiert. Was dabei zurückgewiesen ist, ist die Idee der Subjektivität als einer nicht-zeitlichen Struktur des menschlichen Denkens und Wollens. Hingegen schreibt Pippin Hegel die Auffassung zu, dass Menschen sind, was sie für sich geworden sind.24 Für Hegel, Pippin behauptet, sei die menschliche Subjektivität kollektiv und geschichtlich zu denken und als durchaus in der Zeit sich-gestaltend zu betrachten.25 Die Einsicht, dass Menschen ihre Existenz selber in der Geschichte gestalten müssen und daher keine nicht-zeitliche Struktur der menschlichen Subjektivität vorhan20

Robert Pippin, „Hegel and Category Theory.“ Review of Metaphysics, 43 (1990): 839. Robert Pippin, Hegel’s Idealism: The Satisfaction of Self-Consciousness (Cambridge: Cambridge University Press, 1989), 39. 22 Robert Pippin, Modernism as a Philosophical Problem. On the Dissatisfactions of European High Culture (Oxford: Blackwell, 1991), 68. 23 Pippin, Modernism as a Philosophical Problem, 70. Siehe auch Robert Pippin, „Hegel’s Original Insight.“ International Philosophical Quarterly, 33, 3 (1993): 288. 24 Pippin, „Hegel’s Original Insight“, 288. 25 Pippin, Modernism as a Philosophical Problem, 68. 21

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den ist, scheint zur Folge haben, dass alles menschlichen Geschehen bloß dem Zufall anheimfallen kann. So behauptet Pippin, dass Hegel die Erkenntnistheorie eliminiert. Die Normativität der Praxen der Erkenntnis und moralischen Bewertung, die einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit gilt, sei für Hegel wie die offensichtlich konventionelle Normativität des Beerdigungsrituals zeitlich gebunden.26 Pippin ist gewiss nicht der Ansicht, dass Hegel die geschichtliche Entwickelung des menschlichen Geistes als zufällig betrachtet. Es scheint jedoch nicht klar zu sein, wie er erklärt, dass Hegel die Entwicklung des Geistes trotz der Historisierung der Idee der Subjektivität für nicht zufällig hält.27 Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage ist die Einsicht, dass die Entwicklung des Geistes, die Hegel vor Augen hat, mit der Erweiterung der Gattungen des Geistes einhergeht, d. h. Gattungen der Institutionen des menschlichen Geistes wie Staat, Religion, Kunst usw. Eine Gattung des Geistes wird erweitert, indem ein neu aufgetretenes Gebilde als eine neue Art in die Gattung aufgenommen wird, weil es eine neue Interpretation der in Frage stehenden Institution verkörpert und der Institution einen neuen Sinn gibt, der zwar anders als der gängige Sinn ist, jedoch von Menschen als der wahre Sinn akzeptiert wird. Anders als übliche Gattungen der menschlichen Institutionen, deren Entwicklung unter anderem aufgrund dessen zufällig ist, dass es dem Zufall anheimfällt, eine Interpretation der Institution als wahr gelten zu lassen, fungiert Hegel zufolge die Freiheit als der substanzielle Inhalt der Wahrheit, welche die Entwicklung der Gattungen der Institutionen leitet, welche der Menschheit wesentlich ist. Nun scheint es der Fall zu sein, dass Idee der Freiheit dem Ziel nicht gewachsen ist, für welches sie eingeführt ist. Denn wie kann die Freiheit die Entwicklung solcher Institutionen leiten, wenn die Freiheit der Menschen doch impliziert, dass Menschen ihre Existenz jeweils anders gestalten können? Welche frei geschaffene Gestalt der menschlichen Existenz ist die wahre? In der Phänomenologie des Geistes wird diese Frage im Hinblick auf das Kriterium gestellt, durch welches die Entscheidung unter Wahrheitsansprüchen der Gestalten des Bewusstseins zu treffen ist. Es ist die Natur einer Gestalt des Bewusstseins, dass sie in sich ihre Wahrheit setzt und beansprucht, dass sie die Wahrheit weiß. Es scheint also unmöglich zu sein, dass das Wissen einer Gestalt des Bewusstseins ihrem Gegenstand, nämlich der Wahrheit, nicht entspricht.

26

Pippin, „Hegel’s Original Insight“, 287. Mit Bezug auf Phänomenologie des Geistes spricht Pippin von dem Zusammenbruch von normativen Prinzipien der Erkenntnis. Jedoch betont er, dass der Zusammenbruch keine alternativen Begriffsschemata oder Welten, sondern die Erfahrung von Unvollständigkeit involviert. Siehe Robert Pippin, „Finite and Absolute Idealism: The Transcendental and the Metaphysical Hegel.“ In S. Gardner & M. Grist (herausg.), The Transcendental Turn (Oxford: Oxford University Press, 2015), 171. Die Erfahrung von Unvollständigkeit scheint aber vorauszusetzen, dass etwas Vollständiges schon vorhanden, aber nicht erst durch die Erfahrung der Unvollständigkeit entstanden ist. 27

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Die von Hegel angebotene Lösung dieser Frage lautet: Allein gerade darin, dass es überhaupt von einem Gegenstande weiß, ist schon der Unterschied vorhanden, dass ihm etwas das An-sich, ein anderes Moment aber das Wissen, oder das Sein des Gegenstandes für das Bewusstsein ist.28

Der Unterschied, den Hegel vor Augen hat, kann also nicht die inhaltliche Differenz zwischen ontischen Bestimmungen von dem Gegenstand und dem Wissen sein. Der Unterschied ist vielmehr ontologisch und betrifft den Sachverhalt, dass die Gestalt des Bewusstseins verkennt, dass die Wahrheit, die sie zum Gegenstand hat, von ihr selber hervorgebracht ist. Hegels entscheidende Einsicht ist, dass die Erkenntnis dieses Sachverhalts selber nur dadurch zu erringen ist, dass das Bewusstsein die dieser Erkenntnis entsprechende Gestalt annimmt und den entsprechenden Gegenstand hat. Die Überlegung lässt sich konkreter ausdrücken. Menschen sind frei, so dass sie ihre Existenz selber gestalten können und auch müssen. Die Gestalt, die sie ihrer Existenz geben, widerspiegelt jedoch oft nicht dem Wesen des menschlichen Geistes, nämlich der Freiheit, da eine Gestalt der Existenz verhindern mag, dass Menschen ihre Existenz frei gestalten. In diesem Sinn existieren die Menschen in jener Gestalt der Existenz nicht richtig als Menschen, welche jedoch durchaus das Produkt ihres freien Schaffens ist. Hegel ist der Ansicht, dass die Freiheit graduellen Unterschied zulässt, so dass eine Gestalt der menschlichen Existenz die Freiheit besser als eine andere zum Ausdruck bringen kann. Die Weltgeschichte, so Hegel, stellt die Entwicklung der Freiheit dar. Es handelt sich dabei nicht nur um die Erweiterung des Umfangs der Menschen, die frei sind, sondern auch um die Qualität der Freiheit. Hegel macht geltend, dass die Orientalen nur wissen, dass ein Mensch frei ist. Daher ist seine Freiheit nur Willkür.29 Für Hegels Idee der Freiheit als der Leitfaden der Entwicklung der Gattungen des Geistes ist es wesentlich, dass Menschen ihre Existenz selber nicht nur gestalten können, sondern es der Menschheit angehört, selber ihre Existenz zu gestalten. Die These, dass die Freiheit der Leitfaden der Entwicklung der Weltgeschichte ist, bedeutet nicht, dass die Staaten, die in der Geschichte später auftreten, die Freiheit notwendigerweise besser als die früheren Staaten verwirklichen. Diese auf eine metaphysische Gesetzmäßigkeit hinweisende Deutung ist empirisch leicht widerlegbar. Auch Hegel kennt zu gut, dass die Geschichte zahlreiche Rückgänge aufweisen, um sich die Deutung anzueignen.30 Die These bedeutet vielmehr, dass eine spätere Interpretation der Institution des politischen Zusammenlebens nur dann akzeptiert und eine neue Art von Staat entsprechend in die Gattung des Staats aufgenommen wird, wenn die Interpretation gegenüber der gängigen aufgrund dessen als die wahre gilt, dass sie dem Staat eine neue Form gibt, welche der menschlichen Existenz größere Freiheit 28

TWA III 78. TWA XII 31. 30 TWA XII 76 – 77. 29

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ermöglicht und daher dem Menschen als dem frei schaffenden Wesen besser entspricht. Die Entwicklung des Geistes, die hier als die Erweiterung der Gattungen des Geistes gedeutet wird, ist also in dem Sinn nicht zufällig, dass nur die Interpretation einer Institution, die Menschen größere Freiheit im Vergleich zu dem gängigen Verständnis jener Institution ermöglicht, als die wahre Interpretation angenommen wird. Es ist nach wie vor als zufällig zu betrachten, ob neue Interpretationen überhaupt vorkommen, wann und wo sie sich ergeben, und wie sie eine Institution interpretieren. Hegel müsste auch dieser Ansicht zustimmen, da er zugeben müsste, dass der Sachverhalt, dass die Erde bis zu der Zeit des germanischen Reichs bestanden hat, nicht notwendig ist. Wäre die Erde schon vor der Zeit des germanischen Reichs zerstört, würde der Geist seine Entwicklung nicht vollenden können. Unter anderem ist die Entwicklung des Geistes in diesem Sinn durchaus zufällig. V. Expressivismus und die Bewegung des Begriffs Hegel spricht davon, dass der Geist sich dazu macht, was er an sich ist. Am Anfang dieses Aufsatzes wurde darauf aufmerksam gemacht, dass man sich von dieser auf das organische Leben hinweisenden Formulierung nicht dazu verleiten lassen darf, den Unterschied zwischen der Entwicklung des Geistes und der des Lebens eines einzelnen Organismus zu übersehen. Während die Entwicklung des Lebens eines einzelnen Organismus die Hervorbringung der Organe dieses Organismus ist, entsteht durch die Entwicklung des Geistes eine Gattung des Geistes. Statt der Organe eines Individuums geht es dabei um die Arten, die eine Gattung ausmachen. Dennoch spricht Hegel von der Entwicklung des Geistes als der Verwirklichung dessen, was der Geist an sich ist. Auf einer Seite meint Hegel, dass die Entwicklung des Geistes doch nicht richtungslos ist und das Ansich des Geistes zum Ziel hat. Auf der anderen Seite verhält sich das Ansich des Geistes zu seiner Verwirklichung sehr anders als in dem Fall des organischen Lebens. Im Fall des Geistes gibt es nämlich nichts, welches dem vorbestimmten biologischen Programm eines organischen Lebens entspricht und die Entwicklung Schritt für Schritt leitet. Das Ansich des Geistes bestimmt weder, welche Gestalten des Geistes überhaupt in dem Entwicklungsprozess des Geistes vorkommen. Noch bedeutet die Verwirklichung des Ansich des Geistes das Zustandekommen einer durch das Ansich vorbestimmten Endgestalt des Geistes. Vielmehr bekommt das Ansich des Geistes lediglich durch seine Verwirklichung eine bestimmte Gestalt. Diese Idee der Selbstverwirklichung, die einen zwar subtilen, aber gravierenden Unterschied zu dem Aristotelischen Hylemorphismus aufweist, nennt Charles Taylor Expressivismus (expressivism).31 Demgemäß gilt es der Menschheit, dass Menschen sich ausdrücken, d. h. sich die Gestalt bestimmen, wie sie als Menschen existieren. 31

Charles Taylor, Hegel (Cambridge: Cambridge University Press, 1975), 15 – 16.

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Dass Menschen sich ausdrücken und sich verwirklichen, trägt wesentlich dazu bei, das zu definieren, was zu verwirklichen ist.32 Die Menschheit bekommt einen Inhalt, nur wenn sie verwirklicht wird, so dass von einer ewigen und unveränderten Menschheit nicht die Rede sein darf.33 Der Sachverhalt, dass der menschliche Geist sich seine Gestalt gibt, ist es, auf welchen Hegels Idee der Bewegung des Begriffs hinweist. Es ist generell der Fall, dass sich der Sinn einer menschlichen Institution als eines Produkts des Geistes verändern kann, ohne notwendigerweise zur Konsequenz zu haben, dass sie zu einer anderen Institution wird. Auch ist es nicht nötig, dass unter allen Veränderungen des Sinnes einer Institution etwas unverändert bleibt, damit die Veränderungen nicht zu einer anderen Institution führen. Es ist die geschichtliche Kontinuität unter verschiedenen Sinnen, die sie alle zu Sinnen ein und derselben Institution macht. Die Beweglichkeit von Begriffen wird übersehen, wenn man von vornherein annimmt, dass ein Begriff das unveränderliche Wesen von Entitäten fassen soll, die unter dem Begriff fallen. Dabei verpflichtet man sich der substanziellen Aussage, dass Entitäten gemeinsam ein unveränderliches Wesen zukommen muss, damit sie unter einem Begriff fallen. Seit der Zeit von Sokrates hatten sich Philosophen dieser Auffassung immer mit Stolz angeschlossen, um sich von Sophisten zu unterscheiden, deren Erzsünde es ist, einem Begriff verschiedene Bedeutungen beizumessen. Hingegen sei es die Aufgabe von Philosophen, die Bedeutung eines Begriffs festzulegen, damit der Begriff richtig, d. h. eindeutig, angewendet werden kann. Für viele Philosophen mag es kaum vorstellbar sein, dass ein Begriff sich auf eine Gattung von Entitäten bezieht, die der Gattung nicht in demselben Sinn gehören. Das ist jedoch der Fall, indem sich der Sinn einer menschlichen Institution verändert. Denn die Veränderung des Sinnes einer Institution hat zur Folge, dass etwas gemäß einem Sinn als eine Instanz der Institution gilt, während etwas anderes gemäß einem anderen Sinn auch als eine solche Institution gilt. Um Produkte des menschlichen Geistes zu beschreiben, sind Begriffe dieser Art nötig. Dagegen erfasst ein Begriff, dessen Bedeutung unveränderlich ist, einen Sachverhalt, der nicht wie menschliche Institutionen durch Interpretationen verändert werden kann.

32 Charles Taylor, Sources of the Self (Cambridge, MA.: Harvard University Press, 1989), 374 – 5. 33 Robert Stern macht darauf aufmerksam, dass die Gattungsnatur der Menschen für Hegel eine normative Funktion hat, obwohl es sich nicht um die menschliche Gattungsnatur im biologischen Sinn handelt. Es sei die Struktur des menschlichen Willens, die Hegel zufolge bestimme, was für Menschen gut oder schlecht sei. Siehe Robert Stern, „Feedom, Norms, and Nature in Hegel: Self-Legislation or Self-Realization?” In R. Zuckert & J. Kreines (herausg.), Hegel on Philosophy in History (Cambridge: Cambridge University Press, 2017), 102. Dabei schreibt Stern Hegel die Idee einer statischen Struktur des Willens zu. Nach dem Modell des Expressivismus hat die Menschheit jedoch keine solche unveränderliche Struktur. Was Menschen wesentlich ist, ist lediglich der Sachverhalt, dass sie selber bestimmen müssen, wie sie als Menschen existieren.

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Wer die Beweglichkeit des Begriffs leugnet, verkennt, dass der Sinn einer menschlichen Institution durch Interpretationen veränderbar ist, weil Menschen ihre Existenz frei gestalten können. Wer das Augenmerk ausschließlich auf Begriffe richtet, welche die Gesetzmäßigkeit der Natur oder Mathematik erfassen, und infolgedessen dazu verleitet wird, solche Begriffe als das Modell dessen gelten zu lassen, wie ein Begriff sein muss, verkennt den wesentlichen Unterschied zwischen der Natur und dem Geist. Dabei droht die Gefahr, dass Menschen anderen Wesen in der Natur gleichgesetzt werden. Hegel macht geltend, dass die Natur ist, wie sie ist, während das Sein des Geistes seine Tat ist.34 Was der Staat als ein Moment der Existenz des Geistes ist, ist nur durch die Tat des Geistes zu bestimmen. Es ist eine große Leistung Hegels, zu der Einsicht zu gelangen, dass sich der Begriff des Staats auf eine Gattung bezieht, unter der mehrere Arten fallen, welche einen Stufengang der Formen des Staats ausmachen. Weder ist es zufällig, dass es mehr als eine Art des Staats gibt. Denn der Sinn des Staats ist durch Interpretationen veränderbar. Noch fällt es dem Zufall anheim, dass die Formen des Staats einen Stufengang bilden. Denn lediglich die Interpretation, die dem Staat einen Sinn gibt, der Menschen größere Freiheit als in der gängigen Interpretation ermöglicht, wird als die wahre Interpretation akzeptiert, die auf eine neue Art des Staats hinweist. Dasselbe gilt auch Begriffen der Religion, der Kunst, der Philosophie usw. Die Eigentümlichkeit solcher Begriffe erfasst Hegel mit der Idee der Bewegung des Begriffs, der sich bewegt, indem „die Besonderungen des Allgemeinen,“ d. h. Arten einer Gattung, sowohl aufgelöst als auch hervorgebracht werden.35 Das Prinzip dieser Bewegung nennt Hegel die Dialektik. In der Tradition des Idealismus behauptet der britische Idealist, R. G. Collingwood, dass der Leser der philosophischen Literatur nicht erwarten darf, dass sich die Bedeutung eines Wortes nie verändert.36 Der erstaunlichen Aussage liegt seine Unterscheidung zwischen philosophischen und wissenschaftlichen Begriffen zugrunde. Ein wissenschaftlicher Begriff beschreibe eine wissenschaftliche Gattung, während sich ein philosophischer Begriff auf eine philosophische Gattung beziehe. Eine philosophische Gattung weise die Struktur auf, dass ihre Arten eine Skala der Formen (scale of forms) darstellen, während das Variable darin das Gattungswesen selbst sei.37 Damit meint Collingwood, dass die Arten einer philosophischen Gattung unterschiedliche Grade der Verwirklichung des Gattungswesens darstellen. Gekennzeichnet von ihrer eigentümlichen Struktur, Collingwood behauptet, seien philosophische Begriffe keine Klassenbegriffe (class concepts),38 als welche die wissenschaftlichen Begriffe gelten. 34

TWA XVIII 51. TWA VII §31, Anm. 36 R. G. Collingwood, An Essay on Philosophical Method (Oxford: Clarendon Press, 2005), 208. 37 Collingwood, op. cit., 60. 38 Collingwood, op. cit., 330. 35

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Collingwoods Verdienst ist, mit der Unterscheidung der philosophischen von den wissenschaftlichen Begriffen, welche auf den strukturellen Unterschied zwischen den philosophischen und den wissenschaftlichen Gattungen hinweist, und besonders mit der These, dass sich das Gattungswesen in Arten variiert darstellt, Hegels Idee der Bewegung des Begriffs ausformuliert zu haben. Im Gegensatz zu Hegel verfehlt Collingwood jedoch, die Entstehung der Struktur eines philosophischen Begriffs in Zusammenhang mit der Tat des Geistes zu bringen, nach der wahren Gestalt seiner Existenz zu streben. An Essay on Philosophical Method, in dem Collingwood seine Theorie des philosophischen Begriffs darstellt, gibt den Eindruck, dass die Struktur der Hierarchie der Formen eine bloße Tatsache über den philosophischen Begriff ist, welche durch die geschickte Betrachtung zu entdecken ist. Mit der Idee der Bewegung des Begriffs schildert Hegel jedoch die Entwicklung des Geistes, oder näher gesagt, die schrittweise Erweiterung einer Gattung des Geistes, durch welche sich der Geist jeweils eine neue Gestalt gibt. Für Hegel ist die Struktur des sich bewegenden Begriffs dem menschlichen Geist nicht gegeben, sondern von ihm gemacht. Letztendlich wurzeln die Entwicklung des Geistes und entsprechend auch die Bewegung des Begriffs in dem sich in der Geschichte entwickelnden menschlichen Kollektiv, welches danach strebt, der Menschheit eine wahre Gestalt zu geben. Hegel spricht von dem Zusammenhang zwischen der Wahrheit und der Zustimmung der Menschen zu einer Zeit: Wir müssen überzeugt sein, dass das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen, und dass es nur erscheint, wenn diese gekommen, und deswegen nie zu früh erscheint noch ein unreifes Publikum findet; auch dass das Individuum dieses Effekts bedarf, um das, was noch seine einsame Sache ist, daran sich zu bewähren und die Überzeugung, die nur erst der Besonderheit angehört, als etwas Allgemeines zu erfahren.39

Viele Leser der Phänomenologie des Geistes mögen diese Äußerung Hegels nur als blumige Rhetorik betrachten. Sie ist aber mehr und deutet auf den Sachverhalt hin, dass die Wahrheit nur dann entstanden ist, wenn das menschliche Kollektiv sie als solche anerkennt. Dabei hat Hegel Menschen in ihrer Suche nach der Wahrheit, d. h. nach der wahren Gestalt ihrer Existenz, auf sich gestellt. Dass die Suche der Menschen trotzdem nicht orientierungslos ist, ist Hegels verdienstvolle Einsicht.

Bibliographie Collingwood, R. G. (2005): An Essay on Philosophical Method. Oxford: Clarendon Press. Dworkin, Ronald (1986): Law’s Empire. Cambridge. Mass.: The Belknap Press. Hegel, G. W. F. (1986): Werke: in 20 Bd. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 39

TWA III 66.

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Kant, Immanuel (1900 ff.): Kants Gesammelte Schriften. Herausg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin: de Gruyter. Pinkard, Terry (1988): Hegel’s Dialectic. The Explanation of Possibility. Philadelphia: Temple University Press. Pippin, Robert (1989): Hegel’s Idealism: The Satisfaction of Self-Consciousness. Cambridge: Cambridge University Press. Pippin, Robert (1990): „Hegel and Category Theory.“ Review of Metaphysics, 43 (1990): 839 – 848. Pippin, Robert (1991): Modernism as a Philosophical Problem. On the Dissatisfactions of European High Culture. Oxford: Blackwell. Pippin, Robert (1993): „Hegel’s Original Insight.“ International Philosophical Quarterly, 33, 3, 288 – 295. Pippin, Robert (2015): „Finite and Absolute Idealism: The Transcendental and the Metaphysical Hegel.“ In S. Gardner & M. Grist (herausg.), The Transcendental Turn (Oxford: Oxford University Press), 159 – 172. Puntel, Lorenz B. (2005): „Hegels Wahrheitskonzeption. Kritische Rekonstruktion und eine ,analytische‘ Alternative.“ Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus, 3, 308 – 342. Stern, Robert (2017): „Feedom, Norms, and Nature in Hegel: Self-Legislation or Self-Realization?“ In R. Zuckert & J. Kreines (herausg.), Hegel on Philosophy in History (Cambridge: Cambridge University Press, 2017), 88 – 105. Taylor, Charles (1975): Hegel. Cambridge: Cambridge University Press. Taylor, Charles (1989): Sources of the Self. Cambridge, MA.: Harvard University Press.

Einmal ist keinmal: Wiederholung als Form des Geistes Tereza Mateˇ jcˇ ková I. Einführung Wiederholung ist die Mutter der Weisheit, dennoch wollen wir uns nicht wiederholen. Es heißt, man solle innovativ, kreativ und originell sein. Insofern verwundert es, dass Søren Kierkegaard, der „Vater“ der Existenzphilosophie, eine so schlechte Intuition hatte: „Man sage darüber, was man will, die Wiederholung wird eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen.“1 Oder war seine Intuition doch nicht so abwegig? Gegen das Primat der Originalität könnte man einwenden,2 dass der Zeitgeist, der die Kreativität in den Vordergrund stellt, auf einer kognitiven Verzerrung gründet. Der Mensch kann nicht anders als wiederholen: Gesellschaften sind auf die Existenz von Normen, die auf Wiederholungen gründen, angewiesen und natürlich zehrt auch das Denken – nicht nur weil es wesentlich sprachlich verfasst ist – von der Wiederholung. Aus dieser Perspektive wäre die Innovation ein Phänomen, das deshalb möglich ist, weil es die Wiederholung gibt, vor deren Hintergrund das Neue erscheint. G. W. F. Hegel hat sich in grundlegenden Momenten seines Werkes auf die Wiederholung bezogen, obgleich er diese nie explizit thematisiert hat. In der Gestalt der „Doppelung“, „tautologischen Erklärung“ und „Erinnerung“ ist Wiederholung nicht nur eine subjektive Fähigkeit; als Sitte, Gebrauch und Tradition bildet sie gleichsam die Form der Substanz einer jeder Gesellschaft, die innere Dynamik des objektiven Geistes. Es gibt noch einen Grund, warum es aufschlussreich ist, Hegel als den Denker der Wiederholung zu deuten: Er steht an der Schwelle des Neuen und des Alten, ja er vollzieht den Übergang des Alten ins Neue, indem er theologische und metaphysische Begriffe in philosophische Termini übersetzt und diese neu, modern interpre-

1 Søren Kierkegaard: Wiederholung. Ein Versuch in der experimentellen Psychologie, Hamburg 1961, S. 7. 2 Andreas Reckwitz bezeichnet den Nachdruck auf das Innovative gegenüber dem Bewährten als „das Paradigma des Besonderen“, das seit den 1970er Jahren die westliche Gesellschaft grundlegend bestimmt: „Nicht an das Standardisierte und Regulierte heften sich die Hoffnungen, das Interesse und die Anstrengungen von Institutionen und Individuen, sondern an das Einzigartige, das Singuläre.“ Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 7.

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tiert.3 Das Alte neu zu gestalten – gerade das ist das Wesen der Wiederholung, die etwas Stabilisierendes, ja Traditionelles an sich hat. Dennoch ist sie nicht statisch, vielmehr haben wir es hier mit einer nachvollzogenen Aktivität zu tun. Die Wiederholung ist also subjektiver Vollzug und substanzielle Wirklichkeit zugleich. Bemerkenswert ist, dass die Wiederholung auf grundlegenden Stufen von Hegels Phänomenologie des Geistes zurückkehrt. Diese Knotenpunkte will ich in schematischer Weise nachverfolgen. Während sich die ersten Typen der Wiederholung ausschließlich in der Auseinandersetzung des Bewusstseins mit sich selbst vollziehen und als solche defizitär sind, spricht Hegel dann von einer geglückten Wiederholung bzw. Doppelung, wenn sich der Wiederholende auf das Äußere, also ihm Fremde bezieht. Darin wird deutlich, dass die Wiederholung eine Dynamik ist, durch die sich das Bewusstsein verändert: Wiederholend wird es neu.

II. Das Bewusstsein: Erste „Doppelungen“ Denker in der empirischen Tradition fassen die Erkenntnis als einen Prozess des Kopierens auf. Die Erkenntnis ist desto sicherer, je klarer und deutlicher die Kopie das Original wiedergibt. Auf der ersten Ebene der Phänomenologie scheint Hegel in diese Richtung zu denken, indem er das Wesen der Erkenntnis in die Sinnlichkeit verortet und auf der Grundlage des Rezipierens erfasst: „Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu verhalten“.4 Die Bewusstseinsinhalte sind Kopien der äußeren Wirklichkeit; das Bewusstsein selbst ist leer, eine tabula rasa. Rasch lehnt das Bewusstsein diese unmittelbare Auffassung ab: Vermittlungen gibt es bereits auf der Ebene der Sinnlichkeit, konkret ist es die Sprache, auf die selbst das sinnliche Bewusstsein angewiesen ist. „Als ein allgemeines sprechen wir auch das sinnliche aus; was wir sagen, ist: Dieses, das heißt das allgemeine Diese“.5 In der Sprache beziehen wir uns auf das Allgemeine. Zwischen die äußere Wirklichkeit und das sinnliche und dann wahrnehmende Bewusstsein tritt somit ein Vermittlungsbezug. Die Wiederholung spielt bereits hier eine zentrale Rolle. Das Bewusstsein begreift die allgemeinen Kategorien als „Verdoppelungen“ der empirischen Erscheinung. Das Ding erscheint auf „gedoppelte Weise“6 und auch stoßen wir auf eine Einsicht, die für den ganzen Verlauf der Phänomenologie grundlegend ist: Zur Doppelung bzw. Wiederholung bedürfen wir der Negation. Als negierendes stellt das Bewusst3 Georg W. F. Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg 1986, S. 316 f. 4 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1980, S. 63 (= GW 9). 5 GW 9, S. 65. 6 Ebd., S. 77.

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sein Distanz gegenüber der einzelnen Erscheinung her und vermag es – ausgehend von der einzelnen Erscheinung –, einen allgemeinen Begriff zu bilden, der das Einzelne zwar nie gänzlich erfasst, dafür ermöglicht er aber über das Einzelne zu sprechen. Im Versagen der Sprache vor der Einzelheit liegt der Zuspruch, die Einzelheit neu, also in ihrer Allgemeinheit zu erkennen. Als negierendes sieht das Bewusstsein also von der Einzelheit ab und formuliert Allgemeines. Keineswegs vernichtet es dadurch die Erscheinung in ihrer Einzelheit; diese wird vielmehr aufgehoben, also auf neuer Ebene wiederholt. Hierbei sehen wir, dass die Hegel’sche Wiederholung auch die zentrale Kategorie der Aufhebung beleuchten kann.7 Wollen wir das Ding überhaupt in den Blick bekommen, muss man es zweimal gesehen, bzw. es aus zwei Perspektive vergegenwärtigt haben – auf der Ebene der Sinnlichkeit erstens, auf der der Allgemeinheit zweitens. Auch merkt das Bewusstsein, dass die allgemeinen Eigenschaften des Dinges, die es nun formuliert, z. B. das Weiße, das Kubische, das Salzige, Bezüge zu anderen Eigenschaften sind. In der Wahrnehmung, aber auch in der Sprache gibt es nur Verschiedenes. Das heißt aber auch, dass alles in Relativität zu zergehen scheint und dies droht wiederum dem Bewusstsein den festen Boden zu entreißen. An der Sinnlichkeit und der ihr zugehörenden Begriffsbildung verzweifelnd kommt es zum Schluss, dass das sinnliche Ding der Substanz ermangelt, und schließt daraus, dass sich die Sinnlichkeit auf eine andere Fähigkeit stützen muss. Denn gäbe es nur die Sinnlichkeit, würde die Erkenntnis selbst im Relativen untergehen. Die Sprache, in der das Bewusstsein die Allgemeinheit erfasst hat, ist ein wichtiger Wegweiser, um einen neuen Zugang zu formulieren. Nun kommt es auf die Idee, dass es zwar nur Bedingtes wahrnimmt und erkennt, vielleicht aber Unbedingtes denken kann. Somit formuliert es den Begriff des Unbedingten als gleichbleibendes Fundament, worauf das wahrnehmende, nach letztem Grund suchende Bewusstsein zurückkommt. Damit tritt es in eine neue Phase ein – nun denkt es. In der Phänomenologie erweckt Hegel gezielt Assoziationen mit dem Platonismus. Wie im Falle des Empirismus geht es ihm nicht um eine korrekte Wiedergabe, vielmehr legt er typologisch Strategien des Weltzugangs offen. Auf „platonische“ Weise eröffnet sich nun über der Welt der Veränderung und Vergänglichkeit ein steter Grund der Wirklichkeit; parallel dazu erfährt die Welt der Erscheinung eine Herabstufung auf ein bloßes Abbild, eine falsche oder bedingte Kopie der wahren Wirklichkeit. Über dem „erscheinenden Diesseits schließt sich ein bleibendes Jenseits auf“.8 Auch auf dieser Ebene lassen die Probleme nicht lange auch sich warten. Im Rahmen der Abbildtheorie nimmt das Bewusstsein an, die Einheit wäre der Vielheit, das Unbewegte dem Bewegten, das Ewige dem Zeitlichen übergeordnet. Die Vielheit, das Bewegte, das Zeitliche seien folglich entfernte, nahezu unkenntliche, aber den7 8

Ebd., S. 72. Ebd., S. 89.

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noch Kopien der Einheit, des Unbewegten, des Ewigen. Nun lautet die Frage: Ist das Bewusstsein zu diesem Schluss berechtigt? Und wenn ja, warum ist das Zeitliche ein bloßes Abbild des Ewigen, warum ist es nicht umgekehrt? Das Bewusstsein findet keine angemessene Antwort. Es hat zwar bereits auf der Stufe des wahrnehmenden Bewusstseins eingesehen, dass die Wahrnehmung von Entgegensetzungen bestimmt ist, aber dieser Umstand berechtigt es nicht dazu, den einen Pol als den Grund des anderen zu fassen. Nicht nur hat das Bewusstsein keine gute Rechtfertigung; auch stellt sich heraus, dass die Annahme, der Grund der Vielheit sei die Einheit, es nicht näher an das zu erkennende Phänomen bringt. Das Gegenteil ist der Fall. Es muss befürchten, einen „Verlust der Realität“ zu erleiden.9 In diesen Passagen unternimmt Hegel den ersten Anlauf, die Dialektik zu denken – das, was zu denken ist, ist die Bewegung selbst, der Bezug der Eigenschaften, ja ein Lebensstrom,10 der die Dynamik der Andersheit und Entgegensetzung in sich selbst trägt. Ein jedes Phänomen ist nur insofern seiend, als es die Struktur des Absoluten, die als die Identität der Identität und Nicht-Identität11 bestimmt ist, vergegenwärtigt. Ein jedes Phänomen setzt sich als dasjenige, das nicht ein anderes ist, was bedeutet, dass es sich zum Anderen in Bezug setzen muss und damit eben teilweise auch sich selbst ein anderes ist. Folglich verkörpert es dasjenige, das Hegel als einen „inneren Unterschied“12 bezeichnet. Mit der Einsicht in das Defizitäre des Zwei-Welten-Modells steht das Bewusstsein vor der Formulierung eines neuen Realitätszugangs. Dass der platonische Zugang gescheitert ist, bedeutet nicht, dass er uns überhaupt nicht weitergebracht hat. In der Tat hat das Bewusstsein die Dynamik des Denkens eingesehen und fasst nun zusammen: Durch die Abstraktion, die in der Konstitution der zweiten Welt gipfelte, wurde das Phänomen auf neuer Ebene reproduziert. Dies kann zweierlei Formen annehmen. So kann das Phänomen in der Gestalt einer (platonischen) Idee wiedergegeben werden, oder es kann im (physikalischen) Gesetz13 erfasst werden. In beiden 9

Ebd., S. 87. Hegel spricht vom reinen „sich selbst Bewegen“, das die Seele der bisherigen Gestalten war. Ebd., S. 100. Schließlich heißt es: „Er [Der Gegenstand] ist durch diese Reflexion in sich Leben geworden.“ Ebd., S. 104. 11 Georg W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, München 1986, S. 64. 12 GW 9, S. 99. 13 In den einschlägigen Passagen bewegt sich Hegel frei zwischen zwei Arten von „Gedankendingen“: den platonischen Ideen und den physikalischen Gesetzen. Diese Verbindung mag überraschen, er scheint aber dieses vor Augen zu haben: Hegel kritisiert den Bezug zu physikalischen Gesetzen, insofern sie als ein Jenseits des Phänomens selbst erfasst werden und insofern sie – fälschlicherweise – für den Grund des Phänomens selbst gehalten werden. Hegel will den Gesetzen nicht jegliche hermeneutische Leistung absprechen, vielmehr macht er darauf aufmerksam, dass wir physikalische Gesetze oft missverstehen und sie eben nicht als bloße Erklärungen, sondern als Ursachen der Phänomene auffassen. 10

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Fällen handelt es sich um Abstraktionsleistungen, um Erklärungen, die das Phänomen auf neuer Ebene „hererzählen“.14 Aufschlussreich ist für unser Thema Folgendes: In den vorgestellten „Erklärungen“, die Hegel als „tautologische Bewegungen“15 bezeichnet, handelt es sich um Arten der Wiederholung. Für die Dynamik des Geistes bzw. des Bewusstseins ist es unumgänglich, dass sie die jeweiligen Phänomene auf verschiedenen Ebenen reproduzieren bzw. verdoppeln. Im ersten Falle – im empirischen Kopieren – war es eine Reproduktion, die sich nah an der Wirklichkeit halten wollte; im (im weitesten Sinne) idealistischen Kopieren, also in der Zwei-Welten-Theorie, hat sich die sinnliche Welt von der wahren vollends entfernt. Hegel lässt die Idee des Kopierens und des Wiederholens deswegen nicht fallen. Vielmehr soll das Wiederholen richtig erlernt werden. Die jeweiligen Momente der Wirklichkeit – die sinnliche Welt und die Ideenwelt (aber auch die Seele und der Leib) – gehören zueinander, indem sie sich gegeneinander in der Gegenwart, im Hier und Jetzt, profilieren. Die Entgegensetzungen treten dann in besonders scharfen Konturen hervor: Sie durchdringen die Phänomene sowie den Menschen, und dieser ist – mit Eugen Fink, u. a. einem Hegel-Interpreten, gesprochen – „die mikroskopische Wiederholung“16 der Struktur des Seins selbst.

III. Das spekulativ wiederholende Selbstbewusstsein Was es mit der merkwürdigen Kategorie des „inneren Unterschieds“ auf sich hat, lässt sich am ehesten am Selbstbewusstsein erklären; gerade das ist ein „Unterscheiden des Ununterschiedenen“.17 Insofern Hegel überzeugt ist, dass dem Bewusstsein Negativität eigen ist, aufgrund deren es sich von sich selbst zu unterscheiden vermag, meint er auch, dass es nie eins mit sich selbst ist, weshalb es eben mehr als bloßes Bewusstsein ist, nämlich Selbstbewusstsein. Der Negativität, die Hegel vor Augen hat, eignet die Fähigkeit, sich ins Positive zu wenden, also bildend oder transformierend zu sein. Das Selbstbewusstsein ist ein Bewusstsein, das von sich selbst weiß, was für Hegel bedeutet, dass es in sich selbst eine Differenz hervorbringt, die keine Differenz ist.18 Das Selbstbewusstsein ist zwar eines, aber um eines zu sein, muss es doppelt sein. Deshalb führt es in sich selbst eine Differenz ein, von der es zugleich behauptet, 14

Ebd., S. 95. Ebd. 16 Eugen Fink: Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg/ München, S. 234. Fink ist der Verfasser der – meiner Auffassung nach – besten phänomenologischen Interpretation der Phänomenologie des Geistes. Vgl. Eugen Fink: Phänomenologische Interpretationen der „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt a. M. 2007. 17 GW 9, S. 101. 18 Vergleiche hierzu den analogen Vorgang auf der Ebene von Kraft und Verstand. Ebd., S. 99. 15

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keine Differenz zu sein. Es bezieht sich auf sich selbst vermittels einer Differenz, die wir als eine fiktive bezeichnen können, wodurch es erst wirklich ist. Das Selbstbewusstsein kommt also dadurch zustande, dass sich das Bewusstsein verdoppelt. Insofern auch Hegel von dem Fichte’schen Ich = Ich ausgeht, scheint er die pleonastische Dynamik der Tathandlung aufzunehmen, wobei er jedoch bemüht ist, die innere Differenz, die das Ich begründet, eben nicht als eine tautologische Bewegung zu fassen. Vielmehr denkt er an eine Bewegung, in der die dem Ich eigene Andersheit hervorgehoben wird. Das Selbstbewusstsein entsteht aus einer inneren Teilung heraus, aufgrund deren es sich in sich selbst anschauen und mit sich ins „Selbstgespräch“19 kommen kann. Diese Wiederholung ist also keine „Hererzählung“, sondern eine Doppelung, die durch Steigerung der Komplexität erzielt wird. Von der Verdoppelung kommt Hegel auf Anerkennung zu sprechen. „Es ist für ein Selbstbewußtseyn ein anderes Selbstbewußtseyn; es ist außer sich gekommen.“20 Sogleich hält er fest, dass der Begriff des Geistes in dieser „Verdoppelung“, die er als die Unendlichkeit bezeichnet, implizit vorhanden ist. Das Selbstbewusstsein muss zum Anderen in Bezug treten, ja es aufheben, damit es es selbst bleibt; aber es muss auch sich aufheben, da es sich im Anderen tatsächlich erkennt. Diese Dynamik, in der unschwer der Verweis auf die Dialektik zu erkennen ist, bezeichnet Hegel als die „Doppelsinnigkeit“.21 Damit nimmt die Wiederholung eine neue Gestalt an. Nicht länger ist die Gestalt der Wiederholung ein Setzen des „Ich bin Ich“, auch ist sie keine „bloße“ Teilung des Bewusstseins, in dem sich zwei gleiche und zugleich ungleiche Seiten anschauen. Vielmehr ist es ein Wiederholen, das von der Ebene „Kraft und Verstand“ profitiert und nun erkennt: Jede Wiederholung ist zugleich neu und ist immer auf Anderes bezogen. Denn wenn nicht die Andersheit mit hineinkäme, wäre es nur ein Einerlei. Als wiederholend wird man anders: Man sieht sich im Anderen; man ist man selbst und ein anderer zugleich. „Es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen.“22 Aber gleich im nächsten Absatz fällt diese harmonische Einigkeit des Selben und Anderen auseinander. Im Hegel’schen Konflikt des Herrn und des Knechtes wird einer unterliegen, wodurch hierarchische Unterschiede, die einer unmittelbaren Doppelung abträglich sind, entstehen. Aber selbst hier geht der geistige Hang zur Doppelung nicht verloren. Vielmehr tritt er sogleich im Knecht in neuer Gestalt auf: Die Arbeit, die der Knecht verrichtet, wird als das Wiederfinden seiner selbst in der äußeren Welt gedeutet. Der Knecht dachte, er stehe einer fremden Welt gegenüber; aber in der Arbeit erfährt er, dass er ihr eine (bedingt) haltbare Form zu verleihen und sich

19

Ebd., S. 101. Ebd., S. 109 21 Ebd. 22 Ebd. 20

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in ihr anzuschauen vermag. „Es wird also durch diß Wiederfinden seiner durch sich selbst eigener Sinn, gerade in der Arbeit, worin nur fremder Sinn zu seyn schien.“23 Die Dynamik, die wir in verschiedenen Schattierungen beschrieben haben, verschärft sich nun: Das Bewusstsein wird verstärkt mit Fremde konfrontiert. Es sieht, dass seine Intention nie so aufgeht wie geplant. Arbeiten heißt nicht nur, dass man die eigenen Bedürfnisse aufhalten muss, auch der Eigensinn muss gehemmt werden. Das, was aus der Arbeit hervorgeht, ist deshalb etwas (relativ) Stabiles, weil es nicht pures Bewusstsein ist. Das Bewusstsein tritt somit in das Element des Bleibens, wenn es auf den Eigensinn verzichtet. Es sieht, dass es selbst bildend sein kann, aber auch, dass die Welt über eine eigene Dynamik verfügt, die sich nie gänzlich in seine Pläne einfügt. Es muss die Andersheit des eigenen Werkes erfahren und erdulden. Aber gerade weil es sich selbst im Fremden wiederholt hat und bemüht war, sich selbst im Äußeren anzuschauen, hat es anderes als sich selbst geschaffen. IV. Vernunft und Geist: Einzelheit und Allgemeinheit, noch einmal Die Arbeit kommt in der Phänomenologie noch einmal vor: Erneut wird sie in den ersten Passagen, die der praktischen Vernunft und damit der Grammatik des gesellschaftlichen Lebens gewidmet sind, thematisiert. Das Wort „Grammatik“ ist nicht zufällig: Hegel bezeichnet die Sitten und Gewohnheiten, also traditionelle Strukturen, als die „allgemeine Sprache“.24 Wenn alles gut geht, spiegelt die durch Sitten und Sprache vermittelte Wir-Identität unproblematisch die Ich-Identität wider. Hegel spricht dann von einem „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“.25 Das Unproblematische nimmt in der Phänomenologie jedoch keinen breiten Raum ein, genauer gesprochen thematisiert es ihr Verfasser zweimal: zu Beginn des Selbstbewusstseins-Abschnittes und später in dem einführenden Abschnitt zur praktischen Vernunft. Im letzteren lesen wir, dass „die Weisheit und die Tugend darin besteht, den Sitten seines Volks gemäß zu leben“.26 Denn den Sitten gemäß zu leben, heißt eben den Maßstab der früheren Generationen auch an sich selbst anzulegen, ihn wieder aufzunehmen, die Lebensform der Ahnen zu wiederholen. Wiederholung ist – zumindest hier – die Mutter der Weisheit. In diesen Passagen thematisiert Hegel die Bildung des Ich als Person; vornehmlich hält er fest, dass niemand als bloßes Individuum konstituiert wird. Vielmehr ist man als Teil einer Gemeinschaft immer eine Person, die bestimmten Pflichten nachkommt. Nun ist man aber nie nur Person, das heißt ein Selbstbewusstsein, das auf die Anerkennung anderer angewiesen ist. Wenn wir den Nachdruck ausschließlich auf kulturelle Wiederholung legten, könnten wir dazu neigen, den ganzen Bereich 23

Ebd., S. 115. Ebd., S. 195. 25 Ebd., S. 108. 26 Ebd., S. 195. 24

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des – im Hegel’schen Sinne – Ethischen als etwas aufzufassen, in das sich der Mensch einzugliedern hat und das er nachvollziehen muss. Fakt ist aber, dass gerade im Zentrum der Phänomenologie immer wieder Konflikte stehen, und zwar solche, die nicht behoben, sondern in Neues transformiert werden. Auch an dieser Stelle ist der Bezug zur Wiederholung wichtig. Wäre man nur Person, nicht auch Bewusstsein (und damit Negativität), könnte man nicht wiederholen. Denn das Wiederholen ist keine bloße Reproduktion des Immergleichen, vielmehr wiederholt das Bewusstsein vor dem Hintergrund der eigenen Negativität. Das Wiederholen ist damit die Fähigkeit, Gleiches auf Ungleiches zu beziehen. Das haben wir bereits auf der Ebene des wahrnehmenden Bewusstseins festgestellt: Die erste Leistung der Negativität war hier die Unterscheidung des Einzelnen und Allgemeinen. Dies ist auch auf der Ebene der praktischen Vernunft entscheidend. Dank der Negativität, die dem Bewusstsein inhäriert, erkennt sich die Person nie ausschließlich als Person, sondern eben auch als einzelnes, und nur dank dessen kann sie Ungleiches auf Gleiches beziehen. Gerade weil das Bewusstsein dieser doppelsinnige Bezug des Gleichen und des Ungleichen, des Alten und Neuen, Eigenen und Fremden ist, bezeugt es eine besondere Sprengkraft. Im Grunde kann es nicht anders als diese Brisanz zu entwickeln: Stets hat es den Hang, unterwandernd anzuknüpfen. Mit Franz Kafka gesprochen stellen wir fest: „Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben.“27 Insofern ist das Bewusstsein nicht auf der Seite Gottes, der aus dem Nichts Neues schafft, sondern auf der des diabolischen Plagiators, der empfängt und wiederholend – und deshalb störend, oft auch zerstörend – eingreift. Deutlich wird dies auf der Ebene des Geistes, vornehmlich im Kontext von Antigone, der prominentesten Person des Geist-Abschnittes. Die Prinzessin aus Theben lebt in einer Gesellschaft, die ihr die Gruppenidentität nicht zu vermitteln vermag. Wenn wir zunächst von Hegels Interpretation absehen, so ist wesentlich, dass Antigone einer inzestuösen Beziehung entstammt und auf kultureller Ebene ein Tabu verkörpert. Ihr Bruder hat ihr Vaterland angegriffen und dieses unterliegt nun Kreons Macht. Ihre einzige gesellschaftliche Legitimität bezieht sich darauf, dass sie die Nichte des Königs Kreon ist. Dessen ungeachtet revoltiert sie gegen Kreon, stößt ihre Schwester Ismene von sich und bringt ihren Verlobten zum Selbstmord. Hegels (eigenwillige) Interpretation ist mehreren Lesearten offen. Es kann behauptet werden, Antigone sei keine Revoltierende und führe nur die Normen, die ihr als Frau zugesprochen sind, aus; Kreon tut dasselbe, nur wiederholt er eben die „männlichen“ Normen. Obwohl einige Passagen diese Interpretation nahelegen, scheint sie mir nicht richtig. Denn würde sie zutreffen, wäre der antike Mensch kein bewusstes Wesen, das wiederholt, sondern eines, das das Vorgegebene nachvollzieht. Aber gerade für Hegel unterscheidet sich der Mensch vom Tier dadurch, dass er der 27 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente, II, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt 1992, S. 47.

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zyklischen, immer gleichen Natur nicht ausgeliefert ist, sondern in diese handelnd eingreift, weshalb er – im Unterschied zum Tier – geschichtlich lebt.28 Und nicht zuletzt: Diese Auslegung ist unsinnig. Ismene müsste dann genauso wie Antigone handeln wollen; sie tut es aber nicht. Beide – Kreon und Antigone – können erst dann verstanden werden und Hegels Interpretation ist nur dann sinnvoll, wenn wir keinen von den beiden Charakteren auf eine bloße Wiedergabe des Gegebenen reduzieren, sondern uns dessen bewusst sind, dass sich die Doppelung von geistigen Wesen immer auf Negativität und Andersheit bezieht. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, weil keiner der Protagonisten gänzlich das auswählt, wofür er als Mann oder Frau einsteht, da dieses traditionell gegeben ist; aber beide manipulieren mit dem Gegebenen, das heißt mit den Ansprüchen, die auf sie als Mitglieder der Gemeinschaft erhoben werden. Antigone wählt es sich also nicht frei aus, die Götter der Unterwelt zu repräsentieren – das ist ihr vorgeschrieben, aber das heißt nicht, dass die Art ihres Protestes unumgänglich ist. Als Frau entscheidet sie sich also nicht frei dafür, ausschließlich für Tote, nicht für Lebendige einzustehen. Kreon verfährt nicht anders. Er steht für den Staat ein, wobei er gänzlich aus dem Blick verliert, dass er nicht nur Herrscher, sondern auch Antigones Vormund und der Vater Haimons ist, dessen Verlobte er – mit Antigone – in den Tod stößt. In dem eigenwilligen Aufwerten der eigenen Pflichten, deren Kehrseite die Abwertung der für die Menschen als Menschen nicht minder wesentlichen Pflichten ist, machen sich beide Akteure der Hybris schuldig.29 Nur den Göttern ist es gegeben, mit einer solchen Einseitigkeit davonzukommen. Diese individuellen und – besonders im Falle von Antigone – höchst eigenwilligen Wertungen, oder vielmehr Reduktionen, sind Zeugnisse einer subjektiven Freiheit, die von Negativität zehrt. Diese Negativität macht nicht jedes positive Prädikat, das man Antigone oder Kreon zuschreiben könnte, zunichte. Im Gegenteil erhalten beide – ausgehend von der Negativität – ausgesprochen starke Attribute. Und nicht zuletzt ist diese Negativität gegenüber dem Gegebenen in Antigones Namen eingeschrieben: Antigone ist die, die gegen das Geschlecht, gegen den Genos aufbegehrt. Durch ihre Eigenwilligkeit und Einseitigkeit werden die Akteure zerbrechlich und stürzen – in Hegels Narrativ – sich und die griechische Welt ins Verderben. Wesentlich ist hierbei, dass sich die Protagonisten auf gegebene Normen, aus denen sie eine (bedingt) neue Position erstellen, beziehen. Sie wiederholen die Normen auf subversive Weise. Verallgemeinernd lässt sich behaupten: Das Bewusstsein ist nichts Positives, sondern eine negative Fähigkeit, dank der bedingt Neues entstehen kann. Neues ereignet sich also dann, wenn das Alte so wiederholt wird, dass es in diesem Vollzug auseinanderfällt und neue Möglichkeiten preisgibt.

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GW 9, S. 165. Sophokles, Antigone, in: Dramen, gr./dt., hg. und übers. von Wilhelm Willige, Zürich 1995, S. 208 (Z. 248), S. 216 (Z. 370 – 371), S. 222 (Z. 449), S. 248 (Z. 913 – 915). 29

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V. Das absolute Wissen als Wiederholung Nicht in einer Katharsis, sondern in der Erinnerung, die „das Innere und die in der That höhere Form der Substanz [ist]“,30 kulminiert das Buch. Warum ist aber die Angel, um die sich die abschließenden Passagen drehen, gerade die Erinnerung? Ich meine, Hegel behauptet, das absolute Wissen sei kein neues Wissen; eher ist es eine Fähigkeit, sich des auf dem „Weg des Zweifels und der Verzweiflung“31 erlangten Wissens anzunehmen. Grundlegend ist hierbei, dass das Bewusstsein diesen Rückblick aktiv ausführt und die jeweiligen Strukturen, die in den einzelnen Phasen erlangt wurden, Revue passieren lässt. Unter Erinnerung verstehe ich somit die aktive Verkörperung und damit auch Wiederholung derjenigen Strukturen, die die einzelne Person auf dem Weg als wesentliche zur Selbstäußerung erkennt. So hat das Bewusstsein, erstens, erfahren, was es bedeutet, der Welt gegenüberzustehen, sich ihr durch allgemeine Kategorien zu nähern und jene zugleich zu verfehlen; es hat sich in intersubjektiven Bindungen wiedergefunden und als Teil von gesellschaftlichen Normen und Institutionen erfahren. Die Wiederholung dieser universellen Strukturen ist Bedingung der Identität einer Person. Insofern wir hier auf Seiten des Bewusstseins eine schrittweise Aufklärung seiner selbst beobachten, lesen wir eine Bildungsgeschichte. Wesentlich ist aber, dass sich das Bewusstsein dessen, wer es denn ist, dadurch vergewissert, dass es auf das ihm Äußere zurückgreift. Allmählich erscheint um den Protagonisten ein Netz von Bezügen, dank deren er Einsicht in sich selbst erlangt. Mit anderen Worten versteht er, wer er ist, insofern er nachvollziehen kann, welchem Zusammenhang er angehört. Das ist jedoch nicht die ganze Geschichte. Insofern diese Strukturen erscheinen und als allgemeine Strukturen erkannt werden, bilden sie den Hintergrund, vor dem das Bewusstsein in seiner Negativität erscheint. Im Verlauf der Phänomenologie wird dieser Hintergrund, die Welt des Bewusstseins, ausgebaut; aber letztlich geht es primär um das Bewusstsein. Es selbst ist nicht gewachsen, als negatives kann es wohl nicht wachsen, sein Wert aber schon. Der Protagonist erkennt, dass er nicht nur Person, sondern auch Bewusstsein ist. In dieser Einsicht wird Pindars „Erkenne dich selbst“ vollbracht. Dass er nicht nur Person ist, heißt, dass er Normen eben als Normen akzeptieren kann, nicht als Naturgegebenheiten; auch heißt es, dass er weiß, was das Allgemeine und was das Einzelne ist, und er vermag es, sich auf beide angemessen zu beziehen. Das Bewusstsein lebt im Positiven, im Gegebenen, sucht aber dasjenige, das nicht gegeben wurde. Ja, es ist ihm auferlegt – um abermals mit Kafka zu sprechen – auch das Negative zu schaffen. Damit verwandelt es das positiv Da-Seiende in etwas, was sich entwickelt, in eine Genese. Diese Entwicklung wird in Geschichten, die uns Stabilität verleihen und die wir deshalb wiederholen, wiedergegeben. Aber sobald diese

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GW 9, S. 433. Vgl. ebd., S. 56.

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Geschichten erzählt werden, erscheinen sie nie ganz richtig, und so müssen sie anders erzählt werden. Jede Positivität, alles, was positiv gesagt wird, ist eine Einladung zur kreativen Aneignung, zur Wiederholung. Damit ist die Selbstheit auf eine Reihe von sich untergrabenden Wiederholungen angewiesen. Schließlich ist auch die Erinnerung ein schöpferisches Unternehmen; sie ist nicht eine statische Kopie der Vergangenheit, sondern ein Prozess der Umwertung und Selbsthinterfragung. VI. Schluss Kierkegaard bemerkt in der Schrift Wiederholung: „Hätte der Junge an die Wiederholung geglaubt. Was hätte da nicht aus ihm werden können? Welche Innerlichkeit hätte er nicht im Leben erreichen können?“32 Das ist ein zutiefst spekulativer Satz, der gut wiedergibt, um was es auch Hegel geht und was nicht selten missverstanden wird. Wenn Hegel auf Gesetze und Normen verweist, so tut er dies nicht, um den Menschen die Freiheit zu nehmen. Vielmehr geht er von einer tiefen Einsicht aus: Normen und Gesetze sind in erster Linie nicht dazu da, damit wir ihnen gehorchen, sondern damit wir – gehorchend – ein Inneres bilden, die Urteilskraft, dank der wir einsehen, wann wir Gesetze anwenden müssen und wann sie womöglich nicht angewendet werden dürfen. Das Innere wächst nicht außerhalb der Normen, sondern in ihnen. Aber der Wiederholung eignet gerade auch kulturgeschichtliche Relevanz und es sind vordergründig die Geisteswissenschaften, die grundlegend durch sie bestimmt sind. Somit zeichnet sich ein Missverständnis dieser Kategorie im Missverhältnis zu den Geisteswissenschaften ab, was wiederum wesentlichere kulturelle, wenn nicht gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zieht. Giambattista Vico bemerkt in einer Passage: „Daher wird die Rechtswissenschaft nicht von dem betrieben, der mittels eines gesegneten Gedächtnisses das positive Recht oder die allgemeinen Regeln des Gesetzes meistert, sondern eher von einem, der mit scharfem Urteil die Fälle betrachtet und die letzten Sachverhalte oder Umstände der Tatsachen zuerkennt, die Billigkeit oder eine Ausnahme von der allgemeinen Regel verdienen.“33

Auch für Geisteswissenschaftler scheint mir diese Passage instruktiv zu sein. Womöglich haben auch wir unser „Recht“ oder unsere „Gesetze“. Das sind die klassischen Texte, die uns eine Sprache vermitteln, ohne die wir vieles nicht zu erfassen vermöchten. Durch ihre Wiederholung wird die Fähigkeit provoziert, den eigenen Standpunkt zu finden und letztlich nicht nur auf die Texte zu blicken, sondern in die Welt und auf unser Leben aufmerksam zu werden und diese in ihrer Komplexität zu erfassen. 32 33

Kierkegaard, S. 20. Giambattista Vico, De antiquissima Italorum sapientia, Roma 2005, S. 42.

Die Omnipräsenz von Hegels Philosophie und insbesondere seiner Ästhetik: ein Kabinett hegelianischer Kuriositäten Francesca Iannelli Eins ist sicher: schwerlich hätte der 250. Geburtstag von Hegel (1770 – 2020) in eine dunklere und geplagtere Zeit1 fallen können. Dennoch hat sich die Hegel-Forschung während des Covid-Ausnahmezustands weitgehend an ihren Meister erinnert, und zwar sowohl auf traditionelle als auch auf ungewöhnliche Weise. An der Schwelle zum 251. Jubiläum ergibt sich nun das dringende Bedürfnis, eine Bilanz zu ziehen, wozu uns auch der Titel der Jena-Tagung Das Beste von Hegel (25.–27. Juni 2021) mit seinem Pop-Beigeschmack anregt, wohl wissend, dass jede Bilanz ebenso wertvoll wie vorläufig sein wird. In erster Linie wollen wir uns fragen: a) Welche Spuren von Hegels Philosophie finden sich in unserer Zeit? Und dann: b) Wie einflussreich ist seine Kunstphilosophie noch? Und schließlich: c) Inwieweit wird die zeitgenössische Kunstwelt von der Hegelschen Philosophie inspiriert, und kann man sagen, dass sie sich im Einklang mit einigen grundlegenden Prinzipien der Ästhetik Hegels befindet? Hegels Philosophie heute Zwangsläufig wurde die erste Frage (a) lange Zeit aus lokaler Sicht beantwortet, und zwar aus einer nationalen2, europäischen, (nord- oder süd-) amerikanischen3, westlichen oder östlichen4 Perspektive. Aber nun ist es in unseren multikulturellen und hypertechnologischen Tagen endlich möglich, eine Antwort aus einer globalen, transnationalen Perspektive zumindest anzustreben. Wenn nämlich Frederick Charles Beiser noch 2008 eine erneute Hegel-Renaissance – diesmal ausgelöst durch den Neopragmatismus und Honneths Frankfurter Schule – noch als „rätsel-

1 Ich verwende hier den Begriff „geplagte Zeit“ im Sinne von „troubled time“, in Einklang mit Haraway (2016), aber nicht nur. 2 Man denke an die beeindruckende Hegel-Rezeption in Europa, besonders in Frankreich und Italien. Dazu Bellantone (2007), sowie Iannelli/Vercellone/Vieweg (2019) und Diamanti (2020). 3 Siehe für eine erste Orientierung McNicoll (1964); Ruggiu/Testa (2003); Stekeler-Weithofer (2011); Solomon/Higgins (20122); Corti (2014); Ferreiro (2019). 4 Vgl. Takeshima (2020); Kubo/Yamaguchi/Knatz (2015); Achella (2020).

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haft“ beurteilte5, dann tat er dies von einem stark anglophonen Gesichtspunkt aus, da die analytischen Philosophen – mit nur einigen brillanten Ausnahmen (wie Danto, Brandom, McDowell, Pippin und Pinkard) – lange Zeit die Hegelsche Philosophie mit Argwohn betrachteten6. Wenn stattdessen nur zehn Jahre später Paul Kottmann die Allgegenwärtigkeit Hegels in der westlichen Kultur verkündet, indem er argumentiert: „Hegel’s influence is everywhere“7 wird er dabei von einem sozialgeschichtlichen Gefüge getragen, das immer stärker von Multikulturalität, Hybridationen, Virtualität und Multiperspektivität bestimmt ist und in dem sich das Lokale und das Globale sowie high and low nicht mehr streng trennen lassen. Mit diesem Beitrag möchten wir uns also auf die Spuren eines ungewöhnlichen, transdisziplinären und globalen Hegel begeben, in dem Bewusstsein, dass es noch viel zu entdecken gibt und dass unsere „geplagte“ Zeit von Hegels Gedankengut noch durchdrungen ist, und zwar besonders dort, wo man es am wenigsten erwarten würde, wie z. B. in der Übersetzungshermeneutik8, sowie im feministischen oder ökologischen Denken9. In den letzten Jahren gab es tatsächlich eine Vielzahl von Studien zur Übersetzungstheorie im Hegelschen Geist, die eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen Hegels Philosophie und der Theorie und Praxis der Übersetzung aufzeigen10. Auf der anderen Seite lassen sich Anfänge suggestiver Kontaminationen zwischen ökologischem Denken und Idealismus in Richtung auf einen möglichen Eco-Idealism11 sowie zwischen Tierrechten und Idealismus in Richtung auf einen eventuellen Animal-Idealism12 erkennen. Ebenso hat es nicht an bemerkenswerten Aussöhnungen, Angleichungen und Annäherungen zwischen feministischem Denken und Hegelscher Philosophie gefehlt. Hegel war natürlich ein Kind seiner Zeit, in der die Rolle der Frauen, von Ausnahmefällen abgesehen, meist auf die familiäre Sphäre beschränkt war. Andererseits bemerkt man in seiner philosophischen Reflexion nach und nach eine Öffnung, die ihn – von Jena bis Berlin – dazu bringt, die Grenzen seiner Zeit zu überschreiten 5 „How do we explain the great contemporary interest in Hegel? It is necessary to admit that it is rather puzzling“. Beiser (2008), S. 1. Für eine lange Reihe von Hegel-Renaissancen vgl. Campana (2019), S. 131. 6 Dies gilt auch für andere Bereiche. In der Einleitung zum Band von Cowan/Kronick (1991), spricht Cowan z. B. von der „ödipalen Verweigerung“ der amerikanischen Intellektuellen gegenüber Hegel, vgl. Cowan (1991), S. 1. 7 Kottmann (2018), S. 366. 8 Garelli (2015); Caramelli (2017); Farina (2019); Iannelli/Olivier (2022). 9 Stone, 2018; Achella/Iannelli et al. (2021). 10 Nardelli /Hrnjez (2020). 11 Über die Möglichkeit, Klimawandel und ökologische Krise aus der Perspektive von Hegels Geschichtsphilosophie zu betrachten, siehe Lumsden (2018). Über die Theorie der nachhaltigen Entwicklung als den letzten Versuch, die zentrale Idee der westlichen Moderne – die Idee der Selbstbestimmung – weiterzuführen, siehe Lumsden (2021). 12 Ich beziehe mich z. B. auf den Plenarvortrag von Ewa Nowak, Can we justify animal rights with Hegel’s thought? bei dem XXXIII. Internationalen Hegel-Kongress (Warschau, 24. Juni 2021).

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und jene Vorurteile über weibliche Frivolität zu verwerfen, die noch für Kant galten. Wenn sich Hegel auch gewiss nicht als Verteidiger und Wortführer der Frauenemanzipation profiliert, so sind die Frauen für ihn Rechtssubjekte wie die Männer, und die Ehe muss auf der freien Entscheidung beider Subjekte beruhen13, bis hin zur Zulassung der Scheidung, falls die Differenzen zwischen den Eheleuten die Grenze der totalen Entfremdung erreichen14. Es wäre daher anachronistisch und reduktiv, Hegel weiterhin als den patriarchalen Philosophen und Folterknecht des Weiblichen zu betrachten, auf den man im Namen der legendären Autorin von Sputiamo su Hegel (1970), der feministischen italienischen Kunsthistorikerin Carla Lonzi, weiter „spucken“ sollte. Tatsächlich hat es in den letzten Jahren zahlreiche bedeutende Neubewertungen des Hegelschen Erbes gegeben, sowohl in Bezug auf das feministische Denken – ausgehend von zentralen Begriffen wie Selbstbewusstsein15 und Anerkennung16 – als auch hinsichtlich einer breiter angelegten Reflexion über die Liebe, die Emanzipierung und die sozialen Bewegungen17. In ihren Tagebüchern schrieb Carla Lonzi selbst – in ruhigeren Tönen als in Sputiamo su Hegel –, dass der Feminismus nicht nur Wut und Anklage war, sondern auch Selbstbewusstsein und Befreiung18. Sie weist damit darauf hin, dass die feministischen Kämpfe auf die Erlangung des weiblichen Selbstbewusstseins zielten und sich vor dem Hintergrund eines fast als „Hegelsch“ zu bezeichnenden Kampfes um Anerkennung abspielten. Es wäre überspitzt zu behaupten, es hätte ohne Hegels Philosophie keine Emanzipation gegeben, doch kann man in Übereinstimmung mit Alison Stone sagen, dass es im Allgemeinen ohne Hegel keine Politik der Anerkennung gäbe, und insbesondere keine globale kulturelle Anerkennung der sexuellen Differenz. So behauptet Stone: „without Hegel we couldn’t even formulate the notion of a politics of recognition. Indeed, based on Hegel’s account it can be argued that cultural recognition is just vital as economic justice.“19. Auch die Kunstgeschichte hat sich in den letzten Jahren wieder mit bemerkenswertem Interesse Hegels Philosophie zugewandt und das von Gombrich verbreitete Klischee des metaphysischen Hegel überwunden. Bekanntlich war es Gombrich, der Hegel für seinen Versuch einer „Universal history of art“ zum „father of Art History“ gekrönt hat20 um ihn später zu entthronen und des spekulativen Historizismus zu beschuldigen, der die Künstler im Namen des Geistes und der Geschichte zurücksetzt. Der Wind der Erneuerung, der sich in den letzten 25 Jahren in der Hegelforschung auf 13

Vgl. GW 14.1, § 162, S. 145. Über die Eheschließung vgl. Ro´zsa (2020). Über Hegels Konstellation des Weiblichen vgl. Iannelli (2021), in: Achella/Iannelli et al. (2021). 15 Subrizi (2020). Vgl. auch Subrizi (2022). 16 Dazu Bauer/Hutchings/Pulkinnen/Stone (2010). Vuillerod (2020). 17 Kottman (2017); Blunden (2019); McGowan (2019). 18 Siehe Lonzi (1978). 19 Bauer/Hutchings/Pulkinnen/Stone (2010), S. 234. 20 Gombrich (1984), S. 52. 14

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dem Gebiet der Ästhetik bemerkbar machte21, hat zu einer Neudefinierung der Grundsätze seiner Kunstphilosophie geführt, insbesondere, was den vorgeblichen Klassizismus betrifft22, und hat auch unter den Kunsthistorikern einen „recent return to Hegel“23 beschleunigt, wie explizit Hammam Aldouri und implizit Jason Gaiger behauptet haben24. Hegelsche Begriffe, wie Dialektik oder Selbstbewusstsein werden also – direkt, indirekt oder diffraktiv25 – inspirierende Konzepte für eine Kunstgeschichte, die sich dem anpassen muss, was der unaufhörliche multimediale und globale Fluss verlangt26. Die Hegel-Resonanzen und Hegel-Hybridisierungen enden jedoch nicht hier, sondern projizieren uns in das komplexe Szenario der zeitgenössischen Kunst, in der der Name Hegels zunächst als der eines Fremden, eines Eindringlings oder sogar eines Aliens erscheinen mag. Stattdessen ist es bezeichnend, dass Emily Brady gerade die Hegelsche Dialektik als hermeneutisches Werkzeug einsetzt, um sich mit einer der revolutionärsten und umstrittensten Bewegungen der letzten fünfzig Jahre auseinanderzusetzen, und zwar mit der nonkonformistischen Land Art Bewegung. Tatsächlich haben viele Kritiker die Landart-Künstler einfach als brutale Vergewaltiger der Natur, der Landschaft und der Umwelt abgestempelt. Brady möchte dagegen solche oft umstrittenen Kunstwerke durch eine dialektische Bewegung à la Hegel interpretieren. Ein ästhetisches und ökologisches Bewusstsein könnte somit gerade durch einige invasive Land Art-Werke (wie z. B. die ikonische Spiral Jetty, die von Robert Smithson 1970 am Ufer des Großen Salzsees in Utah geschaffen wurde) angeregt werden, die in der Lage sind, die Aufmerksamkeit indirekt auf das zerstörerische Handeln des Menschen in der Natur zu lenken.27 Was allerdings besonders überrascht, ist, dass die Spuren Hegels sich nicht nur auf akademischem Gebiet ausmachen lassen, sondern auch gänzlich unerwartet in der Pop-Kultur auftauchen, z. B. im Film. In dem erfolgreichen Zombiefilm Ever After (2018) der Regisseurin Carolina Hellsgard nach dem Drehbuch von Olivia Vieweg, der in einer post-apokalyptischen Zukunft spielt, in der die Menschheit sich auf21

Ich meine damit die „philologische Wende“, die nach der Veröffentlichung der einzelnen Hörermitschriften der vier Vorlesungen (1820 – 21, 1823, 1826, 1828/29) ab 1995 und bis heute zu einer allmählichen Erneuerung der Ästhetikstudien in der Hegel-Forschung geführt hat, und zwar weltweit: von Italien bis Ungarn, von Korea bis Japan, von Spanien bis Amerika. Die Übersetzung dieser Mitschriften in die einzelnen Sprachen hat dann mehr oder weniger unterschwellig dazu beigetragen, dass ein neues Bild der Hegelschen Ästhetik entstand, die ungefähr 150 Jahre lang monolithisch und stereotyp schien. Das Thema der Rezeption der Ästhetik in Italien und Frankreich wird vertieft in Iannelli/Olivier (2020). 22 Gethmann-Siefert (1998), S. CX-CXI; Iannelli (2007), S. 89 – 123. 23 Aldouri (2018), S. 1. 24 Gaiger (2011). 25 Wie z. B. bei Iversen/Melville (2010). 26 Dabei denke ich vor allem an die Anregungen, die die Kunst und das Museum betreffen, in Groys (2016). 27 Brady (2007).

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grund einer geheimnisvollen Infektion in eine Masse von Zombies verwandelt hat, ist ein latentes Echo der Hegelschen Geschichtsphilosophie und des gefürchteten Endes der Geschichte zu vernehmen. Nicht von ungefähr sind die beiden letzten verbliebenen Bastionen der Menschheit die Städte Weimar und Jena – Symbolstädte der deutschen Philosophie und Dichtung in ihrer Blütezeit, wo Goethe, Hegel, Schelling, Schiller und die Gebrüder Schlegel, später auch Nietzsche, der Kultur des Westens zu unerhörten Höhepunkten verholfen haben. Diese Städte bleiben auch in der Zeit der Zombies Zufluchtsorte: in Weimar herrscht ein unbeugsames Gesetz, nach dem jeder, der sich infiziert hat, beseitigt wird, während man in Jena versucht, irgendein Heilmittel gegen das Übel zu finden, das die Menschen bedroht. Aber auch im Game-Entertainment Bereich fehlt es nicht an erstaunlichen Überraschungen28 ! Produziert von dem japanischen Software-Label Atlus unter der Leitung von Katsura Hashino erschien 2016 in Japan ein Videogame, das Rollenspiel Persona 5, in dem die Dialektik Hegels ausdrücklich zitiert wird, und zwar von einem jungen Detektiv aus Tokio, Akechi, der die sogenannten Phantom-Thieves of Heart, die bösen Herzensdiebe, die die korrupte Gesellschaft durch Kriminalakte reformieren wollen, zu entlarven sucht. Das Videogame ist stark von der westlichen Kultur beeinflusst, besonders von der bekannten Figur des Gentleman-Diebs Arsène Lupin von Leblanc, es gibt aber auch verdeckte Beziehungen zur deutschsprachigen Kultur, die von Schillers Räubern, die Hegel so sehr schätzte, bis zu den großen Themen reichen, die eine wichtige Rolle in Carl Gustav Jungs Psychologie spielen, zum Beispiel zum Begriff des kollektiven Unbewussten. Hashino selbst hat zu Persona 5 erklärt, dass es sich um ein Drama unserer Zeit handelt, das nach dem Erdbeben vom März 2011 und nach der durch nachlässige Kontrollen ausgelösten Katastrophe von Fukushima zum Nachdenken über die Schattenseiten der japanischen Gesellschaft anregen soll. Die Hegelsche Dialektik in Pop-Interpretation dient also dazu, den Konflikt zwischen Legalität und Korruption in seiner ganzen Ambiguität auszubreiten. Der Name „Hegel“ kehrt dann in einem anderen sehr erfolgreichen Action-Rollenspiel-Videogame wieder, NieR: Automata, das 2017 von dem talentierten Game Designer Yoko Taro geschrieben und entwickelt wurde. Es handelt sich jedoch nicht um ein nostalgisches Retro-Videospiel, sondern im Gegenteil um ein visionäres postapokalyptisches Spiel, das in einer fernen Zukunft inszeniert ist, in der es keine Menschen mehr gibt und in der empfindungsfähige anthropomorphe Androiden und Biomaschinen gegeneinander kämpfen, darunter auch „Hegel“, eine gigantische Biomaschine, die den Namen unseres Philosophen trägt. Dieser Hinweis könnte als pfiffige Hommage an einen der Giganten der abendländischen Philosophie abgetan werden, die zusammen mit anderen – wie Pascal, Marx, Engels, Sartre und Beauvoir – das Video-Spiel bevölkern. Oder als indirekte Anerkennung des Einflusses von Hegels Philosophie auf die Menschheit, die trotz ihrer Vernichtung ein Vorbild sogar für die Biomaschinen bleibt. Aber auch als Absicht des Game-Designers Yoko Taro, sich mit 28 An dieser Stelle möchte ich mich bei Ralf Beuthan und Emanuele Nardi für ihre wertvollen Hinweise bedanken.

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einem „unbequemen“ Philosophen zu arrangieren, dessen Name in Nier: Automata für einen der „Bosse“ steht, die am schwersten zu besiegen sind. Die Feststellung, dass in zwei weltweit erfolgreichen japanischen Videospielen Anklänge an Hegels Philosophie unverkennbar sind, zeugt davon, dass Hegels Wirkung nicht nur in Europa, sondern global alle Bereiche durchzieht, und zwar sowohl in der gehobenen, wie auch in der Pop-Kultur, und dass auch in der Philosophie die Trennung zwischen high und low langsam aufgehoben wird. Die Paradigmen und die suggestivsten Figuren der Hegelschen Philosophie – anders formuliert „das Beste von Hegel“ – werden somit unnachsichtig geplündert und hybridisiert, während seine Figuren und Metaphern in den unterschiedlichsten Kontexten auftauchen. Um ihre Kritik an der „master’s narrative“, d. h. der hegemonialen Erzählung des Anthropozäns, zu untermauern, verwendet Stefania Barca in Forces of Reproduction z. B. die Figuren „master“ und „non -master Others“ (und zwar Frauen, Sklaven, Proletarier, Tiere und nicht-menschliche Natur)29, ohne jedoch die der Hegelschen Dialektik innewohnende Umkehrungskraft zu nutzen. Die nächtliche, geheimnisvolle „Eule“ (Owl) der Minerva, Symbol der Philosophie, wird dann von Timothy Morton in das Öl (Oil) der Minerva verwandelt. Mit einem Verweis auf das französische ÖlBrand Minerva Oil (das Öle für Motoren, Getriebe, Hydraulik und Multifunktionsöle verkauft) spielt Morton mit schwarzem Humor auf die Ölverschmutzung als Symbol für die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen an, die die Klimaerwärmung unserer Tage verursacht hat.30 Mit dem gleichen „hybriden Geist“ kehrt sich in dem experimentellen kollektiven Kunstwerk This is not an Instagram profile. Back to reality die berühmte und oft missdeutete Sentenz der Vorrede der Grundlinien „Was vernu¨ nftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernu¨ nftig“31 in „The virtual is (ir)rational, the (ir)rational is virtual“ um. Die latent subversive Eröffnung eines Pseudo-Instagram-Profils (@hegelnowproject), das offiziell dem 250. Geburtstag von Hegel gewidmet, aber tatsächlich ein künstlerisches Experiment ist, soll auf den fragmentarischen, an Unsinn grenzenden Charakter sozialer Profile aufmerksam machen, in denen „das Ganze“ immer eine Fata Morgana, wenn nicht gar ein Schreckgespenst ist, und das Wirkliche durch das Virtuelle fast vollkommen ersetzt wird32. In einer dunklen und geplagten Zeit (troubled time) wie der unseren sieht man also am Horizont neben einer eher orthodoxen, traditionellen, mehr oder weniger selbstbezogen Hegel-Forschung eine Tendenz aufsteigen, jeweils „das Beste von Hegel“ zu „kompostieren“ (im Sinne Donna Haraways), zu recyceln, zu kontaminieren, um kritische Anregungen in einer Pop-Sprache anzubieten. Das führt zu extravaganten Auswüchsen, wie in Thomas Feuersteins „metabolic machine“ Pancreas (2012), wo ein Gehirn in einem Gefäß von Hegels in nahrhaften Traubenzucker verwandelter 29

Barca (2020), S. 6. Morton (2013), S. 158. 31 GW 14.1, S. 14. 32 Dazu siehe Iannelli (2021), S. 82 – 83. 30

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Abb. 1: Francesca Iannelli, Chiara Anastasia Moda, Maria Stadirani: This is not an Instagram profile. Back to reality. Instagr-art (2020-ongoing)

Phänomenologie des Geistes ernährt wird oder in Jonathan Meeses Hegels Portraits (2021) als Baby, als Häuptling, als Hegel-Daddy. Einzelne alte Fäden aus dem Strang der Hegelschen Philosophie (etwa wie der, den Hegel für seine „Fadenfigur“ der Dialektik, der Anerkennung oder des Selbstbewusstseins genutzt hat) werden mit anderen verwoben, die uns in der Gegenwart zur Verfügung stehen, um neue Fadenfiguren zu ergeben, die uns jedoch vertraut sind und uns erlauben, sie ohne Schwierigkeiten zum ursprünglichen Strang zurückzuverfolgen. Es gibt allerdings andere Kreuzungen (etwa die von Morton und Jullien, die wir später betrachten werden), die beunruhigender und radikaler wirken und uns auf den ersten Blick ihre Nähe zu Hegels Philosophie nicht offenbaren, auch wenn diese selbst in der äußersten Heterogenität des Fadenspiels unzweifelhaft spürbar bleibt.

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II. Hegels Ästhetik heute und ihre Resonanz in der philosophischen Debatte der Gegenwart Wenn wir nun zur zweiten Frage (b) übergehen, die sich im Einzelnen mit der Aktualität und Verbreitung der Hegelschen Ästhetik befasst, dann könnte als erste Reaktion große Skepsis zu spüren sein. Wenn Hegels (eigentlich Hothos) Ästhetik von Rosenkranz bis Engels, von Gadamer bis Bubner für ihre leicht zugängliche Lesbarkeit und Vorbildlichkeit gelobt wurde, scheint es in Zeiten der Neuro-Ästhetik, der Fashion Studies, der Atmosphärologie, nichts Anachronistischeres zu geben als eine angeblich systematische Ästhetik33, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entworfen wurde, als noch die Vorstellung herrschte, ein Werk sei etwas Stabiles, Dauerhaftes, das in Museen verwahrt werde. Die Hegelsche Ästhetik kann also wie ein kostbarer Familienschmuck wirken, der hin und wieder hervorgeholt und in der Vitrine der Geschichte ausgestellt wird. Welchen Einfluss kann so ein Relikt der Vergangenheit im 21. Jahrhundert noch ausüben? Tatsächlich ist es überraschend, festzustellen, wie so ein antikes Schmuckstück weiterhin nicht nur weltweit – in Europa, Amerika, bis nach Asien – die heftige Diskussion um die berüchtigte These vom „Ende“ oder vom „Tod“ der Kunst belebt34, sondern auch in anderen Bereichen glänzt, die scheinbar weit entfernt liegen. Was ich in diesem zweiten Abschnitt zu untersuchen beabsichtige, ist in der Tat die Fähigkeit der Ästhetik Hegels, Philosophen zu inspirieren, die in keinerlei Beziehung zur Hegel-Forschung stehen, oder sich sogar im Widerspruch zu ihr befinden oder in Konflikt mit der westlichen Tradition im Allgemeinen stehen. Ich denke dabei an Timothy Morton und Francois Jullien, zwei prominente Figuren der zeitgenössischen Philosophie: der eine Prophet des Anthropozän, der andere Vertreter der Philosophie des kulturellen Abstands. Beide machen einen sehr freien Gebrauch der Hegelschen Ästhetik, der an der Grenze zur Anarchie steht und damit verrät, wie schwierig es ist, im 21. Jahrhundert ohne Hegel originell und innovativ zu denken und weiter zu reflektieren. Ich habe nun hier nicht die Absicht zu beurteilen, wie exzentrisch Mortons und Julliens Thesen aus einer orthodox an Hegel orientierten Perspektive wirken. Vielmehr möchte ich unterstreichen, wie fruchtbar ihre Begegnung mit Hegels Philosophie gewesen ist und dass sie noch inspirierender sein könnte. Aus der Auseinandersetzung mit Hegel leitet Morton sowohl das sogenannte „beautiful soul syndrome“35 der Umweltfundamentalisten, die alle anderen als Konsumisten kritisieren, als auch eine seiner bekanntesten Theorien ab: die des Age of Asymmetry. Jullien hingegen sieht in Hegels Ästhetik ein Sprungbrett, um die ideale Schönheit des Westens hinter sich zu lassen. 33

Gegen diesen Vorwurf siehe Gethmann-Siefert (1998). Eine angemessene Kontextualisierung der Debatte der letzten Jahrzehnte ist an diesem Ort nicht möglich. Für eine Darstellung der Rezeption dieser umstrittenen These in Deutschland und Italien s. Vieweg/Iannelli/Vercellone (2015). 35 Morton (2007), S. 117 – 121. Vgl. auch Morton (2013), S. 154. 34

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Betrachten wir nun diese extravaganten Kontaminierungen im Detail. In dem 2013 auf Englisch erschienenen Buch Hyperobjects: Philosophy and Ecology after the End of the World (University Of Minnesota Press) dekonstruiert Morton die Triadizität der ästhetischen Kunstformen, indem er ein viertes Moment nach der romantischen Phase einführt: the Age of Asymmetry. Dieses vierte Moment, das Morton generisch „postromantic (…) phase“36 nennt, stellt eine explosive Hybridisierung zwischen den drei von Hegel identifizierten Kunstformen dar. Die postromantische Phase teilt nämlich mit der symbolischen Kunstform die Übermacht der Materie (denn nach Morton haben die Materialien nun eine Autonomie erlangt37, man denke an all die umweltverschmutzenden Materialien wie Plastik, all das in der Erde vorhandene nukleare Material, Öl, den Giftmüll usw.). Gleichzeitig teilt diese vierte Phase Balance and Equilibrium mit der klassischen Kunstform, auch wenn die Entsprechung nicht mehr (wie bei Hegel) zwischen Form und Inhalt, sondern zwischen menschlich und nicht-menschlich gesehen wird. Es handelt sich also um eine beunruhigende Parität, die durch eine Öko-Installation wie Ice Watch des dänischen Künstlers Olafur Eliasson exemplarisch zur Schau gestellt wird38. Schließlich teilt die postromantische Phase mit der romantischen Kunstform die Eroberung der Innerlichkeit, die hier jedoch auf die Spitze getrieben wird, so dass sie auch im Nicht-Menschlichen zu erkennen ist. Morton geht von einer erheblichen Instabilität der Figuren, Formen und Momente in Hegels Dialektik39 aus und sieht daher eine „fourth possibility, perfectly predictable according to the inner logic of Hegel’s history of art […] but radically unspeakable within it.“40 Obwohl er sich durchaus bewusst ist, dass das Einfügen eines vierten Moments absolut anti-hegelianisch ist, konstruiert er eine neue Fadenfigur, nämlich die der Ära der Asymmetrie, die ein so verwirrendes Fadenspiel darstellt, dass man an ein richtiges Cat’s cradle erinnert wird. Dies geschieht, weil die Asymmetrie nicht nur das Symbolische (also das erste Moment), sondern auch das Romantische (das dritte Moment) kennzeichnet, und es ergibt nur einen Sinn, weil in Hegels Ästhetik eine triadische und dialektische Bewegung vorhanden ist, die von Morton völlig gesprengt wird. Die Behauptung, dass unsere Zeit die Ära der Asymmetrie sei, unterscheidet in Wirklichkeit unsere Zeit durchaus nicht von der Zeit Hegels, die in Bezug auf die Kunst bereits so angelegt war. Andererseits muss man sagen, dass Morton für seine Thesen einer „Ökologie ohne Natur“41und einer „dark ecology“ gerade in der Naturphilosophie Hegels weit mehr Anhaltspunkte gefunden hätte. Mit Recht schreibt Beiser 2008, dass wir es hier nach

36

Cfr. Morton (2013), S. 161. Cfr. Morton (2013), S. 172. 38 Dazu Morton (2018), S. 119 – 126. 39 Morton (2013), S. 162. 40 Morton (2013), S. 161. 41 Morton (2007); Morton (2016).

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wie vor mit der „darkest terra incognita der Hegelschen Welt“ 42 zu tun haben. Da Morton behauptet, dass wir von Hyper-Objekten wie der globalen Erderwärmung, dem Atommüll und nun auch dem Coronavirus umgeben sind und es sicher nicht mit abstrakten Gegebenheiten wie der „Natur“43 zu tun haben, hätte er bestimmt theoretischen Rückhalt in den Vorlesungen über die Philosophie der Natur von 1823/24 gefunden, wo Hegel wiederholt auf die Abstraktheit und Unmittelbarkeit der Natur verweist: „Das Sein der Natur ist nur abstrakt, nur augenblicklich, es ist nur ein Gesetztes, dieß ist die Unmittelbarkeit. Zur Vermittelung gehört ein Verdoppeltes, Zweiheit und Rückkehr daraus in sich. Das Unmittelbare hat nicht das Konkrete in sich, es ist nur die abstrakte Beziehung auf sich.“44 Auch wenn Morton sich von Hegel distanziert und ausdrücklich sagt: „I am not endorsing Hegel’s views, least of all his teleology“, schreckt er durchaus nicht davor zurück, einige theoretische Fäden aus dem Hegel-Strang herauszuziehen, um neue Fadenfiguren zu erschaffen und sein eigenes Fadenspiel mit neuen Verwicklungen zu spielen, in dem die Natur entnaturalisiert wird45. Schon aus dem Titel seines erfolgreichen Buchs aus dem Jahr 2013, der auf Deutsch Hyperobjekte: Philosophie und Ökologie nach dem Ende der Welt lauten würde, erklingt ein fernes Echo jener „Diskussion ohne Ende“, die vom Ende der Geschichte bis zum Ende der Kunst so viel Anlass zu Auseinandersetzungen gegeben hat – von Fukuyama bis Danto – obgleich der Ausgangspunkt dafür ein Missverständnis war, das viele andere nach sich gezogen hat. Bescheidener und überschaubarer ist das Fadenspiel des französischen Sinologen Jullien, bekannt für seine Philosophie der destabilisierenden und zugleich fruchtbaren „Abstände“ (écarts), die zwischen dem westlichen und dem chinesischen Denken bestehen, wobei er über jeden baren „Vergleich“ und über starre Gegensätze wie „kulturelle Identität vs. Verschiedenheit“ hinausgeht. In dem Band Cette étrange idée du beau46, der 2010 in Frankreich veröffentlicht und 2012 ins Deutsche übersetzt wurde, betrachtet Jullien das Schöne als einen „imperialistischen“47, hegemonischen48 und vor allem unüberwindbaren Begriff49. Das westliche Schöne entspricht daher einem Extrem, das sich nicht vertiefen lässt und ist damit eine ausgesprochen exklusive Kategorie: „Das Schöne kommt innerhalb des Sichtbaren zu seinem Ergebnis und Ende; es vertieft sich nicht weiter vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Es integriert, totalisiert, harmonisiert, aber es eignet sich nicht für eine Überschrei-

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Beiser (2008), S.11. Cfr. Morton (2013), S. 168. 44 GW 24.1, S. 512. 45 Vgl. auch Morton (2013), S. 4. 46 Jullien (2012). 47 Jullien (2012), S. 33. 48 Jullien (2012), S. 34. 49 Jullien (2012), S. 155 – 162.

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tung. Es setzt still, und in der Folge verewigt es, anstatt eine zukünftige Entwicklung hervorzurufen“.50 Auf der anderen Seite gesteht Jullien, indem er die Etappen der westlichen ästhetischen Tradition nachzeichnet, Hegel und seiner Ästhetik eine bedeutende Funktion der Befreiung und Emanzipierung zu, die es ermöglicht, das Schöne zu dekolonisieren. Jullien geht ausdrücklich auf die Selbstbezogenheit des Schönen ein („abgestorben dem unmittelbaren Dasein“51), die 1835 in der posthum von Hotho publizierten Ästhetik beschrieben wird, und theoretisiert den „Tod“ der westlichen Schönheit, die übertrieben statisch und idealisiert ist: „Das Schöne hat sich zurückgezogen – sondert sich ab – von der in kontinuierlicher Entwicklung oder in ,Wachstum‘ befindlichen Bewegung, in der das Leben besteht; es bleibt weihevoll in seinem Königreich eingeschlossen. Ist es etwa das, was schon Hegel gesagt hat? Insofern es sich von jedem Einfluss und jeder gewöhnlichen Abhängigkeit isoliert, insofern es seine äußere Manifestation ausschließlich mit seinem inneren Begriff und Inhalt in Übereinstimmung bringt, also gänzlich frei in sich selbst ruht und ,mit sich selbst zusammengeschlossen‘ ist, ist das Schöne ,abgestorben dem unmittelbaren Dasein‘. Doch das Schöne ist auch deshalb dem Tod ausgeliefert, weil es, zum Allerletzten gelangt und gegen das Unüberschreitbare stoßend, keine andere Möglichkeit der Vertiefung mehr kennt, als im Abgrund zu versinken“.52

In der chinesischen Auffassung hat das Ästhetische verschiedenartige, vielseitige Facetten, ohne dass auf eine hegemonische, hypnotische oder überwältigende Kategorie wie die der Schönheit zurückgegriffen würde. Sicher muss man zugeben, dass Jullien weit über Hegel hinausgeht, und zwar in Richtung auf eine auf den Taoismus zurückgehende Ästhetik des Faden und der Schalheit, von wo aus man schrittweise, nach langer ästhetischer Abwägung zum Geschmack jenseits des Geschmacks gelangen kann: „Die Schalheit ist nicht die Litotes, die Figur der Intensivierung durch Umkehrung – sondern weil dieser enttäuschende Beginn eine Entwicklung einleitet, sogar eine Entwicklung mit äußerst langewährendem Verlauf (nach wie vor das prozessuale Denken), die vom wenigst Verführerischen zum Gefühl eines Unerschöpflichen hinführt.“53

Nichtsdestotrotz ist der Tribut, den Jullien Hegel zollt, in ästhetischer und interkultureller Hinsicht kostbar und bedeutsam, denn in der Hegelschen „Kulmination des Idealismus“ gibt es eine fruchtbare Auflösung des Dualismus und eine Brücke zum holistischen Denken54. Jullien sucht allerdings genau wie Morton an der falschen Stelle Unterstützung. Der französische Sinologe hätte für seine „Dekolonisierung“ des Schönen mehr Anregungen in den Ästhetikvorlesungen gefunden als in der veröffentlichten Ästhetik, weil in jenen das Nicht-mehr-Schöne und das Hässliche 50

Jullien (2012), S. 160 – 161. Hegel (1970), S. 207. 52 Jullien (2012), S. 162. 53 Jullien (2012), S. 154. 54 Jullien (2012), S. 51.

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eine zunehmende Anerkennung finden55 und das klassische Ideal aufgrund seiner Selbstbezogenheit relativiert wird, wie es in diesem Abschnitt der Vorlesung von 1823 heißt: „das classische Ideal ist kalt, für sich, in sich abgeschlossen, seine Gestalt ist seine eigene; von ihr giebt es nichts frei, der bestimmte Character beherrscht alle Züge. Das Ideal ist zurückhaltend, nicht aufnehmend, ein abgeschlossnes Eins, für sich und daher Anderes von sich weisend.“ 56 Unnötig zu sagen, dass Hegel diese theoretischen Filiationen Mortons und Julliens mit Misstrauen betrachtet hätte, als wären sie – wie in Hegels eigenem Privatleben Ludwig Fischer, auf den wir später zurückkommen werden – uneheliche Kinder. Ja, auf den ersten Blick erscheinen das nicht- anthropozentrische Denken Mortons und die Philosophie des Faden Julliens aus der Hegelschen Perspektive, die auf Begriffen wie Geist, Humanus, Ganzheit und Freiheit gründet, durchaus provokatorisch und häretisch. Dennoch bezeugen diese Hybridisierungen – wie asymmetrisch und anti-ideal sie auch immer sein mögen – wie mächtig die Wirkung und Rezeption der Hegelschen Philosophie und insbesondere der Ästhetik noch ist. III. Hegel, die „Artworld“ und wir Wir kommen nun zur letzten Frage (c), nämlich, inwieweit die Kunstwelt in ihrer ganzen Heterogenität des Ausdrucks – der Malerei, der Musik, der Literatur – ein Organ für bestimmte Grundfragen der Philosophie, besonders der Hegelschen Ästhetik, hatte und noch hat, inwieweit sie sich in einem fruchtbaren Dialog befindet und uns einen Schlüssel liefern kann, der uns die Komplexität unserer Zeit zumindest teilweise zu verstehen hilft. Mitte der sechziger Jahre hatte Dieter Henrich behauptet, dass die Kunsttheorie Hegels als Paradigma für eine Kunstphilosophie dienen könnte, die die historische Gegenwart verständlich machen will. Eine vielschichtige Kunstströmung wie der Kubismus wäre also mit einigen Grundsätzen der Ästhetik Hegels zu erfassen gewesen, vor allem mit Hilfe des Begriffs der Reflexivität. Man fragt sich nun, ob diese bedeutenden ästhetisch-künstlerischen Kontaminationen heutzutage noch möglich sind, sei es so, wie Henrich sich das dachte, oder auf andere Weise. Für eine Antwort muss die Synergie zwischen Kunstszene und Hegelscher Ästhetik kurz nachgezeichnet werden. Im Verlauf des 19. und 20., so wie in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, verspürten Künstler, Musiker und Literaten das Bedürfnis, sich mit Hegels Philosophie auseinanderzusetzen und haben Spuren davon in ihren Werken hinterlassen, begonnen bei der Malerei: vom bekannten, rätselhaften Bild Magrittes Hegels Ferien (1958) bis zu Gideon Boks Highway to Hegel aus dem Jahr 2013, von Magdalena Cichon Artemisia (Trepanation) aus dem Jahr 2019 bis zu Andrea Volos Verdopplung. 55 56

Dazu Iannelli (2007). GW 28.1, S. 413 – 414.

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Abb. 2: Andrea Volo: Verdopplung, 200x100 cm, Acryl und Öl auf Leinwand (2020)

Gerade dieses letzte Kunstwerk aus dem Jahr 2020 verdient eine eingehendere Betrachtung, sowohl weil Andrea Volo ein Schlüsselmotiv der Hegelschen Ästhetik

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aufgreift, als auch, weil durch das Gestaltungsmotiv der Spielkarte vernachlässigte biographische Elemente aus dem Leben des Philosophen evoziert werden: Hegels Liebe für das gesellschaftliche Leben, sein geselliges Wesen, seine Freude am Kartenspiel, besonders an L’Hombre und Whist57. Der Titel Verdopplung spielt jedoch auch auf eine Zweiteilung an, auf „zwei“ Hegel, den öffentlichen und den privaten: den Titanen der Philosophie, liebevollen Ehemann und vorbildlichen Vater seiner beiden ehelichen Kinder, aber auch auf den gegenüber seiner unglücklichen Schwester Christiane zunehmend distanzierten Bruder und den Vater im Konflikt mit seinem unehelichen Sohn Ludwig. Volos Verdopplung beleuchtet also in exemplarischer Weise sowohl Hegels Konzeption des Kunstwerks als Duplikation der Realität als auch die Ambivalenzen, die das Leben eines jeden Menschen stigmatisieren. Selbst die Street Art hat sich in einem so düsteren Jahr wie 2020 von der Hegelschen Philosophie inspirieren lassen, um den jüngeren Generationen eine Botschaft der Hoffnung zu geben. Das Wandbild Spirit von Manu Invisible (Cagliari, 1990), das im Innenhof des Department für Philosophie, Kommunikation und Medien an der italienischen Universität Roma Tre zu sehen ist, kann nämlich „prosaisch“ als Ermutigung und Warnung für jeden gelesen werden. Der berühmte Satz nach der „nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht worden ist“58– der über dem 40 Meter langen Wandbild triumphiert – wurde von Hegel in Bezug auf die Handlungen von Individuen konzipiert, die, beseelt von einer Leidenschaft, mit der List der Vernunft die Weltgeschichte orientieren, indem ihre Zwecke „mit dem allgemeinen Zweck zusammenfallen“59. Zusätzlich zu Hegels Satz gibt es in dem von Manu Invisible geschaffenen Wandbild zwei weitere Elemente, die reich an Hegelianischen Resonanzen sind. Zunächst einmal spielt der Titel Spirit auf das intersubjektive und kulturelle Netz an, das eine Gemeinschaft – auch in dunkleren Zeiten, wie unserer – nährt. Schließlich erinnert die figurative Dimension des Wandbildes an jene Dämmerungsphase, in der die Philosophie, die in den Grundlinien durch die Eule symbolisiert wird, die Flucht ergreifen kann, um zu interpretieren, was die Akteure – die Politiker, Ökonomen, Wissenschaftler und Virologen –, die auf der Tagesszene der Welt tätig sind, erreicht haben. Der Sonnenuntergang wird dann zur Metapher für den theoretischen Moment schlechthin, der beginnt, wenn die historische Handlung vollendet ist und richtig verstanden und interpretiert werden muss. Diese philosophische Deutung wird jedoch kein Selbstzweck bleiben, sondern Rückwirkungen auf die Gegenwart haben, wie man es von diesem Wandbild selbst erhofft. Ich denke dann auch an die ausdrückliche Präsenz Hegels in der Pop-Musik. Wer könnte das letzte anti-melodische Album vergessen, das der berühmte italienische Pop-Star Lucio Battisti 1994 Hegel widmete, mit dem Lied, das der Wiege des deutschen Idealismus, Tübingen, galt. Aber das Interesse der Musiker bleibt nicht dabei 57

Dazu siehe Vieweg (2019), S. 320 und 669. GW 18, S. 160. 59 Jaeschke (2003), S. 378.

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Abb. 3: Manu Invisible: Spirit, 40x8.5 m, Siloxane acrylics and spray on plaster (2020) Photo © Stefano Antonelli 2020

stehen, sondern geht weiter bis zu dem Love-song im Sadomaso-Stil der Kalifornierinnen Kegels for Hegel im Jahr 2011. Es ist jedoch die Literatur, in der die bedeutendsten Annäherungen und Auseinandersetzungen mit der Philosophie Hegels stattfanden und bis in unsere Tage vorhalten. Um nur einige zu nennen: Verbrechen und Strafe (1866) von Fjodor Michailowitsch Dostojewskij60, Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht (1867) von Henrik Ibsen61, die Hegel-Parodien wie die von Thomas Carlyle (Sartor Resartus, 1883), die Erzählung von Tolstoi62 (Herr und Knecht, 1895), Rainald Goetz (Katarakt, 1993), Wilhelm Genazino (Die Kassiererinnen, 1998) und Thomas Hettche (Pfaueninsel, 2014). Im Jahr 2020 erschien dann ein weiteres Buch, und zwar Francesco Baucias La notte negli occhi, das explizit Hegel gewidmet ist, aber nicht so sehr dem weltberühmten Professor, sondern dem privaten Hegel und seinen Geistern: Christiane und Ludwig. Was dabei herauskommt, ist ein nächtlicher Hegel. Das Verhältnis zu seiner Schwester, in seiner Jugend „sophokleisch“ und „heroisch“, nutzte sich im Laufe der Zeit ab, während sein unehelicher Sohn Ludwig eher ein Problem darstellte, das einer Lösung bedurfte. Zum ersten Mal haben wir in Baucias Buch das Privileg, die Gedanken dieses unglücklichen erstgeborenen Sohns zu verfolgen und nachzuverfolgen und seine emotionale Aberkennung in einer bürgerlichen Familie zu entdecken, die ihn trotz allem als „zweitklassigen Sohn“ annahm.63 Es reicht, dazu anzumerken, dass: „In den Lebenserinnerungen von Karl und Immanuel Hegel der […] Halbbruder Ludwig mit keiner Silbe erwähnt“ wird64, wie Klaus Vieweg in seiner Hegel-Biographie hervorgehoben hat. Die 60

Dazu Jones (1971). Siehe Gjesdal (2020). 62 Katsman (2021). 63 Baucia (2020), S. 79. 64 Vieweg (2019), S. 537. 61

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Literatur erinnert uns also daran, dass auch die familiäre Sphäre des Philosophen der Freiheit, dem wir die zeitgenössische soziale und politische Kultur der Anerkennung verdanken, nicht ohne Widersprüche war und ihre eigenen internen Dynamiken der Anerkennung/Aberkennung erfahren hat. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass Hegel in seiner Ästhetik selbst den Samen für eine philosophische Hermeneutik der zeitgenössischen Literatur legte. Auf dem Gipfel der Entmaterialisierung, die seine Ästhetik durchzieht, und zwar an der Spitze der Sukzession der einzelnen Künste, wird nämlich der Poesie eine Borderline-Rolle zugewiesen, da ihr Medium die Sprache ist, die sie mit der Religion und Philosophie verbindet und sie damit transversal macht. Die Literatur steht daher zwischen zwei Polen, der Prosa des Denkens (weshalb die Poesie über sich hinausgeht) und der Prosa des Gewöhnlichen (weshalb die gewöhnliche Welt Eingang in die Poesie findet), und läuft Gefahr, entweder hyper-theoretisch oder hyper-gewöhnlich zu werden65. Diese beiden von Hegel identifizierten Pole sind – wie Francesco Campana meisterhaft gezeigt hat66 – in der zeitgenössischen Literatur, die sich weiterhin gegen ihr Ende wehrt, noch deutlich spürbar. Tatsächlich ist gerade die Legende vom Ende der Kunst – mit ihren Unterarten Ende der Malerei, Ende der Literatur, Ende der Tragödie, Ende des Romans, Ende der Musik67 meiner Ansicht nach die beste von Hegels missverstandenen Theorien – diejenige theoretische Figur, die die meisten Hybridisierungen, Kontaminierungen, Fermente und Sporen hervorgebracht hat und weiterhin hervorbringen wird, was zeigt, dass der Einfluss Hegels, und besonders seiner Ästhetik – bewusst oder unbewusst, oberflächlich oder tiefgründig, frech oder unterschwellig – noch beachtlich ist.

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Zur Prosa der Welt und ihren Ausformungen siehe Kronick, der auf das Neunzehnte Jahrhundert in Amerika als „realization of the Hegelian world of Prose“ hinweist. Kronick (1991), S. 181 und S. 191. 66 Über das Ende der Kunst als das Ende der Literatur siehe Campana (2019). 67 Campana (2021); Wallraf (2021).

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