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German Pages [400] Year 2015
Csongor Lőrincz (Hg.)
Wissen – Vermittlung – Moderne Studien zu den ungarischen Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Der Herausgeber dankt Christina Kunze und Laura Paschirbe für Lektorat und Formatierung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Umschlag der Zeitschrift Nyugat. Mit freundlicher Unterstützung der Országos Széchényi Könyvtár Budapest © 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Wolfgang Fink, Graz Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth GmbH, Erftstadt Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: General Druckerei, Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22530-8
Inhalt
Einleitung ....................................................................................................... 7 Systematische und interregionale Kontextrahmen Ernő Kulcsár Szabó
Budapest – Wien – Berlin. Der Nyugat und die mitteleuropäische Moderne....... 17 Werden und Leben – Schreiben und Reflexion Hans Ulrich Gumbrecht
Essay, Leben, gelebte Erfahrung. Georg Lukács 1910 und die Situation der Literaturwissenschaft heute ...................................................................... 41 István M. Fehér
Der Nyugat und die Philosophie ..................................................................... 59 Csaba Olay
Die Kulturtragödie menschlicher Existenz beim jungen Lukács..................... 93 Csongor Lőrincz
System, Form, Medium. Philosophische und ästhetische Konzeptualisierungen in den 1910er Jahren in Ungarn (Georg Lukács, Béla Zalai, Lajos Fülep)................................................................................... 113 Csongor Lőrincz
Provozierte Ästhetik. Gedächtnis und Moderne bei Lajos Fülep .................... 151 Hajnalka Halász
Die unmögliche Existenz des Systems und die Singularität des Gesetzes. Béla Zalais Allgemeine Theorie der Systeme ........................................................ 179 Literaturgeschichtsschreibung: Temporalität, Sprache und Medialität István M. Fehér
Literaturgeschichte ohne Ästhetik? Zur Literaturtheorie-Auffassung des jungen Lukács ........................................................................................... 215
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Ágnes Hansági
Die Theorie der Literaturgeschichte bei Mihály Babits und Béla Fogarasi in den 1910er Jahren ....................................................................................... 227 Zoltán Kulcsár-Szabó
Das „Grundverhältnis“ bei János Horváth und Theodor Thienemann ............. 243 Mediale Kulturtechniken Attila Simon
Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen Altertumswissenschaft im 20. Jahrhundert.................................. 263 Tamás Demeter
Scholarship and the Medium of Thought. On the growing interest in communication in Fin-De-Siècle Hungary ..................................................... 287 Péter Szirák
Die „Gesellschaftlichkeit“ der Technik. Aus dem Archiv von István Hajnal................................................................................................... 303 Intermedialität, Psychotechniken, Anthropologie Robert Smid
„Die Introjektions- und die Projektionsmaschinen“ Freud, Ferenczi, and the Idea of Machinic Temporality ............................................................ 323 Tamás Lénárt
Die Transparenz der Bilder. Über Béla Balázs ................................................. 355 Izabella Füzi
Face or Ornament of the Masses? Balázs with Kracauer ................................. 365 Autorenverzeichnis ......................................................................................... 391 Personenregister.............................................................................................. 395
Csongor Lőrincz
Einleitung Historisch-regionale und kulturelle Kontexte der Wissensproduktion in Zentraleuropa In der historisch-kulturellen Realität Zentraleuropas hat man bekanntlich mit mehrfachen kulturregionalen Kreuzungen und Zusammenhängen zu tun, die jegliche wissenschaftliche Reflexion ihrer selbst immer schon mitprägen. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine wie auch immer geartete „Determination“, vielmehr stellen sich neue und lebendige Fragen gerade infolge der interkulturellen Situiertheit und Einbettung des Selbst- und Fremdverstehens. Der wissenschaftlichen Erkundung gehen von vornherein kulturelle Codes voran, die die Motivation gewisser Fragen beeinflussen und steuern. Das Interkulturelle ist in Mitteleuropa mit dem Transkulturellen auf eine besondere Art verwoben, was Prozessen zu verdanken ist, die sich als mehrfach kulturüberschreitend erwiesen haben. Da sind etwa die verschiedenen imperialen Staatsgründungen und -bildungen, die einerseits im Spannungsfeld mehrerer kultureller und politischer Traditionen erfolgten, andererseits aber auch starke kulturalisierende Bestrebungen hervorriefen, deren Scheitern eine komplexe, durch keine „Landkarte“ erfassbare Kulturlandschaft geschaffen bzw. weitergestaltet hat. (Etwa in diesem Sinne hat Christoph Ransmayr geschrieben: in diesem Mitteleuropa „liegt Böhmen am Meer und Triest im Gebirge“.1) Die Interpretation zentraleuropäischer Kulturzusammenhänge muss folglich eine Reihe von Ebenen berücksichtigen: geschichtliche Erfahrung in sozialpsychologischer Perspektive, kulturanthropologische Aspekte der Fremdheitserfahrung, Übersetzung als interkulturelle Begegnung, Spannungen zwischen Nationalkulturen und Internationalisierungsvorgängen, Tradition und Transkulturalität im jüdisch-mitteleuropäischen Kontext, religiöse Traditionsvielfalt und Ethnizität als kulturprägende Faktoren u. a. Die heutige „Post“-Situation interkultureller Differenzen und Verflechtungen hat Fragen und diskursive Öffnungen zur Folge, aber auch Verschließungen, die zu reflektieren und zu erschließen sich einer Kulturwissenschaft aufdrängt, die in der Erfassung kultureller Räume, Tendenzen und den entsprechenden epistemischen Wissensformationen im besonderen Maße sensibilisiert wird. Und zwar in dreifa1 In: Christoph Ransmayr (Hg.), Im blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa, Wien 1985, S. 10.
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cher Hinsicht. Denn diese sind voneinander nicht nur nicht zu trennen, sondern ihre wechselseitige Angewiesenheit aufeinander macht die primäre Selbstreflexion der wissenschaftlichen Annäherung aus. Es gilt demnach, der inter- und transkulturellen Bewegtheit der Region in drei miteinander verschränkten Spielräumen nachzugehen, d. h.: die Bewegung des Begriffes zu vollziehen, also auch kulturell vorgeprägte Denkgebilde zu interpretieren (Ideengeschichte), die Bewegung der Bedeutung, also die technomediale Verfasstheit der Kultur und der Wahrnehmung in Medien und Texten, die Arbeit der sichtbaren Sprache mit Bedeutungen und an Bedeutungen nachzuzeichnen (Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft) und schließlich die Bewegung des Geschehens, also das Transitorische und den Werdenscharakter des Kulturellen, gar der anthropomedialen Gestalten des Mensch(lich)en zu erschließen (Geschichtswissenschaft und Anthropologie). Die Verflechtungen zwischen dem Inter- und dem Transkulturellen zu erfassen und zu interpretieren ist einer Kulturexegetik aufgegeben, die der genannten dreifachen Perspektiviertheit der Erkundung kultureller und historischer Zusammenhänge, Diskurse, Sedimentierungen und Horizonte gerecht wird. Kulturregionale Aspekte der zentraleuropäischen Moderne können von vornherein nur durch die Reflexion bestimmter Figuren der Lesbarkeit der Geschichte in Medien und Texten erfolgen. In diesem Unterfangen fallen der Kunst und der Literatur eine besondere Rolle zu, denn diese legen etwas frei, das weder in noch durch eine kulturelle Selbstreflexion eingefangen werden kann, sie eröffnen Möglichkeiten des Verstehens des Fremden, die anderswo nicht bestehen. In ihnen wird sichtbar, dass „Fakten“ immer schon „interpretierte“ sind und durch plurale Deutungstransfers in die Gegenwart überliefert werden. Interkulturelle Bewegungen spielen sich auf eine besonders lehrreiche Art in oder zwischen Texten ab, wo ein Text einen anderen liest, damit aber in eben dieser Lektüre auch kulturell-mediale Codes mitliest. Die Interaktionen zwischen dem Geschichtlichen und der in Texten markierten und in Texte eingeschriebenen Referenz machen erkennbar, dass die Texte als fakteninterpretierende Tradition genauso zu eben diesen Fakten gehören wie die Ereignisse und Strukturen selbst. Das Geschichtliche ist immer schon durch mehrere mediale und diskursive Brechungen zugänglich. Dies hat keineswegs in „Meinungen“ seinen Ursprung, vielmehr werden kulturell-mentale Strukturen von Technologien und Medien mitgeprägt, die nicht von Subjekten abhängen, aber auch nicht frei zur Wahl stehen, sondern Konstitutionsbedingungen der Wahrnehmung und der Bedeutungen sind. In diesem Sinne wäre die jeweilige Vermitteltheit von Welt und Geschichte zu erforschen, mithin zu erarbeiten, in welcher Weise das Mediale das Kulturelle beeinflusst und umgekehrt. Es wären mediale Codes – technische Speicher- und Übertragungssysteme und ihre Auswirkungen auf Wahrnehmung und Sprache – zu befragen, inwieweit sie (inter)kulturelle Sedimentierungen konstituieren, gestalten
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oder eben auch befestigen. Insofern aber die Sprache in ihren ästhetischen Möglichkeiten immer schon ein Bild von den kulturellen Techniken ausbildet und diese in einer bestimmten Weise „liest“, ist das eine Chance für die Literatur, denn sie stellt das Andere der Kultur, d. h. eine materielle Herausforderung des Verstehens dar, die dank seiner gegenständlichen Seinsweise, mit Hegel gesprochen seinem „Vergangensein“,2 in keinem kulturellen Selbstverständnis aufgeht. Auf eine andere Weise lässt sich die Bewegung des Begriffes auch von keiner kulturellen Grammatik einschränken, vielmehr überschreitet sie diese, um Erkenntnismöglichkeiten zu erproben, die es sonst nicht gäbe. Aber auch das geschichtliche Ereignis ergibt sich nicht nur aus Gegebenheiten der Kultur, sondern ist sehr wohl im Stande, diese – in seinen interpretationsbedürftigen Auswirkungen – erst zu schaffen bzw. zu verändern, zu modifizieren. Geschichte wäre demnach eine Möglichkeit, über die kulturgebundene Zeitlichkeit hinauszugehen und deren temporell-wirkungsgeschichtliche Ermöglichung aufzuzeigen. All diese Transgressionen oder Überschreitungen sind auf eine Weise mit dem Interkulturellen verbunden, die sich nur in diesem kulturrelativen Raum interpretieren lässt. Sie führen aber zugleich zu transkulturellen Konstellationen, die – gerade weil sie keine bloßen Gegebenheiten des „objektiven Geistes“ darstellen – ein produktives Verständnis der interkulturellen Verflechtungen überhaupt erst ermöglichen. Genau diese Interdependenzen und -relationen haben eine rege und impulsgebende Produktion bzw. Diskursivierung des Wissens in Zentraleuropa, hier vor allem im damaligen Ungarn, angespornt. Die dadurch imprägnierten Aspekte umfassen: ideengeschichtliche Dimensionen und methodologische Aspekte der Geisteswissenschaften (in Abwendung von der positivistischen und historistischen
2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (= Theorie Werkausgabe Bd. 13), Frankfurt a. M. 1970, S. 25. Hegel war übrigens der wichtigste Vorläufer der heutigen Kulturwissenschaft, der Entdecker der „kulturwissenschaftlichen Prosa“ (Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2001), aber gerade er hat damit auch darauf aufmerksam gemacht, dass sich Kunst und Literatur in die Subsysteme der Gesellschaft nicht eingliedern lassen: die Kunst war ihm zufolge etwas „Vergangenes“, ein nicht mehr selbstverständliches Glied in der Lebenswelt. Die Effekte des Vergangenseins kann man bei prominenten Autoren auch an der Jahrhundertwende beobachten, bei Hofmannsthal, Musil und Rilke. – Dies würde Perspektiven eröffnen, den zu dieser Zeit allgemein (auch im kulturellen Selbstverständnis) dominanten Ästhetizismus aus einer medialen, dem Eingeschriebensein der Texte entsprechenden Sichtweise neu zu interpretieren. (Vgl. hierzu vornehmlich mit Blick auf den ungarischen Kontext Csongor Lőrincz, Ästhetisierung der Sprache. Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts (um 1895–1932), in: Ernő Kulcsár Szabó [Hg.], Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung, Berlin/Boston 2013, S. 292–380.)
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Tradition des 19. Jh.s),3 Kulturwissenschaft als hermeneutische Disziplin, Erforschung von medialen Kulturtechniken (vom lauten Lesen bis zum Kino), philosophisch-anthropologische Erkundungen.
Wissenskonstellationen in Komplexen von Geschehen, Wahrnehmung, Medium und Bedeutung Die sowohl historisch als auch kulturell (sozio- wie interkulturell) vielfach gebrochene Welt der Monarchie – durch die Intensivierung im Zeichen der Moderne – hat sich auf die kultur- und geisteswissenschaftliche Wissensproduktion in mehreren Hinsichten ausgewirkt. Hinter diesen Prozessen wirken Momente der Beschleunigung, des „Werdens“ und der Temporalisierung der Wahrnehmung, zu deren Intensivierung die neuen technomedialen Dispositive, Aufschreibesysteme und Praktiken stark beigetragen haben.4 Diese Vorgänge waren ja für viele Teile von Europa von Bedeutung, in der multikulturellen Welt der Monarchie haben sie aber in Verbindung mit der „gebrochenen Kommunikation“, der „sprachlichen Inkommensurabilität“5 spezifische Impulse gezeitigt. Es geht nämlich darum, dass sich der Werdensaspekt der Wahrnehmung und des Geschichtlichen in dieser Region in signifikanter Weise auch als die Brüchigkeit von kulturellen Informationen und Kommunikationen bzw. deren Codierungen und Vermittlungen erwiesen hat.6 Und zwar nicht nur als deren Brüchigkeit (das würde nur die kulturkritische Volte der betreffenden Diskurse erklären), sondern als die Latenzen dieser Informationen und Kommunikationen. Eine Art Latenz des Geschehens selbst wirkt hinter oder in der Subversion der kulturellen Codierungen (von Geschichte, Politik und Kunst),7 welche Latenz auch 3 Vgl. hierzu den Überblick von István M. Fehér über die philosophische Orientierung in der Zeitschrift Nyugat. 4 S. zu diesen integrativen Aspekten einer Archäologie der europäischen Moderne (in komparativer Perspektive) den diesen Band eröffnenden Aufsatz von Ernő Kulcsár Szabó. 5 Vgl. hierzu Kristóf Nyíri, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, in: ders., Vernetztes Wissen. Philosophie im Zeitalter des Internets, Wien 2004, S. 15–31. S. ferner die Schlussüberlegungen des Aufsatzes von Tamás Demeter in diesem Band. 6 Die soziokulturellen bzw. wissenssoziologischen Deutungsformate (Nyíri und Demeter) reichen als solche also noch nicht aus, sie müssen mit einem umgreifenderen Temporalitätsverständnis in Bezug auf die Moderne und deren Implikationen korreliert werden (im Sinne der Grundthese von Ernő Kulcsár Szabó). 7 Zur – in der Fachliteratur übrigens erstmaligen – funktionalen Korrelation von Latenz und Ereignis vgl. den Sammelband Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz (hrsg. v. Zoltán Kulcsár-Szabó/Csongor Lőrincz, Bielefeld 2014), hier vor allem die Einleitung (ebd. S. 9–20).
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kulturkritisch-tragische Lesarten hervorgerufen hat.8 Erst vor diesem Hintergrund können die zahlreichen zentraleuropäischen Thematisierungen und Problematisierungen des Wissens selbst von Latenzkonzepten her (zugleich auch in Verbindung mit der Medialisierung der Wahrnehmung!) verstanden werden (von der Psychoanalyse über die Wissenssoziologie Karl Mannheims bis zum Begriff des „impliziten Wissens“ bei Michael Polanyi). Diese Latenzen kommen aber nicht einfach von außen in die kulturellen Welten hinein – daher gibt es keinen sachlichen Gegensatz zwischen der provinziellen Abstammung, den entsprechenden Mentalitätsprinzipien der meisten innovativen Schriftsteller, Künstler der ersten Nyugat-Generation,9 aber auch Wissenschaftler (man denke im vorliegenden Zusammenhang etwa an Béla Zalai, Lajos Fülep, Béla Balázs, István Hajnal) und den Reflexionsfiguren der transnationalen wie -kulturellen Vorgänge. Denn die erwähnten Latenzen erweisen sich auch als die Latenzen, gewissermaßen auch als die potentiellen Erben jener kulturellen und Lebens-Welten, die bei aller Multikulturalität in räumlich-zeitlichem Sinne doch auffällig stark gegliedert waren, gleichsam als konkret-autochthone Mikrowelten, mit den entsprechenden Lebensformen, Mentalitätsweisen, Sozialisierungsinstanzen, Zeiterfahrungsdimensionen und kulturellen Gedächtnissen. Das stand freilich im Zusammenhang auch mit dem prägnanten Entwicklungsgrad der regionalen Formen des Bürgertums auf der einen und der eher schwach entwickelten Industrialisierung auf der anderen Seite. Die mit dem zentraleuropäischen Denken in Zusammenhang gebrachte „konservative Anthropologie“10 ist höchstwahrscheinlich auf diese soziokulturellen Verfasstheiten zurückzuführen. Diese Auffassung hat nämlich die Verabschiedung der liberalen Anthropologie und ihres Subjektkonzeptes, die Emergenz der Einsichten in die Vermitteltheit jeglichen Welt- und Selbstverhältnisses und seines überindividuellen Charakters begünstigt.11 Das hat zu Redefinitionen des Perspektivismus geführt, etwa die Begriffe „System“ (Zalai),12 8 Zum zuletzt politisch radikalsten Vertreter einer Art „Tragödie der Kultur“, zu Georg Lukács, s. die Aufsätze von Hans Ulrich Gumbrecht und Csaba Olay. 9 Vgl. hierzu Mihály Szegedy-Maszák, Conservatism, Modernity, and Populism in Hungarian Culture, Hungarian Studies 9 (1994), S. 15–37. Und Lőrincz, Ästhetisierung der Sprache. Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts, S. 293-295. 10 Vgl. Janos Cristof Nyíri, Am Rande Europas. Studien zur österreichisch-ungarischen Philosophiegeschichte, Wien/Köln/Graz 1988, S. 10–39. 11 Vgl. hierzu noch einmal den Aufsatz von Demeter zu einer Reihe von einschlägigen Autoren, ferner die Studie zu István Hajnal von Péter Szirák. 12 Die Wirkung von Zalais Systembegriff repräsentieren u. a.: die Wissenssoziologie von Karl Mannheim und die Kunstsoziologie von Arnold Hauser (zu Parallelen und Unterschieden zur Systemtheorie von Niklas Luhmann vgl. den Beitrag von Hajnalka Halász). Michael Polanyis Konzept des „impliziten Wissens“ (tacit knowing) geht zwar nicht ausweisbar auf Za-
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„Weltanschauung“ (Mannheim),13 „Gesellschaftlichkeit“ (Hajnal) enthalten historisch-kulturelles und medial ermöglichtes – auch kommunikativ-performatives – Handeln als Bezugsgrößen (nicht nur kognitive Aspekte). Eine Reihe von zentralen Begriffen der ungarisch(stämmig)en Autoren betonen nämlich genau diesen überindividuellen und historisch-erbbehafteten Aspekt (Weltanschauung, Weltansicht, System, Gedächtnis, literarisches Grundverhältnis u. a.). Das aber steht wiederum in signifikanter Verbindung mit dem gleichsam lebensphilosophischen Pendant der Latenzdimension, hier vor allem mit deren Grenzbereichen zwischen Kognition und nicht-bewussten Dispositionen, was sich an der intensiven Erforschung von Prozessen, Strukturen und Medien der Intuition,14 gar der Invention ablesen lässt. Einige wichtige und zukunftsweisende (strukturell zusammenhängende) Tendenzen der ungarischen Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900 lassen sich demnach wie folgt benennen:
lai selbst, sehr wohl aber (und zwar eingestandenermaßen) auf das entsprechende diskursive und Wissensklima zurück, in dem sich auch der junge Polanyi bewegt hat. Die „phänomenale Struktur des impliziten Wissens“ wird von Polanyi folgendermaßen beschrieben: „Wir kennen den ersten Term nur, insofern wir uns auf unser Gewahrwerden dieses ersten Terms verlassen, um den zweiten zu erwarten.“ „… wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieser anderen gewahr.“ Das hat auch mit Singularisierungsvorgängen in Bezug auf das epistemologische Objekt zu tun: „Wenn eine Physiognomie eine besondere Stimmung ausdrückt“ (Michael Polanyi, Implizites Wissen, Frankfurt a. M. 1985, S. 18–20). Vgl. an dieser Stelle Palágyis Wahrnehmungslehre: „Wenn wir nämlich die Person A betrachten, so ist unsere direkte Einbildung durch ihre Gesichtszüge gleichsam in Fesseln gelegt; plötzlich aber lösen sich diese Fesseln, und unser Gesicht springt von der reellen Gestalt ab, die vor uns steht, um für einen Augenblick bei den Zügen einer anderen Person zu weilen, die wir vielleicht im fremden Lande und schon vor vielen Jahren gesehen haben.“ (Wahrnehmungslehre, Darmstadt 1925, S. 81–82.) Nicht nur das Erkennen, auch die Wahrnehmung selbst ist ohne virtuelle Vorgängigkeiten (eine Art „Déjà-vu“) nicht zu denken. (Zum „Déjà-vu“ vgl. die Studie von Csongor Lőrincz zum ästhetischen Gedächtnistheorem von Lajos Fülep). 13 Zu Mannheim siehe die verdienstvolle Monographie von Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2003. Am Ende dieser gründlichen Arbeit verbleibt freilich die Frage, wie denn die Vorstellung von der „freischwebenden Intelligenz“ (Mannheim) mit den existentiell-erbbehafteten Strukturmomenten jeglichen Perspektivismus (gerade im Zeichen der „Weltanschauung“) zu vereinbaren ist. Das Gespenst Carl Schmitts (mit der Betonung der „konkreten Ordnung“) wird man hierbei nicht loswerden (so endet das Buch von Laube folgerichtig auch mit einer erneuten – signifikanterweise sowohl ungewollten wie polemischen – Heraufbeschwörung Schmitts). 14 Vgl. hierzu den Aufsatz von István M. Fehér zu Georg Lukács’ Auffassung der Literaturgeschichtsschreibung, ferner den Beitrag von Csongor Lőrincz zu Béla Zalais logischer Erkenntnistheorie.
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1. Relativierung von Rationalismus und Bewusstseinsphilosophie und Neusituierung der Frage nach dem Status und der Seinsweise von Wissen Dies zeigt sich vor allem an der Elaborierung von Konzepten des unbewussten Wissens (Sándor Ferenczi, Mitstreiter von Freud, Melchior Palágyi, ferner Béla Zalai, Karl Mannheim, Michael Polanyi). Hierbei erfolgt die Medialisierung und Temporalisierung des Wissens maßgeblich von der Medialisierung und Temporalisierung der Wahrnehmung her, wo eine Virtualität des menschlichen Wahrnehmungsapparates sowohl von historisch-kulturellen Konditionen („Soziologie des Wissens“) als auch von der Leiblichkeit her freigelegt wird (s. z. B. „Phantasie“, „implizites Wissen“), die eine nicht mehr auf liberalen Grundlagen gedachte Plastizität des Anthropologischen zu denken erlaubt. Diese Tendenz ist stark imprägniert von den zeitlichen Aspekten des Wissens, auch des Verstehens, also seiner hermeneutischen Seinsweise (explizit etwa bei Béla Fogarasi).15
2. Reflexion der medialen Kulturtechniken, überhaupt der Kommunikation und der Kritik der Sprache Dieses Feld wurde vor allem in den Werken von Palágyi, Zalai, Theodor Thienemann, István Hajnal und Béla Balázs (bzw. weiteren Autoren) erschlossen und untersucht. Die Quasi-Notwendigkeit dieser Thematik infolge des modernen Wahrnehmungs- und medialen Hintergrundes und der Insistenz des Problems der kulturellen Vermittlung in der Monarchie wurde bereits oben angemerkt. Hier kann nicht zuletzt die Erforschung z. B. des lauten Lesens in der Klassischen Philologie hervorgehoben werden,16 die ihren Impetus zweifelsohne aus einer Abkehr vom Subjekt(ivitäts)begriff der Innerlichkeit, also bestimmter Subjektkonzepte des bürgerlich-liberalen 19. Jh.s erhält. In den am meisten ausgearbeiteten Ansätzen wurde die kommunikative Dimension der Medialität in einer profunden historischen Betrachtungsweise (bezüglich einer integrativen Geschichte des Abendlandes) untersucht, das „literarische Grundverhältnis“ bei Thienemann17 und die „Gesellschaftlichkeit der Technik“ bei Hajnal. 15 Zur Kritik des neokantianischen Wert- und Geltungsbegriffes von einem hermeneutisch gefassten Historizitätskonzept her bei Fogarasi vgl. den Aufsatz von Ágnes Hansági. 16 Zu József Balogh und zu anderen, auch international rezipierten ungarischen Vertretern der Klassischen Philologie, resp. zu ihren kommunikations- und medialitätstheoretischen Voraussetzungen s. den Beitrag von Attila Simon. 17 Vgl. hierzu aus einer umfassenden Perspektive der Literaturwissenschaften des 20. Jh.s den Beitrag von Zoltán Kulcsár-Szabó.
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3. Interdisziplinäre Wissenspraktiken Die Wissenskulturen der Region waren intrinsisch auf eine multi- und interdisziplinäre Orientierung hin angelegt gewesen. Ferner ist die Vielgestaltigkeit des „Werdens“ zwischen Natur und (kulturell codierter) Wahrnehmung dafür verantwortlich, dass das von dieser doppelten Einwirkung affizierte Wissen auch in methodologischer Hinsicht multiperspektivisch verfasst ist (die beiden wichtigsten Vertreter einer Gratwanderung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sind Melchior Palágyi und Michael Polanyi). Es gibt natürlich nicht nur kein disziplinäres, sondern auch kein mediales Monopol mehr infolge des mediengeschichtlichen Hintergrundes (Ausdifferenzierung der Medien). Diese historische Schwelle des „Aufschreibesystems 1900“ (Friedrich Kittler) hat im damaligen Ungarn eine Reihe von äußerst produktiven Interaktionen zwischen den „zwei Kulturen“ hervorgerufen.18
4. Anthropologische Modellierungen Ein ganzes Spektrum von anthropologisch orientierten Ansätzen ist im hier interessierenden Diskursraum zu entdecken. Im Rahmen der „Wahrnehmungslehre“ im Zeichen des Werdens hat Palágyi eine Virtualität (einer leiblichen Phantasie), Zalai in seiner Sprachtheorie eine Plastizität („plastische Kraft“ mit Nietzsche genannt) in den Fokus gerückt, die kardinale Folgen haben auch für die philosophische Anthropologie (Palágyi wurde nicht umsonst von Gehlen und Plessner zitiert). Hajnals kommunikationsgeschichtliche Erkundungen der „Kommunikations- und der Denktechniken“ im Rahmen einer umfassenden Geschichte der Neuzeit erweisen sich als unentbehrliche Beiträge zu einer historischen Anthropologie (etwa in Bezug auf die kulturell-wirtschaftlich-mentalitätshistorische Emergenz von „Individualität“). Grundsätzliche Voraussetzungen der Psychoanalyse Sándor Ferenczis zielen z. B. auf prothetische Aspekte des psychischen Apparates, die mit dem Unbewussten in einer komplexen Vermittlungsverbindung („Telepathie“) stehen und wesentliche Momente des anthropologischen Verhaltens in einem heute auch aktuellen Licht erscheinen lassen (von somatischen über materielle bis zu imaginären Elementen).19 Balázs’ Filmtheorie, die auf der Geste 18 Palágyi zählt heute zu den maßgeblichen Vertretern einer „kybernetischen Anthropologie“ (im gleichnamigen Buch von Stefan Rieger, mit dem Untertitel „Eine Geschichte der Virtualität“, Frankfurt a. M. 2003). 19 Zu Ferenczi und einem ganzen Spektrum der Relationen zwischen Psychoanalyse, Lebens-, Technik- und Medienwissenschaften bis zur Anthropologie Leroi-Gourhans s. den Beitrag von Róbert Smid.
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aufbaute (Der sichtbare Mensch), liefert wichtige Bausteine zu einer Bild-Anthropologie.20 Sie enthält aber auch Implikationen für Medien-, Sozial- und politische Anthropologie, zumal in einer Kontrastierung mit den beiden wichtigen zeitgenössischen Theoretikern der Masse und ihrer Repräsentationen, mit Benjamin und Kracauer.21
20 S. hierzu den sowohl bild- wie zeichentheoretisch operierenden Aufsatz von Tamás Lénárt, u. a. mit Reflexionen auf die Medienkonkurrenz, deren Gedanke Balázs’ Position inhärent war. 21 S. den Vergleich Balázs – Kracauer und seine begriffsgeschichtlichen wie referentiellen Kontexte im Beitrag von Izabella Füzi.
Systematische und interregionale Kontextrahmen
Ernő Kulcsár Szabó
Budapest – Wien – Berlin Der Nyugat und die mitteleuropäische Moderne Nur teilweis zucken alle Flammen Endre Ady: Wagenfahrt in der Nacht Das Feuer ist gar kein Körper, sondern ein Vorgang. Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum … daß also unsere Welt in der Tat, wenn nicht aus uns erschaffen, so doch von uns mitbestimmt wird und darum wirklich, so wie sie uns erscheint, durch uns erst entsteht und mit uns wieder vergeht … […] … daß alles ewig fließt, eines in das andere verrinnt und in unablässiger Verwandlung nur immer wird, niemals ist. Hermann Bahr: Dialog vom Tragischen
In der Rezeption des Nyugat ist sie seit Langem ungeklärt: die Frage nach dem Verhältnis zwischen der kulturellen und der literarischen Erneuerung. Je öfter über diese Frage reflektiert wird, desto komplizierter scheint sie zu sein, und auch das, worüber man sich allgemein einig ist – dies ist durchaus vorhanden, aber gerade deswegen fragil – erweist sich heute eher als oberflächliches denn als von fundierter Forschung gestütztes Wissen.1 Genauer betrachtet handelt es sich darum, dass nicht klar erwiesen ist, ob die literarische Erneuerung Teil einer umfassenderen kulturellen Umgestaltung war, oder ob im Gegenteil die letztere eine Umformung des Antlitzes der ererbten literarischen Tradition zur Folge gehabt hätte. Vielleicht steckt auch eine gewisse Ratlosigkeit hinter der methodischen Großzügigkeit, mit der die Fachliteratur zum Nyugat das Dilemma, ob die Kulturfrage zunächst im literarischen Horizont aufgekommen oder ob die Literatur selbst – genauer genom1 Das Risiko dieses Interpretationsversuchs liegt vor allem darin, dass man sich nicht einmal im Hinblick auf die Verknüpfbarkeit der Erscheinungen von Kultur und Literatur ganz sicher sein kann. Nicht nur Benn, sondern auch Heidegger waren der Ansicht: „Die Kunst gilt weder als Leistungsbezirk der Kultur, noch als eine Erscheinung des Geistes, sie gehört in das Ereignis, aus dem sich erst der ‚Sinn vom Sein‘ […] bestimmt“ (Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1994, S. 73).
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men deren Potenzial des Seinsverstehens – zum kulturellen Problem geworden sei, üblicherweise in der Gegenseitigkeit der Ereignisstruktur parallel ablaufender Prozesse betrachtet und derart als gelöst ansieht. Inmitten dieser Prozesse und von ernsthaften Rivalen umklammert, ist der Zeitschrift selbst freilich weniger vorzuwerfen, dass sie sich in dieser Angelegenheit noch zu ihrem 30. Jubiläum in offensichtliche Widersprüche verwickelt. Denn während sie einerseits als ihr einziges Leitprinzip betrachtet, die Freiheit der schriftstellerischen Äußerung gegen „jeglichen außerliterarischen Einfluss“ zu schützen, will sie „Glauben und Selbstvertrauen“ aus der Kontinuität dessen schöpfen, „dessen Ziel dasselbe ist wie zu Beginn: für eine ungarische Literatur zu arbeiten, die sich in die westeuropäische Kultur einfügt“.2 Der kurze Redaktionsartikel behauptet so, dass die Literatur autonom sei, und zugleich, dass sie sich notwendig in ein optimales Kulturmodell einfügen müsse. Wenn nämlich die Geltendmachung der Forderung nach kultureller Einfügung nicht als äußere Beeinflussung der Literatur gilt, muss Literatur logischerweise zwangsläufig mit der Kulturalität in eins fallen. Sind aber die beiden letzteren doch nicht als identisch anzusehen, muss die Autonomie der Literatur eine Eigenschaft eines Kulturmodells sein, das im Ungarn des Jahrhundertbeginns nicht (ganz und gar) gültig ist. Mit anderen Worten: Die Autonomie des literarischen Systems ist in dieser Interpretation wiederum nur um den Preis zu gewährleisten, dass es unter äußeren Einfluss gestellt wird, der dann als höheres Integrationssystem der Kulturalität für die Freiheit des dichterischen Wortes bürgen würde. Dann allerdings können Kultur und Literatur nicht deckungsgleich sein. Eine Folge des ungeklärten Verhältnisses von Kultur und Literatur ist freilich auch, dass der Nyugat teils der Ideologie folgt, dass die Erneuerung der Literatur selbst die Modernisierung der Lesergeschmacks hervorruft, teils aber betont, dass das innovative Potenzial seine Existenzbedingung nur in der Aufgeschlossenheit einer bereits bestehenden, schmalen bürgerlichen Leserschicht hat. Die Verknüpfung der beiden Bedingungen geschieht über ein psychologisch-physiologisches Medium mit unscharfer Bedeutung, das anfangs mit den Metaphern der Sensibilität des „Nervenlebens/ nervlichen Lebens“,3 von den zwanziger Jahren an aber 2 Harmincadik évfolyam [Dreißigster Jahrgang], Nyugat 1937 I, S. 1–3, hier S. 3. 3 „Die ‚Moderne‘ ist die bedeutendste, wunderbarste Kultursituation. Stelle ich mir die Menschheit in der Evolution als eine lange Kolonne vor, die über Berg und Tal in unbekannte Gegenden zieht, dann sind die Modernen die erste Reihe. Sie sind es, die den ersten Schritt ins Unbekannte gehen, die Aug in Auge dem Chaos gegenüberstehen, aus dem langsam und kontinuierlich der neue Mensch geboren wird. […] Der erste! Ich empfinde ein beinahe religiöses Schaudern, wenn ich dies intensiv bedenke. […] Es ist sehr verständlich und sehr ernst zu nehmen, dass die Modernen sich in Sekten ähnlich religiösen Sekten zusammengerottet haben, dass sie sich auserwählt fühlen und sich etwas einbilden auf
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eher mit der Bezeichnung „(neues) Lebensgefühl“4 versehen wird. Dieses besonders ausgezeichnete anthropologische Medium der literarischen Kommunikation5 war hervorragend geeignet, die neuen Erfahrungen und den anfangs nicht leicht artikulierbaren Inhalt der Moderne zu benennen, und liefert dabei mittelbar einen der überzeugendsten Beweise dafür, dass der Nyugat das Wesen der ästhetischen Erfahrung noch entschieden gemäß den Zusammenhängen des 19. Jahrhunderts interpretierte. Nicht nur dadurch, dass er der Literatur – trotz ihrer oben betonten Unabhängigkeit – die Aufgabe zuwies, die im soziokulturellen Raum aufgetauchten neuen Lebensinhalte zur Rede zu bringen,6 sondern auch dadurch, dass diese die Empfindsamkeit ihrer vibrierenden Nerven wie auf deren ekstatische Visionen und das Genie des Künstlers“ (Béla Balázs, Művészetfilozófiai töredékek (Folytatás) VI [Kunstphilosophische Fragmente, Fortsetzung], in: Nyugat 1909 II, S. 157f; Hervorhebungen: E. K. Sz.). 4 „Auf diese Weise verlieren die Dinge ihre felsenartige Starre, sie bekommen eine schwebende Freiheit und einen inneren Schein. Beim Dichter wird diese Betrachtung von einem demütigen, metaphysischen neuen Lebensgefühl begleitet. Die ungewohnten neuen Verbindungen geben der Seele ästhetischen Genuss, und auch das besondere Schaudern tat wohl, das die symbolistische Lockerung der Welt der sinnlichen Erfahrungen bot“ (Aladár Komlós, Ady Endre, in: Nyugat 1926 I, S. 103; Hervorhebungen: E. K. Sz.). 5 Hermann Bahr erwartete schon 1891 von einer „nervösen Romantik“, dies konkretisierend von einer „Mystik der Nerven“ den Sieg über den Naturalismus und meinte, dieser „neue Idealismus“ der Moderne werde vor allem dem „Gebot der Nerven“ folgen. Aber das „nervliche Leben“ steht auch bei ihm eher in Opposition zur äußeren Ausrichtung des Naturalismus. Während er die anthropologische Erfahrung, die die Veränderung des Verhältnisses zur Welt bezeichnet, „von innen“ unmissverständlich physiologisiert, betont er zugleich nicht ihre Medialisiertheit oder Vermitteltheit, sondern nur ihre semantische Unzugänglichkeit: „Der neue Idealismus drückt die neuen Menschen aus. […] Sie erleben nur mehr mit den Nerven, sie reagieren nur mehr von den Nerven aus. Auf den Nerven geschehen ihre Ereignisse und ihre Wirkungen kommen von den Nerven. Aber das Wort ist vernünftig oder sinnlich; darum können sie es bloß als eine Blumensprache gebrauchen: ihre Rede ist immer Gleichnis und Sinnbild“ (Hermann Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887−1904, Stuttgart 1968, S. 88f ). Zugleich ist hier gut zu sehen, dass das gehäuft verwendete Schlagwort des neuen Zeitalters sich zugleich selbst in mindestens zwei Kontexte einfügt. Es ist, sich selbst manchmal sogar korrigierend, in der Lage, teils in einem Horizont des 19. Jahrhunderts, teils in einem des Jahrhundertendes zu sprechen. 6 József Kiss, so schrieb Ignotus 1908, sei „da am stärksten, bedeutet da bei uns Neuheit und Sieg und hat unserer Nationalliteratur sein eigenes Siegel dort aufgedrückt (denn das tat er gewiss), wo der von einem Flair der Industrie und des Handels umgebene heutige Mensch aus ihm spricht, der anders fühlt, anders leidet, auch die Natur anders ansieht als der, sozusagen, Zögling einer agrarischen Welt, und wo er seinem Gömörer Wortschatz für all dies einen neuen Ton, einen neuen Rhythmus entlockt. Und darin ist er bei uns niemandes Nachfolger, am wenigsten einer jenes János Arany, der die städtische Entwicklung mit der Zurückhaltung der mit dem Mutterboden zusammengewachsenen
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Subordination mit schon damals als recht naiv geltenden hermeneutischen Implikationen durchgeführt wurde. Da der Leser in der Kunst nach Ignotus’ Auffassung nur auf das „Ebenbild“ seiner individuellen „Seele“ resoniert, wird hier so aus dem Treffen mit dem literarischen Werk gerade die Möglichkeit ausgeschlossen, dass der Rezipient auch aus anderen Wertewelten als seiner eigenen ästhetische Erfahrung empfängt. So reduziert sich die literarische Kommunikation sowohl von der Rezeption als auch von der Produktion her auf einen Tauschbegriff von Gefühlen, die von ähnlichen Gefühlen konditioniert sind, ein Tauschbegriff, der von der Konvenienz der Anpassung und der Reversibilität der Annäherung der (ansonsten voneinander isolierten) Individualitäten in Bewegung gehalten wird. So kommt eine Kommunikationssymmetrie des Werkes zustande, die noch einfacher ist als die divinatorische, und in der aufeinander abgestimmte physiologische Konditionen („nervliche Möglichkeiten“) die vollkommene Übernehmbarkeit der weitergeleiteten sprachlichen Botschaft garantieren.7 Die ästhetische Wirkung ist zwar bei Ignotus in erster Linie eine Sache der Bedeutungsvermittlung, der Gefühle und der nervlichen Gestimmtheit, aber dennoch schließen die Verbindungen des frühen Nyugat ins 19. Jahrhundert keineswegs aus, dass die neuen Erfahrungen der künstlerischen Moderne zu Wort kommen können. Tibor Kosztolánczys Beobachtung, dass in dem literarischen System, das sich nach der Periode von A Hét herausbildete, die Termini „Entwicklung“, „Nerven“ und „Seele“8 besondere Bedeutung bekommen, wird auch von philologischer Seite dadurch bestätigt, dass die Leitbegriffe der ungarischen Moderne zu einem bedeutenden Anteil mit den europäischen übereinstimmen, wenn sich auch charakteristische Unterschiede zwischen ihnen zeigen. Die entscheidenden Vorstellungskreise der Wiener Moderne, die wirkungsmächtiger war als die Berliner, ordnen sich nach Gotthart Wunberg im Wesentlichen um vier Leitbegriffe („Nerven, Seele, Ich und Traum“)9 in eine anderswo sich nicht wie-
Seele betrachtete“ (Ignotus, Hagyomány és egyéniség [Tradition und Individualität], in: Nyugat 1908 I, S. 105). 7 In der Kunst hängt der Erfolg also davon ab, ob „es mir gelungen ist, meinen Nächsten einzupflanzen – und noch dazu vollständig einzupflanzen, – was bisher nur in mir gelebt hat. Dies gilt für jede Kunst, aber besonders fürs Schreiben“ (Ignotus, A Nyugat magyartalanságairól [Über das Un-Ungarische des Nyugat], in: Nyugat 1911 II, S. 1037). 8 Tibor Kosztolánczy, „Rettenetesen követelő férfiú“ – Ignotus és a magyar irodalmi modernség legitimációja [„Ein schrecklich fordernder Mann“ – Ignotus und die Legitimation der ungarischen literarischen Moderne], Budapest 2002 (Promotion, Manuskript), S. 145. 9 Gotthart Wunberg, Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne, in: Jacques le Rider/Gérard Raulet (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne? Eine interdisziplinäre Debatte, Tübingen 1987, S. 91–116, hier S. 92.
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derholende, netzartige Struktur.10 Und tatsächlich, ein einziger Blick auf die Prämissen von Ignotus’ Vorstellung von der literarischen Moderne genügt, um zu sehen: Ignotus’ ähnliche Überlegungen trennt von Heinrich Harts Berliner und Hermann Bahrs Wiener Programmen vor allem, dass ihre Argumentationsweise, obwohl sie innerhalb des Literaturdiskurses artikuliert werden, im Vergleich zu den anderen beiden auffällig schwach literarisch implementiert ist. Man könnte auch sagen, sie fügen sich sehr lückenhaft und nur oberflächlich in die internationalen Prozesse der zeitgenössischen Literatur ein. Während die kurzlebigen Blätter von Heinrich und Julius Hart die welt- und menschenformende Mission11 der neuen Kunst (insbesondere des Naturalismus) betonten, erinnern Bahrs komplexer ausgeführte Vorstellungen weniger an den Bildungsdiskurs. In seinen Essays über den „zu besiegenden“ Naturalismus hielt er die referentielle Form der „Kunst der Nerven“ für mechanisch und unterartikuliert.12 In seinem etwas früheren Moderne-Essay (Die Moderne, 1890) sieht er Formen der ästhetischen Welterfahrung als wirklich zeitgemäß an, in denen mit konstitutiver Gültigkeit der Körper erscheint, die Komplexität der Empfindung, die sich zwi schen Gefühlen und Gedanken verteilt: [D]er Einzug des äußeren Lebens in den innern Geist, das ist die neue Kunst. Aber dreifach ist die Wahrheit, dreifach das Leben, und dreifach darum ist der Beruf der neuen Kunst. Eine Wahrheit ist der Körper, eine Wahrheit in den Gefühlen, eine Wahrheit in den Gedanken.13
Weder von den Folgen der Hofmannsthalschen „Sprachkrise“ (Ein Brief) noch von der literarischen Anthropologie dieser sich zergliedernden Aisthesis finden sich
10 „Die ‚Merkworte der Epoche‘ […]: hier präsentieren sie sich in mannigfachen Brechungen. Allein über eine Häufigkeitsstatistik ließen sie sich als die favorisierten Probleme der Epoche belegen“ (ebd.). 11 „Die Aufgabe der Antike war es, das Menschliche von den Schlacken der Thierheit zu befreien; das Ziel der Moderne ist es, das Menschliche zum Göttlichen heraufzubilden“ (Heinrich Hart, Die Moderne. Eine vorläufige Betrachtung, in: Die Moderne 1891/1, S. 1–4, hier S. 4). 12 Die „Zurückführung aller seelischen Erscheinungen auf ihre wahre, d.h. natürliche Ursache“ (Eugen Wolff, Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1998, S. 27–81, hier S. 50). 13 Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, S. 37.
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– im Wesentlichen mit Ausnahme Babits’14 – bei den Verfassern der beginnenden ungarischen Moderne viele Spuren.15 Zugleich gibt es, da Berlin und Budapest – auch als kultureller Raum – im Wesentlichen parallel (Gründerzeit, Ausgleich) ihr klassisch-modernes Gesicht gewinnen, in der Logik der Entfaltung der literarischen Moderne dennoch gewisse Ähnlichkeiten, obwohl die außerliterarischen Faktoren sowohl in den Programmen von Eugen Wolff als auch in denen der Brüder Hart übertragener (aber mehr als einmal mit der intensiven Rhetorik der späteren Avantgarden) zur Sprache kommen. Der Ton und die Argumentationsweise indessen, mit denen Ignotus über die Literatur redet und sich dabei auf die Dynamik der (großstädtischen) „Entwicklung“, die soziale Durchmischung und die Veränderung der Geschmackswelt beruft,16 ist im Grundtenor der Berliner Moderne beileibe nicht unbekannt. „Alles ist Gärung und Bewegung“, schreibt Wolff schon 1888. 14 Bei ihm hingegen gibt es die Beweise für diese synchrone Orientierung nicht nur in der frühen Sachprosa. Denn so stark in Babits’ Denken „eine starke Bindung an den nationaladligen Liberalismus der Mitte des XIX. Jahrhunderts“ auch war (Béla G. Németh, [Vortrag], in: Lóránt Kabdebó (Hg.), Vita a Nyugatról [Diskussion über den Nyugat], Budapest 1973, S. 170–176, hier S. 173), wurde in seiner Dichtung der Nachdruck der sensualisierten Welterfahrung bald zum gedichtschaffenden Faktor. György Rába wies schon 1972 darauf hin, dass „Babits’ Serialität […] – beispielsweise in den Gedichten Anyám nevére [Auf den Namen meiner Mutter] oder Esti kérdés [Frage am Abend] – die ständige Bewegung des Bewusstseins und die wesentliche Identität seines Inhalts erfasst. Wenn Babits’ Satz im Gedicht mit der Serialität die eine oder andere Aussage zerreißt, gibt das Vibrieren dieser Blitzlichter das unmittelbare, das plötzliche Leben (wir würden verbessern: die Lebensgegenwart) wieder“ (György Rába, [Vortrag], in: Lóránt Kabdebó (Hg.), Vita a Nyugatról [Diskussion über den Nyugat], Budapest 1973, S. 32–42, hier S. 39; Hervorhebungen: E. K. Sz.). Das Bewusstsein ist hier also in erster Linie ein Bewusstsein, das sich im freudschen Sinne wie ein Wahrnehmungsorgan verhält, das heißt, es ist eher das sensuelle „Organ“ der Vitalität als das des abstrakten Gedankens. Was Rába zufolge für diese Gedichte charakteristisch ist, das ist „die suggestive Darstellung der im Bewusstsein reflektierten und verdichteten Eindrücke, Erinnerungsbilder und Legenden, die dynamische Vereinigung der die Grenzen der gegenständlichen Gültigkeit strapazierenden Subjektivität“ (ebd., S. 38). 15 Unter diesem Aspekt ist es sehr charakteristisch, dass Dezső Szabó 1911 Verlaines „wunderbare Sinnes-Vorstellung“ dem Mallarmé der „logischen Prozesse, bizarren Satzstruktur, gesuchten Worte“ gegenüberstellt (Dezső Szabó, Paul Verlaine, in: Nyugat 1911 II, S. 764). 16 Die „Kunst von morgen wird anders sein, als die von gestern es war … […] Das ist überall so, und bei uns fällt es jetzt so sehr ins Auge, weil die, die heute in Ungarn zwanzig oder dreißig Jahre alt sind, aus ganz anderem Holz geschnitzt sind als ihre Väter. Stadtleben, Handel, Industrie, wissenschaftliche Beschäftigung, Reisen und rassische Durchmischung sind von einer Vielfalt, die bis heute tatsächlich eine neue ungarische Gattung geschaffen hat im Vergleich zur gestrigen“ (Ignotus, Irodalmi modernség [Literarische Moderne], in: ders., Válogatott írásai [Ausgewählte Schriften], Budapest 1969, S. 622–628, hier S. 626; originale Bemerkung im Buch: Ignotus, Kísérletek [Versuche], Budapest 1910).
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Das Gesetz der Wissenschaft heißt Entwicklung, das Gebot der religiösen Überzeugung: Du sollst den Werkeltag heiligen! Und alle Entdeckungen und Erfindungen unseres Jahrhunderts gründen sich auf das Gesetz der Bewegung.17
Ein spezielles Paradoxon der literarischen Moderne des Nyugat ergab sich gerade daraus, dass, während die Bildung der Richtungsstruktur an die sich aus der Sezession entfaltende Wiener Moderne erinnert, die Struktur der Kultur- und Literaturbetrachtung – trotz der Zeitverschiebung von beinahe zwanzig Jahren – eher Ähnlichkeiten mit der vom Naturalismus ausgehenden Berliner Moderne aufweist. Der zentrale Begriff des Neuen, auf den sich jeder Wertbegriff bezieht, ist hier mit stark sozial-kulturalem Potenzial ausgestattet, und im Kreis der kulturschaffenden Intellektuellen wird seine Gültigkeit eine Zeitlang auch in den Prozessen der gesellschaftlichen Schichtenverschiebung von einer gewissen allgemeinen Zustimmung begleitet. Hinsichtlich der hauptsächlichen Wertideale der kulturellen Innovation zeigen die Vektoren der traditionellen Betrachtung und des neuen Liberalismus bis zum Krieg im Wesentlichen in dieselbe Richtung. John Lukács’ sachliche – und von Schorskes Wien-Buch nicht unberührte – Arbeit erinnert auch daran, dass sich im Kreise der Intellektuellen, die das Moderneprogramm des Nyugat unterstützten, ein vorübergehender Konsens gebildet hatte, der der Entfaltung der ungarischen Moderne einen bedeutenden Rückenwind sicherte.18 Obwohl Wien gemeinhin nach seiner umfassenden – von der Musik über die Literatur bis zur Philosophie epochebildenden – Bedeutung als Geburtsort der Moderne der Jahrhundertwende betrachtet wird, erweist sich der Nachdruck der Unumgänglichkeit des Neuen in den beiden anderen kulturellen Räumen als kraftvoller. Es trifft zwar zu, dass in den achtziger Jahren nicht nur Wien, sondern auch München und Dresden mit ihren regionalen künstlerischen Traditionen eine größere Anziehungskraft ausübten als Berlin. Aber als der junge Stefan Zweig 1902 aus Wien nach Berlin kam, machte er die – trotz ihres engen Kulturbegriffs so charakteristische – Beobachtung: und gerade, daß keine richtige Tradition, keine jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuche an. Denn Tradition bedeutet immer auch Hemmung. Wien, an das Alte gebunden, seine eigene Vergangenheit vergötternd, erwies sich vorsichtig und abwartend gegen junge Menschen und verwegene Experimente. In Berlin 17 Wolff, Die jüngste deutsche Litteraturströmung, S. 68. 18 „Nach 1906 scheint ein verhältnismäßig friedliches Nebeneinander zwischen der ältesten und bereits assimilierten Schicht des jüdischen Bürgertums der Hauptstadt und der nichtjüdischen Mittelklasse sowie den niedrigeren Schichten der obersten Klassen entstanden zu sein und sich stabilisiert zu haben. Sogar zwischen den Vertretern der Kulturen und Ideologien.“ John Lukacs, Budapest um 1900. Ungarn in Europa, Wien 1990, S. 219.
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aber, das sich rasch und in persönlicher Form gestalten wollte, suchte man das Neue. So war es nur natürlich, daß die jungen Menschen aus dem ganzen Reiche und sogar aus Österreich sich nach Berlin drängten, und die Erfolge gaben den Begabten unter ihnen recht; der Wiener Max Reinhardt hätte in Wien zwei Jahrzehnte lang geduldig warten müssen, um die Position zu erlangen, die er in Berlin in zwei Jahren eroberte.19
In der Selbstinterpretation des Nyugat sind auch in Ungarn die kulturelle Zäsur und die Anzeichen des Bruchs mit der Tradition betonter, infolgedessen überschreiben Fortschrittsglaube und feste Hoffnung auf Veränderung die Stimmen des fin de siècle, der Dekadenz. Schöpflin schreibt 1927: János Aranys Ungarn […] fußte im Grunde genommen auf einer einheitlichen Weltauffassung. Die Begleitmusik des Zeitalters, die Dichtung, war entsprechend einstimmig, unisono sang sie die Lebensideale aller Ungarn. Als die oben überblicksartig aufgezählten Zeitfaktoren ins Leben der Nation und in das jedes einzelnen Menschen traten, klangen nach und nach immer neue Töne in diese Einstimmigkeit hinein, […] das ungarische Lied wurde immer polyphoner, so wie die gesamte ungarische Welt polyphon wurde.20
Wenn der Nyugat gegen die anachronistische Stimme der volksnationalen Epigonendichtung seine eigene, „polyphone“ Ursprünglichkeit betonte, verschwanden natürlich die gerade nicht „unisono“ lesbaren Erneuerungen der Epik aus dem Gesichtskreis der Argumentation. Daher gerieten notwendigerweise entweder die kritischen Sichtbefunde des Fehlens liberal-bürgerlicher Traditionen oder – unter Hinweis auf strukturelle Anomalien der Modernisierung21 – die Folgen der Rückständigkeit der kulturellen Geschmackswelt in den Vordergrund. (Ex negativo werden die Ähnlichkeiten zwischen der Berliner und Budapester Moderne auch durch den Tonfall der radikal konservativen Kritik bestätigt, die schon am Jahrhundertende die Koordinaten der weltanschaulichen und politischen Absichtszuweisung nach 1918 vorwegnahm.)22 Dem ist hier noch hinzuzufügen, dass an dem 19 Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 135f. 20 Aladár Schöpflin, A kettészakadt magyar irodalom [Die entzweite ungarische Literatur]. In: Nyugat 1927 I, S. 606. 21 „Mein teurer Ungar! Du übernimmst das 20. Jahrhundert, aber wo ist das ganz strahlend ernst und frivole 17. Jahrhundert? Vom 18. Jahrhundert erträgst du nur die Hälfte, im 19. bist du jetzt bis zur Zeit von Théophile Gautier gekommen.“ Géza Laczkó, A Vígszínházban [Im Lustspieltheater], in: Nyugat 1908 II, S. 278f, hier S. 279. 22 „Ihr Standpunct bedeutet den höchsten Triumph der demokratisch-materialistischen kosmopolitischen Menschheitsidee und seines vornehmsten Trägers, des internationalen Semitenthums. Ihre Thätigkeit ist eine vollkommen, man könnte fast sagen: ideal anarchistische,
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Gedanken von der mit „nicht-endogenen“ Innovationen verknüpften kulturellen Originalität des Nyugat schon das sich jenseits der Epochenschwelle der dreißiger Jahre abzeichnende Bild der Moderne viel verändert. Gábor Halász betont in seinem berühmten Magyar századvég [Ungarisches Jahrhundertende] bereits die Kontinuität, wenn er die Epoche als von der Tradition der bürgerlichen Freisinnigkeit organisch begründet charakterisiert.23 Er kritisiert sogar den im Nyugat noch aufgewerteten Positivismus und erinnert mit einer analysierenden Argumentation an die Bedeutung Asbóths. Ziemlich übertragen und manchmal sehr mittelbar nimmt er im Wesentlichen vieles von dem vorweg, was Zoltán Kenyeres 1998 so zusammenfasste, dass nicht der Nyugat „der Beginn der Zeitrechnung der modernen ungarische[n] Literatur“ gewesen sei, „sein Start [sei] im Wesentlichen Fortsetzung“ gewesen und „weder im Blick auf die internationalen noch auf die ungarischen experimentellen Literaturrichtungen modern“.24 Was sich freilich im komplexen Zusammenhang der denk-, kultur- und literaturgeschichtlichen Prozesse als konstitutiv für das Gesicht der Moderne erweist, wird kaum in endgültige Koordinaten zu fassen sein. Die Identität des Wesens der Moderne festigt sich dank der Wirkungsgeschichte selbst dann noch nicht, wenn von Weber bis Blumenberg und von Gehlen bis Derrida eine gewisse Kontinuität unter den Faktoren feststellbar ist, die ihr Gesicht verleihen. Wenn denn solche gelten, dann ist das Verhältnis zu ihnen im Hinblick auf den Charakter der ungariund sie selbst bilden die Vertreter der tiefsten Entwickelungsstufe auf der abschüssigen Bahn, auf welcher die Ideen der französischen Revolution die abendländische Kulturwelt geführt haben. Wehe der Gesellschaft, dem Volke, die diesen hirnverbrannten Vertretern einer mit Riesenschritten dem Untergange und der Verwesung zueilenden Zeit folgen!“ (Erwin Bauer, Die „Modernen“ in Berlin und München, in: Manfred Brauneck/Christine Müller [Hg.], Naturalismus: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880−1900, Stuttgart 1987, S. 445–452, hier S. 447). 23 „Sie sind also akademisch und dennoch zeitgemäß, nicht nur nach den Maßstäben der Wissenschaft, wo sie mit dem Westen Schritt halten. Zeitgemäß sind sie auch in bürgerlicher Kultur und Urbanität, die sie als erste mit vollem Bewusstsein neben der patriarchalischen Literatur und der noch immer an Besitz gebundenen adligen Lebensform vertraten. Ihr privates Leben im Pest der Jahrhundertwende ist das gesellschaftliche Leben, und nicht das der Aristokraten; der Salon der Wohl-Schwestern oder der Pulszkys, aber auch der der Familie Gerando in Paris mit seiner gelehrten Gästeschar gehörte dazu. Ihr Hintergrund ist auf alle Fälle die Hauptstadt; in der Provinz würden sie verdorren. Menschen, die Zeitungen, bekannte Kaffeehäuser, tägliche Begegnungen, die Innenstadt und die wie Pilze aus dem Boden schießenden Straßenreihen brauchen und ebenso Lärm, Veränderung und Erinnerungen, die mit einzelnen Gebäuden verbunden sind, Büro, Theater, Bibliothek und Denkmäler; urbane Bürger.“ Gábor Halász, Magyar századvég [Ungarisches Jahrhundertende], in: Nyugat 1937 II, S. 303–324, hier S. 304. 24 Zoltán Kenyeres, Korok, pályák, művek [Epochen, Laufbahnen, Werke], Budapest 2004, S. 85f.
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schen Moderne gewiss ebenso vielsagend wie die regionalen Abweichungen, die sich im Vergleich von Wien, Berlin und Budapest zeigen. Dabei sind letztere keineswegs als sekundär zu betrachten: Anderswo bildete sich nämlich gerade durch ihre artikulierte Aufdeckung – und mehr als einmal ihre miteinander unvereinbaren Charakterzüge – das heute eher dezentrale Bild von der europäischen Moderne heraus, wobei zugleich fraglich wurde, ob ihr Ursprung tatsächlich in Paris zu verorten sei. Das bedeutet natürlich auch, dass – ganz gleich, ob man eine permanente Bewegung der Umordnung als kontinuierlich oder sprungweise fasst – die territoriale Logik des Zentrums/der Zentren vs. Peripherie(n) immer weniger mit dem charakteristisch temporalen Gebilde der Moderne vereinbar erscheint. Thomas Mann, Svevo, Kafka oder Kassák folgten beispielweise gewiss nicht Pariser Mustern. Wenn es auch in der Forschung weniger Gewicht bekam, so war doch bekannt, dass die Berliner Moderne in einem wichtigen Abschnitt stark skandinavisch beeinflusst war, und obwohl die Werke von Hamsun, Ibsen, Strindberg oder Garborg auch anderswo populär waren, so sind die Besonderheiten der Selbstverständnis-Leistung der deutschen Rezeption – durch die besonderen bildungs-, sogar religionsgeschichtlichen Affinitäten zweier regionaler Kulturmodelle – gewiss aus komplexeren Zusammenhängen erklärbar, als dass Ola Hansson oder Arne Garborg sich selbst längere Zeit in der Reichshauptstadt aufhielten. Ähnlich ist auch eine Revision der häufig wiederholten Ansicht vonnöten, dass die Überwindung der deutschen kulturellen Dominanz ein Verdienst des nach Paris blickenden Nyugat gewesen sei. Miklós Szabolcsi schrieb 1973: Neben der von Anfang an traditionell französischen Orientierung des Nyugat – hier ist vor allem Albert Gyergyai hervorzuheben – ist er in der ersten Periode stärker dem Russischen zugewandt.25
Das herrschende Paradigma der ungarischen Moderneforschung der siebziger Jahre verändert hier (auch) ein wenig die statistischen Verhältnisse in der Zeitschrift. Sie lässt nämlich nicht nur außer Acht, dass Gyergyai erst 1920 zum ersten Mal im Nyugat publizierte (auch dann über den Schweizerdeutschen Spitteler). Ebenfalls nicht berücksichtigt wird, dass es in den ersten Jahrgängen eigentlich keine Spuren einer intensiven Orientierung nach Frankreich gibt, ganz im Gegenteil, innerhalb der mehr oder weniger ausgeglichenen Verhältnisse ist die fran-
25 Miklós Szabolcsi, [Vortrag], in: Lóránt Kabdebó (Hg.), Vita a Nyugatról [Diskussion über den Nyugat], Budapest 1973, S. 168f.
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zösische Kultur nicht stärker vertreten als die deutsche.26 Bis zum Ausscheiden von Lukács und Béla Balázs ist die Reflexion der letzteren zudem vertiefter und systematisierter als die (übrigens keineswegs anspruchslosen) französischen „Lageberichte“ von Dezső Szabó oder Géza Laczkó. So dezentriert, multi- oder „polyfokal“27 das Gesamtbild der Entstehungsprozesse der literarischen Moderne auch sein mag, in der Struktur der neuen Welterfahrung der Jahrhundertwende zeigen sich gemeinsame Komponenten ebenso wie in den Arten der Aufarbeitung der wiederbelebten Spannung zwischen der kulturellen und der natürlichen Konstitution des Menschen oder in den sprachtheoretischen Grundlagen der – sich auf ein breites („stilistisches“) Spektrum erstreckenden – Schreibweise. Wahrscheinlich ermöglichen nur diese Komponenten, dass die Periode von 1880 bis 1920 trotz aller divergenten Dynamik der Prozesse als eine relative Einheit angesehen werden kann, eine Einheit, deren deutlichster Ausdruck kunsttheoretische Überlegungen sind; in ihnen konzentrieren sich die Kräfte, die sonst zentrifugal wirkend ein einheitliches Epochenbild unmöglich zu machen scheinen.28
Die Periode hat also „mehr innere Gemeinsamkeiten aufzuweisen […], als das den Vertretern der verschiedenen Strömungen bewußt war“.29 Erweist sich die mediale Wende, die die Gesamtheit des Verhältnisses zur Welt durchdringt, als bestimmend für die Entstehung der Moderne, wie es in der internationalen Fachliteratur neuerdings betont wird, dann sind die von William James bis Bergson und von Ernst Mach bis Freud nachweisbaren Anregungen regelmäßig mit der Erfahrung in Zusammenhang zu bringen, die Die Geburt der Tragödie 1872 vorwegnahm. Der junge Nietzsche kündigte hier den Auftakt zu einem Zeitalter an, in dem die (an die Materialität der Wahrnehmung gebundene) ästhetische Erfahrung alle anderen Formen des Zugangs zur Welt übertrifft.30 Dies bedeutet nicht nur die alles durchdringende Ästhetisiertheit der Welt der Moderne (in zweiter 26 Die russische Orientierung hingegen wird gelegentlich von kardinalen Fehlgriffen begleitet. „Rousseau ist ein größerer Dichter als Kropotkin, aber ein geringerer Denker.“ Jenő Lánczi, Szociológiai könyvtár [Soziologische Bibliothek], in: Nyugat 1908 I, S. 546. 27 Zu diesem Terminus siehe Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004, S. 25. 28 Helmut Koopmann, Deutsche Literaturtheorien zwischen 1880 und 1920, Darmstadt 1997, S. 11. 29 Ebd., S. 148. 30 Denn „denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“, Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe (KSA) I, Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari), München 1999, S. 47.
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Linie freilich bis heute auch dies), vielmehr ist in der Moderne „[d]ie Kunst […] wirklich zu ihrem vorrangigen Artikulationsmedium geworden und hat zum Selbstverstehen der Epoche wohl mehr als die Philosophie beigetragen.“31 Folgt nun aus dieser Wende hinsichtlich der Zugänglichkeit der Lebenswelt: „Nicht alles, was ist, ist Kunst; aber an der Kunst zeigt sich, was alles ist,“32 so nimmt im engeren Sinn an dieser Epochenschwelle der Prozess seinen Anfang, den man die immer vollständigere Medialisierung der Welt zu nennen pflegt. Es handelt sich hier um einen stetig beschleunigten epistemegeschichtlichen Prozess, der innerhalb einiger Jahrzehnte dann der Kunst selbst die Verheißung nahm, sie werde auch weiterhin als ausgezeichnetes Medium der Welterfahrung gelten. Zugleich gab er einen mittelbaren Beweis dafür, dass die Kunst schon an der Jahrhundertwende nicht mehr als kulturell-bildungsmäßiger Faktor, sondern als aisthesiologisches Phänomen aufgewertet wurde. Die uneingeschränkte Medialisierung, die mit der notwendigen – weil schon seit Wagner reifenden – Aufwertung des Aisthesis-Aspekts der Kunst ihren Anfang nahm, war am allgemeinsten in dem neuen Verhältnis zwischen der stabilisierten Interpretation des Seins und dem (berühmten Nietzscheschen) Werden begründet. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hatte es sich als feste diskursive Grundlage erwiesen, die in der Welt ablaufenden Prozesse als (durch Geschichte bzw. Vorsehung) geistlich geleitet und ihre wesentliche Ordnung als „wahres Ganzes“33 fassbar anzusehen, nun aber erschütterte die sonderbare, umfassende Wende der Materialisierung der Wahrnehmung – dies dokumentiert reich die mediale Kulturforschung des letzten Jahrzehnts – diese sicher geglaubte Basis. Im Schlussteil der Götzen-Dämmerung (1889) lesen wir: Es gibt nichts, was unser Sein richten […] könnte, denn das hiesse das Ganze richten […]. [D]ass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als ,Geist‘ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt.34
Nicht zufällig erinnert Kittler daran: „Wie Nietzsches Ästhetik geht auch seine Sprachtheorie von Nervenreizen aus“.35 Die Spannung zwischen den Verstehensweisen der beiden entscheidenden kulturellen Medien („Geist“/Abstraktion und Wahrnehmung/Wahrnehmungsfähigkeit) spitzt sich bis zur Jahrhundertwende 31 Günter Figal, Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996, S. 80f. 32 Ebd., S. 81. 33 „Das Wahre ist das Ganze“, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Werke 3 (Hg. Eva Moldenhauer/Markus Michel), Frankfurt a. M. 1986, S. 24. 34 Nietzsche, KSA 6, S. 97. 35 Friedrich Adolf Kittler, Aufschreibesysteme 1800 • 1900, München 1995, S. 235.
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mit epistemegeschichtlicher Bedeutung zu. Die Aufwertung der Aisthesis in der Erfahrung macht von nun an den Wert der kumulativen, „aufgeschichteten“ und sich summierenden Tradition einer bildungscharakterisierten, „organisch“ gebildeten Kulturalität immer fraglicher. Das Medium des „Geistigen“ vermittelt die starre narrative Ordnung von sich erfüllenden Bildungsprozessen, die vom Unvollkommenen zum Optimalen, von der Natur zur Kultur führen; eine Ordnung, in der gerade die mit dem Medium des „Sensoriums“ verbundene Bewegung keinen Platz findet. Oder wie Nietzsche betont: Selbst die gedanklichen Verbindungen entstehen in der Bewegung von an Nervenreize gebundenen Affekten,36 die sich nicht gemäß der kausalen Ordnung logischer Regulative vollziehen. Das dammbruchartige Interesse für die nicht steuerbare Bewegung und das kontingente Geschehen der nichtbewussten Wahrnehmung zeugt dafür, dass in der künstlerischen und kulturellen Erfahrung des Jahrhundertbeginns mit besonderer Intensität die Einsicht zur Geltung kam, dass der immaterielle „Geist“ eines dem Zwang stabilisierter Systeme unterstellten Denkens bei weitem nicht zu einem richtigeren Weltverständnis führt als die auch für mediale „Botschaften“ der Sinne offene (mit einem beliebten Ausdruck der Zeit: „intuitive“) Interpretation. „Der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch“37 hat nicht die Möglichkeit der Erkenntnis oder verstandenen Erfahrung der „Vermitteltheit“ des Wissens über sich, der Tatsache, dass in seiner Unmittelbarkeit […] der Mensch mit sich selbst vermittelt“ ist.38 Und tatsächlich, von Hofmannsthal bis Krudy zeigt ein innovativer Zug der Literatur der Jahrhundertwende, dass die in der Prämisse „ich denke, also bin ich“ begründete Verständnisweise des Seins nicht nur die humane Form der Welterfahrung nicht ausschöpft, sondern dass sie sogar die materiale Leistung (die Leistung der Sinnesorgane) der Aisthesis des Körpers in der Aneignung der Wirklichkeit explizit paralysiert oder jedenfalls stark einschränkt. Mit anderen Worten, das anthropologische Medium der Zugänglichkeit des Ichs und der Dinge, dessen Semantik sich nicht in die „Sprache der Vernunft“ übersetzen lässt.39 Es ist mir dann – hält Hofmannsthal die Erfahrung dieses medialen Bruchs fest (Ein Brief ) – als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken. Fällt aber diese sonderbare Bezauberung 36 37 38 39
Vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 879f. bzw. Nietzsche, KSA 13, S. 53f. Nietzsche, KSA Bd. 1, S. 889. Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften Bd. VII, Frankfurt a. M. 2003, S. 463. „Die Sprache ist die Sprache der Vernunft selbst.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1993, S. 281.
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von mir ab, so weiß ich nichts darüber auszusagen; ich könnte dann ebensowenig in vernünftigen Worten darstellen, worin diese mich und die ganze Welt durchwebende Harmonie bestanden und wie sie sich mir fühlbar gemacht habe, als ich ein Genaueres über die inneren Bewegungen meiner Eingeweide oder die Stauungen meines Blutes anzugeben vermöchte.40
In der neuen Welterfahrung der Aisthesis formulierte sich zu diesem Zeitpunkt keineswegs mehr die romantische ratio-Kritik neu. Dieser Prozess verändert – zum ersten Mal in dessen Geschichte – den für unerschütterlich gehaltenen Status der aufgeklärten Vernunft, indem er dem „Organ“ der Vernunft selbst, dem Bewusstsein, seinen Platz wieder unter den Sinnesorganen weist. Im Unterschied zu der – in der Moderneforschung zu Tode abgehandelten – Kritik, die die Schranken der Vernunft abweichend von der Romantik bereits unter den Bedingungen der diesseitigen Säkularisierung erfuhr, geht es hier nicht mehr einfach um die Erschütterung des Glaubens in die unendlichen Möglichkeiten der ratio, sondern um die Beseitigung der hervorgehobenen Position von Vernunft und Bewusstsein. Es ist gewiss keine völlig zufällige Übereinstimmung, dass Freud gleichzeitig(!) mit dem Chandos-Brief das hierarchische Verhältnis zwischen dem bewussten Bewusstsein und der „Zone“ des Unbewussten untersuchte. Denn wenn diese beiden im Wesentlichen das gleichrangige Verhältnis von Bewusstsein und Psychischem abbilden, „[w]elche Rolle verbleibt (…) dem einst allmächtigen, alles andere verdeckenden Bewußtsein?“, fragt er in der Traumdeutung, Keine andere als die eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten. (…) Der psychische Apparat, der mit dem Sinnesorgan der W-Systeme der Außenwelt zugekehrt ist, ist selbst Außenwelt für das Sinnesorgan des Bw, dessen teleologische Rechtfertigung in diesem Verhältnisse ruht.41
Die wahrnehmungs- und sprachästhetische Wende jedoch, deren Möglichkeiten dieses epistemegeschichtlich bedeutsame Erkenntnis durch die Neuordnung der anthropologischen Grundlagen der Literatur einleitete, nahm in der ungarischen Moderne erst Jahrzehnte später ihren Anfang. Ihrem gleichzeitigen Durchbruch stand vermutlich im Weg, dass die Reflexion der literarischen Erneuerung bis 1914 eher an das Programm von Wolff und Hart als an das von Hermann Bahr erinner-
40 Hugo v. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31 (Hg. Ellen Ritter), Frankfurt a. M. 1991, S. 52. 41 Sigmund Freud, Gesammelte Werke Bd. II/III, Frankfurt a. M. 1999, S. 620f. (Hervorhebung im Original).
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te.42 Die äußere Fixierung des Ursprungs der literarisch-poetischen Innovation, seiner Begründung in kulturellen und gesellschaftlichen Umständen war nämlich – trotz der Betonung neuer Formen der humanen Erfahrung – an ästhetische Prinzipien gebunden, die Erzeugnisse des von der Wirklichkeit her definierten und ihr gegenübergestellten Kunstverständnisses des 19. Jahrhunderts waren.43 Obwohl die Forschung der vergangenen Jahrzehnte zahlreiche neue innere Widersprüche der Epoche zutage gefördert hat, die gegen einen gemeinsamen (mehr noch: lokalisierbaren) Ursprung der Moderne und für die gleichwertige Leistung ihrer Zentren sprechen, nimmt in der Reihe dieser Widersprüche bis heute die Frage der Veränderung des Verhältnisses zur Tradition der Aufklärung einen Vorzugsplatz ein. Die Dialektik der Aufklärung, die zwischen Adorno und Habermas auch selbst immer genauer die Dynamik der Moderne des 20. Jahrhunderts „abzubilden“ scheint, hat nicht an Geltung verloren. Was hier als neue Entwicklung zu bezeichnen ist, besteht eher darin, dass im Hinblick auf die künstlerisch-kulturelle Erfahrung der Jahrhundertwende nicht so sehr die Folgen der damals plötzlich und gleichzeitig wirkenden Antagonismen (Entwicklungsglaube vs. ziellosem Pessimismus, ratio-Glaube vs. ratio-Kritik, Vernunftprinzip vs. Irrationalismus), sondern – durch sie – die artikulierte Aufdeckung der Zeitstruktur der Moderne sich als wirklich vielsagend herausstellt. Und in dieser Sicht erweist sich die neue „kinetische“ Seinsweise der literarischen/künstlerischen Moderne als weitaus reicher, als dass das ihr entstammende innovative Potenzial – nach Art der ratio, die sich selbst 42 Die einstige Führerfigur der Wiener Moderne leitete – zwar noch von Berlin aus, aber nicht mehr in Übereinstimmung mit Wolff – die Bedeutung der ständigen Veränderung von dem dem jeweilig Neuen beigemessenen Selbstwert, von seiner immanenten Temporalität, ab: „Nur nichts Beharrendes, nur keine Dauer, nur kein Gleichbleiben! Fluß, Bewegung, Veränderung, Umsturz ohne Unterlaß: denn jedes Neue ist besser, schon weil es jünger ist als das alte“ (Hermann Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater [ausgewählt v. Adalbert Schmidt], Wien 1971, S. 154). 43 Die ziemlich widersprüchliche Argumentation von Ignotus’ erster Neo-Vojtina beispielsweise bemüht sich noch 1926 um eine fragwürdige Neuformung der von Arany geerbten „Kunstästhetik“, in der die logische Notwendigkeit der Bildung (oder des Gebildes) die Vollkommenheit der Komposition gäbe, aber die Garantie für diese restlose Vollkommenheit würde die Glaubhaftigkeit einer natürlichen Organizität bieten, die sich an ein rationales Forderungssystem anpassen könne: „Eine Novelle oder ein Roman oder ein Drama sind dann notwendig, wenn sie – unter anderem – kein Motiv haben, das nicht aus etwas folgt und aus dem nicht etwas folgt. [… Der] Bildhauer, Maler, Dichter kann noch tausendundeine Sache dazu sagen, aber alle diese tausend laufen auf das eine hinaus: auf die Notwendigkeit. Organizität, Glaubhaftigkeit, Logik, Gleichgewicht, Konstruktion: alle sind Varianten, Motoren, Äquivalente für etwas, das es in der Wirklichkeit gar nicht gibt oder das nicht notwendig ist, damit das Wirkliche wirklich wirkt. In der Kunst ist es notwendig, und vielleicht kann man einen Grund angeben, warum.“ Ignotus, Költés és való. Neo-Vojtina [Dichtung und Wahres. Neo-Vojtina], in: Nyugat 1926 II, S. 63.
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wiederholt zu bestätigen fähig war – sich auf die aufgeklärte Kritik der Mängel der von der Vernunft geschaffenen Welt zu beschränken hätte. Bei Nietzsche wird der Gedanke von der (unzugänglichen) Grammatik der Empfindungen konditioniert, bei Freud qualifiziert sich das Bewusstsein als eines unter mehreren Sinnesorganen, und bei Mach ist „[n]icht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen)“,44 aber nicht dies allein und vielleicht nicht einmal vorrangig ist einer von vielen Belegen für die „Janusköpfigkeit“ der klassischen Moderne. Gewiss ist es auch ein solches, insofern nämlich, als es auch so als Welterfahrung der Aisthesis betrachtet werden kann, die in den gleichen Rang wie die rationale Weltkenntnis, ja sogar über sie erhoben wird. Jonathan Crary schreibt: Für Mach wie für Hertz war die Physik grundsätzlich eine Frage der Wahrnehmung. Anders als Hertz glaubte jedoch Mach [ebenso wie Nietzsche, Bergson, Richard Avenarius, Hans Vaihinger und andere], daß die wissenschaftliche Rationalität letztlich im Dienst des Lebens stehen müsse. Der Wert einer wissenschaftlichen Aussage bemaß sich danach, inwieweit sie die biologischen Bedürfnisse des Menschen befriedigte, inwieweit sie zur Steigerung des Lebens beitrug.45
Diese materiale Medialisierung der Wahrnehmung46 tritt auch in Ungarn – von Babits bis zum Textschaffen des späten Kosztolányi – in vielerlei Weise in Spannung zum aufgeklärten Erbe. Aber eingepasst in die Zeitstruktur der Moderne verdeutlicht sie mit größerem Nachdruck den Zusammenhang, der sich in historisch neuer Form zwischen dem medialen Wirken der Wahrnehmungen/Vorstellungen und dem Hauptbezugspunkt der Moderne, der Innovation, bildet. Diese beiden werden nämlich durch den kinetischen „Code“ der Daseinsinterpretation wirkungsgeschichtlich zum ersten Mal so miteinander verbunden, dass die vorrangige Seinsweise beider in der Temporalität einer ziellosen und unaufhaltsamen Bewegung – als des unablässigen Werdens, das das Abgestorbene von sich abscheidet – vorgestellt wird. Diese Bewegungsform der Zeitlichkeit ist nicht so sehr in der linearen Kontinuität der Kinesis erfahrbar, sondern vor allem in einem ununterbro44 Ernst Mach, Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1911, S. 19. 45 Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002, S. 137. 46 Dass „dem Räumlichen und Zeitlichen infolge der eigentümlichen großen Entwicklung der mechanischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber klar, daß Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können, als Farben und Töne.“ Mach, Analyse der Empfindungen, S. 6.
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chenen Werden, das seine bisherige Identität wieder und wieder ungültig macht und sich dadurch von sich selbst unterscheidet und separiert. Aus der biologisch-physiologischen Dynamik des in jedem Augenblick entstehenden und absterbenden Lebens folgt für Mach beispielsweise zwingend, dass das Ich nur in der Kontinuität der veränderlichen Kombinationen derjenigen Empfindungen existiert (beziehungsweise denkbar ist), die es im Körper in einer Reihe von niemals an einen Ruhepunkt gelangenden temporalen Veränderungen ermöglichen, dass sich das Ich unter ihrer Wirkung als „einheitlich“ erfährt. Aber da nicht einmal die Verbindungspunkte dieser Empfindungselemente dauerhaft bestehen, erzeugen „nicht die Körper […] Empfindungen, sondern Elementenkomplexe (Empfindungskomplexe) bilden die Körper“.47 Auch dieser temporären Einheit verleihen permanente Veränderungen und Bewegungen Dauerhaftigkeit – nicht nur das oben bereits zitierte „Äußere“ im wolffschen Sinne, sondern auch bezüglich der „Realität“ der Einheit des Ichs: Der Mensch ist „in keinem Moment derselbe […], wie auch sein Leib ein Werden ist. Es ist allein der eine Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment geborene Vorstellung“.48 Und wirklich, selbst in der ungarischen Moderne mit ihrem schwachen theoretischen „Unterbau“49 gibt es ranghohe Beweise dafür, dass die literarische und künstlerische Anthropologie der Jahrhundertwende immer tiefer von der Fraglichkeit der rationalen Ich-Integration und zugleich von der wachsenden Spannung der von „Geist“ und „Sensorium“ medialisierten Welterfahrung durchdrungen war. Babits schreibt 1910 im Zusammenhang mit Bergson im Nyugat: Schon jetzt richtet sich das Denken des Menschen im Wesentlichen auf die körperliche Welt. Das Denken war nämlich ursprünglich eine Waffe im Daseinskampf; den Verstand brachte die Entwicklung als Waffe hervor, die schöpferische Entwicklung der lebendigen Wesen schuf ihn, die selbst die schöpferische Zeit ist und so immer Neues 47 Ebd., S. 23. 48 Nietzsche, KSA 7, S. 208. Diese Beobachtung des jungen Nietzsche weist jedoch schon darin auch auf den vom Wiesein des Willens vielfach missverstandenen Willen zur Macht, dass der Wille hier nicht Eigentum des Subjekts ist, sondern ebenso wie bei Mach im Verhältnis von Körper und Empfindungen, umgekehrt: „Der Wille braucht den Künstler“ (ebd., S. 209). Mit anderen Worten: Der „Wille ist und lebt allein. Die empirische Welt erscheint nur, und wird“ (ebd., S. 208). 49 1935/36 hatte der Nyugat, so schreibt Miklós Szabolcsi, „kaum eine konsequente theoretische und kritische Linie. Das eine Kriterium, das wir gewöhnlich als konsequentes Zeichen kritisch theoretischer Tätigkeit ansehen, fehlt bei vollständiger Durchsicht des literarischen Prozesses in den 20er Jahren vollständig und beginnt erst mit László Németh. […] Aber allgemein, ich wiederhole es, fehlt im Nyugat jegliche Kritik mit philosophisch fachwissenschaftlichem Unterbau – bis zum Auftreten der Generation der Essayisten.“ Szabolcsi [Vortrag], S. 168.
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bringt. […] wie könnten wir erwarten, dass die von der Entwicklung geschaffene Waffe die schöpferische Entwicklung selbst versteht: ein spätes Nebenprodukt des Lebens, die Vernunft, soll das Leben selbst verstehen?50
Zum zentralen Artikulationsmedium der Moderne wird also nicht zufällig eine so verstandene innovative Dynamik, die in der Autarkie des Lebens,51 einer transitorischen, immer nur vorläufig bestehenden, aber unablässig einen neuen Anfang fordernden Absolutmacht den unausweichlichen Nachdruck des Neuen sichtbar macht – und dadurch die Zeitlichkeit der Materialität der nichtbewussten Wahrnehmung mit der unaufhaltsamen, sich auf alles ausdehnenden Veränderung verbindet. In der derart rätselhaft scheinenden Metaphorik der „ewigen Wiederkehr“ ist deshalb die Betontheit der verstetigten Wiederholung des neuen Anfangs bestimmend, in der allein die immer neue Wiederkehr der Unterscheidung Identität besitzt.52 Diese Verknüpfung ohne historische Vorläufer, die die Zeitstruktur der Welterfahrung der Jahrhundertwende wirklich original werden lässt, misst dem Leben eine Bewegungsform bei (oder erkennt sie jedenfalls in ihm), die kraftvoll auf die Reflexion der Ordnung der Dinge und mithin der historischen Platzierung des Menschen zurückwirkt. Denn wie das Leben, das im Vergehen sein eigenes Gewesensein und in seinem Werden seine Zukunft „sichtbar“ macht, das zugleich hinter und vor sich steht,53 so gerät auch die Erfahrung von der Unmöglichkeit der Fixierung der individuellen Situiertheit im Horizont jener Dynamik ohne Ruhepunkt unter den Veränderungs- und Innovationszwang der steten Selbstvergewisserung. Wir könnten auch sagen, in der historisch veränderten Grundstruktur der Temporalität, der Zeitlichkeit verändert sich auch die (frühere) Erfahrung der Geschichtlichkeit selbst. Das Bewusstsein der historischen Zeit ist von der Jahrhundertwende an immer weniger ein Bewusstsein des Prozesses, der der Alltagswelt übergeordnet ist und von einer Art Weltgeist in Bewegung gehalten wird. Bis 1914 scheint sich erwiesen zu haben, dass die Tatsache, dass der Einzelne ins Zeitliche geworfen, eingeschränkt und ausgeliefert ist, nicht Bestandteil der Ordnung ist, 50 Mihály Babits, Bergson filozófiája [Bergsons Philosophie], in: Nyugat 1910 II, S. 945–961, hier S. 947. 51 „Die Autarkie des Lebens bildet sich durch das Leben immer wieder neu heraus, und das kann nur von der Autarkie her verstanden werden.“ Günter Figal, Nietzsche, Stuttgart 1999, S. 224. 52 „Nicht das Selbe kehrt wieder, nicht das Ähnliche kehrt wieder, vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr des Wiederkehrenden.“ Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 373. 53 Vgl. Günter Figal, Krise der Aufklärung. Freiheitsphilosophie und Nihilismus als geschichtslogische Voraussetzungen der Moderne, in: Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1997, S. 57–69, hier S. 62f.
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deren Instanz eine als Weltgericht verstandene Weltgeschichte ist.54 Dieses neue Geschichtlichkeitsbewusstsein ist radikaler, im Zeichen einer unaufhörlichen Veränderung ohne Festigung temporalisiert und baut sich als Epochenbewusstsein mit allumfassender Geltung als „das Wissen um das Transitäre der eigenen Zeit“55 in die Grunderfahrung der Epoche ein. Von hier ist wirklich einzusehen, warum die Entstehung der künstlerischen Moderne der Jahrhundertwende keinem der früheren Muster der Querelle des Anciens et des Modernes folgt. Denn welche ihrer Versionen wir auch immer als Ablösung des Alten und Eintritt des Neuen ins Leben betrachten, die temporalisierte und medialisierte ästhetische Erfahrung lässt die ideale Schönheit in keiner von ihnen mehr in irgendeiner Form zu überzeitlicher Geltung gelangen. Zu einem normativen Status dann und wann vielleicht, denn viele Programme der Moderne zeichnen die eine oder andere Variante der Schönheit aus, aber diese stehen von Baudelaire bis Hofmannsthal unter der Herrschaft von Prämissen, die selbst Erzeugnisse des Bewusstseins eines sich von sich selbst immerfort abscheidenden historischen Prozesses sind. Diese Gleichung – darauf hat Jauß hingewiesen – führt gerade dazu, dass „keine bestimmte Vergangenheit [z. B. die Romantik] den für das Schöne der modernen Kunst konstitutiven Gegensatz bilden kann“.56 Zur Wahrheit gehört auch, dass infolge der häufig äußeren – gesellschaftlich-kulturellen – Ableitung der innovativen Prozesse der ungarischen Moderne die Literatur des frühen Nyugat im Ganzen gar nicht von einer Temporalisierung der ästhetischen Erfahrung durchdrungen werden konnte, die in dem als Volkstümlichkeitsideal konservierten Erbe des nationalen Klassizismus des 19. Jahrhunderts keinen konstitutiven – und deshalb auch das eigene Image bestimmenden – Gegenpunkt gesehen hätte.57 Betrachten wir die Entfaltungslogik der Prozesse der europäischen Moderne, so birgt gerade das widersprüchliche Verhältnis der beginnenden ungarischen Moderne zu den neuen Zeitstrukturen der historischen Erfahrung gewisse regionale Züge (um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht ausschließlich die Schwächen der „endogenen“ literarischen Herleitung führen hier zu Widersprüchen, – „ästhetische und geschichtliche Erfahrung der modernité fallen für Baudelaire in eins“58 – sondern eine gewisse heilsgeschichtliche Artikulation eines der Vergangenheit gegenübergestellten Modernebildes). 54 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Werke 7 (Hg. Eva Moldenhauer/Markus Michel), Frankfurt a. M. 1986, S. 503f. 55 Koopmann, Deutsche Literaturtheorien, S. 6. 56 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1979, S. 56. 57 Zur Logik dieser Oppositionsbildung wie bei Ignotus vgl.: Kosztolánczy, Rettenetesen követelő férfiú, S. 116–120. 58 Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, S. 55.
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Die Begründung des Neuen vor allem mit der sich ändernden Geschmacksstruktur, mit der sozialen und kulturellen Umschichtung und besonders mit der unablässig betonten Urbanisierung zeigt recht aussagekräftig, dass der Nyugat die „fortschrittsfeindliche“ Vergangenheit einem zu stabilisierenden neuen Zustand gegenüberstellt. In dieser Opposition ist jetzt unter dem Gesichtspunkt der Paradigmatik der Moderne nicht so sehr das Anderssein des Neuen wesentlich, sondern die Tatsache, dass der im retrospektiven Sinn konservierenden Tradition – mit auffallender Lähmung der wichtigsten Triebkraft der Moderne – ein in prospektivem Sinn zu konservierendes Neues gegenübergestellt wird. Eine derart stadiale Ordnung der Bewegungen und Veränderungen führt strukturelle/ räumliche Symmetrien in die Geschichte ein und gerät so beinahe notwendig unter den Zwang, sich gegenüber der Vergangenheit positionieren zu müssen. Dies wird danach zur Falle für eine Legitimationsbildung, deren Bewegungsraum auch ungewollt von der ererbten diskursiven Ordnung umgrenzt wird. Ignotus schreibt 1930: Der Befreiungskampf des Nyugat […] belagerte zwei Burgen. Die eine war die Auffassung, die Dichtung sei nationalen Charakters und nationaler Bestimmung. Die andere war die Auffassung der Alten über die literarische Öffentlichkeit. Beide schienen uneinnehmbar, denn sie wurden von den Erinnerungen oder der Kraft der höchsten Begeisterung der ungarischen Dichtung, der Größten des Ungartums auf allen Gebieten, der Heiligsten der ungarischen Kulturbestrebungen verteidigt.59
Dieser sakralisierte Raum der Kraft, der Geschütztheit und der Stabilität jedoch ist nur die falsch gezeichnete Hyperbel einer Tradition, die nicht nur wegen ihrer anscheinenden Vollkommenheit nicht temporalisierbar ist. Als Gedächtnisraum der „Größten“ des Ungartums hat er vor allem die Funktion, einem Raum, der vollkommener ist als er selbst, den Spiegel vorzuhalten. Mit anderen Worten: durch ihn soll der absolute Raum sichtbar werden, der die zeitliche Ordnung der Klassiker überschreibt. Die Gegenwart ist also nicht deshalb absolut, weil sie die Vergangenheit als Vergangenes zeigt, sondern weil sie dem „Größten“ Heimat bietet und so das Wertvollste zugänglich macht: Der Kampf ist entschieden, der Erfolg hat sich eingestellt – durch diesen Kampf gewann Endre Ady, das größte ungarische Phänomen, ein Publikum und stieg in die dritte ungarische klassische Ordnung auf, und nach ihm und in seinem Sog Mihály Babits und Zsigmond Móricz.60
59 Ignotus, Válogatott írásai, S. 698. 60 Ebd., S. 700.
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Was hier der neuen Grunderfahrung der Moderne scharf zuwiderläuft, ist gerade das Fehlen der Einsicht, die die Dynamik der Innovation permanent und unaufhaltbar gemacht hat. Näher betrachtet: Das Wissen des jeweils Neuen von sich selbst, dass es auch selbst keine Möglichkeit hat, dem Zwang der Verwandlung in Vergangenheit zu entgehen. Der Nyugat konnte sich also gerade deshalb nicht die sich aus der neuen Zeitstruktur der Moderne ergebende Dynamik aneignen, weil er das Neue in seiner Auffassung strukturell mit einer ebenso unbeweglichen Autorität versehen hatte, wie er sie der Vergangenheit beimaß. Und das konnte deshalb nicht anders geschehen, weil er als konstitutiven Gegenpunkt für die selbst an die Statik des reinen Bestehenbleibens gebundenen und in dieser Eigenschaft (selbstzufriedener Traditionsschutz, fixierende Selbstwiederholung, konservierender Epigonismus) angegriffenen Vergangenheit nur eine selbstgenügsame Moderne konditionieren konnte. Denn obwohl die Einnahme der Burg zweifellos eine Veränderung ist, bleibt ihr Bezugspunkt doch weiterhin die Festung selber. Die räumliche Überquerung des Limes ordnet auf der zeitlichen „anderen Seite“ die ererbten Koordinaten nicht grundlegend neu. Eine Moderne, die sich zwischen ihnen einrichtet, die dort Platz nimmt, bleibt damit auch selbst Gefangene des Horizontes,61 der nicht nur den Gegensatz zwischen anciens und modernes in alter Form enthielt, sondern auch die Logik der Rede über ihn dem Verständnis der neuen Veränderungen aufzwingen konnte. Die unter Innovationszwang geratenen Prozesse der beginnenden europäischen Moderne unterscheiden sich jedoch vor allem darin von den Folgen früherer Zusammenstöße von Altem und Neuem, dass das Eintreten der neuen Umstände diesmal keinerlei Stabilisierung mehr verspricht, sondern – durch die wiederholte Vernichtung der potentieller Ruhepunkte – die iterative Erfahrung des Nichtzum-Stillstand-Kommens zum Dauerzustand macht. Was auch die faustische 61 Schon auf der Nyugat-Konferenz 1972 wurde in vielerlei Zusammenhängen auf die Kontinuität hingewiesen, die sich in der Struktur der Kunst- und Gesellschaftsauffassung des 19. Jahrhunderts und des Nyugat zeigt. Miklós Szabolcsi ging davon aus, dass bis zum Auftreten der Essayistengeneration (Gábor Halász publizierte 1932 zum ersten Mal im Nyugat. – E. K. Sz.) „im ästhetischen Ideal das Bild eines ‚besonnenen Klassizismus‘ im Vordergrund steht, der übermäßiges Rhetorisieren, Theoretisieren und Philosophieren zugleich vermeidet und auf irgendeine Weise die Linie der Kritik des vergangenen Jahrhundertendes geradlinig fortsetzt. Am Grunde des ästhetischen Ideals muss hier irgendwie noch immer die Kritik von Pál Gyulai wirken“ (Szabolcsi, [Vortrag], S. 168). Béla G. Németh erinnerte an die strukturelle Ähnlichkeit der Vorstellungen über die Nation: „Wie die ungarischen Gutsbesitzer, so brachte auch die sich an ihm orientierende ungarische liberale bürgerliche Intelligenz bezüglich der Nation, der nationalen Geschichte keine im Vergleich zur nationalen Charakterologie aus der Mitte des Jahrhunderts neue Auffassung hervor. Sie versetzte sie höchstens mit Elementen des Positivismus und der Geistesgeschichte.“ Németh, [Vortrag], S. 175.
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Grundstruktur („verweile doch, du bist so schön“) der neuzeitlichen ästhetischen Erfahrung sinngemäß verändert: Statt der Dauerhaftigkeit des Verweilens beim Schönen und dem Wiederholungszwang seines inkorporierten Genusses schreibt sich im Zeichen einer ursprünglichen Autokinese die rasche Abscheidung des temporären Sinns von sich selbst und die Vorläufigkeit von immer neuen und „originalen“ Konnexionen, die die kontingente Dynamik der Wahrnehmung gespenstisch abbilden, in den sensualisierten Diskurs der Literatur der Moderne ein. Diese Verstetigung des Vergänglichen, des Flüchtigen, Transitorischen und Augenblicklichen durchdringt von Baudelaire bis Benn und von D’Annunzio bis Ady mit konstitutiver Geltung alle Varianten der Moderne. Im Sinne der baudelaireschen paradoxen Seinsweise l’éternel du transitoire verliert die so historisierte Schönheit die herausgehobene Position, die sie in der Tradition der ästhetischen Unterscheidung stabil innehatte.62 Nicht nur Symptom-, sondern sogar Beweiswert für diese Statusänderung hat die Offenkundigkeit, mit der die neue Zeitstruktur der ästhetischen Erfahrung schon bei Baudelaire „die Verschwisterung des Modernen mit dem Modischen“63 ermöglicht. Die besondere Dialektik64 der Dauerhaftigkeit und gleichzeitigen Flüchtigkeit der Mode wird nämlich von derselben – ihren eigenen Ursprung „vergessenden“ – allegorisch-semantischen Bewegung gewährleistet, deren aus sich selbst abgeleitete Bedingtheit von Paris65 bis
62 Hierauf verweist Stefan Zweig, wenn er das Erbe der gebildeten Urteilssicherheit auch in der Musik erschüttert sieht: „Plötzlich war die alte, behagliche Ordnung gestört, ihre bisher als unfehlbar geltenden Normen des ‚ästhetisch Schönen‘ (Hanslick) in Frage gestellt.“ Zweig, Die Welt von gestern, S. 62. 63 Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990, S. 239. 64 Für die Verknüpfung dieser beiden gibt es auch im frühen Nyugat Beispiele, aber aus sehr traditioneller, kulturgeschichtlicher Perspektive. Mit anderen Worten: in einer Variante, die gerade die neue Art der allegorischen Unterscheidung, ihre nur an der Epochenschwelle zur Moderne auftauchende Bewegung, nicht erkannte: „Diese nunmehr ständig wiederholte Vermischung von Kunst und Mode scheint vielleicht nicht einmal mehr nach dem eine Frivolität zu sein, was sich über die Urquelle dieser beiden feststellen lässt. Jedoch ist nicht nur die Urquelle gemeinsam. Auch die Geschichte der Kunst und der Moden ist verflochten. Die Mode der Künste ist der sogenannte Stil, und dieser Stil, diese Manier kann ebenso oberflächlich oder ehrlos sein, wie in der Mode immer wieder brave Züge von künstlerischer Bedeutung auftauchen.“ Géza Lengyel, A divat [Die Mode], in: Nyugat 1908 I, S. 198–206, hier S. 203. 65 Die am ehesten als lokal verstandene Restlosigkeit des Rimbaudschen „Il faut être absolument moderne“ versuchte zuletzt Helmut Kiesel in seinem Buch mit einer ähnlichen oder wenigstens gleichartigen temporalen Bedeutung zu versehen. Dabei beruft er sich gerade auf jenen Hermann Bahr, der die wichtigsten Charaktermerkmale der mitteleuropäischen Moderne vielleicht mit der größten Wirkung antizipierte und dann auch selbst formte (Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne, S. 9).
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zur Monarchie66 in allen auf das Wesen der Moderne bezüglichen zeitgenössischen Reflexionen auftaucht. Im Ergebnis dieser Entwicklungen wird die Gültigkeit der ästhetischen Unterscheidung von einer künstlerischen Erfahrung in Frage gestellt, die durch das ästhetische Verständnis der Welt die aus sich selbst stammenden Grenzen der Möglichkeiten der Vernunft sichtbar machen konnte.67 Es ist ja vollständig unwahrscheinlich, dass sich die Dialektik der Moderne bis zu den 30er Jahren deshalb gegen sich selbst gewendet hätte, weil die den gemeinsamen Ursprung – explizit im Geist der Moderne – vergessenden Avantgarden der extrem beschleunigten Dynamik der Innovation zum Opfer gefallen wären (der neuen Zeitstruktur des ästhetischen Selbstverständnisses waren nämlich um die Jahrhundertwende gerade die selbstzerstörenden/vernichtenden Formen der Bewegung fremd: Die als „Armatur der Moderne“68 verstandene allegorische Bewegung ist ihrer Natur nach und per definitionem unbeendbar). Allerdings scheint sich bis zu den vierziger Jahren das 66 In Wien hatte auch Stefan Zweig die Wahrnehmung, dass sich seine Generation als aktueller Beteiligter eines unaufhaltsamen Prozesses des Lebens in die Innovation einschaltete: Überall „waren wir die Stoßtruppe und der Vortrupp jeder Art neuer Kunst, nur weil sie neu war, nur weil sie die Welt verändern wollte für uns, die jetzt an die Reihe kamen, ihr Leben zu leben. Weil wir fühlten, ‚nostra res agitur‘.“ Zweig, Die Welt von gestern, S. 63. Die Genauigkeit dieser rückblickenden Interpretation wird von nichts anschaulicher gemacht als von Bahrs erstem, persönlichem Glaubenssatz für das Neue, das sich aus eigenem Grund bejaht. Was dieser Text von 1887 als Seinsweise der Moderne affirmiert, ist wieder nur die nietzschesche Autarkie des unaufhaltsamen Werdens: „Alles wird in der Welt ohne Unterlaß, und wer einmal Glied dieser Welt, erfüllt seine Aufgabe nur, indem er an diesem ewigen Werden teilnimmt und es nach seinen Kräften unterstützt.“ Bahr, Briefwechsel mit seinem Vater, S. 154. 67 Vgl.: Figal, Der Sinn des Verstehens, S. 68. 68 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a. M. 1991, S. 681. Es fällt übrigens auch hier nicht schwer, den nietzscheschen Ursprung der unablässigen Bewegung der allegorischen Armatur zu erkennen. Aber mit dem – hier nicht detaillierter ausführbaren – Unterschied, dass Nietzsches Werden nach dem Bruch mit Wagner nicht mehr die Bewegungsform des pausenlosen Entstehens ist, die mit gestaltloser Auflösung in der Kinesis droht. Auch die Morgenröthe (1881) begrenzt von ihrer eigenen temporalen Herkunft und Struktur her die absolute Macht der (dort als Entwicklung behandelten) Bewegung: „Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her“ (Nietzsche, KSA 3,54). Bis zu der Zeit von Der Wille zur Macht wird die Bewegungsform des Werdens bereits von einer Art dynamischem Bestehen charakterisiert. Dies bedeutet nicht den Ausgleich zwischen Bewegung und Stabilisierung, sondern die Beständigkeit des „Austausches“, dass es immer Werden gibt, und was ist (d. h. was als Sein „besteht“), das ist immer das Werden. 1887 hielt Nietzsche es schon für nötig, „dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen“ (Nietzsche, KSA 12, S. 312). Die Identität des Werdens als Bewegung und Veränderung ändert sich jedoch auch dann nicht: Es bleibt physiologischen, vitalen Ursprungs. Seine Dynamik stammt auch weiterhin aus der Natur, sie kann also nicht über die Charakteristika der Maschinenhaftigkeit verfügen.
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ästhetische Potenzial der Jahrhundertwende wirklich zu erschöpfen, das die Künste zum Medium der „wahren“ Erfahrbarkeit der Welt gemacht hat. In diesem Prozess beugt sich die nietzschesche Erfahrung der ästhetischen Rechtfertigung der Welt sozusagen als angewandte Formästhetik unter die Herrschaft einer technomaterialen Aisthesis, in der styling und design bis in die kleinsten Details die Alltäglichkeit artikulieren.69 Die neuen Kulturtechniken waren allerdings nicht nur dazu geeignet, die Wahrnehmung – die Omnipotenz der ästhetischen Erfahrung sozusagen nach außen führend – manipulierbar zu machen. Als nämlich die technisch-materiale Kondition der der Oberhoheit der Bildung entronnenen Aisthesis aufgedeckt war, wurde zugleich auch in der hohen Kunst das neue Fundament der ästhetischen Erfasstheit reflektierbar. Denn die benjaminsche Rehabilitation des allegorischen Moments der Kunst bedeutete nicht einfach die materiale Ausscheidung des leblos gemachten Textes (rein als Schrift, Wort, Silbe und Buchstabe) aus dem organischen Gebilde der Schönheit. Es war in erster Linie die diese Trennung als rein technisches Geschehen durchführende, nicht instanzionalisierbare und aus der Kultur der (Bildung) nicht ableitbare maschinelle Autarkie der allegorischen Bewegung, die die Kluft zwischen Geist (Bedeutung) und Form (Wahrnehmung) und die Nichtzusammengehörigkeit der beiden aufdeckte und die künstlerische Dynamik der allegorischen „Armatur“ in einen einander erhellenden Zusammenhang mit dem Funktionieren der außerhalb des Humandiskurses begründeten Wahrnehmung brachte. Vor allem deshalb wurde die anthropologische Unbeherrschbarkeit der Medien der Kunst und insbesondere der Literatur zur konstitutiven Erfahrung der zweiten Epochenschwelle der Moderne. Dies stellte keinesfalls nur die ästhetische Begründbarkeit der im Sinne des 19. Jahrhunderts verstandenen Bildung in Frage, sondern eröffnete auch eine Perspektive auf die Fragilität der Freiheit im Sinne des Humanideals des aufgeklärten Rationalismus. Wie nun die anfangs von der allegorischen Armatur „abgeschaltete“ ungarische Moderne in ihrem zweiten Abschnitt an diesem Prozess Anteil hatte und wie sie sich dann auf die Höhe der Weltlyrik der Epoche erhob, das wird vermutlich eine der wichtigsten wirkungsgeschichtlichen Fragen der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts sein. Deutsch von Christina Kunze Werden und Leben – Schreiben und Reflexion
69 Siehe hierzu Silvio Vietta, Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild, München 2001, S. 303.
Hans Ulrich Gumbrecht
Essay, Leben, gelebte Erfahrung Georg Lukács 1910 und die Situation der Literaturwissenschaft heute* Die Wertschätzung für den Essay als Genre des Schreibens und Lesens ist Teil unseres Selbstverständnisses als Intellektuelle im frühen 21. Jahrhundert. Ein Fluchtpunkt für die Gründe unserer offenbar selbstverständlichen Vorliebe für die Gattung liegt in einer Geste von Leichtigkeit und Distanz, welche die unterschiedlichen Spielarten des Essays anscheinend teilen. Eine Distanz nicht nur gegenüber jeglichem Ansatz von Orthodoxie in unserer post-ideologischen und vielleicht sogar post-politischen Zeit, sondern gegenüber jeglichem geistigen Standpunkt, der nicht aus dem Impuls heraus entsteht, sich zu verändern und damit selbst aufzuheben. Sogar Gianni Vattimos Begriff des „schwachen Denkens“, der zu einem früheren post-ideologischen Zeitpunkt, vor etwa dreißig Jahren, solch große Resonanz auslöste, wirkt aus heutiger Sicht allzu statisch und beinahe orthodox. Deshalb sind wir eifrig bemüht, den Essay als Form mit Begriffen und Eigenschaften wie „Vitalität, Persönlichkeit [und] Konkretheit der Lebenserfahrung“1 zu assoziieren, die ja alle nicht unter abstrakten und darum allgemeinen Prinzipien zusammengefasst werden können. Einige von uns würden sogar so weit gehen, sich zu wünschen, die essayistische Form möge allgegenwärtig werden, so dass sich paradoxer Weise Prinzipienlosigkeit als absolutes Prinzip etablieren ließe. Aber tiefreichende Anpassungsfähigkeit als seine Grundkomponente hat den Essay nicht nur zu beidem werden lassen: zu einer praktischen Herausforderung für alle „großen Systeme[…] […], die ihren Wahrheitsanspruch auf autoritative Traditionen und Institutionen […] gründen“ und zu einem Genre ohne klare Wirkungs* Zuallererst waren es Pal Kelemen und Amalia Kerekes, die mein Interesse an Georg Lukács und vor allem an seinem Frühwerk weckten. Ohne den inspirierenden Enthusiasmus dieser beiden ungarischen Freunde und ohne den Besuch des Budapester Hauses, in welchem Lukács die späteren Jahre seines Lebens verbrachte, hätte ich nicht gewagt, über das Thema des vorliegenden Essays, nämlich den Essay als Genre in Lukács’ Denken und Arbeit als Autor, zunächst zu sprechen und dann zu schreiben. – Dank gilt auch meiner ausgezeichneten Stanforder Kollegin (und wunderbaren Nachbarin) Denise Gigante für ihre Einladung – und, allem voran, für ihre engelsgleiche Geduld. 1 Vgl. Lothar Cerny, Essay, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, S. 746–749, hier S. 746f.
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absichten oder historische Entwicklung. Der gleiche Grund machte den Essay auch zum Nährboden für „hektische Entwicklungen hin zu Exzentrik und zu intellektueller Isolation“.2 Mit Blick auf die heute offenbar bestehende Neigung, mit dem intellektuellen Potential des Essays zu arbeiten, konzentriere ich mich hier hauptsächlich auf die Frage, ob das Genre den Rahmen für einen neuen, entschieden zeitgenössischen Stil der Literaturkritik bieten könnte. Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung, die inzwischen in verschiedenen Wissenschaftskulturen zur diskutierten Möglichkeit geworden ist, gewinnt eine gewisse Spannung, welche der Tradition des deutschsprachigen Essays entspringt, an besonderer Relevanz. Es wird niemanden überraschen, wenn ich behaupte, dass der Essay als Form von Distanz und Beweglichkeit im Vergleich zur beispielsweise englischen oder französischen Kultur hier nie eine vergleichbare Omnipräsenz erreicht hat. Man könnte sogar sagen, dass gerade die Extremfälle, in welchen das wichtigste Merkmal des Essays, seine Anpassungsfähigkeit, zum paradoxen Prinzip wird, vor allem in Texten deutscher Sprache, deutscher Autoren und in den deutschen Debatten zu finden sind. Besonders in den Literatur- und Kunstwissenschaften, die sich mit der Entwicklung der deutschen Universität seit dem frühen 19. Jahrhundert als professionelle „wissenschaftliche“ Praxis definierten, mussten solche Positionen Protest und Widerstand auslösen. Ich glaube, dass diese Spannung zwischen der „wissenschaftlichen“, streng anti-essayistischen Konzeption der Kritik und ihrer „rhapsodischen“ Gegenseite (tatsächlich wurde dieses Adjektiv immer wieder von deutschen Gegnern dieses exzentrischen Standpunkts verwendet), als erhellender und kontrastiver Hintergrund dazu dienen kann, die (weniger klar polarisierten) Nuancen, Modi und Möglichkeiten der Kritik anderer nationaler Kontexte zu untersuchen. * Diese tradierte Spannung wiederbelebend, veröffentlichte Jürgen Kaube, einer der heute einflussreichsten Protagonisten deutscher Geisteswissenschaften und der Kunstwelt,3 vor Kurzem einen polemischen Essay – war es ein ironischer Zug, selbst die Form des Essays zu wählen? – gegen die fortschreitende Tendenz von Geisteswissenschaftlern, sogar in Deutschland, mit rhapsodischen Spielarten es2 Heinz Schlaffer, Essay, in: Klaus Weimar/Harald Fricke/Klaus Grubmüller/Jan-Dirk Müller (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 523–525, hier 523f. 3 Als Soziologe weberianischer Tradition ausgebildet, ist Kaube Redakteur der geisteswissenschaftlichen Wochenbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Deutschlands intellektuell einflussreichster Tageszeitung. Außerdem unterrichtet er regelmäßig an verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Bielefeld und Heidelberg.
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sayistischer Tradition zu arbeiten.4 Sein Ausgangspunkt ist die statistisch belegte Beobachtung, dass im Gegensatz zu den Natur- oder Sozialwissenschaften die meisten geisteswissenschaftlichen Forscher bei Präsentationen ihres Denkens, im akademischen wie im nicht-akademischen Bereich, freie Rede und PowerPoint-Technik meiden. Sie bevorzugen es, Manuskripte, die nie mit der Absicht zu solcher Form der Vermittlung verfasst wurden, einfach vorzulesen – und diese sind deshalb immer schwer und oft sogar völlig unverständlich. Kaube interpretiert diese Unart als Symptom einer bestimmten emotionalen Fixierung unter Geisteswissenschaftlern auf ihre eigenen Texte. Der Drang komplex und auf (künstlich) schöne Weise zu schreiben, wurzelt laut Kaube in dem Bedürfnis, eine „der Sache selbst […] entsprechende Darstellung zu finden“ (S. 59) – anstatt eine der Kollegengemeinschaft angemessene, mit der Idee geeinten intellektuellen Fortschritts. Fehlende Fußnoten, der Mangel an klar formulierten Fragen und Zielen und das Ausblenden anderer abweichender Standpunkte in etlichen Texten lassen Kaube beißend schlussfolgern, solch kritische Essays gelten „als höchste Freizeitform der schönen Geisteswissenschaften“ (S. 60) – und somit nicht als Beiträge zur Anreicherung von Wissen in Zusammenhängen geteilter professioneller Arbeit. Dieser satirischen, teilweise ausgelassenen und durchgehend aggressiven Beschreibung eines bestimmten Typus des kritischen „Essays“ dient Georg Lukács’ Text „Die Seele und die Formen. Essays“ von 19115 als Ideal – genauer: als das ideale Negativbeispiel für all jene bezeichnenden Tendenzen des Essays, die Kaube Leser-„Zumutungen“ nennt: „Georg Lukács hat […] eine ziemlich komplette Liste dieser Zumutungen veröffentlicht und zwar […] selbst als Essay, also Zumutung.“ Der befragte Text beinhaltet tatsächlich nicht nur das gesamte Repertoire all dieser von Kaube identifizierten Eigenschaften; Lukács unterstreicht diese sogar explizit, wiederholt sie und nimmt sie als Ausgangspunkt intellektueller Ansprüche, was Kaubes schlimmste Albträume wahr werden lässt. Was ihn aber am allermeisten aufbringt, ist Lukács’ Ehrgeiz, durch den Essay Reaktionen auf ästhetische Objekte 4 Der Essay als Freizeitform von Wissenschaft. In: Merkur – deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 68 (2014), S. 57–61. 5 Lukács’ ungarischer Originaltext diente als Einleitung zu weiteren sieben seiner Essays, erstmals erschienen in Budapest 1910. Auf eine volle Rekonstruktion der hintergründigen philologischen Details lässt sich nicht hoffen, jedoch scheint es heute fast sicher, dass einige Freunde Lukács’ diese Essays (und mindestens ein oder zwei weitere) für eine deutsche Veröffentlichung übersetzten, die im folgenden Jahr erschien: Die Seele und die Formen. Essays, Berlin 1911 (der Titel des Einleitungstextes lautet „Über Form und Wesen des Essays“, S. 1–40). Vgl. Thomas von Ahn/Hans-Harald Müller, Georg Lukács „Über Wesen und Form des Essays“. Philologische und narrative Analyse einer Selbstthematisierung des Essays. In: Tom Kindt/Katalin Teller (Hg.), Narratologie interkulturell. Studien zu interkulturellen Konstellationen in der deutschsprachigen und ungarischen Literatur 1800–1930, Frankfurt 2005, S. 49–77.
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und philosophische Sichtweisen als „eine Stellungnahme dem Leben gegenüber“ auszudrücken. Aus diesem Selbstverständnis und in diesem Sinne wird der Essay tatsächlich zum Emblem dessen, was nach Kaubes Sicht akademisches Arbeiten (als „Wissenschaft“) strengstens unterlassen sollte, nämlich die „literarische Intention“ akademischer Disziplinen „über ihren Erkenntnisgewinn hinaus[…]gehen“ zu lassen, welchen sie typischer Weise produzieren. Wäre der Essay aber davon befreit, neues Wissen produzieren zu müssen und befände sich darum außerhalb jeglicher seriöser oder ernsthaft anspruchsvoller „Wissenschafts“-konzeption (Lukács hätte dies als Gattungsvoraussetzung sicherlich befürwortet), weshalb verurteilt dann Kaube die Aneignung durch die Geisteswissenschaftler so vehement, wieso ignoriert er es nicht einfach – welche Gefahr liegt für ihn in diesem Genre und wem droht sie? Wie die meisten Akademiker im deutschsprachigen Raum behauptet Kaube, Literaturkritik habe das Recht, zu bestehen und finanziert zu werden, nur dann, wenn sie sich den starren Standards der „Wissenschaft“ anpasse. Trotzdem scheint er im letzten Satz seiner Polemik, wenn vielleicht auch unabsichtlich, endlich ein nicht-wissenschaftliches Verständnis der Literaturkritik zuzulassen, wenn er die Frage stellt, ob „von jener Schlüsselbedeutung der Kunst wie der Philosophie, die damit (von der essayistischen Form des Schreibens) in Anspruch genommen wird, überhaupt noch etwas übrig ist.“ (S. 61) Ohne Zweifel sind Jürgen Kaubes Verärgerung und Kritik auf zweierlei Ebenen berechtigt. Autoren wie Georg Lukács haben nicht nur zu bereitwillig das Risiko in Kauf genommen, eine Sprache zu bedienen, die sogar mit geduldigsten Anstrengungen das Lesen unmöglich macht: Auch die Vermutung, dass sie ihre Undurchdringbarkeit oft als Auszeichnung geheimer Raffinesse kultiviert und genossen haben, ist berechtigt.6 Gleichzeitig litt gerade die geisteswissenschaftliche Genretradition lange unter einem Phänomen, das Theodor W. Adorno als marktorientierte „versierte Oberflächlichkeit“ beschreibt.7 Trotzdem bleibt unklar, was nun eigentlich die „Schlüsselbedeutung“ von Literatur, Kunst und Philosophie, vor allem heute, sein könnte, von deren Existenz Kaube ebenso ausgeht wie „rhapsodische“ Autoren – wie der junge Georg Lukács – und welche er vor ihren vergangenen wie gegenwärtigen Antagonisten beschützen will. Da Kaube das Wort “Bedeutung“ verwendet, gehe ich davon aus, dass er sich auf objektive Wissensstrukturen bezieht, die literarischen Texten durch historische oder soziologische Analyse abgewonnen werden können – durch akademische Praxis also, die hier die 6 Nach der Lektüre von Lukács’ Essays in einer ersten ungarischen Manuskriptfassung schreibt Leo Popper seinem Freund am 7. Juni 1909: „Dass Deine Essays lyrisch sind, wissen die Leute schon daher, dass sie sie nicht verstehen.“ (Vgl. von Ahn/Müller, S. 53). Zitiert aus: Briefwechsel Popper–Lukács, S. 275. 7 Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, in: Noten zur Literatur (hg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt a. M. 41958, S. 9–49, insbesondere S. 12.
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Grenze zur „Wissenschaft“ markiert; eine Grenze, die die „wissenschaftliche“ Kontrolle über die „Bedeutung“ von Literatur, Kunst und Philosophie sichert. Wie dem auch sei, solche Bedingungen schließen die Dimension ästhetischer Erfahrung, die in literarischen Texten gefördert wird, aus dem akademisch kritischen Versuch aus. Nun bin ich nicht der einzige Forscher, der argumentiert, in der zeitgenössischen Literaturkritik habe sich, seit nur etwa einer Dekade, eine Tendenz und vielleicht sogar ein Verlangen entwickelt, das Existentielle zu reanimieren; was, objektiveren Ansprüchen entgegen, unvermeidbar auch der individuellen und der ästhetischen Dimension des Lesens wieder größere Relevanz zuschreibt.8 Aus dieser Perspektive, vermute ich, lohnt es sich, auf die gattungsgetreue Tradition des Essays generell zurückzukommen; und spezifischer auf Georg Lukács’ Essay über den Essay, veröffentlicht 1910 und 1911, eine gute halbe Dekade, bevor er ideologisch zum Marxismus konvertierte, was für sein Werk und für seinen Ruf als einer der einflussreichsten Intellektuellen des letzten Jahrhunderts entscheidend werden sollte. * Wir werden niemals in der Lage sein, die jeweilige Herkunft der zehn Essays zu literarischen und philosophischen Autoren von Laurence Sterne bis Stefan George zu rekonstruieren, die auf ein zuvor erschienenes, ungarisches Buch von 1910 mit nur acht Texten zurückgehen, die Lukács 1911 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Seele und die Formen9 publiziert hat. Bereits vor der Veröffentlichung des ersten Buches brachte eine intellektuelle Budapester Zeitschrift fünf dieser Texte heraus. Zwei weitere, die Lukács der deutschen Übersetzung des Buches noch hinzufügte (einen der beiden hatte er selbst auf Deutsch verfasst) waren zuvor in zwei verschiedenen deutschen Zeitschriften erschienen. Weiterhin können wir davon ausgehen, dass alle zehn Texte in den Jahren vor 1910 in Berlin entstanden, wo Lukács nach seiner Promotion mit 21 Jahren an der Universität Kolozsvár in der ungarischen Provinz (heute Cluj in Rumänien) mit Georg Simmel als wichtigstem Mentor arbeitete, im intellektuellen Klima der „Lebensphilosophie“. Die Idee, die Texte in einem Buch zu vereinen, geht auf den Frühling 1909 zurück 8 Siehe, mit weiteren Referenzen, meinen Artikel: Warum wir Klassiker brauchen. Ideengeschichten aus dem Kalten Krieg, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010), S. 111–120; und: Klassiker anders, heute, in: Bertholt Franke/Ulrich Ribbert/Joachim Umlauf (Hg.), Kanon und Bestenlisten. Was gilt in der Kultur? Was zählt für Deutschlands Nachbarn?, Göttingen 2012, S. 53–66. 9 Dies ist die Schlussfolgerung, welche von Ahn und Müller aus ihrer sachkundigen Recherche ziehen. Für weitere, die Publikationsgeschichte des Buchs betreffende Details vgl. die Untersuchung des gleichen Artikels, S. 66 und hier Fußnote [5].
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und auf Lukács’ Korrespondenz mit seinem sogar noch jüngeren Freund, dem bereits bekannten Kunstkritiker Leo Popper.10 Ausgehend vom Titel ‚Die Seele und die Formen‘ sollte das Projekt sich klar mit der Gattungsform des Essays assoziieren. Als offene Fragen blieben zunächst, ob die französische Genrebezeichnung oder das ungarische und deutsche Äquivalent ‚Versuch‘ passender sei,11 dann die Anordnung der Texte, und zuletzt und vor allem die existentielle Funktion des kritischen Schreibens (wie wir es heute bezeichnen würden), denn Lukács’ Absicht war es, den Diskurs in diese Richtung zu erweitern. Im Briefwechsel zwischen Lukács und Popper kam einige Wochen später die Frage auf, ob das Buch Irma Seidler gewidmet werden sollte. „Mit der Malerin [aus Budapest] verband ihn 1908 eine ernsthafte Liebesbeziehung, die aber, wie Júlia Bendl über den jungen Lukács schreibt, nie den Rahmen ‚herrschender gesellschaftlicher Konventionen‘ überschritten habe.“12 Irma Seidlers Zuneigung mag der Intensität von Lukács’ Gefühlen nie entsprochen haben, doch erwog sie möglicherweise eine Heirat mit ihm. Lukács selbst hingegen war überzeugt, dass die institutionelle Form und der Alltag der Ehe Schönheit und Leben wahrer Liebe zerstöre und nahm deshalb leidenschaftlich – aber erfolglos – Abstand. Der Essay über „Das Zerschellen der Form am Leben: – Søren Kierkegaard und Regine Olsen“ in Die Seele und die Formen war in seiner historischen Empathie ebenso wie in seiner philosophischen Untersuchung direkt von dieser Erfahrung motiviert.13 Die Unvereinbarkeit von Leben und institutionellen Strukturen behandelnd, zieht sich ihr Einfluss wie eine Obsession durch verschiedene weitere Texte. Am 18. Mai 1911, nachdem sie einen anderen Mann geheiratet hatte und kurz nach einer außerehelichen Affäre, nahm sich Irma Seidler in Budapest das Leben – vermutlich in Folge einer Depression. Lukács widmete die deutsche Fassung seines Buches ihrem Andenken,14 wo die frühere ungarische Version noch mit indirekter, nahezu distanzierter Geste auf Irma Seidler verwies: „In die Hände sei dieses Buch gelegt, die es mir 10 Als kompakte Auswahl von Poppers Schriften (mit hervorragendem Epilog) im deutschen Original: vgl. Schwere und Abstraktion, Berlin 1987. 11 Popper bevorzugte den deutschen Begriff „Versuche“ – welcher aus diesem Grund im Titel seiner Textsammlung von 1987 verwandt wird, vgl. Fußnote [10]. 12 von Ahn/Müller, S. 64, zitieren aus: Júlia Bendl, Lukács György élete a század-fordulótól 1918-ig [Das Leben György Lukács’ von der Jahrhundertwende bis 1918], Budapest 1994, S. 105–124. 13 Man beachte, wie nachdrücklich Judith Butler in ihrer „Einleitung“ der englischen Übersetzung „Soul and Form“ (S. 11ff.) seine Beziehung mit Irma Seidler als entscheidend für die Essays aus „Seele und Form“ einordnet. – György Lukács, Soul & Form (hg. v. John T. Sanders/Katie Terezakis), with an Introduction by Judith Butler, translated by Anna Bostock, New York 2010. 14 „Dem Andenken Irma Seidlers“.
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gaben“.15 Während der Monate nach Irmas Tod versuchte er die existentielle Herausforderung in einem Text zu verarbeiten, der später unter dem Titel „Von der Armut am Geiste – ein Brief und ein Gespräch“ veröffentlicht wurde.16 * Über Georg Lukács’ Reaktionen auf diesen dramatischen Abschnitt seines Lebens wissen wir durch eine Serie von Tagebucheinträgen, die er am 25. April 1910 begann und am 24. Mai 1911, sechs Tage nach Irma Seidlers Selbstmord, beendete.17 Sie offenbaren, wie er, mithilfe von Konzepten und Motiven der Lebensphilosophie, seine Zerrissenheit zwischen der Entscheidung, Abstand zu nehmen, und der unwiderstehlichen Anziehungskraft, die seine Angebetete auf ihn ausübte, verarbeitete. In diesem Prozess brachte er solche Konzepte zu einer neuen, oft exzessiven emotionalen Intensität, welche zweifellos auch die Essays aus Die Seele und die Formen durchdringt, vor allem die als „Ein Brief an Leo Popper“ verfasste Einleitung „Über Form und Wesen des Essays“. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte die Lebensphilosophie ihre Spuren im westlichen Denken hinterlassen und, anstatt es zu einer kohärenten und klar gefassten Doktrin zu bündeln, eine zentrifugale Vielzahl an Reaktionen ausgelöst – als Form von Widerstand zu einer normativen Vorherrschaft von Rationalität als Erbe der Aufklärung und des deutschen Idealismus.18 Der Begriff „Leben“ – den Lukács synonym zu „Seele“ verwendet19 – entwickelte sich zu einem oft verwendeten Ausdruck, um auf eine Kraft anzuspielen, die außerhalb der Rationalität liegt oder von ihr nicht zähmbar ist, wie zum Beispiel im Denken Schopenhauers und Nietzsches. „Leben“ in seiner Unmöglichkeit definiert oder konventionell umschrieben zu werden, verwies auf eine ersehnte Intensität, auf das Versprechen, Durststrecken existentieller Ödnis überbrücken zu können. Aus diesem allgemeinen Begriff arbeiteten Henri Bergson und Wilhelm Dilthey um 1900, anhand des semantischen Arsenals akademischer 15 Meine Freundin Amalia Kerekes führt diesen Satz, der den Bezug auf Irma Seidler weniger unaufrichtig machte, auf einen Vorschlag von Leo Popper zurück. 16 Der Text wurde als Beigabe in die englische Übersetzung von Die Seele und die Formen aufgenommen, S. 210–214. 17 Keines der Bücher oder Artikel, die ich bezüglich des intellektuellen und emotionalen Lebens des jungen Georg Lukács und vor allem seiner Beziehung mit Irma Seidler befragt habe, konkurriert in der Dichte historischer Details und dem tiefen Verständnis mit Thomas Harrisons Buch 1910. The Emancipation of Dissonance, 1997, bes. S. 88–90 und 189–190. 18 Vgl. G. Pflug, Lebensphilosophie, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel 1986, S. 135–140. 19 Er verließ sich vermutlich auf die aus der antiken Philosophie stammende und durch mittelalterliche Theologie gefestigte Tradition, die „Anima“ auf die geistige wie auf die körperliche Dimension menschlichen Daseins gleichermaßen und untrennbar anzuwenden.
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Disziplinen und Traditionen wie Geschichte, Psychologie (Dilthey) und Biologie (Bergson), eindeutigere Versionen heraus. Wenn es zu Beginn seines Tagebuchs heißt: „Es ist doch eigenartig und spannend, ein Tagebuchheft zu öffnen (das wirkt sogar auf mich, sogar in meinem heutigen Zustand)“, so muss Lukács bewusst gewesen sein, dass ihn diese Aufzeichnungen hauptsächlich – wenn nicht ausschließlich – bei dem Versuch unterstützten, seine leidenschaftliche und verzweifelte Liebe für Irma Seidler zu bewältigen.20 Aber wo die Philosophie ihm Hilfe zur Klärung der schwierigen Situation bot, wurden auch ihre Konzepte und Argumente komplexer und emotional aufgeladen, da sie sich mit Lukács’ gelebter Erfahrung verschränkten. Deutlich wird dies in seinem Eintrag vom 8. Mai 1910, in dem er Irma direkt mit dem „Leben“ identifiziert:21 Nachts spürte ich wieder: Irma ist das Leben. Die Erinnerung an einen Ausflug zur Margareteninsel wurde in mir wach [auf der Donau in Budapest]; Dummheiten; Spiele; erraten, wer was ähnlich ist (und ich dachte daran, wie nett sie mich charakterisierte – Biedermeieruhr – und wie dumm ich sie), und es fiel mir ein, daß dieser (Aussee ausgenommen) der erste und letzte Fall in meinem Leben war; […] Und solange das nicht da ist: daß alles Berührung und alles gleichermaßen Berührung ist, solange ist gar nichts da. Ein Nichts ist die ‚Seelengemeinschaft‘; und ein Nichts ist es, „verliebt“ zu sein. Das Befruchtende, das Befreiende ist darin: beisammen zu sein; […] Alles ist vergebens! Es gibt nur sie – selbst wenn ich sie jetzt nicht mehr „liebe“, nicht mehr brauche, nicht mehr zurückwünsche. Egal. Die Erinnerung an eine Episode mit ihr ist mehr als ein Leben, das man mit einer anderen verbringen kann. (S. 10)
Neben dieser ersten Gleichsetzung von Irma und Leben trägt die Bemerkung Grundzüge einer affektiven und semantischen Dynamik, welche auch in den Essays von Die Seele und die Formen wirkt. Die Energie des Lebens entsteht für Lukács ausschließlich in der ursprünglichen und auch vergänglichen „Berührung“ mit anderen. Dem entgegen erscheinen institutionelle Formen („Seelengemeinschaft“) und sogar jede Art emotionaler Kontinuität („Liebe“) sämtlich als Bedrohung und potentielle Unterdrückung der Lebendigkeit des Lebens. Während dieser Jahre mag Lukács nicht nur geglaubt haben, dass sich das „Leben“ für ihn persönlich allein im Erinnern an Irma manifestiere; er könnte tatsächlich über20 A. d. Ü.: Mit dem ersten Satz des Tagebuchs zieht Lukács eine Parallele zwischen seiner Situation und der des Professors Endre Fábri (Figur aus „Doktor Szélpál Margit“, Béla Balázs, Budapest 1909) der „[…] nämlich die Physiologie nicht ohne sie [Margit Szélpál] schreiben konnte […]. Er brauchte sie nicht und braucht sie auch jetzt nicht – kann aber ohne sie die Physiologie nicht schreiben.“ György Lukács, Tagebuch 1910/1911, Berlin 1991, S. 7. 21 Über das Konzept „Leben“ in Lukács’ Frühwerk vgl. Thomas Harrison, 1910, S. 99–100, 194.
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zeugt gewesen sein, Erinnerung und „Wiederaufrufen“ ganz generell sei die einzig mögliche und wahre Form, überhaupt am Leben teilzunehmen. „Berührung“ anstelle institutioneller Gefüge erschien Lukács als angemessene Modalität, sich dem Leben zu stellen, denn das Leben sei nach Baudelaires „Peintre de la vie moderne“ (1863) mit der temporären Dimension der Gegenwart als ein „nicht mehr wahrnehmbar kurzer Moment des Übergangs“ verbunden. Am 11. Mai 1910 „nachts“ notiert Lukács: „Der Augenblick aber, in welchem ich ich war, ist tatsächlich das Leben, das Leben selbst, das ganze Leben; und die das ganze ‚Leben‘ ausfüllenden Stimmungen sind doch nur ‚augenblicklich‘“ (S. 14). Während des dreizehnmonatigen Tagebuchführens wurde er zunehmend von dem Gedanken eingenommen, jedes Hindernis, das ihn durch seine Beziehung mit Irma vom „Leben“ in seiner imaginierten Reinheit oder Vollkommenheit hätte trennen oder entfremden können, überwinden zu müssen – diese Besessenheit, ein Zustand, in dem man auf alles, was einen betrifft, mit übertriebenen Worten und Gefühlen reagiert, fasst Lukács’ Gemütszustand dieser Zeit zusammen. Am 29. Mai, „nachts, während der Arbeit“, spielt er mit einem neuen Entwurf der Differenz zwischen den Begriffen „Leben“ und „das Leben“, beinahe konträr zur Unterscheidung, die er in der Einleitung zu Die Seele und die Formen entwickelt hatte. In seinem Tagebuch scheint der Begriff „Leben“ für den „Alltag“ zu stehen, das heißt für all das, dem Lukács zu entkommen versuchte, während „das Leben“ ekstatische Unmittelbarkeit bedeutete: […] das ist, jawohl, der Unterschied zwischen dem Leben und dem Leben. Das Leben verwäscht alles: die Zeit, die Entwicklung, die Augenblicke führen dort Menschen zusammen, halten sie trotz allem beisammen, die (das Abzurechnende abgerechnet) empirisch füreinander bestimmt sind. Das Leben „rechnet“ nie etwas „ab“. Es ist außerhalb von Raum und Zeit. Kein Vergessen, kein Verzeihen, keine Stimmung. Wesenheiten verkehren mit Wesenheiten. – Und darum ist es Schwäche (wenngleich notwendige Schwäche) von mir, hier „verzeihen“ zu können. (S. 21)
Durch „das Leben“ wird möglich, was Lukács mit dem Schema von „Wesenheiten verkehren mit Wesenheiten“ (dem vom „Leben“ „empirisch füreinander bestimmt“-Sein entgegengesetzt) entdeckt, dass „das nackte Leben“ sozusagen zentral und entscheidend wird: Hingegen deutet er an, dass Irma zu „vergeben“, ihn verstoßen und sich verheiratet zu haben, für ihn einen Schritt Richtung „Leben“ als institutionelle Kontinuität und weg vom Leben als Ganzes bedeuten würde, ein Leben nicht besser als gerade ertragbar. Aufgrund seiner Phobie vor Alltag und Greifbarkeit führt die Sehnsucht nach „dem Leben“ Lukács paradoxerweise zu dem Schluss – praktisch wie philosophisch –, dass ihn ekstatische intellektuelle
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Konzentration am nächsten zu reiner Vitalität und Energie bringen könne (eine „paradoxe“ Schlussfolgerung, da dem Leben auf den ersten Blick nichts weiter entfernt scheint als ekstatische intellektuelle Konzentration). In diesem Sinne schreibt er am 1. Oktober 1910: „Kein Tag dürfte vergehen, ohne daß man einige Seiten in einem großen Philosophen liest. […] Ich habe mich verzettelt, inmitten der Menschen gelebt, an unbedeutenden Kleinigkeiten teilgenommen – das ist unerlaubt […]“ (S. 34). Trotz solcher Vorsätze ist es nicht verwunderlich, dass Lukács sich nach Irma Seidlers Tod seine distanzierte Haltung zum Vorwurf macht: „Ich hätte sie aber vielleicht retten können, hätte ich sie bei der Hand gefaßt und geführt.“ (S. 37). Zu diesem Zeitpunkt war die Distanz vom empirischen „Leben“ als Vorbedingung dafür, sich selbst der Fülle und Unmittelbarkeit „des Lebens“ auszusetzen, bereits lang zu einem zentralen Motiv in Lukács’ Denken und Fühlen geworden, wie wir seinem Essay über den „Essay“, der Einleitung zu Die Seele und die Formen, entnehmen können. Dieser Text dient, als Referenzpunkt in Lukács’ frühen Schriften, meinem Versuch, Inspiration für die heutige Situation der Literaturwissenschaft zu finden. * Die Lebensphilosophie als Horizont und Georg Lukács’ Beziehung mit Irma Seidler als Quelle existentieller Irritation und Energie aufzurufen, bietet dem Leser mehr als nur eine doppelte Kontextualisierung von „Über Form und Wesen des Essays“. Da sich dieser Essay über den Essay nicht einfach erschließen lässt, suchte ich, für ein tiefgründigeres Verständnis, nach einem überzeugenden Anhaltspunkt in Lukács Arbeit (und entdeckte diesen schließlich in seinem unnachgiebigen Bestreben, einen direkten Zugang zum „Erlebnis des Lebens“ zu öffnen). Jürgen Kaube hat sicherlich Recht: Beinahe vorsätzlich kultiviert Lukács eine konzeptuelle Widersprüchlichkeit und Lückenhaftigkeit anstelle eines argumentativen Bogens in seinem Schreiben und sieht sie dabei doch gern als exemplarisch für das gesamte Genre; was jede immanente Herangehensweise, jedes Herausarbeiten von Fragmenten von Bedeutung, intellektuellen Positionen oder integralen Interpretationen schwierig – wenn nicht unmöglich – macht. Noch bevor man sich auf besagten Text konzentrieren kann, stolpert man über Verständnisprobleme ganz praktischer Art. Die Notizen aus Lukács’ Tagebüchern machen beispielsweise deutlich, wie fließend er die Distinktion zwischen den Begriffen von „Leben“ und „Seele“ angelegt hat – und wie somit eine permanente Ursache zur Verwirrung entstanden ist. Sehr früh im Text, kurz bevor er beginnt, den Essay als Genre und intellektuelle Geste jenseits von Kunst und Wissenschaft zu kennzeichnen, kündigt Lukács seine Absicht an, „[…] den Essay so scharf wie überhaupt möglich zu isolieren eben da-
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durch, daß ich ihn jetzt als Kunstform bezeichne“ (S. 5).22 Als zweites dominiert das Gegenpaar „Kunst und Wissenschaft“ Lukács’ erste Seiten, was in folgendem Satz kulminiert: „In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale. Hier scheiden sich die Wege, hier gibt es keinen Ersatz und keine Übergänge“ (S. 6–7). Kunst steht mit dem Leben in Berührung (Lukács schreibt: mit „Seelen und Schicksalen“) und Kunst hat eine Tendenz – und das Potential –, „allen Inhalt in Form aufzulösen“. „Wissenschaft“ hingegen löst Leben in Inhalt, das heißt in Konzepte und Wissen auf.23 Um die Dinge komplizierter zu machen – aber, wie man sagen muss, auch präziser –, erinnert Lukács seine Leser einige Absätze später daran, dass die Entfernung zwischen den Dimensionen Leben und Konzept keine absolute ist. Und dabei schlägt er noch eine weitere Unterscheidung zwischen „dem Leben“ und „Leben“ vor, die trotz Ähnlichkeit semantisch von der in seinem Tagebuch beschriebenen Polarität abweicht. Diesmal – und konvergent mit Edmund Husserls Kontrastierung von „Erfahrung“ und „Erlebnis“ – nimmt „das Leben“ Bezug auf eine Idee von Leben, wohingegen „Leben“ für einen Zustand der Unmittelbarkeit steht (die englische Übersetzung zum Beispiel, verwendet passend „life“ für „das Leben“ und „living“ für „Leben“). Zusammengefasst versucht Lukács hier zu zeigen, wie „das Leben“ und „Leben“ letztlich und zwangsläufig mit dem menschlichen Dasein einhergehen: „In jedem Erlebnis eines jeden Menschen sind beider Elemente enthalten, wenn auch in immer verschiedener Stärke und Tiefe […]“ (S. 10). In der deutschen akademischen Tradition – und das bedeutet: für das intellektuelle Koordinatensystem des frühen Lukács – liegen „Kunst-Wissenschaft“, „Literatur-Wissenschaft“ und ihre Diskurse zwischen „Kunst“ und „Wissenschaft“. Mit anderen Worten: Diese Disziplinen und ihre Diskurse verhandeln „Kunst“ und „Literatur“ unter den Bedingungen der „Wissenschaft“. Nach einigen Versuchen, die seiner maßgeblichen Intuition nicht gerecht zu werden schienen, entschied 22 Der Text suggeriert an dieser Stelle, es könne sich hierbei um eine, lediglich auslösende Übergangsstrategie handeln: „Ich versuche den Essay so scharf wie überhaupt möglich zu isolieren eben dadurch, dass ich ihn jetzt als Kunstform bezeichne.“ Auf der letzten Seite kehrt Lukács jedoch explizit zu seiner ursprünglichen „Definition“ des Essays als Kunstform und Nicht-Kunstform zurück und unterstreicht, dass er doch beides ist: „Jetzt erst klänge es nicht widerspruchsvoll, doppelsinnig und wie eine Verlegenheit, ihn ein Kunstwerk zu nennen und doch fortwährend das ihn von der Kunst Unterscheidende hervorzuheben: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränitaet dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung“ (S. 39). 23 Adorno, Der Essay als Form, S. 12f. Trotz großer Wertschätzung von Lukács’ Text notiert und kritisiert Adorno dessen Widersprüchlichkeit – jedoch ohne Einbeziehung der Erläuterung auf der letzten Seite, vgl. Fußnote [21].
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Lukács endlich, den kritischen Diskurs als nicht-„wissenschaftlich“ einzuordnen; also als einen Diskurs, der Kunst und Leben nicht in Begriffe auflöst, aber die Dimension erlebter Erfahrung erreicht und, mögen wir guten Gewissens hinzufügen, als dem Leben nahe kommend: Die Intellektualität, die Begrifflichkeit ist es, als sentimentales Erlebnis, als unmittelbare Wirklichkeit, als spontanes Daseinsprinzip; die Weltanschauung in ihrer unverhüllten Reinheit als seelisches Ereignis, als motorische Kraft des Lebens. Die unmittelbar gestellte Frage: Was ist das Leben, der Mensch und das Schicksal? Doch als Frage nur; denn die Antwort bringt auch hier keine „Lösung“, wie eine der Wissenschaft oder wie – auf reineren Höhen – jene der Philosophie […] (S. 15).
Dass eine Übung von „Intellektualität“ und „Begrifflichkeit“ Autoren und Leser zu einem „Erlebnis“ und somit zum Leben führt, ist der überraschende, vielleicht sogar paradoxe Anspruch und die Möglichkeit, die Lukács mit dem Essay als Gattung verbindet. Anstatt wie die Wissenschaft und Philosophie, Formen der Kunst und Literatur – das heißt, der Kunst und Literatur inhärentes Leben und Seele – in Begriffe und Fragen umzuwandeln, nutzt der kritische Essay die Form als eigene „Stimme“: Die Form ist die Wirklichkeit in den Schriften des Kritikers, sie ist die Stimme, mit der er seine Fragen an das Leben richtet: das ist der wirkliche, der tiefste Grund dessen, daß Literatur und Kunst die typischen, natürlichen Stoffe der Kritik sind. Denn hier kann aus dem Endziel der Poesie ein Ausgangspunkt und ein Anfang werden; denn hier scheint die Form, selbst in ihrer abstraktesten Begrifflichkeit, etwas sicher und handgreiflich Wirkliches. Aber dies ist nur der typische Stoff des Essays, nicht der einzige. Denn nur als Erlebnis braucht der Essayist die Form und nur ihr Leben braucht er, nur die in ihr enthaltene lebendige seelische Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist aber in jeder unmittelbaren, sinnlichen Äußerung des Lebens zu finden, aus ihr heraus und in sie hinein zu lesen […] (S. 18).
In ihrem bemerkenswerten Einleitungstext zur englischen Übersetzung24 betrachtet Judith Butler Momente der Konvergenz, Fusion und „Untrennbarkeit“ von Seele / Leben und Form als Lukács’ großes Anliegen. Ich hingegen glaube, dass die Fähigkeit des Essays, das Leben durch Form als Erlebnis zu berühren, sein Hauptanliegen, ja man könnte fast sagen, seine Hauptentdeckung war; und diese Fähig24 A. d. Ü.: auf Deutsch: Neuauflage Georg Lukács, Die Seele und die Formen. Essays, mit einer Einleitung von Judith Butler, Aisthesis, Bielefeld 2011.
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keit liegt im generischen Potential, die Form als „Stimme“ zu nutzen (mit anderen Worten: sie manifestiert sich in der Freiheit, sich nicht einem standardisierten literarischen Gebrauch von Sprache zum Zwecke semantischer und argumentativer Klarheit unterordnen zu müssen). Darum charakterisiert Lukács, kaum überraschend, in einem schönen und häufig zitierten Satz, den vermittelnden – und für ihn so besonders produktiven – Status des kritischen Essays als „nach Wahrheit strebend“ und „das Leben“ findend: „Es ist richtig, nach der Wahrheit strebt der Essay: doch wie Saul, der da ausging, um die Eselinnen seines Vaters zu suchen und ein Königreich fand, so wird ein Essayist, der die Wahrheit wirklich zu suchen imstande ist, am Ende seines Weges das nicht gesuchte Ziel erreichen, das Leben“ (S. 26). Die schwierigere Frage jedoch, auf die ich in Lukács’ einleitendem Essay keine eindeutige Antwort finden kann, ist – um es in einer anderen als seiner eigenen Sprache zu formulieren –, wie sich das durch den kritischen Essay ermöglichte Erlebnis des Lebens, und somit seine potentielle Funktion, von der Funktion von Kunst selbst unterscheidet. Der zweite Part des Textes scheint hauptsächlich mit diesem Problem zu ringen, und es könnte sein, dass es sein Hang zur Undeutlichkeit-produzierenden Offenheit im Schreiben und Denken war, der Lukács an der Lösungsfindung scheitern ließ. Mehrfach verstrickt er sich bei dem Versuch, zu beweisen, dass die Erfahrung der Form eines literarischen Texts oder eines Kunstwerks durch die Präsentation in einem kritischen Essay nicht abstrakter (und dadurch weniger unmittelbar) wird, als die Erfahrung von Formen des Lebens durch Kunst oder Literatur selbst. Das ist aber nicht wirklich das Problem, um das es geht – zumindest nicht aus meiner Perspektive. Die offene Frage, die man gern diskutiert sähe (aber nicht findet), hat wenig damit zu tun, ob ein kritischer Essay dem Leben so nahe kommen kann, wie es die Kunst oder die Literatur vermag. Es geht eher darum, wie die Wirkung des Essays auf den Leser sich von der Wirkung eines literarischen Texts oder eines Kunstwerks unterscheidet. In Ermangelung einer eindeutigen Lösung zu diesem Problem in Georg Lukács’ Text möchte ich den Fokus auf das wiederkehrende Motiv eines spezifischen Zustandes der Leichtigkeit lenken, der den kritischen Essay im Vergleich zu Kunst und Literatur charakterisieren soll – Lukács assoziiert ihn mit Worten wie „Humor“ und „Ironie“: Darum müssen die meisten Menschen glauben, die Schriften der Essayisten seien nur geschrieben, um Bücher und Bilder zu erklären, ihr Verständnis zu erleichtern. […] Die Ironie meine ich hier, daß der Kritiker immer von den letzten Fragen des Lebens spricht, aber doch immer in dem Ton, als ob nur von Bildern und Büchern, nur von den wesenlosen und hübschen Ornamenten des großen Lebens die Rede wäre; und auch hier nicht vom Innersten des Innern, sondern bloß von einer schönen und nutzlosen
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Oberfläche. So scheint es, als ob jeder Essay in der größtmöglichsten Entfernung von dem Leben wäre, und die Trennung scheint um so größer zu sein, je brennender und schmerzlicher die tatsächliche Nähe der wirklichen Wesen beider fühlbar ist (S. 20–21).
Diese „Ironie“ – und die Distanz vom Leben, die sie in einem Zug mit einer „brennenden“ Nähe erzeugt – könnte für Akte und Momente des Urteilens verantwortlich sein, die für die Gattung des kritischen Essays stehen. Lukács spricht von solchen Akten und Momenten gegen Ende seines Texts: […] eine ursprüngliche und tiefe Stellungnahme zum Ganzen des Lebens, eine letzte, nicht mehr aufzuhebende Kategorie der Erlebnismöglichkeiten. Sie bedarf also nicht nur einer Erfüllung, die sie ja aufheben würde, sondern auch einer Gestaltung, die sie – ihre eigenste und unteilbare Wesenheit – zum ewigen Werte erlöst und rettet. Diese Gestaltung bringt der Essay. […] Diese „Anwendung“ erschafft sowohl das Urteilende wie das Geurteilte, sie umkreist eine ganze Welt, um ein einmal Daseiendes in eben seiner Einmaligkeit ins Ewige hinaufzuheben. Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertentscheidende an ihm (wie im System), sondern der Prozeß des Richtens. (S. 38)
Ich wage mich nicht an eine Interpretation dieser Behauptungen, etwa um Georg Lukács’ Ahnungen in Bedeutungszusammenhänge oder gar einen übergreifenden Argumentationsgang zu übersetzen. Zweifellos ist seine unzugängliche Sprache die auffälligste Schwäche seines Essays über den Essay – und vielleicht doch auch seine exzentrischste Stärke. Aus heutiger Sicht könnte sie eine Stärke darstellen; wenn wir verstehen zu sehen, wie einzelne Essays eine Dimension intellektuellen Lebens, in dem wohlgeformte Begriffe notgedrungen scheitern müssen, durchdrungen haben und noch immer eindringen – in eine Dimension, die für unser Selbstverständnis als Geisteswissenschaftler immer noch relevant sein könnte, und vielleicht gerade heute, ein gutes Jahrhundert nachdem der Text zum ersten Mal geschrieben und gelesen wurde. * Der wirklich hervorragende Eintrag zu „Georg [György] Lukács“ in der Stanford Enzyklopädie der Philosophie25 liefert eine indirekte Antwort auf die vorangegangene Frage zur Differenz zwischen Kunst und dem kritischen Essay, während beide das Leben durch das Erlebnis als Modalität behandeln. Der Text legt dar, 25 Erstveröffentlichung 4. November, 2013, Stanford Encyclopedia of Philosophy, online frei verfügbar.
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wie sich Lukács in seinen Frühen Schriften zur Ästhetik vor allem mit der Möglichkeit der Annäherung an „die Intensität und Potentialität des Lebens“ beschäftigt hat, und dass er diese Potentialität durch Alltagsphänomene bedroht sah, von Phänomenen, die sich auf „rein symbolischer und imaginierter Ebene“ bewegen – und auch, überraschender, von der Dimension der Form. Da Lukács Kunst als eine hauptsächlich durch Form konstituierte Dimension betrachtete, würde sich jegliche durch Kunst „erreichte“ Harmonie zwischen Leben und Form zwangsläufig „zum Nachteil“ für die Intensität und Potentialität des Lebens auswirken. Im Gegensatz dazu ermöglicht der kritische Essay aufgrund seiner sprichwörtlichen Offenheit, und vielleicht, weil er die Form als seine „Stimme“ nutzt (sei dies nun versuchsweise unser Schritt in Richtung einer Hypothese über Lukács’ wichtigste Intuition), zu umgehen, was Judith Butler „den Todestrieb der Form“ nennt. Wieso nun die Dopplung der Form im kritischen Essay (das heißt, Kunst und Literatur, aus Form entstanden, treffen auf den kritischen Essay, dessen „Stimme“, um letztere zu erreichen, wiederum seine Form ist), weshalb diese Form-Dopplung eine Strategie sein sollte, um die lebenserdrückenden Auswirkungen der Form zu umgehen, wird vermutlich Lukács Geheimnis bleiben. Und trotzdem stimme ich Theodor W. Adorno zu, dessen Text „Der Essay als Form“, zwischen 1954 und 195526 konzipiert und geschrieben, trotz gelegentlicher Vorbehalte Lukács’ Essay über den Essay von 1910 als Maßstab zur Definition der philosophischen und kritischen Funktionen der Gattung setzt. In einer besonders beeindruckenden Passage legt Adorno implizit eine Erklärung für die Undurchdringbarkeit von Lukács’ Sprache nahe, indem er den Zusammenhang zwischen dem Essay als Genre und seinem begrifflichen Umfeld mit dem eines Ausländers vergleicht, der versucht, die ihn umgebende Sprache zu lernen und zu sprechen, ohne sich jemals mit einem Wörter- oder Grammatikbuch zu helfen: Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten vergleichbar dem Verhalten von einem, der in fremdem Land gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern. Er wird ohne Diktionär lesen. Hat er das gleiche Wort, in stets wechselndem Zusammenhang, dreißigmal erblickt, so hat er seines Sinnes besser sich versichert, als wenn er die aufgezählten Bedeutungen nachgeschlagen hätte, die meist zu eng sind gegenüber dem Wechsel je nach dem Kontext, und zu vag gegenüber den unverwechselbaren Nuancen, die der Kontext in jedem einzelnen Fall stiftet. Wie freilich solches Lernen dem Irrtum exponiert bleibt, so auch der Essay als Form […] (S. 21).
26 Theodor W. Adorno, Der Essay als Form, S. 19.
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Während Adorno – der sich, bezogen auf die Unzugänglichkeit seiner Sprache, gut mit dem frühen Lukács hätte messen können – diese Bedingung nicht explizit macht, scheint er doch sicher anzunehmen, dass diese „Fremdsprache“, welcher sich der Essay aussetzt und für die er provisorische Begriffe zu finden versucht (immer mit dem „Risiko, zu scheitern“), bildlich für Situationen ist, die, anders als Sprache, eine Aneignung durch Begriffe nicht zulassen.27 Rückübersetzt in die Worte des frühen Georg Lukács kann man sagen, indem er sich dem Leben stellt – genauer: der Kunst und Literatur als Spuren des Lebens –, versucht der Essay, Begriffe aus eben dem zu gewinnen, was sich dem Begrifflichen widersetzt. Wie Georg Lukács glaubt auch Theodor W. Adorno, dass die Intensität des Lebens alleinig im Vorübergehen eines Moments erlebbar sei, eines Moments, der für alle Anstrengungen des Alltags entschädigt und sogar die Ewigkeit einlösen kann. Um diese Erkenntnis zu beschreiben, verwendet Adorno zwei Sätze aus Nietzsches „Der Wille zur Macht“: Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsere Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies Eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt, und bejaht. (S. 33)28
* Intensität, Unmittelbarkeit und Plötzlichkeit sind die drei Dimensionen, die wir heute vielleicht am ehesten mit ästhetischer Erfahrung29 verbinden – dies wiederum ein Begriff, der vor hundert Jahren weniger häufig verwendet wurde als heute, obwohl er Georg Lukács’ Reflexionen über Kunst, Literatur und den Essay ganz und gar angemessen gewesen wäre. Jürgen Kaubes Essaykritik im Namen der „Wissen27 Erst gegen Ende seines Texts erklärt Adorno, dass der Essay „mit Begriffen aufsprengen [möchte], was in Begriffe nicht eingeht oder was durch die Widersprüche, in welche diese sich verwickeln, verrät, das Netz ihrer Objektivität sei bloß subjektive Veranstaltung“, ebd., S. 48–49. 28 Adorno zitiert aus: Der Wille zur Macht, Bd. 2, Werke, Ausg. 10, Leipzig 1906. S. 206 (Abs. 1032) – A. d. Ü: das Zitat findet sich im selben Wortlaut in der kritischen Studienausgabe von Giorgio Colli und Mazzino Montinari im Bd. 12, Nachlass 1885–87, München 1999, S. 307f. 29 Dieser Begriff ist unabdingbar mit dem Lebenswerk Karl Heinz Bohrers verbunden, Deutschlands ideenreichsten und produktivsten Denkers auf dem Gebiet ästhetischer Erfahrung.
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schaft“ veranlasste mich, zu Beginn meines Textes festzustellen, dass die akademische Kritik der letzten zwei Jahrzehnte ein gewisser Rekurs von „gesellschaftlich“ oder „politisch“ motivierten Ansätzen hin zu einer Konzentration auf (Kunst und Literatur als Potential für) ästhetische Erfahrung charakterisiert. Diese Wiederkehr, denke ich, wurde durch eine Sehnsucht nach Intensität ausgelöst, welche ich als „zentrale Bedeutung“ von Literatur, Kunst und sogar Philosophie unserer Zeit bezeichnen würde, und worauf Kaube, ohne sie zu benennen, anspielt. Letztendlich könnte das wachsende Verlangen nach Intensität Effekt einer globalen Alltagsumgebung sein, in der Kontingenz und Beliebigkeit, Distanz und der Eindruck, nichts könne unmittelbar präsent sein, tatsächlich gemeingültig geworden sind. Die vergangene Welt der Moderne hat sich als Feld der Zufälligkeit und Relativität bewiesen, als Feld von Eventualität zwischen dem, was nötig, und dem, was möglich erscheint. Diese existentielle Situation befindet sich, teilweise jedoch nicht ausschließlich aufgrund von Neuerungen und Veränderungen in unserer technologischen Umgebung,30 in einem Prozess der Transformation, in dem das, was unmöglich schien und das, was nötig war, beides „einfach möglich“ wird.31 Dass eine derart konturlose existentielle Situation, ein möglicherweise gar nostalgisches Verlangen danach hervorruft, eine Intensität zu empfinden und an einem entsprechenden Umfeld festzuhalten, wenn auch nur für einen Moment – reicht vielleicht aus, um unser wiederbelebtes Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung zu erklären. Doch weshalb sollte es gerade der Essay sein – mit seiner ganzen nun hier ausgebreiteten Komplexität und all seinen Unsicherheiten –, durch welchen als Medium wir uns der ästhetischen Erfahrung nähern? Warum sollten wir uns ihr nicht einfach und ausnahmslos selbst aussetzen – und vor allem: unsere Studierenden – dem Kanon großer Kunstwerke, Literatur und Philosophie? Und aus welchem Grund suchen wir Intensität nicht in den neuen Herausforderungen unserer Existenz – neben Kunst, Literatur und Philosophie? Selbstverständlich ist die Konfrontation mit solchen Herausforderungen und der unvermittelte Kontakt mit Objekten ästhetischer Erfahrung noch immer möglich – und wird es immer bleiben. Doch uns selbst den Herausforderungen der Gegenwart auszusetzen, einschließlich dem Gedanken an ein mögliches Ende der Menschheit als plötzlich realistisch erscheinenden Fluchtpunkt, könnte für die meisten von uns einfach zu viel und zu überwältigend sein. Der kritische Essay hingegen bietet Intensität aus einer Distanz – einer Distanz, die wir als weniger 30 Vgl. Robert Pogue Harrison, Kalifornische Ideologie. Verändert die Welt, und macht sie flach!, in: FAZ, 11.08.2014 – Original: Robert Pogue Harrison, The Children of Silicon Valley. Blog der New York Review of Books, 17. Juli 2014. 31 Mein Buch: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2011, widmet sich einer ersten Beschreibung dieser Situation.
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“brennend“ beschreiben könnten. Dies ist ziemlich offensichtlich einer seiner Vorzüge. Aber als Spur individueller Resonanz und Reaktion auf ästhetische Erfahrung weist er auch in zwei andere Richtungen:32 auf die Existenz von Intensität als Potential und Tatsache sozusagen, diejenigen einladend, die mit ihr nicht vertraut sind; und auch auf idiosynkratische Wege, meist intuitiver Art, auf sie zu reagieren. Diese Sehnsucht nach Leben muss die Basis sein, die unsere Gegenwart mit der Situation und dem Werk des jungen Georg Lukács teilt, vor allem mit seiner Faszination für den Essay als ein Genre; der historische Unterschied könnte sein, dass um die Zeit nach 1900 ein solches Verlangen nach Leben noch ein Zeichen intellektuellen Anspruchs war, es heute aber Teil eines globalen Zustands geworden zu sein scheint. Es ist eines, dass es für das, worum es hierbei ging – und geht –, keine vollkommen adäquaten Begriffe geben kann; doch Lukács’ Vergnügen daran, nicht verstanden zu werden, ist etwas anderes. In der Gattungstradition des Essays zu schreiben, schließt unter keinen Umständen den Versuch zu mehr Klarheit aus. Hinzu kommt, dass die Sprache der frühen Lukács-Texte einer heute entfernten intellektuellen Welt angehört, einer Welt, die zunehmend und auf verschiedenen Ebenen einer Übersetzung bedarf, wenn wir beabsichtigen, sie am Leben und in Reichweite zu halten, sei diese Motivation nun historisch oder existentiell bedingt oder beides. Deutsch von Sarah Lehn
32 Im letzten Kapitel von: Die Macht der Philologie, Frankfurt a. M. 2003, habe ich versucht, ähnliche Perspektiven als „deiktische“ Funktionen der Kritik zu erläutern.
István M. Fehér
Der Nyugat und die Philosophie* I. Geht man von der Feststellung aus, dass die Philosophie bzw. das Interesse für philosophische Fragen in den Spalten der Zeitschrift Nyugat (Westen) von Anfang an präsent war und die kulturelle Orientierung der Zeitschrift in ihrer mehr als drei Jahrzehnte währenden Geschichte in verschiedenen – noch genauer auszuführenden – Formen charakterisierte, dann stellt man nicht nur eine gewissermaßen mit Wahrheitsanspruch auftretende Behauptung auf, sondern formuliert zugleich ein Bestreben, das aus der geistigen Einstellung der Zeitschrift organisch, sozusagen mit trivialer Selbstverständlichkeit, folgte. Bedenkt man, dass die Philosophie – im Sinn ihrer maßgeblichen Vertreter und ihrer Selbstbestimmung – sich von den Anfängen an im Wesentlichen als europäische oder mit einem anderen Ausdruck als westliche Philosophie verstand – Hegel schreibt: „Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident“,1 und in der deutschen Philosophie ist oft die Bezeichnung abendländische Philosophie oder abendländisch-europäische Philosophie zu finden (letzteres ist Heidegger zufolge geradezu eine Tautologie2), aber um uns hier nicht auf deutsche Beispiele zu beschränken, wollen wir daran erinnern, dass auch Bertrand Russell seine grundlegende philosophiegeschichtliche Arbeit unter dem Titel A History of Western Philosophy veröffentlicht hat –, dann kann man die tautologieverdächtige Bezeichnung im Titel dieses Beitrags auf folgende Weise entfalten bzw. zur Sprache kommen lassen: Der Westen und die westliche Philosophie. Dieser Ausdruck ist zwar etwas verblüffend und plump, missverständlich und ungeschickt, Diese Arbeit ist die überarbeitete, vor allem im IV. Teil erweiterte und mit Anmerkungen versehene Version eines Vortrags, der am 9. Mai 2008 auf der von der Abteilung Sprach- und Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest im Rahmen der akademischen Vollversammlung des Jahres 2008 organisierten wissenschaftlichen Sitzung „Die Wege des Nyugat – Zentenariums-Gedenksitzung“ gehalten wurde. 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 1969, Theorie Werkausgabe, Bd. 18, S. 21: „Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter und damit der Geist in sich nieder.“ 2 Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? / What is Philosophy? Bilingual edition, trans. Jean T. Wilde and William Kluback, Albany NY 1976, S. 30 = Gesamtausgabe (GA), Bd. 11, S. 9: „Die oft gehörte Redeweise von der ,abendländisch-europäischen Philosophie‘ ist in Wahrheit eine Tautologie.“ ∗
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aber er expliziert nicht nur auf angemessene Weise den stillschweigenden Sinn des Titels Der Nyugat und die Philosophie, sondern gibt zugleich auch auf angemessene Weise den Grund dafür an, weshalb sich eine vorrangig literarisch-kulturelle Zeitschrift mit dem Namen Nyugat philosophischen Themen und mithin – was damit gleichbedeutend ist – Themen der westlichen Philosophie zuwendet. Dieses Bestreben kommt auf seine Weise sogleich in Ignotus’ Beitrag in der ersten Nummer des ersten Jahrgangs zum Ausdruck, der gleichsam als Einleitung aufzufassen ist und mit charakteristischer Kontrapunktierung den von Széchenyi geerbten Titel Volk des Ostens trägt. „Die Sonne und die Menschheit und die Geschichte sind unterwegs von Osten nach Westen“, ist dort zu lesen. „Auch das Volk des Ostens ist auf diesem Weg, und wenn es ihn geht, so geht es unter derselben Sonne, ist es Teil derselben Menschheit, Gestalter derselben Geschichte wie die größten Nationen“.3 Der Weg von Osten nach Westen erscheint hier als wünschenswerter und gleichsam vorbestimmter Weg dieses Volkes des Ostens, und um zum Voranschreiten auf diesem Weg beizutragen, formuliert Ignotus – spürbar, doch ohne jede besondere Betonung – die ars poetica der Zeitschrift. Hiernach ist es, so denke ich, kaum nötig, das Interesse des Nyugat für die Philosophie ausführlicher zu erklären.4
II. Das Interesse für die Philosophie erscheint in den Spalten der Zeitschrift in unzähligen Gattungsformen: Rezensionen, Berichte, Informationen und Reportagen über die zeitgenössischen Entwicklungen der Philosophie in Ungarn und im Westen sind ebenso zu finden wie Essays mit philosophischem Anspruch, Beiträge, die philosophische Gedanken analysieren oder wälzen, Abhandlungen über Themen oder große Figuren der Philosophie- und Kulturgeschichte sowie ihre Aktualität in der Gegenwart, außerdem Gelegenheitstexte, deren Anlass oft Jahrestage oder das Erscheinen der Werke eines Denkers in ungarischer Übersetzung (Rousseau, Morus, Helmholtz, Kant, Marx, Augustinus) bilden. Ein auch nur annäherndes Bild von diesem reichhaltigen Spektrum zu zeichnen, würde den Rahmen dieses Beitrags weit überschreiten, daher soll im Folgenden eine Blütenlese aus den Artikeln mit philosophischem Bezug versucht werden: dieser oder jener für charakte3 Ignotus, Kelet népe [Volk des Ostens], in: Nyugat 1 (1908), S. 1. 4 Zur ars poetica der Zeitschrift und der erwähnten doppelten Bedeutung von Nyugat siehe ebenfalls den Beitrag Babits’ in der Jubiläumsnummer zum 25-jährigen Bestehen der Zeitschrift: Mihály Babits, A Nyugat és a Nyugat [Der Nyugat und der Westen], in: Nyugat 25 (1932), S. 483–484.
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ristisch erachtete Aspekt wird herausgegriffen und beleuchtet, um auf diese Weise das Verhältnis zwischen „dem Nyugat und der Philosophie“ zu illustrieren. War soeben von den gelegentlich anlassgebundenen Beiträgen über die Großen der Philosophie- und Kulturgeschichte die Rede, so wird es nicht nutzlos sein, sofort auf einen interessanten Zusammenhang zu achten, der zeigt, dass der Nyugat auf dem Niveau des zeitgenössischen Westens stand, jedenfalls insofern, als die Themen der kulturellen Diskussionen des zeitgenössischen Europa in seinen Spalten in angemessener Form erschienen. In seiner Vorlesung des Wintersemesters 1918/19 führte der damals noch ziemlich unbekannte Freiburger Privatdozent Martin Heidegger am Beginn seiner hermeneutischen Umgestaltung der Husserlschen Phänomenologie, die sich später als revolutionär erweisen sollte, aus, dass sich die religiöse Meditation mit Vorliebe auf das innere Leben konzentriert und dass die Formulierung der inneren Erfahrungen in der Geschichte der europäischen Literatur eine neue Gattung geschaffen habe, die Autobiographie.5 Das tiefsinnigste historische Paradigma für die Zuspitzung auf die Selbstwelt, die Verlagerung der Lebenswelt in die Selbstwelt, biete das Christentum, führte er aus.6 Dieser Paradigmenwechsel, dass die Autobiographie, die Eigenwelt bzw. das Innenleben in den Vordergrund rückten, macht verständlich, warum wir bei Augustinus so etwas antreffen wie die Bekenntnisse. – In seiner Rezension der ungarischen Übersetzung dieses Werkes von Augustinus schreibt nun Mihály Babits – übrigens zur gleichen Zeit wie Heidegger, sogar etwas früher, nämlich 1917 –, das Neue des „christlichen Stils“ „im Gegensatz zum Antiken, das alles seither Gekommene von allem Antiken unterscheidet und unsere Literaturen modern macht“, sei nichts anderes als „eine Innerlichkeit von Stil und Gefühl, ein Nach-innen-Gerichtet-Sein des Auges und des Herzens, das man nur mit einem Beispiel charakterisieren“ könne. „Und für diese neue, innerliche Literatur hat Augustinus auch eine neue Gattung geschaffen: die psychologische Autobiographie.“7 Die Parallele ist auffällig, und wenn wir den Grund dafür suchen, müssen wir vermutlich auf eine Arbeit verweisen, die in der damaligen Zeit ein ziemlich großes Echo hervorgerufen hat und den Forschern des Themas bis heute als wichtiges Werk gilt, auf die 1907 erschienene Geschichte der Autobiographie von Georg Misch8. Bei Heidegger findet
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Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA, Bd. 58, S. 56–58. Ebd., S. 61. Mihály Babits, Ágoston [Augustinus], in: Nyugat 10 (1917), S. 949–970. Siehe Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Leipzig/Berlin 1907. Auf den ersten Band, der 1931 in der dritten Auflage stark erweitert erschien, folgten noch mehrere Bände, das Werk erschien schließlich in vier Bänden, von denen der zweite und vierte in zwei Halbbänden herausgegeben wurden. Detaillierte englische Übersetzung: A History of Autobiography in Antiquity (Part 1), London 2003.
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sich in der Fußnote ein Verweis auf dieses Werk,9 in Babits’ Rezension nicht, aber es ist anzunehmen, dass Babits das Werk – unmittelbar oder mittelbar – ebenfalls kannte. Georg Misch war übrigens der Schwiegersohn von Dilthey, in dessen Werken diese Schwerpunktverlagerung durch das Christentum bzw. die Bedeutung der Autobiographie aus der Perspektive der Geisteswissenschaften ausführlich besprochen wird,10 und so dürfte – durch Diltheys Vermittlung oder mit Hilfe anderer Vermittlungsquellen – dieser Gedanke in der ungarischen Kultur am Jahrhundertbeginn ebenfalls bekannt gewesen sein. Am Ende seiner Rezension würdigt Babits Augustinus’ Lebensauffassung als Äußerung der Freiheit des forschenden Geistes und sieht in ihm sozusagen einen Vorläufer Luthers. „[...] pure Unruhe, ewige Unzufriedenheit ist sein Teil: dieselbe Unruhe, die in seinem nervösen, vibrierenden Stil sichtbar wird“ – mit diesen Worten schließt die Rezension, und in diesem Zusammenhang sei noch die Bemerkung gestattet, dass Heidegger in seiner oben erwähnten Vorlesung einen Grundzug des wirklichen menschlichen Lebens gerade mit dem Motiv des bei Augustinus zur Sprache kommenden ruhelosen Herzens („inquietum cor nostrum“11) zu charakterisieren meint. Geht es um Heidegger und das Erscheinen der maßgeblichen philosophischen Entwicklungen im damaligen Europa auf den Seiten der Zeitschrift, so darf der 1930 erschienene Husserl-Aufsatz von Vilmos Szilasi nicht unerwähnt bleiben. Diese Arbeit Szilasis ist vermutlich einer der professionellsten philosophischen Beiträge in der Zeitschrift. Szilasi bemüht sich hier nicht nur, Husserls Phänomenologie mit einer gewissen Detailliertheit vorzustellen, sondern zugleich auch darum, bei der gebildeten ungarischen Leserschaft Sympathie für sie zu wecken. In diesem Beitrag, der eigentlich anlässlich eines Jubiläums verfasst wurde (Husserl war im Jahr zuvor, 1929, 70 Jahre alt geworden), wird bei den wichtigsten Schülern Husserls neben Scheler Heidegger nicht nur genannt, sondern die zusammenfassende Vorstellung der Lehren Husserls geschieht tatsächlich gefiltert durch die Optik seiner Gedankenwelt. Szilasi schreibt: 9 Heidegger, GA, Bd. 58, S. 57. 10 Siehe z. B. Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundle gung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. Bernhard Groethuysen, Stuttgart/Göttingen 1990, S. 33 („Die Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit ist die Biographie“), S. 251–259, insbesondere S. 257 („Realität der inneren Welt zu begründen“), S. 259 („Entdeckung der Realität im eigenen Inneren“). Dasselbe im Zusammenhang mit Augustinus siehe z. B. Wilhelm Dilthey, Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens, Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. Bernhard Groethuysen, S. 246. 11 Heidegger, GA, Bd. 58, S. 62. Siehe noch ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, GA, Bd. 60, S. 105 („Unsicherheit“); Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristo teles. Einführung in die phänomenologische Forschung, GA, Bd. 61, S. 174 („Unruhe“).
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Die Phänomenologie befindet sich in der vorteilhaften Lage, dass sie die Forschungen und Positionen Husserls sogleich von einem größeren Ganzen her sichtbar machen kann, denn Heideggers epocheschaffende Arbeiten haben mit vollkommener Radikalität alle Tendenzen zu Ende geführt, die Husserls Gedanken begründen und verbinden. Durch diese Arbeiten (vor allem durch Sein und Zeit, Halle 1927) ist der Horizont sichtbar geworden, in den Husserls Untersuchungen gehören, und der spezielle Platz, den sie innerhalb dieses Horizonts einnehmen.
Wir wollen einige Züge aus Szilasis Zusammenfassung aufgreifen. Die Wahrheit ist für die Phänomenologie so viel wie „Entbergung“, ist dort zu lesen, und diese Bezeichnung verweist eindeutig auf Heidegger (und seine Interpretation der aletheia). Szilasis Explikation der phänomenologischen Perspektive hat auch weniger Husserls transzendentale bzw. Bewusstseinsphänomenologie im Blick: eher lässt er das wirkliche Leben, die Faktizität, sozusagen die lebensphänomenologische Optik, also Heideggers existenziale Analytik zur Geltung kommen. „Das Leben bekümmert sich um sich selbst“, schreibt Szilasi (diese Formulierung, dies sei nebenbei bemerkt, verweist auf den Terminus „Bekümmerung“, der im Denken des jungen Heidegger am Anfang der zwanziger Jahre auftaucht,12 aber in der Sprache des Hauptwerkes nicht mehr vorkommt), „es ist mit sich selbst beschäftigt und tritt mit dem Kümmern um sich selber vor alles, was um es ist“. Szilasi erwähnt die aus Heideggers Sicht so angenehme Perspektive der „Schusterwerkstatt“, dann schreibt er mit einer auch Husserl gewiss nicht fremden, aber der Betonung nach eindeutig von Heidegger beeinflussten Aussage: „Tatsächlich ist nicht die Äußerung der Ort der Wahrheit“.13 Charakteristisch ist außerdem die folgende Zusammenfassung der Umwelt. Wir können nicht einen isolierten Tisch erfahren, wir können ihn weder denken noch an ihn denken, wir verstehen ihn vielmehr immer als Tisch, der von vornherein Teil eines Ganzen ist, von vornherein so da ist und ,dazu da‘ ist, um zum Zimmer zu gehören. Dieses Zimmer ist ein Arbeitszimmer oder ein Esszimmer oder ein Konferenzraum oder ein Operationssaal und so weiter. Der Tisch kann sich in jeglicher Form nur innerhalb dieses Ganzen melden, er hat nur aus diesem, aus dem schon vorher verstandenen Gan12 Vgl. z. B. Heidegger, GA, Bd. 62, S. 362 („Bekümmerung um die Existenz“, „Bekümmerung des faktischen Lebens um seine Existenz“). 13 Siehe hierzu Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 44a, Tübingen 151979, S. 215; Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA, Bd. 21, S. 135 („Satz ist nicht der Ort der Wahrheit, sondern Wahrheit der Ort des Satzes“); Martin Heidegger, Wegmarken, S. 271 (= GA, Bd. 9, S. 443). Zu dem gesamten Themenbereich István M. Fehér, Martin Heidegger. Egy XX. századi gondolkodó életútja [Martin Heidegger. Der Lebensweg eines Denkers des 20. Jahrhunderts], 2., erweiterte Ausgabe. Budapest 1992, S. 143–145.
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zen einen Sinn. Das Erscheinen bei dem Ganzen beginnt schon eher als das, was sich in der Erscheinung meldet. Die Arbeit, das Essen, die Konferenz, die Operation jedoch betreffen uns; wir sind es, die arbeiten, essen, verhandeln, operieren.14
III. Nach dieser Blütenlese und den dabei zutage geförderten Funden darf vielleicht ohne allzu großes Risiko der Versuch einer umfassenden Charakterisierung der gesamten philosophischen Einstellung des Nyugat unternommen werden. Mag die Palette der Beiträge mit philosophischen Themen auch noch so farbenreich, komplex und differenziert sein, so dürfte doch die Feststellung nicht in die Irre gehen, dass für die philosophische Betrachtungsweise des Nyugat von Anfang an eine positivistische bzw. wissenschaftspositivistische Betrachtungsweise charakteristisch war – diese letztere Bezeichnung steht für eine Einstellung zu den Wissenschaften, die die paradigmatische Form des menschlichen Erkennens in den Wissenschaften, vor allem in den Naturwissenschaften, erblickt und die Wissenschaften als unbedingte Autorität anerkennt –, die in unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten kann und auch da gültig ist, wo die Wissenschaften und die von den Wissenschaften beherrschte Zivilisation Gegenstand kritischer Distanzierung sind und das Ausweichen vor und die Abwendung von ihr sich in einer Art Ästhetizismus manifestieren. Wie in ähnlichem Zusammenhang früher schon festgestellt: Ästhetizismus und Szientismus kommen nicht nur gut miteinander aus, sie können einander auch ergänzen – ja, sie sind sogar gelegentlich aufeinander angewiesen. Die ästhetizistische Einstellung gegenüber der Kunst kann die szientistisch-positivistische Auffassung der Wissenschaft nicht nur akzeptieren, sie stützt sich auch stillschweigend auf diese; m. a. W.: einer irrationalisierten Kunstauffassung kann – ohne dass dies jemals thematisiert würde – sehr gut eine überrationalisierte Wissenschaftsauffassung zugrunde liegen, in ihr ihre Ergänzung finden.15 – Nun fehlt die undiskutierte, wie selbstverständliche Anerkennung des Vorrangs der Naturwissenschaften und die posi14 Vilmos Szilasi, Edmund Husserl, in: Nyugat 23 (7/1930), S. 521–532. 15 Siehe István M. Fehér, József Attila esztétikai írásai és Gadamer hermeneutikája. Irodalmi szöveg és filozófiai szöveg [Die ästhetischen Schriften Attila Józsefs und Gadamers Hermeneutik. Literarischer Text und philosophischer Text], Bratislava 2003, S. 163. Der Text lautete dort: „Ästhetizismus und Szientismus kommen nämlich nicht nur gut miteinander aus, sie ergänzen einander sogar – ja, gelegentlich ist sogar der eine auf den anderen angewiesen. Die ästhetizistische Einstellung zur Kunst kann die szientistisch-positivistische Auffassung der Wissenschaft eher akzeptieren – ihre irrationalisierte Kunstauffassung stützt sich ja stillschweigend auf eine überrationalisierte Wissenschaftsauffassung, ergänzt sich mit ihr –, als
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tivistische Fixierung der Retardiertheit der Humanwissenschaften im Vergleich zu ihnen auch bei Babits nicht: „Das Verständnis des Lebens, die Philosophie, konnte nicht so vorwärtskommen wie die praktischen Wissenschaften, vor allem die Physik“, schreibt er beispielsweise in einem längeren Aufsatz über die Philosophie Bergsons.16 Es gebe also einen Fortschritt, dessen Maß die Physik vorgibt, und bei diesem Fortschritt bleibe die Philosophie hinter den empirischen Wissenschaften zurück. Im Vergleich von Wissenschaft und Kunst schreibt Babits an anderer Stelle: Sie sind die schatzreichsten Sammelkammern unseres Wissens über die Welt, die Kunst eine wertvolle Sammlung der Wahrnehmungen und Gefühle, die Wissenschaft die der Begriffe, die sich aus ihnen niedergeschlagen haben. Aus den frischen Trauben des Lebens keltern wir prächtigen Wein und nützlichen Essig und tragen sie in diese unendlichen dunklen Keller.17
Zur Interpretation dieses letzten Satzes werde ich unter gewissen Gesichtspunkten noch kurz zurückkehren. Was den ersten Satz des Zitats betrifft: Die Zuordnung der Kunst zur Welt der Gefühle einerseits und der Wissenschaften zu der der Begriffe andererseits fügt sich vollkommen in die – anthropologisch fundierte – Weltansicht der traditionellen Metaphysik ein, in den Begriffshorizont, den auch die von Gadamer später kritisierte ästhetische Unterscheidung zur Grundlage nimmt: der als animal rationale aufgefasste Mensch, der im Zuge seiner Erkenntnistätigkeit zu begrifflichen Kenntnissen gelangt, die das ehrenvolle Attribut der Wahrheit für sich allein verlangen, ja, dieses an sich reißen; die Kunst hingegen verzichtet von vornherein auf die Wahrheit und schließt sich der – irrationalen – Welt der Gefühle an, wächst aus ihr hervor und kann bestenfalls Anspruch auf das Attribut schön erheben. Wissenschaft und Kunst als „höchste Stufe des Bewusstseins, das auf dem Körper des Lebens gewachsen ist“: in dieser Formulierung gewinnen beide ihre Fundierung außerdem in einem positivistischen Weltbild mit einer Art evolutionistisch-biologistisch-vitalistischer Färbung. In dieser Hinsicht ist auch die biologistische Metaphorik von Babits’ anschließender Frage charakteristisch: Was ist wohl das Bewusstsein – „Antenne“ oder „Parasit“ des Lebens?
die in der historisch-menschlichen Welt angesiedelte ,humanistische‘ und also – entlang den humanistischen Leitbegriffen vollzogene – hermeneutische Integration.“ 16 Mihály Babits, Bergson filozófiája [Bergsons Philosophie], in: Nyugat 3 (1910), S. 945–961. 17 Mihály Babits, Tudomány és művészet [Wissenschaft und Kunst], in: Nyugat 5 (1912), S. 953–957.
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Als Beispiel für die Verknüpfung von Ästhetizismus und Positivismus-Szientismus können beispielsweise noch Babits’ Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Kants Essay „Zum ewigen Frieden“ dienen. Aus ihnen soll hier etwas ausführlicher zitiert werden: Ein Verlag forderte mich neulich auf, Kants Büchlein Zum Ewigen Frieden zu übersetzen. Zuerst wollte ich den Auftrag nicht annehmen. Ich bin kein Jurist. Ich kenne mich, Gott sei Dank, in der Politik nicht aus und in der wissenschaftlichen Ethik leider auch nur ein wenig. Kants Werk berührt diese Fachgebiete. Und es ist ein außergewöhnlich schweres Werk. Und es hat keinerlei formalen oder literarischen Belang.18
Wenigstens zwei Dinge sollten hier beachtet werden: 1. Das Wort Philosophie fällt nicht. Um Kants Werk zu verstehen oder zu übersetzen, würden wir heute wohl meinen, wären in erster Linie philosophische Kenntnisse nötig – Kenntnisse einerseits der Philosophie Kants, aber andererseits auch der politischen und Rechtsphilosophie bzw. ihrer Geschichte. Der Rezensent aber meint: hier ist juristische Kompetenz erforderlich, außerdem Bewandertsein in der „Politik“ sowie nicht allein in der Ethik, sondern geradezu in der „wissenschaftlichen Ethik“ (letzterer Ausdruck mutet entschieden positivistisch an: die Wissenschaften übernehmen die Rolle der Philosophie). Bei der Zuordnung zu einer Gattung wird das Attribut philosophisch nicht genannt. 2. Der Verfasser beschränkt den literarischen Belang einseitig auf den formalen Aspekt, und dies kann als Beispiel für die ästhetizistische Verneigung gerade vor den Wissenschaften dienen. Der literarische Bestandteil erscheint neben dem inhaltlichen am Rande der formalen Seite. – Ehrlichkeitshalber soll hier noch angemerkt werden, dass Babits wenig später noch erwähnt, dass das Verständnis des Werkes „nicht nur eine gewisse Intelligenz, sondern auch etwas philosophisches Geistestraining erfordert“ – wobei die Ausdrücke „eine gewisse“ und „Geistestraining“ schon wieder abwertend klingen.
IV. Eine der interessantesten literaturtheoretisch-philosophischen Diskussionen auf den Seiten des Nyugat ist zweifellos die Diskussion zwischen Babits und Lukács: Ihre Wirkung und ihr Nachleben in der ungarischen Geistes- und Literaturgeschichte darf bedeutend und permanent genannt werden, ihre Nachschwingungen 18 Mihály Babits, Kant és az örök béke [Kant und der ewige Frieden], in: Nyugat 11 (1918), S. 247–256.
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ziehen in sich wiederkehrender Weise und in verschiedenen Formen bis heute ihre Kreise, weshalb hier auch etwas ausführlicher auf sie eingegangen werden soll. Eine erschöpfende Behandlung der Diskussion müsste sich natürlich auf das Lebenswerk und die geistige Orientierung der beiden Beteiligten erstrecken und nicht zuletzt auch auf die breite Dimension des kulturellen Hintergrundes und seiner Bewegungen in Ungarn um die Jahrhundertwende – angesichts des Rahmens dieser Arbeit und meiner fachlichen Kompetenz beschränke ich mich darauf, zwei im Nyugat erschienene Beiträge der beiden Autoren umrisshaft zu rekonstruieren und zu kommentieren. So wird es nicht um das Verhältnis zwischen Babits und Lukács im Allgemeinen gehen, dessen Anfang vor ihrer Diskussion im Nyugat liegt und nach dieser noch jahrzehntelang in verschiedenen Formen weiterbestand. Die beiden Hauptdokumente der Diskussion bilden Babits’ Rezension über den Essayband A lélek és a formák [Der Geist und die Formen] von Lukács und Lukács’ Antwort darauf, die unter dem Titel Über jenes gewisse Nebulöse erschien.19 An den Anfang seiner Rezension stellt Babits weniger einen sachlichen Vorbehalt als vielmehr ein ungutes Gefühl, und dies bestimmt offenbar den späteren Verlauf seines Beitrags schon gleich zu Beginn. Es lohnt, diese einleitenden Zeilen ausführlich zu zitieren. „Unter uns, es kann doch kein Aspekt sein, was diese Schriften als literaturhistorische Aufsätze wert sind?“, fragt György Lukács auf der ersten Seite seiner gesammelten Versuche, in Briefform, mit der Überheblichkeit eines Autors, der nicht für jeden schreibt, sondern vielleicht nur für die kleine Gruppe derer, die ähnlich denken wie er. Und tatsächlich, obwohl er zum größten Teil Autoren vorstellt, die dem ungarischen Publikum unbekannt sind, würde sehr enttäuscht, wer etwa glaubte, er könne diese Autoren in Lukács’ Essays kennenlernen, wie wir das Wort kennenlernen üblicherweise verstehen: Lukács schreibt für seine Freunde, die diese Autoren bereits kennen. Und der Autor selbst, über den er schreibt, ist für ihn immer viel weniger wichtig als seine eigenen Gedanken, die ihm vielleicht durch Assoziationen aus dem Werk des betreffenden Autors gekommen sind.
Näher betrachtet werden hier zwei Einwände bzw. Missgefühle artikuliert. Zum einen der Vorwurf des Esoterismus, der Sektenbildung („Lukács schreibt für seine Freunde“), zum anderen – und in Zusammenhang damit – die Meinung, dass 19 Mihály Babits, A lélek és a formák [Die Seele und die Formen], in: Nyugat 3 (1910), S. 1563–1565; György Lukács, Arról a bizonyos homályosságról. Válasz Babits Mihálynak [Über jenes gewisse Nebulöse. Antwort an Mihály Babits], in: Nyugat 3 (1910), S. 1749– 1752.
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Lukács’ Essays nicht die Aufgabe erfüllen, die sie Babits’ Ansicht nach erfüllen sollten: Der Leser werde nicht in die Lage versetzt, in den Essays die behandelten Autoren „kennenzulernen“, so „wie wir das Wort kennenlernen üblicherweise verstehen“; mit anderen Worten: Lukács schreibt für die, „die diese Autoren bereits kennen“. – Der zweite Einwand, obwohl in sich selbst von nicht gering zu schätzender prinzipieller Bedeutung, ist augenblicklich trotzdem weniger wichtig oder konklusiv: hinter ihm kann sich eine Art ars poetica des Essayschreibers verbergen oder vielleicht eine Stellungnahme zur kulturellen Mission des Nyugat – denn warum sollte man einerseits nicht für die schreiben dürfen, die die behandelten Autoren bereits kennen, andererseits sind doch mehrere Formen des (literaturgeschichtlichen) Kennenlernens möglich, hier aber scheint Babits von Lukács streng eine bestimmte von ihnen zu verlangen. In dieser Hinsicht hat Babits seinen Standpunkt später konkretisiert; für Lukács’ Unterscheidung zwischen dem Dichter und dem Kritiker (Platoniker bzw. Essayverfasser) bezeugte er schon in der Rezension ein gewisses Verständnis, während ihres späteren Briefwechsels akzeptierte er sie noch mehr. Der erste Einwand ist wesentlicher, und dies keineswegs ohne Grund, was sich unter anderem daran zeigt, dass – hiervon wird noch die Rede sein – Lukács selbst später auf ihn zurückkommt. Sachlich ist dieser Einwand jedoch nicht. Zu untersuchen, nachzuweisen und zu beurteilen, ob es sich tatsächlich um einen Fall des „Schreibens für Freunde“ handelt und was dies gegebenenfalls in der betreffenden Zeit, in der Konstellation des literatur- oder kultursoziologischen Kontexts bzw. – in diesem Fall sinngemäß – unter dem Aspekt der Beurteilung des Niveaus und Wertes des Essaybandes bedeutet, wäre selbst im Rahmen eines ausführlichen zeitgeschichtlichen Überblicks ziemlich schwierig. Hier reicht es festzuhalten, dass die Feststellung dieser Tatsache (dieses Verdachts?, dieser Gefahr?) den Ausgangspunkt für Babits’ Rezension bildet, ihren Ausgangspunkt, den Tonfall und die Argumentation vermutlich beeinflusst. Wir können noch hinzufügen: Die Lukács-Stelle, insbesondere ihr kursiver (im Original gesperrt gesetzter) Teil im ersten Satz der Rezension dürfte wohl kaum irrelevant sein. Aus ihr mag Babits gleichsam eine Außerkraftsetzung des literaturhistorischen Zugangs herausgelesen haben, Lukács’ Absicht, das Buch der literaturhistorischen Kritik zu entziehen (und angesichts dessen echauffierte er sich vielleicht etwas oder war sogar entsetzt). Lukács wollte seine Texte sichtlich nicht als literaturhistorische Aufsätze dem Maßstab der Kritik unterstellen, und damit konnte Babits in keiner Weise einverstanden sein. „‚Unter uns, es kann doch kein Aspekt sein, was diese Schriften als literaturhistorische Aufsätze wert sind?‘“, lautet Lukács’ charakteristische Frage, die Babits in den Vordergrund stellt, während für Babits selbst – wenn man den überwiegenden Teil der Rezension in Betracht zieht – die Frage eher lautet: Wenn diese Texte überhaupt etwas wert sind, dann muss der Hauptkritikpunkt dennoch sein: „Was sind sie als literaturhistorische Aufsätze wert?“
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Wie es wenig später heißt: „Aber der Kritiker, der Lukács’ Methoden nicht folgt, wird auch nicht auf die historische [Hervorhebung I. M. F. – dieses Attribut steht hier in etwa in der von Heidegger und Gadamer kritisierten pejorativen Bedeutung] Erklärung verzichten“.20 20 Babits, A lélek és a formák, S. 1564. Von Gadamers Überlegungen hierzu siehe folgende: „Der Text, der historisch verstanden wird, wird aus dem Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt“ (Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 308). „Der Historiker verhält sich zu seinen Texten wie der Untersuchungsrichter beim Verhör von Zeugen“; „er kann sich grundsätzlich nicht als den Adressaten des Textes verstehen“. (S. 344, 341) „[...] hat sich der Verstehende gleichsam aus der Situation der Verständigung zurückgezogen. Er selber ist nicht antreffbar.“ (S. 308) Babits liefert die Bestätigung für diese Kritik, indem er Lukács vorwirft: „Und der Verfasser selbst, von dem [Lukács] spricht, ist für ihn immer viel weniger wichtig als seine eigenen Gedanken, die ihm vielleicht durch Assoziationen aus dem Werk des betreffenden Autors gekommen sind.“ (S. 1563, siehe dasselbe etwas später auf S. 1564: „in allem sieht er das Symbol seiner Gedanken“.) Dass Lukács (auch) in dieser Hinsicht kritisierbar ist, steht außer Diskussion. Wichtiger ist die prinzipielle Frage: Der Vorwurf geht nämlich von der Annahme aus, es sei möglich (und natürlich wünschenswert), die eigenen Gedanken und die Gedanken der gelesenen Verfasser aus der Vergangenheit scharf voneinander zu trennen, und die Aufgabe der Literaturgeschichte bestehe – gemäß der daraus folgenden Selbstinterpretation – in einem möglichst objektiven historischen Kennenlernen. In diesem Horizont ist natürlich Lukács’ Bemühung, der die eigenen Gedanken nicht scharf von den Gedanken der analysierten Verfasser trennt, der sie sogar – aus hermeneutischer Perspektive vielleicht sogar übertrieben – miteinander verschmilzt (für ihn ist gerade dies ein wichtiges Merkmal des „Kritikers“ bzw. des „Platonikers“), von vornherein zu verurteilen. Interessant ist zugleich, dass Babits – wie es Lukács in anderem Zusammenhang später anspricht –, der von der Literaturgeschichte bzw. dem historischen Erklären sehr wohl – und zwar recht entschiedene – Vorstellungen hat, gegenüber der deutschen Philosophie, die die Dimension der Geschichte und des historischen Erkennens thematisiert, weitgehend unempfindlich ist. Seine Wissenschaftsauffassung (in die sich die hier bezeugte Auffassung von der Literaturgeschichte als Wissenschaft einfügt) orientiert sich an Bergson und der französischen Tradition, für die die objektive Naturwissenschaft das Vorbild für die Wissenschaft darstellt. Später schreibt Lukács: „Bergsons Anwendung in den historischen und interpretierenden Wissenschaften ist immer etwas besorgniserregend. Bergson hat keine geschichtsphilosophische Kultur, seine Polemik berührt ausschließlich die Erkenntnismittel der Naturwissenschaft, und deshalb kann weder das, was er niederreißt, noch das, was er aufbauen will, anderswo angewendet werden als in der Methodik der Naturwissenschaften. So ist mir auch beim Lesen Ihres Artikels aufgefallen, dass Sie die begrifflichen Schwierigkeiten, die auftauchen, wenn es um die Entwicklungsmöglichkeiten der ewigen Formen geht, überaus virtuos umgingen – aber gelöst haben Sie sie nicht. So geht das nicht. Die Naturwissenschaft leugnet notwendig die Substanz (der newtonistische Kant tat das in seiner Transzendentaldialektik ebenfalls), und da Bergson keine andere Begrifflichkeit kennt als die der ,science‘, muss er, diese verwerfend, alle Beständigkeit, alle ewige Form verwerfen […] man müsste – was man auf den bergsonschen Fundamenten stehend nicht kann – eine Interpretation der ,ewigen‘ Form finden, die es ermöglicht, dass die Form ohne Aufgabe ihrer ewigen und in diesem Sinne unveränderten Substanz an den Abläufen
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Babits’ Rezension fehlt nun – zumindest am Anfang, jedenfalls allem Anschein nach – keineswegs die aus dem hermeneutischen Wohlwollen resultierende Absicht oder Bemühung, Lukács’ Band im Licht seiner eigenen Ansprüche zu untersuchen. „Der erste Versuch ist der Brief über den Versuch“, schreibt er, „und der wohlwollende Kritiker wird hier den Gesichtspunkt suchen, unter dem der Versuchende sein Werk betrachtet sehen will“ [zweite Hervorhebung I. M. F.]. Nicht nebensächlich ist jedoch auch, dass Babits diesen Eröffnungsessay zugleich für „das vielleicht interessanteste Stück […] des Bandes“ hält. Danach folgt die – kurz gefasste, daher nicht allzu gründliche, aber auch nicht inkorrekte – zusammenfassende Charakterisierung von Lukács’ Auffassung des „Versuchs“ bzw. der „Kritik“, dann das Urteil: „Wenn wir diese Gesichtspunkte (an denen Kassners Wirkung spürbar ist, von dem der eine Aufsatz handelt) auf die Kritiken Lukács’ anwenden, werden diese ihr eigenes Maß nicht erreichen.“21 Damit hat der Rezensent offenbar den Anforderungen der immanenten Kritik oder des hermeneutischen guten Willens in vollem Umfang Genüge getan. Der Schönheitsfehler von Babits’ Urteil liegt jedoch darin, dass diese Beurteilung – beinahe wortwörtlich – auch in dem rezensierten Band selbst zu finden ist, zu allem Überfluss gerade in dem von Babits’ herausgehobenen Anfangsessay, und auch hier gleich im ersten Absatz. „Das ist aber die einzig mögliche tiefe Apologie solcher Schriften“, ist dort zu lesen, „freilich auch ihre tiefste Kritik zugleich; denn mit dem Maße, das hier festgestellt wird, werden sie zu allererst gemessen und das Bestimmen eines solchen Zieles wird zuallererst zeigen, wie fern sie diesem geblieben sind“.22 Dass seine Texte ihr eigenes Maß nicht erreichen, war Lukács also nicht nur bekannt; dieses Eingeständnis bildet geradezu den Ausgangspunkt des
des historischen Prozesses teilnehmen kann, ja, teilnehmen muss“ (Georg Lukács, Egy pár szó a dráma formájáról Babits Mihálynak [Einige Worte über die Form des Dramas an Mihály Babits], Nyugat 6 (1913), S. 324–325, Siehe jetzt in György Lukács, Ifjúkori művek (1902–1918), hg. Árpád Tímár, Budapest 1977, S. 583–586, hier S. 584. Die radikale Auffassung der Geschichtlichkeit kann den Weg zum Verständnis dessen bahnen, lautet eine in Richtung der Hermeneutik offene Bemerkung von Lukács, dass „jedes Zeitalter anderer Griechen [bedarf ], eines anderen Mittelalters und einer anderen Renaissance“ bzw. „[a]uch ist es nicht wahr, dass […] wir an dem ‚wirklichen‘ Goethe die Wahrheit der Goethes von Grimm, Dilthey oder Schlegel messen könnten.“ (György Lukács, Über Wesen und Form des Essays, in: ders., Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 28; 25). 21 Babits, A lélek és a formák, S. 1563. Den Verweis auf Kassner bestätigt Lukács, siehe Lukács, Über Wesen und Form des Essays, S. 25; siehe noch ders., Rudolf Kassner, ebd., S. 46: „Zwei Menschentypen treten in seinen Schriften auf, die beiden Haupttypen aller in der Kunst lebenden Menschen: der schaffende Künstler und der Kritiker [...]“. 22 Lukács, Über Wesen und Form des Essays, S. 4.
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Bandes.23 Babits übernimmt diese Beurteilung hier einfach, wiederholt sie, problematisiert sie aber nicht (und verliert über die Übernahme selbst kein Wort). Es geht nicht darum, dass ein Verfasser sich durch vorauseilende Selbstkritik gleichsam vor der nachträglichen Urteilsbildung seiner Kritiker freisprechen lassen möchte oder dass er damit anderen das Recht entzöge, sein Werk ihrer Kritik – gegebenenfalls auch einer vernichtenden Kritik – zu unterziehen. Während ein Verfasser das volle Recht darauf hat, seinem Werk kritisch gegenüberzustehen, ist es wohl kaum angemessen oder berechtigt, anderen dieses Recht zu entziehen und sich auf diese Weise in der Beurteilung seines eigenen Werkes die entscheidende Rolle anzumaßen. Der Kritiker für seinen Teil kann der Selbstkritik des Verfassers entweder zustimmen oder nicht – aber jedenfalls würde es sich gehören, in irgendeiner Form auf sie zu achten und einzugehen.24 Die Mängelhaftigkeit von Lukács’ Werk expliziert Babits im Folgenden so, dass er ein Moment betont, das im Anfangsessay zweifellos vorhanden ist, aber zum einen nicht übermäßig dominiert, zum anderen in keiner Weise zu den Stärken des Werkes zählt oder ein für dieses besonders charakteristisches, unterscheidendes Merkmal darstellt. Bei diesem Moment handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunst. Babits hat gewiss recht, drückt sich aber übertrieben und einseitig aus, wenn er schreibt, Lukács „unterscheidet scharf die von ihm so bezeichnete künstlerische Kritik von der wissenschaftlichen Kritik, die ver-
23 In seiner Antwort an Babits geht Lukács hierauf auch ausdrücklich ein: „Auf der ersten Seite meines Buches habe ich geschrieben: Die Einleitung sagt, warum diese Texte, mit meinem Maß gemessen, schlecht sind [...]“ (Lukács, Arról a bizonyos homályosságról, in: ders., Ifjúkori művek, S. 779). 24 Natürlich kann die Selbstkritik eines Verfassers auch in der Absicht geschrieben werden, alle äußere Kritik schon im Voraus abzuwehren, zu neutralisieren oder jedenfalls zu mäßigen, dem Verfasser bereits vorab eine gewisse Entschuldigung für die von den Kritikern seines Werkes eventuell festgestellten Schwächen desselben zu verschaffen (indem er sagt: Seht her, ich war mir ihrer bewusst). Eine solche Geste – bzw. deren Annahme – würde den Vorwurf des Esoterismus unterstützen, käme Babits also in diesem Fall gelegen, aber er macht keinen Gebrauch davon. Die Frage lässt sich noch weiter verzweigen, doch das ließe sich in diesem Rahmen nicht ausführlich behandeln. Dessen ungeachtet soll jedoch angemerkt werden: die Interpretation der Ausdrücke „ihr eigenes Maß“ bzw. „ihr eigenes Maß nicht erreichen“ ist in solchen Fällen beileibe keine sekundäre Aufgabe. Es kann nämlich leicht sein, dass der Verfasser und sein Kritiker aneinander vorbeireden. Genauer zu rekonstruieren, woran Lukács konkret denkt, wenn er schreibt, dass seine Texte „hinter dem zurückbleiben, das sie erreichen oder dem sie sich annähern wollten“, dass sie „in seinem Sinn“, „mit seinem Maß gemessen“ „schlecht“ sind, wäre keineswegs eine leichte Aufgabe. Babits – hierauf werde ich gleich eingehen – gibt hier eine Art markanter Interpretation, und in Lukács’ Texten finden sich durchaus Bestätigungen für sie, dennoch kann nicht eindeutig festgestellt werden, dass Lukács selbst seine eigenen Vorbehalte gegenüber seinen Texten in dieser Weise versteht.
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alten kann“.25 Diese Unterscheidung findet sich in dem Anfangsessay zweifellos, ist aber doch in seinem vielstimmigen Chor nur eine – und nicht einmal die stärkste – Stimme unter vielen. Die wichtigste Unterscheidung, die sogar Babits gewissermaßen zu akzeptieren geneigt ist (siehe z. B. Formulierungen wie: „erklärt er sehr schön“, „geistvoll“), ist der Unterschied zwischen dem Dichter und dem Essayisten (Kritiker, Platoniker). Da der „wissenschaftlichen Kritik“ beide widersprechen – Lukács versteht ja auch die Kritik als Kunst, also als eine Form der Kunst –, haben wir es mit einer Unterscheidung innerhalb der Kunst zu tun. Lukács konzentriert sich auf diese letztere, die Abgrenzung beider von der Wissenschaft ist für ihn hier ein sekundärer Aspekt. Babits hingegen hebt – von seinem Standpunkt aus verständlich – diesen für Lukács untergeordneten Aspekt hervor und stellt ihn in den Mittelpunkt. Seine Betrachtungsweise ist nämlich viel weniger antipositivistisch als die von Lukács. Babits bezeugt vom Horizont einer vitalistisch-biologistisch gefärbten positivistischen Lebensphilosophie her wesentlich mehr Verständnis und Interesse gegenüber der Wissenschaft als Lukács, der sich in Richtung Metaphysik orientiert. Die „scharfe Unterscheidung“ zwischen Kunst und Wissenschaft, die Babits Lukács zuschreibt, ist eher für ihn selbst charakteristisch, wie ziemlich eindeutig aus der Weise hervorgeht, auf die er in den folgenden Zeilen einen wichtigen Satz seiner Lukács-Kritik artikuliert. Diese Kritik macht nämlich Lukács’ Essays in zweierlei Hinsicht einen Vorwurf, wobei sie diese beiden voneinander „scharf unterscheidet“: aus wissenschaftlicher und aus künstlerischer Perspektive.26 Es handelt sich hier um einen Schlüsselsatz der Rezension, der deshalb verdient, ausführlich zitiert zu werden: Lukács’ Porträts sind viel verschwommener, viel abstrakter, ätherischer, subjektiver und nebensächlicher, als dass wir das wissenschaftliche Gewissen, und zum anderen viel formloser, überschwänglicher, komplizierter, nebulöser, kompositions- und stilloser, als dass wir die echte Kunst in ihnen sehen könnten.
25 Ähnlich übertreibend ist auch die Formulierung des „hübschen Herleitens“, dass nämlich Lukács „die Wahrheit hübsch herleitet und als aus seinen Gedanken von selbst folgend angibt, dass die größten künstlerischen Kritiker zugleich auch immer hervorragende wissenschaftliche Kritiker seien“. In Wirklichkeit handelt es sich nicht so sehr um eine „Herleitung“ – also darum, dass diese Wahrheit aus Lukács’ „eigenen Gedanken von selbst folgt“ – als vielmehr um eine einfache Deklaration oder einen Wunsch (siehe Lukács, Über Wesen und Form des Essays, S. 28: „Und gerade die größten Vertreter des Essays können hier am wenigsten Verzicht leisten: was sie schaffen, muß auch Wissenschaft sein, wenn ihre Lebensvision einmal den Umkreis der Wissenschaft betrifft“); siehe noch ebd., S. 306. 26 Babits, A lélek és a formák, S. 1564 (Hervorh. István M. Fehér, im Folgenden I. M. F.).
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Die Aspekte des „wissenschaftlichen Gewissens“ und der „echten Kunst“ sind hier sichtlich scharf voneinander unterschieden. Das Gegenteil von „abstrakt“, „ätherisch“ usw. wäre offenbar das Wissenschaftliche, während der Gegensatz zu „formlos“, „überschwänglich“ usw. den Anforderungen der Kunst entspricht. Dieses Kriterium zum Maßstab der Beurteilung zu machen, geht wohl bereits über Lukács’ Selbstinterpretation hinaus; fraglich ist in jedem Fall, wie relevant oder produktiv dieser von Babits geltend gemachte Beurteilungsaspekt gegenüber Lukács’ Band (und nicht nur diesem) ist. Es kann kaum produktiv sein, die Kritik von Die Seele und die Formen (oder einem anderen Essayband) nach streng voneinander getrennten „wissenschaftlichen“ und „künstlerischen“ Aspekten zu artikulieren, zumal das festgelegte und – der Diskussion entzogene – vorgängige Verständnis dieser beiden stillschweigend als Voraussetzung für die Beurteilung dient. So betrachtet ist es dann egal, ob wir den von Babits aufgezählten Attributen zustimmen oder nicht bzw. welches von ihnen wir wo einordnen: ob z. B. „ätherisch“ oder „subjektiv“ als negativ zählen, wenn sie auf die Waage der Beurteilung des wissenschaftlichen Aspekts gelegt werden, oder ob „überschwänglich“ oder „kompliziert“ unter künstlerischem Aspekt als mangelhaft zu bewerten sind. Entscheidend ist, dass der Dichter von vornherein zu wissen meint, worin das Spezifische des wissenschaftlichen Zugangs besteht, gewinnt doch schließlich die Charakterisierung der künstlerischen Darstellung in der Unterscheidung bzw. Abgrenzung von diesem Kontur. Während er scheinbar dem Maßstab von Lukács’ Selbstinterpretation, das heißt seiner Selbstkritik, folgt – es handelt sich um den Endpunkt der Explikation, die davon ausgegangen war, dass Lukács’ Essays „ihr eigenes Maß nicht erreichen“ –, interpretiert Babits Lukács’ Maßstäbe mit dieser Operation zugleich stillschweigend um und passt sie seinen eigenen an; damit prozessiert er sich zugleich die Berechtigung des Urteils zurück, das durch Lukács’ anfangs zitierte Frage in Gefahr geraten, gleichsam außer Kraft gesetzt zu sein schien: „‚Unter uns, es kann doch kein Aspekt sein, was diese Schriften als literaturhistorische Aufsätze wert sind?‘“ Im Folgenden wird Babits Lukács’ Essays gerade „als literaturhistorische Aufsätze“ kritisieren. Der wohlwollende Kritiker, der glaubt, aus dem Werk selbst den Aspekt für seine Beurteilung herauslesen zu können, lässt in der interpretierenden Rekonstruktion dieses letzteren schließlich seinen eigenen Gesichtspunkt zur Geltung kommen („Der Kritiker, der Lukács’ Methode nicht folgt, wird auch auf die historische Erklärung nicht verzichten“, heißt es, wo der eingeschobene subordinierte Satz dennoch die Abgrenzung eingesteht.) Zum eigenen Maß, das Lukács’ Essays nicht erreichen, ist schließlich Babits’ Maß geworden. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll hier eine Bemerkung eingefügt werden. Bisher ging es nur um Babits’ Rezension; Lukács’ Essayband wurde noch gar nicht behandelt – weder seine Meriten noch seine Schwächen. Es geht also nicht darum, dass man diesen Band von Lukács nicht unter zahlreichen Aspekten kriti-
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sieren könnte, und so fehlt es in der Literatur auch nicht an unterschiedlichen kritischen Ansätzen. Hier geht es eher darum, dass Babits, motiviert von seinem Ausgangspunkt bzw. der Bemühung, sich von dem Esoterismus abzugrenzen, den er im ersten Absatz wittert, keine guten Argumente findet. Die Seele und die Formen kann man sachlich kritisieren, Babits’ Kritik jedoch erreicht, so scheint es, diese Dimension nicht, da ihm die Sache – seiner kritischen Hauptanmerkung zufolge, die sogleich zitiert und sodann auch kommentiert werden soll – von vornherein unsympathisch ist. In der Rezension bringt Babits zwar auch positive, lobend-anerkennende Attribute, aber diese bereiten entweder negative Urteile vor (im zweiten Absatz) und schlagen auf diese Weise in ihr Gegenteil um, oder sie wirken eigentlich gewichtslos, protokollarisch (im vierten Absatz) und bleiben unbegründet und unausgeführt. Was den nächsten (vierten) Absatz von Babits’ Rezension angeht, der die meisten anerkennenden Attribute enthält, will ich mich auf einige kurze Bemerkungen beschränken. „Bei alledem ist dieses Buch entschieden ein wertvolles Buch; aber unter einem vollständig dritten Aspekt“, lautet der erste Satz. Dieser dritte Aspekt ist der philosophische, während die ersten beiden offenbar der wissenschaftliche und der künstlerische sind. In welchen philosophischen Horizont diese disziplinäre Anordnung, diese dreifache Unterscheidung (Wissenschaft, Kunst, Philosophie) und ihre jeweilige Artikulation sich einfügen, und dieser definiert philosophische Standpunkt auch selbst in Konkurrenz zu anderen philosophischen Ansichten treten kann, bleibt dabei im Hintergrund. Diese dreifache Unterscheidung macht sich selbst als philosophische Unterscheidung nicht als solche zugänglich, artikuliert sich nicht, entzieht sich von vornherein der Reflexion. Aus dieser Perspektive geizt Babits hingegen nicht mit Anerkennung: „Diese Gedanken sind interessant, tiefgründig, subtil, häufig wahr und außerordentlich einheitlich, weltanschauungsartig. Gedanken einer feinen und vornehmen Seele für feine und vornehme Seelen.“27 Unter „wissenschaftlichem“ und „künstlerischem“ Aspekt – außerdem aus seinem im Folgenden geltend gemachten Blickwinkel der historischen, das heißt literaturhistorischen Kritik – formuliert der Rezensent überwiegend stark kritische Vorbehalte, philosophisch hingegen ist er großzügiger und findet Möglichkeiten der Anerkennung – auf diese Weise soll sich seine Kompetenz auch auf dieses letztere Gebiet erstrecken.28 27 Vor allem diese letzteren Ausdrücke sind eher Ausdrucksmittel aus Babits’ eigener Wertewelt, zu denen die charakteristische Hoffnung des jungen Lukács, „daß die Barbaren mit groben Händen alle Dekadenz zerstören werden“, wenig zu passen scheint (Georg Lukács, „Ästhetische Kultur“, in: Frank Benseler/Werner Jung (Hg.), Lukács 1996, Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, Bern 1997, S. 13–26, hier S. 18). 28 Am 28. November 1910 schreibt Babits an Lukács: „[D]ie Frage, die Sie stellen, ist so tief und derart allgemein philosophisch, daß sie meines Erachtens nicht in eine literarische De-
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Aus dem Blickwinkel der historischen Kritik bringt Babits (im fünften und teilweise im sechsten Absatz) seine schwerwiegendsten Einwände. Das Ziel der Kritik bzw. das das Kennenlernen leitende Interesse zeigt sich in einer Art kulturmorphologischer „Identifizierung“: „Ich muss also sagen, dass diese Gedanken im vollsten Maße deutsch sind.“ Diese Kultur ist typisch deutsch oder vielmehr wienerisch; es ist die Kultur der Wiener Ästheten, über die er auch an einer Stelle schreibt. Die Schriftsteller, über die er sich äußert oder die er nebenbei erwähnt, alte und neue, sind alle Wiener oder heutzutage in Wien modern. Ich verstehe nur nicht, wie Laurence Sterne, der ausgelassene Engländer aus dem 18. Jahrhundert, in diese Gesellschaft kommt.29 batte paßt […] daß ich auch eine andere Philosophie kenne und anerkenne, auf die Ihre Beschreibung nicht paßt; […] ob man sie aber als echte Philosophie akzeptiert, ist meines Erachtens bloß eine Frage der Bezeichnung“ (Georg Lukács, Briefwechsel 1902–1917, hg. Éva Karádi/Éva Fekete, Budapest 1982, S. 165–166). Diese Zeilen verweisen darauf, dass Babits auch in philosophischer Hinsicht kritische Anmerkungen hatte. Es ist bedauerlich, dass er diese nicht artikulierte, sondern die Diskussion von vornherein in die – dem Gegenstand eingestandenermaßen nicht vollständig entsprechenden – Rahmen einer „literarischen Diskussion“ presste. Was ihn wohl zu einer solchen Selbstbeschränkung bewog? Die Seele und die Formen lässt sich doch sehr gut als philosophisches Werk behandeln, und Babits hatte ja offenbar auch philosophische Reflexionen. – Es soll hier auch noch angemerkt werden, dass Babits eine ähnliche Bemerkung wie im Brief auch in seiner Notiz zu Lukács’ Antwortartikel macht: „Die Sache ist hier so vertieft, so auf die allgemeinsten Fragen zurückgegangen, dass ihre Diskussion überhaupt nicht nur vor ein rein literarisches Forum gehört. Die Frage wird sein: „Was ist die wahre Philosophie, und was für eine Philosophie kann man auf literarische Erscheinungen produktiv ‚anwenden‘?“. Der Nyugat erscheint hier – bedauerlicherweise – als rein literarisches Forum. Offenbar gab es kein Forum, vor dem Babits diese Frage diskutieren konnte. 29 Babits, A lélek és a formák, S. 1564. Die Bezeichnung „Wienerisch“ ist in der Sache anfechtbar, und Lukács versäumt es auch nicht, Babits in seinem Brief darauf hinzuweisen. „Sie versetzen mich nach Wien – obwohl weder die, die ich behandle, Wiener sind (Storm ist Holsteiner, Novalis Sachse, George Rheinländer, ganz zu schweigen von Kierkegaard und Sterne), und selbst Kassner und Beer-Hofmann, gebürtige Wiener, sind in Wien heute nicht ‚modisch‘, wie Sie schreiben (so wurde z. B. kein einziges Drama von Beer-Hofmann in einem Wiener Theater gespielt; Berliner Schauspieler führten eines in Wien als Gastspiel auf ) […]“ ( Lukács, Briefwechsel, S. 163). Etwas abgeschwächt wiederholt sich diese Überlegung in seinem Artikel im Nyugat. „Wienerisch ist (das heißt Wienerisch wäre, wenn es überhaupt eine Wiener philosophische Kultur gäbe) – eine Methode aus der Perspektive der ästhetischen Sym- oder Antipathie zu beurteilen. Auf alle Fälle wienerischer als der Rheinländer George (dessen einzige Verbindung zu Wien darin besteht, dass ihn einer unserer hervorragenden Journalisten einmal zum Wiener gemacht hat), als der holsteinische Storm, der sächsische Novalis und der dänische Kierkegaard. Aber es ist auch wienerischer als die Wiener Kassner und Beer-Hofmann, bei denen Wien einzig der geographische Geburtsort ist, die aber ebenso nicht in Wien, sondern in Nord- und Westdeutschland verstanden und gelesen
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Babits spricht es nicht aus, geht aber stillschweigend davon aus: Ist es deutsch, dann ist es schlecht. Das ist hier – um einen deutschen Ausdruck zu verwenden – eine Art Machtspruch. Die Identifizierung ist zugleich – zwar keine Brandmarkung, das zu behaupten wäre vielleicht übertrieben, aber jedenfalls – eine Verurteilung, und zwar eine dogmatische, da ihr keine Begründung folgt. Seine eigene Beurteilung der deutschen Kultur – also seine Einstellung zur deutschen Kultur – gibt Babits, wenn ich recht sehe, dem Leser nur bei einer einzigen Gelegenheit expressis verbis – nicht ausführlich, sondern nur lakonisch – zur Kenntnis, und zwar, indem er über Lukács sagt: „Er beharrt auf der modernen, etwas affektierten deutschen Terminologie, gegenüber der wir – das müssen wir zugeben – eine unbesiegbare Antipathie empfinden“. Aber wieso empfinden wir Antipathie? Diesbezüglich wird keine weitere Begründung genannt, und so bleibt dieses Bekenntnis des Kritikers eine stark autoritäre Geste oder Äußerung. Nun ist es selbstverständlich nicht so, dass man nicht an gegebener Stelle bekennen dürfte, gegenüber irgendetwas Sym- oder Antipathie zu empfinden – statt einer „unbesiegbaren Antipathie“ wäre es aber wohl feiner und vornehmer, beispielsweise mit etwas stilistischer Zurückhaltung von „schweren Einwänden“ oder „starken Vorbehalten“ zu sprechen –, jedenfalls gehört es sich, dem eine irgendwie geartete Begründung hinzuzufügen. Die werden, wie die zuvor erwähnten“ (Lukács, Arról a bizonyos homályosságról, S. 780; siehe ähnlich in ders., Kiknek nem kell és miért a Balázs Béla költészete [Wer die Dichtung von Béla Balázs nicht braucht und warum], ebd. S. 700). Die Bezeichnung „Wienerisch“ mochte Babits Lukács’ Band selbst entnommen haben (worauf er auch lakonisch verweist), aber in etwas ungenauer Form. Lukács schreibt über die Erzählungen Beer-Hofmanns: „Dies ist die Welt der Wiener Ästheten: die Welt, in der alles ausgekostet und nichts an Wissen behalten wird, in der Wirklichkeit und Träume verschmelzen, in der dem Leben aufgezwungene Träume gewaltsam vergehen; das Reich Schnitzlers und Hofmannsthals“ (Lukács, Ifjúkori művek, S. 205). Die letzteren beiden werden allerdings in keinem Essay in Die Seele und die Formen behandelt, und Lukács merkt sogar extra an: „Beer-Hofmann ‚gehört‘ dennoch nicht zu ihnen“, also zu den Wiener Ästheten (ebd.). Lukács’ Bemerkung lässt sich so verstehen, dass die Welt von Beer-Hofmanns Erzählungen insofern die „Welt der Wiener Ästheten“ ist, als diese in ihnen von außen betrachtet und unbarmherzig demaskiert wird. Über diese Welt schreibt Lukács an einer Stelle: „Die Fortsetzung des Spiels will nur noch […] das erstickte Schluchzen der Gebrochenheit verdecken“ (Lucács, Ifjúkori művek, S. 206). In Anbetracht der Tatsache, dass in einem früheren Aufsatz Lukács’ über Babits’ Dichtung neben zahlreichen positiven Attributen als Kritik auffällig ähnliche Formulierungen begegnen – „beschämender Schmerz“, „alles verdeckende Maske“, „verschämter Schmerz“, „schmerzhaft ausgebrannter Nihilismus“ (György Lukács, Új magyar líra, [Neue ungarische Lyrik], in: Huszadik Század X (1909), S. 286–292, siehe Lucács, Ifjúkori művek S. 259f.) –, mochte Babits einen Grund haben, diese auch auf ihn beziehbare Charakterisierung dadurch von sich zu weisen, dass er sie für Vorwürfe gerade gegenüber Lukács verwendete (Lukács’ Welt oder die der Wiener Ästheten, das kommt aufs Selbe hinaus, beide sind ihm fremd). Wenn diese Sichtweise richtig ist, dann kann sie auch als Erklärung für Babits’ im Folgenden erwähnte „unbesiegbare Antipathie“ dienen.
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„schweren Einwände“ und „starken Vorbehalte“ würden natürlich viel eher eine erklärende Darlegung verlangen als die „unbesiegbare Antipathie“. Von letzterer lässt sich leichter glauben, sie widersetze sich einer begrifflichen Darlegung, und so wäre es gar nicht tunlich – wäre geradezu ungehörig – sich nach ihren Gründen zu erkundigen. Die performative Vehemenz ihrer Ausführung und ihre offen eingestandene Willkürlichkeit bringen einen ohnehin sozusagen zum Verstummen, sie lassen einem das Wort im Hals stecken bleiben.30 Babits artikuliert also seine mit der kulturmorphologischen Identifizierung zusammenhängende Antipathie nicht ausführlicher,31 allein die wiederkehrende 30 Es wäre nicht aussichtslos, eine Art Grund für diese Antipathie – und damit auch einen Großteil der philosophisch-weltanschaulichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Autoren – auf der Grundlage sonstiger Schriften von Babits und Lukács (hier sind vor allem Lukács’ Texte über den Charakter der französischen Kultur und über die ästhetische Kultur und von Babits vor allem die Aufsätze über die Philosophie Bergsons zu nennen) – jedenfalls teilweise – zu rekonstruieren, das würde jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes weit überschreiten. Wesentlich ist, dass Babits an dieser Stelle nicht nur keine Begründung angibt, sondern dass sein Urteil auch von keinerlei abschwächendem Hinweis begleitet wird, der das Fehlen weiterer Ausführungen wenigstens signalisieren, diese in Aussicht stellen oder auf andere von seinen Texten verweisen würde, z. B. wie folgt: Lukács „beharrt auf der modernen, etwas affektierten deutschen Terminologie, gegenüber der wir – wie anderswo ausgeführt (oder auszuführen beabsichtigt) – unbesiegbare Antipathie empfinden.“ Sogar der Einschub von „zugegeben“ wirkt mit der Kraft eines – jetzt zum ersten Mal ausgesprochenen – Bekenntnisses, sein Tonfall ist absichtlich subjektiv und autoritär. Siehe hierzu auch das Ende der vorigen Anmerkung. 31 Wenn wir davon absehen, wie treffend die Attribute „deutsch“ und „wienerisch“ mit Bezug auf den Essayband von Lukács sind, ist das Bestreben oder Interesse der kulturmorphologischen „Identifizierung“ – die hervorgehobene Geltendmachung dieses Gesichtspunkts in einer Rezension – heutzutage jedenfalls auch in sich selbst schon geeignet, ein wenig Anstoß zu erregen oder zumindest einen ungewohnten Eindruck zu erwecken. Diese Annäherung war jedoch – egal, wie wir heute darüber urteilen – in der europäischen Kultur des Jahrhundertbeginns ziemlich verbreitet, sie ist als einer der Bestandteile des Weges zu betrachten, der zum ersten Weltkrieg führte. Max Weber beispielsweise, der mit Lukács freundschaftlichen Kontakt pflegte, formulierte in seinem wirkungsmächtigen Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, in dem auch Lukács namentlich genannt wird: „Wie man es machen will, ,wissenschaftlich‘ zu unterscheiden zwischen dem Wert der französischen und der deutschen Kultur, weiß ich nicht“ (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Schutterwald/Baden 1994, S. 55). Das Wesentliche ist hier nicht, dass wir uns für die französische oder für die deutsche Kultur entscheiden, oder ob wir Weber darin Recht geben, dass sich die Frage nicht entscheiden lässt. Mit heutigen Augen gesehen mutet eher die Frage selbst anstoßerregend an: Es liegt nicht auf der Hand, wieso man hier entscheiden sollte (und wofür wir uns entscheiden würden, wenn wir entscheiden; außerdem – was in Webers Argumentation überhaupt nicht auftaucht –, ob der Krieg eine angemessene Art der Entscheidungsfindung ist, und schließlich ob, wenn in einem Krieg über etwas entschieden wird, das dann gerade der „Wert“ der Kultur der gegnerischen Seite ist). Webers Formulierung ist für uns wichtig, weil sie zeigt: Diese Frage selbst
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Klage über das Nebulöse, die Undeutlichkeit kann einen gewissen Anhaltspunkt bieten (das Wort kommt viermal vor), und es ist vermutlich kein Zufall, dass Lukács sich in seiner Antwort gerade darauf konzentrierte. Diese Klage wegen der Undeutlichkeit erweist sich allerdings bei näherer Betrachtung als ziemlich oberflächlich und verschwommen – ich könnte auch sagen: undeutlich, und das erleichtert es Lukács, eine Antwort auf sie zu finden. „Er fürchtet sich beinahe nervös davor, das Kind irgendwo beim Namen zu nennen“, lautet in dieser Hinsicht das ernsthafteste Argument. Babits erweckt damit den Eindruck, als wäre es so leicht, „das Kind beim Namen zu nennen“, obwohl er als Dichter eigentlich hätte wissen müssen – und natürlich auch ganz genau wusste, nur schien plötzlich ein sonderbares Vergessen von ihm Besitz ergriffen zu haben –, dass es hier einzig darum geht, das angemessene Wort, die passende Sprache zu finden, und eine wie schwere und qualvolle Aufgabe das ist – jedenfalls lässt es sich nicht auf die Frage einer raschen Stellungnahme oder ehrlichen schwungvollen Darangehens einengen. Hier ergreift plötzlich der Wissenschaftspositivist das Wort, der von der instrumentalistischen als wissenschaftliche Frage, die die damalige Zeit beschäftigte, war lebendig und – insoweit in gewissem Maße – legitim. Den ersten Weltkrieg verstand (anders als den zweiten) ein Großteil der bedeutenden Intellektuellen (auch) in kulturellem Sinn, als Kampf zwischen den Kulturen. Wenn Sartre später meinte, „Der Erste Weltkrieg ist nicht, wie Chevalier sagte, ,Déscartes gegen Kant‘“, dann zeigt das, dass man die Sache – auch von französischer Seite – zumindest so auffassen konnte ( Jean-Paul Sartre, Materialismus und Revolution, Gesammelte Werke I, Philosophische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1994, S. 205); und ein Teil der maßgeblichen Wissenschaftler in den Ländern Westeuropas, in Deutschland und in Frankreich gleichermaßen, fasste sie auch genauso auf. Der Themenbereich ist unter der Bezeichnung „Ideen von 1914“ bekannt, und von der umfassenden Literatur will ich nur auf Ernst Troeltsch verweisen, der diese Ideen von deutscher Seite maßgeblich vertrat und auch einen Aufsatz mit diesem Titel schrieb (siehe Ernst Troeltsch, Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, Tübingen 1925; ähnlich wie der Titel des Bandes sind auch die Titel der einzelnen Aufsätze charakteristisch: „Die Ideen von 1914“, S. 31–58; „Der metaphysische und religiöse Geist der deutschen Kultur“, S. 59–79; „Die deutsche Idee von der Freiheit“, S. 108–133; „Deutsche Bildung“, S. 169–210; „Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen“, S. 211–246 usw.; von deutscher Seite siehe auch Paul Natorp, Student und Weltanschauung, Jena 1918; Georg Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München/Leipzig 1917, hier vor allem: „Deutschlands innere Wandlung“, „Die Dialektik des deutschen Geistes“, „Die Krisis der Kultur“, „Die Idee Europa“). Einen guten Überblick über die Ideen von 1914 bietet Julian Young, Heidegger, Philosophy, Nazism, Cambridge 1997, S. 13. Siehe auch Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik (= Beiträge zur historischen Theologie Bd.124), Tübingen 2004, besonders das Kapitel „Der Krieg als Kulturkrieg“ (S. 388–390), an dessen Anfang der Verfasser feststellt: „Die ,Mobilmachung der Geister‘ war dabei nicht ein spezifisch deutsches, sondern – freilich in unterschiedlicher Intensität – ein europäisches Phänomen“.
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Sprachauffassung her verlangt: Bitte „nennen Sie das Kind beim Namen“.32 Sollen wir sagen, dass Schriftsteller und Dichter die Sache mit ihren diversen Wortblüten unendlich überkomplizieren, statt einfach „das Kind beim Namen zu nennen“? Die Dichter sprechen nicht zuletzt über die Liebe, das Leben, den Tod – wenn auch vielleicht etwas kompliziert. Sie könnten es auch einfacher tun. Im „King Lear“ geht es im Grunde genommen um die Eifersucht, im „Hamlet“ um die Unentschlossenheit – wenn wir „das Kind beim Namen nennen“ wollen. Sollte derjenige noch ein Dichter oder Schriftsteller sein, der diese Forderung erfüllt? Und was ist es eigentlich, das beim Namen zu nennen Lukács sich scheut? Babits bleibt die Antwort schuldig. Wenn wir den Essay über Beer-Hofmann betrachten, ist es nicht schwer, sie zu finden. Die Anfangszeilen lauten: „Jemand ist gestorben, was ist geschehen?“ Danach erörtert der Verfasser zwanzig Seiten lang: „Was kann ein Mensch dem anderen sein?“.33 Das könnte er natürlich auch schlecht und niveaulos tun. Aber Babits ist wichtig, dass Lukács es währenddessen hartnäckig versäumt, das Kind beim Namen zu nennen. Demnach ist der Tod des anderen Menschen für Babits nicht die Benennung des Kindes. Hinter der Forderung „das Kind beim Namen zu nennen“ scheint sich eine Sprachauffassung zu verbergen, die im 20. Jahrhundert vor allem der logische Positivismus zur Geltung zu bringen versuchte. Gadamer schreibt dazu: [E]ine sehr große, in ihrer Bedeutung gewiß nicht gering zu schätzende Bewegung in der heutigen Philosophie[...] glaubt, daß das ganze Geheimnis und die alleinige Aufgabe aller Philosophie darin bestehe, die Aussage so exakt zu gestalten, daß sie wirklich in der Lage ist, das Gemeinte eindeutig auszusagen. Die Philosophie habe ein Zeichen system auszubilden, das nicht von der metaphorischen Vieldeutigkeit der natürlichen Sprachen abhänge [...].34
Ist wohl eine solche – mathematisierende – Sprachauffassung fähig, der Sprache der Literatur oder der Dichtung gerecht zu werden? „Das Kind beim Namen zu nennen“ ist ein idiomatischer Ausdruck, sein Gegenteil ist mit der Sprache nicht recht herauswollen, sich winden, um den heißen Brei 32 „Es liegt auf der Hand“, schreibt Gadamer, „daß eine instrumentalistische Zeichentheorie, die Wort und Begriff als bereitliegende oder bereitzumachende Werkzeuge auffaßt, das hermeneutische Phänomen verfehlt. [...] Der Ausleger bedient sich nicht der Worte und Begriffe wie der Handwerker, der die Werkzeuge in die Hand nimmt und fortlegt. Wir müssen vielmehr die innere Durchwebtheit alles Verstehens durch Begrifflichkeit erkennen und jede Theorie zurückweisen, die die innige Einheit von Wort und Sache nicht wahrhaben will“ (Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 407). 33 Lukács, Über Wesen und Form des Essays, S. 231, 232. 34 Hans-Georg Gadamer, Was ist Wahrheit?, in: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 49.
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herumreden, Umschweife machen, ein Blatt vor den Mund nehmen, beschönigen. In Formulierungen wie „Sag schon, rede nicht darum herum!“, „Ich habe ihr ohne alle Umschweife/Verrenkungen/ein Blatt vor den Mund zu nehmen meine Meinung gesagt“. „Beim Namen nennen“ bedeutet laut Duden „etwas ohne Beschönigung aussprechen, etwas [Negatives] ganz klar als das bezeichnen, was es ist“.35 Die Sprache der Kunst dürfte also nach Babits’ Argumentation nicht beschönigen. Aber was wird dann aus der Ästhetik, aus den schönen Künsten, der schönen Literatur? Wohin führt dieses Argument? Und nennt denn Babits’ oben zitierte, entschieden und gar nicht einmal schlecht beschönigende Formulierung, „Aus den frischen Trauben des Lebens keltern wir prächtigen Wein und nützlichen Essig und tragen sie in diese unerschöpflichen, dunklen Keller“, – ohne alle Beschönigung – „das Kind beim Namen“?36 Mit meinen obigen Betrachtungen will ich um alles in der Welt nicht behaupten, dass die Sprache von Lukács’ Essaysammlung nicht kritisierbar wäre, dass sie nicht einiges zu wünschen übrig ließe, dennoch ist – darauf habe ich schon verwiesen – Babits’ Argumentationsweise problematisch. Seine Einwände bewegen sich in abstrakter Allgemeinheit, sie sind flatterhaft oder planlos, nicht zu Ende gedacht – manchmal arbeitet er mit bemühten Gegenüberstellungen37 –, und so gilt eher für 35 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim 2000, Lemma Name. 36 Siehe oben Anmerkung 17. 37 So eine bemühte Gegenüberstellung ist beispielsweise die folgende: „Der behandelte Gegenstand ist nicht Rudolf Kassner, sondern das Verhältnis von Platoniker und Dichter; nicht Theodor Storm, sondern das Verhältnis zwischen dem Bürgertum und der l’art pour l’art […]; nicht Novalis, sondern die romantische Lebensphilosophie; nicht Richard Beer-Hofmann, sondern das Verstehen und die Formen […]; nicht Søren Kierkegaard, sondern (grässlich deutsche Terminologie!) der Lebenswert des Gestus; nicht Stefan George, sondern die Impassibilität und weite Intimität; nicht Laurence Sterne, sondern das Verhältnis von Formen und Wirtschaft. Die Schriftsteller, die den Essays den Titel gaben, werden unter Lukács’ Feder sofort abstrakte Begriffe und Symbole.“ (Hervorh. I. M. F.) Auch hier verhält es sich wieder so, dass man Lukács dafür kritisieren kann, dass er Novalis unter der romantischen Lebensphilosophie eingeordnet hat, oder die Sinnhaftigkeit des letzteren Terminus bestreiten kann, aber wenn die Literaturgeschichte einmal mit den Begriffen der Richtungen und Perioden arbeitet, dann müssen einzelne Verfasser den einzelnen Richtungen zugeordnet werden können. Das kann man gut oder schlecht machen, und gegen dieses Verfahren kann man, wenn ich recht sehe, dreierlei einwenden: 1) Man kann die Begrenzung, Bezeichnung und Aufzählung der angegebenen Richtungen oder Perioden bestreiten (z. B. Romantik, Realismus, Moderne, Postmoderne usw.). 2) Man kann auch darüber diskutieren, ob bezogen auf Richtung „X“ der Verfasser „Y“ der typischste oder überhaupt typisch sei. 3) Wenn man akzeptiert, dass der Verfasser „Y“ typisch für die Richtung „X“ ist, kann man der Meinung sein, dass die ihm gewidmete Darstellung nicht ausreichend, sondern geradezu grundlegend ungeeignet ist. Aber das Verfahren selbst zu beanstanden, wirkt abermals abstrakt und verschwommen. Babits behauptet nicht, dass die Bezeichnung „romantische Lebensphilosophie“ wenig Sinn ergibt, oder dass sie zwar einen Sinn ergibt, dass aber nicht Novalis ihr typischer Vertreter ist,
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ihn und seine Argumentation, dass er sich „nervös fürchtet“ – wovor eigentlich? Vielleicht davor, in die Nähe der Sache zu geraten, sich auf ihre Meriten einzulassen, vielleicht bleibt all seine Kritik deshalb in sicherer Entfernung, ist sie deshalb so verschwommen, so nebulös. Er bleibt auf Abstand, schließlich ist ihm ja die Sache von vornherein „unsympathisch“. Das wäre verständlich, von unsympathischen Sachen hält man sich fern, wagt sich nicht in ihre Nähe; aber warum schreibt er dann eine Kritik, was bedeutet hier die Kritik?38 Wenn wir versuchen, Babits gegenüber billig zu sein, und einen Interpretationsaspekt suchen, der den Vorwurf, „das Kind nicht beim Namen zu nennen“, einigermaßen plausibel macht, dann finden wir den theoretischen Ausgangspunkt dazu interessanterweise gerade in einem früheren Aufsatz von Lukács, der sich auf Babits bezieht. In seinem Aufsatz „Új magyar líra“ [Neue ungarische Lyrik], der 1909 im Huszadik Század erschien, hatte Lukács geschrieben: „In Babits’ Rhythmus, in seinen Bildhäufungen liegt eine wunderbar ungebrochene Vehemenz, ein unglaublich starkes Losstürmen auf die Dinge, die extremsten, wildesten, sonderbarsten Bezeichnungen“.39 Diese grundlegend positive, lobende Charakterisierung kann als eine Art Erklärung für Babits’ Aversion gegen Lukács’ „Nebulöses“ dienen. Der Habitus, für den die „wunderbar ungebrochene Vehemenz“ charakteristisch ist, das „unglaublich starke Losstürmen auf die Dinge, die extremsten, sonderbarsten Bezeichnungen“, legitimiert auf seine Weise die Forderung, „das Kind beim Namen zu nennen“ und macht sie verständlich, und mit ihr die Abneigung gegen alles, was dieser Forderung nicht genügt: er stürmt nicht auf die Dinge los (sondern streicht sozusagen nur um sie herum), er verwendet keine extremen, wilden oder sonderbaren Bezeichnungen, sondern eher verschwommene usw. Dieser dichterische Habitus scheint seinerseits vollkommen berechtigt, er belegt angemessen seinen eigenen Sprachgebrauch und dessen Präferenzen; was übertrieben scheint, ist nur seine uferlose Ausweitung auf alle Arten von dichterischem oder schriftstellerischem Habitus und Sprachgebrauch. Wenn Babits „auf die Dinge losstürmen, die extremsten, wildesten, sonderbarsten Bezeichnungen“ gebrauchen will, kann er das ja ruhig tun; sondern jemand anderes, oder dass Novalis zwar ein (typischer) Vertreter der „romantischen Lebensphilosophie“ ist, aber Lukács das in seiner Darstellung nicht überzeugend belegen kann, oder überhaupt, dass Lukács nicht in der Lage ist, eine gute Darstellung von Novalis zu bieten. 38 Die Frage „Wovor fürchtet er sich so nervös?“ – das Subjekt des Fragesatzes ist nicht Babits allein, sondern in gewissem Sinne die gesamte ungarische Dichtung und Kultur – beantwortet Lukács später selbst: die „immer wieder aufbrechende Furcht“ ist nichts anderes als die „Furcht vor der Tiefe“. Das Streben nach Tiefe „ist von vornherein schon verdächtig […]. Bedeutet nicht ein solcher stets wachsamer Verdacht Furcht? Hat die ungarische Seele Grund, sich vor der Tiefe, vor der Tragödie zu fürchten?“ (Lukács, Kiknek nem kell és miért, S. 702, 706). 39 Lukács, Új magyar líra, S. 286–292, siehe ders., Ifjúkori művek, S. 259.
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aber diese Forderung als Maßstab an den Habitus jedes Schriftstellers, Dichters oder Essayautors anzulegen, scheint doch übertrieben. Diese Interpretation hat ihre Ursache nicht nur im hermeneutischen Wohlwollen, sondern sie entspricht vermutlich eher dem Wesen der Sache und Babits’ Intentionen; wenn wir sie akzeptieren, können wir gegenüber Babits’ Einwänden nur das Argument gebrauchen, dass er einen gegebenen und in sich akzeptablen dichterisch-weltanschaulich-sprachlichen Habitus unberechtigterweise verallgemeinert, universale Geltung für ihn fordert, eine Art Hegemonialposition, der sich die anderen anzupassen haben.40 40 Eine in vielerlei Hinsicht andere, aber ähnlich gerichtete Sprachauffassung, die gerade über die Sprache der Literatur schwer Rechenschaft ablegen kann, entwickelt Babits in seinem Aufsatz über Bergson: „Aber es ist verständlich, dass wir die Empfindungsunterschiede mit den Unterschieden zwischen den Ursachen ausdrücken: unsere Sprache ist ja eine Schöpfung des Verstandes [und die poetische Sprache? – I. M. F.], und so ist sie nicht für den Ausdruck von Qualitäten, sondern für den von Quantitäten geeignet: die Empfindung kann man nicht aussprechen“ (Babits, Bergson filozófiája, Hervorh. I. M. F.); „der Verstand ist die Waffe im Kampf um das Sein“, lautet etwas später die naturalistisch-darwinistisch anmutende Feststellung. In dem Aufsatz über Bergson findet sich auch eine Bemerkung über dessen Sprachgebrauch: „Materie und Leben haben also nicht nur unterschiedliche Rhythmen, sie sind gegenläufige Bewegungen. Alles geschieht so (dies ist eine häufige Phrase Bergsons), als ob die Materie gleichsam das Zerreißen, das momentlange Zerfallen von Leben wäre […]“ (Hervorh. I. M. F.) Die Häufigkeit des Ausdrucks „tout se passe comme si“ ist mir bei Sartre schon früher aufgefallen (vgl. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1998, z. B. 669–671; auf S. 671 findet er sich sogar in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen; von Sartres sonstigen theoretischen Texten siehe z. B. den zweiten Satz im Einleitungsabschnitt von „Matérialisme et révolution“: Jean-Paul Sartre, Les Temps Modernes (1946), S. 1537; wieder gedruckt: Jean-Paul Sartre, Situations, III. Band, Paris 1949, S. 135 [in den englischsprachigen Bänden, die diesen Text enthalten, wird der französische Ausdruck mit „It is as though“ übersetzt; siehe Jean-Paul Sartre, Literary and Philosophical Essays, London 1955, S. 185]; außerdem Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946: „Tout se passe comme si, pour tout homme, toute l’humanité avait les yeux fixés sur ce qu’il fait et se réglait sur ce qu’il fait“ (siehe: http://www.philo5.com/Les%20philosophes%20 Textes/Sartre_L%27EnferC%27EstLesAutres.htm [letzter Zugriff: 13.01.2015]; siehe auch z. B. Jacques Derrida, Marges de la Philosophie, Paris 1972, S. 137, 153, 220). Ob es sich hier um Bergsons Wirkung auf Sartres Sprachgebrauch handelt, oder ob Sartre den Ausdruck „tout se passe comme si“ unabhängig von Bergsons Wirkung verwendet, einfach als eine in der französischen Sprache bzw. in gewissen Kontexten der wissenschaftlichen Prosa übliche idiomatische Wendung, die verschiedene Verfasser in Abhängigkeit von ihren sprachlichsyntaktischen Präferenzen natürlich unterschiedlich oft verwenden, möge hier offen bleiben. (Im Internet ist beispielsweise die Vorlesung „Tout se passe comme si“ von Jacques Roques zugänglich, die dieser am 10. Januar 2007 in Sceaux gehalten hat; aus ihr soll hier Folgendes zitiert sein: „Cette aporie fondamentale qui porte sur l’appréhension du réel ne peut bien sûr pas être résolue et je dois m’en tenir là à la formulation d’un postulat: ‘il y a bien correspon dance entre ce que je vois et ce qui est. Mes sens sont fiables‘ et ceci en supposant que je sois
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„Ein immer nur im Halbdunkel gesehener Gegenstand“, schreibt der junge Heidegger, „wird erst im Durchgang durch eine Überhellung gerade in seiner halbdunkelen Gegebenheit faßbar“.41 Heideggers These scheint – anders als Babits – für Lukács zu argumentieren, für Lukács’ Dunkel oder Halbdunkel; Heideggers Ansicht nach kann es sehr wohl etwas wie „Halbdunkel“ geben und so auch einen „immer nur im Halbdunkel gesehenen Gegenstand“. Doch während Heideggers These überaus geeignet scheint, Lukács’ Halbdunkel und Dunkelheit zu legitimieren, rückt Lukács wiederum von der durch diese methodologische Maxime suggerierten Sprachauffassung – wegen der fallweisen Unvollkommenheit der Ausführung – in den Fokus möglicher Kritik; die von Babits geltend gemachte Forderung („das Kind beim Namen zu nennen“) kann man dagegen ihm gegenüber nicht recht zur Geltung bringen – sie ist aus seiner Perspektive vollkommen irrelevant. Babits findet, wie schon oben gezeigt wurde, keine guten Argumente, und seine Rezension bleibt auch ansonsten – wie sich im Lichte der bisherigen Analyse abzeichnet und sofern ich das zu beurteilen fähig bin – unter dem Niveau seines gewohnten, hoch angelegten poetisch-philologisch-literaturhistorischen Maßstabes.42 Das klingt wie eine schwere Verurteilung, kann sich jedoch nicht nur auf die sain d’esprit, ce qui pour les mêmes raisons solipsistes ne peut être non plus garanti. Donc nous avons là un fondamental indépassable qui ne peut relever de lascience mais seulement, il faut bien le reconnaître, du ,tout se passe comme si’, du ,admettons que’, autrement dit de la croyance et de la foi.“ http://emdrrevue.com/accueil/tout-se-passe-comme-si/ (Letzter Zugriff: 13.01.2015]. 41 Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen, S. 252 (neuerdings siehe Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), hg. Günther Neumann, Stuttgart 2002, S. 39–40, außerdem GA, Bd. 62, S. 372) (Hervorh. I. M. F.). 42 Dieses Argument führte Babits gegenüber Lukács an – dass Lukács’ Kritiken nämlich „ihr eigenes Maß nicht erreichen“, und wenn ich recht sehe, formuliert später auch Lukács – nicht mit genau denselben Worten, aber der Sache nach – eine ähnlich geartete Kritik gegenüber Babits. Siehe Lukács, Kiknek nem kell és miért, S. 700–702: „Wie kann ein Schriftsteller von so großem Wissen und so feinem Gewissen derart grob irren, sooft es sich um die deutsche Literatur oder die eventuelle Wirkung dieser deutschen Literatur auf die unsere handelt?“ An gleicher Stelle wendet Lukács auch den Vorwurf der Nebulosität gegen Babits: „Wenn wir aus dem Dunkel der nebulösen Verallgemeinerung hinabsteigen (es scheint, dass der germanische Nebel klebriger Natur ist) in die Ebene der konkreten Stiluntersuchung […]“; „der germanische Nebel […] wirkt infizierend auf das Urteil unseres Philologen“ (ebd. S. 700). Wir wollen noch anmerken, dass Babits, obwohl er die deutsche Kultur bzw. Philosophie oder Metaphysik in der Rezension (und anderswo) mit den Attributen „nebulös“, „dunkel“ versieht – und solche Beurteilungen begleiten (zu Recht oder zu Unrecht) tatsächlich den ganzen Weg der deutschen Philosophie –, in seinem Aufsatz zu Bergson ganz im Widerspruch hierzu überraschenderweise von „deutscher mechanischer Weltanschauung spricht“, nämlich in dem Sinn, dass Bergson „eine Gegenwirkung gegen die deutsche mechanische Weltanschauung“ sei (Babits, Bergson filozófiája, S. 945). Nun war in Deutschland – hierüber klagen der Italiener Benedetto Croce
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bisherigen Analysen stützen, sondern gewinnt eine eigentümliche Bestätigung und der Deutsche Martin Heidegger gleichermaßen – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – ähnlich wie in ganz Europa – zweifellos ein trostloser und unfruchtbarer Positivismus an die Macht gelangt (siehe Benedetto Croce, Logica come scienza del concetto puro, Bari1971, S. 322 [Die Periode, die auf den deutschen Idealismus folgte, „brachte in Deutschland und in ganz Europa nur geringe Philosophie hervor“]; Martin Heidegger, GA, Bd. 20, S. 14: „Gestalt eines öden und groben Materialismus“, außerdem z. B. Martin Heidegger, GA, Band 3, S. 274–276; wir wollen hinzufügen, dass Bergsons Hauptverdienst laut Croce gerade darin lag, dass er in die französische Philosophie eine Lebhaftigkeit hineinbrachte, die ihr immer gefehlt hatte [Ebd., S. 326]), dass jedoch die deutsche Philosophie hinsichtlich ihrer Hauptvertreter und maßgeblichen Richtungen (Idealismus, Historizismus usw.) in der Neuzeit geradezu einen Widerstand gegen die mechanische Weltanschauung, die zumeist cartesianischen Ursprungs war, die Hauptströmung dieses Widerstands verkörperte, dies sollte ziemlich offensichtlich sein. Schelling beispielsweise, dessen spezifisch charakteristische – und in dieser Hinsicht vielleicht sogar typisch deutsch zu nennende – dynamisch-organische Naturphilosophie von Anfang bis Ende kühner Widerstand gegen die (vor allem cartesianisch inspirierte) mechanistische Naturbetrachtung der Neuzeit ist, beginnt seinen Freiheitsaufsatz damit, dass er sich sehr eindeutig gegen „die Überzeugung über die völlige Subjektivität des Denkens und Erkennens und die völlige Vernunft- und Gedankenlosigkeit der Natur“ abgrenzt, die eine notwendige Ergänzung der „überall herrschenden mechanischen Auffassungsweise“ sei. In seiner Abhandlung stellt er dann kritisch fest: „Die ganze neu-europäische Philosophie seit ihrem Beginn (durch Descartes) hat diesen gemeinschaftlichen Mangel, daß die Natur für sie nicht vorhanden ist“; er spricht von der „mechanische[n] Denkweise, die in dem französischen Atheismus den Gipfel ihrer Ruchlosigkeit erstieg“, er beklagt, dass „auch in Deutschland fing man an, diese Art zu sehen und zu erklären für die eigentliche und einzige Philosophie zu halten“, schließlich drückt er seine Freude darüber aus, dass „Heutzutage […] jene Denkweise längst vorüber ist, und das höhere Licht des Idealismus uns leuchtet“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Karl Friedrich August Schelling [Hg.], F. W. J. Schellings sämtliche Werke, Stuttgart/Augsburg 1856–61, Band VII, S. 333, 356, 348 [Hervorh. I. M. F.]; „Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist“, sollte Hegel später dazu anmerken, und Croce stimmte ihm in vollem Umfang zu; siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Band I, S. 172; Croce, Logica come scienza, S. 160). – Ebenfalls wenig verständlich ist Babits’ Klage am Ende seines Textes: „Die Metaphysik ist tot – wie oft haben wir seit Kant diesen Ausruf gehört (zumeist auf Deutsch)“. Wenn nun die deutsche Philosophie von französisch-englischer Seite seit Kant irgendein Vorwurf traf, so war das in der entscheidenden Mehrzahl der Fälle gerade wegen der Wiederherstellung, der Restauration der Metaphysik der Fall. Wir wollen hier nur Karl Popper zitieren, der in dieser Hinsicht den typischen Standpunkt der Hauptströmung der französisch-englischen positivistischen Tradition zusammenfasst: „This criticism of pure reason was felt as a terrible blow to the hopes of nearly all continental philosophers; yet German philosophers recovered and, far from being convinced by Kant’s rejection of metaphysics, hastened to build up new metaphysical systems [...] The school which developed, usually called the school of German idealists, culminated in Hegel.“ (Karl Popper, What is Dialectic?, in: ders., Conjectures and Refutations, London 1965, S. 325). Hegel und den deutschen Idealismus als maßgebliche – nicht einmal europäische, sondern enger – deutsche Richtung nimmt Babits offenbar nicht zur Kenntnis.
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durch keine geringere Autorität als – Babits selbst. Über seinen eigenen Text merkt Babits nämlich in den wenigen Zeilen eines Kommentars zu Lukács’ Antwortartikel an, dass er „anspruchslose“ Bemerkungen enthalte – diese Selbstcharakterisierung scheint erstaunlich genau, ja sogar überaus zutreffend. Es geht nämlich nicht so sehr darum, dass Babits mit seinem Urteil nicht recht hätte, dass seine Feststellungen nicht bestehen könnten, ungerecht wären usw., sondern vielmehr darum, dass sie der anspruchsvollen, sachlichen Konfrontation mit dem Gegenstand ausweichen, sich nicht in die Meriten der Sache vertiefen – nicht nur nicht positiv, sondern auch nicht negativ –, dass er sein Urteil – wie ich zu zeigen versucht habe – aus sicherer Entfernung fällt. Wenn „anspruchsvoll“ dadurch charakterisiert ist, dass ein hoher Maßstab angelegt wird, wird das Anspruchslose durch geringe Anforderungen gekennzeichnet. Dass dieses Attribut nicht versehentlich aus Babits’ Feder geflossen ist, wird auch daran deutlich, dass es in beiden Briefen auftaucht, die er im November 1910 an Lukács schrieb; wir können also ein dreimaliges Vorkommen registrieren.43 Wenn wir dieses Attribut treffend finden, kann jedoch von ihm gesagt werden: diese Formulierung selbst ist zumindest „anspruchsvoll“; dass er sich selbst „Anspruchslosigkeit“ diagnostiziert, ist nämlich von einer gewissen Selbstkritik und damit von einer entsprechenden „Anspruchshaftigkeit“ gekennzeichnet. Das Attribut „anspruchslos“ hingegen ist mehrdeutig; es enthält mindestens zwei, locker miteinander zusammenhängende, einander jedoch widersprechende Bedeutungen: eine positive und eine negative. Einerseits kann es das Synonym folgender Bezeichnungen sein: bescheiden, solide, nicht allzu wesentlich, drängt sich nicht in den Vordergrund, zweitrangig, zu vernachlässigen, zieht sich in den Hintergrund zurück (wer keine hohen Ansprüche hat, der ist anspruchslos, anspruchsarm, gibt sich mit Wenigem zufrieden, verkriecht sich im Hintergrund, so sprechen wir beispielsweise von anspruchslosen Pflanzen und Tieren usw.). An43 Hier sollen alle drei Stellen zitiert werden, beginnend mit dem Kommentar zu Lukács’ Artikel im Nyugat: „Diese Antwort voller schöner und tiefer Gedanken haben meine anspruchslosen Bemerkungen kaum verdient. Die Sache wurde hier so vertieft, sie geht so auf die allgemeinsten Fragen zurück, dass die Diskussion dessen überhaupt nicht vor ein nur literarisches Forum gehören kann.“ Siehe danach Babits’ Brief an Lukács vom 7. November 1910: „Wie sehr sie [Lukács’ Bücher, Anm. d. Übers.] mich interessiert haben, versuchte ich in den anspruchslosen Zeilen auszudrücken, die ich über sie in Nyugat schrieb. Ich selbst weiß am besten, wie einseitig diese Zeilen sind“ (Lukács, Briefwechsel, S. 156). Schließlich der Brief vom 28. November 1910: „[I]n einigen Zeilen, in Form von Notizen, gebe ich selbst meiner Freude Ausdruck darüber, daß meine anspruchslosen Zeilen Sie zu so schönen Gedanken anregten“ (Ebd., S.165). An derselben Stelle modifiziert Babits seinen Einwand bezüglich des Nebulösen. Er akzeptiert Lukács’ Konkretisierung, akzeptiert die Berechtigung der Art von (philosophischer) Unklarheit und bringt nun eine andere Unklarheit zur Sprache: „Ich hatte den Eindruck, die Unklarheit liege bei Ihnen nicht in der Tiefe der Gedanken, sondern in den Ausdrücken und Satzstrukturen“(Ebd., S. 166).
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spruchslos nennen wir aber auch das, was gewisse (qualitative) Anforderungen nicht erfüllt, „von niedrigem Niveau“ oder „niveaulos“.44 Babits’ Wortgebrauch nutzt diese Mehrdeutigkeit aus, und es lässt sich kaum eindeutig entscheiden (es bleibt sozusagen nebulös), wie er diesen Begriff versteht. Man kann ihn so verstehen, dass seine Bemerkungen „bescheiden“, „nicht allzu wesentlich“, nicht allzu wichtig, marginal seien, dass man ihnen keine allzu große Aufmerksamkeit beimessen müsse, und Babits wollte vermutlich auch (bzw. vor allem) diese Bedeutung in den Vordergrund rücken. Dieses solide Hintergrunddasein allerdings steht kaum in einem Verhältnis zu dem entschiedenen, selbstsicher urteilenden Charakter der Bemerkungen. Die Kritik lautet ja, Lukács’ Porträts seien „verschwommen“, „abstrakt“, „ätherisch“, „subjektiv“ und unter anderem Aspekt „formlos“, „überschwänglich“, „kompliziert“, „nebulös“, „unkomponiert“ und „stillos“ – kann man dieses Urteil denn als „bescheiden“ und „anspruchslos“ bezeichnen (in dem Sinn, dass es sich „mit wenig zufrieden gibt“)? Sollte die herausfordernd-forsche Erklärung der „unbesiegbaren Antipathie“ ihrerseits eine Art anspruchslose Äußerung sein? Man sollte wohl besser von Äußerungen eines anspruchsvollen – und gelegentlich nicht vor autoritären Gesten zurückschreckenden – kritischen Selbstbewusstseins und Urteils sprechen. Die Anspruchslosigkeit ist viel eher in der Begründung der Kritik als in der Kritik selbst anzutreffen. Wenn Babits in seiner kurzen Notiz zu Lukács’ Antwortartikel seine eigenen früheren Bemerkungen als „anspruchslos“ bezeichnet, dann wirkt das einerseits, als nähme er sie gewissermaßen zurück, andererseits tut er auch dies wieder ziemlich anspruchslos. Die Erklärung der Anspruchslosigkeit geschieht selbst wiederum in anspruchsloser Form – einer Notiz von wenigen Sätzen; ohne gründliche oder tiefergehende Erklärung oder Selbstkritik (vielleicht ist dieser performative Akt ein Zeichen der Kohärenz, das soll hier offen bleiben). Mit seiner Meinung zieht er sich solide in den Hintergrund zurück: Er motiviert weder seine kritische Meinung noch ihre spätere Relativierung und Einschränkung.45 Wenn seine Formulierung nicht reines Auswei44 Auch das große Wörterbuch des Ungarischen, das Értelmező Szótár, trifft hier noch weitere Unterscheidungen. Siehe A magyar nyelv értelmező szótára, Bd. III, Budapest 1960, S. 453. 45 Eine dritte Bedeutung des Wortes „anspruchslos“ – Anspruchslosigkeit als eine Art Wert oder Verdienst – lässt sich anhand einer Formulierung von Heidegger skizzieren. Am Beginn seiner Schelling-Vorlesung gibt er einen kurzen Überblick über die für die Interpretation zur Verfügung stehende Fachliteratur und bemerkt: „Die Darstellung Kuno Fischers ist deshalb ausge zeichnet, weil sie anspruchslos ist und doch aus einer reichen Kenntnis des ganzen Zeitalters schöpft. Die Verarbeitung der Quellen zur Lebensgeschichte in breiter Schilderung ist meister haft, wenn auch in Einzelheiten veraltet. Die Behandlung der Werke Schellings geschieht in der Form eines schlichten Berichts, oft in brauchbaren Inhaltsangaben, die philosophisch nichts in Bewegung bringen, aber auch nichts verderben.“ (Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. Hildgard Feick, Tübingen 1971, S. 8; Hervorh. I. M. F.). Nach Heideggers Formulierung kann etwas also nicht nur niveauvoll sein,
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chen ist, sondern eine ernstgemeinte Selbstcharakterisierung, dann gründet diese „anspruchslose“ Erklärung der Anspruchslosigkeit – wie oben bereits angedeutet – für ihren Teil eben doch auf einer Art Anspruchshaftigkeit. Ich habe den Streit zwischen Babits und Lukács zur Illustration der literaturtheoretisch-philosophischen Diskussionen im Nyugat herangezogen, wobei die Bezeichnung Streit jedoch – das sollte an dieser Stelle präzisiert werden – nur mit gewissen Einschränkungen verwendet werden kann. Im Hinblick auf seine Gattung ist Babits’ Beitrag eine Rezension, kein Streitartikel (auch wenn es nicht immer sinnvoll scheint, diese beiden streng voneinander zu trennen, gibt es jedoch grundlegende Unterschiede zwischen ihnen); Lukács’ Antwort könnte nun als Streitartikel gelten, aber der Verfasser betont bereits in der Einleitung: Vor allem muss ich anmerken, […] dass ich weder über mein Buch noch über Ihre Kritik sprechen werde. […] Ich hätte einige Anmerkungen zu jenem „Nebulösen“ und seinem Grund sowie zur „modernen deutschen Metaphysik“ – so weit wie möglich unabhängig von meinem Buch und Ihrer Kritik.
Der Gedankenaustausch zwischen Babits und Lukács kann daher nur unter gewissen Vorbehalten als Streit bezeichnet werden. Babits streitet nicht mit Lukács, sondern er schreibt (in stark kritischem Ton) eine Rezension über Die Seele und die Formen, und Lukács nutzt diese Rezension als Anlass, einige für ihn wichtige, selbstständige Gedanken zu entwickeln. Obwohl Lukács’ Antwort die Reaktion ist, hat er dennoch paradoxerweise eher die Möglichkeit, sich in eigenständige Richtungen zu bewegen (allein schon zu wählen, ob er reagiert oder nicht, und wenn ja, in welchem Sinn), eigene Gedanken zu entfalten (während ein Rezensent irgendwie immer mehr durch obwohl es anspruchslos ist, sondern auch gerade, weil es anspruchslos ist. Sein Urteil können wir so verstehen, dass die Anspruchslosigkeit hier so viel bedeutet wie eine bewusste Selbstbeschränkung: der Verfasser hütet sich davor, den Leser mit neuen originellen Interpretationen zu überraschen (und womöglich zu überfluten), er drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern zieht sich bescheiden in den Hintergrund zurück, bleibt die ganze Zeit dort und versucht dabei, seine weitreichenden Kenntnisse des behandelten Philosophen in strukturierter Form vor dem Leser auszubreiten. Er versucht, die Sache in den Vordergrund zu stellen und nicht sich selbst. Eine ähnlich geartete „Anspruchslosigkeit“ ist in Husserls Motto „Nicht immer die großen Scheine, meine Herren, Kleingeld, Kleingeld!“ zu finden (Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 107), sowie auch darin, wie Heidegger selbst sein eigenes Denken am Anfang der dreißiger Jahre in einem Brief an Karl Jaspers zu charakterisieren meinte: seine Rolle sei die „eines Aufsehers in einer Galerie, der unter anderem darauf zu achten hat, daß die Vorhänge an den Fenstern in der rechten Weise auf- und zugezogen sind, damit die wenigen großen Werke der Überlieferung für die zufällig zulaufenden Beschauer eine einigermaßen ordentliche Beleuchtung haben“ (Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, hg. Walter Biemel/Hans Saner, Frankfurt a. M./München/Zürich 1990, S. 144–145).
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das rezensierte Werk gebunden ist), und von dieser Möglichkeit macht er maximal Gebrauch. Der Tonfall seines Beitrags ist im Vergleich zu dem von Babits sachlich, deeskalierend, spürbar von der Absicht der zurückhaltenden Äußerung gegenüber dem etwas älteren und bekannteren Zeitgenossen geleitet, was ihn freilich nicht daran hindert, die Frage auf die theoretische Ebene zu heben und dort gelegentlich recht hart zu urteilen. Da er in seiner Antwort versucht, theoretische Fragen zu berühren, ist sein Beitrag der anspruchsvollere von beiden, das heißt, sein Beitrag stellt höhere Ansprüche an sich selbst – inwiefern er ihnen entspricht, ist selbstverständlich eine andere Frage –, außerdem ist auch mit Blick auf die Laufbahn seines Verfassers der Beitrag von Lukács der entscheidendere, charakteristischere von beiden. Was Babits’ Vorwurf bezüglich des Nebulösen betrifft, so denke ich, entwickelt Lukács einige schöne und zutreffende Gedanken über die Philosophie an sich. Eine andere Frage ist, dass Lukács auf Babits’ (meiner Ansicht nach) verschwommenen und nebulösen Einwand bezüglich des Nebulösen nicht reagiert, indem er zuerst versucht, diesen – mit hermeneutischem Wohlwollen – zu konkretisieren, zu bestätigen, um ihm dann in einem zweiten Schritt in dieser Form ins Gesicht zu sehen. Er erhebt die Frage eher sehr bald auf eine theoretische Ebene: und obwohl er hier anschließend schöne und bleibende Gedanken ausdrückt, kommt auf dieser Ebene die eventuelle Unvollkommenheit seines eigenen Werkes nicht mehr zur Sprache (natürlich ist dies durch den deklarierten Charakter des Antwortartikels – dass „er … unabhängig von meinem Buch und Ihrer Kritik“ sei – von vornherein ausgeschlossen). Dass sich Lukács’ Beitrag im Hinblick auf die Gestaltung seiner späteren Laufbahn von bleibender Wirkung erwiesen hat, zeigt unter anderem auch, dass er seinen Antwortartikel an Babits in seinem Band Ästhetische Kultur – nun völlig gelöst von den Bezügen auf Babits – in überarbeiteter und erweiterter Fassung wieder herausbrachte. Charakteristisch und zugleich ironisch ist es, dass er hier versuchte, seinen zum Schutz des „Nebulösen“ eingenommenen Standpunkt dadurch weiter zu bestätigen, dass er einen Passus aus der von ihm eindeutig Hegel zugeschriebenen (in der Literatur hält die Diskussion über die Urheberschaft bis heute an, wobei man eher dazu neigt, Schelling als Verfasser zu betrachten) Einleitung zu dem von Schelling und Hegel herausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie anführt, um einen Standpunkt zu illustrieren, den er im gegebenen Augenblick uneingeschränkt vertritt, den er jedoch später unter der Bezeichnung „Aristokratismus“ aufs Heftigste geißeln wird, indem er als wichtigsten Vertreter dieses letzteren denselben Schelling bezeichnete, dem gegenüber Hegel den Standpunkt des (philosophischen, erkenntnistheoretischen) Demokratismus vertreten habe.46 Die Diskus46 S. hierzu ausführlicher István M. Fehér, Ráció, racionalitás, racionalizmus: Lukács és a jelenkori filozófia [Ratio, Rationalität, Rationalismus: Lukács und die Gegenwartsphilosophie], in: Medvetánc VI–VII (4/1986–1/1987), S. 183–219.
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sion mit Babits ist unter diesem Aspekt für Lukács anscheinend entscheidend geworden, jedenfalls in dem Sinn, dass der Kampf gegen seinen eigenen Standpunkt, der sich teilweise unabhängig von dieser Diskussion geformt, hier jedoch weiter verstärkt und eine charakteristischere Gestalt angenommen hat, einen wesentlichen Teil seiner späteren theoretisch-philosophischen Arbeit ausmacht. Dies ist ein Kampf gegen einen solchen (als „irrationalistisch“ bezeichneten) Standpunkt, den für ihn von Schelling an verschiedene Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts zu verkörpern scheinen. In dieser Hinsicht kann die Frage gestellt werden, ob Lukács, wenn man seine in dem von Babits rezensierten Band getroffene wesentliche – wenn auch von Babits nicht direkt thematisierte – Unterscheidung zwischen Dichter und Essayisten zugrunde legt, nicht Zeit seines Lebens „Essayist“ bzw. „Kritiker“ geblieben ist – dies wurde jedenfalls in Lukács’ Habilitationsverfahren in Heidelberg von maßgeblicher Stelle ebenfalls vermutet.47 – Die Diskussion mit Babits kann jedoch auch noch unter einem anderen Aspekt als für die spätere Laufbahn Lukács’ entscheidend angesehen werden. Man kann nämlich die weitere 47 In einem undatierten Brief (Poststempel vom 8. August 1916) von Max Weber an Lukács heißt es „[Lask] hatte den allerdringlichsten Wunsch, im sachlichen Interesse der Universität, daß Sie Sich habilitierten. Aber er gestand mir dann, daß ihm wiederholt jenes Bedenken gekommen sei: ob Sie wohl die Natur haben würden, bei ,zünftiger‘ Arbeit zu bleiben, d.h. eine systematische Arbeit fertig zu stellen. Ihr geistiges Niveau wünschte er der Hochschule zu gewinnen, – Ihre spezifische ,essayistische‘ Neigung ließ ihn schwanken, ob er für Sie – und indirekt: die Hochschule – das Richtige thue, wenn er [Ihnen] in diese ,Zwangsjacke‘ zu gehen riethe und behilflich sei“. Eine weitere Frage ist freilich die Interpretation des „Essayisten“: Lask und Weber verwenden diesen Ausdruck wohl in einer anderen Weise als der junge Lukács – und zwar in der naheliegenden alltäglichen Bedeutung von „bruchstückhaft“, „nicht abgeschlossen“, fallweise „literarisch“, während der „Essayist“ in Gegenüberstellung zum Dichter bei Lukács jemanden bedeutet, der über die Kritik am Werk eines „Künstlers“ seine eigene Meinung über die Wahrheit zum Ausdruck bringt. Zwischen diesen beiden Bedeutungen gibt es jedoch Überschneidungen, es ist nicht unmöglich, eine Brücke zwischen ihnen zu schlagen. Interessant ist außerdem, dass Lukács in seinem Habilitationsverfahren 1918 von Heinrich Maier im Wesentlichen eine ebensolche sprachliche Entgegnung bekam wie Heidegger 1922 von Georg Misch bei dem Verfahren zur Besetzung der außerordentlichen Professur in Göttingen. Misch zufolge gibt es in Heideggers Formulierungen „etwas Gequältes“, das dem Begriffsgebrauch der phänomenologischen Schule entspringt, während nach Heinrich Maiers Ansicht Lukács „eine grosse Vorliebe [habe] für eine gesuchte […] Ausdrucksweise“, und ihm sei „die Schwerfälligkeit, Umständlichkeit und vielfach recht überflüssige Abstraktheit der Darstellung unangenehm“ aufgefallen (Georg Misch: „Gutachten der Philosophischen Fakultät vom 2.11.1922“, siehe H.-U. Lessing: Nachwort des Herausgebers, Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), H.-U. Lessing (Hg.), Dilthey Jahrbuch für Philoso phie und Geschichte der Geisteswissenschaften (1989) 6, S. 272; Heinrich Maier: Gutachten über die Habilitationsschrift des Herrn G. v. Lukács, Heidelberg, 24. November 1918, Universitätsarchiv Heidelberg, H-lV-102/144).
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Frage stellen, inwiefern die alternative, im Widerstand gegen Babits bzw. gegen die in Babits’ Person grundlegend für die ungarische Kultur angenommene Einstellung (das „Fehlen der Tiefe“) herausgebildete Position, nämlich die „Tiefe“ im Gegensatz einerseits zur Attitüde der Belanglosigkeit und des nil admirari andererseits, als tragisch-heroisches Pathos, als Selbstverbrennung und dadurch Selbsterfüllung der Seele bei der Begegnung mit dem Absolutum, „die Bereitschaft, vor seiner Erscheinung auf die Knie zu fallen“48 – inwiefern bedeutet dies eine gegenüber dem Vorigen gültige oder vertretbare Alternative? Könnte es nicht sein, dass in dieser alternativen Antwort vielleicht die grundlegende Verneinung der mit Antipathie und Kritik betrachteten Position das entscheidende Motiv darstellt – wodurch die alternative Antwort grundlegend von dem verneinten Standpunkt abhängig, sogar in gewissem Sinn geradezu sein Gefangener wird? Ist diese Fragestellung bzw. Vermutung nicht ganz abwegig, so könnte man sagen, dass in dieser Gegenüberstellung schließlich zwei einander ergänzende, voneinander abhängige weltanschauliche (philosophisch-ästhetische) Attitüden bzw. Wahlmöglichkeiten in der Kultur der ungarischen Jahrhundertwende erblickt werden können.49 48 Siehe Lukács, Kiknek nem kell és miért, S. 706. 49 Zwischen der als kulturkritisch benennbaren, der ästhetischen Lebensführung scharf entgegenstehenden Attitüde des jungen Lukács und Heideggers Unterscheidung zwischen uneigentlicher und eigentlicher Existenz gibt es Parallelen, mit denen ich mich in einigen früheren Aufsätzen beschäftigt habe (siehe István M. Fehér, Támadás az Abszolútum ellen: Lukács és Heidegger [Angriff auf das Absolute. Lukács und Heidegger], in: Magyar Filo zófiai Szemle XXV (1981), S. 445–450; Heidegger und Lukács. Überlegungen zu L. Goldmanns Untersuchungen aus der Sicht der heutigen Forschung, in: Methoden der Forschung und die Wahrheit des Geschichtlichen. Festschrift für Gyula Munkácsy, in: Doxa XVII (1989), S. 157–188 [überarbeitet und erweitert: Heidegger und Lukács. Überlegungen zu L. Goldmanns Untersuchungen aus der Sicht der heutigen Forschung, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog I (1991), S. 25–38]; Lukács As a Precursor of 20th Century Existentialism, in: Hungarian Studies. A Journal of the International Association of Hungarian Studies XII (1997), S. 73–83). Trotz aller Ähnlichkeiten weicht Heideggers Skizzierung des eigentlichen Daseins gerade an diesem Punkt jedoch grundlegend von der von Lukács ab, worauf ich an mehreren Stellen hinzuweisen versucht habe (siehe István M. Fehér, Heidegger és Lukács. Száz év mérlege [Heidegger und Lukács. Eine Hundertjahresbilanz], in: ders. (Hg.), Utak és tévutak. A budapesti Heidegger-konferencia előadásai, Budapest 1991, S. 73–111, hier S. 104–106; Heidegger und Lukács. Eine Hundertjahresbilanz, in: ders. (Hg.), Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk. Ein deutsch-ungarisches Symposium, Berlin 1991, S. 43–70, hier S. 66f.; „Fakten und Apriori in der neueren Beschäftigung mit Heideggers politischem Engagement“, in: Dietrich Papenfuß/Otto Pöggeler (Hg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Symposium der Alexander von Humboldt-Stiftung vom 24.–28. April 1989 in Bonn–Bad Godesberg, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1991, S. 380–408, hier S. 405–406). Zu dem Fragebereich siehe weiterhin Jan Patočka, Heidegger vom anderen Ufer, in: Vittorio Klostermann (Hg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 394–411, vor allem S. 402,
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Babits beginnt seine Rezension damit, dass er ein unangenehmes Gefühl artikuliert – so habe ich meine kurze Analyse der zwischen den beiden bedeutenden Denkern im Nyugat ausgetragenen Diskussion (oder sozusagen des Ideenaustauschs) eingeleitet; der Verdacht des Esoterismus, der Sektenbildung („Lukács schreibt für seine Freunde“) schien mir den Charakter und Tonfall von Babits’ Rezension grundlegend zu bestimmen. Es war davon die Rede, wie schwierig es ist, solche Wahrnehmungen zu beweisen oder zu widerlegen, ja, überhaupt nur sie genau zu verstehen. Wie immer es sich auch verhält, zum Abschluss verweise ich darauf, dass Lukács’ zwar am Anfang seines Antwortartikels ankündigt: „Ich werde weder über mein Buch noch über Ihre Kritik sprechen“, interessanterweise aber auf den einen Vorwurf eingeht – genauer gesagt: auf ihn zurückkommt. Er tut dies in einem Jahre später verfassten Essay, in der Eröffnungsschrift zu seinem Aufsatzband über Béla Balázs, in dessen Großteil er die von Babits früher dargelegten wo unter anderem nachdrücklich davon die Rede ist, dass das Dasein für Heidegger – abweichend von Lukács’ Auffassung – überhaupt keinen tragischen Charakter hat, der im Tod seine Erfüllung findet. (Es lohnt, diese Bemerkungen auch genauer zu zitieren: „Die Analyse des Seins zum Tode bei Heidegger wird [von Lukács] nur flüchtig berührt, es ist aber offenbar, daß Lukács sie noch immer von seiner ,Metaphysik der Tragödie‘ aus versteht. [...] Es entgeht ihm vollständig, daß das Dasein Heideggers und seine eigentliche Existenz gerade keinen notwendig tragischen Charakter haben, daß sie im faktischen Tode keine unumgängliche Aufgipfelung besitzen, sondern in der Verantwortung und dem verantwortlichen Erschließen der Situation [...]. [...] es sich hier nicht um das Verlassen der Sozialität und der Geschichte handelt, sondern im Gegenteil um eine ursprüngliche Aufgeschlossenheit, Offenheit für sie. So ist Lukács bei seiner Interpretation der Heideggerschen Philosophie zum Opfer seiner eigenen, philosophisch nicht zu Ende gedachten existentialistischen Anfänge geworden. Die Grundabsicht Heideggers, die geschlossene Subjektivität aufzubrechen, wird dadurch aus den Augen verloren.“) – Eine der markantesten Formulierungen dieser Attitüde von Lukács, die sich im Kassner-Essay findet und sich im Hinblick auf Lukács’ weiteren Lebensweg wohl als eine der entscheidendsten erwiesen hat, lautet: „Von den Zufälligkeiten zur Notwendigkeit, das ist der Weg jedes problematischen Menschen; dahin zu gelangen, wo alles notwendig wird, weil alles das Wesen des Menschen ausdrückt, nichts als das und das vollkommen und restlos; wo alles symbolisch wird, wo alles, wie in der Musik, nur das ist, was es bedeutet, und nur das bedeutet, was es ist.“ (Lukács, Die Seele und die Formen, 1911, S. 52). Der Unterschied zwischen uneigentlicher und eigentlicher Existenz ist jedoch für Heidegger keineswegs im Horizont der Dichotomie von Zufälligkeit versus Notwendigkeit zu beschreiben, und aus seiner Perspektive scheint es noch problematischer – geradezu uninterpretierbar –, was denn wohl bezogen auf das menschliche Leben der Begriff der Notwendigkeit bedeuten möge: deren Forderung zieht nämlich das Leugnen der Freiheit des Menschen nach sich. „[D]ahin zu gelangen, wo alles notwendig wird, weil alles das Wesen des Menschen ausdrückt“, das scheint aus Heideggers Perspektive allein schon deswegen unausführbar zu sein, weil der Begriff „das Wesen des Menschen“ für ihn in das Instrumentarium der traditionellen Metaphysik gehört, die einer hermeneutischen Destruktion unterzogen werden sollte.
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Wahrnehmungen sowie seine eigenen früheren Antworten auf diese – ergänzt um neue Aspekte – wieder auf die Waage der Überlegung legt, so dass dieser spätere Essay als eine Fortsetzung, eine weitere Station der Diskussion mit Babits betrachtet werden kann.50 „Jeder, der das Titelblatt dieses Buches missgünstig liest, wird sagen: Schon wieder eine Clique, die sich gegenseitig preist, wieder schreibt ein Freund über einen Freund“ – in dieser Einleitung scheint sich Lukács gegen den früheren Verdacht Babits’ zu wehren, er weist diesen Vorwurf von sich, macht denselben Vorwurf seinerseits der ungarischen Kultur des Jahrhundertendes, einem „sehr erheblichen Teil der ungarischen Moderne“. In welchem Ausmaß auch die sowohl von Babits als auch von Lukács formulierte – unterschiedlich detailliert ausgeführte, in verschiedenen Richtungen, Schattierungen und Betonungen erwähnte – Cliquenbildung vorlag, man kann vorliegenden Aufsatz – zurückkehrend zu seinem Hauptthema – vielleicht damit schließen, dass man sich einen Ausdruck von Lukács leiht, ihn aber diesmal in etwas anderer Bedeutungsrichtung konkretisiert und sagt: Die Zeitschrift Nyugat bot „einem sehr erheblichen Teil der ungarischen Moderne“ für die Austragung, die Artikulation ihrer quälenden und spannenden (ästhetischen, weltanschaulichen, philosophischen) Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze jahrzehntelang ein entscheidendes, maßgebliches Forum. Deutsch von Christina Kunze
50 Siehe Lukács, Kiknek nem kell és miért, S. 695–709. Die Überlegungen, die nicht nur vom Gewicht, sondern auch vom Umfang her überwiegen (S. 699–708), stammen aus der Wiederaufnahme der Diskussion mit Babits’ Ansichten. Die folgenden Zitate siehe ebd. S. 695, 698.
Csaba Olay
Die Kulturtragödie menschlicher Existenz beim jungen Lukács•
„Das Leben ist das Unwirklichste und Unlebendigste alles denkbaren Seins; nur verneinend kann man es beschreiben.“1 Dass es dem jungen Georg Lukács um eine Zeitdiagnose geht, die wesentliche Elemente der Romantik mit existenzphilosophischen Motiven verbindet, ist weder eine neue noch eine überraschende Feststellung. Bis zur sogenannten marxistischen Wende seines Denkens wies Lukács selber oft auf diese Quellen seiner Überlegungen hin, die bekanntlich noch seine mit theoretischen Gründen gewählte Darstellungsform, nämlich den Essay, bestimmt haben. Im Folgenden geht es um diesen zeitdiagnostischen Charakter seines Denkens, und zwar in erster Linie unter dem Aspekt der Frage, ob und wie ein Existenzbegriff sich beim jungen Lukács zumindest ansatzweise umschreiben lässt. Die These, man solle im frühen Lukács den ersten Existentialisten sehen, wurde bereits von Lucien Goldmann formuliert.2 Nicht zuletzt wird diese Fragestellung durch eine mündliche Bemerkung eines Lukács-Schülers, Mihály Vajda, motiviert, der anlässlich seiner Antrittsrede in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sinngemäß sagte: „Für den jungen Lukács ging es allein und manisch um den Unterschied zwischen authentischem und inauthentischem Leben“. Dass es dem frühen Lukács zumindest auch darum geht, lässt sich kaum bezweifeln; interessant bleibt jedoch die deskriptive Einlösbarkeit dieser Erörterungen von Lukács, auf die es im Folgenden ankommt.3 Dementsprechend wird im vorliegenden Aufsatz das wichtige Werk Die Seele und die Formen von 1911 im Zentrum der Aufmerksamkeit ste Vorliegender Aufsatz wurde in der MTA-ELTE Forschungsgruppe Hermeneutik ausgearbeitet und von einem Bolyai Forschungsstipendium der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie vom Projekt 81576 des ungarischen Wissenschaftlichen Landesforschungsfonds (OTKA) gefördert. 1 Georg Lukács, Die Seele und die Formen. Essays, Berlin 1911, S. 329. 2 Mit Blick auf Heidegger hat István M. Fehér einige Schwierigkeiten dieser Prioritätsthese ausgearbeitet (István M. Fehér, Lukács und Heidegger. Überlegungen zu L. Goldmanns Untersuchungen aus der Sicht der heutigen Forschung, in: DOXA. Philosophische Studien 17 (1989), S. 157–188). 3 Die Fragestellung vorliegender Arbeit fügt sich in ein geplantes Buch, das unter dem Titel Neoexistentialismus um eine Erneuerung existentialistischer Ansätze bestrebt ist und in diesem Rahmen auch das Frühwerk von Georg Lukács behandelt. •
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hen, wozu auch die etwas späteren Heidelberger Parallelwerke, u. a. die Theorie des Romans, herangezogen werden. In diesem Kontext wird auch auf die von Georg Simmel ausgearbeitete „Tragödie der Kultur“ wie auf weitere bestimmende Motive eingegangen. Abschließend soll kurz die Überführung und die gleichzeitige marxistische Umrahmung der Strukturprobleme der Existenz unter Bedingungen des Spätkapitalismus in die Verdinglichungstheorie von Geschichte und Klassenbewußtsein angedeutet werden. Im Zusammenhang damit soll auch deutlich gemacht werden, dass die Frage nach dem Existenzverständnis des frühen Lukács durch seine marxistische Wende nicht ungültig gemacht wird. Die eigentümlichen Schwierigkeiten der Deutung des Frühwerks wurden in der Literatur mehrmals angesprochen. So weist etwa Konstantinos Kavoulakos darauf hin, dass Lukács’ plötzliche Wende zum Marxismus die Bedeutung seiner früheren Texte entweder verkennen oder „als unreife Vorstufe seiner späteren, revolutionär-marxistischen Wendung“ einschätzen ließ: „Hier wurzelt die Unzulänglichkeit eines großen Teils der vorhandenen Sekundärliteratur zum Lukácsschen Frühwerk, die meistens daran scheitert, seinem eigenständigen Stellenwert gerecht zu werden.“4 Die folgenden Überlegungen unterlaufen diese Gefahr bereits im Ansatz, da der diagnostische Gehalt dieser Beschreibung menschlicher Existenz im Spätkapitalismus auch für die marxistische Phase, für den Gedanken der Verdinglichung dieses menschlichen Lebens, in der Essaysammlung Geschichte und Klassenbewußtsein deskriptive Grundlage bleibt. Der entscheidende Unterschied zwischen der vormarxistischen und marxistischen Phase lässt sich in der Abkehr von der Kunst festlegen, die ihrerseits in der für uns hier interessanten Phase das Andere des Lebens bildet. Noch zugespitzter formuliert, während früher Lukács zumindest ansatzweise von der Kunst Erlösung oder deren Ersatz erwartet, wird dies später auf die marxistischleninistisch konzipierte Revolution übertragen. Allerdings wird damit die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität mit Blick auf die marxistische Wende im Denken von Lukács bei weitem nicht erschöpfend behandelt.5 Was die allgemeine Struktur des Frühwerks von Lukács betrifft, man hat mehrfach von einem Doppelcharakter des Frühwerks gesprochen. Die existentialistische Fragestellung im Frühwerk steht nicht allein im Schaffen des ungarischen Philosophen. Man darf ja nicht vergessen, dass die hier in Frage stehenden Werke sich nicht ausschließlich einer solchen Fragestellung zuordnen lassen. Das gilt allen voran für die „literatursoziologischen“ Arbeiten, also etwa für die Entwick4 Konstantinos Kavoulakos, Kritik der modernen Kultur und tragische Weltanschauung. Zu Georg Lukács’ Die Seele und die Formen, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 8 (2014), S. 121–136, hier S. 121. 5 Siehe dazu György Márkus, Die Seele und das Leben. Der junge Lukács und das Problem der „Kultur“, in: Ágnes Heller/Ferenc Fehér/György Márkus/Sándor Radnóti, Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács, Frankfurt a. M. 1977, S. 99–130, hier S. 99–102.
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lungsgeschichte des modernen Dramas, für die Heidelberger Ästhetik und Die Theorie des Romans. Selbst wenn diese Arbeiten ohne Feststellungen über die menschliche Existenz im Spätkapitalismus unmöglich wären, versuchen sie nicht, die menschliche Existenz, wie sie dem Existierenden sich darbietet, zu beschreiben, sondern gehen darauf eher aus einer soziologisierenden Außenperspektive ein. Eine solche Charakterisierung im Sinne soziologischer Beschreibung entspricht auch der späteren Selbstdeutung von Lukács: Die „Philosophie des Geldes“ von Simmel und die Protestantismusschriften von Max Weber waren meine Vorbilder zu einer „Literatursoziologie“, in der die notwendigerweise verdünnten und abgeblaßten Elemente aus Marx zwar noch vorhanden, aber kaum erkennbar waren. Ich löste nach Simmels Vorbild die „Soziologie“ einerseits von der sehr abstrakt aufgefaßten ökonomischen Grundlage möglichst los, andererseits erblickte ich in der „soziologischen“ Analyse nur ein Vorstadium der eigentlichen wissenschaftlichen Untersuchung der Ästhetik.6
Wie auch immer man den genaueren Sinn dieser Soziologisierung fassen will, steht sie sicherlich dem Standpunkt des gesellschaftlichen Individuums, d. h. auch dem der Existenz, gegenüber. Es bleibt also festzustellen, dass diese kultursoziologischen Werke in einem rein äußerlichen Verhältnis zu den existentialistischen Frühschriften stehen. Zu Recht bemerkt Kristóf Nyíri, dass die Existenzbeschreibung der Essays sich kaum mit dem kultursoziologischen Blick vereinbaren lässt: während die Erstere das menschliche Leben in der Unmenschlichkeit des Spätkapitalismus sozusagen von innen her thematisiert, befassen sich die Letzteren von außen her mit den Perspektiven der Schriftsteller und Künstler, mit ihrem Sitz im Leben als einem ihr Schaffen determinierenden Faktor.7 Die Schwierigkeit, hier klare Verhältnisse zu schaffen, besteht zum Teil darin, dass der Einfluss von Max Weber in diesen soziologisierenden Werken viel deutlicher sichtbar ist. Die erwähnte Spannung im Frühwerk von Lukács bedeutet mit Blick auf die Frage seiner Existenzauffassung, dass in diesem Zusammenhang vor allem die existentialistisch motivierten Essays von Belang sind. Die Zeitdiagnose von Lukács stellt die Verzerrung des lebendigen Menschseins unter Bedingungen der modernen Kulturwelt mit besonderer Rücksicht auf die Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis und Selbstartikulation fest, die insbesondere im Anschluss an Simmels 6 Georg Lukács, Mein Weg zu Marx, in: Internationale Literatur 3 (1933), S. 185–187. 7 Vgl. über die Wirkung dieser Schriften und insbesondere die des Dramabuches auf Peter Szondi den Aufsatz von Denis Thouard, Suite hongroise. Szondi après Lukács, Revue Germanique Internationale 17 (2013), L’herméneutique littéraire et son histoire. Peter Szondi, S. 45–66.
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Gedanken der Tragödie der Kultur entwickelt wird. Der Gedanke des problematischen Lebens ist mit der Artikulationsmöglichkeit des Essays verknüpft, der auf diese Weise ein methodologisches Gewicht zukommt: die Aporien der Selbstartikulation des Lebens sollen durch die Essayform zugänglich gemacht werden. Da es in unserem Zusammenhang eher auf die Frage nach dem lukácsschen Existenzkonzept als auf die nach der Darstellungsform ankommt, wird auf die methodologische Bedeutung des Essays nur insofern eingegangen, als sie für das Existenzverständnis relevant ist. Für Lukács steht im Mittelpunkt der Erörterung des Essays die negative Beobachtung – wie sie seit der Romantik ansatzweise gemacht wird –, das Leben lasse sich mit den Mitteln der Naturwissenschaften nur unvollständig beschreiben. Ist dem so, dann spitzt sich die Frage des Zugangs und auch die der möglichen Darstellungsform menschlichen Lebens zu. Von dieser Spannung zeugt auf ihre Weise exemplarisch die nur etwas spätere Philosophie Karl Jaspers’, der im Transzendieren eine der Philosophie eigentümliche Verfahrensweise etablieren möchte.8 Gleichzeitig bedeutet die methodologische Stellungnahme für den Essay nicht nur eine Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, sondern auch einen bewussten Verzicht auf ein systematisches philosophisches Verfahren in weitem Sinne. Georg Lukács ist überzeugt, dass die Philosophie, zumindest eine von dem Systembegriff her verstandene Philosophie, zum Problem des Lebens und der Existenz nichts beitragen kann: Es gibt für das Leben kein System. Nur das Einzelne existiert im Leben, nur das Konkrete. Existieren heißt soviel wie Unterschiedensein. Und das Absolute, das Übergangslose, das Eindeutige ist nur: das Konkrete, die einzelne Erscheinung. Die Wahrheit ist nur subjektiv – vielleicht; aber ganz gewiß ist die Subjektivität die Wahrheit; das einzelne Ding ist das einzig Seiende; der Einzelne ist der wirkliche Mensch.9
Die Essayform bedeutet bereits für sich genommen etwas Fragmentarisches; hinzu kommt, dass die Essays verschiedene Standpunkte artikulieren, die in ihrer Verschiedenheit nicht als ein theoretisches Ganzes begriffen werden können. Die spezifischen Artikulationsmöglichkeiten des Essays entwickelt Lukács in dem methodologischen Schlüsseltext „Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper“, wo die theoretischen Grundlagen seiner Essayistik entfaltet werden, 8 Siehe dazu umfassend Csaba Olay, Der Begriff der Existenz bei Jaspers und Sartre, in: Anton Hügli/Manuela Hackel (Hg.), Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre im Dialog. Ihre Sicht auf Existenz, Freiheit und Verantwortung, Frankfurt a. M. 2015, S. 75–94. 9 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 70f. Die mit der Essayform leicht einhergehende Uneindeutigkeit der philosophischen Begriffe wurde von Lesern wie unter anderen von Weber, Jaspers und Bloch sofort bemerkt.
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wenn auch nicht mit der Ausführlichkeit, mit der der in der zitierten Passage beschworene Kierkegaard seine „indirekte Mitteilung“ erörterte. Gleichwohl bemerkt Ottó Hévizi zu Recht, die Bezeichnung „Essayphase“ sei für diese Periode von Lukács’ Denken am Anfang der 10er Jahre irreführend, weil sie die ursprüngliche Komplexität seines Ansatzes verdeckt und den „persönlichen Charakter“ dieser Phase von der „Objektivität“ des später entwickelten philosophischen Systems trennt.10 Der Essay hat also die Funktion, das menschliche Leben zu artikulieren, und zwar in einer Weise, die Lukács zufolge weder in der Wissenschaft noch in der Kunst möglich ist. Die Leistung der Wissenschaft bzw. der Kunst sieht er darin, dass Erstere Inhalte, Letztere hingegen Formen bietet: „[D]ie Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale.“11 Das, was durch den Essay artikuliert werden soll, besteht für Lukács in einer Spannung, die mit der Struktur des Lebens gegeben ist. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene, aber letztlich zusammengehörende Aspekte desselben Lebens, und zwar einerseits als ein chaotisches Geschehen und andererseits als ein Wille zur Ordnung: „Seitdem es ein Leben gibt und die Menschen das Leben begreifen und ordnen wollen, gab es immer diese Zweiheit in ihren Erlebnissen.“12 Gleichwohl kann der Essay das menschliche Leben nicht hinreichend in seinen jeweiligen Aspekten artikulieren; es handelt sich eher um eine Dimension, die eine Möglichkeit des Ausdrucks fordert und anderswie nicht zur Sprache kommen kann: Es gibt also Erlebnisse, die von keiner Gebärde ausgedrückt werden könnten und die sich dennoch nach einem Ausdruck sehnen. […] Die Intellektualität, die Begrifflichkeit ist es, als sentimentales Erlebnis, als unmittelbare Wirklichkeit, als spontanes Daseinsprinzip; die Weltanschauung in ihrer unverhüllten Reinheit als seelisches Ereignis, als motorische Kraft des Lebens. Die unmittelbar gestellte Frage: was ist das Leben, der Mensch und das Schicksal?13
Dem eigentümlichen Inhalt des Essays entspricht die für diese Ausdrucksform charakteristische Brechung und Vermittlung über ein Thema. Der Essayist – oder der Kritiker – spricht „immer von den letzten Fragen des Lebens […], aber doch 10 Ottó Hévízi, Az identifikáció kísérletei [Versuche der Identifizierung], in: ders., Alaptalanul [Grundlos], Budapest 1994, S. 122. 11 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 7. 12 Ebd., S. 10. Vgl. auch: „Es gibt also zwei Typen seelischer Wirklichkeiten: das Leben ist der eine und das Leben der andere; beide sind gleich wirklich, sie können aber nie gleichzeitig wirklich sein. In jedem Erlebnis eines jeden Menschen sind beider Elemente enthalten, wenn auch in immer verschiedener Stärke und Tiefe“ (Ebd.). 13 Ebd., S. 15.
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immer in dem Ton, als ob nur von Bildern und Büchern, nur von den wesenlosen und hübschen Ornamenten des großen Lebens die Rede wäre; und auch hier nicht vom Innersten des Innern, sondern bloß von einer schönen und nutzlosen Oberfläche.“14 Die Artikulationsmöglichkeiten, die durch den Essay eröffnet werden, erlauben es Lukács, den Essayisten als Figur des Fragmentarischen zu bezeichnen: Der Essayist wird für Lukács „der reine Typus des Vorläufers“, der auf „sein Fragmentarisches“ nur bis zu dem Augenblick stolz sein darf, in dem die „große Ästhetik“ gekommen ist. „Dann ist jede seiner Gestaltungen nur eine Anwendung des endlich unabweisbar gewordenen Maßstabes; er selbst ist dann etwas bloß Vorläufiges und Gelegentliches, seine Resultate sind schon vor der Möglichkeit eines Systems nicht mehr rein aus sich zu rechtfertigen.“15 Auf den ersten Blick scheint diese Überlegung die Errungenschaften des Essays einzuschränken, indem sie als wesentlich nur vorläufig dargestellt werden, und zwar retrospektiv aus der Perspektive eines antizipierten künftigen Systems der Ästhetik. Beim genaueren Hinsehen gilt jedoch diese Einschränkung nicht der Beschreibungs- und Erschließungskraft des Essays, sondern seinem systematischen Wert, dessen Probleme im vorliegenden Zusammenhang nicht näher erörtert zu werden brauchen.16 Festzustellen bleibt, dass die Essayform aufgrund inhaltlicher Überlegungen auf den problematischen Charakter menschlicher Existenz und der für Lukács zeitgenössischen Welt hinweist, die er im Frühwerk etwas später mit Fichtes Formel als „die Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“ charakterisiert.17 Um diese Beobachtung verfolgen zu können, müssen die im Titel der Essaysammlung angesprochenen beiden Pole des ihm zufolge unlösbar konfliktträchtigen Spannungsverhältnisses von „Seele“ und „Formen“ näher erläutert werden. Menschliche Existenz wird von Lukács strukturell mit dem Begriff „Seele“ charakterisiert, wobei der Begriff auf uneindeutige Weise auf mehrere Traditionen hinweist. György Márkus stellt „Leben“ und „Seele“ als einen zugespitzten Dualismus von inauthentischem und authentischem Sein gegenüber und sieht darin „das vielleicht kennzeichnendste Moment in der Philosophie des jungen Lukács“.18 Zu die14 Ebd., S. 20. 15 Ebd., S. 36f. 16 Gleichwohl sollte auf die Bemerkung von Béla Bacsó zumindest hingewiesen werden, dass das Fragmentarische auch in erkenntniskritischem Sinne ein „Denken in Brüchen“ fördern kann (Béla Bacsó, Az elmélet elmélete [Die Theorie der Theorie], Budapest 2009). 17 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 157. 18 György Márkus, Die Seele und das Leben. Der junge Lukács und das Problem der „Kultur“, in: Heller/Fehér/Márkus/Radnóti, Die Seele und das Leben, Budapest 1977, S. 99–130, hier S. 107.
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sem Zweck muss er aber so viele Bedeutungsaspekte beider Begriffe in Betracht ziehen, dass die dualistische Unterscheidung ihre Trennschärfe verliert. Mit Blick auf den Gegensatz von Seele und Form lassen sich Stellen bei dem jungen Lukács finden, die einen Vorrang der Seele, d. h. der menschlichen Lebendigkeit, nahelegen: „Wir müssen immer wieder betonen, daß das einzig Essentielle doch nur wir sind, unsere Seele, und selbst deren ewig-apriorischen Objektivationen sind (nach einem schönen Bilde Ernst Blochs) auch nur Papiergeld, dessen Wert von der Einlösbarkeit in Gold abhängt.“19 Die emphatischen Worte beantworten nicht von selbst die Frage, wie diese Einlösbarkeit genauer zu denken ist. Sicherlich bleibt etwas verschwommen, was die Seele im Kontext der Essays genauer bedeutet, trotzdem steht sie unbestreitbar für das menschliche Leben in seiner Individualität, und zwar in einem energischen Gegensatz zum Psychologismus jeder Art.20 Eine wesentliche Voraussetzung ist dabei für Lukács die grundsätzliche Verschiedenheit von Leben und Kunst, wobei das Unterscheidungsmerkmal im chaotischen Charakter des Lebens liegt, der der Geformtheit der Kunst diametral entgegengesetzt ist: Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: nichts erfüllt sich in ihm ganz und nie kommt etwas zu Ende; immer mischen sich neue Stimmen, verwirrende, in den Chor jener, die schon früher klangen. Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; alles wird zerstört und alles zerschlagen, nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben. Leben: das ist, etwas ausleben können. Das Leben: nie wird etwas ganz und vollkommen ausgelebt. Das Leben ist das Unwirklichste und Unlebendigste alles
19 Zitiert nach Kristóf Nyíri, Einleitung, in: Georg Lukács, Dostojewski: Notizen und Entwürfe, Budapest 1985, S. 8. 20 Ágnes Heller unterstreicht energisch den Gesichtspunkt, der für Lukács in der Ablehnung der Psychologie leitend war: „Lukács verachtete die Psychologie als erklärendes Prinzip; die psychologische Analyse ist die Analyse der Motive, die Analyse der Stimmungen. Und die Motive und Stimmungen sind ephemer, sie ändern sich von einem Augenblick zum andern; in der Zerlegung der Motive, der Stimmungen gelangen wir nie zum Letztlichen, zum wahrhaft Wesentlichen, zum Unbedingten. […] Nach der Vorgeschichte [der ‚Seele‘ – Cs. O.] zu forschen, würde wiederum bedeuten, daß man sich im Chaos der Eventualitäten verirrt. Die ‚Vorgeschichte‘ zieht im Verhältnis zur ‚Seele‘ äußerlich Faktoren in die Analyse mit hinein. Und die äußerlichen Faktoren sind zufällige Faktoren, und in der Unendlichkeit der zufälligen Faktoren treffen wir eine willkürliche Wahl, und es rutscht uns wieder das aus den Händen, was wir ergreifen wollen, was wir in seiner Unbedingtheit, in seinem ‚Geradesosein‘, in seiner ‚Einzigkeit‘ kennen lernen und verstehen wollen: die reine Persönlichkeit, das ‚intelligibile Ich‘.“ (Ágnes Heller, Das Zerschellen des Lebens an der Form: György Lukács und Irma Seidler, in: Heller/Fehér/Márkus/Radnóti, Die Seele und das Leben, Budapest 1977, S. 4–98, hier S. 78).
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denkbaren Seins; nur verneinend kann man es beschreiben; […] Das wahre Leben ist immer unwirklich, ja immer unmöglich für die Empirie des Lebens.21
Trotz der eindrucksvollen Passage ist die Frage nicht trivial, ob die Unheilbarkeit universell als conditio humana oder als Folge einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, d. h. der bürgerlichen Welt, ist, wie dies bereits von György Márkus hellsichtig beobachtet wurde.22 Ohne den schillernden Formbegriff näher klären zu können, kann man hier auf den Aspekt der Gegenüberstellung mit dem Leben abheben. Lukács beschreibt das menschliche Leben als einen Mangel an Form, dessen Defizienz sich auf dem Wege der Kontrastierung mit der Kunst sichtbar machen lässt.23 Gleichzeitig bestreitet er, dass die Gestaltung des Lebens den Vorgaben der Kunst gerecht werden kann: Ich kann diese Unklarheit und Unredlichkeit des gewöhnlichen Lebens, das alles auf einmal haben will und auch haben kann, weil es nichts Wirkliches will und nichts wirklich will, nicht mehr ertragen. Alles Klare ist unmenschlich, denn die sogenannte Menschlichkeit besteht in einem fortdauernden Verwischen und Verwirren der Grenzen und der Gebiete. Das lebendige Leben ist formlos, weil es jenseits der Formen liegt, dieses aber, weil in ihm keine Form zur Klarheit und zur Reinheit kommen kann. Doch alles Klare kann nur dadurch entstehen, daß es aus dem Chaos herausgehoben wird, daß alles, was es mit der Erde verbunden hat, zerschnitten wird.24
Lukács konzipiert also die Form – selbst wenn der Ausdruck mehrdeutig ist – unter der Voraussetzung einer strikten Lebenstranszendenz: „Die Ethik oder – da wir 21 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 219. Lukács spricht dem gewöhnlichen Leben jede Struktur so radikal ab, dass er sogar einen Dissonanzcharakter leugnet: „Man überschätzt es, wenn man von einer Dissonanz spricht. Dissonanz ist nur in einem System der Töne, also in einer bereits einheitlichen Welt möglich: Störung und Hemmung und Chaos sind nicht einmal dissonant.“ (Georg Lukács, Von der Armut am Geiste, Neue Blätter II (1912), S. 86). 22 „[D]iese Diagnose [geht] während dieser ganzen Schaffensperiode mit einer andauernden Parallelität der metaphysisch-existenziellen und historischer Analyse einher. […] Hinter dem in den Jugendjahren nie gelösten Problem der methodologischen ‚Parallelität‘ liegt nämlich ein tieferes, weltanschauliches Dilemma […]. Diese Frage ist, ob der Zustand der Zeit Ausdruck der existenzial-ontologischen Tragödie der Kultur oder ihrer historischen und somit überholbaren Krise ist.“ (Márkus, Die Seele und das Leben, S. 104). 23 Bei Judith Butler heißt es dazu: „The task of form, of literary form, but also of „form“ in some loosely Platonic sense, is to rationalize the accidental in every life. Forms do not exist unless men make them, and those who do make these extraordinarily capacious forms find that every aspect of life, however accidental, becomes necessary and essential.“ (Soul and Forms, 8). 24 Georg Lukács, Von der Armut am Geiste, S. 83.
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jetzt von Kunst sprechen – die Form, ist jedem Augenblicke und jeder Stimmung gegenüber ein Ideal außerhalb des Ichs“.25 Der chaotische Charakter der menschlichen Existenz wird von Lukács nicht eigens begründet, sondern eher thetisch behauptet, was er allein durch die Gegenüberstellung mit der Kunst hinreichend deutlich gemacht zu haben glaubt. Dasselbe gilt von der Unwirklichkeit des „gewöhnlichen Lebens“, das gegenüber der Möglichkeit authentischer Augenblicke beschrieben wird. „Das Wesen dieser großen Augenblicke des Lebens ist das reine Erlebnis der Selbstheit. Im gewöhnlichen Leben erleben wir uns nur peripherisch: unsere Motive und unsere Beziehungen. Keine wirkliche Notwendigkeit hat hier unser Leben, nur die des empirisch Vorhandenseins“.26 In diesem Konzept erscheint die Welt als ein feindliches Äußeres, der Künstler als problematisches Individuum, und die Kunst dient als orientierender Faktor des Lebens. Einen Aspekt des problematischen Verhältnisses menschlicher Existenz zur bürgerlichen Welt gewinnt Lukács sicherlich durch Simmels Gedanken der Tragödie der Kultur. Dieser Aspekt bezieht sich auf ein integrales Moment des „Lebens“, wie Lukács es versteht, und zwar im Sinne der „Welt der mechanischen, um uns unbekümmerten Kräfte“, also im Sinne der Welt erstarrter, den Menschen fremd gewordener Gebilde, Institutionen und Konventionen.27 Dabei begreift Lukács diese Gebilde, die ursprünglich von der Seele erschaffen wurden, als nur mehr bloß äußerlich daseiende Notwendigkeit, als „zweite Natur“, die „wie die erste nur als der Inbegriff von erkannten, sinnesfremden Notwendigkeiten“ anzusehen ist. Diese Welt „ist ein erstarrter, fremdgewordener, die Innerlichkeit nicht mehr erweckender Sinneskomplex; sie ist eine Schädelstätte vermoderter Innerlichkeiten“.28 Um Lukács’ Anschluss an Georg Simmel anzudeuten, könnte man von einer „Tragödie der Seele“ sprechen. Simmel entwickelt in seinem Aufsatz „Die Tragödie der Kultur“ eine Diagnose der Kultur in der modernen Zeit, die grundsätzlich als ein Entfremdungsprozess beschrieben werden kann, in dem die Kultur als ein Konflikt zwischen der Seele und den ursprünglich von ihr selbst geschaffenen Gebilden und Produkten des objektiven Geistes erscheint: „Der Geist zeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ab25 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 318. Sándor Radnóti stellt diesem Konzept die Position von Ernst Bloch gegenüber (Radnóti, Bloch und Lukács: zwei radikale Kritiker in der „gottverlassenen Welt“, in: Heller/Fehér/Márkus/Radnóti, Die Seele und das Leben, Budapest 1977, S. 177–193, hier S. 187). 26 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 336f. 27 Lukács, Von der Armut am Geiste, S. 73. 28 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 53 und S. 55.
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lehnt.“29 Tragischen Charakter erhält der Konflikt nun dadurch, dass die objektiven Produkte der Seele sich immer mehr zu einem geschlossenen Zusammenhang verschließen und eine eigenständige Sphäre mit eigentümlicher Logik bilden. Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen.30
Eine Tragödie wird aus diesem Gegensatz dadurch, dass die objektiven Produkte sich immer mehr zu einem selbständigen Zusammenhang mit eigener Logik und Entwicklung abkapseln. Für die allgemeine Entwicklung der Moderne ist charakteristisch, dass sich einzelne Bereiche der Gesellschaft, die Kultur mit inbegriffen, voneinander isolieren. Die Kultur befindet sich damit in der allgemeinen Tendenz der Moderne, wo einzelne Gesellschaftsgebiete sich in Folge der fortschreitenden Arbeitsteilung isolieren und zu Subsystemen werden, die eigenen Gesetzen gehorchen. Im Anschluss an Marx spricht Simmel von einer Fetischisierung der Kulturprodukte, die zu einer Entfremdung der Seele von ihren eigenen Produkten führe. Die so gedeutete Kultur, die dem Subjekt ermöglichen sollte, über die objektiven Gebilde zu sich selbst zu kommen, verlaufe sich „in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben“.31 Für die von Hegel und Marx vertretene Traditionslinie, an die auch Simmel anknüpft, ist es, wie Günter Figal treffend bemerkt, charakteristisch, dass das Entgegenstehen der Dinge als die Vergegenständlichung des eigenen Lebens erscheint: „[S]ie gilt als die Folge eines Erkennens, das alles Leben vergegenständlichend in den Zusammenhang der Welt einordnet und so zum Selbstverlust führt.“32 Simmel formuliert sehr plastisch, so Figal, wie sich die Verselbstständigung der Dinge auf ein Leben auswirkt, das als Selbstverwirklichung vollzogen wird. Das Leben, das sich wesentlich „objektivieren“ muss und dem in der Einrichtung von Institutionen, in der Erstellung von Bauten und in der Herstellung von Werken nachkommt, sehe sich, wie Simmel betont, immer wieder mit der „eigentümlichen Selbständigkeit“, mit der „Eigenentwicklung“ seiner Produkte konfrontiert. Das gehöre zum Wesen 29 Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Philosophische Kultur, Frankfurt a. M. 2008, S. 199. 30 Ebd., S. 217. 31 Ebd. Vgl. zum Fragekomplex die instruktive Arbeit von Denis Thouard, Objectivation ou aliénation. Retour sur Cassirer, Simmel et la „tragédie de la culture“, Revue Germanique Internationale 15, Ernst Cassirer, 2012, S. 115–128. 32 Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, S. 127.
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der Herstellung, denn nie sei das Hergestellte allein durch die Absichten des Herstellenden bestimmt. Der Versuch, das menschliche Leben als Kultur zu verwirklichen, führt deshalb auch nie zu einer vollständigen Wirklichkeit menschlichen Lebens. Das lässt die Kultur zur „Tragödie“ werden, zur unvermeidlichen Verfehlung, bei der die gegen das Wesen der Kultur „gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen“. Gerade im Versuch, seine eigene Wirklichkeit zu gewinnen, wird sich das menschliche Leben fremd.33 Die Essaysammlung Die Seele und die Formen knüpft an Simmels Bestreben an, indem sie einen Ausweg aus dem diagnostizierten gespaltenen Zustand der vereinzelten und vereinsamten Kultur in Richtung einer neuen Totalität sucht.34 Maßgebend ist in dieser Hinsicht die an manchen Stellen formulierte Hauptthese, der zufolge das bürgerliche Leben und die gesellschaftliche Welt auf unheilbare Weise gespalten sind, woraus die inhaltliche Überzeugung von Georg Lukács kommt, dass das menschliche Leben unvermeidlich in einer eigentümlichen Uneindeutigkeit und Verworrenheit verstrickt ist. Dabei ist eine emphatische Vorstellung der „wirklichen Kultur“ als Maßstab der Kritik zugrunde gelegt. Lukács’ Beschreibung der „wirklichen Kultur“ erfolgt jedoch auf eigentümlich abstrakte Weise und fußt offenbar auf idealisierenden Voraussetzungen. Die wirkliche Kultur, wie sie hier verstanden wird, ist eine vollkommene kulturelle Vereinheitlichung der „Lebensäußerungen“, in der ein Grundprinzip das Leben in seinen einzelnen Aspekten bestimmt und auch seine einzelnen Momente durchdringt.35 Auf diese Weise wird „alles symbolisch“ im Sinne des Ausdrucks derselben zugrunde liegenden Weltanschauung, der spontanen „Art des Reagierens auf das Leben“.36 Dieses Verständnis der Kultur hat Lukács am Modell der griechischen Polis entwickelt, in der seiner Überzeugung nach die Kultur tatsächlich eine alles durchdringende Wirklichkeit wurde, welche derart auch eine wirkliche Gemeinschaft bilden konnte.37 Den Ge33 Ebd., S. 128. 34 Das Verhältnis von Lukács zu Simmel wird ausführlich erörtert in der Monographie von Ute Luckhardt („Aus dem Tempel der Sehnsucht“. Georg Simmel und Georg Lukács: Wege in und aus der Moderne, Butzbach 1994). 35 „Dieser ‚Monotheismus‘ der Antike, diese das Alltagsleben und Lebensanschauung der Menschen mit natürlichster Selbstverständlichkeit durchdringende und organisierende Kraft der ‚Kultur‘ macht die Welt, in dem es lebt, zur Heimat des Individuums, indem sie ihren einzelnen Erscheinungen und ihrer ganzen Einrichtung einen klaren, einheitlichen und überblickbaren Sinn und Wert verleiht.“ (Márkus, Die Seele und das Leben, S. 119). 36 Georg Lukács, Ästhetische Kultur, in: Frank Benseler/Werner Jung (Hg.), Lukács 1996. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, Bern 1997, S. 13–26, hier S. 17. 37 Ferenc Fehér hebt als Hintergrund von Lukács’ Diagnose den einschlägigen „Kontrast Tönnies’ zwischen den Welten der „mechanistischen Gesellschaft“ und der „lebendigen Gemeinschaft“ hervor, der auf der Annahme der marxschen Theorie vom Warenfetischismus fußt“ (Fehér, Die Geschichtsphilosophie des Dramas, die Metaphysik der Tragödie und die Utopie
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gensatz zu der so gedeuteten wirklichen Kultur bildet die „ästhetische Kultur“, die ohne eine tiefere, zugrunde liegende Einheit die Kulturprodukte nur als zufällige, zusammenhanglose Momente zulässt. Ferner lässt Lukács keinen Zweifel daran, dass in der bürgerlichen Welt, wenn überhaupt, nur eine ästhetische Kultur möglich ist.38 Durch diese Eigentümlichkeiten erklärt sich die Zentralstellung der Analyse der Kultur für den jungen Lukács, die in der Sekundärliteratur oft beobachtet wurde, da die Analyse der Kunst, Literatur und Kultur aufgrund der Annahmen von Lukács über die gesamtgesellschaftliche Lage Auskunft gibt.39 Um diese grundsätzliche Erfahrung der Mangelhaftigkeit zu verdeutlichen, kann man ergänzend auf Lukács’ intimes Verhältnis zur romantischen Tradition hinweisen. Der Essay über Novalis mit dem Titel „Zur romantischen Lebensphilosophie: Novalis“ beruft sich auf den großen Romantiker: „,Wir sind gar nicht Ich,‘ schrieb Novalis. ‚Wir können und sollen aber Ich werden, wir sind Keime zum Ich-werden.‘ Und der Dichter ist der einzige den Normen entsprechende Mensch, nur er hat wirklich die große Möglichkeit zum Ich-Werden.“40 Diese Sehnsucht nach dem Ich-Werden bezieht sich auf die große Synthese von Einheit und Universalität und dient der Verwirklichung des Programms der Universalpoiesis. Lukács, ein Spätling im Vergleich zur Romantik, der die eigene Zeit für Barbarei hält, kann aber nicht mehr von der Undurchführbarkeit des romantischen Programms absehen. In den Strategien der Romantik findet er einen Punkt problematisch, der bereits für Kierkegaards Kritik der Romantik eine Rolle spielt: Es geht um den immanenten Verlust der Welt, durch den eine „tragische romantische Blindheit“ zustande kommt.
des untragischen Dramas. Scheidewege des jungen Lukács, in: Heller/Fehér/Márkus/Radnóti, Die Seele und das Leben, Budapest 1977, S. 7–53, hier S. 13. Siehe zum Problemkomplex auch den Aufsatz von Joachim Fischer: Lukács oder Plessner. Alternativen der Sozialphilosophie im 20. Jahrhundert, Zeitschrift für Ideengeschichte. Komissar Lukács, Heft VIII/4 Winter 2014, S. 59–70. 38 Fehér, Geschichtsphilosophie des Dramas, S. 13. 39 Dazu heißt es bei György Márkus: „Die Kultur war der ‚einzige‘ Gedanke von Lukács’ Leben. Ist Kultur heute möglich? Diese Frage zu beantworten und gleichzeitig durch die eigene Tätigkeit zur Schaffung oder Realisierung dieser Möglichkeit beizutragen, ist sein ganzes Leben lang ein zentrales Anliegen“ (Márkus, Die Seele und das Leben, S. 102). Und Werner Jung schreibt dazu: „Es geht dem jungen Lukács immer um eine neue Kultur, die er über den Umweg einer Metaphysik zu begründen versucht. Kunst und insbesondere Literatur erhalten eine doppelte Bestimmung: Sie sind – in Fortsetzung von Überlegungen des Deutschen Idealismus – Erkenntnismedium und zugleich das Organon dieser Metaphysik. Sie reflektieren den Zustand der Entfremdung des modernen bürgerlichen Menschen“ ( Jung, Von der Utopie, S. 14). 40 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 105.
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Weil sie den erträumten und selbsterschaffenen Kosmos der wirklichen Welt gleichsetzten, konnten sie nirgends zu einer klaren Scheidung kommen; vermochten sie zu glauben, daß ohne Verzicht ein Handeln und in der Wirklichkeit ein Dichten möglich sei. Aber jedes Handeln, jede Tat und jedes Schaffen begrenzt; eine Tat wird nie ohne Verzichtleisten vollbracht und nie wird ihr Vollbringer eine Allseitigkeit haben. Die tragische Blindheit der Romantiker war, daß sie diese Notwendigkeit klar erblicken weder konnten noch wollten.41
Resümierend kann man feststellen, dass Lukács den Alltag und die gewöhnliche menschliche Existenz für strukturell inauthentisch hält; authentisches Sein ergibt sich nur außerhalb des Alltäglichen und d. h. mit dem Ende des Alltäglichen, mit dem Tod des Einzelnen. Aus der Epoche der vollendeten Sündenhaftigkeit kann nur der Einzelne heraustreten, indem er aus dem gewöhnlichen Leben selbst heraustritt, also nicht lebt, sondern bis zum Ende lebt – „ihre Ethik [muss] ein Bis-inden-Tod-Treiben alles Begonnenen als kategorischen Imperativ aufstellen“.42 Diese Überlegung gibt dem Gedanken des Tragischen seinen Stellenwert in Lukács’ Erörterung. Ohne darauf näher eingehen zu können, sollte darauf hingewiesen werden, dass eine andere Beschreibung des authentischen Menschseins, die Daseinsanalyse von Martin Heidegger, das alltägliche Sein auch tendenziell als inauthentisch ansieht, weil es sich an andere anpasst. Für Heidegger geht es damit um die Diktatur des „Man“, aber in seinem Konzept ist es nicht prinzipiell ausgeschlossen, aus dieser „Uneigentlichkeit“ herauszukommen, selbst wenn das ihm zufolge nicht dauerhaft, sondern nur augenblicklich möglich ist.43 Eine weitere Parallele wurde ferner bereits darin gesehen, dass der Tod einen vergleichbaren Stellenwert in beiden Konzeptionen hat, da er sowohl für Lukács wie auch für Heidegger mit dem eigentlichen und authentischen Leben aufs Engste zusammenhängt.44 41 Ebd., S. 110. „Eine scheinbar bewußte Abkehr vom Leben war der Preis der romantischen Lebenskunst; […] Die tatsächliche Realität des Lebens entschwand vor ihren Blicken und wurde von einer anderen, von der poetischen, der rein seelischen ersetzt. Sie schufen eine homogene, in sich einheitliche und organische Welt und identifizierten diese mit der tatsächlichen.“ (Ebd., S. 109) In einer kleinen Rezension würdigt Lukács aufgrund dieser Einsicht die ähnlich lautende Kritik von Carl Schmitt an der Romantik. 42 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 231. 43 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Verstehen und Auslegung beim frühen Heidegger, in: Barbara Merker (Hg.), Verstehen nach Heidegger und Brandom. Phänomenologische Forschung. Beiheft 3, Hamburg 2009, S. 47–60. 44 István M. Fehér versucht in seinem Aufsatz zu zeigen, dass Lukács’ Buch Die Seele und die Formen spätere heideggersche Begriffe wie Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit an wesentlichen Punkten vorwegnimmt, gewissermaßen schon ausarbeitet (István M. Fehér, Lukács und Heidegger). Siehe auch die Bemerkung von Michael Grauer zur Verschiedenheit beider Denker: „Das Phänomen der Angst, welches bei Heidegger das Geworfensein in den Tod
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Die Bedeutsamkeit des Tragischen im Konzept von Lukács stammt aus der bisher dargestellten aporetischen Struktur menschlichen Lebens. Bar jeder Möglichkeit des wirklichen, authentischen Lebens bleibt das gewöhnliche, alltägliche Leben ihm zufolge von vornherein zum Scheitern verurteilt: „Die tiefste Sehnsucht der menschlichen Existenz ist der metaphysische Grund der Tragödie: die Sehnsucht des Menschen nach seiner Selbstheit, die Sehnsucht, den Gipfel seines Daseins in eine Ebene des Lebensweges, seinen Sinn in eine tägliche Wirklichkeit zu verwandeln“.45 Als andere Lebensmöglichkeit ergibt sich für Lukács nur die des Mystikers, der statt des für den Helden charakteristischen Kampfes den Weg der Hingabe und Auflösung geht. „Der Mystiker ist frei, wenn er sich aufgegeben hat und ganz in Gott aufgegangen ist; der Held ist frei, wenn er in luziferischem Trotz sich in sich und aus sich vollendet hat, wenn er – für die Tat seiner Seele – jede Halbheit aus der von seiner Umgebung beherrschten Welt verbannt hat“, heißt es dazu in Die Theorie des Romans.46 Die Tragik liegt dann im nicht mehr überbrückbaren Auseinandergehen des empirischen „gewöhnlichen Lebens“ und des wesentlichen „lebendigen Lebens“ begründet, das die „Idee“ ausdrückt.47 In der Tragödie kann das, „was man nicht leben kann“,48 zumindest dargestellt werden, und zwar genau als „Augenblick“ der Erfüllung und zugleich des Versagens, der Katastrophe und des Todes.49 Derart kann der Essay Metaphysik der Tragödie den Standpunkt von Lukács mit Blick auf das bürgerliche Zeitalter festlegen: die bürgerliche Gesellschaft befindet sich in der „Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit“, wo die Vereinsamung und die „transzendentale Obdachlosigkeit“, um mit der berühmten Formel aus Die Theorie des Romans zu sprechen, nur im tragischen Augenblick überwunden werden kann, welcher keine Dauer und keine Verbindung mit dem Leben haben kann: „Dieser Augenblick ist ein Anfang und ein Ende. Nichts kann darauf und daraus folgen, nichts kann es mit dem Leben verbinden. Es ist ein Augenblick; er bedeutet nicht
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enthüllt, existiert bei Lukács weder systematisch noch am Rande, die Grenze hat deshalb keinen existentialistischen Bezug zur Gegenwart des Todes. Lukács wird also zumindest nicht als ein Vorläufer der Existenzphilosophie Heideggerscher Provenienz anzusprechen sein.“ (Michael Grauer, Die entzauberte Welt. Tragik und Dialektik der Moderne im frühen Werk von Georg Lukács, Königstein/Ts. 1985, S. 186). Lukács, Die Seele und die Formen, S. 348. Lukács, Die Theorie, S. 90f. Lukács, Die Seele und die Formen, S. 334–337. Dass diese eigentümliche Interpretation des Tragischen stark von Lukács’ Kierkegaard-Bild beeinflusst worden ist, unterstreicht Konstantinos Kavoulakos in seiner Studie: Kritik, S. 130f. Lukács, Die Seele und die Formen, S. 88. Kavoulakos, Kritik, S. 131. Zum Problem des Tragischen bei Lukács vgl. noch den Aufsatz von Thébaut.
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das Leben, er ist das Leben, ein anderes, dem gewöhnlichen ausschließend entgegengesetztes.“50 Es ist genau dieser Gegensatz, der für den Marxist werdenden Lukács nicht mehr durch Kunst und Literatur, sondern nur durch eine neue Form der Gesellschaft und durch die dazu erforderliche Revolution möglich wird. Die angesprochene „transzendentale Obdachlosigkeit“ stammt bereits aus der Romantheorie von Georg Lukács, die als Theorie der Moderne ausgeführt wird. Wie eingangs bereits erwähnt, wurde auf die Spannung zwischen den existentialistisch inspirierten Essays und den „literatursoziologischen“ Schriften von Lukács des Öfteren hingewiesen. Kristóf Nyíri meint sogar, diese beiden Werkgruppen bilden zwei Seiten derselben Medaille: Die Essays beschreiben sozusagen „von innen her“, was die soziologisch motivierten Werke „aus der Außenperspektive“ zu erklären suchen.51 Nichtsdestoweniger ist es gerade die Vereinbarkeit dieser beiden Perspektiven, die das philosophische Problem ausmacht. Im gegenwärtigen Kontext genügt es, auf das Programm der Romantheorie mit Blick auf den existentialen Status des Menschen einzugehen. Die Theorie des Romans legt bereits am Anfang des Gedankengangs die problematische, weil unsicher gewordene Stellung des modernen Subjektes fest: Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt. Alles ist neu für sie und dennoch vertraut, abenteuerlich und dennoch Besitz. Die Welt ist weit und doch wie das eigene Haus, denn […] Kants Sternenhimmel glänzt nur mehr in der dunklen Nacht der reinen Erkenntnis und erhellt keinem der einsamen Wanderer – und in der neuen Welt heißt Mensch-sein: einsam sein – mehr die Pfade. Und das innere Licht gibt nur dem nächsten Schritt die Evidenz der Sicherheit oder – ihren Schein. Von innen strahlt kein Licht mehr in die Welt der Geschehnisse und in ihre seelenfremde Verschlungenheit. […] Die visionäre Wirklichkeit der uns angemessenen Welt, die Kunst, ist damit selbständig geworden: sie ist kein Abbild mehr, denn alle Vorbilder sind versunken; sie ist eine erschaffene Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für immer zerrissen.52
Das Werk wurde als Einführung zu einem nie verwirklichten Buchprojekt über Dostojewski konzipiert, und diese Einführung mündet in eine grundsätzliche Kritik des Spätkapitalismus. Ein leitender Gesichtspunkt der Kritik wird bereits mit dem Hinweis auf die Einsamkeit fassbar, indem der Spätkapitalismus als das Zeitalter der Auflösung von menschlicher Gemeinschaft angesehen wird. Die Phi50 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 339. 51 Nyíri, Ady und Lukács. 52 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 19f.
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losophie fasst Lukács als Begleiterscheinung dieser Epoche auf, die dem grundsätzlich problematischen, weil ihm zufolge unlösbaren Spannungsverhältnis von Individuum und Welt zugeordnet wird: „Philosophie ist eigentlich Heimweh“, sagt Novalis, „der Trieb, überall zu Hause zu sein.“ Deshalb ist Philosophie als Lebensform sowohl wie als das Formbestimmende und das Inhaltgebende der Dichtung immer ein Symptom des Risses zwischen Innen und Außen, ein Zeichen der Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, der Inkongruenz von Seele und Tat. Deshalb haben die seligen Zeiten keine Philosophie.53
Eine ähnlich radikale Kulturkritik wurde bereits im Buch Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas von 1909 herausgearbeitet, das auch viel aus Simmels bereits dargestelltem Konzept der Tragödie der Kultur schöpft. Die Schrift unternimmt eine Behandlung der Dramatiker im Rahmen einer großangelegten Phänomenologie der Moderne, wo die moderne Kunst, das Drama, einer Gesellschaft entspricht, die sich durch die „Versachlichung des Lebens“ charakterisieren lässt. Dieser von Simmel inspirierte Gedanke nimmt anschaulich die spätere Verdinglichungsproblematik vorweg. Lukács schildert plastisch die bürgerliche Gesellschaft, in der „die Gebundenheit sich den Abstracta gegenüber ebenso sehr verstärkt und vermehrt, als sie sich den einzelnen gegenüber geschwächt und gelockert hat“.54 Der Individualismus in der bürgerlichen Welt ersetzt konkrete menschliche Bindungen durch die Abhängigkeit von „Abstracta“, die gesellschaftliche Mechanismen bilden, die eine Desubjektivierung bedeuten. Vergleichbar mit der Geschichte der Gattung Drama analysiert Lukács unter dem Titel Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik umfassend die Geschichte einer literarischen Gattung, angefangen mit dem antiken Epos über die wichtigeren Stadien – unter anderen Cervantes, Goethe, Keller, Balzac, Tolstoi, Dostojewski – bis zu seiner Gegenwart. Hinter der scheinbar literaturtheoretischen Fragestellung verbirgt sich jedoch eine noch allgemeinere Frage nach der Moderne: der Roman wird als moderne Kunst 53 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 9f. Zu Recht bemerkt Werner Jung dazu: „Ein idealisiertes und gewiß idyllisches Griechenbild, das Lukács aus dem deutschen Idealismus bruchlos in die eigene Zeit verlängert, bildet die geschichtsphilosophische Hintergrundfolie, vor der dann die ebenfalls numinosen, historisch eher unspezifischen Zeiten der Moderne als Abfall, als Welt der Zerrissenheit und als transzendental heimat- bzw. obdachlos gewordene Zeit gedeutet werden“ (Werner Jung, Die Zeit – das depravierende Prinzip, in: Josef Früchtl/ Maria Moog-Grünewald (Hg.), Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten. Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 8, Hamburg 2007, S. 187–200, hier S. 189). 54 Georg Lukács, Werke 15, S. 102.
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par excellence verstanden, deren Rekonstruktion Aufschluss und scharfe Diagnose über die Moderne gibt, und zwar im Lichte der bei Tolstoi und Dostojewski gehofften Erlösung. Die Grundthese von Lukács besagt, dass der Roman als literarische Gattung Ausdruck einer Welt ist, in der die Beziehungen menschlicher Individuen durch institutionelle und gesellschaftliche Formen vermittelt werden, und dass deswegen das bloße Dasein des Romans die Krankheit der Kultur, die Unfähigkeit der Menschen zur unmittelbaren Kommunikation bezeugt. Das Aufkommen des Romans ist der Augenblick der Geburt des problematischen Individuums, das sich nicht mehr in einem begreiflich sinnvollen, übersichtlichen Universum befindet wie noch der Mensch des antiken Epos, sondern dem fremden Zusammenhang von Gebilden und Produkten gegenübersteht. Dafür hat Georg Lukács die sinnfällige Formel der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ geprägt, deren Ausdruck in erster Linie der Roman ist: „[D]ie Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit.“55 Die Welt der Griechen kennt noch keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, Sein und Sollen, Äußerem und Innerem, und deshalb lässt sich diese Welt in ihrer Totalität und Sinnhaftigkeit in evidenter Weise unmittelbar begreifen. In Lukács’ Augen geht diese Welt der antiken Menschen für die Reflexion des für sich problematisch werdenden modernen Subjektes verloren und die verschiedenen Versuche dieses Subjektes, sich zum Kosmos der fremd gewordenen Gebilde zu verhalten, bilden die Geschichte der Gattung des Romans. Die Typen des Romans sind, anders gesagt, Variationen auf das Scheitern des modernen Subjektes in seinem Versuch, substantiell zu werden. Der Einfluss Hegels und Diltheys56 lässt sich darin erblicken, dass Lukács zufolge literarische Formen als Ausdruck von jeweils anderen geschichtlichen Totalitäten begriffen werden können, die durch die künstlerische Tätigkeit nach Selbsterkenntnis streben. Es ist diese im Geiste Hegels konzipierte Voraussetzung, die erlaubt, Kunst als Objektivierung des „Zeitgeistes“ zu 55 Lukács, Die Theorie des Romans, S. 32. Ute Luckhardt stellt Die Seele und die Formen dem Dramabuch und der Romantheorie mit der Begründung gegenüber, dass Lukács hier und noch deutlicher in dem Essay ,Von der Armut am Geiste‘ von der Suche nach einer authentischen Lebensform getrieben ist“ (Luckhardt, Aus dem Tempel, S. 133f.). Dagegen muss man einwenden, dass in Die Seele und die Formen genauso wie in den letztgenannten Werken die Unmöglichkeit einer authentischen Lebensform artikuliert wird. 56 Auf einen Mangel der Klärung der Wirkung Diltheys auf den jungen Lukács hat Werner Jung hingewiesen: „Worin nun aber konkret jene Anregungen [von Dilthey, Simmel, Weber, Lask – Cs. O.] bestehen, bleibt uns nicht allein Kammler schuldig, sondern ist im Grunde von allen, die sich mit Lukács’ Frühwerk beschäftigt haben, nicht in den Blick genommen worden. Selbst ein so intimer Kenner des jungen Lukács wie György Márkus, der einmal von Dilthey und Simmel als den beiden Denkern spricht, die Lukács’ ‚frühes Schaffen am maßgeblichsten beeinflußten‘, spart eine detaillierte Analyse jenes Einflusses in seinen Arbeiten aus“ (Werner Jung, Von der Utopie zur Ontologie, Bielefeld 2001, S. 60).
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fassen, wodurch die Behandlung der Literatur zur umfassenden Phänomenologie der Moderne werden kann. Die eigentliche, d. h. philosophisch vertiefte Literaturgeschichte bietet im Grunde die unterschiedlichen Reaktionsformen der modernen Subjektivität. Bekanntlich hat diese Gedankenfigur einer Verknüpfung von literarischer und ästhetischer Theorie mit philosophischer Zeitdiagnose verschiedene Autoren von Benjamin über Adorno bis Peter Bürger tief geprägt, was in diesem Kontext nicht weiter verfolgt werden sollte. Wie eingangs bemerkt, bildet die Beschreibung der problematisch gewordenen menschlichen Existenz beim frühen Lukács auch für seine marxistische Wende einen Ausgangspunkt. Der diagnostische Gehalt dieses Bildes menschlicher Existenz im Spätkapitalismus bleibt auch Grundlage für den Gedanken der Verdinglichung dieses menschlichen Lebens in der Essaysammlung Geschichte und Klassenbewußtsein. Der entscheidende Unterschied zwischen der vormarxistischen und der marxistischen Phase lässt sich darin erblicken, woher die Lösung des problematischen Charakters der Existenz erwartet wird: während es in der Frühphase vor allem darum geht, in der Kunst, die gleichzeitig ein Gegenpol des Lebens ist, eine Orientierungshilfe zu finden – selbst wenn sie nur eine aporetische Orientierung bieten kann –, wird in der marxistischen Phase die Revolution bzw. die revolutionäre Veränderung und Abschaffung der verdinglichten Lebensverhältnisse vorgeschlagen. Deutlich sieht man aber das Weiterleben der früheren Diagnose in der Theorie der Verdinglichung ebenso wie auch in späteren Arbeiten der Frankfurter Schule.57 Das ändert aber nichts daran, dass die Beschreibung der Krise der Kultur ohne Änderungen in die Kritik der verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisse übernommen werden konnte.58 Zum Schluss soll nochmals unterstrichen werden, dass die Leitfrage vorliegenden Aufsatzes danach, was für ein Bild Georg Lukács über die menschliche Existenz gibt, im Wesentlichen nur negativ beantwortet wird. Abgesehen von theoretischen Voraussetzungen wie etwa einem allzu idealisierten und harmonischen Bild der Antike als Modell für wirkliche Kultur, die kaum überzeugend sind, entwickelt 57 György Márkus zufolge „wird die Kategorie des ‚gewöhnlichen‘, des inauthentischen Lebens bei Lukács zu einem Synonym für Entfremdung und die Entfremdung zum leidenschaftlich zurückgewiesenen, jedoch als unvermeidlich gesetzten metaphysischen Wesenszug der menschlichen Existenz“ (Márkus, Die Seele und das Leben, S. 108). Márkus sieht sogar in der Frage der Kultur bei Lukács von vornherein das Phänomen der Verdinglichung: „Seit den Anfängen seiner Entwicklung als Denker bedeutete die Frage der Kultur für Lukács die Frage nach der Möglichkeit des entfremdungsfreien Lebens. Verborgen hinter dieser Frage ist aber stets die leidenschaftliche Diagnose der Kulturfeindlichkeit, der Kultur-‚Krise‘ des modernen bürgerlichen Lebens und die entschlossene Zurückweisung dieses Lebens“ (Ebd., S. 103). 58 Vgl. dazu Michael Löwy, Georg Lukács – From Romanticism to Bolshevism, London 1979, S. 142–44.
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der frühe Lukács keine positive Strukturbeschreibung menschlichen Lebens, sondern nur eine Charakterisierung ex negativo – ein Umstand, den das Motto vorliegenden Aufsatzes bestätigt: „Das Leben ist das Unwirklichste und Unlebendigste alles denkbaren Seins; nur verneinend kann man es beschreiben“.59 Menschliche Existenz ist für Lukács tragisch und unheilbar in einer chaotischen Strukturlosigkeit und Verschwommenheit verwickelt. In Richtung einer Beschreibung menschlicher Existenz kann man mit Georg Lukács über diesen Punkt hinaus nicht weiter gehen.
59 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 329. Gleichwohl ist zu bemerken, dass dies bei Lukács nicht eine bewusste methodologische Einstellung bedeutet, die im Ausgang von negativen Phänomenen versucht, die menschliche Existenz zu beschreiben. Michael Theunissen hat in mehreren Arbeiten einen solchen methodologisch überlegten „Negativismus“ bei Søren Kierkegaard nachgewiesen (z. B. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Frankfurt a. M. 1991; Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. 1993).
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System, Form, Medium Philosophische und ästhetische Konzeptualisierungen in den 1910er Jahren in Ungarn (Georg Lukács, Béla Zalai, Lajos Fülep) In diesem Beitrag werden drei Protagonisten des philosophischen Denkens nach 1900 in Ungarn behandelt: Georg Lukács, Béla Zalai und Lajos Fülep. Im Fokus stehen die Werke der ersten beiden Autoren zwischen 1909 und 1915, mit einem Beispiel zu Zalais Wirkungsgeschichte bei Fülep im programmatischen Aufsatz Művészet és világnézet (Kunst und Weltansicht, 1923). Der im Ersten Weltkrieg verstorbene Zalai hat mit seinem Grundgedanken des „Systems“ zahlreiche Wissenschaftler beeinflusst, in mehreren Disziplinen: ästhetische Theorie (Fülep, Arnold Hauser), Interpretationstheorie (Béla Fogarasi), Erkenntnistheorie (Wilhelm Szilasi, Karl Mannheim). Das ist ein eindrückliches Beispiel für jene interdisziplinäre Kultur, die um 1900 in Ungarn grundlegende Praxis war. Zalai war das größte philosophische Talent der damaligen Zeit in Ungarn gewesen und übte trotz seiner kurzen Schaffensphase eine nachhaltige Wirkung auf eine Reihe von Gelehrten aus. Und zwar unabhängig von ihren (späteren) ideologischen Zugehörigkeiten (etwa Mannheim und Lukács bzw. Fogarasi haben sich stark voneinander entfernt, nachdem die beiden letzten sich 1918 über Nacht dem Marxismus, gar dem Kommunismus verschrieben haben und während der Räterepublik 1919 auch politisch aktiv wurden). Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, dass Zalai in der ungarischen Philosophie eine integrative Rolle hätte spielen können, was man von Lukács, einem der späteren Chefideologen der kommunistischen Machtübernahme in Ungarn (1945–1947), dem „mehrfachen zweifelhaften Apologeten des Stalinismus“,1 mitnichten behaupten könnte. Mit dem frühen Tod von Zalai ist für das (nicht nur) ungarische philosophische Denken wohl eine einmalige Chance verlorengegangen. Zalais Werk und Wirkung sind zwar relativ gut dokumentiert, 1 Terry Eagleton, Ästhetik. Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994, S. 333. Zu Lukács’ Leben in Heidelberg, zu seiner Enthebung vom Militärdienst mithilfe eines ärztlichen Attests von Karl Jaspers und zu seiner kulturkritischen bzw. eschatologisch-totalitaristischen Attitüde (im Kontrast zur liberaleren Position von Jaspers) vgl. jüngst Matthias Bormuth, ‚Nervosität, Ressentiment, Hass‘. Karl Jaspers begutachtet Georg Lukács, in: Kommissar Lukács. Zeitschrift für Ideengeschichte 8 (Winter 2014), S. 45–56.
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ihre inhaltlichen Zusammenhänge aber nur ansatzweise erschlossen.2 Dabei war diese Wirkung kein Zufall, antizipiert doch der Ansatz von Zalai in einer originellen Weise eine Reihe von späteren Entwicklungen. Es werden weiter unten einige Aspekte dieses „Vordenkens“ von Zalai diskutiert, durchaus nicht nur in rekonstruktiv-ideengeschichtlicher Manier (oder neuerdings der des sog. „Wissenstransfers“, ein in mehrfacher Hinsicht nicht unproblematischer Ausdruck), sondern in Bezug auf heute noch oder gar erst recht interessierende Probleme. Diese sind: die Zusammenhänge von System, Sprache und Medialität (Vermittlung). Die Erschließung einiger Denkfiguren und Einsichten von Zalai wird also auch von dezidiert heutigen Fragestellungen her versucht, auch um der Potentialität seiner Denkansätze gerecht zu werden. Erkenntnisinteressen der Gegenwart stehen also in einem profunden Verhältnis zur produktiven Virtualität bestimmter Zusammenhänge in Zalais Denken und seiner verkappten Wirkungsgeschichte. Dieses Unternehmen realisiert sich vordergründig als eine Kontrastierung von Lukács’ und Zalais Positionen und ihrer philosophischen Vorverständnisse.
Form, Medium und die „Grenze“ (Lukács) Der Denkansatz des jungen Lukács hat zu einem entscheidenden Teil eine kulturkritische Volte zu bestimmten Aspekten von existentiellen Uneigentlichkeiten um 1900 zu seinem Ausgangspunkt. Diese gilt in hohem Maße für die „ästhetische Kultur“, also für eine impressionistische, stilisierende, kontingenzbehaftete kulturelle und pseudoexistentiale Disposition, die im Banne des „schlechten Unendlichen“ von verschiedenen entsubstanzialisierten Sensibilitäten nicht zu prägnan-
2 Zalai hat eine Reihe von Aufsätzen in deutscher und ungarischer Sprache veröffentlicht, in denen er seinen Systembegriff explizierte. S. ferner das ursprünglich in deutscher Sprache verfasste Hauptwerk von Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme (1913–1914), das allerdings erst 1982 publiziert wurde, nachdem es knapp 60 Jahre im Besitz von Lukács „ruhte“ (der 1971 verstorben war). In der von Béla Bacsó herausgegebenen Ausgabe (im Folgenden mit der Sigle ATS zitiert) befinden sich auch grundlegende Dokumente der Rezeption von Zalai von einigen der oben genannten Mitstreiter aus dem Budapester „Sonntagskreis“ (Budapest, 1982). (Zalai wurde 1882 in Debrecen geboren, studierte in Klausenburg und Budapest und starb 1915 in einem Gefangenenlager bei Omsk.) S. den Aufsatz von Béla Bacsó, ‚A válasz metafizikája‘ (Zalai Béla filozófiájáról) [‚Metaphysik der Antwort‘. Zur Philosophie von Béla Zalai], in: Magyar Filozófiai Szemle 16 (1982), S. 888–908. Vgl. noch den genauen Überblick in der vorbildlichen Studie von Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2003, S. 368–373, 377–382.
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ten, in sich bestehenden und ausdrucksstarken Formen voranzuschreiten vermag.3 Eine Tendenz in dieser Kulturkritik gilt auch der Depravation von Sprache oder Kommunikation in der Alltäglichkeit überhaupt,4 welches Moment die ästhetischen Überlegungen von Lukács von vornherein mit dem Problem der Vermittlung im sprachlich-kommunikativen bzw. medialen Sinne verbindet. Ob jedoch Kulturkritik und die Transzendierung der Kultur bzw. des „Lebens“ mithilfe der ästhetischen Form auch eine genuine Sprachkritik, mithin die Befragung der wie auch immer verstandenen Medialität, impliziert, wird weiter unten die wesentliche Frage darstellen. Die Formvorstellung des jungen Lukács – zwischen „dem aprioristisch-ästhetischen und dem soziologisch-geschichtlichem Begriff der Form“5 – wird in der Kreuzung bzw. Spannung von mehreren Impulsen und Tendenzen herausgearbeitet. Die grundsätzliche Spannung besteht zwischen den Begriffen der „Leben(swirklichkeit)“ und der „Form“, wo erstere zuweilen den Namen „Stoff“ trägt. Die Unterscheidung von Stoff und Form wird zu jenem binären Code im ästhetiktheoretischen Sinne, der sich gleichsam in weiteren Gegensatzpaaren wiederholt bzw. in 3 Vgl. hierzu den Aufsatz von György Márkus, Die Seele und das Leben. Der junge Lukács und das Problem der „Kultur“, in: Agnes Heller/Ferenc Fehér/György Márkus/Sándor Radnóti, Die Seele und das Leben. Studien zum frühen Lukács, Frankfurt a. M. 1977, S. 99–130. Der Aufsatz Leo Poppers über den Kitsch greift auch diese Beobachtung auf, jedoch führt er sie in einem funktionalen Zusammenhang von Technik, physiologischen Wahrnehmungsdispositionen und soziologischen Befunden zu einer produktiven Analyse weiter (Leo Popper, Der Kitsch, in: ders., Schwere und Abstraktion. Versuche, Berlin 1987, S. 55–63). Zu Poppers kunsttheoretischer Position und zu seinen Unterschieden zu Lukács’ Ansatz ist besonders erhellend Pierre Despoix, Ethiken der Entzauberung. Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bodenheim 1998, S. 109–139. 4 Zu den kulturkritischen Tendenzen bei Lukács vgl. István M. Fehér, Heidegger und Lukács. Überlegungen zu L. Goldmanns Untersuchungen aus der Sicht der heutigen Forschung, in: Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog 1 (1991), S. 28–29. Ferner ders., Heidegger und Lukács. Eine Hundertjahresbilanz, in: ders. (Hg.), Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk, Berlin 1991, S. 53–55. Umfassend zum gnostischen Hintergrund beim jungen Lukács vgl. Despoix, Ethiken der Entzauberung, S. 141185. Vgl. noch die Aufsätze von Hans Ulrich Gumbrecht und Csaba Olay in diesem Band. 5 Márkus, Die Seele und das Leben, S. 123. Diese zweifache Bestimmung der „Form“ wird in den Heidelberger Manuskripten von Lukács dann kunstontologisch vertieft: „Es gibt Kunstwerke – wie sind sie möglich?“ Die empirische Dimension („Kunstwerke existieren“) entspricht dem historisch-individuellen Format, die kantianisierende Frage „Wie sind sie möglich?“ dem transzendentalen Aspekt der Form. Vgl. hierzu György Márkus, Lukács’ ‚erste‘ Ästhetik: Zur Entwicklungsgeschichte der Philosophie des jungen Lukács, in: Agnes Heller/ Ferenc Fehér/György Márkus/Sándor Radnóti, Die Seele und das Leben, S. 192–240, hier S. 202f.
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die Unterscheidung wiedereintritt, deren Einheit aufrechterhaltend.6 So baut auch der Unterschied zwischen den historischen und zeitlosen (platonisierenden), individuellen und allgemeinen Aspekten der Form auf der genannten Unterscheidung auf bzw. wiederholt diese nun auf der Seite der Form. Wenn wir also mit Luhmann davon ausgehen, dass die Unterscheidung von Medium („Stoff“) und Form selber eine Form darstellt, dann wird sichtbar, dass hier auch auf der Seite der Form eine Unterscheidung erscheint, mit deren Hilfe die anfängliche „Unterscheidung in sich selbst wiedereintritt“.7 Die Konstitution der Form trägt in den frühen Schriften von Lukács regelmäßig den Namen „Symbol“, „Symbolisch-Werden“, was die erscheinende, phänomenale Seite der Form mit der transzendental-allgemeinen Perspektive verbindet, ihre Einheit dadurch sichernd. Noch davor wird aber der „Stoff“ dereferentialisiert und homogenisiert, seiner referentiell-semantischen Heterogenität beraubt, um eine „reine Form“ zu schaffen.8 Der so bearbeitete Stoff wird also 6 Eines dieser Gegensatzpaare – hier nun auf der literaturimmanent-gattungstypologischen Ebene – stellt die Kurzprosa („Leben“) und Lyrik („Form“) dar (im Storm-Essay des Bandes Die Seele und die Formen). 7 Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 169. 8 Dieser Vorgang wird von Lukács in seinen Heidelberger Manuskripten zur Ästhetik beschrieben. Die dem Stoff aufgezwungene Form bedeutet auf einer ersten Ebene „reine Erscheinungsform“ im System der Heidelberger Manuskripte zur Kunstphilosophie, zu deren Charakteristik s. die folgenden zwei Zitate: „Die abstrakten Relationen, die hier die Verbindungen der Elemente herstellen, gehen darauf aus, ein in sich geschlossenes System aus reinen Beziehungen zu schaffen, eine Welt aufzubauen, deren Substanz sich aus einer gleichartigen, möglichst inhaltsschwachen Cohärenz von Zeichen bildet, von Zeichen, die weder etwas an sich, noch außer sich bedeuten sollen, sondern deren Geltung und Realität ausschließlich von ihrem reinen Zeichencharakter, von der Unbeschränktheit und Unendlichkeit der zwischen ihnen möglichen und von der Harmonie und Abgeschlossenheit der zwischen ihnen wirklich gewordenen Beziehungen getragen werden.“ „So kommt der Zusammenhang und die Cohärenz der gestalteten Fläche zustande, die deshalb aus nichts anderem bestehen kann, als aus einer Systematik der Parallelitäten, Correspondenzen, Wiederholungen und Symmetrien, aus mathematisch geordneten Abwechslungen von verschiedenen, in sich ebenfalls mathematisch aufgebauten Gruppen und Elementen“ (Georg Lukács, Heidelberger Philosophie der Kunst [=Werke 16. Frühe Schriften zur Ästhetik I], Neuwied a.Rh. 1974, S. 93–94, 97). Hier wird der so determinierte Stoff als Ornament(alität) definiert, ebd., S. 99. Das wird übrigens der Tätigkeit des Rezipienten entzogen, die mit ihren unvermeidlich referentialisierend-semantisierenden Operationen diese Reinheit gefährden könnte: Dies geschieht mit dem Ziel, die so entstandene „reine Form“ in die transzendentale Form, in einen utopischen Bereich zu überführen, ebd., S. 108. Bereits hier ist das Modell von Lukács zutiefst hegelianisch und im Prinzip durchaus offen für ideologische Besetzungen, weil letztlich von einer polemischen Basis herkommend und auf eine utopische Einlösung ausgerichtet. (Vgl. die ähnlichen Ergebnisse aufgrund des Mystikbegriffs im frühen Lukács bei Laube, Karl Mannheim, S. 338). Vgl. demgegenüber die markant andere Wortwahl Leo Poppers zum selben, bei ihm aber wechselseitigen Zusammenhang: „Denn: nur wo die Form
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sublimiert, sein medialer Charakter, das Medium selbst als Drittes neutralisiert. Das meint die symbolische Beziehung: Stoff und Form zu einer restlosen Verschmelzung kommen zu lassen. Wenn die Formen „einen Stoff“ „umgrenzen“, tun sie dies als Symbole, die das Chaos mit Grenzen, die Zufälle mit notwendigen und symbolischen Eigenschaften versehen und dem Leben eine Gestalt aufzwingen.9 Lukács schreibt dieser Formbildung folgerichtig auch einen teleologischen Charakter zu.10 Also ist das Symbolischwerden auch eine Dereferentialisierung, die zur Geschlossenheit der Form als dem Herausragen aus der Zeit, einer Transzendierung führt. Die Stärke des Ansatzes von Lukács besteht darin, dass er diese Formwerdung als einen performativen Prozess beschreibt: die Form wird von einem richtenden Urteil, von einer Gewalt (sogar „göttlichen Gewalt“) dem Material, dem „Leben“ (und
den Stoff verstanden hat, versteht die Seele die Form, und will in ihr wohnen“ (Hervorh. – Cs. L.). Leo Popper, Die Bildhauerei, Rodin und Maillol, in: ders., Schwere und Abstraktion, S. 63–71, hier S. 67. 9 Georg Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 16. „… der Held des Essays lebte schon irgendwann, sein Leben muß also gestaltet werden …“ Ebd., S. 25. „Darum ist das Leben nur Rohmaterial für den Dichter; nur seine spontan gewalttätigen Hände können Eindeutigkeit aus dem Chaos, Symbole aus den unkörperlichen Erscheinungen herauskneten, können dem tausendfach Verzweigten und zerfließenden Formen – Grenzen und Bedeutung – verleihen.“ Ebd., S. 87. Laut dem Aufsatz Ästhetische Kultur, 1912: „In der wirklichen Kultur wird alles symbolisch, denn alles ist bloß Ausdruck – und alles ist gleichermaßen bloß Ausdruck des einzig Wichtigen: der Art des Reagierens auf das Leben, der Art, wie sich das ganze Wesen des Menschen der Ganzheit des Lebens zuwendet“; „Dieses Leben ist beispielhaft und symbolisch“ (Georg Lukács, Ästhetische Kultur, in: Frank Benseler/Werner Jung [Hg.], Lukács 1996. Jahrbuch der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft, Bern 1997, S. 13–26, hier S. 15, 25). „Symbol“ als Begriff hat also ebenfalls eine polemisch-wertende Basis, wie andere zahlreiche Begriffe bei Lukács, beispielsweise der der „Form“ (und „des Lebens“). 10 Browning fand in „seinem Platonismus die Musik, die Lyrik der seltenen, der großen Augenblicke, durch welche das rein Zufällige seines Lebens symbolisch und notwendig wurde.“ „Und der tiefste Sinn der Formen ist dieser: hinführen zum großen Augenblick eines großen Verstummens und die ziellos dahinschießende Buntheit des Lebens so zu gestalten, als eile sie nur um solcher Augenblicke willen.“ „Die Menschen, in denen das Schicksal zur Gestalt wird, klaffen in zwei grundverschiedene Teile auseinander: der gewöhnliche Mensch des wirklichen Lebens wird in einem Augenblicke plötzlich und unvermittelt zum Symbol, zu einem bloßen Träger einer überpersönlichen, geschichtlichen Notwendigkeit“ (Georg Lukács, Die Seele und die Formen, S. 51, 245, 368). Vgl. noch ebd., S. 258 über die „Zufälle“. Das wird auch von der Heidelberger Philosophie der Kunst bestätigt, S. 28. Judith Butlers Aufmerksamkeit entgeht die Symbolisierung als solche völlig, daher realisiert sie deren teleologischen Aspekt erst recht nicht, vgl. Judith Butler, Introduction, in: Georg Lukács, Soul and Form, New York 2010, S. 1–15, hier S. 14.
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seinen Synonymen, wie „Zufall“, „Dissonanz“ usw.) aufgepfropft.11 Dies geschieht in erster Linie als Grenzziehung im Chaos des Lebens und seiner Dissonanzen. „Grenze“ war auch für die Kunsttheorie von Leo Popper von entscheidender, allerdings nicht kulturkritischer, vielmehr anthropologischer Bedeutung.12 Die Bedeutung von „Grenze“ für die Formwerdung: dieser Komplex lässt sich bei Lukács wohl am Essay über Paul Ernst am besten beobachten. Die Grenze für die Tragödie stellt laut Lukács der Tod dar – die Grenze hat in diesem Sinne eine doppelte Bedeutung: „Für die Tragödie hat der Tod – die Grenze an sich – eine immer immanente Wirklichkeit, der mit jedem ihrer Geschehnisse unlösbar verbunden ist“.13 Es geht also um die Grenze der Existenz (nicht ganz unähnlich der entsprechenden heideggerschen Beschreibung der Endlichkeit in Sein und Zeit),14 um eine existentielle Grenze, die dem Subjekt gewissermaßen sein Eigenes schenkt: Darum ist die Tragödie das Erwachen der Seele. Die Erkenntnis der Grenze schält ihr Wesen aus ihr heraus, läßt alles andere achtlos-verächtlich von ihr abfallen, diesem aber gibt sie das Dasein der inneren und einzigen Notwendigkeit. Denn die Grenze ist nur von außen ein begrenzendes, ein Möglichkeiten abschneidendes Prinzip. Für die erwachte Seele ist sie das Erkennen des wahrhaft zu ihr Gehörigen.15
Das ist also eine individuelle oder besser: singuläre Grenze, die sich zugleich dem Individuum, genauer: seiner Gestalt einschreibt, deren „Einheit unrettbar zerstört.“16 In diesem Sinne ist oder veranlasst die Form also eine Grenze in der Ge11 Simmel hat das im Bereich der Lyrik bei George bereits vorweggenommen, wo er von einer „absoluten Souverainetät“ der lyrischen Form gesprochen hat (Georg Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung, in: ders., Gesamtausgabe 5, Frankfurt a. M. 1992, S. 287–300, hier S. 292). 12 Die Prämissen dieser Kunsttheorie werden stark antiromantisch und in einer Variation des Höhlengleichnisses von Plato ausgedrückt: „Wir nehmen der Natur durch die Kunst, was sie uns selbst durch unser Leben nimmt: die Unendlichkeit. Wie uns aber unser Käfig unser Alles ist, wie unseres Käfigs Wände die letzten Erkenntnismöglichkeiten für uns bedeuten, aber auch die einzigen – so ist unsere Kunst als die Projektion unserer Grenzen auf die Welt, die einzige Form, in der wir diese zu erkennen vermögen, zu verstehen und zu fühlen. Die Kunst ist unkosmisch.“ (Popper, Dialog über Kunst, in: ders., Schwere und Abstraktion, S. 7–14, hier S. 10f.) Diese indirekte, metaleptische Vermittlungsfigur ist interessant, dass man also die eigenen „Grenzen“ nur in deren „Projektion“ „auf die Welt“ „erkennen“, „verstehen“ und „fühlen“ kann – als ob die Grenzen erst in dieser Projektion eingeschrieben würden (Lukács hat den Ansatz von Popper in einem Brief an diesen als „inversen Platonismus“ charakterisiert, vgl. Despoix, Ethiken der Entzauberung, S. 137). 13 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 345. 14 Vgl. Fehér, Heidegger und Lukács. Überlegungen, S. 27. 15 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 347. 16 Ebd., S. 368.
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stalt selber und zwar auf dieselbe gewaltvolle Weise, wie das bereits beim „Richten“ zu beobachten war.17 Folgerichtig ist bei der Grenzziehung auch nicht ihr Vorhandensein, sondern deren Stärke oder Intensität entscheidend, wie das von Lukács in einem seltenen nietzscheanischen – oder eher genieästhetischen? – Moment bemerkt wird: „Und die hohen Menschen umgrenzen mehr [im ungarischen Original: „stärker“] als die niederen und lassen nichts los, das einmal ihrem Leben gehört hat: darum haben sie die Tragödie als ihr Vorrecht“.18 Dieser Aspekt der Gewalt geht jedoch mit einer Dereferentialisierung als Entfernung vom Zerstörten, letztlich mit der Transzendierung des Lebens durch und in die Form als (auch hier höhlengleichnishafte) Symbolwerdung einher: Denn nur das Drama „gestaltet“ wirkliche Menschen, muß aber – eben durch diese Gestaltung – ihnen jegliches nur lebenhafte Dasein nehmen […] alle Äußerungen ihres Lebens sind nur Chiffren der letzten Zusammenhänge, ihr Leben eine blasse Allegorie, bloß ihrer eigenen platonischen Ideen.19
Das heißt, ebendiese Zerstörung muss durch die Form im selben Zuge auch sublimiert werden.20 Die beiden Seiten der Grenze, ihre gewisse Inkompatibilität werden in der Figur des „Allgemeinen“ auf metonymische Weise (s. zwei Seiten der Grenze) neutralisiert: Durch ihr irrationell Wirkliches zwingt die Geschichte den Menschen zum rein Allgemeinen; sie gestattet ihm nicht, seine eigene Idee, die auf anderen Ebenen ebenso irrationell ist, zum Ausdruck zu bringen: aus ihrer Berührung entsteht ein beiden Fremdes: das Allgemeine. Die geschichtliche Notwendigkeit ist doch die lebensnächste aller Notwendigkeiten.21
In diesem Sinne geht jedoch das Strukturmoment des Eigenen verloren, dem tragischen Subjekt wird gewissermaßen eine weitere Verlusterfahrung zuteil, über17 18 19 20
Auch in diesem Essay, ebd., S. 370. Ebd., S. 355 (A lélek és a formák. Kísérletek, Budapest 1997, S. 217). Ebd., S. 334. Über diese Sublimierung sagt einiges aus, dass sie „vollkommen und restlos“ vollzogen werden muss, ebd., S. 52. Vgl. Butler: „A certain transmutation and sublimation of theme takes place as it emerges as form, and form carries within it the history of this process, the process by which form comes into being. In this sense, form is not a technical device imposed upon thematic or historic material: it is the index by which historical life becomes distilled and known, where its tensions are encoded and expressed.“ Butler, Introduction, S. 6. 21 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 366. Man beachte den letzten Satz des Zitats, in dem die geschichtsphilosophische Auflösung der gegenseitigen Fremdheit zwischen Mensch und Geschichte anvisiert wird.
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haupt wird es als ästhetisches Subjekt in eine Aporie eingelassen, indem die als Grenzziehung verstandene Form sowohl zu ihm als auch nicht zu ihm gehört. Im Grunde bleiben indes diese beiden Momente des Eigenen und des Allgemeinen miteinander unvermittelt.22 Der „doppelte Sinn der Grenze“ bleibt also eher ein formaler. Das führt mitunter zu einer Tautologie: die Eigenart von Georges Lyrik wird im Symbolischen, im „Allgemeinen“ gesehen, in Bezug auf Novalis wird aber dekretiert: jede Lyrik sei symbolisch.23
22 Das hat Emil Lask, Lukács’ Freund (im selben Jahr ebenfalls Opfer des Ersten Weltkrieges geworden wie Zalai) moniert: „Der weiteste Begriff von Form bei Simmel und Lukács rührt ja gleichfalls von Gegensatz zu Fließendem her! Alle Verfestigung = Formgeprägtheit! Daß nichts sich loslöst vom Verfließenden, darauf kommts bei mir an, nicht, das Genüge in Verfließendem finden. Letzteres vielleicht ähnlich, aber nicht dasselbe. Daß Urbild vorschwebt, dem nachgestrebt wird, steht nicht im Gegensatz zu Verfließendem!“ (Emil Lask, Zum System der Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften [hg. v. Eugen Herrigel], Bd. III, S. 171–235, hier S. 212) Beim Soziologen Simmel jedoch ist die Möglichkeit da, diese Vermittlung gerade in der Dimension der Kommunikation zu lancieren: „… Simmels Theorie der ästhetischen Form [enthält] […] in nuce ein bestimmtes Modell von Gesellschaftlichkeit […]. Denn Simmels Theorie ästhetischer Form ist ja zugleich eine Theorie ästhetischer Kommunikation. In gewisser Weise stiftet das Werk durch seine Form einen Kontakt, einen kommunikativen Bezug zwischen Autor- und Leser-Subjekt“ (Uwe Hebekus, Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne, München 2009, S. 103). Das Formkonzept in der Kunstphilosophie Luigi Pareysons zeigt eine spätere überzeugende Alternative zu Lukács’ Auffassung an, die deren verspannte Dualismen vermeidet oder überwindet: hier wird die Form als Ergebnis eines Produktions- und eines Interpretationsgeschehens bestimmt („das Kunstwerk aufzuführen, d. h., es in seiner eigenen Sprache sprechen zu lassen …“), hier ist „Die Aufführung […] weder ein neues Leben, das einem seelenlosen Körper zu geben wäre, noch ein flüchtiges Bild, in dem sich ein reiner, unerreichbarer Geist einen Augenblick lang widerspiegelt; sie ist weder die Vollendung eines unvollendet gebliebenen Werkes, noch die Erweckung einer Erinnerung oder einer Sehnsucht: Sie ist eben das Leben des Kunstwerkes.“ Luigi Pareyson, Betrachtung des Schönen und Produktion von Formen (1955), in: Wolfhart Henckmann (Hg.), Ästhetik, Darmstadt 1979, S. 52–70, hier S. 65f. Diese „Verflüssigung“ der Form (nicht aber zu einer „Sehnsucht“, sondern zu einem Geschehen!) hat ihre strukturelle Parallele im Denken Pareysons auch im Verhältnis zwischen „permanent values and historical process“: „Even the relation between Being and the historical form that reveals it is interpretative.“ Ders., Truth and Interpretation, New York 2013, S. 40. 23 Laut dem Novalis-Essay: „Denn für die Poesie wird alles zum Symbol, aber alles ist ihr nur Symbol; alles hat da eine Bedeutung, nichts aber kann an und für sich einen Wert beanspruchen.“ In dem Aufsatz zu George liest sich hingegen Folgendes: „Die Lyrik Georges ist eine keusche Lyrik. Aus den Erlebnissen gibt sie nur das Allgemeinste, das Symbolische und beraubt damit den Leser jeder Möglichkeit intime Lebenseinzelheiten zu erkennen.“ Lukács, Die Seele und die Formen, S. 106, 180.
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An bestimmten Stellen von Die Seele und die Formen erscheint auch eine phänomenale Figur auf der sowohl externen (erscheinenden) wie internen (symbolischen) Seite der Form als Symbol – und zwar das Beispiel der „Geste“, die die genannten Spannungen in sich verdichtet. Einerseits heißt es über den Essay, er „steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk“, diese „Gebärde“ stellt „die Souveränität dieser Stellungnahme“, also eine Gewalt des Richtens dar, die Geste als „Sprung“ „verläßt“ „die immer relativen Tatsachen der Wirklichkeit, um die ewige Gewißheit der Formen zu erreichen“,24 andererseits: „aber nicht einmal aufrecht erhalten kann man die starre Gewißheit der Geste, – sofern das überhaupt je wirkliche Gewißheit ist.“25 Zum einen ist die Geste also ein performativer Akt (Handlung), die Operation der Rahmengebung, zum anderen eine symbolische Form oder Bedeutung, die, die gleichsam innerhalb dieses Rahmens erscheint. Die Geste ist somit Medium oder Akt der Formativität, und zwar entlang der bei Lukács nie ausbleibenden polemischen Tendenz gegen die Zweideutigkeiten der Alltäglichkeit.26 Die Phänomenologie der Geste stellt den symbolischen Aspekt der Formbildung in einer schematisch-exemplarischen Weise dar, insofern sie „vielleicht“ „das Paradox“ ist (Lukács bezieht sich hier auf Kierkegaard), „der Punkt in dem Wirklichkeit und Möglichkeit sich schneiden, Materie und Luft, Endliches und Unbegrenztes, Form und Leben.“27 Also tritt die Geste als Kronzeugin der Differenz von Medium und Form hervor, sie ist berufen, die symbolische Einheit dieser Differenz als Form zu repräsentieren. In diesem Sinne wäre die Geste als augenblicklicher Effekt und als symbolische Figur, als Subjektivierungs- (da individueller) und als Desubjektivierungseffekt (im letzteren Sinne Gesehenwerden, Exteriorität implizierend) das Emblem der historischen wie transzendentalen Aspekte der Form und würde diese wie die Teile eines „symbolon“ verschmelzen. In der Geste soll gewissermaßen auch die Vermittlung der intersubjektiven (soziologischen) und symbolisierenden (ästhetischen) Aspekte realisiert werden. Dieser Verdopplung entspricht auch die zweifache Funktion der Form: Vollzug („Urteil“) und zugleich zeitlose Gestalt zu sein. Ob dieser eklatante Gegensatz im ästhetischen Denken des frühen Lukács ausreichend vermittelt, geschweige denn aufgehoben wird, ist mehr als fraglich. Für diese Spannung ist denn auch symptomatisch, wie die Eindeutigkeit der Geste im Essayband mehrmals bezweifelt wird. Man kann hierbei nämlich darauf schließen, dass Lukács’ Problem mit der Geste im Grunde eine sprachkritische 24 Ebd., S. 39, 65. 25 „Das einzige, was die äußerlich – auf irgendwelche Weise – bewahrte Reinheit der Geste erreichen kann, ist daß Jeder immer beim Anderen jedes Heraustreten aus dieser Eindeutigkeit mißverstehen muß.“ Ebd., S. 84. 26 Ebd., S. 67f. 27 Ebd., S. 64.
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Sorge verbirgt, insofern die Geste als performativer Akt die Ambivalenz der (sprachlichen) Kommunikation aufheben sollte.28 Auch die Geste erweist sich also als eine Art Sprache, die dieselben Dilemmata bezüglich der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation zeitigt. Zugleich kann sie sich als eine Art stummes Gespenst oder interne Grenze in die sprachliche Kommunikation einschreiben, deren Code oder kommunikatives Gelingen destruierend.29 Der nicht-erscheinende, gar ambivalente Aktcharakter der Sprache kann die symbolische Bedeutung der Form kontaminieren („kompromittieren“), dafür würde das Phänomen der Geste ein Heilmittel anbieten, das sich zugleich jedoch als zweideutiges Pharmakon erweist, entzieht die Geste sich doch als Form, deren Totalisierung verunmöglichend. Zusammengefasst: im Grunde verfolgt Lukács bereits hier eine totalisierende Auffassung, möchte er doch „das Leben selbst formen“30, dabei aber den Sachverhalt ausklammernd (das macht ja seine Position überhaupt möglich), dass es kein „Leben“ ohne Formen als Effekte von Perspektiven und Interpretationen gibt, jegliches „Le-
28 „Die Geste: unzweideutig zu machen das Unerklärbare, das aus vielen Gründen geschah und sich in seinen Folgen weit verzweigte.“ Ebd., S. 67f. Mit negativem Nachdruck betont: „Jedes Jetzt bei Sterne widerlegt Vergangenheit und Zukunft, jede seiner Gesten kompromittiert seine Worte und seine Worte verderben die Schönheit der Gesten.“ Ebd., S. 311. Vgl. noch ebd., S. 335, 357. In Butlers Zusammenfassung: „The gesture expresses life, even absolutely, but it can only do this by withdrawing from life, by being merely a gesture.“ Butler, Introduction, S. 9 (übrigens sieht man am Sterne-Beispiel, welchen Argwohn Lukács bereits in dieser frühen Phase einem ironisch-aleatorischen Sprachwerk entgegenbringt – und nicht erst später Autoren wie Joyce und Woolf ob ihrer Aleatorik verdammt, wie das Butler betont, ebd., S. 14f. Die Auswahl der Autoren und Werke und ihre essayistische Behandlungsweise mit der platonisierenden Figur der Form in Die Seele und die Formen sind ja auch nicht gerade avantgardistisch zu nennen. Insgesamt kann man getrost sagen, Lukács’ literarischer Geschmack war von vornherein ein ziemlich konservativer. Im Hintergrund ist sein schillerisches – weniger kantianisches – Konzept der Ästhetik zu vermuten, vgl. dazu Eagleton, Ästhetik, S. 341.) 29 Im Sinne des dabei Simmel zitierenden Benjamins: „In einer glücklichen Formulierung hat Simmel festgehalten: Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus.“ (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire = ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 539f.) Vgl. zu Simmel (zum großstädtischen „Lärm“ als Höhleneffekt für einen jeden) Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989, S. 80f. 30 Márkus, Die Seele und das Leben, S. 115. Im ungarischen Original von Márkus’ Text wird das Verb „megformál“ benutzt (nicht einfach „formál“, formt), was den final-abgeschlossenen Charakter der Formung, etwa im Sinne von „Geformtheit“ betont (vgl. György Márkus, A lélek és az élet. A fiatal Lukács és a „kultúra“ problémája, in: György Lukács, A lélek és a formák, S. 231-259, hier S. 248).
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ben“ bereits (potentielle) Formen enthält.31 Das wäre z. B. die Geste: also vergisst Lukács die dem Leben inhärente Formbildung zwar nicht, steht ihr letztlich aber mit Vorbehalten gegenüber und möchte sie im Symbolischen aufheben und transzendieren. An einer Stelle wird gerade die Sprache zum Schauplatz jener unüberbrückbaren Grenze als Differenz, die im Essayband öfters am Werke ist, zwischen Hörbarkeit und Sichtbarkeit, Sprache und Bild, Sprechen und Stummheit, Performativität und symbolischer Form, im Endeffekt zwischen Medium und Form. Sie geht den genannten Unterscheidungen gewissermaßen voraus und macht sie sowohl unvermeidlich wie unmöglich: Jedes Wort hat einen Januskopf, und der eine, der es ausspricht, sieht immer die eine Seite, und der andere, der es hört, die andere, und es gibt keine Möglichkeit eines Näherkommens. Denn jedem Worte, das als Brücke dienen sollte, würde seinerseits wieder eine Brücke not tun.32
Wie immer in der ästhetischen Theorie erweist der Stellenwert der Sprache die Brüchigkeit des ganzen Systems (später wird bei Béla Zalai bezüglich des Problems der intermedialen Übersetzung sichtbar, wie solche Differenzen in der Medialität oder als die Medialität der Sprache wirken). An einer der wenigen Stellen, wo Lukács auch des Mediums der Dichtung gedenkt, liest sich die folgende Spannung: Die Sehnsucht ist immer sentimental – gibt es aber sentimentale Formen? Die Form ist eine Überwindung der Sentimentalität; in ihr gibt es keine Sehnsucht und kein Alleinsein mehr: Form werden ist die große Erfüllung von allem. Die Formen der Poesie sind jedoch zeitlich, die Erfüllung muß also ein Vorher und ein Nachher haben, sie ist kein Sein sondern ein Werden. Und das Werden bedingt die Dissonanz: wenn die Erfüllung erreichbar und zu erreichen ist, so muß sie eben erreicht werden, sie kann nicht in stabil 31 Der Schritt von Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein besteht in genau dieser Einsicht in die Interdependenz von Geschichte und Formen, vor allem im Zeichen der Verdinglichung. Dass dadurch aber das so aufgefasste geschichtliche Leben umso stärker verurteilt und durch die revolutionäre Gewalt aufgehoben werden soll, ist klar. 32 Lukács, Die Seele und die Formen, S. 357. Auf der übernächsten Seite geht es – nach der soeben zitierten sprachbezogenen Antizipation – um die aporetische Situation der Interpretation, bezüglich der („verborgenen“) „Ordnung in dieser Welt“: „Aber es ist die undefinierbare Ordnung eines Teppichs oder eines Tanzes: unmöglich scheint es, ihren Sinn zu deuten, und noch unmöglicher, auf ein Deuten zu verzichten.“ Aus der Verzweiflung an dieser doppelten Unmöglichkeit führte Lukács’ Weg später in die Richtung, wo man die Welt nicht mehr interpretieren, sie vielmehr verändern möchte.
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gewordener Selbstverständlichkeit da sein […] Gibt es also hier eine nicht sentimentale Form? Ist der Formbegriff der Poesie nichts schon ein Sinnbild der Sehnsucht?33
Wie man sieht, gerät auch das Medium der im Prinzip den etablierten Formbegriff umschreibenden Dichtung auf die bezeichnete Seite jener Form, deutet jedoch zugleich auf die nicht-bezeichnete Seite, die „Sehnsucht“, hin. Das heißt, die Medialität der Dichtung wird trotz aller „Dissonanz“ in der autarken „Sehnsucht“ und der entsprechenden Form(losigkeit) sublimiert.34 Insgesamt könnte man sagen, dass der Unterschied von Seele vs. Form die Unterscheidung Leben vs. Form nun auf der Seite der Form selber wiederholt, zugleich sie jene auch in der geschichtsphilosophischen Perspektive kompensiert. Diese Konzeption entspricht der – vom Dialog über Kunst von Popper gerade Lukács zugeschriebenen – Idee des „in seiner Fertigkeit unfertigen“ Kunstwerks.35 Um zum vorigen Zitat zurückzukehren: was ist eigentlich „die Sehnsucht“? Eine Art Überschuss, der sich hier sozusagen als die Form der Dichtung erweist. Diese Form befindet sich also sowohl außerhalb wie innerhalb des von Lukács eingeführten Formbegriffs, sie ist sowohl dessen Gegensatz als auch dessen höchste Realisierung. In diesem Sinne stellt das aber eine Tautologie dar: in der Poesie gibt es nur sentimentale Formen. Insgesamt kann man sagen, dass die grundsätzlich polemische und versöhnungs-, gar erlösungsorientierte Ausrichtung des Ansatzes von Lukács letztlich sowohl das „Leben“36 als auch seine Vermitteltheit in Sprache und Medium unbefragt lässt oder anders: er verfügt über keinen differenzierten Sprach- und Medienbegriff. Auf der medialen Ebene impliziert das nämlich ähnliche Unvermitteltheiten: damit avanciert auch die mögliche Medialität des „Stoffes“, genauer der Unterschied von Stoff und Form selber als Medium zum Symbol (im Sinne des binären Codes, der im Endeffekt auf die konstitutive Unterscheidung von „schön“ und „hässlich“ im Kunstsystem zurückverweist). Das Medium selbst – als Drittes 33 Ebd., S. 221f. 34 Diese Dissonanz erwies sich wohlgemerkt als eine mediale Dissonanz bei Sterne, zwischen Gesten und Worten. Butler stellt richtig fest: „Thus the very condition of the form’s cognitive status and philosophical promise is precisely the occasion of its failure and incompleteness.“ (Butler, Introduction, S. 14.) Genau diese „incompleteness“ öffnet (negiert) jedoch die Form auf die symbolische Totalisierung der „Sehnsucht“ – durchaus auf eine hegelianisierende Art und Weise, die von Butler an anderer Stelle richtigerweise bemerkt wird, vgl. ebd., S. 6. Somit wird die ganze Spannung bzw. Periodisierung zwischen dem „frühen“ und dem „marxistischen“ Lukács relativ, die unkritisch auch von Butler bemüht wird (ebd., S. 14f ). 35 Vgl. Popper, Dialog über Kunst. 36 „Das Leben“ wird von Lukács letztlich instrumental verstanden, als polemischer Begriff gegen das „Leben“, gegen die depravierte Alltäglichkeit. „Das Leben“ wird höchstens als Energie verstanden, nicht aber als Information (vgl. hierzu Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München ³1995, S. 520).
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– gerät auf die Innenseite der symbolisierenden Operationen, sein gleichzeitiges Außerhalb-sein von diesen wird aber am Horizont von Lukács nicht registriert (im Kontrast zur Kunsttheorie von Leo Popper, der indes auf die ästhetischen Überlegungen von Lukács bekanntlich einen bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, zugleich in Auseinandersetzung mit ihnen stand). Die Form als Symbol wird dennoch zu einer problematischen Kategorie bei Lukács, im Sinne der obigen Verdopplung, insofern sie zu gleicher Zeit – im Zuge des Formbegriffs von Simmel – einzigartig (historisch) und allgemein (überhistorisch), Referenz und Symbol, materiell und immateriell sein muss. Deren Verhältnis wird von Lukács grundlegend teleologisch gedacht, er versucht ihre Spannung, sogar ihren Widerspruch37 also in der Form einer zielgerichteten Bewegung aufzulösen. Die nicht-thematisierte Exteriorität des Mediums zu den formbildenden Operationen wird also auch in zeitlich-geschichtsphilosophischem Sinne neutralisiert. Genauer: es wird auf dieser Achse in die Transzendentalität der Form einbezogen, charakteristischerweise im Falle der Poesie. Wenn man nun diese Verdopplung der Form zusammennimmt, den Begriff der begrenzten, abgeschlossenen Form mit der Vorstellung des Überschusses, einer Art Grenzenlosigkeit, diese Verdopplung ferner grundsätzlich auf der inneren Seite der Form situierend, was bezüglich des Überschusses zugleich eine externe Seite eröffnet (und gerade am Beispiel der Poesie!) – so kann man zur Folgerung kommen, dass der Begriff der Form bei Lukács aus der Sicht der Überschreitung (im Zeichen des Überschusses) im Wesentlichen mit dem Ornament gleichzusetzen ist. Die Unterscheidung von Medium und Form ist selber eine Form, die in die Form wiedereintritt – diesen „re-entry“ stellt das Ornament und dessen (rekursive) Bewegung dar. Es handelt sich hier um jenen doppelten Aspekt des Ornaments, laut dem dieses sowohl das Kunstwerk von seiner Umwelt wie auch sich selbst (als bloßen Schmuck oder Rahmen) vom Wesen des Kunstwerks unterscheidet, welches Wesen als eine leere Mitte letztlich eine Transzendierungsbewegung darstellt. Die obigen Tautologien lassen sich mit diesem doppelten Aspekt erklären (an einer Stelle wird das „Symbol“ mit der „Dekoration“ parallelisiert.)38 Der widersprüchliche Status der Form als Symbol kann bei 37 Vgl. hierzu den Aufsatz Megjegyzések az irodalomtörténet elméletéhez [Zur Theorie der Literaturgeschichte], in dem die internen Divergenzen dieses Formbegriffes besonders sichtbar werden (Lukács’ Aufsatz auf Ungarisch in seinen Ifjúkori művek [ Jugendwerken; 1902– 1918], Budapest 1977, S. 385–421; auf Deutsch in Text und Kritik 39/40 (1973), S. 24–51, hier S. 39f ). Zu diesem Text von Lukács und der Problematik auch der Form s. den betreffenden Aufsatz von István M. Fehér in diesem Band. 38 Bei Kassner „schön sind auch die Momente des Augenschließens, wenn die wunderbar detailliert geschauten Dinge in die unendliche Tänzerreihe eines Märchensaalfrieses eintreten: noch leben sie, aber nur mehr als Symbole, als Dekorationen.“ Ebd., S. 54. Vgl. noch Despoix, Ethiken der Entzauberung, S. 155. S. 170.
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Lukács aus deren ornamentaler Verdopplung resultieren. Der das Kunstwerk von seiner Umwelt zu unterscheiden berufene ornamentale Effekt aktiviert zugleich auch den Unterschied von Medium und Form (die Dimension des „Möglichen“), aber als eine Form, die vermutlich die erste Unterscheidung in inverser Weise zu wiederholen, also gleichsam deren privativen Charakter zu kompensieren hat. Das Ornament als formgebende Rahmung, zugleich als Heimsuchung vom Chaos her in der potentiellen Zügellosigkeit der ornamentalen Formkombinationen (dabei hätte die Form genau dieses determinieren sollen) lässt die beiden Unterscheidungen gegenseitig ineinander wieder eintreten (der tautologische Effekt rührt möglicherweise von hier her). Das Unvollendete als das Ganze, „das Unerfüllte als das einzig Vollendete“ ist laut der Charakterisierung durch Popper und der Bemerkung von Jauß das „romantische Substrat“39 der Position von Lukács, das Ornament wurde seinerseits bekanntlich gerade in der Romantik aufgewertet im Zeichen des „Zügellose[n] von Arabesken/Grotesken und ihre[r] Nähe zum Chaos“.40 Laut Luhmann könnte sogar der Ironiebegriff der Theorie des Romans als „Nachfolgekandidat für Ornament“ dienen: „Ironie als ausgehaltene Tonart, in der das Auf und Ab der erzählten Ereignisse spielt.“41 Nun enthält aber das letztgenannte Werk von Lukács die implikationsreichsten Impulse zu einer produktiven Annäherung an das Problem der Differentialität von Medium und Form bzw. ihres Chiasmus. Der dem Roman zugehörige abstrakte Charakter, begriffliche Aspekt bricht in dieser Abhandlung von Lukács gerade den Schein der Organizität auf, indem „die relative Selbständigkeit der Teile“ im Roman trotz „ihrer Gebundenheit an das Ganze“ niemals die Härte ihres abstrakten Auf-sich-Gestelltseins verlieren können und ihre Beziehung zur Totalität eine zwar dem Organischen möglichst angenäherte, aber doch immer wieder aufgehobene begriffliche Beziehung ist und keine echtgeborene Organik […] Die Strukturdifferenz, in der diese im Grunde begriffliche Pseudoorganik des Ro-
39 Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, S. 292. Zum romantischen Hintergrund bei Lukács s. Eagleton, Ästhetik, S. 333–336. Die „Lehre vom Realismus“ von Lukács sei „eine dialektisch gefaßte Version der romantischen Ideologie des Symbols.“ Ebd., S. 334. 40 Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 357. 41 Ebd., S. 359. Vgl. hierzu die Bemerkung Paul de Mans: „The ironic language of the novel mediates between experience and desire, and unites ideal and real within the complex paradox of the form.“ Paul de Man, Georg Lukács’s Theory of the Novel, in: ders., Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of the Contemporary Criticism, Minneapolis ²1983, S. 51–59, hier S. 56.
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manstoffes zum Ausdruck kommt, ist die zwischen einer homogen-organischen Stetigkeit und einem heterogen-kontingenten Diskretum.42
Diese Differenz bedeutet auch nicht unbedingt nur ein „Paradoxon“, insofern sie die ironische Sprache des Romans zu einem Medium transformiert, das aufgrund von vorgängigen Formprinzipien nicht zu totalisieren ist, vielmehr macht als eine „begriffliche Pseudoorganik“, der „immer wieder enthüllte Schein der Organik“ die vermeintliche Organizität lesbar (auch als Ornament). Zugleich kann besagte Differenz mit der Aufrechterhaltung des Moments des „als ob“ auch den vermeintlich intentionalen Beweggrund der Fiktion relativieren. Die Ironie ergibt sich in dieser doppelten Unmöglichkeit als eine Art Null,43 also nicht als Form, die die Unbeobachtbarkeit des Mediums kompensieren würde, vielmehr jene radikalisierend. Die Überlegungen von Lukács können zu solchen, freilich nicht allzu oft formulierten Folgerungen Anlass bieten – dennoch widersetzt er sich selbst seiner eigenen Einsicht in den späteren, abschließenden Teilen seiner Schrift, den immanenten Mangel des Romans mit der für substantiell ernannten Kategorie der „Zeit“ sublimierend und ihn in eine geschichtsphilosophische Vision überführend.
System, Medialität und „plastische Kraft“ (Zalai) Zur Behandlung bestimmter Fragen der Systemtheorie von Béla Zalai könnte man auf die Antriebe des Systembegriffes hinweisen, die auch im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind. Laut dem Handbuchartikel von Dirk Baecker bezieht der Systembegriff seine Faszination von Anfang an […] aus der Idee, die Elemente und Operationen eines Phänomens nicht aus den substantiellen Eigenschaften dieser Elemente und Operationen, sondern aus den Gesamtsystemeigenschaften heraus zu erklären, zu denen diese Elemente und Operationen in einen Bezug zu setzen sind.
System wäre demnach „nicht bloß“ „die Addition seiner Elemente und Relationen und auch nur“ ein „Ordnungsbegriff für die Beschreibungen des Beobachters, 42 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, S. 69. 43 S. dazu die Beschreibung Derridas zum Parergon, die sich auf das Ornament bezieht: „Der parergonale Rahmen hebt sich seinerseits vor zwei Hintergründen ab, aber in Bezug auf jeden dieser beiden Hintergründe. […] Es gibt immer eine Form vor einem Hintergrund, aber das Parergon ist eine Form, deren traditionelle Bestimmung es ist, sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick zu zerfließen, wo es seine größte Energie entfaltet.“ Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1988, S. 82.
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sondern“ „als eine intervenierende Variable“ aufzufassen, „ohne deren Operation von Elementen und Relationen und auch von Beschreibungen keine Rede sein könnte.“ Im Endeffekt ist „das System als eine Differenz zu verstehen, die Schließung und Öffnung beziehungsweise Isolation und Reflexion zugleich leistet.“44 Ferner sollte man erwähnen: die moderne Systemtheorie rührt von einer horizontalen Struktur her, die Systeme nämlich können hier nicht mehr in vertikaler Weise geordnet werden (z. B. eine Hierarchie implizierend). Hinter dieser Struktur wirken sowohl episteme- und denkgeschichtliche Prozesse (die Relativierung der Figuren des metaphysischen Weltganzen, ihrer teleologischen Muster) als auch sozialhistorische Vorgänge (die zunehmende Auflösung der ständisch-stratifikatorischen Gesellschaftsordnung). Nicht zuletzt lässt die Betonung der vermittlungsbedingten Seinsweise der Systeme auch die nachdrücklich mitteleuropäischen Dilemmata der kulturellen Vermittlung im Hintergrund des Systemkomplexes vermuten: im Zusammenhang der mehrsprachigen, multi- und interkulturellen Welten der k. u. k.-Monarchie. Die auch nur skizzenhafte Darstellung dieser Hintergründe würde aber den Rahmen dieser Studie sprengen. Die Zielsetzung der folgenden Analyse besteht im Wesentlichen darin, die medialitätstheoretischen Implikationen von Zalais Denken aufzuzeigen. Im Grunde kann man nämlich aufgrund der Systemtheorie von Zalai zeigen, dass Medium und Form von einer Art Systemprinzip oder -funktionieren her „konstruiert werden“, „sie setzen also immer eine Systemreferenz voraus.“45 Sein und Denken, Objekt und Subjekt, Materie und Form, Sein und Gelten – ihr Verhältnis ist bei Zalai nur durch Vermittlung von Systemen gegeben, und nicht etwa durch Bewusstseinsakte (das ist ein anti-cartesianisches Motiv bei ihm). Die denk- und wirkungsgeschichtlichen Motivationen von Zalais Systembegriff sind mehrschichtig, öfters negativer Einfärbung, was auf den transitorischen Charakter seiner Denkversuche aufmerksam machen kann. Damit steht im Zusammenhang, dass sich Zalai mit mehreren philosophischen Denktraditionen auseinandersetzt bzw. von ihnen inspirieren lässt. Seine grundlegende Intuition richtet sich auf die Selbständigkeit und Konkretion des „Systems“, welches Postulat die Theorie des transzendentalen Apriorismus (die von Kant vererbt wurde und im Neokantianismus zum Dogma erstarrte), aber auch die Dominanz der logischen Erkenntnistheorie in Bezug auf das Verstehen der Komplexe von Sinn und Bedeutung bestreitet. Zalai reklamiert für das System als Phänomen und Begriff eine eigene Positivität, die jene über den Bereich der aprioristischen oder transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit auch hinausgehen
44 Dirk Baecker, System, in: Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2004, 392, 395, 396. 45 Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 166.
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lässt.46 Damit wird die Eigenständigkeit, zugleich die Kontingenz des „Systems“ betont, insofern es von der metaphysischen Instanz einer höheren Autorität losgelöst wird,47 denn diese würde das System-Sein, seine konkrete Seinsweise, Geschlossenheit, seinen selbsterhaltenden und selbstorganisierenden Charakter aufheben. Das „System“ als Denkmotiv oder Begriff stellt von vornherein den Signifikanten oder die Chiffre gleichsam der Epoché (Geltungsaufhebung) der apriorischen, transzendentalen Bedingungen oder Instanzen dar. Sogar lässt sich an einem Punkt die Wirkung des Perspektivismus von Nietzsche im Postulieren des Systembegriffes entdecken,48 was im Zusammenhang steht zugleich mit der Kritik am Subjektivismus (die freilich grundsätzlich von Hegel stammt),49 welche Kritik ebenfalls eine wichtige Motivation des Systembegriffes ist (die Perspektive bei Nietzsche bedeutet mitnichten eine subjektive Ausrichtung, vielmehr eine jegliche Subjektivität konditionierende Seinsweise). Diese letzte Parallele mit dem Gedanken des Perspektivismus kann aus der Sicht der vorliegenden Arbeit einen plausiblen wie interessanten Ausgangspunkt der „allgemeinen Theorie der Systeme“ darstellen, indem sie die Systemfrage mit dem Problemkomplex der Interpretation verbinden kann.50 Zu Beginn seines Werkes stellte Zalai nämlich fest, dass das Systemische im Verstehen selbst wirkt, dieses selbst im Medium des Sinns Systemcharakter aufweist, also dass das System eine Folge von Interpretationsprozessen darstellt. Über das System selbst formuliert Zalai Charakteristiken, die dessen Systemcharakter hervorheben. Das „Prinzip eines Systems“ wird in den Vordergrund gestellt, im Vergleich zu diesem ist das Moment des Geordnetseins, der Konstruk46 47 48 49
ATS, S. 58. Ebd., S. 27, 53. Ebd., S. 69. Vgl. Ebd., S. 75. Die Abhandlung hat das Verwerfen des Psychologismus zum Ausgangspunkt und stellt die Kategorie der Intentionalität in den Vordergrund, vgl. ebd., S. 18. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass Zalai bereits in seiner früheren Studie „A realitásfogalom típusairól“ [Zu den Typen des Realitätsbegriffes] 1911 klargemacht hat: „Die Intention ist identisch in jedem sich auf das Absolute ausrichtenden Systeme, jedoch lässt sich diese Intention selbst nicht in absoluter Weise (also in völlig unabhängiger Setzung), sondern nur als Systemelement interpretiert werden.“ Béla Zalai, A realitásfogalom típusairól, in: ders., A rendszerek általános elmélete, Budapest 1984, hier S. 141. 50 Genau das hat Béla Fogarasi, ein weiteres Mitglied des Kreises um Lukács und Zalai, versucht, in seinen Untersuchungen zu einer Theorie der Interpretation, die aber zeitlebens nicht publiziert worden sind (erst im Band Parallele und Divergenz. Ausgewählte Schriften, Budapest 1988, S. 63–98). Fogarasi hat u. a. auf den Systemcharakter des interpretierten Sinns und des hermeneutischen Zirkels hingewiesen (ebd., S. 87f ). Vgl. noch Laube, Karl Mannheim, S. 369f, 417, 429f. (Zu Fogarasi s. noch den Beitrag von Ágnes Hansági in diesem Band.)
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tion, von sekundärer Bedeutung in Hinsicht auf das Funktionieren des Systems, und ist der morphologischen Strukturiertheit im Sinne von „Ordnung“ vorgängig.51 Dieses Prinzip des Systems stellt die Instanz des „Sinns“ dar, die „das Konstruktionsprinzip der Wirklichkeit dieses Systems“ ist. Das andere wichtige Charakteristikum des Systems ist seine Grenze(n), sein konkreter, historischer Aspekt.52 Die Selbstständigkeit des Systems bedeutet demnach kein bloß gegenständliches Sein, sondern seinen Aspekt des Entstandenseins, im Sinne des Hervorbringens durch das Prinzip des Systems. Also macht die Integrativität das System zu einem systemischen, nicht bloß strukturellen Zusammenhang: „Systeme können sich nur (im Ganzen) in ihrer Ganzheit ändern“.53 Die Betonung des integralen Aspekts der Veränderung ist wichtig, das zeigt nämlich die Temporalität der Systeme, also nicht nur ihre räumlichen, sondern auch – könnte man dem hinzufügen – zeitlichen Grenzen, an.54 Damit ist das System nicht nur oder nicht in erster Linie von einer Gestalt oder Konstruktion bedingt, sondern von einem Wirken, einer Kraft, zugleich ist das System auch Vermittlung, ein vermittelndes Medium.55 Und zwar aus dem Grund, dass das System sich einerseits grundsätzlich abgrenzt von seiner Umwelt und von anderen Systemen, somit jegliche Realität nur durch die Vermittlung des Systems für dieses eine Referenz oder Relevanz erhält, die daher einen systemischen Index an sich tragen.56 Andererseits öffnet sich das System auch auf seine Umwelt bzw. andere Systeme, trachtet danach, über sich selbst hinauszugehen. Das Außersystemische wäre die andere Seite der systemischen Unterscheidung, zugleich aber gekoppelt an die Kraft des Systems selbst – das ist möglicher51 ATS, S. 60. 52 Ebd., S. 30. Im Sinne von Luhmann wird das System grundsätzlich von Grenzen markiert, im Gegensatz zur Struktur. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 52. 53 ATS, S. 69. 54 Die Temporalisierung des Systemkonzeptes wird bekanntlich von Hegel auf den Punkt gebracht, im Gegenzug zur frühen Neuzeit, wo es „primär […] eine Figur des Raumes“ darstellte – im Zeichen der „Entwicklung“, aber auch über System als „eine regulative Idee der Vernunft“ bei Kant hinaus (vgl. Manfred Riedel, System, Struktur, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck [Hg.], Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990 S. 285–322, hier S. 308, 312). Um 1900 wird das Systemische im Zuge der Lebensphilosophien eher vom „Leben“, von einem „Werden“, bei Zalai gar von einer „Kraft“ her bestimmt (zum temporalen, „diachronen“ Aspekt der Systeme bei Zalai vgl. Barry Smith, Béla Zalai und die Metaphysik des reinen Seins, in: Brentano Studien 5 [1994], S. 59–68, hier S. 66). 55 Die Wirklichkeit „hat eine Struktur, welche sie nur mit dem ganzen System konfrontiert; den im System wirkenden einzelnen Begriffen steht sie nur indirekt, durch Vermittlung des Systems gegenüber.“ ATS, S. 28. 56 Vgl. etwa ebd., S. 28. (resp. S. 61), hier die „Wirklichkeit“ „kommt nach dem Systeme“, zugleich nennt Zalai die „Kohärenz“ des Systems hier „restlos“ und „vollkommen“, was freilich in Widerspruch geraten kann zum anderswo betonten Prinzip der Kontingenz.
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weise ein weiteres nietzscheanisches Motiv bei Zalai, im Sinne der Ablehnung der Selbsterhaltungskonzeptes, also im Zeichen eines vitalistischen Überflusses, der nicht auf die Funktion der Abgrenzung zu beschränken ist. Zugleich resultiert dieser Drang zur Selbstüberschreitung auch aus einem Ungenügen, aus einem internen Mangel der Systeme – vielleicht im Sinne des Perspektivismus, noch mehr aber aus der Tatsache der Vermittlung, dass sie Mittelbarkeiten, Grenzen erzeugt (die aber zwei Seiten haben, auch zu anderen Medien hin, zwischen denen jedoch bestimmte Interaktionen ablaufen, also auch medialisiert werden). (Der erste Punkt wurde von Zalai in seinem früheren Aufsatz stark betont,57 er tritt jedoch, wenn ich das richtig sehe, im Hauptwerk markant zurück bzw. wird umformuliert.58 Über die Gründe hierfür kann man nur spekulieren: eine Möglichkeit wäre, dass Zalai damit durchaus die geschichtsphilosophische Versuchung eines Lukács vermeiden wollte. Das heißt, das System „in seiner Fertigkeit unfertig“ zu denken
57 Es handelt sich um den Aufsatz A filozófiai rendszerezés problémája [Das Problem der philosophischen Systematisierung], erschienen in der Zeitschrift A Szellem [Der Geist], 1911/2. 159–186. Hier hält Zalai fest: „die Systeme selber sind unzureichend, sie erreichen sich selbst nicht, ihre eigene immanente Kraft zwingt sie zur Überschreitung ihrer selbst, diese Transzendenz aber fällt nicht in den Rahmen des Systems …“ „… das Postulat bringt das System zustande; wenn das System das Postulat erfüllt, dieses hört auf und wenn das Postulat aufhört, so hört das System auf; solange das System besteht, besteht auch das Postulat, und während das Postulat besteht, bleibt das System unerfüllt, kann also das Postulat nicht erfüllen; das, was das Postulat erfüllt, sprengt die Rahmen des Systems.“ „Um sich selbst überflüssig zu machen, muss das System sich selbst zu seiner höchsten Potenz steigern. In der Formeinheit lebt also der Gegensatz der höchsten Intensität, d.h. der höchsten Bejahung und vollkommenen Negation des Systems. Diese Gegensätzlichkeit und deren Verschärfung mit der Steigerung der Intensität des Systems – dieses Erlebnis ist der erste Garant unserer Nähe zum Übersystemischen.“ (Zalai, A rendszerek általános elmélete, S. 210, 216, 219f ) Ein echtes „double-bind“ also, streng aus dem Systemischen heraus gedacht und weniger mit Blick auf außersystemische Verheißungen (wie das beim Spätromantiker Lukács der Fall war, s. noch Fußnote 38). Diese Verdopplung nennt Zalai auch „Symbol“ als einen „Mimus“ als „Tat“ und nicht als „Hinzeigen“, „Zeichen“, „Sinnbild“ (ebd., S. 220–223), das letztlich „die Sehnsucht auslöscht“ (vgl. noch Laube, Karl Mannheim, S. 380). Auch an dieser Stelle sieht man übrigens, wie flexibel sich das Modell von Zalai für interpretationstheoretische Zusammenhänge im hermeneutischen Sinne erweist: die Selbstaufhebung des Systems könnte mit dem hermeneutischen Konzept des Zurücktretens des Interpreten analogisch verstanden werden (vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, Text und Interpretation, in: ders., Gesammelte Werke 2, Tübingen 1986, S. 356). Davor oder dadurch soll aber – kein nebensächlicher Umstand – die „Steigerung der Intensität“ der Interpretation erreicht werden! 58 Relativ zu Beginn der Abhandlung schreibt Zalai, dass „gewisse intersystematische Konstruktionen“ „ein gewisses ausser dem System-sein ergeben“ (ATS, S. 30). Eine solche intersystematische Vermittlung werden wir weiter unten am Beispiel des Verhältnisses von Sprache und Geste, überhaupt von Sprache und Handlung, analysieren.
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und dadurch geschichtsphilosophische Totalisierungswünsche zu bedienen. 59 Die Selbstüberschreitung des Systems hingegen auf nietzscheanischen Grundlagen zu denken, hätte Zalai vor geschichtsphilosophischen Versuchungen durchaus bewahren können – sein früher Tod lässt aber auch diese Frage letztlich unbeantwortet. Allerdings wird bei Zalai das Außersystemische in strenger Korrelation mit dem Systemischen gedacht – und nicht als dessen Negation und geschichtsphilosophische Überwindung, wie bei Lukács.) Der Hauptausgangspunkt bzw. das epistemologische Interesse von Zalai richten sich einerseits auf die Erkenntnistheorie, die Erkenntnis als Systematisierung, andererseits auf deren logische Aspekte als System. Die Kartographierung dieses Projekts kann hier zum einen aus Kompetenzgründen nicht unternommen werden, zum anderen ist Zalais als Manuskript verbliebenes Werk nach meinem Empfinden in bedeutendem Maße eine Arbeit aus der Werkstatt, mit Eigenschaften des experimentalen Stadiums. Mehrere terminologische Unebenheiten, sogar Widersprüche sind in dem 140 Seiten umfassenden Text zu beobachten, was auch aus der parallelen Behandlung verschiedener Gedankensysteme, Methoden und Begrifflichkeiten resultiert. Freilich zögert Zalai auch in grundlegenden Fragen bzw. modifiziert den eigenen Standpunkt im Voranschreiten seines Gedankengangs. Die grundsätzliche Intuition der Systemfrage wird aber im Text ziemlich konsequent verfolgt, auch wenn nicht an jedem Punkt seine inspirierende Analyse oder zumindest punktuelle Charakterisierung entfaltet wird. Im Weiteren müssen wir uns deshalb auf die Untersuchung eines einzigen Aspekts beschränken, dieser ist das Problem der vom Systemgedanken implizierten Vermittlung, man könnte auch sagen, die Frage nach der Medialität der (wechselseitigen) Beziehung zwischen System und bestimmten vorsystemischen bzw. systemtranszendenten Bereichen. Bevor man meinen würde, hier komme ein partikuläres, um nicht zu sagen „modisches“ Interesse zu Wort, muss man sich bewusst machen, dass diese Frage den systematischen denkgeschichtlichen Ort von Zalais Werk in kardinaler Weise berührt. Der Gedanke der Selbstständigkeit der Systeme folgt offensichtlich der kantischen Idee der Autonomie der verschiedenen Seinssphären, z. B. ihrer wechselseitigen Unableitbarkeit, und übersetzt sie gleichsam in eine systemtheoretische Terminologie. Darüber hinaus tut er aber auch mehr (darauf wurde weiter oben skizzenhaft hingewiesen mit der Aufzählung möglicher Auslösungsfaktoren der Systemfrage), und genau hier erhält das System als Vermittlungsaktant, zugleich vermittlungsbedingte Entität, seine Bedeutung gegenüber dem Ereignis der Vermittlung, das die formale 59 Im Sinne von Poppers Dialog über Kunst, der ein Gespräch zwischen Popper und Lukács inszeniert. Vgl. Jauß’ Zusammenfassung und Auswertung des Dialogs: Jauß, Ästhetische Erfahrung, S. 675–678. Für Lukács ist „das Kunstwerk in der Fertigkeit unfertig, denn ,es bringt das Zeitliche zum Ewigen in Beziehung‘“, „öffnet sich ins ,Transzendentale‘“ (ebd., S. 678).
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Autonomie der Systeme, die etwas tautologische Behauptung ihrer „Ipseität“ auch problematisiert. Dieser Vermittlungsgedanke kann durchaus auch einem hegelianischen Einfluss bei Zalai zugeschrieben werden, gleichzeitig steht er in Verbindung mit bestimmten denkgeschichtlichen, epistemischen, kulturellen Tendenzen der Moderne und deren einzelnen zeitgenössischen Strömungen. Im Endeffekt steht die Überwindung bestimmter substanzdualistisch geprägter Denkreflexe und -schemata (z. B. der Opposition von Subjekt und Objekt) im denkerischen Unternehmen von Zalai auf dem Spiel. Zuerst tut man aber möglicherweise gut daran, die temporalen Bezüge des radikal systemischen Korrelationsfeldes vom System zu erwähnen. Die systemische Emergenz des Systems, die systemgebundene Manifestation der „Erkennbarkeit“ selber als solcher60 findet aus einer Nachträglichkeit statt, und zwar in Bezug auf das materielle Sein der erlebnishaften Materie: „… der Inhalt, der sich uns soeben als vom Gegenstand unabhängig gezeigt hatte, ein rekonstruiertes Gebilde ist …“.61 „Materie“ erscheint in Zalais Diskurs an diesem Punkt nur noch in Anführungszeichen, als geformte Materie, wo man vor das Formmoment nicht mehr zurückkehren kann und also die Materie an diesem Punkt gleichsam die Züge des kantischen „Ding an sich“ annimmt: „’Materie’ ist nirgends sichtbar; wohin wir uns wenden, es ist nicht sie, die wir ergreifen; d.i. immer ist sie da, überall, auf dem Grunde; doch immer ist sie geformt, und immer ist eben diese ihre Form, die wir ergreifen, verstehen, anwenden können“. Im Späteren führt Zalai den Begriff der „Materie-Analyse“ ein, wobei hier die Sprache eine ausgezeichnete Rolle spielen wird (dazu später). Diese Nachträglichkeit besitzt eine epistemologische Funktion auch in dem Sinne, dass „der neue Gesichtspunkt eine systembildende Kraft in sich tragen [muss]“62, damit er eine synthetisierende Wirkung ausüben kann, zugleich ist diese Kraft aber die Kraft des Systems selber, also nicht zu teilen oder zu isolieren: „[D]ies fremde Moment, das die Bedeutung und den Sinn hatte, sich zum Prinzip eines Systems zu entwickeln, der Begriff des Systems selber war“.63 Eine Art Zirkularität kennzeichnet dieses Verhältnis, wo „die Betrachtung aus dem allgemeinen
60 ATS, S. 30. 61 Ebd., S. 55. 62 Ebd, S. 65. Vgl. Bacsós Feststellung: „Für Zalai ist nicht die einfache Transparenz der Formphänomene, eine Art ideelle Bedeutungserwartung die Frage, sondern die Systemintegration dieser Formphänomene wird zur Frage, dadurch antwortet er auf die Frage der Bedeutungstransparenz.“ Bacsó, A válasz metafizikája, S. 901. Auf den Begriff „Kraft“ (der auch in anderem Zusammenhang vorkommt) müssen wir später noch zurückkommen (in der Nähe zu Nietzsche), hier genügt die Feststellung, dass in den Diskurs von Zalai an dieser Stelle lebensphilosophische Elemente hineinwirken. 63 ATS, S. 65.
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Gesichtspunkte des ,Systems‘“ „in ein System der Betrachtung mündet.“64 In diesem Chiasmus kann die innersystemische Tätigkeit (Erkennen usw.) gewissermaßen zur Selbstbeschreibung des Systems werden, das System produziert im eigenen Operieren seine eigene Beobachtung. An diesem Punkt steht die Theorie von Zalai also offen für den Gedanken der selbstreproduzierenden Systeme, deren Kriterium u. a. genau in der Selbstbeobachtung bzw. -beschreibung besteht.65 Zugleich kann sie über das biologische Modell der autopoietischen Systeme auch hinausgehen, und zwar im Hinblick auf die Selbstüberschreitung, die „Transzendenz“ des Systems. Im Sinne von Nietzsche, für den die Selbsterhaltung bekanntlich nur eine Funktion des Kraftüberflusses des Lebendigen darstellt. Die Untersuchungen von Zalai verfolgen zwar grundlegend epistemologische, enger gefasst logische Interessen, wo die Erkennbarkeit der Realität mit der Reflexion des Status, der Seinsweise des „Denkbaren“ als solchen verschränkt wird. Der Ausgangspunkt ist jedoch deren Vermittlung, sogar Konstitution durch das System, also mit Luhmann gesprochen die Operationalisierung der Differenz von System und seiner Umwelt. Hier finden sich längere Analysen z. B. über die Rolle, Gestaltung, Formierung der „Materie“ im systemischen Erkennen, welche Behandlungen die Differenz von System und Umwelt (z. B. „Realität“) auf der Seite der innersystemischen Form der Materie wiederholen, sie also als eine gleichsam interne Unterscheidung in die systemische Dimension wiedereintreten lassen. Hier wird für den vorliegenden Ansatz relevant (aufgrund der luhmannschen theoretischen Zusammenhänge), wie denn diese interne Unterscheidung die Differenz von Medium und Form reproduziert oder wie sie auf diese zurückverweist. Die Argumentation von Zalai berührt ziemlich oft mediale Zusammenhänge auch in expliziter Weise, folglich kann mit genügendem Grund postuliert werden, dass hinter der Unterscheidung System/Umwelt die Differenz von Medium und Form operiert, auch wenn diese nicht identisch sind, insofern das System auf konventionelle Weise operiert und funktioniert, als solches identifizierbar ist, während die Produktion der Form Kontingenz bzw. Gelingen voraussetzt.66 Im Folgenden müssen jene thematischen Punkte der Abhandlung skizzenhaft behandelt werden, die die Differenz 64 Ebd., S. 66. 65 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 64. 66 Vgl. mit der Arbeit von Hajnalka Halász, die eine originelle und konsequente, aber auch kritische Luhmann-Exegese anbietet, die zugleich zentrale Unterscheidungen von Luhmann in eine sprachtheoretische, vor allem dekonstruktive Perspektive versetzt: Hajnalka Halász, Medien zwischen Latenz und Symbol. Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann, in: Zoltán Kulcsár-Szabó/Csongor Lőrincz (Hg.), Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014, S. 215–256. Bacsó hat bereits in seinem Aufsatz von 1982 mehrmals auf Luhmann hingewiesen (Bacsó, A válasz metafizikája, S. 898, 904).
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von Medium und Form, ferner die mit ihr einhergehenden Implikationen berühren. Bei Lukács war zu sehen, dass die Unterscheidung von Materie („Leben“) und Form als ein binärer Code funktioniert, der dann sich in die Form selber einschreibend zu deren Widersprüchlichkeit, Unbestimmtheit führte. Bei Zalai lässt sich die Inspiration durch die Lebensphilosophie im auf Abstraktion basierenden Funktionieren der Begrifflichkeit selbst beobachten, indem er an einer relativ frühen Stelle seiner Abhandlung die Operation der Abstraktion als „plastische Kraft“ beschreibt. Dieser Ausdruck ist ein (von Zalai nicht gekennzeichnetes) Zitat aus der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ von Nietzsche (Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben), da war nämlich von „der plastischen Kraft des Lebens“, die vom „Uebermaass von Historie angegriffen“ wird, die Rede.67 Für Zalai geht die Abstraktion als plastische Kraft – eine Art präpropositionales Geschehen – gewissermaßen den logischen Operationen voraus bzw. bereitet diese vor, „sie steckt viel tiefer in der Materie, ist viel mehr eine plastische Kraft, als es die Beschaffenheit einer logischen Operation zulässt.“68 Diese plastische Kraft stellt eine Art Intuition dar, ferner – die „Materie“ auf die Sprache beziehend – gleichsam den „logischen Instinkt der Sprache“ (z. B. eine präreflexive Begriffsbildung), von dem Hegel in seiner Wissenschaft der Logik spricht.69 Wie bei Hegel, so geht auch hier eine bestimmte innere Tendenz der sprachlichen Materie dem logischen Moment zuvor. Die Abstraktion bedeutet laut Zalai auf der ersten Ebene also keine formalisierende Begriffsbildung oder reflexive logische Operation, sondern – nicht unähnlich zu Hegel – eine sprachliche Evidenz (z. B. der Benennung),70 eine Art Unterwegs-sein zum Begriff in der „Arbeit der Symbolisation“.71 Auch der latente, nicht-objekti67 Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 1, Berlin/New York 1988, S. 243–334, hier S. 329. 68 ATS, S. 45. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass auch bei Lukács in seiner Heidelberger Ästhetik das Wort „schmiegsam“ fällt, und zwar in Bezug auf das „Material“, auf sein Verhältnis zur Form (112). Letztlich ist „plastisch“ aber eine Eigenschaft des Materials bei Lukács, für Zalai stellt es aber primär eine Kraft dar, da es sich auf die Sprache und nicht auf eine Gegenständlichkeit bezieht. Ein weiteres Indiz dafür, dass im Gegensatz zu Lukács Zalai stark an der Medialität interessiert ist. 69 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (§ 459), Hamburg 1991, S. 370. 70 Vgl. ATS, S. 105. 71 Vgl. damit die Ausführungen Gadamers bezüglich des Ausdrucks „Instinkt“ bei Hegel: „Der Ausdruck ,Instinkt‘ […] meint offenbar die bewußtlose, aber unbeirrbare Tendenz auf ein Ziel hin, wie sie das tierische Verhalten oft geradezu zwanghaft erscheinen läßt. Denn das ist der Instinkt: Er tut auf unbewußte Weise und deshalb unbeirrbar all das, was man zur Erreichung eines Zieles mit Bewußtsein getan haben möchte. Mit der Rede vom logischen Instinkt der Sprache ist also die Richtung und der Gegenstand der Tendenz des Denkens
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vierbare Charakter dieser Kraft ist wichtig („sie steckt viel tiefer in der Materie“), ferner der Sachverhalt, dass Zalai in ihr keine transzendentale Bedingung der Möglichkeit erblickt, vielmehr eine Lebendigkeit und deren Wirkungszusammenhänge. Man muss zugleich auch darauf hinweisen, dass Zalai die Vorstellung dieser plastischen Kraft nicht mystifiziert, in einem den Lebensphilosophien zuweilen eigenen Jargon, dazu ist er viel zu sehr Kantianer, sondern dass es laut einer seiner betonten Voraussetzungen keine „reine“ Materie gibt; man kann die Materie immer schon überhaupt nur durch Formen setzen oder postulieren, sie gerät nicht als solche in den Horizont der Erfahrung oder der Erkenntnis.72 Auf der zweiten Ebene „entsteht“ die „aktive Abstraktion“ dadurch, dass die „zweite Arbeit der Symbolisation“ das „Erkenntnismoment“ „in eine, ihm ursprünglich fremde Materie einprägt, [ihm] eine (wenn auch uneigentliche) Form gibt.“73 Die Symbolisierung schöpft also aus der plastischen Kraft und stellt in diesem Sinne einen performativen Vorgang in der Wechselseitigkeit von Materie und Form (also im „Symbol“) dar: „… die Möglichkeiten der Wirklichkeit werden – nicht konkretisiert, nicht realisiert – sondern geschaffen durch die mittels der neuen Materie neue Formganze schaffenden Symbolisierungen.“74 Nicht nur die Vorstellung der Materie, auch der Möglichkeitsbegriff wird hier in markanter Weise verschoben. An späteren Punkten seiner Argumentation behandelt Zalai die Sprache und die Handlung jedoch ausdrücklich als Vorstadien der „philosophisch entwickelteren Formen“, ihre Bedeutung abwertend („ihre Wichtigkeit ist psychologischer und kulturhistorischer Natur“).75 Er betont dabei die Instrumentalität der Symbolisierung und der Sprache gegenüber der logischen Objektivität, und parallel dazu ist er bemüht, die „Gedankensinne“ gegenüber der Sprache sauber zu halten.76 Gleichzeitig – ein performativer Selbstwiderspruch – kommt er fortwährend auf das Problem der Symbolisierung zurück. „Symbol“ bezieht sich bei ihm auf die Wechselseitigkeit und Synchronie von Material und Form77 (wie auch bei Lukács in seiner Heidelberger Ästhetik, nur fehlt bei Zalai der negierend-sublimierende Impetus). Zalai schreibt seine Abhandlung zwar öfters als dogmatischer Hegelianer, dennoch sind auch in diesen Passagen markante Beobachtungen und Thesen, z. B. zur Inkommensurabilität der Dimensionen von Handlung und Sprache enthalten. Die Spra-
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auf ,das Logische‘ hin gemeint.“ Hans-Georg Gadamer, Die Idee der Hegelschen Logik, in: ders., Gesammelte Werke 3, Tübingen 1987, S. 65–86, hier S. 80. ATS, S. 41. Ebd., S. 105. Ebd., S. 108. Diesen „Tat“-Charakter der Symbolisierung hat bereits der frühere Aufsatz „A filozófiai rendszerezés problémája“ betont (s. Anm. 56). ATS, S. 90. Ebd., S. 128–136. Ebd., S. 108.
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che erscheint in Zalais Überlegungen im Wesentlichen als das auf die Handlung folgende Abgrenzungssystem oder symbolische Dispositiv, das zugleich von einer unüberschreitbaren Grenze von der Welt des Handelns getrennt wird: Von diesem Standpunkt aus ist die Sprache, obwohl sie psychologisch und auch dem Sinne nach eine Handlung ist, den vorsprachlichen Handlungen fremd und völlig inkomparabel. Gewiss, sie ist eine Handlung, und zwar eine besondere Art von Handlung, die mit einem gewissen Recht Symbolhandlung genannt werden könnte […] die eine ist auf die andere nicht (abbildbar) übertragbar […] beide sind für einander inkommensurabel […] Nicht die verschiedene Vollkommenheit der Vermittlung ist die Ursache, sondern die radikale Verschiedenheit der Vermittlung. Es ist eine Abbildung der Pantomime in der Wortsprache oder umgekehrt absolut unmöglich; höchstens ein Transponieren.78
Auch hier ist die Assoziation auf Nietzsche, näherhin auf den Verfasser des Aufsatzes mit dem Titel Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, berechtigt, laut dem zwischen „Nervenreiz“, „Bild“ und „Laut“ nur „Übertragungen“ vermitteln können.79 Diese Pantomime wird im Text von Zalai als eine Art Stummfilm inszeniert, in dem die Sprache nur in der völligen Abwesenheit des Bildes kommunizieren kann, oder anders: Sie kann für die Bildlichkeit keine Verantwortung übernehmen (im Sinne eines romantischen Universalmediums), letztere kann in die Sprache als symbolisches und akustisches Medium nicht übertragen werden.80 Aber auch die Geste kann – als Form – die Sprache nicht als ihren eigenen Hintergrund benutzen. Also schreibt sich eine interne Differenz in die Sprache ein, als Differenz von Medium und Form, die die Grenze wiederholt, die die Sprache von anderen Systemen trennt. Damit ist nicht mehr einfach von der Beziehung zweier vermeintlich getrennt identifizierbarer Medien die Rede, vielmehr von der inter78 Ebd., S. 94. 79 Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn, in: ders., KSA 1, S. 873–890, hier S. 884. Kittler schlägt bekanntlich genau den Ausdruck „Transposition“ für den oder anstelle des „Übertragen“-Begriffes von Nietzsche vor. Vgl. Kittler, Aufschreibesysteme, S. 236, 335. 80 Das hat selbstverständlich auch soziologische und mediale Hintergründe um 1900, vgl. nochmal das Zitat aus Benjamin (Anm. 28): „In einer glücklichen Formulierung hat Simmel festgehalten: ’Wer sieht, ohne zu hören, ist viel … beunruhigter als wer hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die Soziologie der Großstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Großstädten … zeichnen sich durch ein ausgesprochenes Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus.“ Nach der Logik der medialen Wahrnehmung bei Baudelaire und Benjamin und ihren allegorischen Intentionen bedeutet das „Bild“ die Veränderlichkeit und Lesbarkeit der medialen Konstellationen der Moderne: „Das, wovon man weiß, daß man es bald nicht mehr vor sich haben wird, das wird Bild.“ (Benjamin, Paris, S. 539f, 590)
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nen Differenz des einzelnen Mediums selbst, hier: der Sprache. Wenn die Sprache Handlung ist, aber nicht in deren ursprünglichem Sinne („… die Sprache selbst ist auch eine Handlung; und dennoch ist die Sprache eine ursprüngliche Organisation, denn in ihr ist die Handlung – zwar vorhanden – aber nicht als Handlung bestimmt“),81 dann wiederholt die Sprache gleichsam ihren eigenen Ursprung in den in ihr transponierten Formen der „Handlung“. Eine nicht-identische, nicht-ursprüngliche Handlung – bedingt von einer „plastischen Kraft“ (die Bewegungen der Pantomime können die Plastizität konnotieren)82 – als Form wird in der Sprache als anderem Medium wiederholt, zugleich aber von einer unsichtbaren, nicht-beobachtbaren Differenz oder Grenze markiert (auf der Ebene des Beispiels: im Sinne der Unterscheidung zwischen der Pantomime und des Bereiches jenseits dessen – plot, Bedeutung usw. – als einer sich selbst entziehenden Differenz). Auf diese Grenze zeigen die Transpositionen selber in einer indirekten Weise (und verlegen die Grenze immer woanders hin). Wenn es sich denn um Handlung handelt, dann – und hier gehen wir über Zalais Horizont hinaus – könnte man sagen, das Wesen der Sprache sei in einem bestimmten Sinne zwar Handlung, diese aber erscheint in ihr nicht in der Form eines Aktes, vielmehr impliziert sie eine gewisse Stummheit (metaphorisch gesprochen: eine Pantomimhaftigkeit), sogar: ein (aktivisch verstandenes) Schweigen ebendieser Sprache, im Sinne von Nietzsche: „Wenn ein Versprechen gemacht wird, so ist es nicht das Wort, welches verspricht, sondern das Unausgesprochene hinter dem Worte.“83 Eine latente Grenze also, die – und hier verlassen wir nun den Horizont von Luhmann – nicht zum Objekt einer externen Beobachtung gemacht werden kann, sie wird also vielmehr von der Seinsweise des „Unmöglichen“ (Derrida) gekennzeichnet. Gleichwohl verändert genau diese latente Grenze oder Differenz die Sprache des Versprechens zum Medium, dieses gibt es nicht als solches vor diesem – sich selbst auch entziehenden – Versprechenscharakter. Diese innere Differenz oder Grenze der Sprache zieht sich in eine Latenz zurück, die darauf hinweisen kann, dass diese Differenz nicht mehr die (Wiederholung der) Differenz zwischen Sprache und Handlung darstellt, sondern eine Differenz meint vor allen in der Sprache (als Form) repräsentierbaren oder beobachtbaren Unterschieden. Die sprachliche Medialität verweist damit auf unhintergehbare Weise auf ein nicht-identisches Medium. Diese Differenz als Widerstand schreibt die potentielle Stummheit oder ein Schweigen in die Sprache ein – als deren andere Seite oder Jenseits (keinen Punkt jenseits einer bestimm81 ATS, S. 133. 82 Vor allem spricht Zalai unmittelbar vor dem zitierten Abschnitt von der „Plastizität des Stoffes“, dieser „hört auf, ein blosser Widerstand zu sein; er ist gestaltungsfähig geworden, und diesen Reichtum, diese Gestaltungsfähigkeit gewinnt er zuerst in der Sprache.“ ATS, S. 93. 83 Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: ders., KSA 3, S. 9–331, hier S. 239.
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ten Grenze, auf den das Versprechen „verweisen“ würde, vielmehr die andere Seite des Versprechenscharakters als einer sprachlichen Bewegung oder Kraft). Das lässt sich folglich auch mit dem Begriff des „Paradoxon“ von Luhmann nicht mehr erfassen, können aus systemtheoretischer Sicht ja nur die konventionellen Operationen der Determinierung des Versprechens als Versprechen beschrieben werden. Die Theorie der Sprachperformativität kann sich an keinen Handlungsbegriff aus der Welt der Empirie anlehnen, sie kann gleichwohl auch auf sprachlicher Ebene die Handlung nicht repräsentieren (sie als Form setzen), diese entzieht sich nämlich den akustischen, morphologischen und anderen phänomenalen Eigenschaften der Sprache. Aus diesem Grund gibt es auch das Missverständnis, eine grundlegende Kategorie beim frühen Lukács, die er von Leo Popper übernommen hat. Lukács artikuliert dieses Konzept des Missverständnisses vor einem kantianisierenden Horizont, als „the mutual untranslatability of the languages of science, art, and everyday conversation“.84 Das Versprechen selbst wird aber totalisiert vom Utopisten Lukács, für dieses gilt diese Unübersetzbarkeit nicht, folglich missversteht er letztlich das „Missverständnis“ (von Popper). Mit Nietzsche und Zalai lässt sich aber gerade die Nicht-totalisierbarkeit eines Versprechens begreiflich machen.85 Die Grenze zwischen Handlung und Sprache war für Zalai keine starre Demarkationslinie, sondern hat sich in die Sprache selbst transponiert. In diesem Sinne ist das „Unausgesprochene hinter dem Worte“ nicht einfach eine Potentialität, eine „Möglichkeit“ – an diesem Punkt berühren sich in impliziter Weise die Problematisierung des Handlungsbegriffs in der Sprache mit der Relativierung des Möglichkeitskonzeptes bei Zalai. Etwas später rückt das Beispiel der Sprache in eine interessante Position in der Abhandlung: „in der Sprache […] hört erst die Materie auf, ein blosser Widerstand für die Form zu sein.“86 Zalai wird hier expressis verbis mit dem Dilemma konfrontiert, ob er im Verhältnis der Sprache zu behandelnde Materie auf der seelisch-bewussten Ebene oder auf jener der „Worte, [der] Sätze selbst“ zu verorten habe. Die Unterscheidung von Materie und Form, Medium und Form in der Dimension der Sprache zu vollziehen, ist also kein eindeutiges Unterfangen. Laut Zalai ist „mit diesen beiden Faktoren aber die Materie der Sprache nicht genügend gekennzeichnet“, weil die Bewusstseinsfaktoren „ja keine Materie im Sinne der Naturwissenschaften sind, sondern sich in fortwährender eigener Bewegung befinden“, dennoch gibt ihnen nicht diese Bewegung eine Form, diese „kommt ihnen eben dadurch, 84 Anna Wessely, On Karl Mannheim’s Sociology of Knowledge, in: Jeff Bernard/János Kelemen (Hg.), Zeichen. Denken. Praxis (Österreichisch-ungarische Dokumente zur Philosophie 1), Wien 1990, S. 403–416, hier S. 407. 85 Später auch mit Hans Lipps, vgl. Bemerkungen über das Versprechen, in: ders., Die Verbindlichkeit der Sprache (= Werke IV), Frankfurt a. M. 1977, S. 97–106. 86 ATS, S. 98f.
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dass sie auf eine andere Materie appliziert werden, und die Form bringt natürlich wieder nicht diese neue Materie, sondern die Beziehung, nämlich die Symbolbeziehung.“87 Zalai kommt hier dem Prinzip von Saussure nah, laut dem gedankliche und sprachliche Artikulation im Wesentlichen zusammenfallen (nicht die eine wird der anderen hinzugefügt, vielmehr werden sie wechselseitig, entlang einer gemeinsamen Gliederung im Medium der anderen artikuliert).88 Die Form wird bei Zalai also in der Applikation (in einer Art Übersetzung?) hervorgebracht (im Zeichen der „plastischen Kraft“, könnte man sagen), also wird sie nicht materialisiert, aber auch nicht spiritualisiert (die „Beziehung“ ist wichtig, keine abstrakte Substanz) – dadurch erschafft sie das sprachliche Zeichen, das „Symbol“ als die Einheit einer Unterscheidung. Zalai lehnt jegliche Adäquationsvorstellung auch an diesem Punkte ab und fährt folgenderweise fort, nachdem er festgestellt hat, dass die symbolische Beziehung „eine wesentlich andere [ist], als jedwede Beziehung zwischen den Bewusstseinselementen“: Diese letztere besteht zwischen Gliedern, die trotz der grössten individuellen Unterschiede im Wesen gleich sind. Diese müssen aber jetzt durch wesentlich andere Elemente ausgedrückt werden. Was bedeutet aber dies? Der einfache Gedanke des Abbildens ist ja ein einfaches Verschweigen des Problems. Nicht das ist das Problem, dass hier ein a ist, dem dort ein ¢ entspricht, sondern das, dass die Bedeutung des a von einem anderen Ausgangspunkte erreicht wird …89
Bereits die stark räumliche Metaphorik der letzten Formulierung lässt indes vermuten, dass trotz des Applikationskonzepts und der Betonung der Relationalität Zalai dennoch an der Unterscheidung, sogar Trennung der Systeme von a und ¢ interessiert ist. In den folgenden Passagen behauptet er dann auch deren „radikal 87 Ebd., S. 99. 88 „Wir haben es somit weder mit einer Materialisierung der Gedanken noch mit einer Spiritualisierung der Lautungen zu tun, es handelt sich vielmehr um die irgendwie geheimnisvolle Erscheinung, daß der Bereich ,Denken–Lautung‘ Untergliederungen impliziert und die Sprache ihre Einheiten gewinnt, indem sie sich zwischen zwei amorphen Massen konstituiert.“ Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale. Studienausgabe in deutscher Sprache (hg. von Peter Wunderli), Tübingen 2014, S. 139. Vgl. noch mit der Beschreibung von Luhmann: „Erst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderzuhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren.“ Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 19. 89 ATS, S. 99. Vgl. die Kritik von Freud an jenen Methoden der Traumdeutung, die auf wörterbuchmäßigen Entsprechungscodes basieren (Sigmund Freud, Traumdeutung. Studienausgabe II, Frankfurt a. M. 1972, S. 125). Vgl. Kittler, Aufschreibesysteme, S. 344–350.
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verschiedene“ Seinsweise, zur Überraschung seiner Leser. Hinter dieser vergegenständlichenden Unterscheidung, sogar dogmatischen Trennung steht freilich jener Hierarchiezwang, der die logische Erkenntnis für die höchste Realisierung, sogar für das Ziel der Symbolisierung hält. Zalai hört indes nicht auf zu betonen, dass in jenem Komplex, den er beschrieben hat, „die rein logische Bedeutung nur ein Moment ist“. Die Relationen nämlich, von denen die Rede war, „sind aber viel mehr“, als jene Bedeutung, da die „Konkretion“ dieser Relationen ihre Bedeutung mitkonstituiert. Trotz aller intentionierten Reduktion steht das Beispiel der Sprache nach wie vor im Vordergrund der Ausführungen von Zalai. Er stellt die Frage, inwiefern denn der Begriff des „Systems“ auf die Sprache anzuwenden sei, einerseits diese Frage verneinend (die „hohe und intensive Art der Kohärenz, die ein System charakterisiert“ in der Sprache „noch garnicht vorhanden ist“;90 mit Luhmann gesprochen besteht die Sprache als Medium aus der Aggregation „loser Kopplungen“), andererseits feststellend, dass doch „etwas Systemartiges vorhanden“ sei in der Sprache, und zwar in der „Tatsache der Sprachsymbolisierung“. Diese Symbolisierung charakterisiert er in lakonischer Weise so: sie ist „eine Art der Richtungsqualität (Vektor); sie bringt ein Gebilde zustande, das erstens eine Bedeutungsdistanz hat und zweitens eine Symbolrichtung, die […] die Auswahl und die Analyse der vorhandenen Materie bestimmen.“91 Dieser vektorielle Aspekt – das tropologische Moment der „Wendung“ (in eine bestimmte, semantisch jedoch nicht unbedingt begrifflich konkretisierte Richtung der Substitution)92 – stellt vermutlich den Vollzug der „plastischen Kraft“ dar. Somit ist letztere kein neutraler Grund oder gar eine Eigenschaft des sprachlichen Materials: Dieses selbst ist von aktiver Natur.
90 ATS, S. 103, 123. 91 Ebd., S. 103f. Die „Bedeutungsdistanz“ bezieht sich vermutlich auf die Differenz Signifikant-Signifikat, die symbolische Richtung hingegen auf den tropologischen Charakter der Benennung, gleichsam auf das „Merkmal“ von Herder (das Schaf: „das Blökende“), obwohl der Name Herder in der Schrift nicht vorkommt. Später wird der Ansatz einer „hermeneutischen Logik“ bei Hans Lipps ausdrücklich betont: „Man kann sich darüber streiten, ob ein bestimmter ,Baum‘ draußen nicht besser als ,ein Strauch‘ zu bezeichnen wäre, d.i. welcher Ausdruck hier passender ist. Diese ,Unbestimmtheit‘ gehört gerade mit zu diesem ,Begriff‘, in dem von vornherein nichts als das, was es ,eigentlich ist‘, verstanden oder gar ,bestimmt‘ werden soll […] Abstraktion im Sinne des Dahinstellens, Unbeachtetlassens, d.i. als die besondere Art, etwas gerade insofern und daraufhin zu verstehen, daß man es bei seiner Unbestimmtheit bewenden läßt.“ (Hans Lipps, Wortbedeutung und Begriff, in: ders., Die Verbindlichkeit der Sprache, S. 26–38, hier S. 31f ) 92 Vgl. Paul de Man, Pascals Allegory of Persuasion, in: ders., Aesthetic Ideology, Minneapolis/ London 1996, S. 51–69, hier S. 56.
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Zuletzt wird die Wirkung dieser Kraft auch aus der Zukunft her anvisiert,93 auch im Modus des „Geltens“, was überhaupt zur Temporalisierung des Geltungsbegriffes führt: „dann schafft das Gelten für sich selbst, und ordnet nach seinen eigenen Intentionen; es ist nicht mehr die Grenze, die am Wege nach einer anderen Richtung, eingehalten werden muss; es ist jetzt selbst die Richtung.“94 Das Gelten vollzieht sich also in der Transgression einer Grenze (oder die Grenze geht in Bewegung über, wird zu deren anderer Seite), als ein „implizites Wissen“ (Michael Polanyi) aus der Zukunft: Es ist das neue Problem, das noch nicht existiert, was in seiner Nicht-existenz doch eine gewaltige Art des Seins besitzt, die gewaltigste sogar, die des Wirkens. Das noch logisch nicht existierende, nicht begriffene, nicht begriffliche wirkt auf die schon ergriffene, sich entwickelnde Masse unserer Kenntnisse.95
Dieses hintergründige, latente Wissen ist für die Intention nicht erreichbar. Auf das Wort „Tatsache“ im obigen Zitat folgt der Ausdruck „Identität“ bezüglich der Symbolisierung, die „nur scheinbar eine Veräusserlichung eines ursprünglich Innerlichen“ ist, „ihre Funktion ist eine absolut wichtige und schaffende“ (Zalai verweist an dieser Stelle auf den früher als „plastische Kraft“, hier ausdrücklich als „aktiv“ charakterisierten Begriff der Abstraktion), ferner: „das Selbständigwerden 93 Die wirkende Kraft kann man laut Zalai als solche nicht erkennen, da sie erst nach einer Wirkung erfahrbar wird. Diese selbst ist aber ein Kommendes: „der andere Faktor, wenn auch nicht daseiend, und wenn noch nicht daseiend, ist doch da, und zwar nicht durch seine Wirkung, denn diese Wirkung wird erst kommen; aber es ist sichtbar, wie diese Wirkung sich gestaltet; wie muss das noch Kommende überhaupt wirken …“ ATS, S. 150f. 94 Ebd., S. 153. Das geschieht in einer komplexen Verbindung des „rein teleologischen“ Momentes „von der kommenden, unfertigen Seite aus“, zugleich aber „als der Stoff in die Intensität des Geordnet-seins (durch dasselbe Gelten) geraten ist, hat das Gelten durch den geordneten Stoff ein Exteriorisieren, eine Fleischwerdung erfahren, in welchem es in seinem vollen Charakter erscheint und damit seine abstrakte Determination erreicht.“ Also ist das Gelten sowohl von einem Kommen (immateriell) als auch von einer Exteriorisierung (materiell) geprägt (vgl. mit dieser Temporalisierung des Geltungsbegriffes die Kritik Fogarasis am neokantianischen Wertbegriff – letztere dargestellt im Beitrag von Ágnes Hansági in diesem Band). 95 ATS, S. 144. Zalai leitet daraus eine schöne Interpretation des Philosophierens ab, die an die Phänomenologie des Geistes erinnert: aus der Unmöglichkeit, eine jede Fragestellung (als „hysteron proteron“) im Voraus zu determinieren (denn das würde ja bereits die Antwort nahelegen), wird die Aufgabe der Philosophie „ein durchgehendes, ganzes Erkennen auch des Weges“ sein (nicht nur des „Resultates“). (Einen Bezug zwischen Zalai und Polanyi setzt Kolos Gecsei, Zalai nyomában [Auf den Spuren Zalais], in: István Fehér/Ildikó Veres [Hg.], Alternatív tradíciók a magyar filozófia történetében [Alternative Traditionen in der Geschichte der ungarischen Philosophie], Miskolc 1999, S. 359–372, hier S. 363.)
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des Erkenntnismoments in der Symbolisierung [hermeneutisch gesprochen: das Verstehen in der – nicht durch die – Sprache] keine Reflexion ist“. Die Symbolisierung hat Formen „geschaffen“, die Materie „entsteht ebenso mit der Form, wie andererseits die Form mit der Materie entsteht“, da es sich hier um eine Materie handelt, die keine „sinnliche Materie“ ist (Zalai möchte „den Begriff der Materie“ vom „Schatten der sinnlichen Materie“ befreien), sondern selber ein „notwendiges und gestaltendes Element“ darstellt.96 Also hat man hier mit einer Materie zu tun, die „die selbst gestaltet, d.i. die Technik des Gestaltens bestimmt, und die sozusagen das Medium für die Gestaltungsmöglichkeiten bildet.“97 Diese „aktive Materie“ selber ist also ein Medium – worauf passt diese Beschreibung besser als auf die Sprache? Auf die Sprache als Medium, weniger als System, da die Symbolisierung – wie Zalai sofort festhält – neben den Eigenschaften der Geschlossenheit und der Einheitlichkeit auch über kein Systemprinzip als solches verfügt (sozusagen über einen Code, der die Selbstreproduktion des Systems steuern würde).98 Das alles kann die sich in der Sprache ergebende Plastizität der Differenz von Medium und Form akzentuieren, auch wenn hier Zalai nicht in expliziter Weise über die Sprache spricht, diese aber durchaus mit dem Komplex der „Symbolisierung“ mitversteht, da die Sprache die eine der beiden primären Symbolisierungen darstellt (neben der Handlung). Die Abhandlung hält auch weiter die Sprache im Vordergrund ihres Diskurses, und zwar von einer Art Gedächtnis her (dieses Wort selbst wird nicht benutzt): Das, was die Sprache „mit der eigenen Materie an Analyse schafft, das geht den höheren Symbolisationen, wenn es überhaupt solche gibt, nie mehr verloren.“99 Die sprachliche Symbolisierung liegt also gleichsam in latenter Weise (nicht nur im Sinne der Rekursion) in jeder auf ihr beruhenden Symbolisierung, von der Logik bis zur philosophischen Terminologie: Wenn eine grundlegende Symbolisation gegeben ist [dazu merkt Zalai in einer Fußnote an, dass diese Symbolisierung nicht „fertig gegeben“ ist, sondern „sich fortwährend entwickelt“, dennoch eine „Ordnung“ darstellt, „deren Möglichkeiten mit der Materie-Angabe der Symbolisation prinzipiell bestimmt sind“], baut sich eine neue auf der ersten auf, jedoch die letztere bleibt in einem nicht leicht präzisierbaren Sinne auch in der
96 ATS, S. 108f. 97 Ebd., S. 123. 98 Zalai reklamiert zugleich aber für die Sprache durchaus einen Systemcharakter im Sinne der Selbstständigkeit, der unüberbrückbaren Grenze zur Welt der Handlung, vgl. ebd., S. 147. Auch laut Luhmann ist die Sprache kein System im systemtheoretischen Sinne, vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 47–54. 99 ATS, S. 128f.
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ersten. Wenn einmal die Gedanken durch die Vermittlung der Sprache aufgestellt sind, dann kommt jede spätere Ordnung durch dieselbe Vermittlung zustande.100
Bereits zuvor hat sich die genuine sprachorientierte und iterabilitätsbezogene Dimension dieses Verhältnisses – im Ineinander von Materie und Formanalyse – gezeigt (womit eine grundsätzliche Historizität der Sprache als Gedächtnis angesprochen wird), in dem Materie und Medium voneinander nicht zu trennen sind: … die Materie ist ihrerseits kein eigentlicher Formgrund für das sich entwickelnde Ganze, denn sie wird als solche, als Formgrund durch die Analyse des Symbolganzen mitbestimmt. Das Prinzip der Entwicklung ist also hier: die neue Symbolisation liegt in der neuen Materie, die durch eine neue Art Analyse verarbeitet wird; aber auch durch die erste, in der vorigen Symbolisation zustandegekommene Analyse-Art.101
Diese erste Analyseart zieht sich demnach in eine Latenz zurück, wirkt aber dennoch weiter, aber in der Materie selber, die folgerichtig keine „sinnliche Materie“ sein soll (der Zusammenhang von Latenz und Wirken war eine der durchgängigen Denkfiguren bei Zalai). Gerade vor dem letzten Zitat hat Zalai den Begriff der Materie vom „Schatten“ der „sinnlichen Materie“ befreien wollen, und das gelingt durch das analytische, aber auch durch das iterativ-temporale Moment, kraft dessen die Materie (Materialität) zu einer latenten wird. In diesem Sinne nennt wohl Zalai die „Abhängigkeit von der neuen Materie“ „irrationell“.102 Die Sprache ist demnach eine „indirekte Vermittlerin“, freilich behauptet hier Zalai noch einmal die nicht-konstitutive Rolle der Sprache und stellt die sprachliche Vermittlung als formales Element dar, um auf der nächsten Seite dann doch 100 Ebd., S. 133. 101 Ebd., S. 109. 102 Vgl. ein Zitat aus einem unveröffentlichten Fragment von Zalai mit dem Titel „Struktur des Systems“: „Die Irrationalität schafft die Systeme, aber nicht die Stufen, denn nachher wäre das alles wieder Rationalismus. Die Differenz.“ Zitiert von Bacsó, A válasz metafizikája, S. 906. Bekanntlich war Lask der Theoretiker des Irrationalen, was Irritationen bei Lukács hervorrief (in seinem Nachruf auf Lask, vgl. hierzu István M. Fehér, Lask, Lukács, Heidegger. The problem of irrationality and the theory of categories, in: Martin Heidegger. Critical Assessments (hrsg. von Christopher Macann), London/New York 1992, S. 373– 405). Zu diesem gehört auch das „Alogische“, das untilgbar in allen Erkenntnisvorgängen eine konstitutive Rolle spielt, im Zusammenhang mit dem Material. Ein Zitat: „… daß auch das theoretische Objekt, ,die Wahrheit‘, nicht bloßer Wahrheitsgehalt, sondern in Wahrheitsform stehendes Material ist […] Jedenfalls geht in das theoretische Objekt auch die gesamte alogische Inhaltlichkeit, das alogisch Bedeutungsbare wie das alogisch Bedeutungshafte ein. Nicht materialsfreier, sondern an Material gebundener, inhaltlich erfüllter Wahrheitsgehalt ist das Objekt des ‚Erkennens‘.“ Das System der Philosophie, 118.
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erneut die in der Symbolisierung realisierte Wechselseitigkeit von Materie und Semantik zu betonen: Es sind doch Gedanken, Bedeutungen, „Sinne“, die zustandekommen, und auch sie erhalten durch die neue Materie der Symbolisation neue Gestaltungen, sind zum Teil völlig neu, d.i. erst in dieser Symbolisation vorhanden. Es wird also die Materie durch die Gedanken, ebenso werden aber die Gedanken durch die Symbolisations-Materie analysiert; im ersten Falle ist die Materie der wirkliche Stoff, die Gedanken aber die Mittel, das Werkzeug der Analyse; im anderen Falle umgekehrt, ist die Materie das Werkzeug, mittels dessen die „Gedanken“, die hier die eigentliche Materie bilden, analysiert werden.103
Die Symbolisierung ist in ihrer Konzipierung durch Zalai grundsätzlich eine „Materie-Analyse“ – wo sowohl die Symbolisierung eine Materie besitzt, als auch der Gedanke Materie sein kann, ihre „Analyse“ erfolgt zudem wechselseitig –, also Abgrenzung, Gliederung, die in wechselseitiger Weise im Gedanken und in der Materie der Symbolisierung zustande kommt. Damit ergibt sich die Symbolisierung im Wesentlichen als drittes Element, also als Vermittlerin, als Medium, Saussures Definition nicht ganz fremd.104 Jedenfalls bleibt Zalai hier der Vorstellung der „plastischen Kraft“ treu (auch wenn er sie nicht wieder erwähnt), da die wechselseitige Analyse (Gliederung, Artikulation) von Materie und Gedanke vermutlich diese Plastizität voraussetzt. Zu gleicher Zeit ist hier eine Art Unbeobachtbarkeit des Mediums als Dritten im Spiel.
103 ATS, S. 134. 104 „Die spezifische Rolle der Sprache in Bezug auf das Denken ist es nicht, ein materielles lautliches Ausdrucksmittel für die Wiedergabe von Ideen bereitzustellen, sondern als Mittler zwischen dem Denken und dem Lautbereich zu dienen, und zwar dergestalt, daß ihre Verbindung gezwungenermaßen zur gegenseitigen Abgrenzung von Einheiten führt.“ Saussure, Cours de linguistique, S. 139. Vgl. hierzu eine These von Zalai, laut der er den Terminus „Symbolisierung“ in Bezug auf die Sprache letztlich verwirft: „Ein Symbolwille im Sinne der Konvention spielt auch in der Sprache eine Rolle […] Nicht in dem Sinne natürlich, in welchem eine vergangene und längst überwundene rationale Theorie die Sprache aus dem bewussten Willen als Hauptmotiv herleitete. Dieser bewusste Wille ist auch kein Symbolwille, sondern der Wille zur Sprache selbst, mit der bewussten Intention auf die Sprache; das ist natürlich ein unmöglicher Prozess, welcher den Zirkel in sich trägt, das bewusst in sich zu enthalten, was er erst hervorbringen soll.“ ATS, S. 98.
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„Weltansicht“ als System (Lajos Fülep) Die wohl produktivste ästhetiktheoretische Verwertung des Systemdenkens von Zalai ist bei Lajos Fülep eingetreten, in seiner programmatischen Studie Művészet és világnézet (Kunst und Weltansicht, 1923) wird das Systemprinzip bestimmend. Auch wenn Fülep mit dem konventionellen Gedanken des Resultierens des Systems aus dem Chaos einsetzt,105 geht seine Abhandlung als Ganzes dennoch vom Dasein der Systeme aus, dem Postulat von Zalai entsprechend (der die kantianische Fragestellung in Bezug auf die Bedingungen der Möglichkeit der Systeme abgelehnt hatte). Zudem betont Fülep das inhaltlich-historische Moment am System und nennt das „Weltansicht“ („Die Weltansicht ist der wahre historische Begriff in der ewigkeitsmäßigen Formenwelt der Kunst“) bzw. hebt deren hermeneutische Aspekte hervor („Sinn“, „Bedeutung“, „Begreifen“): Der Geist ist nichts Abstraktes, vielmehr erscheint er nur in Konkretheiten – und nur in diesen –, so wie auch die Seele immer in etwas – und nur in etwas – vorkommt. Die Konkretisierung des Geistes ist die Welt bzw. jenes System, jenes Sinngewebe, jene bedeutungsgebende „Form“, in der ich die Welt begreife/auffasse, also – in ihrem weitesten Sinn, der die Metaphysik, Religion, Ethik usw. umfasst –: Weltansicht.106
Das erstreckt sich auf jeden grundlegenden kulturell-weltanschaulichen Begriff resp. Vorstellung bereits im Moment der Mitteilung: „… es gibt keine Natur, die nicht immer schon irgendwie geartet ist, sobald ich das Wort ,Natur‘ ausspreche“, hält Fülep fest, und hier meldet sich mit Zalai gesprochen die Unhintergehbarkeit der primären Symbolisierung der Sprache, gleichsam im Sinne der Unbeobachtbarkeit des Mediums als Dritten („sobald ich dieses Wort ausspreche“). Danach setzt
105 Lajos Fülep, Művészet és világnézet, in: ders., Egybegyűjtött írások III [Gesammelte Schriften], Budapest 1998, S. 225–256, hier S. 231f. (Die Zitate aus dem Ungarischen von mir übersetzt – Cs. L.) Ein Teil dieser Schrift liegt auf Deutsch vor: Lajos Fülep, Kunst und Weltanschauung, in: Éva Karádi (Hg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis, Frankfurt a. M. 1985, S. 238-245. 106 Ebd., S. 233f. Und weiter: „jedes Objekt, jede Sache, jede Vorstellung und Begriff kommt nur in einem Gewebe vor – nie ohne dieses –, und erhält in diesem Gewebe seinen eigentümlichen Sinn“; „der Geist […]: System. Ohne System gibt es keinen Geist, da ohne System, außerhalb eines Systems begreift der Geist nichts, nicht einmal sich selbst.“ „Der Unterschied besteht also nicht zwischen ,System‘ und ,Systemlosigkeit‘, also nicht zwischen absoluten und sich per definitionem gegenseitig ausschließenden Systemen, sondern zwischen Systemen verschiedenen Grades“. Ebd., S. 252f.
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Fülep folgendermaßen fort, auch über Zalai hinausgehend,107 nun im ästhetischen Zusammenhang: In Wirklichkeit ist nicht nur die Weise des „Wiedergebens“, sondern die Natur selbst anders in jedem der Fälle. Jene absolute Natur müsste nämlich unbestimmt, bezugslos, mit anderen Worten: ungeformt sein. Auch das „Leben“, auch der „Mensch“ existiert für uns nur in irgendeiner Bestimmtheit, Form, Geformtheit. […] das Leben und die Natur selbst sind bereits Formen [verbal – Cs .L.] bis zu einem gegebenen Grade.108
Der Inhalt und die Materie des Kunstwerks sind selber relational-systemische Gegebenheiten, und diese These suggeriert in impliziter Weise, dass diese interne Unterscheidung der „Materie“ dann zur externen Unterscheidung von Materie und System/Gewebe führen könnte, genauer: als diese letzte die interne Unterscheidung von Materie als Form bzw. Gewebe wiederholen würde: … in der Kunst nennt man […] „Gehalt“ jenes etwas, was in ihr als Objekt, als Material vorkommt. Dieses Material ist in sich auch Gewebe, aber auch im Ganzen gehört es in irgendein Gewebe, „System“ hinein, denn es gibt nichts außerhalb irgendwelcher Gewebe und Systeme. Jedes Gewebe, jedes System ist nun eine Weise dessen, wie ich die Welt, das „Leben“, die „Natur“ begreife/auffasse, also: Weltansicht.109
Fülep medialisiert also die Form der Materie, indem er die Differenz von Medium und Form der Form selber einschreibt, insofern diese als eine Art Gewebe in einem umfassenderen Gewebe situiert wird, folglich bleibt die Grenze der Form gewissermaßen unentscheidbar.110
107 Insofern Zalai noch eine an sich seiende Wirklichkeit vorausgesetzt hatte, obwohl zuweilen eher unsicher und diese Hypothese auch relativierend, dennoch sie letztlich aufrechterhaltend, vgl. z.B. ATS, S. 115. 108 Und weiter: „Ohne Formiertsein gibt es also keine Welt, denn ohne Formieren gibt es keinen menschlichen Geist. Aber das reicht noch nicht aus. Es existiert nichts isoliert, sondern alles nur in irgendeinem Gewebe. Ich kann ein Phänomen für Zwecke der wissenschaftlichen Untersuchung zwar isolieren, jenes ,existiert‘ jedoch nur in irgendeinem Gewebe für mich. […] Sogar kann ein und dasselbe Objekt in mehreren Geweben vorkommen, und sein Sinn ändert sich demnach in bedeutendem Maße. So kommt z.B. ,der Mensch‘ in den Geweben des empirischen Lebens, der Zoologie, Psychologie, Metaphysik, Religion, Ethik, Kunst usw. vor, und er hat jeweils einen anderen Sinn.“ Ebd., S. 252f. 109 Ebd., S. 253. 110 Architektonische Konstruktion und Form existieren ebenfalls in einem ,wechselseitigen Verwobensein‘. Folgerichtig lehnt Fülep die „ästhetische Unterscheidung“ (Gadamer) ab (ebd., S. 236f ).
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Das „Gewebe“, Füleps Synonym für „System“, verstärkt von vornherein dessen konkret-materiale Charakteristik (dem heutigen Leser bringt das die bekannte Netz-Metapher von Geertz über die Interpretation der Kulturalität in den Sinn). Zugleich sind für Fülep auch der medial-vermittelnde Charakter und die Temporalität dieses „Gewebes“ wichtig: „… nicht nur die Dinge ändern sich nach den Systemen und Geweben, sondern die Systeme und Gewebe ändern sich auch.“111 Diese Temporalität wird von Fülep in komplexer Weise modelliert bezüglich der differenziellen Verhaltensweise der Form; die Skizzierung dieses Sachverhalts kann die Kreuzung des Inhalts durch die Form näher beleuchten. Er schreibt folgendermaßen über den Übergang zwischen Mittelalter und Renaissance am Beispiel der Statuen von Donatello: … die Eigentümlichkeiten der neuen Form können nur aus dem neuen Inhalt verstanden werden – obwohl dieser Inhalt sich von der Form trennt. Und genau darin, in dieser Möglichkeit des Trennens, in der Indifferenz der Erscheinungen, in denen sich der Inhalt zeigt, bestimmt sich die Form. Die Themen verlieren ihr Gewicht, es ist nur wichtig, „wie“ sie geformt sind – aber dieses Form-Sein ist nur deshalb so, wie es ist, weil die Themen ihre Bedeutsamkeit verloren haben, und deshalb dieses „Wie“ nicht im selben Sinne die „Form“ bedeutet wie z.B. bei den Griechen oder in der Gotik.112
111 Ebd., S. 256. Dieser Satz kommt auch in der deutschsprachigen Teilübersetzung von Füleps Abhandlung vor, s. Kunst und Weltanschauung, S. 244. Sie gibt den Ausdruck „szövedék“ (Gewebe) mit „Zusammenhang“ wieder. 112 Ebd., S. 241. Das ist ein zutiefst Hegelscher Gedanke, aus dem Kapitel Die romantische Kunstform der Vorlesungen über die Ästhetik. In Bezug auf „die Auflösung der romantischen Kunstform“, die Schaffenstechnik der niederländischen Maler, sagt Hegel: „Was uns reizen soll, ist nicht der Inhalt und seine Realität, sondern das in Rücksicht auf den Gegenstand ganz interesselose Scheinen [vgl. Füleps Ausdruck: „Indifferenz“, bei Hegel einige Seiten später: „gleichgültig“]. Vom Schönen wird gleichsam das Scheinen als solches für sich fixiert […].“ Die Kunst bleibt hier aber nicht stehen, sondern mit der zitationellen Verwendung von „Bildern, Gestaltungsweisen, früheren Kunstformen“ – wo „kein Inhalt, keine Form mehr unmittelbar mit der Innigkeit, mit der Natur, dem bewußtlosen substantiellen Wesen des Künstler identisch [ist]“ – geht sie über die kanonische Bedeutung sowohl der Kunst als auch des „Menschlichen“ hinaus. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II (= Werke 14), Frankfurt a. M. 1986, S. 226–227, 235; Zu dieser Denkfigur von Hegel vgl. Hans-Georg Gadamer, Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst, in: ders., Gesammelte Werke 8, Tübingen 1993, S. 221–231. Vgl. noch Werner Hamacher, (Das Ende der Kunst mit der Maske), in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Sprachen der Ironie – Sprachen des Ernstes, Frankfurt a. M. 2000, 121–155. Die Romantheorie von Lukács nutzt an ihren produktiven Punkten auch dieses Hegelsche Schema.
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In die Form selber schreibt sich eine Art historische Grenze oder Differenz ein, und infolgedessen lässt sie sich als Potentialität auslegen (nur noch das „Wie“ bezeichnet sie), sowohl referierend wie auch nicht referierend auf den Inhalt, sich dessen Code entziehend und den Inhalt selbst zum Medium verändernd („in der Indifferenz der Erscheinungen, in denen sich der Inhalt zeigt“, das heißt: in der Lesbarkeit der „Erscheinungen“).113 Das „Wie“ stellt eine differenzielle Grenze dar, es ist ein Drittes zwischen den historisch codierten Entitäten von Inhalt und Form. Diese Grenze, die Form als Grenze erweist sich als lesbar und nicht-lokalisierbar, sie bringt gleichsam den doppelten Charakter des Ornaments ins Spiel. 114 Dieses Schema ist die Version von Fülep zur ironischen Sprache des Romans in Lukács’ Theorie, zum sich in ihr manifestierenden Bruch im Sinne der „Strukturdifferenz“ „zwischen einer homogen-organischen Stetigkeit und einem heterogen-kontingenten Diskretum“ (das „Wie“ kann nämlich auch als Ironie gedacht werden). Zusammengefasst: Fülep interpretiert in dieser Figur im Wesentlichen die Differenz von Medium und Form als Medium; etwas abweichend vom Diktum Luhmanns115 setzt er jedoch deren historische Dimension, eine Art geschichtliche Kraft als Seinsgrund des differentiellen Aspekts der medialen Seinsweise. Zuletzt soll in Bezug auf die zentrale Begriffsbildung und -verwendung von Fülep noch eine Überlegung vermerkt werden, die auch auf Zalai zurückverweist. Zur Bedeutungskonkretion von „Ansicht“ gibt Hans Lipps folgende Beschreibung: Die „Ansicht“ der Dinge ist nicht nur eine vorgezeichnete Perspektive, unter der die (transzendente) Welt sich darstellt. Nämlich für einen ebenso je vorgezeichneten, d.i. zu einer Mannigfaltigkeit gehörenden Orientierungspunkt […] Die Lage, zu der eine „Ansicht“ s. str. gehört, ist etwas anderes als eine solche „Stelle“. Sie ist kein Standpunkt der Welt gegenüber. Gerade lediglich sofern man in die Welt verschränkt ist, ist man 113 Vgl. noch dazu Jacques Rancière (mit Bezug auf Flaubert), Politik der Literatur, Wien 2008, S. 188f. („Der Ordnung der Wahrscheinlichkeit, ihren erwarteten Handlungen und ihren codierten Ausdrücken, steht eine Ordnung der Wahrheit entgegen, die auf den Dingen selbst geschrieben steht.“) 114 Arnold Hauser hat in seiner Studie „Az esztétikai rendszerezés problémája“ [Das Problem der ästhetischen Systematisierung, 1918] von einer „transzendentalen Form“ gesprochen (in: ATS, S. 203) und dadurch die Intuitionen von Zalai und Fülep in kantianisierender Weise kurzgeschlossen. Hauser kritisiert hier die Heidelberger Ästhetik von Lukács: er „versucht“, „die kohärent-einheitliche ,Systemstruktur’ der ästhetischen Sphäre unter Beweis zu stellen, auf deren Grundlage dann die von Lukács beschriebene Pluralität der Kunstwerk-Welten aufkommt.“ (Márkus, Lukács’ ,erste‘ Ästhetik, S. 232) Márkus erwähnt aber Zalai nicht, dabei trägt bereits der Titel der hauserschen Studie die unverkennbare Signatur Zalais. 115 Vgl. Niklas Luhmann, Das Medium der Kunst, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a. M. 2008, S. 123–138.
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gelegen-in der Welt. Die Lage ist des näheren nicht „irgend eine“, d.i. nicht eine von den Dingen her bestimmte „Situation“. Es ist meine Lage.116
Diese Kontrastierung beschreibt hier den Unterschied von phänomenologischen und hermeneutischen Positionen. Zugleich vermag sie, wenn ich richtig sehe, den blinden Fleck bei Zalai und Fülep aufzuzeigen: Dass ihre Systemkonzepte die Seinsweise der Subjektivität oder des Subjektes, denen man diese „Weltansicht“ zuschreibt, nicht problematisieren. Dass sie sich über den Status des Subjekts ausschweigen, dürfte ihrer Voraussetzung entspringen, der zufolge das System, der Perspektivismus sich letztlich auf die als Objektivität verstandene Welt richten. Die formale Struktur der Subjektivität (nämlich einem Objekt gegenüberstehend) wird nicht radikal angezweifelt. Zugleich stehen jedoch ihre Ansätze für eine solche Profilierung durchaus offen.
116 Hans Lipps, Das Urteil (1929), in: Die Verbindlichkeit der Sprache, S. 9–25, hier S. 11f.
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Provozierte Ästhetik Gedächtnis und Moderne bei Lajos Fülep Der 1915 um Georg Lukács herum gegründete Budapester „Sonntagskreis“ (Vasárnapi Kör) versammelte viele angehende Wissenschaftler und Gelehrte, deren Tätigkeit und Wirkung auch international bekannt wurde: Béla Balázs, Béla Fogarasi, Arnold Hauser, Georg Lukács, Karl Mannheim, Charles de Tolnay oder (den früh verstorbenen, aber die meisten der genannten Gelehrten mit seinem Systemgedanken beeinflussenden) Béla Zalai. Zu diesem Kreis gehörte auch der Literatur- und Kunstwissenschaftler bzw. Philosoph Lajos Fülep (1885–1970), neben Lukács Mitbegründer der kurzlebigen philosophischen Zeitschrift A Szellem („Der Geist“, eine ungarische Variante zu Logos), dessen Bildung vor allem deutsch- und italienischsprachig geprägt war. Der Anfang von Füleps wissenschaftlicher Karriere war äußerst vielversprechend, etwa seine Studie zu Nietzsche, vor allem zum Verfasser der Geburt der Tragödie (zur eigenhändigen ungarischen Übersetzung dieses Werkes), ist auch aus heutiger Sicht bemerkenswert. Er hat ferner eine Reihe von kunstwissenschaftlichen Abhandlungen vorgelegt, die ein reiches Spektrum von scharfsinnigen ästhetischen Einzelbeobachtungen und systematischen Erfassungsmodellen bzw. ihrer Vermittlung aufweisen. Seine vielleicht provozierendste ästhetiktheoretische Schrift über Das Erinnern im Kunstwerk hat Fülep 1911 verfasst und auch im Kreise seiner italienischen Freunde in Florenz vorgetragen.1 In dieser scheint vor allem Nietzsche, der Verfasser der zweiten „unzeitgemäßen Betrachtung“, Über Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben – wenn auch unerwähnt – mit seinem Gedanken über die notwendige wechselseitige Verschränkung von Erinnern und Vergessen präsent zu sein. Bevor einige begriffliche Zusammenhänge der Schrift rekapituliert werden, ist die historische Bedeutung der Studie von Fülep kurz hervorzuheben. Die entschiedene These über den Vorrang der Rolle, sogar des Mediums der Erinnerung in der Kunst, stellt ihn in die produktivste Linie des zeitgenössischen Diskurses, in die Nachbarschaft von Freud und Bergson, aber auch in die Tradition eines Baudelaire, 1 Auf Ungarisch: Lajos Fülep, Az emlékezés a művészi alkotásban, in: ders., Egybegyűjtött írások II. [Gesammelte Schriften], Budapest 1993, S. 124–153. Die Diskussion über Füleps Vortrag in Florenz ebd. S. 599–605. Sogar Croce selber hat auf die Kritik von Fülep reagiert: Benedetto Croce, La memoria e l’arte, in: ders.: Conversazioni critiche, Bari 1942, S. 67–69.
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der die „mnemonische Kunst“ behandelte (Le peintre de la vie moderne). Die begriffliche und argumentative Kohärenz, die die Herausarbeitung seiner These kennzeichnet, Füleps Antworten auf die Einwände seiner italienischen Kollegen decken eine in profunder Weise durchdachte theoretische Konstellation auf. Bei der Präsentation und Interpretation der Überlegungen von Fülep wird in vier Schritten vorgegangen: erstens soll seine Grundthese über die Bedeutung der Erinnerung (Ausdruck und Gedächtnis vor der Intuition), ferner seine Kritik an Croce skizziert werden, zweitens sollen Implikationen seiner These entfaltet werden (2a. Archiv, Autopoiese, 2b. Gabe – Zusammenspiel von Erinnern und Vergessen [s. „déjà vu“] erst von ihrem Ereignis her einsehbar, 2c. Klon, Maschine, Wiederholung, Reproduzierbarkeit), drittens ist die Dekonstruktion der Pygmalion-Geschichte des als Animierung gefassten Gebens als ein Einschnitt im ästhetischen Denken, viertens der – über Fülep hinausführende – systematische Zusammenhang zwischen der Ästhetik und einer (Bio)Politik der Gabe zu charakterisieren.
1. Zwischen Erinnerung und Archiv: Füleps Grundthese über die Bedeutung der Erinnerung und seine Kritik an Croce Die Abhandlung benutzt mehrere Begriffe der damals einflussreichen Ästhetik von Benedetto Croce und kritisiert bzw. modifiziert ihren ursprünglichen Zusammenhang. Der zentrale Begriff ist der der „Intuition“, der bei Croce laut der Zusammenfassung von Fülep „das bezeichnet, was man Repräsentation oder Perzeption, Vorstellung nennt, also den Grad jenes Erkennens, das der begrifflichen Tätigkeit vorausgeht“. Die Intuition unterscheidet sich vom Eindruck darin, dass dieser erst in seiner Kenntnisnahme durch den Geist und seine Kommunizierbarkeit („er berichtet darüber sich selbst gegenüber“) zum „geformten Stoff der Intuition“ wird.2 In der Intuition ist dieser formative Charakter ausschlaggebend, dadurch wird sie abgegrenzt von der perzeptiven Welt der referentiellen Seienden. In einem zweiten Schritt fällt also der Akzent auf den Ausdrucksaspekt der Intuition: „Die Intuition ist nicht mehr und nicht weniger als ihr Ausdruck. Das Kriterium der Intuition ist ihr Ausdruck“ (126). Daher werde die Identifizierung des Ausdrucks mit der künstlerischen Tätigkeit bei Croce unvermeidlich – aufgrund der vorausgesetzten Einheit der Intuition mit der Kunst –, diese von ihm so genannte „Linguistisierung“ der Ästhetik und die Ästhetisierung der Linguistik wird indes von Fülep bestritten. 2 Fülep, Az emlékezés, S. 125. Weitere Seitenzahlen in Klammern.
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Im nächsten Abschnitt mit dem Titel Intuition und Erinnern formuliert Fülep ohne besondere Umschweife die Grundlegung seiner Konzeption, die sowohl seinen Ausgangspunkt als auch seine These darstellt: die Ableitung der „ganzen künstlerischen Tätigkeit – der Einbildungskraft und des Ausdrucks – aus dem Erinnern“. Das Erinnern ist der Intuition und der Perzeption vorgängig, diese sind ohne jenes nicht zu denken. Das ist „aus zwei Gründen“ anzunehmen: 1.) unsere Vergangenheit, unser Erinnern sprechen in alle unsere Intuitionen oder Perzeptionen hinein und verschmelzen sich mit diesen, ohne die Ersteren könnten wir gar keine Kenntnis nehmen von den letzteren; 2.) alle Intuitionen oder Perzeptionen von uns, mögen sie noch so kurz sein, dauern eine gewisse Zeit lang, sie bestehen aus Augenblicken, die vom Band der Erinnerung zusammenzufügen sind (126).
Diese Gründe bergen in sich jedoch zwei systematische Gesichtspunkte, deren Unterschied von Fülep nicht diskutiert wird. Das erste Argument könnte man medial nennen, da es nicht so sehr die Wahrnehmung der Intuition oder Perzeption, auch nicht ihren intentionalen Aktcharakter, vielmehr ihre Vermitteltheit in den Vordergrund stellt: die Vermittlung durch einen archivierenden Bereich – die Erinnerung –, „ohne den wir von ihnen gar keine Kenntnis zu nehmen vermöchten“. Das zweite Argument ist phänomenologischen Charakters, hier ist der Aktcharakter, die Intentionalität des Erinnerns – nicht so sehr sein Memoria-Aspekt – bestimmend, die als Konstitution des „inneren Zeitbewusstseins“ (Husserl) das wechselseitige Verhältnis der Intuitionen oder Perzeptionen, ihren retentionalen oder protentionalen Charakter ermöglicht. Es erscheint notwendig, diese beiden Gesichtspunkte – die sich bei Fülep gegenseitig begründen sollten – voneinander zu differenzieren, da ihr Unterschied später selber zum Problem werden kann. Als Repräsentant des ersten Gesichtspunktes ließe sich Freud erwähnen, den zweiten könnten Husserl oder Bergson vertreten3 – die Position von Fülep lässt sich gewissermaßen zwischen ihnen situieren. Danach benennt Fülep die „beiden Grundzüge“ des Erinnerns: der eine meint das Moment der Archivierung oder Speicherung („es bewahrt die Erinnerung an die Impressionen oder innere Erlebnisse“), der andere das der Operation oder Verarbeitung, dieser soll „die viel weniger bekannte und kaum oder nur mit großen 3 Die Affinität Füleps zu Bergson wird an diesem Punkt deutlich, da auch der Verfasser von Matière et Mémoire die erinnerungsbedingte Seinsweise der Wahrnehmung betonte: „So besteht unsere Wahrnehmung, so momentan sie sein mag, aus einer unzählbaren Menge erinnerter Elemente, und in Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Praktisch nehmen wir nur die Vergangenheit wahr, die reine Gegenwart ist das unfaßbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.“ Henri Bergson, Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 145.
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Schwierigkeiten studierte Eigenschaft“ sein, „dass also das Eingedenken die Erinnerungen der Impressionen aufgrund bestimmter Prinzipien verwandelt“ (126). Diesem Sachverhalt entsprechen laut Fülep die „zwei charakteristischen Eigentümlichkeiten“ der Kunst: die Bewahrung wird hier „mithilfe des Ausdrucks“, die Verwandlung durch die formende Tätigkeit vollzogen, sie ist deren Moment. Die Bewahrung verbindet sich mit dem Ausdruck, die Verwandlung mit der Form – im Hintergrund dieser Opposition wiederum steht die Differenz von Gedächtnis als Medium und als phänomenologisches Zeitbewusstsein.
2. Konsequenzen der These von Fülep 2a. Autopoiese und Archiv Aus der erwähnten Bewahrung wird auf den Vorrang des Erinnerns vor der Intuition geschlossen, insofern letztere als „Vorstellung des Partikulären“ sich nicht wiederholen lässt und in eine Form übergeht – die „sich stets verwandelt“ –, daher steht die gegenwärtige Intuition, die sich auf eine vergangene richtet, keinem „zu gestaltenden Etwas, keiner zu gestaltenden Form“ gegenüber, vielmehr wird sie „mit einem gänzlich fertigen und geformten Ding“ konfrontiert. In diesem Sinne verfügt die erinnerte Intuition über eine eigene Aktivität, „sie geht durch einen Wandel hindurch, der von meinem Willen unabhängig ist, voll von Überraschungen; sie verbündet sich mit anderen Intuitionen; oft kommt sie zum Vorschein oder verschwindet ganz, und scheinbar geht sie völlig unter (Vergessen)“ (127). Das Gedächtnis kann auch ohne das Bewusstsein operieren, das Vergessen ist ebenfalls nur etwas „Scheinbares“. So gewärtigt das Gedächtnis eine Selbstorganisation, die sich in Gang hält, „ohne dass meine intuitive Tätigkeit, zumindest bewusst, darauf Einfluss haben könnte“. Obendrein hinterlässt das Gedächtnis „die Spur seiner Hand“ an den aufbewahrten Intuitionen, „mehr noch, es gebiert sie nach seinem Ebenbild, nachdem es sie so lange in seinem Mutterschoß getragen hat.“ Bei der Behandlung dieser Leistung der Erinnerung verwendet Fülep Ausdrücke, die an den Begriff der „Autopoiese“ erinnern.4 Diese kann aber latent in Konflikt geraten mit dem Ideal der „Balance“ und 4 Diese Selbstreproduktion bedeutet vor allem die Veränderung der erinnerten Inhalte der Erinnerung, welche Veränderung „von meinem Willen unabhängig ist, voll von Überraschungen …“ (127, Hervorh. Cs L). Später findet sich folgende autopoietische Formulierung in Bezug auf die Sprache: „Was sind denn die Worte und jeder Ausdruck überhaupt (Musik, Malerei usw.), wenn nicht Zeichen, Symbole, die wir für die Erinnerung schaffen – durch das Erinnern?“ (140). Schließlich fasst das Fülep in seiner Antwort auf die Diskussion seiner Schrift folgendermaßen zusammen: „[E]s ist nicht das Gefühl des Schönen, das der Auswahl vorausgeht.“ Denn: „[D]ie Auswahl geschieht von alleine, und die künstlerische Auswahl
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der „Harmonie“, insofern diese der autopoietischen Systemaktivität des Gedächtnisses, ihrer vorbewussten integrativen und verwandelnden Funktion einen strukturellen, gar ästhetischen Aspekt aufpfropft. Man kann aber festhalten, die Erinnerung werde bei Fülep grundsätzlich zu einem Archiv, zu einem Medium der Speicherung und Verarbeitung. Der „Intuition – der Absicht der Reproduktion“ kommt da die Rolle einer „Hebamme“ zu, die das Auftauchen der Momente begleitet, „die in die unbewußten Schichten untergetaucht, zu etwas Vergangenem geworden, also in das Reich der Möglichkeit des Erinnerns gelangt“ sind. Dieses Pate-stehen ist kein Handeln, vielmehr ein Ansprechen („Ich beschwöre das Erinnerte herauf, kann aber nicht mehr tun, als meinen Willen an es zu richten.“), sogar ein Anruf, und bleibt dieser erfolglos, so gibt es auch keine Intuition („Wenn die Vergangenheit auf meinen Anruf nicht antwortet, habe ich nichts zu intuieren“). Wenn die Intuition in der erinnerten Vergangenheit nicht vorkommt, so existiert sie schlechterdings nicht – die Reintuition als „Erinnerung“ kann sich nur als Manipulieren des Materials vom „Gedächtnis“ vollziehen.5 Die Intuition gibt es nur im Rückgriff auf die Erinnerung, und sie ist gleichsam deren Beobachtung – sogar Selbstbeobachtung, indem das Auftauchen der Intuition selber nichts anderes als den Prozess des Erinnerns vollzieht. „Die Gegenstände sind also Produkte der Erinnerung, und nicht der Intuition“ – so die eindeutige These (128). Folglich bildet der Horizont des Wiederlesens von vornherein den Ausgangspunkt der Abhandlung; nicht das Herstellen der Intuition, vielmehr das Zurückkommen auf sie ist die zentrale Frage der Untersuchung. Fülep steht damit vor einer wichtigen Möglichkeit auf dem Weg zur Überwindung der substantialistischen und formgläubigen Konstitutionsästhetiken.
2b. Ausdruck und Vergessen: Das „déjà vu“ Im Text von Fülep geht es nicht um einen zeitlosen Behälter und seinen Bestand bzw. dessen Abrufen, auch nicht bloß um das Erinnern als kognitive Tätigkeit, unterscheidet sich von anderen Auswahltätigkeiten gerade darin, dass in ihr das Kriterium der Auswahl die Fähigkeit zur Auswahl darstellt.“ „Nur in der Kunst verlässt sich die Erinnerung gänzlich auf sich selbst und wird zur Gänze zum Kriterium ihrer selbst“ (Egybegyűjtött írások II, S. 600). 5 „So ist die Reintuition im Fall des Erinnerns keine Form mehr, die etwas Formloses gestaltet, sondern höchstens eine Form, die sich auf eine bereits fertige Form legt: Genauer ist sie aber nur ein bloßes Mittel, mit dem ich die vom Erinnern gegebene Form betrachte, von ihr Kenntnis erhalte; ich beschwöre sie aus dem Zustand der Potenz herauf, und wie mit einem Gefäß, schöpfe ich sie aus dem Strom des Bewusstseins heraus“ (128). Die semantische Spannung zwischen der kommunikativen („Anruf“) und instrumentellen („Gefäß“) Metapher ist anzumerken.
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da auch die Rolle des Vergessens zunächst erwähnt, dann hervorgehoben wird (133). Der nächste Teil mit dem Titel Erinnern und Ausdruck bringt ein beredtes Beispiel, die Vorstellung vom „déjà vu“ zur Demonstration des Sachverhalts, dass „etwas ganz Neues im vom Erinnern gegebenen Bild“ nicht zu erwarten ist, sofern dieses ein „umgeformtes altes Bild“ darstellt (128). Dieses „Neue“ bedeutet laut Fülep eher einen Effekt, ein „Gefühl“, das mit dem Akt des Erinnerns einhergeht. Wenn das „déjà vu“ sich als eine Kopie darstellt, deren Original nicht existiert oder nicht aufzufinden ist, so ist es nicht für ein singuläres Gebilde zu halten (im Gegensatz zur Akzentuierung der Form), da es den Effekt der Vergangenheit in der Gegenwart austrägt und im Prinzip auch in der Zukunft vorkommen kann. Das „déjà vu“ ist demnach Produkt oder Figur der Wechselseitigkeit von Vergessen und Erinnern, bedeutet aber genau das Ereignis der Gegenwart, es schreibt sich der Gegenwart ein als das Zusammenspiel von Memoria und Amnesie. Gerade der Kopieaspekt ist verantwortlich für den Vergangenheitscharakter der Intuition, für eine Vergangenheit, die nie anwesend war – die sich in der Memorisation des „gegenwärtigen seelischen Zustandes“ meldet. Fülep hat daher an diesem Punkt den Begriff des „Ausdrucks“ einzuführen, der gleichsam den Kopieaspekt vom „déjà vu“ bedeutet – nicht, dass man jenen von diesem trennen könnte, denn was ist das „déjà vu“, wenn keine bloße Kopie? „Also, auch der gegenwärtige seelische Zustand wird (…) zur Vergangenheit, zur Erinnerung, im Augenblick, in dem ich ihn ausdrücken will“ (129). Die davon hergeleitete „These: jeder Ausdruck stellt Erinnerung dar“ lässt sich so verstehen, dass die Intuition – ob vergangen oder gegenwärtig – gerade dank dem Akt des Ausdrucks als Veräußerlichung bzw. des in dessen Medium notwendigerweise enthaltenen Gedächtnismaterials zum Vergangenen wird.6 Also nicht bloß infolge ihrer zeitlichen, retentionalen Entfernung, vielmehr dank dem materialisierenden Effekt vom Ausdruck, der als „simultanes Gedächtnis“, als synchrones Umschreiben der Wahrnehmung fungiert.7 Das induziert selbstverständlich auch ein Vergessen, eine gewisse Phantomisierung der Intuition, wo sich nicht entscheiden lässt, ob die Intuition im Ausdruck am Verschwinden oder am 6 Vgl. dazu die Bemerkungen Walter Benjamins zur barocken Allegorie: Diese ist „nicht Konvention des Ausdrucks, sondern Ausdruck der Konvention“ (Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt a. M. 1980, S. 351). 7 Vgl. Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, München 1997, S. 54. In diesem kann das „déjà vu“ den beiden Erinnerungskonzepten von Bergson nicht unbedingt zugeordnet werden (es kommt im Matière et Mémoire auch nicht vor), es untergräbt vielmehr deren Trennbarkeit: das erste bedeutet das „wiederholende“ Gedächtnis, eigentlich eine Gewohnheit, die vor allem mit Handlungen verbunden ist, nicht mit der Imagination (also eine Art Maschinenhaftigkeit bedeutet) – das zweite das „vorstellende“ Gedächtnis, das grundsätzlich die Evokation von Vorstellungen bedeutet, die auch virtuell bleiben können (vgl. Materie und Gedächtnis, S. 70–71).
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Auftauchen ist, ob sie Erinnerung oder Antizipation darstellt.8 Gerade das „déjà vu“ ist das treffende Beispiel für diese doppelte Ausrichtung der ausgedrückten Intuition, die keine angebbare Vergangenheit heraufbeschwört, nichtsdestoweniger aber Effekte des Vergangenseins produziert. In einer Weise aber, die das Gedächtnis der Zukunft evoziert, im Sinne eines Versprechens, und genau dadurch wird der Zugang zum Original destruiert. Eine Kopie ohne auffindbares Original – das ist die Seinsweise der Intuition, insofern man nie mit der „ursprünglichen“ Intuition, vielmehr mit ihrer Kopie oder ihrem Versprechen durch den Ausdruck konfrontiert wird. Die Intuition wird durch den Ausdruck ermöglicht, im gleichen Zuge aber auch fiktionalisiert. Das operativ-autopoietische System des Gedächtnisses als Einschreibung von Mnemotopen wird erst im zitationellen Modus des Ausdrucks denkbar. Der Ausdruck selber ist in der Tat ein Gedächtnis (er hängt nicht bloß von memorativen Beständen ab), angesichts dessen unverfügbarer Seinsweise ist der Ausdruck folglich nicht für eine autonome Operation, also nicht für einen Erlebnisausdruck zu halten,9 da er seinem eigenen Vergessen ausgeliefert ist. Man tut gut daran, den Begriff des „Erinnerns“ von seiner psychologisch-kognitiven Bedeutung loszulösen, ihn nicht als Vermögen zu betrachten („Erinnerung“), sondern als „Gedächtnis“, das gleichwohl in einem mnemotechnischen Aspekt nicht aufgeht, vielmehr als Medium erscheint, das sowohl vermittelt als dabei Anderes auch ausschließt.10 Das Erinnern ist bei Fülep ein archivierendes und autopoietisches System, dennoch können diese Aspekte keine Antwort geben auf Momente der virtualisierenden Maschine des Erinnerns – Vergessen, „déjà vu“, Wiederholbarkeit –, sie können ihr zäsurales, kontingentes Ereignis nicht erklären 8 Zur Verunsicherung der Opposition zwischen „dem Gespenst der vergangenen Gegenwart und der zukünftigen Gegenwart“ vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt a. M. 1995, S. 70. „Das Eigene eines Gespenstes, wenn es das gibt, besteht darin, daß man nicht weiß, ob es, wiederkehrend, von einem ehemals Lebenden oder von einem künftig Lebenden zeugt, denn der Wiedergänger kann bereits die Wiederkehr des Gespenstes eines verheißenen Lebendigen bedeuten.“ (159) 9 Der Ausdrucksbegriff von Fülep entfernt sich somit auf wahrnehmbare Weise von dessen erlebnisästhetisch-subjektivistischer Bedeutung. Zur Begriffsgeschichte von „Ausdruck“ vgl. Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik II. Gesammelte Werke 2, Tübingen 1986, S. 384–386. 10 Die bahnbrechende Leistung des Gedankens von Fülep lässt sich wohl besser ermessen, wenn man sich die 50 Jahre spätere prinzipielle Warnung von Gadamer vergegenwärtigt: „Es wäre Zeit, das Phänomen des Gedächtnisses aus seiner vermögenspsychologischen Nivellierung zu befreien und es als einen Wesenszug des endlich-geschichtlichen Seins des Menschen zu erkennen. Dem Verhältnis von Behalten und Sich-Erinnern gehört in einer lange nicht genug beachteten Weise das Vergessen zu, das nicht nur ein Ausfall und ein Mangel, sondern, wie vor allem Nietzsche betont hat, eine Lebensbedingung des Geistes ist.“ HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1985, S. 21.
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oder voraussetzen. Diese sind vielmehr als Effekte und zugleich als Medium des Gebens vom Gedächtnis zu betrachten.
2c. Das Gedächtnis und die Gabe: Die Maschine Können die Intuitionen nur auf ihren eigenen gedächtnishaften Grund zurückgreifen, sind ihre Gegenstände „Produkte des Erinnerns“, so stellen sie gewissermaßen die Gaben des Gedächtnisses dar11 – der Ausdruck wäre folgerichtig das Zurückgeben oder Erwidern dieser Gaben. Sie erscheinen genauer gefasst nur im Ausdruck als Gaben, was dessen doppelte Beschaffenheit erkennbar macht: der Ausdruck gibt und nimmt das Gegebene zurück (oder entfernt es, z. B. als Kopie). Die Gabe meldet sich daher nicht als etwas Neues, sie zeitigt sich von vornherein als eine Wiederholung – ihr Moment des „Neuen“ bedeutet lediglich, dass der Ursprung oder das Original dieser Wiederholung nicht anzugeben ist. So ist der Ereignischarakter der Gabe keineswegs scharf zu trennen von den Mechanismen der Maschinenhaftigkeit, sie kommt erst in diesen auf bzw. setzt sie in Gang. Diese (etwa temporale) Ununterscheidbarkeit zwischen Maschine als Medium und als Effekt ist mit dem Moment vom „déjà vu“ verwandt: Dieses erscheint ja schon immer als Wiederholung, folglich kann es auch wiederkehren. In textueller Hinsicht bezeichnet das „déjà vu“ den Effekt des Anagramms, dessen Zufälligkeit aufgrund von angebbaren Codes nicht vorauszusetzen ist – sein Auftauchen wiederum initiiert aber die metonymisch-iterative Aberration des Textes. Die Wiederholbarkeit des Ausdrucks ist somit das Funktionieren der Maschine selbst, die Entfernung vom Ursprung, die Produktion von Intuitionen, wo der Unterschied von „ursprünglicher“ und kopierter Intuition hinfällig wird. Also ist diese Wiederholbarkeit die Unterbrechung der Identifizierung und Stabilisierung des „Ausdrucks“ – die Chance der Gabe. Das vom Subjekt nicht beherrschbare maschinelle Geschehen bedingt die erinnerte/ausgedrückte Intuition, zugleich kann man nicht mit letzter Gewissheit wissen, ob sie nun dieses Maschinelle unterbricht oder es in Gang setzt – der doppelte Aspekt vom „déjà vu“ meldet sich hier also wieder. Der Ausdruck ist genau aus dem Grund keine Intuition („nicht die Intuition ist mit dem Ausdruck identisch, sondern das Erinnern ist identisch mit der Intuition“, 129), weil er in Verbindung steht mit der selbstreproduktiven Maschinerie des Gedächtnisses und ihrem – sich selbst auch unterbrechenden – Gabecharakter. Der archivarische Modus des Gedächtnisses lässt sich als Effekt der Gabe denken, da der Ausdruck nicht in sich das Zurück-Geben der Gabe darstellt, vielmehr erst in seiner Unterbrechung oder Zäsur durch die Gabe selbst: Daher gibt er eigentlich 11 Vgl. beispielsweise den Ausdruck „ausliefern“ (127, unten).
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nichts zurück, vielmehr materialisiert er und verdeckt damit auch das Eigentümliche der Gabe. Der Zusammenhang und die Zäsur von Maschine und Gabe sind nicht zu berechnen, so wie die Opposition von Maschinellem und Organischem auch nicht restlos besteht – da ausgerechnet das von der Maschine der Reproduktion gekennzeichnete Gedächtnis einem Organismus gleichkam, der die Intuitionen „gebiert“ und zwar „nach seinem Ebenbilde“. Man könnte sagen, die Intuitionen werden vom Gedächtnis geklont, so wie auch das „déjà vu“ als Klon des nicht-auffindbaren – nur in seinem Erscheinen zu ertappenden, davon unabhängig nicht zu hypostasierenden – Erinnerungsbildes fungieren, zumindest dessen Reihen potentiell eröffnen oder in sich bergen kann. Andererseits wird die Maschine des Gedächtnisses von den automatischen Handlungen des intuierenden Subjekts widergespiegelt: „[W]enn nun die Vergangenheit antwortet, so habe ich nichts zu tun, als weiter zu fragen und zur Kenntnis zu nehmen, und kann am auftauchenden Bild nichts verändern“ (128). Wir haben also gute Gründe für die Annahme, dass die Gabe von der sie sowohl ermöglichenden als auch bedrohenden Maschine nicht zu trennen ist, da – fragt Derrida – wäre eine Gabe, die (…) sich vor jedem Trug, vor jedem Simulakrum hüten wollte, noch eine Gabe? Oder wäre sie nicht bereits ein Kalkül, das sich an beruhigende Unterscheidungen klammert, wenn er daran erinnert, dass das Natürliche nicht das Künstliche, das Echte nicht das Unechte, das Ursprüngliche nicht das Abgeleitete oder Entlehnte [oder das Lebendige nicht das Maschinelle, Cs. L.] ist.12
Der Schatten vom „déjà vu“ geistert weiterhin durch die Abhandlung von Fülep, vor allem an jenem Punkt, wo er nach seiner Lehre über die Form als Produkt einer „Auswahl“ zu seiner radikaleren Auffassung von der Leistung des Erinnerns zurückkehrt. Diese bezieht sich nun nicht mehr auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart: „die Gegenwart wird vom Künstler nicht als Gegenwart betrachtet, er scheint sich vielmehr daran zu erinnern, oder anders: er vollzieht an der Gegenwart denselben Prozess, der vom Erinnern selbst an den Dingen der Vergangenheit vollzogen worden ist“ (133). Man ist versucht, das Moment von „als ob er sich daran erinnern würde“ mit „als ob er es ausdrücken würde“ auszutauschen. Der Künstler nimmt die Gegenwart in deren Konstitution durch den Ausdruck wahr – es bedarf nämlich des Ausdrucks, damit die Vergangenheit als ein genuin materialer Effekt anwesen kann, als eine Vergangenheit, die nicht vorauszusetzen ist, indem sie nur als Gabe oder Geben existiert. Dies wird von jener Verdopplung des „Ausdrucks“ interpretierbar, auf die Gadamer hinweist und die auch Freud nicht fern steht: 12 Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 94–95.
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Was der Ausdruck ausdrückt, ist eben nicht nur das, was in ihm zum Ausdruck gebracht werden soll, das mit ihm Gemeinte, sondern vorzüglich das, was in solchem Meinen und Sagen mit zum Ausdruck kommt, ohne daß es zum Ausdruck gebracht werden soll, also das, was der Ausdruck sozusagen „verrät“.13
Das, was der Ausdruck „verrät“, genauer das „Verraten“ selbst, stellt den Gabeeffekt des Gedächtnisses dar (nicht das Gegebene selbst). Der Ausdruck erwidert das Geben des Gedächtnisses, er gibt dem Gedächtnis das zurück, was ihm zugehört – das gleichzeitige Hervorkommen und Entfernen, Erinnern und Vergessen des Ausgedrückten, deren Unentscheidbarkeit im Ausdruck ist gleichsam die Figuration des nicht auszubalancierenden Zusammenspiels von Geben und Empfangen als Zurückgeben. Dieses Zurückgeben stellt keine Restitution dar,14 es ist keine Eingliederung des Geschenkten in seinen vermeintlichen Bereich des Gebens (und dadurch seine Referentialisierung),15 vielmehr das Erwidern des Gebens als einer Transgression – daher ist es Ausdruck. Der Ausdruck lässt sich nicht stabilisieren, da er selber von der „ausdruckslosen“ Bewegung der Gabe gekreuzt wird – wenn auch nicht im Sinne jener radikalen Asymmetrie und Ereignishaftigkeit wie bei Benjamin, doch auf eine Weise, die die Nicht-Identität in den Vordergrund 13 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 341. Hier wären die Überlegungen von Benjamin über das „Ausdruckslose“ einzubeziehen, das „die zitternde Harmonie einzuhalten [zwingt] und […] durch seinen Einspruch ihr Beben [verewigt]“ (Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften I.1, S. 181). Dieses Ausdruckslose könnte eine Gabe darstellen („das Wahre“ laut Benjamin), die nicht nur die Harmonie, sondern auch die Figur des individuellen dichterischen Ausdrucks von Dilthey aufbricht, den Benjamin bekanntlich gerade von Bergson resp. dem materiellen Gedächtnis der Allegorie her kritisiert (vgl. Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften I. 2, S. 608–609, vgl. Anselm Haverkamp, Kryptische Individualität, in: ders./Reinhart Herzog [Hg.], Individualität, München 1988, S. 347–348). Hier soll das Konzept des „Schockerlebnisses“ den Erlebnisbegriff von Dilthey ablösen – die „traumatische Wirkung“ des Schocks (613) beeinträchtigt nämlich die Aneignung des „Erlebnisses“ durch den Ausdruck, da sie nicht gänzlich unter die Kontrolle des Bewusstseins zu stellen ist (Benjamin geht hier von der Unterscheidung zwischen Erinnerungsspur und Bewusstsein aus, die Freud in Jenseits des Lustprinzips vornimmt). Zwischen der Rolle des „Schocks“ und dem ambivalenten Status des „déjà vu“ bei Fülep lässt sich eine Parallele ziehen. 14 Zu diesem Begriff vgl. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1985, S. 302– 442. 15 Denn so müsste das jeweilige (von vornherein gegebene) Dasein der Gabe vorausgesetzt werden, ihre Trennung von der Bewegung des Gebens – damit hängt der Begriff „keine vergangene Gegenwart“ zusammen, der sich darauf bezieht, dass das Erinnerte nicht etwas vorher schon Gegebenes, sondern eine Vergangenheit meint, die nie anwesend war. Der Zusammenhang der Spur und der Gabe (des frühen und späten Derrida) ist also für konsequent zu halten.
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stellt. Es wird verständlich, warum Fülep den Leser öfters davor warnt, Ausdruck und Intuition zu homogenisieren („der Ausdruck der Intuition ist nicht gleich und unmittelbar identisch mit der Intuition selbst“, 139).16 So kommt man in der Dimension der Memorisation zum folgenden nicht-zeitlichen Schema: Hier erscheint die Gegenwart selber als „déjà vu“, sie braucht nicht zuerst zu verstreichen, um „dann“ vergangen zu werden, vielmehr geht ihr erinnerter Aspekt ihrer Zuordnung zu einer bestimmten Vergangenheit voraus. Das Gedächtnis der Gegenwart, ihr erinnerter Modus machen die Vergangenheit als Vergangenes zugänglich – man kommt nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, genauso wenig schreitet man aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Damit meldet sich die Möglichkeit eines Gedächtnisses der Gegenwart, das bereits Baudelaire beschäftigte, das nicht von einer vorauszusetzenden Vergangenheit abhängt, vielmehr „den Augenblick selbst teilt“.17 Das ist keine protentionale oder retentionale Bewegung im Sinne von Husserl, gehen diese doch davon aus, dass „die vollendete Gegenwart und die vollendete Zukunft die Form der lebendigen Gegenwart ursprünglich konstituieren, indem sie diese teilen“.18 Im Gedächt16 Die restlose Einheit von Intuition und Ausdruck könnte sogar das Prinzip des Klons darstellen – von einem singulären, also unmöglichen Klon, der seine Lebendigkeit in sich selbst, nicht in einer programmierten Produktion begründen würde. Deren Exteriorität bzw. maschinelle, multiplizierende Produktion kann Croce in seiner ästhetischen Theorie jedoch nicht situieren: „die bemalten, Lebendigkeit nachäffenden Wachspuppen, vor denen wir in solchen Museen stutzig zurückschrecken, geben uns keine [non ci danno] künstlerischen Intuitionen“. Vgl. Benedetto Croce, Estetica (1906), Mailand 1990, S. 23. 17 Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988, S. 84. Derrida interpretiert hier bekanntlich den Aufsatz von Baudelaire, zugleich kommentiert er die betreffende Studie von Paul de Man, die die Trennung des Gedächtnisses von der Vergangenheit und seine Applikation auf die Gegenwart in Le peintre de la vie moderne bereits hervorgehoben hatte (vgl. Literary History and Literary Modernity, in: ders., Blindness and Insight, London ²1983, S. 156–157). Im Text von Baudelaire kommt der Ausdruck „das Gedächtnis der Gegenwart“ (la mémoire du présent) ja wörtlich vor, das von der „représentation du présent“ bedingt wird. Füleps Definition – „der Künstler betrachtet die Gegenwart nicht als Gegenwart, sondern als ob er sich an sie erinnern würde“ – ließe sich auf die ästhetische Repräsentationsmethode von Constantin Guys beziehen. Das „als ob“ bei Fülep könnte ferner mit Kants „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ in Verbindung gebracht werden, mit dem „Ohne des reinen Einschnitts“ (vgl. Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, S. 105–144). Diese begrifflich-systematische Richtung, die gegebenenfalls eine moderne Relektüre von Kants dritter Kritik verspräche, kann hier nicht weiter verfolgt werden. 18 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 117. Die Retention meint bei Husserl bekanntlich das Vergangenheitsbewusstsein: „Die Retention (…) erzeugt keine Dauergegenständlichkeiten (weder originär noch reproduktiv), sondern erhält das Erzeugte im Bewußtsein und prägt ihm den Charakter des ‚soeben vergangen‘ auf“ (Edmund Husserl, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Hamburg 1985, S. 36). Diese Intentionalität enthält auch das „déjà vu“ (wenngleich dieses keine bewusste Erinnerung, son-
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nis der Gegenwart ist genau diese Verteilung auf (sei es vergangene, sei es künftige) Gegenwarten nicht gegeben, da jenes die Gegenwart spaltet und so die Bewegung der Verräumlichung in Gang setzt. Folglich ist in Bezug auf die Struktur der Gabe nicht die retentionale Entfernung der Gegenwart entscheidend,19 vielmehr das Geben des virtuellen Gedächtnisses – dessen Ankunft initiiert jedoch nicht die Produktion oder Reproduktion des Vorhandenen, sondern vielmehr das Auftauchen einer Vergangenheit im Modus der „Nachträglichkeit“ (von Freud), die nie gegenwärtig war (und die sich so notwendigerweise ihren eigenen Kopien, Supplementen, dem Artifiziellen und dem Abgeleiteten überantwortet).20 Fülep sagt das so nicht, doch weist seine These eine eigentümliche Radikalität auf: das, was nicht der Sphäre des Gedächtnisses eines gegebenen Individuums zufällt, lässt sich auch in die Sphäre seiner Intuition und Perzeption nicht eingliedern (...) Daher die These: wir erinnern uns nicht an das, was wir sehen, wir sehen nur das, woran wir uns erinnern oder erinnern könnten (135).21
Historisch betrachtet lässt sich die Überlegung von Fülep vor allem auf Baudelaire zurückführen. Derrida stellt in seiner Analyse von Der Maler des modernen Lebens (mit Bezug auf de Man) das Gedächtnis, nicht die Erinnerung in den Vordergrund, sofern „das Gedächtnis der Gegenwart“ sich erst von hier aus verstehen lässt. Und in der Tat, dies entspricht auch der Seinsweise der Gabe: von ihr ist dern eine Art sekundäres Erinnern ist). Das „déjà vu“ lässt den Unterschied von Erinnerung und Wahrnehmung, primärem und sekundärem Gedächtnis umkippen, in ihm bedeutet die Verwandlung eine reproduktive Modifikation, die Untrennbarkeit von Repräsentation und Wahrnehmung. Diese Momente stellen auch den systematischen Status der Retention in Frage (ist im „déjà vu“ doch kein identifizierbarer originärer Eindruck vorhanden), damit in eins auch den Unterschied von Gewissheit und Repräsentation, Retention und Erinnerung (welche Unterscheidung bei Husserl wohl kartesianischer Herkunft ist). Kritisch zum Zeitkonzept vgl. Günter Figal, Gegenständlichkeit, Tübingen 2006, S. 325–332. 19 Füleps Formulierung lässt keinen Zweifel diesbezüglich aufkommen: „das Erinnern ist kein blasses Bild irgendeiner vergangenen Gegenwart, vielmehr ihre Verwandlung, Formierung, ihre Eingliederung in ein System und in eine Einheit, in einer Weise, die von jener Gegenwart nicht zu deduzieren ist“ (139). 20 Vgl. Jacques Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 46. Ferner vgl. Grammatologie, S. 116. An beiden Stellen konfrontiert Derrida die Auffassungen von Husserl und Freud miteinander, was auch die Position der Erinnerungstheorie von Fülep beleuchten kann, kann man sie doch zwischen Husserl und Freud situieren. 21 Die betreffende Fußnote von Fülep geht weiter: „[D]araus folgt die Apriorität des Erinnerns (als Form, als Kategorie) gegenüber der Perzeption. Diese These werden wir ein anderes Mal entwickeln.“ Gegen Ende der Abhandlung ist unter anderem „nicht die Frage“, „wie denn aus Natur Kunst wird, sondern wie aus der Kunst Natur wird, und – zurückkehrend zum ersten Teil unserer These – wie aus dem Erinnern Perzeption wird“ (151).
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nur ihr materielles Gedächtnis, ihre Bewahrung oder Bezeugung möglich, nicht ihre genealogisierend-konfessive Erinnerung, da keine Vorgeschichte der Gabe zu postulieren ist, würde sie dadurch doch auf Intentionalität, Tausch und Ökonomie zurückgeführt. Das wäre aber keine Gabe mehr, und mithin ist das ihr entsprechende Gedächtnis auch ein Vergessen, das die „Anteriorität“ der Vergangenheit ausstreicht,22 einer Vergangenheit, die der Gabe vorgängig gewesen wäre, die sich unabhängig vom Ereignis der Gabe als Vergangenheit identifizieren ließe. Man sieht, dass das Moment der Maschine ein Index des die „Vergangenheit“ der Gabe ausstreichenden Gebens darstellt. Ferner: Das keine Vergangenheit identifizierende oder animierende, sondern das Zukünftige mobilisierende Gedächtnis muss wesensmäßig ein Gedächtnis der Gabe sein. Fülep zieht auch die Vorstellung vom „Neuen“, den Begriff der ästhetischen Innovation, unter Revision: Das „Neue“ erscheint im Klonen des Gedächtnisses, tatsächlich bringt es sich als Klon des Ausdrucks hervor. So macht Fülep – wie früher die „Einbildungskraft“, die Fiktion als Kriterium des Ästhetischen – das Moment der künstlerischen Innovation als bedingt von einer medialen Konfiguration sichtbar, er entzieht dieses also der Alleinherrschaft der Imagination. In der Tat werden in der Schrift alle drei begründenden Begriffe der neuzeitlichen Kunsttheorie – Originalität, Fiktion (Phantasie) und Innovation – merklich verschoben. Auch der Klon ist für die Kopie der nicht-anwesenden Spur zu halten, gleichwohl überliefert er sie auch. Der Ausdruck macht die Gegenwart zu ihrem eigenen Klon, dank dem virtuellen Dazwischenkommen der unzugänglichen Materialität des Gedächtnisses, nicht aufgrund einer autonomen Formenbildung. Folglich meint das „déjà vu“ an diesem Punkt den Klon der Gegenwart selbst – nicht bloß die Kopie oder das Simulakrum eines vermeintlichen vergangenen Erinnerungsbildes, vielmehr jene Macht des Gedächtnisses, die sich im Klonen der Gegenwart kundgibt. Da all dies sich nur im Zitieren des Ausdrucks und im Zitieren durch den Ausdruck, gleichsam als Ausdruck, in der Form der Materie oder Verkörperlichung manifestiert, so verwandelt dies den Klon über die Repräsentation und Figuration hinaus in eine materiale Produktivität, die freilich in einer phantomhaften Spektralität wurzelt.23 Eine zugleich lebendige und dingliche Produktivität, die maschinen22 Vgl. Derrida, Mémoires, S. 86 (er berührt hier nicht die Problematik der Gabe). 23 Freud sieht die Figur des romantischen „Doppelgängers“ in Das Unheimliche (1919) in der „beständigen Wiederkehr des Gleichen“ der Korporealität, und er entzieht sie dem Aspekt des psychischen oder reflexiven Doppels: „Die Identifizierung mit einer anderen Person, so dass man an seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die Stelle des eigenen versetzt, also Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen, die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale, verbrecherischen Taten, ja der Namen durch mehrere aufeinanderfolgende Generationen“. In: Sigmund Freud, Gesammelte Werke XII, Frankfurt a. M. 1999, S. 246.
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hafte Unendlichkeit der materiellen Produktion und die maschinelle Materialität der unendlichen Produktion als Vererben des Lebendigen – das ist der Klon als exteriorisierte Selbstreproduktion. Er bringt sich nicht für sich selbst zustande, sondern im Interesse des Weiterlebens des Originals. Die Bedeutung des Moments vom Klon besteht also darin, dass er die vitale Notwendigkeit des Organischen mit dem konstituierten Charakter des Simulakrums verschränkt (in dessen numerischer Dimension), in der Verknüpfung „der Maschine mit dem Lebendigen“,24 genauer in der Überschreitbarkeit der Grenzen zwischen ihnen. An diesem Punkt der Argumentation, bei der Annahme der Reproduktion der Gegenwart, lässt sich das „déjà vu“ mit der materialen Repetition des Klons verbinden.
3. Anti-Pygmalion: Animierung und Maschine Die Theorie von Fülep und ihre Implikationen dürften sich als ziemlich folgenreich erweisen für die mediale und anthropologische Begründung der ästhetischen Theorie. Sie bedeuten ein beträchtliches Potential für die Überprüfung jener romantischen Prämisse der ästhetischen Ideologie, die das Kunstwerk als die Beseelung einer Materie, und die Aisthesis, die rezeptive Erfahrung dementsprechend als die Animierung der Materie des Kunstwerkes auffasst. Die Ikone dieser Tätigkeit hat in der Kunstgeschichte bekanntlich seit jeher die Pygmalion-Geschichte angegeben. Diese Figuration der Animierung setzt immer eine perzeptive Begründung voraus, das „Leben“ erscheint hier als perzipierbare Lebendigkeit und nicht so sehr als Leben der Materie selber, das man nur aus der Perspektive eines Überlebens (als dem Zusammenspiel von Gedächtnis und Zukünftigkeit) wahrnehmen kann. Wenn also Fülep den Vorrang des Gedächtnisses der Perzeption gegenüber postuliert, so sagt er damit auf indirekte Weise etwas über das Leben als Materie, über die Materie als Leben und ihr Verhalten zu ihm aus. Wichtig zu sein scheint an diesem Punkt Folgendes: die Animierung oder Verlebendigung versteht das Geben oder die Gabe von der Subjektivität her; die Konstitution des Ästhetischen, zumindest aber der ästhetischen Wirkung (als Illusion) erscheint als das Geben des Lebens. Die Problematik der Gabe ist also auch hier präsent, jedoch in der Form eines Tausches: der Rezipient gewinnt in diesem Akt des Gebens als „der Praxis des Illusionismus“25 seine eigene Subjektivität, seine Freiheit als Herr-
24 Vgl. Jacques Derrida/Élisabeth Roudinesco, Woraus wird morgen gemacht sein? Stuttgart 2006, S. 100. 25 Vgl. W. J. T. Mitchell, Picture Theory, Chicago 1994, S. 339.
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schaft über seine eigenen Fähigkeiten.26 Der Künstler bei Fülep dagegen erschien als Empfänger der Gaben des Gedächtnisses, die ihn nicht so sehr befreit, sondern vielmehr petrifiziert und zum objekthaften Subjekt einer maschinellen Handlungsreihe gemacht hatte (auch das Auftauchen vom „déjà vu“ kann diesen Effekt der Unverfügbarkeit, mit Benjamin gesprochen dieses „Schockerlebnis“, zeitigen, nicht bloß im Sinne der „mémoire involontaire“ von Proust, da hier die Frage nach dem fiktiven oder faktischen Charakter des Erinnerten in der Schwebe bleibt). Das Ich erhält keine Identität in der Konfrontation mit den diskontinuierlichen memorialen Effekten des Gedächtnisses, wo der Klon auch als Wiederkehr, Materialisierung des (im Unbewussten anwesenden) Verdrängten bzw. als dessen Schock interpretierbar wird.27 Unterbrochen wird hier also jene Ökonomie des Gebens vom Leben, die sich in der Dialektik von Petrifizierung und Lebendigkeit meldete – das wiederum wird von der Maschine ausgelöst. Die Gabe bedeutet immer eine Asymmetrie – auch in dem Sinne, dass sie weder natürlich noch künstlich ist und den Tausch von Natur und Kultur aufbricht. Nicht zur Gänze steht der Gabe hingegen jene materielle Produktivität entgegen, die sich in der maschinellen Produktion kundtat, da diese mit der Transgression der Gabe, mit ihrem Überschusscharakter in Verbindung steht. Es wird klar, dass die sich im Klon freisetzende materielle Repetition oder Serialisierung den von der Subjektivität her verstandenen Akt, überhaupt die Möglichkeit des Gebens vom Leben hinfällig macht (parallel z. B. zur Relativierung des Status der Einbildungskraft), indem der Klon Figur des nicht-individuellen Überlebens – nicht bloß des Überlebenden 28 –, materialisierter Träger der Produktion des Überlebens als solchen ist. Bereits Baudelaire hatte das Moment der Animierung der Gabe des Gedächtnisses zugeschrieben, von „der zum Leben erweckenden Anstrengung des Gedächtnisses“ gesprochen, „das zu den Gegenständen spricht: ‚Lazarus, erhebe dich‘“.29 Es geht hier um ein nicht-totalisierendes Überleben, da dieses keinen Mangel des – in sich verstandenen – „Lebens“ kompensiert (vielmehr das Lebendige mechanisiert, supplementarisiert und maschinell macht).30 In Anbetracht seiner ideologisch-utopischen 26 Vgl. Paul de Man, Allegories of Reading, New Haven/London 1979, S. 160–187 (Kapitel: Self [Pygmalion]). 27 Das Ich muss seine eigene Multiplizierbarkeit vergessen, damit es seine Stabilität bewahrt. Vgl. Debbora Battaglia, Multiplicities, in: Critical Inquiry 27 (2001), S. 512, 504. Zur Kulturgeschichte der Kopie vgl. Hillel Schwartz, Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, Berlin 2000. 28 Nach der Beobachtung von Battaglia lässt sich der Code der heroischen Individualität nicht zuordnen (entgegen z. B. dem Doppelgänger). Ebd., S. 506. 29 Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, München/Wien 1989, S. 231. Hierzu vgl. Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, S. 51–54. 30 Derrida: „… Ereignis des Weiterlebens (survie), und zwar eines Weiterlebens, das niemals Gegenwart gewesen sein wird.“ Jacques Derrida, Überleben, in: ders., Gestade, Wien 1994,
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Absicht („Unsterblichkeits“-Topos) versteht es sich freilich als Kompensation, indes ist hier die Reproduktion des „Lebens“ keine Antwort auf eine vorausgesetzte nicht-lebendige Materie, kein ursprünglicher begründender Akt, vielmehr die Weiterverpflanzung des hergestellten Lebendigen. In dieser Programmierung des Lebendigen geht der Klon immer schon über das Original hinaus, das macht seinen bedrohlichen Charakter aus, nicht nur die korporeale Repetition. Gleichwohl beeinflusst er auch das Original, da er dessen Gedächtnis in sich enthält.31 Wenn die Klone sich nach Heidegger als Korporealisierungen „der doppelten Kapazität (Entbergen und Gestell) der Technik“32 auffassen ließen, so wird dafür die Vorstellung des Lebendigen als einer be-stellbaren Materie benötigt. Es ist bekannt, dass die klassisch-moderne Kulturkritik (Simmel, Weber, Cassirer) die Symptome der Verknüpfung von moderner Technik und Kultur in der bedrohlichen Perspektive des Lebendigwerdens der Dinge und der Verdinglichung der Menschen in zwar lebendige, aber mechanisierte (desindividualisierte) Wesen erblickte – gleichsam im Sinne der Logik des Klons –, dennoch ist der Technikbegriff von Heidegger als erster zu einem Konzept des Lebendigen als bestellbarer – und das heißt: multiplizierbarer – Materie gekommen.33 Die Re-Produktion des Lebendigen ist vom Operieren der Maschine, des „Ge-stells“ als einer bestellenden und präparierenden Speicherung nicht zu trennen.
4. Ästhetik als Biopolitik der Gabe Die kunstinterpretierende Praxis von Fülep kann hier aus Platz- wie aus Kompetenzgründen nicht besprochen werden, dennoch sind einige Hinweise auf seine Beobachtungen bezüglich der Kunst seiner Zeit nötig, die sich mit den oben ausgeführten Überlegungen in Verbindung bringen lassen. – Fülep hat etwa Cézanne S. 185. Und im Zusammenhang der Gabe: „Allein das ‚Leben‘ vermag zu geben, aber ein Leben, in dem diese Ökonomie des Todes sich darstellt und sich überborden läßt. Weder der Tod noch das unsterbliche Leben können jemals geben, sondern allein ein einzigartiges Überleben.“ Derrida, Falschgeld, S. 135. 31 Der Gedanke der „ewigen Wiederkehr“ ist vielleicht zugleich der Gedanke des „déjà vu“ und des Klons. Vgl. hierzu noch die Individualitätskritik von Nietzsche: „Hat man begriffen, inwiefern ’individuum’ ein Irrthum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß ’vererbt’, sondern er selbst...), so hat dies Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung“. Ferner: das Individuum „ist das ganze bisherige Leben in Einer Linie und nicht dessen Resultat.“ Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885–1887, in: KSA, S. 12, 349, 378. 32 Battaglia, Multiplicities, S. 503. Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze (= GA 9), Frankfurt a. M. 2000, S. 9–40. 33 Vgl. ebd., S. 27–28.
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sehr früh wahrgenommen und ihn auf einem sehr innovativen Niveau interpretiert. Hierbei hat er unter anderem die „materielle Sensation“ des Stoffs als die primäre Herausforderung und Motivierung der ästhetischen Erfahrung hervorgehoben.34 Diese „elementare Sensation“ ist nicht im Lokalisationskontext der Gegenständlichkeit zu suchen: „Hier will ich vergeblich mit Phrasen operieren, wie: wie ist es herausgeschnitten, wie ist es in den Raum gestellt usw. (…) Diese Luft kann man nicht einrahmen, sie hat keine Grenze, sie strömt in alle erdenklichen Richtungen bis zur Unendlichkeit aus“ (325–326). Beobachtungen solcher Art stehen in einem unleugbaren Gegensatz zur traditionell kunsthistorischen bzw. impressionistischen Auffassung vom Bild als einer Oberfläche, welche Auffassung freilich auch bei Fülep präsent ist.35 Sein Impressionismuskonzept operiert jedoch von vornherein mit temporalen Begriffen jenseits des Prinzips der unmittelbaren Wahrnehmung. Beispielsweise zeigt er – nach einem Hinweis auf Monet – den datierten Aspekt der „modernen Bilder“ an, auf denen „wir meistens wissen, wie viel die Uhr gerade geschlagen hat“.36 Gerade auf den seriellen Bildern von Monet ist das Datum freilich das Glied einer Reihe,37 das aporetische Verhältnis von Singularität und Wiederholbarkeit kann also auch hier in den Vordergrund rücken. – Sein Verhältnis zur Technik war eher kritischen Charakters, so hat er z. B. in der Photographie ausschließlich eine antikünstlerische Tendenz gesehen, dabei genau im Sinne der Spaltung des Ausdrucks, des Produktionszuges der photographischen Oberfläche, der mit dem Effekt des „déjà vu“ verwandt ist: nicht den seelischen Ausdruck, sondern höchstens die photographische Ähnlichkeit. Auf dem Lichtbild sind die Menschen tatsächlich ähnlich, da die Photographie nicht imstande ist, einen oder mehrere Züge zu betonen, die einen herausragend charakteri-
34 Vgl. Lajos Fülep, Salon d’automne, ferner Paul Cézanne, in: ders., Egybegyűjtött írások I, Budapest 1988, S. 324–326, 363–364. 35 Etwa in seinem Essay über den Maler Pál Szinyei Merse, s. Egybegyűjtött írások I, S. 90. 36 Fülep, A műterem [Das Atelier], in: ders., Egybegyűjtött írások I, S. 421. 37 Fülep weist öfters auf die Serienbilder von Monet hin, vgl. etwa Egybegyűjtött írások I, S. 151. Er drückt sich am genauesten jedoch in seiner Abhandlung Magyar festészet [Ungarische Malerei] aus: „Schließlich verschwindet im Impressionismus der Raum ganz, und verbleibt die absolute Zeit: der mathematische Zeitpunkt. (…) Nicht verschiedene Zeitwerte kommen da miteinander in Beziehung (…) sondern vollkommen identische und homogene Zeitwerte sind nur präsent, also ein einziger Zeitpunkt. Die verschiedenen Zeitpunkte kommen nicht auf demselben Bild zusammen, sondern tauchen jeweils auf anderen Bildern auf: Monet malt eine ganze Serie vom selben Motiv in verschiedenen Augenblicken des Tages. (…) Die abstrakteste Definition des impressionistischen Bildes lautet also: derselbe Augenblick fixiert auf zahllosen Flächen“ (Fülep, Egybegyűjtött írások II, S. 198–199). Zu den Serien von Monet vgl. Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk, München 1998, S. 273–277.
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sieren (…) Die Indifferenz der Maschine steckt auch in den alltäglichen Portraitmalern.38
Man sieht die kunsttheoretische Stärke von Fülep gewöhnlich eher darin, dass er die geistesgeschichtliche Kategorie der „Weltanschauung“ als ein Geflecht des Materials auslegt und dieses in seiner Historizität zu verorten sucht.39 Dieser Ausgangspunkt erweist sich aber nicht unbedingt als fähig, die technischen Indexe der modernen Kunst angemessen zu würdigen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Kitsch in der Moderne zum unvermeidlichen kulturellen Massenphänomen wird – der Kitsch ist nichts anderes als der Pygmalion-Effekt bzw. seine Provokation unter modernen technischen Bedingungen.40 Der Aufsatz von Leo Popper bringt den Kitsch und seine Verbreitung mit dem 38 Fülep, Az arckép [Das Portrait], in: ders., Egybegyűjtött írások I, S. 402. „Der deutsche Psychologe Emil Kraepelin verglich das déjá vu mit der Fotografie und beschreibt als ‚Pseudoerinnerung‘ den Zustand, da ein neues Erlebnis wie die fotografische Kopie eines früheren erscheint.“ (Schwartz, Déjà vu. S. 313). 39 Seine These ist ursprünglich diese: „Es geht nicht um die Geschichte von Techniken, Fähigkeiten, ‚der optischen Entwicklung des Sehens‘ usw., sondern um die Geschichte des sich selbst ausdrückenden und darstellenden Geistes, mit heutigem Begriff: um Weltanschauungsgeschichte.“ Lajos Fülep, Művészet és világnézet [Kunst und Weltanschauung], in: ders., Egybegyűjtött írások III, Budapest 1976, S. 323. Der Systemgedanke: „Dieses Material (der Kunst) ist auch in sich selbst ein Geflecht, aber auch als Ganzes gehört es in ein Geflecht, in ein ‚System‘ hinein, außerhalb eines Gewebes oder Systems gibt es nichts. Jedes Geflecht, jedes System stellt eine Weise dar, wie ich die Welt, das ‚Leben‘, die ‚Natur‘ auffasse, also: Weltanschauung“. Der hegelianische Ausgangspunkt setzt der Autonomie der Systeme zugleich aber auch deutliche Schranken: „Derselbe Geist bringt die verschiedenen Systeme, wie ‚Leben‘, Religion, Metaphysik, Ethik, Kunst, hervor“ (Művészet és világnézet, S. 254). Daher zeigt die folgende These – wie so oft – die Stärke und Angreifbarkeit der Überlegungen von Fülep zur gleichen Zeit auf: „[L]etztendlich entscheidet immer die Weltanschauung über das Sosein des Materials“ (A mai művészet válsága [Die Krise der heutigen Kunst], in: ders., Egybegyűjtött írások III, S. 289). Anderswo erscheint jedoch Füleps Sensibilität in Bezug auf die ästhetische Leistung des von der Formbildung losgelösten Materials. Er schreibt über eine Statue von Donatello: „Alles, was in ihr verständlich ist, folgt aus der Eigentümlichkeit, dem Gewicht, der Schwerkraft; nicht aus der Idee der monumentalen Komposition und der plastischen Form. Es versteht sich selbst als Material, aber nicht als Statue“ (Donatello problémája [Donatellos Problem], in: ders., Egybegyűjtött írások II, S. 184–191). Zur Kunstauffassung von Fülep (und vor allem Leo Popper) vgl. noch Péter Szirák, A lélek és a véletlen [Die Seele und der Zufall], in: Zoltán Kulcsár-Szabó/Péter Szirák (Hg.), Az esztétikai tapasztalat medialitása [Die Medialität der ästhetischen Erfahrung], Budapest 2004, S. 271. 40 Vgl. mit der Bemerkung von Hermann Broch: „So geringfügig das Phänomen des Kitsches auch erscheinen mag, es meldete sich, mystisch gesprochen, in ihm erstmalig die kommende Dehumanisation der Welt an“. Hofmannsthal und seine Zeit, Frankfurt a. M. 2001, S. 177. Zum Kitsch aus der allgemeinen Perspektive der Moderne vgl. Matei Calinescu, Five Faces of Modernity, Durham 1987, S. 225–262.
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modernen Individualismus, mit dem Kult der Persönlichkeit in Zusammenhang, da der Kitsch über die Prinzipien des Materials hinausgeht („Denn kontrollierbar ist nur das Unpersönliche und das Formale“).41 Der Aufstand der Dinge ist Index dieses Individualismus, zugleich der maschinellen Produktion (Popper macht hier Beobachtungen auf dem Niveau eines Simmel, im Jahr 1910): Eine Lebendigkeit verzweifelter Art hatte sich der Dinge bemächtigt. Das neue Ornament, von nirgends abgeleitet, hemmungslos hergestellt, gemischt und übertragen, hatte im Nu die halbe Welt belebt (…) Das Ornament ist Wind, aber es ist von Eisen; es hat kein Original, aber es hat Millionen Wiederholungen. – Denn die Maschine ist willig (60–61).
Die Singularität des „unpersönlichen und formalen“ Stoffs wird dem Maschinellen gegenüber zur Fiktion, gerade dadurch wird dieses unbeherrschbar und zur unvermeidlichen Voraussetzung und Bestimmung jeder Kunstproduktion: Die Möglichkeiten der Maschine wirkten zurück auf den Künstler: sie ging nicht nur auf alle seine Wünsche ein, sie verführte ihn auch zu neuen Taten „aus ihrem Geiste“, wie sie fantastischer und ungeheuerlicher sein eigener nie erdacht hätte (…) Ein Gedanke, eine Druck auf einen Hebel und die Maschine spie ihre Ungeburt der wartenden Welt in die Arme. – Das Unglück hatte gewollt, daß die beiden gräßlichen Erfindungen, Individualismus und Konfektion gerade zur gleichen Zeit über die Menschheit hereinbrachen (…) Cachet und Cliché waren hier aneinander gebunden. Und das große Zwischenglied war aus der Welt (61–62).
Die „Schönheit“ ging „im Rauch der Reize“ auf – die Reaktion des Rezipienten wird selber planbar und produzierbar, die reine theoretische Möglichkeit einer Rezeptionsästhetik problematisierend: vielleicht ist es kein Zufall, dass derselbe Benjamin, der das Prinzip des Rezipienten ablehnte (Die Aufgabe des Übersetzers), nach gut zehn Jahren vom Gedanken „der technischen Reproduzierbarkeit“ der Kunst in Anspruch genommen wird. Im späteren Teil der Abhandlung von Fülep kann man das symptomatische Phänomen beobachten, dass er selber gegenüber der Neuheit seiner Einsicht, vor allem aber deren unerwarteten Implikationen zu defensiven Operationen gezwungen wird. Vermutlich handelt es sich nicht um einen einfachen Widerspruch – auch wenn es relativ naheliegend wäre, den Text in diesem Sinne zu untersuchen –, 41 Leo Popper, Der Kitsch, in: ders., Schwere und Abstraktion. Versuche, Berlin 1987, S. 60 (weitere Seitenzahlen im Text).
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vielmehr um einen Zwang, dass er seine eigene These, deren Bedeutung mit dem Arsenal der zeitgenössischen Kunstwissenschaft größtenteils nicht zu erfassen ist, dennoch in die Figuren der ästhetischen Ideologie wieder eintreten lässt. Das Hauptmoment hier ist die Verdrängung der Funktion des „Ausdrucks“ zugunsten der Emergenz der „Form“. Hinter diesem Schritt steht möglicherweise der Verdacht gegen die Sprache, infolgedessen der Kunsthistoriker über den Theoretiker Fülep Oberhand gewinnt. Die Allgemeinheit der Sprache42 mache die Rückkehr zur Individualität der Form nicht möglich – hier versucht Fülep, „mit der spezifischen Kombination der allgemeinen Elemente“ (140) den künstlerischen Gebrauch der Sprache zu beschreiben, und schreibt für das Erinnern „die Versöhnung von Allgemeinem und Individuellem“ (141) vor, was man hier möglicherweise als ein geistesgeschichtliches Klischee werten könnte. Fülep ist nicht gewillt, die Sprache zum Paradigma der Ästhetik zu ernennen, vielmehr warnt er Letztere vor der „Generalität“ der „bloß sprachlichen Tätigkeit“. Der Ausdruck als Form ist „eine Aktivität höheren Ranges“ als die sprachliche Tätigkeit, „sie kann aus dem Charakter und der Konstruktion der Sprache nicht hergeleitet werden“ (140).43 Das Kapitel Sprache und Linguistik, das scharfe Ausgrenzungen vornimmt, stellt die Wasserscheide im Übergang vom Ausdruck zur Form dar. Die erste Station hier ist die Behauptung der sublimierenden Funktion der Form, im Rahmen einer humanistisch-idealistischen Situierung der ästhetischen Erfahrung („der Mensch aber – und das ist eines der allgemeinsten und tiefsten Gesetze der Seele – wird erst von seinen formgewordenen Erlebnissen frei, nur in der Form überwindet er sie“, 141). Wenig vorher handelte er von der „Überwindung der Wirklichkeit 42 Füleps hegelianisierende Behauptungen über die Sprache sind zum Teil zutreffend, wenn er über die Allgemeinheit der sprachlichen Propositionen spricht, letztlich ist aber für ihn die Sprache nichts anderes als eine Sammlung von Begriffen. Daher wendet er sich vom Paradigma der Sprache in der Ausarbeitung der Ästhetik ab. 43 Der Verdacht gegenüber der Sprache als kunsthistorischem Topos meldet sich öfters in Füleps Kunstkritik, vgl. etwa Egybegyűjtött írások I, S. 126. Anderswo ist aber eine viel umsichtigere Sprachkritik am Werke: „es gibt keine Natur, die nicht schon irgendwelche ist, indem ich das Wort ‚Natur‘ ausspreche“ (Művészet és világnézet, S. 252). Man könnte hier eine Unterscheidung des Philosophen Béla Zalai (von 1913–1914), eines anderen Mitglieds aus dem „Sonntagskreis“, aufgreifen: „... Wenn auch Sprechen – psychologisch – ein Handeln ist, bleibt doch die Sprache, die nichts weniger als eine Gesamtheit von ‚Sprechen‘ ist, ein ganz unabhängiges Gebilde für sich, das keine Gemeinschaft mit Handlung hat.“ Er beweist diese These mit der wechselseitigen Unübersetzbarkeit der Sprache des Handelns und der Wortsprache, in einer Weise, die an Nietzsche erinnert: „Es ist eine Abbildung der Pantomime in der Wortsprache oder umgekehrt absolut unmöglich; höchstens Transponieren“ (Béla Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, Budapest 1982, S. 90, 94). Die problematischen Aspekte der Sprachauffassung von Fülep deuten von hier aus gesehen auf die unzureichende Artikulation seines Medialitätsbegriffs, welcher Mangel die Hauptursache seines Rückfalls in die idealistische Ästhetik darstellt.
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durch die Formgestaltung“ (140). Die Teile danach mit der Unterstreichung der Rolle der Form – die an die Ästhetik von Georg Lukács erinnern – stellen die am wenigsten innovativen Abschnitte der Schrift von Fülep dar,44 hier verlauten im Wesentlichen geistesgeschichtliche und ästhetische Gemeinplätze über die Unterschiede zwischen den normalen Menschen und den Künstlern bzw. über die Form als das Resultat von Auswahl und Weglassen. Hier kommen einige selbstentlarvende Momente der Formlehre zum Vorschein: Je mehr Fülep die Unabhängigkeit der Form von der Wahrnehmung (gleichsam als Kritik am Impressionismus) betont, desto stärker wird der Verdacht, dass diese Formkonzeption ihre Selbstlegitimation letztlich doch aus ihrer Opposition zu einem unkritischen Wirklichkeitsbegriff erhält. „An eine offene, zerfließende, instabile Figur kann ich mich nicht erinnern; an eine abgeschlossene, klare, in sich stehende Figur aber schon“ (143). Man kann sogar von einer konservativen Kunstauffassung sprechen, die an diesem Punkt das Erinnern an die Fähigkeit, das Moment der Form an die Wahrnehmung bindet. Charakteristischerweise folgt hier der Künstler „den Fingerzeigen des Erinnerns“, diese „denkt er zu Ende und wendet sie an“ – die vermittelte Seinsweise der Erinnerung (vgl. „Anruf“) und deren Gaben werden zugunsten des explizit „absichtlichen“ Erinnerns (142) bzw. der deiktischen Bezüge der Wahrnehmung und der Formgestaltung verlassen. Fülep vergegenständlicht und instrumentalisiert das Gedächtnis in vollem Maße im Interesse der Stabilisierung der Gegenstände des Ausdrucks, der Konstituierung der Form. – Zu diesen Topoi kann man auch die im Bildhauervergleich artikulierte Wahrnehmung als Prinzip der Formkonstruktion zählen: Aus einem gegebenen Stoff, dem Chaos, schälen, höhlen wir, man könnte sagen, modellieren, bauen wir die Figur auf. So wie der Bildhauer, wenn er von dem gegebenen chaotischen Stoff, dem Marmorblock das Überflüssige entfernt, um das Wesentliche, die Figur zu hinterlassen … (142)
Später wird die formbildende, sublimierende Funktion des Erinnerns mit dem „interesselosen Wohlgefallen“ von Kant verknüpft (146–147), wo wieder „das Erreichen der Freiheit von der empirischen Realität“ das Ziel ist, das durch die distanzierende Rolle der in der Erinnerung realisierten Formbildung in den Vordergrund gerät. An diesem Punkt erscheint eher das Gedächtnis als eine Form, weniger die 44 Viele ungarische Interpreten heben indes gerade diese ideologischen Teile aus der Abhandlung mit Vorliebe hervor. Vgl. demgegenüber die Bemerkung von János Kelemen: „Wir müssen den positiven, über die ausgezeichnete Kritik an Croce hinausweisenden theoretischen Teil [der Schrift von Fülep] als unvollendet ansehen“. János Kelemen, Fülep Croce-kritikája, in: Pro Philosophia Füzetek (1997), S. 47.
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Form als Gedächtnis (generell kann gesagt werden, dass das Verhältnis von Gedächtnis und der modifizierenden Wirkung der Form – ihrer Motivierung über die Formbildung hinaus –, ihr Unterschied unklar bleibt, einmal taucht die Form vor dem Ausdruck, ein anderes Mal der Ausdruck vor der Form auf, in welcher Aporie der Theoretiker der – sprachlichen – Medialität an das normative ästhetische Prinzip des Kunsthistorikers stößt). Fülep setzt hier das – nunmehr ausschließlich intentionale – Erinnern als instrumentellen Zusammenhang ein, dadurch gerät er aber in starken Widerspruch zur früher ausgearbeiteten Prämisse des autopoietischen Geschehens vom Gedächtnis. Fülep fällt hier hinter Baudelaire zurück, bei dem der Künstler gerade nicht als Souverän des Gedächtnisses und des Erinnerten, vielmehr als deren Besessener oder gar Gefangener erscheint. So überrascht es nicht, dass das Erinnern hier sogar zur „Möglichkeit der Entwicklung der Kunst“ avanciert (149). Darauf schreibt er dann der Form die Aufgabe zum Ausdrücken der „Ewigkeit“ zu. Und Fülep gibt schließlich den historischen Namen des von ihm bevorzugten Paradigmas vom Erinnern an: das ist die platonische „Anamnesis“ („der Künstler erinnert sich besser als jeder andere an das Sein, aus dem er kam“), die Wiedererkennung oder Wiedererinnerung der Ewigkeit als Form (die kursivierte These heißt: „Das Schöne ist der Ewigkeitscharakter der Form einer jeglichen Erscheinung“, 152). Die „Anamnesis“ wird der Mneme, die Erinnerung dem Gedächtnis gegenübergestellt, und die Kunst wird zur Weise der „Befriedigung“ eines „metaphysischen Bedürfnisses“, gleichsam als religiöse Nachempfindung des „ästhetischen Phänomens“ von Nietzsche. Fülep missversteht damit nicht nur seine eigene Ausgangsthese, sondern legt Zeugnis von einer defensiven Attitüde ab, die aufgrund von nur ästhetiktheoretischen Kategorien nicht mehr zu beleuchten ist, lässt doch das Abstreiten des Paradigmas vom Gedächtnis gegenüber der Kunst – entgegen den Gedanken von Baudelaire und Freud – auf ein technologiefeindliches Verhalten schließen. Die Mneme als der Name der Materialität des Gedächtnisses unterliegt der Poetologie des Wissens (der Erinnerung), so wird die Autopoiese des Gedächtnisses zu einem allopoietischen Zusammenhang. Fülep findet so am Ende seiner Abhandlung doch das verlorene Original oder Hypogramm des „déjà vu“, und vergisst dabei, dass die Wiedererkennung (die „Anamnesis“) unter Bedingungen des „déjà vu“ nur Fiktion sein kann. Sein Rückfall in die ästhetische Unterscheidung ist dennoch kein dramatischer Wechsel, operierte doch der Text von vornherein mit einer doppelten Optik: die entsubjektivierte Archivierung oder Bewahrung wird mit der intentionierten Verwandlung, der ambivalente Ausdruck mit der Sublimierungsfunktion der Form, die Medialität des Gedächtnisses mit der Phänomenologie des Erinnerns verknüpft. Das verlorene Original vom „déjà vu“ ist somit nichts anderes als die anthropologische Fundierung der Form (die den „Schein“ von Nietzsche totalisiert, im Zeichen „des Willens zum Sein“ stellt sie letztlich den nicht-täuschenden Aspekt, die Wahrheit der
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Kunst in der statuarisierbaren, weil ein metaphysisches Bedürfnis erfüllenden Form). Die so verstandene Form funktioniert in der Skizze von Fülep als ein Totem, als eine naturale (indem sie die Evokation erleichtert) und zugleich artifizielle/ kulturelle (Harmonie) Entität, die als eine identifikatorische Figur des Anthropologikums dient. Insofern ist sie in der Tat eine Figur, die pygmalionartige Figur des Unlebendigen (als Maschinerie), die das Lebendige als allgemeines Prinzip substituiert und repräsentiert und aus der „Emanation des Ichs“ herleitet, wo die Konstituierung der Gestalt „zur Allegorie der Figuration“ wird.45 Es ist möglich, dass die ästhetisch-anthropologisch festgestellte Form die kontingenten, gegen die Animation stoßenden Effekte der Figuralität der „Form“ (als eines rhetorischen Gebildes) auszuschließen sucht. So besteht dann die Animationsleistung der Kunst gegenüber dem so vergegenständlichten Gedächtnis im Geben des Lebens durch die Form als die Befriedigung des „metaphysischen Bedürfnisses“. Die Form wird aus einem anthropologischen Bedürfnis hergeleitet, mit Nietzsche gesprochen „wirft das Bild des Menschen zurück“, sie steht im Dienste der „Vermenschlichung“ der „Welt“.46 Von hier aus betrachtet ist die Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Form, die im Bildhauervergleich formuliert wurde, kein Zufall. Über diese Vorstellung hat auch Nietzsche einiges zu sagen: Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, ‒ man heisst diesen Vorgang Idealisiren. Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht nicht, wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden.47
Die Form selbst wird ausgetrieben – wie Geister –, weniger werden aus oder von der Form die chaotischen, sie verdeckenden Reste entfernt. Somit ist das Hervorkommen der „Hauptzüge“ das Erscheinen eines Phantoms, dessen bestimmender Aspekt dieses Erscheinen selbst ist, als ein (aus vorgegebenen Rahmen) heraus geschehendes, also ek-sistierendes Hervorkommen (das die Opposition „lebendig – tot“ aufhebt). Dieses Phantom kann nicht als Formprinzip erfasst werden, auch, weil es gerade die Vorstellung des gegenständlichen Restes – und darüber hinaus angebbare Morphen – irrealisiert. Die „Form“ ist die Spur dieses Ereignisses (das Ereignis resultiert nicht aus der Wahrnehmung der Form), welches Verhältnis weit entfernt ist von der Animierungsfrage von Fülep, die sich darauf bezieht, wie denn 45 Vgl. de Man, Allegories of Reading, S. 247. 46 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 123. 47 Ebd., S. 116.
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aus Kunst Natur, aus dem Erinnern Perzeption wird. So ist das „Heraustreiben“ das Ereignis der poiesis, das sich von keinem im Vorhinein postulierten Formprinzip kontrollieren lässt. Jegliches Geschaffensein der Form ist die Emergenz dieses Hervorkommens des Geschaffenen – mit dieser wortwörtlich „ek-sistenten Erfahrung“48 wird Nietzsche hier zum Vorfahren vom Ursprung des Kunstwerkes.49 Die Kunst der Form antwortet nicht auf anthropologische, metaphysische oder andere Bedürfnisse, vielmehr sucht sie vor dem ungeheuren Heraustreiben zu schützen, sie dient dazu, dass man an dessen Erfahrung nicht zugrunde geht. Die Differenz zwischen den Auffassungen des auch vernichtenden Hervorkommens der Form (bei Nietzsche als Geschehen, bei Leo Popper als Voraussetzung) und der Form als Aussöhnung (Lukács, Fülep) ist also kein Unterschied von Metaphern, sondern eine Spur radikal verschiedener Kunstkonzepte. Zusammenfassend und verallgemeinernd: Die Idealisierung der Form ist vielmehr die Figur der Deckerinnerung für das von der Gabe hervorgebrachte Bedürfnis. Dieses Bedürfnis selbst ist ein notwendiges Moment, das Ästhetik und Kunstanthropologie ermöglicht, indem – wieder nach Nietzsche – „noch niemals waren die Beschenkten der Gabe ganz würdig“.50 Wie könnten sie denn, da die Gabe ja kein Bedürfnis erfüllt, auf kein Bedürfnis antwortet – wenn sie dies täte, so wäre sie keine Gabe. Sie stimuliert vielmehr zu einem Leben, das es vor ihr nicht gab (und dieses „Leben“ ist keine organische Vitalität, es kann nur im Zurück-Geben der Gabe, als Über-Leben der Gabe, als die Exteriorisierung jeglichen „Lebens“ gedacht werden). Man könnte sagen, die Gabe gebe das Bedürfnis nach ihr, das dem Geben selbst nicht vorgängig war, das nur im Geben der Gabe zum Vorschein gekommen ist (so kann sie auch traumatisch sein), ohne sie würde es niemals existieren. Aus diesem Grund nimmt man die Gabe als Ereignis von vornherein als Wiederholung, als ihre eigene Wiederholung wahr. Es handelt sich um ein Bedürfnis, das man zur Motivierung oder Begründung der Gabe nicht benutzen kann, entsteht es doch erst in ihrem Geben. Kein biologisches Bedürfnis, eher das Korrelat der Endlichkeit. Jener Hiat, der zwischen dem Geben – durch die Gabe – des nicht anzueignenden (oder verfügbaren) Eigenen, also seiner Exteriorität (keiner Identifikation) und dem Vertrautheitsaspekt ebendieses Eigenen besteht. Die48 Vgl. Ernő Kulcsár Szabó, Wahrheit und medialer Sinn, In: ders./Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008, S. 33. 49 Vgl. zum „Geschaffensein“, zum Zusammenhang von ästhetischem Charakter und dem „Geschaffenen“: „… im Werk ist das Geschaffensein eigens in das Geschaffene hineingeschaffen, so daß es aus ihm dem so Hervorgebrachten, eigens hervorragt“. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Stuttgart 1960, S. 65. 50 Friedrich Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, in: KSA 1, S. 465.
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ses (Nicht-)Bedürfnis entspricht dem eigenen Bedürfnis der Gabe (dem Moment der Übernahme als Zurück-Geben).51 Nur diese Entsprechung kann performativ genannt werden, als Ereignis aber verwandelt das Verhältnis von Gabe und Zurück-Geben immer schon in ein asymmetrisches. Es ist also kein Bedürfnis, das man mit etwas anderem als mit der es gebenden oder heraufbeschwörenden Gabe erfüllen könnte (das wäre mit Nietzsche „Scheinbedürfnis“ zu nennen). Denn die Nichtübernahme der Gabe oder ihr Empfangen eines Eigentums korrelieren auch mit dem Moment, wenn man für die Gabe, statt ihr, als Tausch geben will. In diesem Geben als Tausch schreibt man – nachträglich (gewollt oder ungewollt) – der Gabe ein ihr vorhergehendes Bedürfnis zu. Die Gabe aber – wenn sie als Gabe empfangen wird – macht den Beschenkten auf seine eigene Not (nicht einfach auf sein Bedürfnis oder seinen Mangel) aufmerksam, darauf, dass er nur Eigentümer ist und nicht an Gaben teilhat, im Sinne der Schenkung oder des (Zurück) Gebens (dabei impliziert jedes eigentliche Geben diese Dürftigkeit, die Not des Verzichts, das zu „geben, was man nicht hat“).52 Andererseits vergisst man mit der Übernahme der Gabe als eines Gegenstandes oder eines Eigentums genau diese Not. Die Erfahrung dieser Not kann traumatisch sein, die deren Kompensation, ihre Verdeckung durch den Tausch (ihre Eingliederung in die Ökonomie und Teleologie der Selbsterhaltung) hervorruft. Der Sachverhalt, dass der Beschenkte der Gabe gewissermaßen nicht teilhaftig werden kann, ist kein Moment einer Potenz, sondern bedeutet die Unmöglichkeit der Übernahme der Gabe als (absoluter) Gabe. Das bedeutet den nie gänzlich ausfüllbaren Fehl der Gabe, der sich nicht nur von der gebenden Geste her meldet, sondern in mittelbarer Weise als Index der unvermeidlichen Manifestation der Gabe, die man dann immer als Gegenstand eines Tauschs begreifen kann (demgegenüber der Beschenkte die Rolle des Gebenden aufnehmen kann, das materiale Ereignis der Gabe in einen figurativ-substituierenden Mechanismus verwandelnd). So kann man das von der Gabe geweckte Bedürfnis, also den inneren Hiatus der Gabe im Endeffekt genau mit der Gabe 51 Vgl. Nietzsches Notiz: „[W]er nicht geben kann, empfängt auch nichts“. KSA 12, S. 393. Das kann – gerade durch die Vermittlung der Gabe – in eine über dem Beschenkten praktizierte Machtattitüde umkippen: „[A]ls ob es dadurch, dass es [das Publikum] beschenkt worden wäre, ein Übergewicht über den Geber [den Schriftsteller] bekommen habe“. KSA 8, S. 320. Ferner: die Gabe, die aus „Reichthum“ resultiert, „nicht giebt, um zu nehmen“. KSA 13, S. 605. 52 In diesem Sinne bewirkt die Gabe wortwörtlich einen Notstand sowohl beim Gebenden als auch beim Beschenkten, ohne aber dadurch ein Bedürfnis zu autorisieren (sei dieses auch die Eigenschaft der Generosität, der Freigebigkeit) oder die Gabe vom Bedürfnis her zu rechtfertigen. Diese Operation vonseiten des Gebenden oder des Beschenkten – oder vom Dritten als Zeugen – kommt vielmehr der defensiven Abwehr der Gabe (des Gebens) gleich. An diesem Punkt berühren sich die Ökonomie und die Politik der Gabe.
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nicht erfüllen (sie gleichsam totalisierend) – immer nur mit den Supplementen der Gabe, die bereits bei der (Nicht-)Annahme der Gabe im Spiel sind.53 Man könnte sagen, die Gabe sei Überlebende (und keine Kompensation) ihres unerfüllbaren Fehls – das, was nach der Erfahrung dieses Bedürfnisses (als Fehlen und Anruf ) bleibt. Der Leser wird erst in der Erfahrung dieses Bedürfnisses zum Leser, nicht in einer Animierung – die Abwehr der Gabe ist Tilgung dieses Bedürfnisses, also nicht die Nicht-Kenntnisnahme einer positiven Gegebenheit, sondern die Nicht-Entsprechung gegenüber dem inneren Hiat der Gabe (der genau die Exteriorisierung, also Endlichkeit der Gabe bedeutet). (Das Zurückkommen auf den Text als hermeneutisches Gebot – das ist Ereignis und zugleich Figur des textuellen Überlebens. Das Wiederlesen ist demnach der Text selbst – nicht einfach wegen der Unerschöpflichkeit der Gabe kommt der Leser immer wieder auf den Text zurück, sondern weil er seine eigene Not vom inhärenten Bedürfnis oder von der Endlichkeit der Gabe nicht zu trennen vermag.) Daher bedeutet dieses Bedürfnismoment den wunden Punkt der Gabe, kann es diese als Befriedigung, als Abfindung der ästhetischen Ideologie, also letzten Endes als Tauschverkehr determinieren. Dieses auf performative Weise hervorgebrachte Bedürfnis nach dem Eigenen muss trotzdem oder mit all dem heterogen bleiben jeglichem angebbaren (und zufriedenstellbaren) Bedürfnis, der Struktur der Bedürfnishaftigkeit selber gegenüber. Es ist ein Über-Leben, das nur in seiner Nachträglichkeit als Disposition des Ereignisses der Gabe erscheint, in Wahrheit dessen Effekt ist. Die von diesem Bedürfnis geweckte nachträgliche Lebendigkeit nennt Nietzsche die Stimulierung durch die Kunst,54 deren artifizielles Bedeutungsmoment den Index der Asymme53 Ein charakteristisches Beispiel für die latente Ideologisierung der Gabe ist das „Entlastungstheorem“ von Arnold Gehlen, das die Enthebung vom Bedürfnis als anthropologische Disposition der ästhetischen Erfahrung benennt, vgl. Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a. M. 1984. 54 „Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehn?“ Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 127. Vgl. ferner KSA 13, S. 194, 228, 521. Fülep hat diesen Gedanken von Nietzsche in seinem Aufsatz über ihn referiert und auch kritisiert. Er hat vor allem die vermeintliche Vermischung der „Standpunkte“ des Lebens und der Kunst angeprangert: „Nietzsche verlegt den ästhetischen Standpunkt immer mehr auf das Leben“, was nicht legitim sei: „Man kann die Kunst nur in sich selbst werten, da sie eine eigene Sache neben dem Leben ist, und sie beginnt da, wo das Leben endet“ (Lajos Fülep, Nietzsche, in: ders., Egybegyűjtött írások II, Budapest 1993, S. 29). Er zieht im Bann der ästhetischen Unterscheidung nicht in Betracht, dass Nietzsche dabei kein vorhandenes „Leben“ mit der „Kunst“ kontrastiert, sondern ein „provoziertes Leben“ (Gottfried Benn), ein Über-leben als Überfluss, als Trope einer Bejahung im Visier hat. Die Kunst ist kein Stimulans eines vorgängigen Lebens, sie stimuliert vielmehr zum Leben. Zugleich hat Fülep gerade Nietzsches Kritik am „Bedürfnis“ richtig erfasst (Ebd., S. 22), den Unterschied zwischen bestehenden und erst zu „pflanzenden“ Bedürfnissen, die Effekte einer Gabe sind (vgl.
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trie von Gabe und Beschenkten darstellt. Die „Kunst“ stimuliert gewissermaßen zur Übernahme der Gabe, entgegen dem Nihilismus, vorgängig zur Verleugnung oder Nivellierung der Gabe. So gibt die Gabe kein Leben in unmittelbarer Weise, sondern sie „stimuliert“ nach der genauen Formulierung von Nietzsche, d. h. sie produziert einen „Schein“, dessen unabschließbare Selbstspiegelung und zugleich desartikulierende Unterbrechung (nicht seine Umwandlung ins Sein oder seine bloße Entlarvung), das „Zerstören“ als Destruktion des „Scheins“ qua Sein55 – das Über-Leben als (De)präsentationszug der Gabe – die Illusion des „Lebens“ als Effekt der Bejahung der Gabe erweckt. Deshalb können in der Produktion der erwähnten Asymmetrie die Momente des Lebendigen und des Maschinellen nicht auseinandergehalten werden (was andererseits – da es durch den Schein bedingt ist – das Ereignis der Gabe immer auch aufheben kann). Die Maschinenhaftigkeit zeigt an, dass gegenüber dem radikal unableitbaren Bedürfnis der Gabe jegliches „Leben“, Animierung, aber auch Autopoiese sich als nachträglich erweisen. „Du mußt dein Leben ändern“: Ist das „muß“ etwa Index der (maschinellen) Unvermeidlichkeit, dem gegenüber der Begriff des „Lebens“ selbst zu verändern wäre? In Anbetracht dessen ist die Ästhetik – vgl. die Rilke-Lektüre von Lukács über die Subjektivität vor dem „Kunsterlebnis“56 – nichts anderes als die gewaltsame (ideologische) Version der Biopolitik der Gabe.
Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 278, aber auch Richard Wagner in Bayreuth widmet sich öfters diesem Zusammenhang; zur Kritik am „Bedürfnis“ vgl. ferner Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 494–495). 55 Vgl. KSA 13, S. 522. Das in das Schaffen eingerechnete „Zerstören“ bezieht sich auf die Seinsweise des „Scheins“, es bedeutet keine Negation, noch weniger den diametral-dialektischen Gegensatz des Schaffens. 56 Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen I, Berlin/Weimar 1981, S. 779.
Hajnalka Halász
Die unmögliche Existenz des Systems und die Singularität des Gesetzes
Béla Zalais Allgemeine Theorie der Systeme Obwohl Béla Zalais Systemtheorie einen erheblichen Einfluss auf das zeitgenössische philosophische Denken in Ungarn ausübte,1 war diese Wirkung recht kurzlebig und sein Schaffen geriet schnell in Vergessenheit. Ein vielsagendes Zeichen dafür ist, dass die erste Veröffentlichung seines in deutscher Sprache verfassten Hauptwerkes, die Allgemeine Theorie der Systeme, sieben Jahrzehnte auf sich warten ließ;2 die ungarische Erstausgabe seiner Gesammelten Schriften folgte zwei Jahre später.3 Der früh verstorbene ungarische Philosoph (1882–1915) gehörte zur Redaktion der Zeitschrift A szellem [Der Geist], die von György Lukács und Lajos Fülep gegründet wurde und allerdings nur zwei Ausgaben erlebte. Wie schon der Name zeigt, nahmen die Herausgeber dem positivistischen Materialismus gegenüber eine kritische Haltung ein und orientierten sich vor allem an der Tradition des deutschen Idealismus sowie der zeitgenössischen neukantianischen und phänomenologischen Philosophie. Auch Zalais Denken zeichnet sich einerseits „durch radikalen Antipsychologismus und Antipositivismus aus“,4 andererseits lässt es sich in keine der philosophischen Strömungen seiner Zeit restlos einordnen. Dieser Rest, der in seinem Hauptwerk schon unverkennbar 1 Von seiner Wirkung zeugen unter anderem zahlreiche Verweise in den Schriften von Autoren, die zum sogenannten „Sonntagskreis“ (einer nach seinem Tod gebildeten Gruppierung von Geisteswissenschaftlern um György Lukács und Béla Balázs) gehörten und von denen sich viele auch als seine Schüler bekannten. Vgl. dazu: Éva Karádi/Erzsébet Vezér (Hg.), Georg Lukács, Karl Mannheim und der Sonntagskreis [Übers. von Albrecht Friedrich], Frankfurt a. M. 1985. 2 Dieser Band enthält neben Allgemeine Theorie der Systeme auch Beiträge von Zeitgenossen, die Zalais Wirkung auf das philosophische Denken im damaligen Ungarn dokumentieren: Béla Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, hg. v. Béla Bacsó, Budapest 1982. 3 Béla Zalai, A rendszerek általános elmélete. Összegyűjtött írások [Die allgemeine Theorie der Systeme. Gesammelte Schriften], Budapest 1984. Dieser enthält alle seiner ungarischsprachigen Beiträge, die zum Teil noch in seiner Lebenszeit in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden. Manuskripte, die auch in deutscher Sprache vorliegen (Problem der ethischen Systematisierung; Über die Typen des Realitäts-Begriffes. Eine erkenntnistheoretische Studie; Das Problem der philosophischen Systematisation; Untersuchungen zur Gegenstandstheorie), sind in verschiedenen Archiven zu finden. 4 Béla Bacsó, Fragmentarisches Porträt des „Meister Metaphysikus“ (Béla Zalai 1882–1915), in: Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 8.
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hervortritt und im Zusammenhang der philosophischen Richtungen, die seinen Kontext bilden, am meisten für Irritation sorgen kann, ist wohl seiner Sprachauffassung – und zwar im zweifachen Sinne – zu verdanken. Es geht nämlich nicht nur darum, dass Zalais Systemtheorie der Sprache eine besondere Bedeutung beimisst. Dies setzt natürlich schon an sich eine Reflexion des Verhältnisses der kognitiven Erkenntnis zur Sprache und somit eine reflektierte Sprachauffassung voraus. Auch wenn diese Auseinandersetzung mit der Sprache im Hinblick auf die damaligen erkenntnistheoretischen Ansätze nicht ungewöhnlich war, ging sie bei ihm mit viel radikaleren Konsequenzen einher. Zalai reduziert die Sprache im Prozess des Erkennens auf keine bloße Funktion, durch die sie eine der Logik dienende und untergeordnete Rolle erhielte, sondern ganz im Gegenteil: Er trennt sie von ihren phänomenalen und substantiellen Aspekten ab, indem er für die Unabhängigkeit des „rein Sprachlichen“ plädiert, und verleiht ihr im Funktionieren des Systems sogar eine konstruktive, „schaffende“ Rolle. Dies führt aber nicht zu einer restlosen Ontologisierung ihrer geistigen Aspekte, des Sinnes oder des Geistes, wie man angesichts der antimaterialistischen, kritischen Position erwarten könnte. Und das ist der andere Aspekt – ein ebenso unaufhebbarer Rest –, durch den sich seine Theorie von anderen Erkenntnistheorien abhebt: Durch die Vorstellung einer nicht sinnlichen oder substantiellen Materialität der Sprache. Zalais Ansatz ist aber nicht sprachtheoretisch, sondern erkenntnistheoretisch ausgerichtet. Ihm geht es um die Frage, nach welchen Prinzipien sich Systeme organisieren, wobei er von der prinzipiellen Unzertrennbarkeit und Gleichwertigkeit von Form und Materie ausgeht. Somit sollte die Lösung des allgemeinen Problems der Form zur Definition des Systems beitragen. Jedoch wird dieses Problem, ohne endgültig aufgelöst zu werden, wiederum durch ein sprachliches Moment – durch den Begriff des Symbols – gelöst. Wollte man die Bedeutung und den Stellenwert dieses Ansatzes ermessen und das Werk im breiteren Kontext der Geschichte des europäischen Denkens unterbringen, könnten sich vor allem drei Bezugspunkte anbieten. Einerseits situiert es sich selbst in der erkenntnistheoretischen, neukantianischen Tradition und will ausdrücklich zur Diskussion des Apriori-Problems beitragen. Andererseits erfolgt die Lösung des Problems durch zwei miteinander eng verbundene Konzepte – des Systems und der Sprache, die aber schon über seinen unmittelbaren geschichtlichen Kontext hinausweisen. Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) wird erst ein Jahrzehnt später erscheinen; die theoretischen Bedingungen der allgemeinen Systemlehre von Ludwig von Bertalanffy, an die sich später systemtheoretische Ansätze anknüpfen werden, sind zwar schon in den „florierenden Ganzheits- und Organismuskonzepten“5 der Weimarer Zeit gegeben, je5 Zur Vorgeschichte des Systembegriffs siehe: Klaus Müller, Allgemeine Systemtheorie. Geschichte, Methodologie und sozialwissenschaftliche Heuristik eines Wissenschaftsprogramms, Opladen 1996, S. 37–63, hier: S. 37.
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doch werden sie sich erst in den 1930er Jahren zu einem umfassenden Programm entwickeln. Warum in diesem Beitrag die Systemtheorie von Niklas Luhmann als Vergleich herangezogen wird, hat seine Gründe in der – bei Zalai expliziten, bei Luhmann eher in den Hintergrund gerückten, aber für beide entscheidenden – Verflechtung des Begriffs des Systems mit dem der Sprache. Über die möglichen Ähnlichkeiten der beiden Theorien hinaus möchte ich im Folgenden zeigen, inwiefern eine Theorie des Systems durch eine konsequente Sprachauffassung bedingt ist bzw. wie das Prinzip der „Inkommensurabilität“ bei Zalai mit einem Konzept der Singularität der Differenz einhergeht – ein Konzept der Unterscheidung, in dem auch Luhmanns Denken seine Motivation findet. Zunächst müssen wir aber Zalais Werk, die Allgemeine Theorie der Systeme, in seinen Details beleuchten.
Die „konkrete Allgemeinheit“ von Zalais Systemtheorie Das organisierende Prinzip dieses Werkes könnte man erst einmal in der Unzertrennbarkeit von sich gegenseitig bedingenden Momenten angeben. Schon die Fragestellung – das allgemeine Problem der Form – wird in einer zirkulären Struktur inszeniert. Aber die Fragestellung bildet aller Originalität zum Trotz (sie sollte etwas absolut Neues mit sich bringen) keinen absoluten Anfang, sondern nur ein „Teilchen“ der Untersuchungen. Denn die Frage nach dem Entstehen und der Erkennbarkeit der Form muss „aus dem Gesichtspunkte des Ganzen aufgeworfen, eine Antwort gegeben werden“,6 welcher Gesichtspunkt als eine künftige, antizipierte Lösung zwangsläufig eine Hypothese erfordert. Hypothese wird hier aber nicht in einem logischen Sinne verstanden, sie sollte nicht als vorläufiger Ausgangspunkt im Laufe der Untersuchungen bestätigt oder widerlegt werden. Frage und Lösung, Anfang und Ende sind nicht durch eine logische Relation getrennt oder verbunden; sie sind keine Teile, die nach einem Umweg zur gleichen Zeit gegeben und somit miteinander vergleichbar oder auseinander ableitbar wären. Jedes Erlebnis, jeder Teil oder jedes Gegebene setzt – auch im „primitiven“, also nicht wissenschaftlichen Verstehen – eine Hypothese im Sinne eines Vorverständnisses (den Gesichtspunkt des Ganzen) voraus, deren Motiv Zalai am Anfang der Arbeit als eine Art von Herausforderung durch die Unberechenbarkeit der Zukunft und somit als einen riskanten Versuch beschreibt, in dem „das Unmögliche gewagt wird“.7 Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, kann man nicht mehr von – wenn auch nur logisch-hypothetisch – vorgegebenen Teilen, wahrnehmbaren Fakten oder Daten ausgehen: 6 Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 22. 7 Ebd., S. 16.
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Das im Ganzen-sehen, das Einheitssehen hat seine grossen Motive in dem Kampfe des Lebens, in dem stillen und langsamen, fast gedrückten, fast heimlichen Vorwärts treiben zwischen allen feindlichen Mächten: das Unerforschliche der Schicksals, – schon das Unberechenbare des Morgens, das Unsichtbare des Fernen, – wie könnte das alles mit den Teilchen, mit den Partikelchen des Vorhandenen, mit den Atomen des Heute, mit den kurzen Armen des Nahen, berechnet werden […]. [N]ur die Ganzen existieren und sind nicht repräsentierbar durch ihre Teile.8
Die Bedeutung dieser imperativen Forderung, die Zalai später als ein „gewaltiges Walten“9 oder gesetzgebendes „Gelten“ charakterisiert, wird selbst erst aus dem Gesichtspunkt des ganzen Versuches ersichtlich sein. Am Anfang kann dieses im Voraus skizzierte Sinngefüge, das zugleich die Vorstellung einer chronologisch determinierten Zeitdimension in Frage stellt, für Zalai erst einmal dazu dienen, seinen Versuch von den erkenntnistheoretischen Ansätzen der neukantianischen und phänomenologischen Richtungen der Philosophie abzugrenzen. Obwohl seine Fragestellung zuerst auch von der Kritik des materialistischen Denkens und des Psychologismus inspiriert zu sein scheint, wird jedoch schnell klar, dass die Frage nach dem allgemeinen Problem der Form nicht nur über die Oppositionalität von Subjekt und Objekt oder Form und Materie hinausgeht, sondern aus diesem Gesichtspunkt – sich den Schwierigkeiten von unauflösbaren Paradoxien wie den von „feindlichen Mächten“ stellend – auch die Begriffe der Intentionalität oder des Apriori, die diese Probleme zu überbrücken und dadurch eine neue Grundlage für die Erkenntnis zu schaffen suchen – jedoch aus verschiedenen, noch zu erklärenden Gründen – als problematisch erscheinen. Wie wir noch sehen werden, setzt sich neben der Kritik des Materialismus auch die Bestrebung durch, der Form durchdringenden Kraft einer nicht-sinnlichen Materialität Geltung zu verschaffen. Zuerst aber geht es Zalai darum, die Existenzweise des „Ganzen“, die in einem systemischen Zusammenhang gedacht werden soll, näher zu explizieren. Obwohl die Ganzen oder die Systeme organisch konstituiert sind, darf Organizität nicht mit Natürlichkeit verwechselt werden; sie ist vielmehr mit „einer notwendigen strukturellen Eigenschaft“10 des Verstehens verbunden. Das Ganze ist nicht ein die Teile ergänzendes oder erst nachträglich hinzukommendes, sondern ein immanent-mediales Sinnmoment, ohne das die vereinzelten Tatsachen nicht wahrnehmbar wären. Dass Zalai dieses Moment „des Auf-die-,Objekte‘-gerichtet-werden-könnens“11 zuerst als einen „Akt“ beschreibt, „den wir einstweilen mit 8 9 10 11
Ebd., S. 16. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd., S. 18.
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Abstraktion benennen müssen“,12 könnte noch auf eine phänomenologische Sichtweise der Fragestellung hindeuten. Das Formen als ein Akt des Auffassens setzt nicht nur eine Trennung oder Unterscheidung voraus, sondern geht zugleich auch mit einer Reduktion, mit der „Verminderung des Inhalts“13 einher. In dieser jeweils speziellen Gestaltung interessiert Zalai die Frage, welche Existenzweise oder Rolle dabei dem zu bearbeitenden „Stoff“ zugeschrieben werden kann: „Das ist eben das Seltsame: der Stoff ist und ist zugleich noch nicht.“14 Die Frage, wie das Formen die Auffassung und die Erkenntnis von Gegenständen ermöglicht, lässt sich nicht durch die Charakterisierung und weitere Differenzierung der intentionalen Auffassungsakte, sondern durch das Klären einer zuerst als unmöglich erscheinenden Frage beantworten: Wie kommt die Form zustande?; Wie ist die Materie an diesem Vorgang oder Ereignis beteiligt?; und vor allem – diese Frage wird erst später ihre eigentliche Bedeutung bekommen –: Welche Rolle spielt dabei die Sprache bzw. wo kann man das sprachliche Moment in diesem Prozess situieren? Die Frage nach dem Entstehen der Form scheint aber nur solange unbeantwortbar und damit belanglos zu sein, wie wir diesen Akt der Auffassung nach der „kritischen Philosophie“ als ein Apriori interpretieren, in dem ausschließlich formale Momente dominieren. An dieser Stelle zeichnet sich ein erster Unterschied zu den erkenntnistheoretischen Fragestellungen ab, denen ein Begriff des Apriori zugrunde liegt, der der Form, eine Selbstständigkeit gibt, die es selbst nicht besitzt, damit zugleich die Materie aus einem Momente zu einem passiven, obgleich auch selbstständigen, doch bedeutungslos rezipierenden Etwas herabsetzt, das eben nicht mehr als das notwendige Etwas der aktiven und doch unvermeidlich stoffbedürftigen Form ist.15
Zalai geht von der „absolut unersetzbaren Einheit der ,geformten Materie‘“,16 der konkreten, realen und eigentlichen Unzertrennbarkeit von Form und Materie aus, deren Deutung auf den ersten Blick einen infiniten und nicht zu behebenden Regress provoziert. Dem Begriff des Apriori, der aus diesem Gesichtspunkt als eine „uneigentliche Form“ mit „einer präparierten Problemstellung“17 erscheint, wird das „wirkliche Problem der allgemeinen Form“18 gegenübergestellt, das „kein Problem der Realität, kein Problem des Ursprungs [ist], es ist das Problem des Sinnes. 12 13 14 15 16 17 18
Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Ebd., S. 22.
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Problem der Erkennbarkeit und Problem des Sinnes.“19 Es wäre aber genauso irreführend, die Erkennbarkeit mit subjektiven und den Sinn mit objektiven Merkmalen zu verbinden, wie den Zusammenhang von Form und Materie in oppositionären, leicht hierarchisierbaren Strukturen zu greifen. An diesem Punkt meldet sich wiederum die Forderung des „Ganzen“, die auch dem abstrakt-logischen Gedanken „des notwendigen Zirkels“20 (der immer noch durch selbstständige, wenn auch gegenseitig bestimmende Glieder konstituiert ist) vorausgeht. Form und Materie als Momente eines Ganzen sind in einer Art und Weise miteinander verbunden, die den Begriffen der Relation auf eigentümliche Weise widersteht. Der Gesichtspunkt dieser Forderung wird erst dann zwingend und zugleich plausibel, wenn die Frage – so Zalai – etwa aus dem Gesichtspunkt des vorneuzeitlichen Denkens gestellt wird. Von hier aus gesehen lässt sich sogar die erkenntnistheoretische Problemstellung selbst in Frage stellen, welche „eine so notwendige und selbstverständliche geworden ist, dass schon die Möglichkeit einer anderen erstaunlich fragwürdig, ja bewunderungswürdig und befremdend wirkt.“21 Die Geschichtlichkeit der Fragestellungen ist die Geschichtlichkeit der Systeme, die ihre Fragen jeweils nach ihren leitenden Prinzipien des Sinnes formulieren, und deren Lösungen wiederum in den tiefen „Umrissen“ ihrer eigenen Materie bzw. im eigenen System latent verborgen liegen. Die vorneuzeitlichen Epochen, „die Epochen des Anfangs […] erlebten die ersten Fragen der Philosophie nicht als Fragen der Erkenntnis, sondern als Fragen des Seins.“22 Während in diesen Systemen der Begriff des Erkennens noch keine Bedeutung und Funktion besaß, verselbstständigte oder differenzierte er sich in der neuzeitlichen Philosophie mit dem Entstehen der Kategorien von Ich und Subjektivität aus dem Ganzen heraus. Einen zweiten tiefgreifenden Wandel in der Geschichte der Systeme erkennt Zalai im Begriff der Wirklichkeit. Der Status dieses Begriffes erlitt bisher im Laufe der Systemwechsel trotz Veränderungen der Leitprinzipien keinen wesentlichen Bruch, insofern er immer im Inneren des Systems blieb und einem bestimmten Prinzip – des Seins, des Willens, des Guten oder des Schönen – untergeordnet war. „In gewissen neueren Theorien aber ändert sich dieses Verhältnis von Grund auf“,23 insofern der Begriff der Wirklichkeit von seiner untergeordneten Position – zwar nicht bewusst, jedoch etwas Neues schaffend – befreit wird und somit selbst aus dem Rahmen des Systems heraustritt. Dadurch erhält aber die Wirklichkeit keineswegs eine vorsystematische oder vom System unabhängige Existenz, sondern wird selbst ein leitendes 19 20 21 22 23
Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 27.
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Prinzip, „die totale Durchführung, die restlose Kohärenz des Systems.“24 Hieraus wird ersichtlich, dass selbst die interpretierende Entfaltung der Zusammenhänge von Materie, Form, Sinn und Wirklichkeit in einen konkret historischen Kontext eingebettet ist bzw. sich selbst in Kontexten, Strukturen oder Umrissen eines – wie Zalai am Anfang formuliert – „unfertigen Systems“25 eingewoben findet, dessen Prinzip sich zwar schon in gewissen, vor allem in den modernen Theorien der Wissenschaft meldet, das aber – als eine „radikale und intensive Durchführung eines Systems“26 ebenso auf seine ereignishafte Entfaltung oder Durchführung seines Sinnes, auf eine aktiv-schaffende Interpretation wartet. Diese performative Geste des Textes, durch die er auch tut, was er sagt, setzt zugleich seine sich ebenso Schritt für Schritt entfaltende Sprachauffassung ins Werk. Eine der wichtigsten Einsichten des Werkes ist nämlich, dass eine begriffliche Metasprache nicht imstande ist, Formen im eigentlichen Sinne zu gestalten; deswegen gilt es auch, den intensivsten Punkt des Systems, sein Konstruktionsprinzip, „als sein Innerstes, Intensivestes“27 zu finden. Form ist aber nach Zalai nicht gleich mit dem Prinzip, mit dem sie jedoch eng zusammenhängt, zu identifizieren. Es können zwar geschichtlich mehrere Prinzipien oder Systeme existieren, die miteinander jeweils unvergleichbar – oder noch genauer: „inkommensurabel“28 sind, das jeweilige Prinzip eines Systems zeichnet sich nach Zalai doch durch seine „prinzipielle“29 Grenzenlosigkeit aus. Denn die allgemeingültige und alles durchdringende Kraft eines Prinzips muss sich – um dieser ungreifbaren und radikalen Absolutheit oder nicht repräsentierbaren Totalität ihres Wesens zu entsprechen – „über jedes Denkbare“30 ausbreiten. Die Grenze im Sinne einer wiederum nicht greifbaren oder sichtbaren, doch wirkenden Differenz spielt jedoch in der systematischen Organisation der Systeme eine äußerst wichtige 24 25 26 27 28
Ebd., S. 28. Ebd., S. 15. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. „Hier sei bemerkt, dass ,unvergleichlich‘ ein noch viel inadäquaterer Terminus ist als inkommensurabel, welch letzterer mit seinem quantitativen Beigeschmack auch sehr weit von einer idealen, echt charakterisierenden Bezeichnung entfernt ist. Doch hat diese eine Neutralität, während die erstere mit einer einseitig logischen Beziehung der ganzen Bedeutung des Begriffs eine Schranke setzt, ihn somit verfälscht. Unser Begriff bedeutet keineswegs eine logische Unvergleichbarkeit; er meint, dass irgend ein Prädikat, das für das eine Element charakteristisch ist und seinen Inhalt adäquat ausdrückt für das andere, wenn auch applizierbar, doch unbedeutend ist; oder tiefer greifend: irgendeine Kategorie im üblichen Sinne, die für das eine Element konstitutiv ist, ist auf das andere Element überhaupt nicht anwendbar.“ Ebd., S. 63–64. 29 Ebd., S. 31. 30 Ebd., S. 30.
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Rolle: Grenze ist ein Prinzip der inneren Form, die als „eine innere Grenze die äussere Grenze bedingt“.31 Dass der Gedanke der grenzenlosen Grenzen der Systeme in der Tat durch ein konsequentes Konzept der Differenz bedingt ist, zeigt die von Zalai am Anfang des zweiten Kapitels eingeführte und auch später immer wieder betonte Unterscheidung zwischen Unterschied und Differenz oder der Vergleichbarkeit und der Inkommensurabilität der Formen. Das Denken dieser Verhältnisse, in denen „ganz anderen Wesensarten zugehörige Kräfte vorhanden sein [müssen]“,32 sprengt den Rahmen einer vom „irreführenden Einheitsstreben“33 motivierten Philosophie, die „immer ein Suchen nach der Analogie im Allgemeinen ist“ und wodurch „eine falsche Identification der beiden voneinander wesentlich unabhängigen Wesenheiten“34 geschaffen wird. Zalai insistiert jedes Mal und in jedem Zusammenhang auf dieser Unterscheidung, die von der phänomenalen und repräsentierbaren Seite der Gegebenheiten ihre eigentliche Bedingung als ein aktiv schaffendes, unabhängiges, erst durch seine Wirkung wahrnehmbares Prinzip trennt, und die es ermöglicht, die Teile eines Systems aus dem Blickwinkel des Ganzen – nicht nur zu betrachten, sondern auch – aktiv mitzugestalten. Das erklärt auch die Definition der Form, nach der sie eine „Energie“ sei, die sich vor allem durch ihre „Intensität“ auszeichnet, „mit der sie die ungeformte Materie verarbeitet.“35 Die Kraft dieser Intensität ist aber kein rein geistiges oder metaphysisches Prinzip, das die ungeformte Materie in seine selbstständige und unteilbare Gewalt bringen würde. Später wird sogar von einer gewissen, wenn auch nur indirekt „schaffende[n] Gewaltsamkeit des formenden Materieprinzips“36 die Rede sein. An dieser Stelle schickt Zalai nur voraus, dass diese Energie von der „Materialechtheit der Form“ abhängt, die mit ihrer Selbständigkeit „in einen höchst interessanten, aber ungemein schwierigen, fast unlösbaren Komplex verwickelt [ist].“37 Und genau an diesem Punkt setzt die Kritik an der husserlschen Phänomenologie an: Die Form als ein ideelles, „eidetisches“ Wesen ist in Husserls Konzept nicht auf ihre Materialisierung angewiesen, „[s]ie kann prinzipiell ohne Materie stehen und begriffen werden.“38 Da aber die Form erst in ihrer inneren Beziehung, ihrer Verwicklung mit der Materie verwirklicht wird, lässt sie sich genauso als etwas Unselbstständiges charakterisieren. Diese ihre beiden Aspekte lassen sich „in den ein-
31 32 33 34 35 36 37 38
Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd. Ebd., S. 33. Ebd., S. 136. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36.
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zelnen, individuellen Prozessen der Formbildung“39 voneinander nicht trennen. Daraus folgt auch, dass eine Form nur als „sinnig und vollkommen, reine Expression“40 und nicht etwas Selbstständiges, etwa durch ihre Umrisse Geformtes, erkennbar ist, d. h. man kann sie nicht an sich wahrnehmen, sondern immer schon nur ihren Sinn verstehen oder auf sich wirken lassen. Die inkommensurablen Formen sind von ihrer organisierenden Einheit her gesehen ebenso unselbstständige Momente einer Totalität, die ihrerseits durch dieses konsequent durchzuführende Prinzip der Betrachtung zwar auch „schwer auffassbar“ ist, diese Unsichtbarkeit „lässt aber den Wert und die Kraft dieser Einheit desto schärfer heraustreten.“41 Die Idee der Wirklichkeit ist mit der Verwirklichung, Entidealisierung der Form genauso eng verbunden, denn „die Form ist nur da, in der Materie, […] um im Ganzen der wirklichen Welt ausgebreitet zu werden, die zuerst durch diese Ausbreitung eine wahrlich wirkliche, bedeutungsvolle Welt wird.“42 In der konkret-materiellen Wirklichkeit, hinter der sich keine mit sich selbst identische Realität oder Idealität verbirgt, lässt sich der Zusammenhang der Form und der Materie in keinen logischen Relationen erklären, sondern nur durch eine jeweils aktuelle Aktivität, in der die beiden Momente einander gegenseitig erfüllen und durchdringen. Zalai grenzt hier diesen Formbegriff ausdrücklich vom „noetischen“ Begriff im Sinne Husserls ab („der gewisse Analogien mit unserem Formprinzip aufweisen könnte“43) und distanziert sich somit auch von der Reduktion der Sprache auf starre Begriffe, die bloß Resultate internationaler Prozesse und als fertige Gebilde nicht imstande sind, sich nach einem gestaltenden Prinzip auszubreiten und dadurch eine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Denn – so Zalai – „als ein Erlebnis, ist Form eine Kraft, eine immerwährende Gestaltung, das fortwährende Offenlassen der Möglichkeit der unbegrenzt dauernden Gestaltung.“44 Dem völligen „In-eins-sein“45 der Form mit der Materie, seiner konkreten Wirklichkeit können Erkenntnistheorien weder durch Idealisierung der Form noch durch Substantialisierung der Materie gerecht werden. Unter dem Gesichtspunkt des Ganzen, der somit keine ungeteilte Perspektive eines sich selbst präsenten Bewusstseins darstellt, kann natürlich eine Evidenzerfahrung der reinen Materie nicht geleugnet werden. Es lässt sich eben nur nicht entscheiden, inwiefern eine aktive Formgestaltung das Erlebnis dieser Materie immer schon durch eine Sinngestalt vermittelt. Denn gerade aufgrund ihrer noch unbearbeiteten Ungeteiltheit ist sie 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., S. 34. Ebd. Ebd., S. 35. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 33.
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nicht fixierbar oder lokalisierbar. Deshalb muss man annehmen, dass „trotz aller Evidenz die ,reine‘ Materie nirgends auffindbar ist; es handelt sich bei dieser Evidenz um einen Inhalt, der eine Form ist.“46 Da aber die Materie auch ein Gestaltungspotenzial innerhalb der Systeme besitzt, ist die Frage nicht zu umgehen, was genau das ist, „was wir Materie nennen.“47 Die „intimste Verschmelzung“48 der Form und der Materie, die sie zur gleichen Zeit auch teilt und strukturiert, kann nach Zalai nicht auf denselben Linien oder Strukturen zurückverfolgt werden; eine logische Abstraktion, die letztendlich eine privative und abgeleitete Unterscheidung ist, kann ihre ereignishafte Synthese „nicht in entgegengesetzter Richtung durchlaufen“.49 Zalai nennt dieses irreversible Geschehen der Synthese „aktive Abstraktion“,50 die wegen ihres ereignishaften Charakters mit Abstraktionen im logischen Sinne inkommensurabel ist. Handelt es sich um eine „wirkliche“ Synthese, durch die die Summe der Teile eine qualitative Veränderung gegenüber den vereinigten Teilen erfährt, wird auch einer vergleichenden Betrachtung der Boden entzogen. Dadurch wird nicht nur in ihr Ereignis ein hypothetisches Moment eingeschrieben, sondern wird auch das Verhältnis zwischen den aufeinanderfolgenden Formgestaltungen durch eine unüberbrückbare Diskontinuität oder Inkommensurabilität geprägt: „Wo Momente abstrahiert werden, ist die Aktivität der Abstraktion immer zweifelhaft, und in diesen Fällen ist die erste Hypothese, dass durch die Abstraktion eine neue Synthese geschaffen wurde.“51 Die Veränderungen der Systemzustände lassen sich nicht beobachten, deshalb kann man nicht mit voller Gewissheit von einer Entwicklung sprechen. Die Abstraktion ist „der spezielle Fall des Fortschreitens vom Konkreten zum Konkreten“,52 sie kann das einzige methodische Prinzip bei der Betrachtung eines Systems sein und darf weder mit Deduktion noch mit Induktion verwechselt werden. Das heißt aber auch, dass sie nicht bewusst gesteuert, angewendet sein kann; sie ist zwar eine Aktivität des Bewusstseins, aber kein subjektiver Akt des Willens, „keineswegs eine logische Operation, sondern eine, welche Materie zu logischen Operationen schafft“.53 Da schon allein die einfache Gliederung, das bloße Anschauen der Materie eine solche Synthese erfordert, müssen und können wir nur von dieser aktiven Abstraktion ausgehen und fragen, wie sie überhaupt möglich ist. Auch wenn die Abstraktion ein Erlebnis des Bewusstseins ist, das zuerst vermutlich miteinander unvereinbare Momente durch 46 47 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 41. Ebd., S. 43. Ebd. Ebd. Ebd., S. 44–45. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Ebd.
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Weglassen von überflüssigen, dem anderen Moment widerstehenden Dimensionen in eine Einheit bringt, ist auch in diesem Vorgang erst das Resultat gegeben. Man kann dabei im strikten Sinne weder vom Gegenstand noch von Inhalten des Bewusstseins reden, denn „Inhalt und Gegenstand sind […] noch immer Formen, ebenso wie Wille oder Gefühl Formen sind.“54 Nach einigen weiteren Versuchen, die gesuchte „reine“ Materie in verschiedenen Begriffen der Erkenntnistheorie zu fassen, kommt Zalai zum Schluss: „[S]o ist keine Methode vorhanden […] jenen Teil der Placierung im Systeme, der der Materie zufällt, zu isolieren, einfach aus dem Grunde, weil die Materie selbst unisolierbar ist. Und, was noch mehr bedeutet, es scheint hier überhaupt keine Methode möglich zu sein.“55 „,Materie‘ ist nirgends sichtbar; wohin wir uns wenden, es ist nicht sie, die wir ergreifen“56 – diese negative Erfahrung macht nur eine Methode im logisch-wissenschaftlichen Sinne unmöglich; für Zalai ist die daraus folgende Hypothese (für eine Hierarchisierung der Materie sei die Hierarchie von Formen, d. h. ihr Prinzip, verantwortlich) „die Möglichkeit und der Anfang der Methode“,57 die er schon am Anfang aus dem Blickwinkel des Ganzen identifizierte.58 Es ist also nicht unmöglich, die Materie als Grundlage und Anfang eines Systems durch eine Methode im nicht wissenschaftlichen Sinne zu erreichen oder anzunähern, nur diese Methode ist noch nicht vorhanden, „diese kommt erst dann, wenn die Betrachtung als System ihr Ganzes schon geschaffen hat.“59 Vorausgesetzt, wir haben es mit einem noch unfertigen System zu tun, dessen Leitprinzip unsere konkret-materielle Wirklichkeit konstituiert, können wir keine von unserer Betrachtung unabhängige, reflektierbare Methode gestalten. Es sei denn, wir trennen oder differenzieren aus diesem aktiven Vollzug seine aktiven und passiven, subjektiven und objektiven, gestaltenden und gestalteten Momente heraus, wodurch er aber zugleich seine Kraft verlieren würde, an der Gestaltung des Systems aktiv teilzunehmen bzw. seine ereignishaften Momente ins Werk zu setzen. Die Methode als Vollzug ist schon immer vollzogen und ist zugleich im Kommen, sie ist etwas Vergangenes und zugleich Künftiges. Auch ihre Existenz lässt sich weder ideell noch substanziell bestimmen. Wir können vielleicht schon jetzt eine mögliche Analogie zwischen den „seltsamen“ Seinsweisen der Materie und des Formprinzips vorausschicken (ohne ihre genauso seltsame Differenz vernichten zu wollen), die zwar schon in den tiefen Umrissen dieses Plans zu lesen, aber an dieser Stelle der Analyse noch nicht mit Klarheit zu erkennen ist. Das Seltsame in der Betrachtung der Materie war näm54 55 56 57 58 59
Ebd., S. 51. Ebd., S. 56. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 22. Ebd., S. 67.
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lich, dass „der Stoff ist, und ist zugleich noch nicht“. Die Betrachtung aus dem Blickwinkel des Ganzen konstituiert ihre eigene Vergangenheit, sie bringt sie erst zum Vorschein, insofern sie sie auf sich zukommen lässt. Durch diese zirkelhafte Struktur der Konstitution der materiellen Wirklichkeit kann man auch die eingeschlagene Richtung der folgenden Kapitel besser verstehen. Nach der Frage nach der Seinsweise der Materie wendet sich Zalai dem speziellen Konstruktionsprinzip des Systems zu und fragt: „[W]ie soll das Konstruktionsprinzip beschaffen sein, damit überhaupt ein System zustande kommt?“60 Dabei ist zuerst zu bemerken, dass es sich bei einem Ordnungsprinzip nicht um eine bloße Möglichkeit handelt, die verwirklicht werden kann. Wirklichkeit ist ja keine Möglichkeit, „das Prinzip des Systems ist nun ein Prinzip der Wirklichkeit.“61 Durch die Bestimmung ihres möglichen Entstehen-Könnens lässt sich gerade ihre „Tatsächlichkeit, die von wesentlicher Bedeutung für eine prinzipielle Untersuchung ist“,62 nicht bestimmen. Wie das Feststellen der Möglichkeitsbedingungen eines Ereignisses an sich noch nicht garantieren kann, dass das Ereignis tatsächlich und wirklich geschieht, reicht eine solche am Ende „unmögliche, sinnlose Problemstellung“ nicht aus, „damit das ordnungsmässige Konstruktionsmoment des Systems wirklich, tatsächlich und notwendig“ entsteht.63 Jedoch wird „der volle Sinn des Prinzips erst durch dies Hervorbringen, durch diese eigene systembildende Aktivität sichtbar“.64 Es scheint, als ob die Analyse ohne vorgegebenen oder auch nur bestimmbaren Ausgangspunkt und ohne Methode keine Orientierung mehr hätte, dieses unfertige System vollständig zu entwickeln. Versucht man aber die bisherigen Prinzipien zur Geltung zu bringen und die Substantialisierung oder Vergegenständlichung der Elemente, die uns irgendwie doch zur Verfügung stehen, zu vermeiden, können uns diese Elemente einen „Wink“ geben. Denn [d]ie Einheit des Systems wird durch jedes einzelne Element des Systems sowohl qualitativ als intensiv in einer speziellen, das einzelne Element charakterisierenden Weise ausgedrückt, und das ist erste Approximation einer Definition von dem ordnungsmässigen Moment des Systems. In einer bildlichen Ausdrucksweise könnten wir darüber sagen, dass das Element sich zum Zentrum, zum Einheitspunkt des Systems nähert.65
Das Prinzip eines System lässt sich sozusagen an den einzelnen Elementen ablesen, und die Intensität des Sinnes oder die Ausdrucksfähigkeit der Elemente 60 61 62 63 64 65
Ebd., S. 58. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62.
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hängt von ihrer Nähe bzw. ihrem Abstand zum Mittelpunkt des Systems ab, der später von Zalai als eine Grenze beschrieben wird. Diese Zusammenhänge lassen sich wieder mit dem paradox-zeitlichen Ineinandersein, Ineinander-Eingeschriebensein von Lösung und Antwort in Parallele setzen. Wenn Zalai schreibt, dass „die Möglichkeiten der Lösung […] im Probleme als Strukturnotwendigkeiten des Problems vorhanden sein [müssen]“,66 meint er damit nicht, dass die Lösung eines Problems durch die Fragestellung (voraus)gesetzt und in einer geschlossenen Selbstbespiegelung im Voraus determiniert wäre. Denn diese Lösungsformen – als eine „gewaltsame“, neue Probleme schaffende Rückwirkung – lassen sich nur durch die Intensität eines Anspruchs wahrnehmen oder lesen, der zuerst ein fremder Gesichtspunkt, ein fremdes Moment zu sein scheint. „Nun geraten wir in die merkwürdige Lage, dass in unserem ersten Kapitel dies fremde Moment, das die Bedeutung und den Sinn hatte, sich zum Prinzip eines Systems zu entwickeln, der Begriff des Systems selbst war.“67 So paradox es erscheinen mag, ist es das schaffende Prinzip der Betrachtung, das das Prinzip der Betrachtung, d. h. die Methode schafft. Das Resultat dieses Schaffens ist zwar je schon gegeben, aber in einer Art, in der es noch von einem Betrachter als eine Anordnung durchgeführt, als ein Plan verwirklicht oder vollzogen werden soll. Der Systematisierungsanspruch von Zalais Untersuchungen, durch die Betrachtung als System das System der Betrachteten zustande zu bringen, wobei ein „System […] mit einem System gerechtfertigt und bewertet“68 wird, soll auch in diesem Sinne verstanden werden. Der Gesichtspunkt eines noch fremden und „unbekannte[n] Etwas“,69 eines neuen Ganzen, bringt einen neuen Maßstab mit sich, der auch die Teile in ein neues Licht rückt, ihre Bedeutung schlagartig verändert. Deswegen können sich Systeme nur in ihrer Ganzheit ändern.70 Dieser Gesichtspunkt macht nicht nur eine erkenntnistheoretische Begründung der geschaffenen und gleich in eine Einheit gebrachten Objekte überflüssig,71 sondern schließt auch die Vorstellung einer subjektiven Perspektive der Beobachtung aus. „Ein System der Betrachtung ist nun die objektivste Organisation der objektivsten Betrachtungsweise, die grösste überhaupt erreichbare Objektivität.“72 Aus der zirkelhaften Struktur folgt aber auch, dass den Objekten in der Betrachtung keine passive Rolle zukommt, ihre Eigenschaften sind keine objektiven, d. h. an sich erkennbaren und mit sich selbst identischen Eigenschaften, die ihnen in der Realität anhaften oder vom Betrachter auf 66 67 68 69 70 71 72
Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72.
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sie projiziert wären. Ihre indirekte Aktivität lässt sich erst durch die Funktion der Materie in den Systemen erklären, die nach Zalai darin bestehe, „Anfangswerte“73 für die weitere Organisation zu geben. Dass das Leitprinzip keine subjektivistischen Momente enthält, und dass die Unterscheidung von Subjekt und Objekt nur innerhalb eines Systems überhaupt einen Sinn erlangt, zeigt auch die aus der bisherigen Beweisführung sich ergebende Annahme, dass das Prinzip mit keinem explizierbaren Gesetz und keiner bestimmten, anwendbaren Methode zusammenfällt. Das organisierende Prinzip ist eine Gesetzmäßigkeit vor dem Gesetz, das „eine theoretische Organisation nach dem Gesichtspunkte dieser Gesetzmässigkeiten nicht nur nicht fordert, sondern ausschliesst“, und das „die einfachsten objektiven Werte schafft“.74 Diese wissenschaftlichen, logischen und ästhetischen Zusammenhängen vorausgehende Ordnung ist die genuin philosophische und deshalb „wichtigste Betrachtungsart, weil sie gleich und ohne Vermittlung, das philosophische Anordnen verlangt.“75 Wollen wir uns der ordnungsschaffenden Einheit, dieser grenzenlosen Grenze, dem Prinzip des Systems annähern, das „wie ein Magnetpol die Gegenstände in seinem Kraftfelde auf ihre zukommenden Plätze“76 verschiebt, müssen wir die Durchdringung der Materie von der Form, ihre intensive Verbindung, die die Anfangswerte schafft, näher untersuchen. Je mehr die Untersuchung in den Sog dieses Kraftfeldes gerät und dabei versucht, die Art und Weise der Verbindung der Form mit der Materie zu bestimmen, desto ungeeigneter erscheinen die logischen Kategorien. Nun wird klar, dass es gerade die Sprache ist, die uns aus der Sackgasse der logischen Begriffe und der prinzipiellen Geschlossenheit der erkenntnistheoretischen Ansätze hinausführen und zugleich den Weg zum Mittelpunkt des Systems eröffnen kann. Dementsprechend lässt sich die Sprache nicht aus der Sicht der Sprachwissenschaft definieren oder als ein Gegenstand betrachten: „es gilt hier ihre Funktion in der Entstehung einer objektiven Welt für das überindividuelle Bewusstsein des Menschen zu bestimmen.“77 Ohne die Sprache in ihrem Ansichsein oder Wesen definieren zu wollen, versucht Zalai, zuerst ihre spezielle Wirkung auf das Bewusstsein zu charakterisieren. Eine objektive Welt entsteht, „wenn in die mehr homogenere Masse der vor-sprachlichen Erkenntnis Einschnitte gemacht werden“,78 die eine materielle, strukturierte „Sphäre der Notwendigkeit“79 zustande bringen. Die Frage nach dem Anfang eines Systems ist also 73 74 75 76 77 78 79
Ebd., S. 74. Ebd., S. 78. Ebd., S. 83. Ebd., S. 84. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 93.
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eng mit der Leistung der Sprache verbunden, die aber kein Bewusstsein oder keinen Willensakt voraussetzt. Diese Leistung steht vielmehr mit der Materie bzw. ihrer Wirkung im engen Zusammenhang. Den unbearbeiteten Stoff (die Begriffe „Materie“ und „Stoff“ verwendet Zalai als Synonyme) zeichnet nicht nur eine Passivität und Aufnahmefähigkeit, sondern auch seine indirekt aktive Funktion aus, „eine konkrete Bestimmung für die Realisierung jener Formmöglichkeiten zu sein, welche den Stoff selbst verarbeiten“.80 Die Einschnitte sind keine willkürlichen Akte der Gestaltung, denn sie werden von Anfang an vom Stoff selbst mitbestimmt. Die Strukturen der Einschnitte, ihre Möglichkeiten sind im Stoff bereits vorgeschrieben, ohne dass sie gleich lesbar wären. Der Anfang, der somit kein absoluter Anfang ist, wird von einem sprachlichen Akt gestiftet, kraft dessen „der Stoff seine falsche statische Starrheit [verliert, er] hört auf, ein bloßer Widerstand zu sein; er ist gestaltungsfähig geworden, und diesen Reichtum, diese Gestaltungsfähigkeit gewinnt er zuerst in der Sprache.“81 Zalai beschreibt diesen Stiftungsakt als ein Geschehen, in dem ein Symbol zustande kommt, das, gleich der schon erwähnten aktiven Abstraktion, sich mit logischen Mitteln nicht erschließen lässt: „der Grund der Symbolisation [ist] etwas, das mit rein verständnisgemäßen Mitteln nicht erreichbar ist“,82 denn an dieser Symbolisation ist „die ganze ,Seele‘“83 beteiligt. Während in der „intellektuell geformten“84 Sprache das Zwischenglied, das der Beziehung des Symbols zum Symbolisierten zugrunde liegt, im Voraus gegeben ist (in diesem Fall kann nicht mehr von einem Symbol, sondern nur von einem Zeichen die Rede sein85), geht der Sinn der Symbolrelation über intellektuelle Formen hinaus, denn sein „Tiefsinn“86 ist nicht von rhetorischen Aspekten wie Humor, Pathos oder Ironie zu trennen. Ihre Fülle, Größe und Reife machen „das Relief der Symbolrelation“87 aus, das zwar sehr wohl konventionelle Komponenten enthalten kann („auch ,Konvention‘ ist nicht auf das Abstrakte beschränkt“88), aber nicht auf rein konventionellem Wege zu deuten ist. Weder seine Deutung noch seine Entstehung unterliegen den bewussten Prozessen des Bewusstseins. Obwohl Symbole durch Willen geschaffen werden, handelt es sich nicht um einen bewussten Willen, der sich auf die Sprache richtet und sie somit umgestalten könnte.
80 81 82 83 84 85 86 87 88
Ebd. Ebd. Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd., S. 95. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97.
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„[D]er Symbolwille [ist] nur der Wille zum Ausdruck“,89 er lässt sich nicht von der Sprache trennen. Jedoch kann der Begriff des Willens das Geschehen, durch das aus der alten Materie etwas Neues entsteht, nicht genügend erklären. Denn die Symbolisierung ist als aktive Abstraktion ein Ereignis, dessen Grenze (und deswegen ist sie zugleich grenzenlos) nicht mehr zu überschreiten ist, es schafft etwas Neues, von dem aus Form und Materie des vergangenen Systems nicht mehr zu beurteilen oder zu vergleichen sind. Der neue Blickwinkel durch Symbolisierung entspricht nach Zalai einer neuen „Analyse“ der Materie, die die Materie nun durch ein anderes Prinzip selektiert und somit eine neue Welteinteilung und eine neue Art der Konstruktion und des Erkennens der Wirklichkeit (wörtlich eine neue Wirklichkeit) mit sich bringt. Diese erste, ursprüngliche Grenze des Symbols ist in Hinsicht auf die weitere Entwicklung des Systems von besonderer Bedeutung: „die erste Analyse und Auswahl bestimmen nun jede weitere Analyse und Auswahl, die auf sie folgt.“90 Auch wenn die alte und die neue Materie nicht miteinander zu vergleichen sind, bestimmen beide die Art und Weise der „Analyse“, die ja gerade an der Grenze der beiden Materien entsteht. Denn es ist die neue Materie, die die neue Form gibt, und zwar dadurch, dass die „alte Verarbeitung“ oder das „Erkenntnismoment“ in diese ihm ursprünglich fremde Materie „transportiert“ oder „eingeprägt“ wird.91 Zalai beschreibt dieses rein logisch unerklärliche Zustandekommen des Neuen auch später, in Bezug auf das Prinzip als einen materiell-körperlichen Vorgang, der sich erst durch seine Wirkung ankündigt, insofern er die alte „Verkörperung“ der Form verletzt und an diesem Körper „Wunden“ hinterlässt.92 Auch die neu geformte Materie erscheint zuerst als ein Fremdkörper, dessen Form also nicht „an sich, sozusagen aus dem Nichts hervorgeht“,93 sondern als neues Medium die alte Form oder Verarbeitung in sich aufnimmt und dadurch zugleich eine neue Form, eine neue Analyse der Materie erfordert: Die Materie „entsteht ebenso mit der Form, wie andererseits die Form mit der Materie entsteht. […] Die Möglichkeiten der Wirklichkeit werden […] geschaffen durch die mittels der neuen Materie neue Formganze schaffenden Symbolisierungen.“94 Die Schwierigkeit der Beschreibung dieses Geschehens besteht nach Zalai im dialektischen Denkmuster der philosophischen Tradition, in dem Form und Materie nicht nur getrennt, sondern auch in einer hierarchischen Struktur erscheinen: 89 90 91 92 93 94
Ebd., S. 98. Ebd., S. 104. Ebd., S. 106. Ebd., S. 147. Ebd., S. 108. Ebd.
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Die sinnliche Materie warf ihren Schatten auf den Begriff der Materie allzusehr, und tut es jetzt noch, wenn auch in milderer Weise; der Begriff der Materie, als notwendiges und gestaltendes Element in dem Formganzen, war nicht vorhanden; darum war das Materielle als Antithese, als Fehler, aus der geistigen Welt ausgeschieden.95
Auch wenn Form und Materie voneinander nicht trennbar sind, fallen ihre Funktionen innerhalb des Systems nicht zusammen. Im System ist nämlich eine „zweifache Organisation“96 am Werk, deren beide Teile zwar voneinander unabhängig funktionieren, sich aber gegenseitig bestimmen. Denn die Materie-Analyse, das Ereignis der aktiven Abstraktion, schafft an sich noch kein organisierendes Prinzip; mit den Symbolisationsakten ist noch kein Sinnzusammenhang, kein Ganzes gegeben. Diese zweite Ordnung nennt Zalai die Ordnung der „Gedankensinne“, deren Zusammenhänge „für sich bestehen, dieselbe sich nicht der Materie-Analyse fügen können, sondern selbständige Prinzipien der Organisation haben müssen.“97 Auch wenn beide Ordnungen „dasselbe Zusammenwachsen der beiden Momente“98 aufweisen, haben sie jeweils ein anderes Verhältnis zur selben Materie. Symboleinheiten sind von ihrer anderen Seite, von der Materie, determiniert. Gerade weil in ihren Prozessen keine Sinnzusammenhänge entstehen, können sie keinen Abstand von sich selbst nehmen. Sie sind an die Materie gebunden, ohne diese Gebundenheit oder Grenze (den Vollzug ihrer eigenen Abstraktion) reflektieren zu können. Deshalb ist es „unmöglich, über sie nachzudenken, ohne die Gedankensinne mit in Betracht zu ziehen.“99 Nicht nur die reine und ungeformte, sondern auch die geformte Materie ist nicht an sich und aus sich selbst zu verstehen; ihre Beschreibung erfordert die höhere Organisation der Gedankensinne und damit ein Prinzip, von dem her sie als Teil eines Ganzen erscheint. Die Gedankensinne sind hingegen Gebilde, die aus dem Rahmen der Symbolisationen hinauswachsen; statt einer Materie-Analyse steht ein Sinn-Zusammenhang vor uns. (...) Sie sind Gedanken, so wie sie der Materie am nächsten stehen. Sie sind jedenfalls nicht auf Materie, sondern auf den Sinn zugespitzt, aber sie heben sich von der materieartigen Grundlage der Symbole ab. Sie ordnen sich schon nach eigenen Gesetzen, aber sie selbst beziehen sich stark auf die Materie und aus dieser Nähe an „Materie“ ergibt sich ihre Sinn-seite.100 95 96 97 98 99 100
Ebd., S. 109. Ebd., S. 136. Ebd., S. 117. Ebd., S. 120. Ebd., S. 136. Ebd., S. 126.
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Der Sinn der Gedanken ergibt sich aus ihrer Nähe zu und ihrer Entfernung von der geformten Materie als einer ereignishaften Grenze der aktiven Abstraktion, deren Umrisse erst aus der Perspektive des Systems sichtbar werden. Hieraus wird auch ersichtlich, inwiefern die sich „immer wiederholenden Eingriffe der Form in die immer neue Materie“ und die dadurch entstehenden Prägungen, Reliefs oder Umrisse die „Möglichkeiten der Wirklichkeit“ schaffen,101 die zwar einem systemischen Gesichtspunkt vorausgehen, aber nur von den Sinnzusammenhängen her realisiert und wörtlich verwirklicht werden können. In diesem Sinne erscheint die Wirklichkeit als eine Grenze, die „nicht als selbstständiges, allein für sich stehendes Glied gegeben“,102 sondern ein konstitutives, indirekt bestimmendes „Moment“ im Vollzug der Gedanken ist. Als konstitutives Moment des Denkens kann sie nie erreicht, sondern nur „approximiert“ werden, welcher Prozess jedoch aus den schon erwähnten Gründen nicht als Relation einer Selbstreflexion vorzustellen ist. Keinem von den beiden Momenten, weder dem Vollzug noch dem Resultat kann eine Priorität zugeschrieben werden, es ist kein Applizieren, es ist ein Entstehen, ein Entstehen eines Sinnes durch einen Sinn. Die Wirklichkeit ist also ein Moment des Sinnes in dem Sinne eines Gedankens; und doch ist sie kein Resultat, denn sie gehört zu dem ganzen Sinne des Gedankens, zu diesem Gedanken, den sie entstehen lässt.103
Es gibt zwar keinen Übergang zwischen den materiellen und den sinnhaften Momenten sowie zwischen den materie- und den sinngebundenen Ordnungen (aus Sinn kann nur Sinn entstehen), jedoch ist die indirekt latente Anwesenheit der geformten Materie, „die schaffende Gewaltsamkeit des formenden Materieprinzips“104 im System nicht zu unterschätzen. Denn auch wenn die Materialität der Sprache der Organisation des Systems nichts Neues hinzufügt und die Sinngebilde nicht genetisch hervorbringt, bleibt sie als notwendiges Medium in der späteren Organisation erhalten: „Wenn einmal die Gedanken durch die Vermittlung der Sprache auf gestellt sind, dann kommt jede spätere Ordnung durch dieselbe Vermittlung zustande.“105 In welchem Maße und durch welche Qualitäten die Sprache diese Ordnung beeinflusst und formt, insofern sie weiterhin wirkt, bleibt unbekannt. Die Symbolisation fügt dem System „einen Ton, eine qualitative Nuance hinzu“,106 die dem System seine unverwechselbare Singularität ver101 102 103 104 105 106
Ebd., S. 108. Ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 136. Ebd., S. 133. Ebd., S. 139.
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leiht. Wäre etwa ein Subjekt durch eine andere, nicht sprachliche Symbolisation geformt, wäre es zwar „noch dasselbe logische Wesen – aber es wäre kein Subjekt mehr […]. Ohne Symbolisation (oder mit einer anderen) bliebe das logische Wesen dasselbe, sein Wesen (welches nicht nur logisch ist) bliebe nicht dasselbe.“107 Die eigentliche Realisierung des Sinnes ist von der Symbolisation der Sprache abhängig; auch wenn sie selbst nicht zu fixieren und zu identifizieren ist, fixiert und identifiziert sie die weiteren Systembildungen. Sie gehört nicht zum inneren Bereich des Systems, befindet sich trotzdem in den tiefen Umrissen seiner noch zu realisierenden Möglichkeiten; sie bleibt ein formgebendes Prinzip, in ihr und mittels ihrer entstehen die neuen Gestaltungen; denn das reine Wesen wird immer durch Formen erfasst, und zu diesen gehört, nicht als Ausdruck oder äussere Form, sondern als mit den übrigen gleichwertige innere oder immanente Form, die Sprache.108
Am Ende des zweiten und vorletzten Kapitels werden auch die Sinnelemente des Systems, die Gedanken auf ähnliche Weise nach außen, jenseits der bisherigen Systemgrenze verschoben und neu positioniert. An dieser Textstelle und an diesem Punkt der Entwicklung des vor unseren Augen entstehenden Systems werden Gedanken und Bedeutungen entfaltet, die „das Bild der bisherigen Bedeutungen mit einem Schlage verändern“.109 Eine näher nicht charakterisierbare und – ähnlich der schaffenden Gewalt des Materieprinzips – von der unbestimmten anderen Seite kommende Kraft „wirft Gedanken als objektive Ergebnisse der bisherigen Ordnung auf, die diese bisherige Ordnung nicht ertragen, die diese Ordnung sprengen.“110 Ebenso werden die vorigen Kapitel aus der Perspektive des letzten schlagartig verändert und entpuppen sich somit als Elemente eines alten Systems, die nun in diese neu definierte und anfangs noch fremd erscheinende Materie eingeprägt und nach dem neuen Ordnungsprinzip wiederzulesen sind. Der Begriff des Systems als ein neues System, das am Anfang noch nicht existierte, wurde nicht nur beschrieben, sondern zugleich geschaffen, „wir haben nämlich in den beiden ersten Teilen […] nicht nur für, sondern mit dem jetzt folgenden gearbeitet.“111 Nun wird auch die eigentliche Bedeutung der Sprache für die ganze Analyse klar, die somit nicht mehr auf eine bloße Funktion des Systems zu reduzieren ist. Unter diesem neuen Gesichtspunkt zeigt sich das System als ein sprachliches Sys107 108 109 110 111
Ebd., S. 139–140. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd. Ebd., S. 146.
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tem, als ein System der Sprache, in dem die zweifache Ordnung der Symbolisationen und der Gedankensinne ihre sich gegenseitig bedingenden Aspekte darstellt. Somit wird auch klar, warum Zalai auf der Unabhängigkeit und Diskontinuität der beiden Ordnungen insistiert. Materielle und formale Momente bedingen und schließen sich gegenseitig aus, ohne dass ihr Verhältnis symmetrisch oder umkehrbar wäre. Auch wenn sich Sinnzusammenhänge aufgrund von und nach den materiellen Symbolisationen entwickeln, ist zuerst das Resultat und sind nicht die einzelnen Bausteine des Systems gegeben. Die Beschreibung der materiellen Ordnung setzt schon die Ordnung der Bedeutungen voraus, während sich diese Bedeutungen nach ihrem Abstand zur Materie konstituieren und dank der Intensität, die sie aus der Nähe zu diesem Mittelpunkt erhalten, das Gesamtbild schlagartig verändern. Es sind aber keine im Voraus gegebenen Elemente, sondern Grenzen und Zusammenhänge oder, wie wir gleich sehen werden: Winke, Töne oder Klänge einerseits, und ein allgemeines Gelten, imperatives Gesetz andererseits, die sich aufeinander beziehen und ihre Kräfte intensivieren, indem sie sich einander annähern. Das „rein Sprachliche“, dieses an sich unselbstständige Moment, das früher „aus der grammatikalischen Reflexion ebenso wie logischer Sinn abstrahiert“ wurde, „steht vor unseren Augen als der Nerv, die Ader eines mächtigen schaffenden Genius.“112 Das rein Sprachliche fügt dem System nichts Neues hinzu, denn „es sind ja in ihm die Umrisse der Sinngefüge, welche durch diese Aktivität entstehen“.113 Durch die sprachliche Symbolisation entstehen Umrisse, Risse eines Plans, Reliefs oder Prägungen in der Materie, die „in dieser Aktivität vorhanden, irgendwie skizziert“114 sind, aber noch keine eigentliche (höchstens eine logische) Bedeutung haben. Die Lösung des Formproblems und das neue, künftige organisierende Prinzip der Gedanken sind in der originalen Fragestellung schon gegeben und doch noch im Kommen: „das Sinngemäße […] wirkt in seinem noch-nicht-Vorhanden-sein; es wird nicht mit verminderten Ganzen gearbeitet, sondern mit dem noch nicht zum Ganzen verdichteten Plane eines Ganzen“.115 Der Unterschied zwischen Sinn und Materie wird in dieser paradoxen zeitlichen Struktur der künftigen Gegenwart eines Plans einerseits konsequent aufrechterhalten, andererseits wird es unmöglich, die Eigenschaften, die die beiden Momente auszeichnen, voneinander abzugrenzen. Denn beide sind nur durch ihre Wirkung – eigentlich noch nicht oder nicht mehr – da. Sowohl Form als auch Materie stellen im System etwas Neues dar, aber „[d]as Neue, das entsteht, kann nicht ein Sein oder ein Wesen sein; es ist ein reines
112 113 114 115
Ebd., S. 148. Ebd. Ebd. Ebd., S. 149.
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Wesen.“116 Diese Unterscheidung zwischen Sein und reinem Wesen, auch wenn sie erst jetzt explizit hervortritt, war in der Tat schon die ganze Zeit da als ein organisierendes Prinzip, das von den phänomenalen Gegebenheiten eines logischen Systems die Begriffe von Form und Materie abgrenzte und in ein neues Licht stellte bzw. Schritt für Schritt neu definierte. Dies erklärt auch die scheinbare Grenzenlosigkeit der geformten Materie, in der Form und Materie schon wirken, bevor sie ankommen und gegenwärtig, sichtbar und wahrnehmbar werden. Die streng genommen unsichtbare Aktivität der Sprache, die das erscheinende System bedingt und ihm vorausgeht, verschwindet und verliert ihre gestaltende Kraft in dem Augenblick, in dem sie als Form bzw. als solche erscheint. Die reine Materie, die „Sprache ohne die logischen Ordnungsprinzipien“,117 die als Stoff schon da „ist und […] zugleich noch nicht“, ist kein inaktiver Stoff, das haben wir zur Genüge gesehen, es ist aber nur eine relative Aktivität oder Inaktivität, die hier in Frage kommen kann; zuerst kündigt sich diese Aktivität durch diese Richtung und Sicherheit an; später, wenn diese Aktivität sich steigert und aus dem Künftigen zum Gegenwärtigen wird, womit eine für sich stehende, bestimmte und „gegenwärtige“ Form erreicht wird, arbeitet auch diese Form für sich selbst, und von da an gestaltet sie keine sprachliche, sondern eine logische Systematisierung.118
Auch das rein Sinngemäße meldet sich zuerst durch eine „gewaltige“ Wirkung, die Zalai als ein allgemein-universelles „Gelten“ beschreibt. Das korrelative Verhältnis von Problemstellung und Lösung, dessen Sinngefüge uns am Anfang der Analyse einen Wink gab und somit die Richtung zeigte, wird nun vollständig entfaltet: Ein Problem entsteht nicht auf dem breiten und ruhigen Wege der logischen Konsequenz; es entsteht auf eine viel kompliziertere und, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, viel mystischere Weise. Es ist das neue Problem, das noch nicht existiert, das in seiner Nicht-existenz doch eine gewaltige Art des Seins besitzt, die gewaltigste sogar, die des Wirkens. Das logisch noch nicht existierende, nicht begriffene, nicht begriffliche wirkt auf die schon ergriffene, sich entwickelnde Masse unserer Kenntnisse.119
In diesem Zusammenhang werden auch die Begriffe des Erkennens aus ihrer logischen Struktur herausgelöst; sie sind nicht mehr Resultate eines Wahrnehmungs116 117 118 119
Ebd., S. 152. Ebd., S. 151. Ebd. Ebd., S. 144.
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prozesses, sie setzen keine Gegenstände oder Gegebenheiten voraus, sondern gehen diesen merkwürdigerweise voraus; es ist das Erkennen des Ganzen durch „die erwähnten Winke, positive, bestimmte Richtungen, Klänge der grossen Harmonie, Spuren am Wege“,120 das die logisch erkennbaren Gegenstände (nicht willkürlich, sondern durch ein objektives Gelten) schafft und ihre Umrisse hervorbringt. Darin besteht auch sein Unterschied zum Begriff des Apriori: Während dieses das Resultat einer Wirkung ist bzw. am Resultat einer Wirkung „abgelesen“121 wird (deswegen kann es nicht hinterfragt werden und daher muss sein Anfang verborgen bleiben), taucht das Gelten oder „die Norm […] nicht erst durch ihre Wirkung in dem schon fertigen Gebilde auf, sondern ist in ihren Umrissen in der unfertigen Sprachmaterie auffindbar“.122 In diesem Fall wird das noch fremde Neue nicht erst nach seiner Wirkung erkennbar (so wäre sein Erkennen tatsächlich unmöglich), denn das Verhältnis von Kraft und seiner Wirkung sowie von Form und Materie lässt sich nicht in einen kausalen Zusammenhang einordnen und in ihm differenzieren. Das unbekannte Neue, wenn auch nicht daseiend, und wenn noch nicht daseiend, ist doch da, und zwar nicht durch seine Wirkung, denn diese Wirkung wird erst kommen; aber es ist sichtbar, wie diese Wirkung sich gestaltet; wie das noch Kommende überhaupt wirken muss – ohne irgendeine Rücksichtnahme auf den stofflichen Faktor.123
Die latent präsenten Umrisse in der sprachlichen Materie und ihre künftige, erst kommende Wirkung vereinigen sich nicht infolge einer kontinuierlichen Entwicklung zu einer neuen Form, denn „eine Entwicklung scheint nie etwas radikal Neues zu gestalten“.124 Zalai spricht statt Entwicklung von der Stufe des Formgewinnens, die nicht durch eine – wenn auch neue und originelle – Deutung eines vorhandenen Stoffes erreicht, sondern durch die Unberechenbarkeit der Zukunft bewirkt wird. Wie der Ursprung der Kraft und der Wirkung die sinnlich-wahrnehmbare Materialität sowie die bereits geformten Gegebenheiten vorausgehen, so geht das rein Sinngemäße, das „Gelten“, über die Erwartungen hinaus und durchbricht den Sinnhorizont dieses geschlossenen Bereiches. Das radikal Neue „steht zwar am Ende einer kontinuierlichen Entwicklung, gehört aber selbst dieser Kontinuität nicht mehr, sondern durchbricht sie; die Grenze gehört nicht mehr zum Bereich.“125 Diesem entstehenden Neuen entspricht keine Seinsweise, 120 121 122 123 124 125
Ebd., S. 146. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd., S. 151. Ebd. Ebd., S. 152.
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die erkannt, festgestellt und beschrieben werden könnte, es ist kein Sein oder substantielles Wesen, sondern ein „reines“ Wesen, das nur in einem imperativen Modus zu beschreiben oder besser gesagt, eine imperative – oder man könnte sogar sagen: eine rein performative – Sprache ist: „Es ist also verfehlt zu sagen, dass es etwas Neues ist […]; richtig kann man nur so sagen: Es wird von nun an so und so geordnet; oder: Es gilt von nun an so und so; oder: Es wird so und so gefordert.“126 Der erscheinenden Form geht eine Forderung, eine Anordnung oder ein Gelten voran, das das Entstehen von Formen bewirkt; „die latente Wirkung wird dann eine ausgeprägte, geformte, gestaltete.“127 Wird das Gelten durch den geordneten Stoff verkörpert und erreicht es seine volle Determination, ist es „nicht mehr die Grenze, die […] eingehalten werden muss; es ist jetzt selbst die Richtung.“128 Das Gelten geht dem „Reich des Seins“,129 dem Kreis der Seienden voran, daher ist es irreführend, nach dem Grund des Seins im Sinne einer Metaphysik zu fragen. Zalais System- oder Sprachtheorie mündet aber nicht in der Verabsolutierung des Geltens als alles begründendem, formendem Prinzip. Am Ende seiner Arbeit schreibt er: „Aber die Priorität des Geltens zu behaupten […] wäre meines Erachtens ebenso verfehlt.“130 Denn das würde gerade zu den alten Paradigmen der Erkenntnistheorie zurückführen, deren Ansätze zur Lösung des allgemeinen Formproblems Zalai gerade deshalb als unzulänglich erscheinen, weil sie den apriorischen Grund als ein Drittes neben den beiden Faktoren von Sein und Geltung, Objekt und Subjekt oder Materie und Form als ein selbstständig – wenn auch nur in Form eines Gesetzes – Existierendes gesetzt haben. Das Gesetz, nach dem in diesen Theorien gesucht wird, kann nach Zalai deshalb nicht bestimmt oder angewendet werden, weil es das „Angewendet-sein“131 selbst ist; es ist das Ineinander-Sein oder Voneinander-Durchdrungen-Sein von konstitutiv untrennbaren Momenten, eingeprägt, eingeschnitten in die sprachliche Materie. „Es soll diese Vereinigung selbst als die Gesetzmässigkeit aufgefasst werden, d. i. statt eines unabhängigen A-priori muss die Form gesucht werden, in der Denken und Objekt sich vereinigen.“132
126 Ebd. 127 Ebd., S. 153. 128 Ebd. 129 Ebd. 130 Ebd., S. 154. 131 Ebd., S. 159. 132 Ebd., S. 158.
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Form und Symbol in der Systemtheorie Luhmanns133 Auch Luhmanns Formbegriff basiert auf dem Prinzip der Gleichzeitigkeit und Untrennbarkeit von logischen Oppositionen, die in der erkenntnistheoretischen Tradition in der Regel in hierarchischen Strukturen auftreten. Im „Formenkalkül“ (dessen Grundprinzipien dem Mathematiker George Spencer-Brown zu verdanken sind) werden die Ideen der Unterscheidung und der Bezeichnung nicht getrennt, sondern in ihrem sich wechselseitig bedingenden und ausschließenden Verhältnis in Gang gesetzt. Auf den ersten Blick scheinen diese Begriffe mit der Wechselseitigkeit von Form und Materie bei Zalai nicht isomorph zu sein. Zieht man jedoch in Betracht, dass sowohl Form als auch Materie von Rissen oder Umrissen durchzogen und durch sie konstituiert werden, die durch keine Relationen zu fassen oder zu repräsentieren sind, können sich bereits analoge Struktureigenschaften abzeichnen. Denn auch Zalai geht es nicht darum, Begriffe im substantiellen Sinne zu definieren, sondern ihr Verhältnis zueinander nach dem Prinzip der Inkommensurabilität, d. h. einer sich entziehenden Differenz oder Unterscheidung zu präzisieren. Der Begriff der Form bei Luhmann entfaltet sich ebenso auf der sich entziehenden, grundlosen Grundlage einer ersten und ursprünglichen Unterscheidung als einer ereignishaften Welteinteilung, die aber als Vollzug oder Geschehen nicht zu beobachten oder gleichzeitig zu reflektieren ist. Gleich der „aktiven Abstraktion“ wird sie durch ihren eigenen Vollzug verdeckt. Auch die Idee der Unterscheidung zeichnet ihr inkommensurabler Charakter aus, der den gewöhnlichen Begriff des Unterschieds, der immer noch die Möglichkeit des Vergleichs voraussetzt, als etwas Sekundäres und Abstraktes erscheinen lässt. Weder die Unterscheidung noch die von ihr unterschiedenen Seiten sind einem Beobachter, der sie gerade vollzieht, in einer Einheit oder aus einer externen Position zu erkennen. Daraus ergeben sich für Luhmann die Schwierigkeiten, diesen Aspekten der Unterscheidung gerecht zu werden. Da jede Bezeichnung eine Unterscheidung voraussetzt, können Unterscheidungen nicht bezeichnet werden, ohne eine wiederholte Unterscheidung zu vollziehen. Und genau diese Wiederholung, die Luhmann nach Spencer-Brown „re-entry“ nennt (Wiedereintritt der Unterscheidung in die Unterscheidung, in die durch sie bezeichnete Seite), ist die Möglichkeit der Beobachtung, d. i. der Beobachtung des durch den ersten Akt entstandenen Objekts – oder bei Luhmann der bezeichneten Seite der Unterscheidung. Von der 133 Zum weiteren Kontext und zur ausführlicheren Analyse der Begriffe des Symbols und des Mediums siehe: Hajnalka Halász, Medien zwischen Latenz und Symbol. Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann, in: Zoltán Kulcsár-Szabó/Csongor Lőrincz (Hg.), Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014, S. 215–256.
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ersten, hypothetischen Unterscheidung sind wir in diesem Konzept durch eine ebenso schwer greifbare, erneute Unterscheidung getrennt, die jedoch die erste in einem bestimmten spezifischen Zusammenhang gewisserweise beobachtbar machen kann. Eine Form, die somit die Grenze zwischen den beiden Seiten, man könnte auch sagen: Momenten, jedenfalls miteinander nicht identifizierbaren Unterscheidungen darstellt, entsteht in ihrem selbstreferentiellen Gebrauch und hat eine doppelte, eine wiederholende und eine wiederholte Grenze. Die Form ist die ursprüngliche Kopie einer Unterscheidung, die ohne ihre Wiederholung, d. h. einen Wiedereintritt, gar nicht erscheinen könnte. Die Form besteht aus dem selbstreferentiellen Prozessieren ihrer beiden Grenzen, und sie besteht nur insofern, als sie von einem Beobachter vollzogen und beobachtet wird. Es gibt also nie eine Unterscheidung, es gibt sie nur in ihrer Wiederholung. Die ursprüngliche Unterscheidung ist in der Tat nichts anderes als ein singulärer Einschnitt in die Welt, eigentlich eine Ununterscheidbarkeit, die durch Ein- und Ausschließen der von ihr getrennten Seiten entscheidbar und handhabbar wird. Eine bestimmte spezifische Operation, die ebenso eine asymmetrische Unterscheidung ist, wie die Differenz, auf die sie sich bezieht, löst die Paradoxie der Differenz (ihre Unzugänglichkeit und permanente Verschobenheit) nicht nur auf, sondern wiederholt sie auch. Das Verhältnis der beiden Unterscheidungen (die sich wohl nur deshalb kreuzen können, weil sie sich nicht auseinanderhalten lassen) ist in mehreren Hinsichten paradox: Obwohl die äußere Grenze der Form der inneren Grenze strukturell vorausgeht, wird sie erst von der inneren Operation, die sie wiederholt, erzeugt. Die Operation wiederholt die erste Unterscheidung als ihren eigenen Ursprung, die erst durch ihr Hineinkopieren ursprünglich und zeitgleich gleichzeitig verschoben wird. Die eine Unterscheidung setzt die andere voraus, während diese Voraussetzung erst nachträglich entsteht.134 Will man der Asymmetrie und dem ambivalenten Charakter der Unterscheidung gerecht werden, sollte der Modus der Wiederholung bzw. die Frage, ob die kopierende Unterscheidung das Wiederholte bloß wiederholt, erschließt, modifiziert oder erzeugt, unbeantwortet bleiben. Da das Verhältnis der zwei asymmetrischen Unterscheidungen selbst asymmetrisch ist und selbst den operierenden Beobachter in die unversöhnlichen Aspekte des Handelns und Erlebens oder der Operation und Beobachtung spaltet, können wir uns der eigentlichen Leistung der Wiederholung nie vergewissern. Es ist also nicht nur die Operation, die einen blinden Fleck hinterlässt, sondern auch die erste Unterscheidung, die eine vorausgehende und zugleich hypothetische Grenze zieht, welche in ihrem nachträglichen 134 Vgl. dazu: Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt a. M. 1993, S. 45–69; ders., Die Paradoxie der Form, in: Dirk Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993, S. 197–212.
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Entstehen permanent verschoben wird. Erst hier kann die Frage nach dem Verhältnis der Unterscheidungen gestellt werden: „Ist dann die Unterscheidung, die in sich wiedervorkommt und anders gar nicht vorkommen kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung?“135 Die Paradoxie der Form ist die paradoxe Identität dieser Differenz. Den Anfang eröffnet der performative Befehl einer Differenz (bei Spencer-Brown: Mach eine Unterscheidung!), dessen entfaltende Ausführung nicht die zitierte Frage entscheidet, sondern die Operationen durch weitere Unterscheidungen fortsetzt und wiederholt. Von der inneren, ursprünglich kopierenden Grenze der Form wird der Anfang oder ihre Voraussetzung nicht (oder nicht nur) erschlossen, sondern vielmehr aufrechterhalten. So ist die unüberschreitbare und zu reproduzierende Grenze der Form auch auf ihre Entfaltung angewiesen: Ihre Performativität ist der Komplexität der entfaltenden Operationen ausgesetzt. Bis zu diesem Punkt könnte man mehrere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den beiden Formkonzepten aufzeigen. Auch wenn Zalais Terminologie im Vergleich zur eben dargestellten als weniger differenziert erscheinen mag, ist sie hinsichtlich ihrer Prinzipien nicht weniger konsequent. Etwa bei der Frage nach der Leistung der aktiven Abstraktion, in der Form und Materie als bearbeiteter Stoff – das ist die bezeichnete Seite bei Luhmann – ununterscheidbar verschmelzen, wird Zalai mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert. Das Ereignis der Synthese als ursprüngliche Symbolisation oder als Auffassungsakt ist notwendig an seine andere, ausgeschlossene, in diesem Zusammenhang an die materielle Seite gebunden, ohne dass durch diesen bloßen Akt (durch eine einzige Unterscheidung) sein Abstand zur Materie (oder zur Grenze, die ihn von der anderen Seite trennt) zu beobachten wäre. Die einzelnen Symbolisationen oder „Materie-Analysen“ machen an sich, genau wie die einzelnen Operationen, noch keinen Sinn, konstituieren kein organisierendes Prinzip und sind an sich unfähig, ihr prozessuales „Fortschreiten vom Konkreten zum Konkreten“ zu organisieren oder zu beobachten. Die Materie ist bei Zalai, wie die unbestimmte andere Seite der Form, ebenso als ununterscheidbare Differenz (latent-unsichtbare Risse in der Materie) in den bearbeiteten Stoff (in die Form) ein- und aus ihm zugleich ausgeschlossen. Die andere Seite der Form ist genauso wie die Materie unerreichbar, nicht zu fixieren, jedoch bestimmt die erste Differenz zwischen den beiden Seiten oder der Form und der Materie auf eine nicht bestimmbare, aber singuläre Weise die späteren Prozesse oder die „Anfangswerte“ der Organisation. Die erste Unterscheidung, die auch bei Luhmann im imperativen Modus formuliert ist oder als eine Anordnung fällt (ohne bewussten Willen des Beobachters geschieht), bleibt in den sie wiederholenden spezifischen Operationen indirekt erhalten als eine unauflösbare Paradoxie, die vielleicht auch in diesem Kontext als der intensivste Punkt des Systems bezeichnet werden könnte. 135 Luhmann, Paradoxie, S. 200.
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Auch die Funktion der Sprache als unüberschreitbare Grenze und zugleich „Vermittlerin“ zwischen zwei unabhängigen und geschlossenen Bereichen findet auf den ersten Blick bei Luhmann ihr Analogon. Geschlossene autopoietische Systeme entstehen aufgrund einer Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation, die im Gegensatz zu den Formgrenzen nicht mehr zu überschreiten ist (sobald Sprache da ist und die Kommunikation läuft, gibt es keinen Rückweg mehr zur „Materie“ des Bewusstseins), und die den Systemen dennoch und gerade deshalb ermöglicht, sich nach einem leitenden Prinzip zu organisieren. Auch wenn die Sprache in der luhmannschen Systemtheorie scheinbar keine zentrale und eine bloß marginale Rolle spielt, ließe sich zeigen, dass sie auch in diesem Fall als der „intensivste Punkt“ die Entfaltung der Theorie mitbestimmt. Somit ist es auch die Auffassung der Sprache, nach deren Spuren sich die Unterschiede der beiden Theorien erst abzeichnen können. Die grundlegende Unterscheidung zwischen System und Umwelt oder Kommunikation und Bewusstsein lässt sich auch bei Luhmann auf diesen sprachlichen, in den Umrissen des Systems unscheinbaren, weil „tiefer“ liegenden „Riss“ zurückführen: Diese Differenz entfaltet Luhmann in der – von Fritz Heider stammenden – Unterscheidung zwischen Medium und Form,136 die mittlerweile auch den heutigen Medientheorien wichtige Denkanstöße gab. Die Sprache trennt die Systeme vom Bewusstsein nicht nur endgültig ab, sondern ermöglicht auch deren Flexibilität und Organisation durch strukturelle Kopplungen zwischen ihren beiden Momenten, die ebenso wie Form und Materie sich nicht substantiell, sondern nach den allgemeinen Prinzipien der Form unterscheiden. Sprachliche Kommunikation kompensiert nach Luhmann die Geschlossenheit des Bewusstseins dadurch, dass sie die Differenz (die auch hier eine Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation und somit Materie und Form ist) zwischen sich selbst und dem Bewusstsein beobachtet und wiederholt. Dabei erschließt sie nicht einen Inhalt oder das Funktionieren des Bewusstseins, sondern nur ihr Getrenntsein (mit Zalai könnte man sagen: ihre Weite oder ihren Abstand) vom Bewusstsein. Das Bewusstsein besteht nach Luhmann aus einer Menge von labilen und eigenwilligen, sich von Moment zu Moment verändernden Zuständen, die – wie die Einzelereignisse der Synthese – an sich noch nicht imstande sind, sich selbst zu organisieren: „Erst Sprache zwingt das Bewusstsein dazu, Bezeichnendes und Bezeichnetes und in diesem Sinne: Selbstreferenz und Fremdreferenz kontinuierlich auseinanderzuhalten und trotzdem gemeinsam zu prozessieren.“137 Aber wie das „rein Sprachliche“ bei Zalai noch kein organisierendes Prinzip besaß, so bildet 136 Vgl. dazu: Niklas Luhmann, Medium und Form, in: ders., Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 165–214. 137 Niklas Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation. Zur Reproduktion von Formen, in: ders., Die Kunst der Gesellschaft, S. 13–91, hier S. 19.
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die Sprache bei Luhmann an sich auch kein System. Aber eben deshalb, weil sie an der Selbstreproduktion der Systeme nicht teilnimmt, ist sie die Bedingung ihrer Autopoiesis. „Über Sprache wird Bewußtseinsbildung und Gesellschaftsbildung überhaupt erst möglich; oder wenn man nicht so weit gehen will: in einem uns normal erscheinenden Sinne möglich.“138 Die Sprache ist kein System, weil es keine sprachspezifischen Operationen (oder eben „Sinnzusammenhänge“) gibt, die Grenzen ziehen und diese aufrechterhalten könnten. Sie ist an sich kein autopoietisches System, sondern „ein Moment der Autopoiesis von Kommunikation und, mehr beiläufig, auch ein Moment der Autopoiesis von Bewußtsein.“139 Die Formen der Sprache entstehen auch nach Luhmann nicht durch ihre eigenen Operationen, sondern durch die Operationen der jeweiligen Kommunikationssysteme. Die Teilsysteme der Gesellschaft sind durch die Beobachtung ihrer systemeigenen Operationen, ihrer Codes oder Leitunterschiede zu beschreiben. Deshalb kann die Sprache, die weder eigene Grenzen noch einen eigenen Code besitzt, an sich nicht oder immer schon von einer Unterscheidung beobachtet werden, deren Differenz sie als strukturelle Kopplung vorausgeht und deren Möglichkeit sie permanent bewahrt und garantiert. Die „reine“ Sprache (wenn es ein Äquivalent bei Luhmann gäbe), ist an sich noch keine Form. Mehr noch: Man könnte nicht einmal behaupten, dass sie (als eine Differenz von Medium und Form) bloß ein Medium sei: Die Formen prägen sich zwar ins Medium ein, aber „das Medium [wird] von den Systemen, die es benutzen, erst erzeugt.“140 Dabei beschreibt Luhmann die Leistung der Kommunikation als einen eigenwilligen und gewaltigen Setzungsakt, der von den eigenen Gesetzen des Bewusstseins absieht sowie davon abstrahiert, „daß das Bewusstsein in jedem seiner Zustände und in jeder seiner Operationen durch die eigenen Strukturen determiniert ist.“141 Die strukturellen Differenzen der Sprache sind Prägungen, die die Strukturen des Bewusstseins in ähnlicher Weise ignorieren und eliminieren, wie – das Beispiel stammt von Heider – das Wahrnehmen beim Sehen und Hören Licht und Luft benutzt, gerade weil es sie als Medium nicht sieht und nicht hört [...]. Als Medium funktioniert das Bewußtsein, indem unterstellt wird, es könne alles aufnehmen, was gesagt wird; es sei eine lose gekoppelte Menge von Elementen fast ohne Eigendetermination, in die sich einprägen läßt, was jeweils gesagt oder gelesen wird.142 138 139 140 141
Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 47. Ebd., S. 52. Ebd., S. 54. Niklas Luhmann, Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders., Aufsätze und Reden, hg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart 2011, S. 111–136, hier S. 118. 142 Ebd., S. 119.
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Aber auch diese Prägungen oder strukturellen Kopplungen werden in der Kommunikation invisibilisiert oder überschrieben, in den organisierenden Unterscheidungen der jeweiligen Systeme übersetzt. Die „Materie“ der Wahrnehmung (die wie schon erwähnt, auch in diesem Konzept eine Differenz zwischen Materie und Form und somit je schon eine Form ist), erscheint in den einzelnen Teilsystemen bereits codiert, insofern sie in eine systemspezifische Unterscheidung, einen spezifischen Code übersetzt wird. So gibt es außerhalb des jeweiligen Systems keine Realität oder keinen Bezugspunkt, kraft derer man die Leistung der Operationen oder ihre Codes vergleichen könnte. Dies wird erst von der Beobachtung dritter Ordnung möglich. Dies ist eine Position, deren Prinzip – wenn auch auf latente Weise – auch schon bisher zur Geltung kam: Bei Luhmann ist es der Begriff des Symbols, der das Auseinanderhalten und die Repräsentation der beiden Seiten oder Momente der Grenze (eine unbestimmte und eine bestimmte Unterscheidung) durch eine Einheit – trotz ihrer Unüberschreitbarkeit – ermöglichen und somit die Methode der Analyse gewährleisten kann. Während der Begriff des Symbols bei Zalai die Nichtrepräsentierbarkeit und das Sich-Entziehen der Beziehung zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten, d. h. den nicht-zeichenhaften Charakter des synthetischen Geschehens signalisiert,143 versteht ihn Luhmann im Sinne einer Brücke zwischen der wiederholten und der wiederholenden Grenze einer Form, die ihre Paradoxie repräsentieren kann.144 Der jeweils erkennbare Code steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff des unsichtbaren Mediums, insofern das Medium als Symbol durch eine binäre Unterscheidung repräsentierbar wird, die in ihrem Vollzug als Operation diesen eigenen Sinnhorizont zur gleichen Zeit auch unsichtbar macht. Der Code, der das jeweilige System charakterisiert und von allen anderen Systemen unterscheidet, lässt sich auch als eine innere Grenze beschreiben, deren Einheit (das ist der Sinn als Medium) für den Beobachter, der im System operiert, jeweils latent und unsichtbar ist. Das Medium ist als paradoxe Einheit das aus der binären Logik ausgeschlossene und nur latent anwesende Dritte (eine „Gesetzmässigkeit“ vor dem Gesetz bei Zalai), das in keinen Gegensätzen zu lokalisieren ist, indem es den Operationen nicht nur folgt, sondern ihnen zugleich vorausgeht. Somit lässt es sich innerhalb und zugleich außerhalb des Systems verorten. Das Medium ist auch in diesem Sinne eine Spur, gleich einer Schrift,145 die latent je schon vorhanden, aber noch nicht da ist. Es bleibt als Sinn des Systems eine kommende Zukunft, die von den eigenen Operationen verschoben, aber auch gerufen, provoziert oder generiert wird. Nur die Differenz der strukturellen Kopplung (der Sprache) kann eine Posi143 Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 95. 144 Luhmann, Zeichen als Form, S. 67–68. 145 Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation, S. 33.
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tion bieten, die den Sinnhorizont des Beobachters an eine – in einem tieferen Sinne innere oder radikal äußere – Grenze platziert, von der aus die Prozesse der Systembildung und der Autopoiesis der Systeme beobachtbar werden können. Luhmann interessiert also zum Teil die gleiche Frage wie Zalai: Wie entstehen und organisieren sich neue Systeme? Bzw. wie lässt sich dieser Prozess nach dem allgemeinen Problem der Form erklären? Diese Mehrzahl des Systems – die Annahme, dass es jeweils mehrere Systeme gibt, deren Ordnungsprinzipien als Leitunterschiede zu identifizieren und somit miteinander zu vergleichen sind – weist jedoch auf einen prinzipiellen Unterschied zwischen den beiden Systemkonzepten hin. Grob gesagt könnte man feststellen: Während Luhmann Systeme in sozialer Hinsicht unterscheidet, ist die Mehrzahl der Systeme bei Zalai im geschichtlichen Sinne zu verstehen. Die Art und Weise der Differenzierung ist keine bloße methodische Frage, sie lässt sich nicht nach Unterschieden der Anwendungsbereiche oder des philosophischen und des soziologischen Interesses erklären. Dass die philosophische Betrachtung einer Wissenschaft nicht von ihrer Praxis zu unterscheiden ist, und dass jede „abstrakte“ Wissenschaft (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften) notwendig eine „immanente“ Theorie und somit ein immanentes System voraussetzt und in sich trägt (ob der Wissenschaftler davon weiß oder nicht), diese Ansicht hat Zalai schon in einem seiner früheren Beiträge, sogar gerade im Zusammenhang von methodologischen Fragen der Soziologie vertreten.146 Der Grund des Unterschiedes der Fragestellungen liegt vielmehr in der verschiedenen Geschichtsund Sprachauffassung der Autoren, die sich auch auf das Konzept der Differenz, das beiden Theorien zugrunde liegt, auswirkt. Zalai schließt zwar die Möglichkeit nicht aus, dass gleichzeitig mehrere Systeme existieren können. Man hat eben keinen Maßstab, diese Frage innerhalb des Systems zu entscheiden. Gelingt es doch, durch einen neuen Gesichtspunkt, aus dem Blickwinkel eines noch unfertigen Ganzen einen neuen Maßstab oder ein neues Prinzip zu schaffen, zieht es ein Ereignis im Sinne eines Systemwandels, d. h. eine radikale Veränderung, mit sich, durch die das bisherige Prinzip seinen medial-schaffenden Charakter oder universalen Sinn verliert. Und dieser Sinn, insofern er ein Schaffender ist, lässt sich aus keiner Perspektive repräsentieren. Wenn die Grenze des Systems als Sinnhorizont unüberschreitbar ist, ist diese Grenze aus der Perspektive des jeweiligen Beobachters nicht mehr oder noch nicht vorhanden. Ein System gibt es bei Zalai nicht, es gibt es nie, jedenfalls nicht im Sinne des Seins, denn „[a]lle Existenzsätze, die darüber gefällt werden können, sind sekundärer Art“.147
146 Béla Zalai, Metodológia a szociológiában [Methodologie in der Soziologie], in: ders., A rendszerek általános elmélete, S. 15–33, hier S. 27. 147 Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 152.
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Das Prinzip der Unüberschreitbarkeit der Grenze kommt bis zu einem gewissen Grad (im Modus des Seins) auch bei Luhmann, und zwar im Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation, zur Geltung. Er geht aber generell von der Möglichkeit der Unterscheidung aus, denn es ist sein Ziel, eine vergleichende Methode, eine Methode der Unterscheidung, auszuarbeiten, nach der die Systeme der Gesellschaft aus einer externen Position, der des Beobachters dritter Ordnung, zu beschreiben sind. Zalai nimmt hingegen das Prinzip der Inkommensurabilität der Systeme ernst und setzt es genauso konsequent um wie die Definition des Systems: „System ist eine absolut konsequente und kohärente Durchführung eines konstruktiven Prinzips über jedes Denkbare.“148 Denkt man dieses Prinzip konsequent durch, kommt man zu dem paradoxen Schluss, dass es für uns zwar kein System gibt, aber ein System geben soll, dessen Prinzip alles, was zu erkennen ist, bewirkt. „Das Prinzip eines Systems“ – schreibt Zalai – „muss absolut radikal, über ,jedes Denkbare‘ ausgebreitet werden.“149 Deshalb kann „[u]nser Prinzip keine Grenzen haben, prinzipiell keine Grenzen.“150 Daraus folgt auch, dass es keine Methode geben kann; sie ist nicht vom Prinzip und vom System, höchstens in einem sekundären Sinne, zu unterscheiden: Die Methode ist schon bestimmt, sie ist eben der Gesichtspunkt des Ganzen. Und dies ist eine ausführliche Methode; d. i. sie gibt Gepräge auch dem Detail, beschränkt sich gar nicht auf Allgemeinheiten, trotz der fast banalen Einfachheit und Allgemeinheit ihrer Bestimmung als Gesichtspunkt des Ganzen.151
Die Methode gestaltet eine konkret materielle Wirklichkeit, deren Grenzen und Erkennbarkeit sich gleicherweise entziehen wie die ganze Begrifflichkeit dieses philosophischen und in einem radikalen Sinne fiktiven Systems. Und es ist tatsächlich der Begriff der Fiktion, der die beiden Konzepte einander annähern könnte. Denn die Konsequenz, mit der Zalai die Paradoxie der Form entfaltet, führt zu einem fiktiven System genau in dem Sinne, wie Luhmann das System der Kunst charakterisiert. Die Art und Weise, wie Luhmann das Funktionieren des Kunstwerks beschreibt, entspricht genau dem sich in seinem eigenen Vollzug entfaltenden System der philosophischen Betrachtung bei Zalai und lässt dadurch auch das „mystische“152 Entstehen des Neuen besser verstehen. Diese auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Tatsache darf jedoch nicht überraschen, 148 149 150 151 152
Ebd., S. 30. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 22. Ebd., S. 144.
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wenn man in Betracht zieht, welche Rolle die – eigentlich nur in dieser Hinsicht verschiedenen – Systemkonzepte der Sprache zukommen lassen. Während Zalai sein Konzept des Systems zugleich als ein Konzept der Sprache entwickelt, wird eine sprachliche Seinsweise in Luhmanns Gesamtsystem allein der Kunst zugeschrieben. So ist es auch zu erklären, warum Materialität bei Luhmann erst im System der Kunst eine indirekt aktive Bedeutung für die Formgestaltung erhält. Die Kunst macht nämlich im Gegensatz zu den anderen Systemen die Wahrnehmung – genauer gesagt die Differenz der Kommunikation zur Wahrnehmung – zu ihrem eigenen Medium. Somit ist das Medium der Kunst nichts anderes als die Differenz zwischen Medium und Form. Der Unterschied zwischen dem Kunstsystem und den anderen Teilsystemen der Gesellschaft ist, dass die Kunst, während andere die Differenz von Form und Medium zu weiteren Formbildungen nutzen, den ganzen Prozess umkehrt: Für sie ist dieselbe Unterscheidung ein Medium und nicht bereits eine Form.153 Die Unterscheidung zwischen Medium und Form lässt sich zur Unterscheidung von System und Umwelt als analog sehen; beide sind asymmetrisch und enthalten sich selbst. Doch sie unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Die System/Umwelt-Differenz ist weder unmotiviert noch beliebig, indem das Identifizieren eines Systems nach konventionellen Codes erfolgt: „[d]as Belieben des Beobachters liegt in der Wahl des Systems, von dem er ausgeht, nicht aber in der Frage, was er als System behandeln kann.“154 Die Differenz von Medium und Form ist hingegen nicht konventionell, sondern unmotiviert, denn von einer gelungenen Formenkombination ausgehend lässt sich im Prinzip alles (auch die System/Umwelt-Differenz) zum Medium machen. Und genau diese Beliebigkeit der strukturellen Kopplung nutzt die Kunst aus: Sie sucht nach neuen Möglichkeiten der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation, um eine – in dieser Form – noch unlesbare Differenz in einem Medium einzuschreiben, das vor dieser Schrift so eben nicht existiert. Dies erklärt auch, warum für Zalai beim Prozess der Symbolisation „eine neue Form immer eine neue Materie [bedeutet]“, bzw. warum „die Entwicklung der Wirklichkeit […] mit sich immer wiederholenden Eingriffen der Form in eine immer neue Materie [geschieht]“.155 Kunst kommuniziert nach Luhmann zwar nicht durch Sprache, d. h. nicht in wiedererkennbaren Unterscheidungen eines Sinnkontextes oder eines Codes, jedoch ist sie „ein funktionales Äquivalent zur Sprache“156 und insofern sprachlicher Natur, als sie auch die Rolle der strukturellen Kopplung zwischen Wahrnehmung und Kommunikation spielt, wie dies (auf ihre eigene Art) auch die Sprache tut. Kunst ist daher 153 154 155 156
Vgl.: Luhmann, Medium und Form, S. 173–179. Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, S. 65. Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 108. Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation, S. 36.
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auch Kommunikation, die der Sprache vorangeht und „wie eine Art von ,Schrift‘ die Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation überbrückt.“157 Sie ist eine Art von Schrift, die die Möglichkeit der System/Umwelt-Unterscheidung auf ihre Arbitrarität zurückführt. Die Kunst hebt die Unterscheidungen der in der Kommunikation etablierten Formen nicht auf, sondern macht sie unsicher und ununterscheidbar, um dadurch eine andersartige Kommunikation in Gang zu setzen. Diese Differenz ist von keinem Code her zu lesen, weist jede codierte Unterscheidung zurück und zeigt sie als ebenso beliebig auf. Der Prozess der Sinnentfaltung geschieht aber auch bei Luhmann nicht ohne Orientierung. Der Gesichtspunkt des Ganzen, die Forderung eines allgemeinen Geltens oder ein Befehl, eine Unterscheidung zu machen: Wie auch immer man es nennt, geht es auch bei Luhmann um einen performativen Modus, in dem das Kunstwerk seinen Betrachter unmittelbar anspricht. Das Werk, genau wie das System, ist an diesem Punkt noch nicht fertig und wird auch später nicht anwesend sein: Es existiert nicht, sondern ereignet sich, und zwar erst durch die Ausführung seiner performativen Anweisungen. Das Werk hat in diesem Sinne weder äußere und von vornherein gegebene Grenzen, noch ist es eine geschlossene Einheit, in der seine Identität verborgen liegt. Diese werden erst durch die beobachtende Entfaltung und permanente Verschiebung der Paradoxie des Kunstwerks erzeugt. Die Interpretation endet und beginnt mit dem blinden Fleck des Werkes: Durch die performative Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation wird eine Kommunikation in Gang gesetzt, wobei der Beobachter nach Unterscheidungen sucht, die dieser Differenz entsprechen und sie dadurch verschieben und entfalten; und wodurch der Beobachter der Forderung des Werkes gerecht wird bzw. seine Forderung ausführt. Der Weg der Beobachtung führt im Medium des Werkes durch die permanente Aktualisierung der Formen zur jeweilig anderen Seite der Unterscheidung und der Entdeckung desselben Mediums und stellt somit einen komplexen Verweisungszusammenhang her, der durch die Unterscheidung von Medium und Form wiederum sich selbst erschließt. Eine aktualisierte Form kehrt in einem anderen Zusammenhang als Medium zurück, die Formen werden wechselseitig voneinander getragen und erschlossen, bis schließlich die eine Seite der Unterscheidung als Kehrseite einer anderen erscheint – zwei Unterscheidungen als die beiden Seiten derselben Differenz. Dabei bleiben die Einheit sowie der Sinn des Kunstwerks unerreichbar.158 Dem System der Kunst kommt zwar bei Luhmann eine paradigmatische Rolle zu, indem hier die Symbolisierung, die in den anderen Systemen nur latent geschieht, nicht nur vollzogen und im Vollzug verdeckt, sondern auch beobachtet 157 Ebd., S. 33. 158 Luhmann, Wahrnehmung und Kommunikation, S. 71–74.
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wird. Die Erfahrung der Kunst ist nichts anderes als die Erfahrung des Ereignisses der Form, der gleichzeitigen Korrelation von unzertrennlichen Momenten, insofern das Kunstwerk den Beobachter dorthin zurückführt, wo die Beobachtung erst möglich wird, wo die Beobachtung als Form entsteht. Jedoch bleibt diese Exemplarität auf die Beobachtung der Beobachtung und damit auf einen kognitiven Modus beschränkt. Dass für Zalai die philosophische Betrachtung als eine systematisierende Beschreibung der „Wirklichkeit“ sich nicht von deren Gestaltung als einer künstlerischen Tätigkeit trennen lässt, davon kann auch seine frühere Abhandlung, A filozófiai rendszerezés problémája [Das Problem der philosophischen Systematisation], zeugen, die viele Gedanken seines späteren Hauptwerks vorwegnimmt. Das letzte und vielleicht interessanteste Kapitel zeigt die Lösung des Problems der Systematisierung im Symbol auf. Demnach besteht die Aufgabe der Philosophie darin, die Absolutheit, d. h. das Ganze des Systems oder die Wirklichkeit zu erreichen, oder genauer: sich ihrer Unerreichbarkeit anzunähern. Dessen Erfahrung wird hier ein Weg genannt, der gleich einer Tat, der Tat der Symbolisierung ist: „Symbol ist kein Hinweisen, kein Zeichen, kein Sinnbild; es ist eine Tat.“159 Die Tat als der Weg der Philosophie zur Wirklichkeit ist nach Zalai mit der künstlerischen Tat verwandt, deren Ziel es ist, die Gestalt oder die Ideen zu erreichen. Nicht das Symbol an sich (nicht das, was es darstellt oder dass es etwas darstellt, etwas zeigt), sondern seine Leistung, seine Funktion ist wichtig – ein umgekehrter Weg oder eine Umkehrung des Weges zu sein. Auch das künstlerische Symbol nähert sich seiner Gestalt an, indem es sie „mimt“; es gestaltet eine Gestalt, die es aber nicht erreichen kann. Von nun an wird dieses ursprüngliche Schaffen zum Anfang; das Ziel wird zum Ausgangspunkt, das Ende wird zum Ursprung: [D]er Weg, der zum Ziel führt, hat ein Moment, das das Ende, das Unerreichbare zum Anfang macht; es macht das Unerreichbare zum Erreichten. Es kann das Unmögliche nicht ermöglichen, deshalb macht es zu etwas, was war, was geschah; so geht es über seine eigenen Möglichkeiten hinaus. […] Es ist die Umkehrung der Richtung, was hier wichtig ist: Können wir uns nicht der Absolutheit nähern, kommen wir daher. Wir werden sie nicht haben; aber wir hatten sie.160
Somit erscheint das Medium des Systems als eine unwiederholbare Vergangenheit und im Kommen bleibende Zukunft – die Paradoxie des Anfangs oder eine paradoxe Erfahrung, die die beiden konstitutiven Momente des Systems nicht unterscheiden oder im Symbol auseinanderhalten (und dadurch repräsentieren), 159 Béla Zalai, A filozófiai rendszerezés problémája, in: ders., A rendszerek általános elmélete, S. 183–223, hier S. 221. 160 Ebd.
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sondern „nur“ umkehren kann. Denn es gibt kein Gesetz jenseits der Gesetzmäßigkeit, nach der Materie- und Formmomente, Medium und Form oder „Denken und Objekt sich vereinigen“.161 Deshalb insistiert Zalai bei der Wahl und der Bestimmung der Methode immer darauf, jeweils vom konkret-unwiederholbaren und singulären Fall auszugehen. Dieses Prinzip der Singularität, ihre „konkrete Allgemeinheit“162 (allgemein, weil sie sich in keine Ordnung der Repräsentation fügt; sie befindet sich noch diesseits und schon jenseits des phänomenalen Bereiches), schreibt auch die jeweilige Methode vor. Es ist unmöglich, diese absolut singuläre Methode anzuwenden, denn „sie selbst ist nichts anderes als Angewendet-sein“.163
161 Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 15. 162 Zalai, A filozófiai rendszerezés problémája, S. 217. 163 Zalai, Allgemeine Theorie der Systeme, S. 159.
Literaturgeschichtsschreibung: Temporalität, Sprache und Medialität
István M. Fehér
Literaturgeschichte ohne Ästhetik? Zur Literaturtheorie-Auffassung des jungen Lukács* Auf der wissenschaftlichen Arbeitstagung Rolle und Medium. Medialität und Kulturalität in der ungarischen Literaturwissenschaft in Debrecen sprach Ernő Kulcsár Szabó in der Einleitung seines Vortrags Die Konflikte zwischen Literaturgeschichte und Ästhetik darüber, dass diese Konflikte „zu zahlreich“ seien, „als dass sich eine der beiden Seiten von den Versuchen zu ihrer Beilegung eine Lösung der tiefen Spannungen erhoffen dürfte“.1 Einen der wichtigsten Gründe für diese Konflikte macht er darin aus, dass – so seine zusammenfassende Formulierung – „die Literaturwissenschaft, entstanden als eine nationale und historische Disziplin, sich sozusagen bereits im Augenblick ihrer Entstehung von den ästhetischen Fragerichtungen distanziert hat“.2 Diese Distanzierung belegt er mit einem charakteristischen Zitat aus der Einleitung zu Gervinus’ Werk, das zugleich dazu dient, die Selbstinterpretation des Werkes im Vorhinein festzulegen. Dem Zitat zufolge ist dieses Werk nichts anderes als „Geschichte“, seine Aufgabe besteht nicht in der „ästhetischen Beurteilung der Sachen“. Die Entscheidung, „was einen gewissen eminenten Anteil der unendlich vielen Texte in einen literaturgeschichtlichen Rang erhebt“, gerät auf diese Weise sinngemäß aus dem Kompetenzbereich der Ästhetik, der „historischen und der ästhetischen Beurteilung“ werden damit unterschiedliche Wege gewiesen.3 Zu Gervinus’ interpretativer Position passen, allein schon deshalb – wenn auch nicht allein deshalb –, weil er einen von der Theorie bereinigten historischen Aspekt in den Vordergrund stellt, sehr genau Gadamers kritische Bemerkungen zum historischen Bewusstsein. Hier hat sich der Verstehende gleichsam aus der Situation der Verständigung zurückgezogen. Er selber ist nicht antreffbar. Indem man den Standpunkt des anderen von vornherein in Vorliegende Arbeit stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortragstextes dar und basiert auf Forschungen, die im Rahmen der Förderung des OTKA durchgeführt wurden (Projektnummer: OTKA K-75840). 1 Ernő Kulcsár Szabó, Wahrheit und medialer Sinn. Die literaturhistorische Grundlegung der Konstruktionen der ästhetischen Erfahrung in der ungarischen Moderne, in: ders./Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion, Wien 2008, S. 27–46, hier S. 27. 2 Ebd. 3 Ebd. *
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das miteinrechnet, was er einem zu sagen beansprucht, setzt man seinen eigenen Standpunkt in eine sichere Unerreichbarkeit.4
An dieser Stelle können wir auch sagen, dass die Literaturgeschichtsschreibung – genauer gesagt die an dem sich selbst erfüllenden Nationalgeist orientierte Literaturgeschichtsschreibung – sich dem vorgestellten Beispiel zufolge darum bemüht, sich vom Ballast der Ästhetik zu befreien oder zu lösen; weil aber eine solche Loslösung letztendlich ihre eigenen Grundlagen vollkommen untergraben und die von ihr erzählte Geschichte gänzlich der Willkür in die Arme stoßen würde, ist sie zu ihrer eigenen Legitimation gezwungen, die Ästhetik auf einer niedrigeren Ebene, in einem reduzierten Sinn dennoch in Anspruch zu nehmen. Sie tut das, indem sie die ästhetische Unterscheidung – „dieses Bewusstsein, das im Zuge der Bildung seine eigene Zugehörigkeit ‚vergisst‘“5 – stillschweigend geltend macht, wenn sie den „gewissen eminenten Anteil der unendlich vielen Texte“ bezeichnet umgrenzt, der in die Literaturgeschichtsschreibung zu erheben sei. Eine wichtige Folge dessen ist das Erscheinen und die dauerhafte, nicht beendbare Präsenz der Dichotomie von „künstlerisch“ und „inhaltlich“, die Trennung des „Wahrheitsgehaltes“ des Kunstwerks von der ästhetischen Bedeutung. Die genuin ästhetische Komponente wird degradiert oder sogar instrumentalisiert, sofern ihr die Rolle jenseits der Ästhetik zugewiesen wird, die Rolle, das Inhaltliche mit einer angemessenen Form auszustatten – und gerade diese letztere sollte danach für lange Zeit auf maßgebliche Weise als Ästhetik gelten und so den Zuständigkeitsbereich der Ästhetik ausfüllen. Dem lässt sich Folgendes hinzufügen: Gerade wegen dieser überaus zweifelhaften disziplinären Verselbstständigung einer solchen Ästhetik verwendet Gadamer den Ausdruck danach äußerst zurückhaltend und erklärt: „Die Ästhetik muß in der Hermeneutik aufgehen“ – und dies einzig deshalb, weil letztere viel eher als die Ästhetik in der Lage ist, „der Erfahrung der Kunst gerecht“ zu werden.6 Und Heidegger betrachtet seinerseits die als Ästhetik bezeichnete philosophische Disziplin mit eindeutigem Argwohn und lässt ihr eine Kritik zuteilwerden, die sie in den Grundfesten erschüttert.7 4 Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke, Tübingen 1985–1995, Bd. 1, S. 308 (im Folgenden GW, Hervorhebung I. M. F.). 5 Kulcsár Szabó, Wahrheit und medialer Sinn, S. 29. 6 Hans-Georg Gadamer, GW, Bd. 1, S. 170. 7 Heidegger habe „Einsicht in die Vorurteile“ geboten, schreibt Gadamer, „die im Begriff einer philosophischen Ästhetik liegen. Es bedarf einer Überwindung des Begriffs der Ästhetik selbst“ (Hans-Georg Gadamer, Die Wahrheit des Kunstwerkes, in: GW, Bd. 3, S. 249–261, hier: 252–253) – Bei Heidegger selbst siehe z. B. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege = ders., Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975–1977 (im Weiteren GA), Bd. 5 (Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1977, S. 36–
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Literaturgeschichte ohne Ästhetik? – können wir an dieser Stelle zu Recht fragen, denn aus unserer Perspektive laufen die Ausgrenzung der Ästhetik und ihre Reduzierung auf die Rolle einer Magd letztlich auf ein und dasselbe hinaus: Wird ein literarisches Werk als Kunstwerk, als ästhetische Erfahrung bestimmt, wird die Literaturgeschichte konstitutiv artikuliert, so vermag die Ästhetik nicht mehr auf maßgebliche Weise mitzureden; nur noch an der Leine des Nationalgeistes oder einer anderen inhaltlichen Instanz findet sie eine Funktion und Rolle für sich. Die Literaturgeschichte kann von der Ästhetik (letzten Endes: Philosophie) freilich kaum vollkommen unabhängig werden, aber diese Unabhängigkeit kann der streng auf die mögliche Fakten beschränkten Literaturgeschichtsschreibung immer wieder als eine Art regulative Idee zum Ziel gesetzt werden. Auf die Antinomie, die sich tief durch das Bestreben nach einer „Literaturgeschichte ohne Ästhetik“ zieht, gibt der junge Lukács in seiner Schrift Megjegyzések az irodalomtörténet elméletéhez [Zur Theorie der Literaturgeschichte] folgende radikale Antwort: „Ich behaupte nur, daß es eine Ästhetik, eine Poetik geben muß, damit man eine Literaturgeschichte machen kann“.8 Sie sind nötig, wie er wenig später bemerkt: „Reine Literaturgeschichte, das ist eine nicht ausführbare, nicht in Praxis umzusetzende Abstraktion“.9 Lukács bemerkt mit scharfem Blick den Wider38, 49–51, 59, 67. Siehe außerdem den aus dem Nachlass herausgegebenen Teil zu Vorarbeiten und Aufzeichnungen zum Kunstwerk-Aufsatz in Martin Heidegger, Zur Überwindung der Aesthetik. Zu „Ursprung des Kunstwerks“, in: Heidegger Studies, Bd. 6, 1990, S. 57. In seinen Universitätsvorlesungen fragte Heidegger – vor allem im Rahmen seiner Hölderlin- und Nietzsche-Interpretationen – immer und immer wieder nach den Grundlagen der Ästhetik. Siehe z. B. Martin Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“ = GA, Bd. 53 (Hg. Walter Biemel), Frankfurt a. M. 1984, S. 109: „Die Ästhetik ist die Art der metaphysischen, und zwar der neuzeitlich metaphysischen Wesensumgrenzung des Schönen und der Kunst.“ Siehe auch: Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 5: „Die Ästhetik beginnt bei den Griechen erst in dem Augenblick, da die große Kunst, aber auch die gleichlaufende große Philosophie zu ihrem Ende gehen.“ Im Zusammenhang mit der „Aufgabe der Überwindung der Ästhetik“ siehe außerdem Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), = GA, Bd. 65 (Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1989, S. 503–505. 8 György Lukács, Megjegyzések az irodalomtörténet elméletéhez, in: ders.: Művészet és társadalom. Válogatott esztétikai tanulmányok, Bd. 2, erweiterte Ausgabe, Budapest 1969, 34–65, hier S. 38. Der Aufsatz wurde ursprünglich für die Festschrift für Alexander Bernát geschrieben (Lajos Dénes [Hg.], Dolgozatok a modern filozófia köréből. Emlékkönyv Alexander Bernát hatvanadik születése napjára [Arbeiten zur modernen Philosophie. Gedenkschrift anlässlich des sechzigsten Geburtstages von Alexander Bernát], Budapest 1910, S. 388–421), in neuerer Ausgabe auch zu finden in György Lukács, Ifjúkori művek (1902–1918) [Werke der Jugendzeit] (Hg. Árpád Tímár), Budapest 1977, S. 385–421. Auf Deutsch: Georg Lukács, Zur Theorie der Literaturgeschichte [1910], in: Georg Lukács = Text und Kritik 39/40 (1973), S. 24–51, hier S. 27. 9 Ebd.
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spruch, der sich in der Tiefe des Bemühens um eine sogenannte reine Literaturgeschichte bzw. – um einen von ihm später verwendeten Ausdruck nicht ganz ohne Ironie zu paraphrasieren – im „Freiheitskampf“10 der Literaturgeschichte gegen die Ästhetik hinzieht, doch die Art und Weise, wie er in diesem Aufsatz – und allgemein in den Heidelberger Entwürfen seiner Jugendzeit – die Angewiesenheit der Literaturgeschichte auf die Ästhetik artikuliert, zeugt davon, dass die Ästhetik ihrerseits ihre Verankerung, ihre Selbstbesinnung im Horizont philosophischer Vorannahmen sucht, die die Entfaltung der stellenweise produktiven Ausgangspunkte eher behindert als befördert. Die im Weiteren hermeneutisch zur Geltung kommenden historischen, rezeptionsästhetischen Überlegungen tauchen nämlich ab und an in der Wegsuche des jungen Lukács auf, aber der gedankliche Horizont, in dem er ihnen in Formulierungen Ausdruck gibt, bleibt unentwegt in der unmittelbaren Dualität von Normativ-Formalem versus Historischem. Von den heutigen kulturwissenschaftlichen Bestrebungen her betrachtet fällt beispielsweise sogleich auf, dass Lukács sofort zu Beginn seiner Ausführungen signalisiert: Für ihn wäre es durchaus vorstellbar, „die Gesamtheit der Literatur in eine Vielheit der kulturpsychologischen Erscheinungen einzelner Epochen aufzulösen“, die Literatur als „Kultursymptom“11 in die Verhandlung einzubeziehen (wobei freilich sowohl Psychologie als auch Symptom einen gewissen abwertenden Klang in sich tragen und sich deshalb kaum ohne Weiteres in die Sichtweise der heutigen kulturwissenschaftlichen Bestrebungen eingliedern ließen), dies verwirft er jedoch sofort wieder, weil er von der Wertung absieht, das heißt, von der „Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit des Wertens“12: Eine derartige Annäherung – der „Aspekt einer vorstellbaren reinen Literatursoziologie“13 – kann auf eine gewisse theoretische Rolle höchstens – wie er schreibt – als eine Art Hilfswissenschaft Anspruch erheben. Und obwohl sie als solche natürlich nützlich sein kann, ändert das alles nichts, in der sogenannten „rein soziologischen Literaturabhandlung […] verschwindet die Literatur“, „wird von anderen Kulturerscheinungen ununterscheidbar“ und „[d]amit hört Literatur auf, Literatur zu sein“.14 Ein normativer Literaturbegriff dient dergestalt dazu, den Kreis der empirischen Erscheinungen zu umschreiben, den man als zur Literatur oder zu deren Geschichte gehörig zusammenfassen und zum Gegenstand wissenschaftlicher Darstellung machen kann. Das Ausbleiben oder Fehlen der Bezeichnung des normativen Aspekts – dies spürt Lukács und äußert seine diesbezüglichen Befürch10 Siehe György Lukács, Der Freiheitskampf der Kunst, in: ders., Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 2, Berlin/Weimar 1987, S. 687–689. 11 Lukács, Zur Theorie der Literaturgeschichte, S. 35. 12 Ebd., S. 25. 13 Ebd. Das Folgende ebd. 14 Ebd.
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tungen auch – treibt die Literaturgeschichte einer „reinen Literatursoziologie“ in die Arme, sodass von hier betrachtet die Schlussfolgerung kaum zu vermeiden ist: „Gewiß ist eine solche Wissenschaft vorstellbar: doch wäre sie keine Literaturgeschichte“.15 Der wertend-normative Aspekt zentriert sich um den Begriff der Form: „Ohne Form gibt es keine literarische Erscheinung“,16 lautet die These, und daran schließt sich die bereits zitierte Feststellung an: „Ich behaupte nur, daß es eine Ästhetik, eine Poetik geben muß, damit man eine Literaturgeschichte machen kann“. Die Ästhetik konzentriert sich um den Begriff der Form, aber auch umgekehrt: „Der hier aufgestellte ›Form‹-Begriff kann nur ein Begriff der Ästhetik sein, der den einzelnen Menschen und jedes Werk, das auf ihn eine Wirkung ausübt, untersuchen will. Er nimmt ihn aus dem Gewebe des historischen und gesellschaftlichen Lebens heraus“.17 Die Loslösung aus der historischen, gesellschaftlichen Einbettung taucht also auch bei Lukács in maßgeblicher Weise auf, wenn auch sogleich gegenläufige Tendenzen in Erscheinung treten: Die Literatur nämlich, so heißt es, ist eine „soziale Erscheinung“, ihr Wesen ist die „Mitteilung“: Diese Mitteilung geht von einem Menschen aus, der in der Gesellschaft lebt, ihren Wirkungen unterworfen ist; und sie ist für deren Wirkungen ebenfalls ausgesetzte Menschen bestimmt.18
So ist auch von den „sozial bestimmten Bedingungen“ der Mitteilung, sozusagen von ihren medialen Vermittlungen die Rede: „die Theater, der Buchdruck, die Möglichkeit, Schriften mündlich mitzuteilen usw.“ 19 Wie eine Formulierung wirkungsgeschichtlicher, ja beinahe rezeptionsästhetischer Einsichten klingt es außerdem, dass – so schreibt er – „ein Dichter bei seinem ersten Auftreten oder irgendwann in seiner Laufbahn mit der herrschenden heutigen oder der lebendig gebliebenen alten Literatur konfrontiert wird“20 – all das wird jedoch zweideutig als soziologische Frage gekennzeichnet und damit in den Hintergrund gedrängt. Nun verhält es sich beileibe nicht so, dass Lukács nicht wiederholt Versuche unternähme, die historische (mit seiner eigenen Terminologie: soziologische) Determiniertheit in die Ästhetik zu erheben, ästhetisch zu legitimieren. Dieses Be15 16 17 18 19 20
Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. (Hervorhebung I. M. F.) Ebd., S. 28. Ebd., S. 28; das Folgende ebd.
Ebd., S. 29.
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streben wird vor allem daran deutlich, dass er den Begriff der Form als soziale und ästhetische Kategorie zugleich versteht und ihn in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt.21 So führt er die Gegensätze, die sich ausschließen oder zumindest auszuschließen scheinen, auf umfassende Weise in einem einzigen Begriff zusammen. Dieser Begriff wird von innen von unglaublichen Gegensätzen unter Spannung gehalten, und es ist fraglich, ob diese sich nicht gegenseitig auslöschen bzw. ob der Begriff selbst konsistent bestehen bleiben kann und nicht in seine Bestandteile zerfällt. „Die Form ist das wahre Soziale in der Literatur“, „die Verbindung, die einzig wahre Beziehung zwischen dem Produzierenden und dem Publikum“22, schreibt Lukács nämlich einerseits, betont jedoch wenige Seiten später bereits: „Die Form ist aber eine ästhetische Kategorie, ist also zeitlos gegenüber einer konkreten Zeit – nicht historisch, nicht soziologisch“23; „[d]ie reine, große Form scheidet aus allen Gemeinschaften aus, sie wird raum- und zeitlos, a-historisch und a-sozial“.24 Der Begriff der Form zeigt ebenso wie die wiederholte Geltendmachung der soziologischen Perspektive den Einfluss Simmels; auch der Versuch, den soziologischen und den platonischen Aspekt – so schwer das auch denkbar ist – zu vereinbaren, stammt ebenfalls von diesem. Der Formbegriff „der Seele und der Formen“25 und seine so produktiv widersprüchliche Auffassung, die man als platonistischen Nominalismus bezeichnen könnte, – „auf die heikelste Frage des Platonismus […], ob auch einzelne Sachen eine Idee haben können“, lautet die Antwort der Tragödie: „Nur das Einzelne, das bis an die letzte Grenze getriebene Einzelne kann seiner eigenen Idee entsprechen und wirklich existieren“26 – soll gerade die Tendenz ausdrücken, die in den übrigens zur gleichen Zeit geschriebenen Bemerkungen in begrifflich etwas bereinigter Form folgendermaßen zusammengefasst wird: Alle vollkommenen Arbeiten ragen gerade wegen ihrer Vollkommenheit aus allen Gemeinschaften heraus und sie vertragen es nicht, daß man sie in irgendeine, von Außen ihnen angenäherte Ursachenreihe hineinstellt. Im Wesen des künstlerischen Werkes, im Wesen der Formung gibt es ein solches isolierendes Prinzip: es schneidet alle Fäden, die
21 22 23 24 25 26
Ebd., S. 29, 32. Ebd., S. 29. Vgl. noch ebd., S. 45. Ebd., S. 31. Ebd., S. 45. Vgl. Lukács, Ifjúkori művek, S. 312–313. Ebd., S. 503. Vgl. ebd., S. 433: „Was wirklich tief, bis in den tiefsten Grund der Seele individuell ist, geht über die reine Individualität weit hinaus: vielleicht habe ich mit diesem Satz auch schon alles gesagt.“
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es ans lebendige, konkrete, sich bewegende Leben binden, durch und gibt ihr ein neues, in sich geschlossenes sich mit nichts berührendes und mit nichts vergleichbares Leben.27
Dann folgt ein ausdrücklicher Verweis auf Simmel. „In allen Kunstwerken gibt es irgendeine ,Inselhaftigkeit‘ wie Simmel sagt.“28 *** „Es definiert geradezu das ästhetische Bewußtsein, daß es eben diese Unterscheidung des ästhetisch Gemeinten von allem Außer-Ästhetischen vollzieht“, schreibt Gadamer,29 und dieses Bemühen gilt, wie wir gesehen haben, auch für Lukács’ ästhetische Arbeiten. Die Aussage, „dass es eine Ästhetik, eine Poetik geben muss, damit man eine Literaturgeschichte machen kann“, ist näher betrachtet antipositivistisch gerichtet, trägt eine antipositivistische Tendenz. Im neokantianischen, wertphilosophischen Klima der Zeit und mit dessen Instrumentarium beleuchtet sie die Widersprüchlichkeit der Idee einer als Tatsachenwissenschaft aufgefassten, als reine Geschichte erzählten Literaturgeschichte. Der Selektionsaspekt zur Auswahl der literarischen Erscheinungen tendiert, wie wir sehen, trotz allen zweifellos vorhandenen Bemühungen zur soziologischen Verankerung, die auch ehrlich zur Geltung gebracht werden sollen, zu einer zeitlosen, übergeschichtlichen Dimension, findet sich in ihr selbst; „[d]ie reine, große Form“, so haben wir gehört, „scheidet aus allen Gemeinschaften aus, sie wird raum- und zeitlos, a-historisch und a-sozial“. Die Berücksichtigung der historisch-soziologischen Einbettung dient nur als Ausgangspunkt, als Sprungbrett. Die Form ist letzten Endes „außerzeitlich, nicht historisch, nicht soziologisch“. Die paradoxe Tatsache, dass die Formen eine ,Geschichte‘ haben,30 scheint auf die Hegelsche Lösung zu verweisen; die empirische Geschichte löst sich in einer Metageschichte auf, die sich aus der temporalen Geschichte abhebenden, herauslösenden Kunstwerke treten in die zeitlose Geschichte der Formen hinüber.31 Die Hauptsorge des jungen Lukács besteht darin, die Autonomie der Kunst sicherzustellen, dessen Vehikel die Forderung nach dem „endgültigen Sieg der Form“ und der „Autonomie der Ästhetik“, genauer gesagt einer zur Kunstphiloso27 Lukács, Zur Theorie der Literaturgeschichte, S. 46. 28 Ebd., S. 46. Zu Simmels Formbegriff siehe beispielsweise Georg Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München/Leipzig 1922, S. 16: „Die Form ihrerseits kann sich nicht ändern, sie ist das zeitlos Invariable […] Form aber ist Individualität“. 29 GW, Bd. 1, S. 91. 30 Lukács, Zur Theorie der Literaturgeschichte, S. 35. 31 Siehe dazu Emil Lask, Hegel in seinem Verhältnis zur Weltanschauung der Aufklärung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Tübingen 1923, S. 335–345, insbesondere 344–345.
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phie verengten Ästhetik ist.32 „Wenn die Ästhetik eine Wissenschaft für sich sein soll, […] so muss sie […] Voraussetzungen suchen, die für ihren letzten Wert, das Kunstwerk, eine eigene, in sich abgeschlossene Bedeutung möglich machen.“ Die „in sich abgeschlossene Bedeutung“ ist offenbar so, dass die historischen Zugriffe nichts mehr an ihr ändern, – sie hat sich zur zeitlosen Geschichte erhoben. Lukács’ Anschlusspunkt ist grundlegend und eingestandenermaßen kantisch-neokantianisch. Wie er in seiner Heidelberger Ästhetik darlegt, gibt es „zwei große Typen der Setzung, der Formung der ‚Welt‘“.33 Der eine, der im Hinblick auf Kant und den Neokantianismus charakterisiert wird, bringt die völlige Autonomie der unterschiedlichen Sphären der Setzung, d. h. die Unabhängigkeit der Gebiete der Theorie, der Ethik, der Metaphysik und der Ästhetik voneinander mit sich; der andere – der terminologisch nicht scharf abgegrenzt wird und teils auf Dilthey, teils geradewegs auf Hegel zurückführt – wird von der theoretischen Ableitbarkeit der unterschiedlichen Sphären auseinander charakterisiert. Lukács signalisiert, dass er auf dem Boden des ersteren steht, und dies versteht er in den meisten entscheidenden Punkten dem Kantischen sehr verwandt. Seine Grundthese ist, die freilich bei Kant selbst nicht immer in voller Klarheit zum Ausdruck kommt, die völlige Unabhängigkeit voneinander und die völlige Unableitbarkeit auseinander sämtlicher autonomen Setzungen.34
Der Anspruch auf Endgültigkeit bedeutet die Sehnsucht nach Transzendentierung der Geschichtlichkeit, er bringt den Anspruch auf einen absoluten, d. h. geradezu metaphysischen, außerhistorischen Zugang zum Kunstwerk zum Ausdruck. Der kantische Ausgangspunkt bringt die Perspektive der Außergeschichtlichkeit des – wie man es auch betrachtet, letztlich doch historisch entstandenen – ästhetischen Bewusstseins zurück. Gadamers kritische Anmerkungen betreffen die Ästhetik als Kunstphilosophie, insbesondere, um welchen Preis die Ästhetik als Kunstphilosophie sich in der Neuzeit ihre Autonomie erkämpft hat – diese Autonomie jedoch bejaht Lukács zutiefst. Auch die kulturphilosophischen Anlagen bleiben deshalb isolierte Mo32 György Lukács, Werke, Bd. 16: Frühe Schriften zur Ästhetik I. Heidelberger Philosophie der Kunst: 1912–1914 (Hg. György Márkus/Frank Benseler), Darmstadt/Neuwied 1974, S. 36. Zum Folgenden ebenda. 33 György Lukács Werke, Bd. 17: Frühe Schriften zur Ästhetik II. Heidelberger Ästhetik 1916– 1918 (Hg. György Márkus/Frank Benseler), Darmstadt/Neuwied 1974, S. 14. 34 Ebd., S. 71. (Hervorhebung I. M. F.) Verfahren wir nicht so (d. h., gehen wir nicht „von der völligen Unabhängigkeit und Unableitbarkeit sämtlicher autonomen Setzungen voneinander“ aus), dann kann „weder die Ethik noch die Ästhetik ihre wahre Autonomie retten“ (ebd., S. 72).
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mente. Jeder antipositivistischen Einstellung zum Trotz scheint im Hintergrund unablässig der Blick hin zu den Naturwissenschaften und ihrem Objektivitätsanspruch auf, wird der Maßstab der Naturwissenschaften im Voraus als Maßstab der Wissenschaftlichkeit an sich identifiziert. Werden zahlreiche Bemerkungen zum Erlebnis, zum Erleben und seelischen Leben, die an Dilthey anschließen, mit einer Art Entschuldigung verbunden, so verbirgt sich dahinter – ebenso wie bei Dilthey selbst – die stillschweigende Anerkennung der Objektivität und Eindeutigkeit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung als eines unstrittigen Maßes und Vorbilds. Die Literaturgeschichte ist also das Referat der Erlebnisse oder richtiger: sie ist ein Versuch, gewisse Erlebnisse so zu ordnen, so vorzutragen, daß sie zusammen mit ihren Ursachen verständlich werden; sie ist ein Versuch, Beziehungen und Synthesen zwischen der Erlebnissen und ihren Ursachen zu schaffen usw. Die gemeinsame Grundlage ist aber immer das Erlebnis; für einen Menschen, der völlig überflüssig: über diesen Subjektivismus wird sich eine Wissenschaft, die sich mit Literatur beschäftigt, nie erheben.35
„Die Grundbegriffe der Literaturgeschichte sind von erlebnishafter, subjektiv erlebnishafter Natur, und diese ihre Natur kann man nicht ganz verschwinden lassen.“36 Auch hier zeichnet sich offenbar die gegensätzliche Tendenz ab, und mit einem Hinweis darauf möchte ich meinen Beitrag beschließen. Der Verweis auf das Erlebnis und seine Subjektivität und der sich demgegenüber abzeichnende – stillschweigend angeeignete und ohne weiteres durchsetzbare – Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Objektivität werfen die Frage nach der Sprache – der Sprache der Wissenschaft bzw. der Kunst – auf. Interessanterweise entschuldigt sich Lukács hier nicht mehr, sondern unternimmt sogar kämpferisch einen schwungvollen Gegenangriff und tritt den positivistischen Forderungen nach einem wissenschaftlichen Sprachgebrauch entschlossen entgegen. „Es ist vielleicht nicht paradox […], wenn ich sage: das ‚künstlerische‘ Schreiben ist hier wirklich exakt und wissenschaftlich, und nicht das ‚wissenschaftliche‘“.37 Die Grundbegriffe der Literaturwissenschaft charakterisiert Lukács – wobei er Bergson hier zustimmend zitiert – als „schmiegsame, bewegliche, fast flüssige Gebilde, die immer bereit sind, sich den schwindenden Formen der Intuition anzuschmiegen“.
35 Lukács, Zur Theorie der Literaturgeschichte, S. 49. 36 Ebd., S. 49f. 37 Ebd., S. 50. Zum Folgenden ebd.
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Dies ist eine isolierte Bemerkung, die dennoch Aufmerksamkeit verdient. Und dies auch, wenn sie nicht im luftleeren Raum erklingt, sondern vor dem Hintergrund der mächtigen Bergson-Wirkung im damaligen Ungarn und Europa; beispielsweise dass Valéria Dienes in einem Aufsatz aus demselben Band – der Festschrift für Alexander Bernát –, in dem auch ihr Lukács-Aufsatz ursprünglich erschien, schreibt: „Intuitive Kenntnis ist nicht das reine Verstehen der Wahrheit, sondern ihr Erleben, unmittelbarer als alles andere, die produktive Quelle der innerlichen Kenntnisse und aller anderen Kenntnisse.“38 Nur wenige Jahre später sollte nämlich ein damals noch beinahe vollkommen unbekannter junger Freiburger Privatdozent namens Martin Heidegger in seiner ersten Universitätsvorlesung nach dem Krieg von „hermeneutischer Intuition“39 sprechen, von einer Anschauung, in der Bedeutung und Erleben nicht voneinander getrennt sind, sondern Hand in Hand gehen; von einer Anschauung, die Verstehen enthält und sich in einer entsprechenden Sprache ausdrückt und die jede theoretische Beschreibung übertrifft.40 Das radikale Durchdenken dieser Sprache – einen neuen Zugang zum Gegenstand mit einer auf den Gegenstand zugeschnittenen Sprachlichkeit auszu38 Valéria Dienes, Az intuíció a mai metafizikában [Die Intuition in der heutigen Metaphysik], in: Dénes, Dolgozatok a modern filozófia köréből [Arbeiten zur modernen Philosophie], S. 3–14, hier S. 5. Im Zusammenhang mit Bergson benutzt Valéria Dienes ein Attribut, das in Lukács’ Bergson-Zitat in ähnlicher Form sogar zweimal auftaucht; die Gedanken des französischen Philosophen hätten sozusagen einen „sich an die Wirklichkeit anschmiegenden“ Charakter (ebd., S. 9). Bemerkenswerterweise erwähnt Valéria Dienes auch, dass die durch die Intuition zugänglich gemachte Wirklichkeit eine andere Sprache, „für die Philosophie einen auf der Grundlage anderer Prinzipien zusammenzustellenden Wortbestand fordere“ (ebd., S. 13, Hervorhebung I. M. F.), oder, wie sie an anderer Stelle schreibt, „für jedes Problem eine neue Begriffsbildung […] erforderlich“ sei (dies., Bergson lélektana [Bergsons Psychologie], in: Henri Bergson, Idő és szabadság. Tanulmány eszméletünk közvetlen adatairól [Zeit und Freiheit], Budapest o. J., S. 47). 39 Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, Kriegsnotsemester 1919 und Sommersemester 1919 = GA, Bd. 56/57 (Hg. Bernd Heimbüchel), Frankfurt a. M. 1987, S. 117. Ungefähr zur gleichen Zeit tauchen bei Heidegger in der unveröffentlicht gebliebenen Jaspers-Rezension Ansichten auf, denen zufolge die Produkte der philosophischen Interpretation sog. hermeneutische Begriffe sind, die nicht abstrakt sind und frei schweben, sondern im Zuge der jeweiligen Interpretation ihre Bedeutung gewinnen (vgl. Martin Heidegger, Wegmarken = GA, Bd. 9 [Hg. Friedrich-Wilhelm von Herrmann], Frankfurt a. M. 1976, S. 32). 40 „Die vor-welthaften und welthaften Bedeutungsfunktionen haben das Wesentliche an sich, Ereignischaraktere auszudrücken, d.h. sie gehen (erlebend und Erlebtes erlebend) mit dem Erleben mit, leben im Leben selbst, und mitgehend sind sie zugleich herkommend und die Herkunft in sich tragend. Sie sind vorgreifend zugleich rückgreifend, d.h. sie drücken aus das Leben in seiner motivierten Tendenz bzw. tendierenden Motivation“ (Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, S. 117).
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drücken – sollte einen entscheidenden Bestandteil der hermeneutischen Wende der Philosophie des 20. Jahrhunderts bilden.41 Deutsch von Christina Kunze
41 Vgl. hierzu besonders folgende Überlegungen: Die „Ursprungswissenschaft“ ist „letztlich die hermeneutische“ (Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), Wintersemester 1919/20, = GA, Bd. 58 [Hg. Hans-Helmuth Gander], Frankfurt a. M. 1993, S. 83). „Die Begriffe der Philosophie haben eine andere Struktur als die Objekts- und Ordnungsbegriffe“ (ebd., S. 262). „Das Leben spricht zu sich selbst in seiner eigenen Sprache. Das reicht bis in seine Grundstrukturen. Sofern sich die Phänomenologie mit Sinnzusammenhängen beschäftigt, ist das Phänomen des Ausdrucks nur eine Manifestation dafür, daß ein Sinn sich durch den anderen gestaltet und ausformt. […] Es ist ein in der gegenwärtigen Philosophie viel vertretener Standpunkt, daß das faktische Leben dem Begriff gänzlich unzugänglich sei. Aber das ist nur die Kehrseite des Rationalismus dieser Philosophie […]“ (ebd., S. 231–232). „‚Theorie der philosophischen Begriffsbildung‘ ist […] eine Formel in der herrschenden Sprache der gegenwärtigen Philosophie, die lediglich etwas anzeigen soll, was es ursprünglich zu verstehen gilt. Die Entscheidung über Sinn, Charakter und Funktion des ‚philosophischen Begriffs‘ wird davon abhängig, wie sich das Philosophieren selbst im Gegenhalt zur wissenschaftlich-theoretischen Sacheinstellung ursprungsmäßig, nicht klassenmäßig, bestimmt“ (Martin Heidegger, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, Sommersemester 1920 = GA, Bd. 59 [Hg. Claudius Strube], Frankfurt a. M. 1993, S. 83).
Ágnes Hansági
Die Theorie der Literaturgeschichte bei Mihály Babits und Béla Fogarasi in den 1910er Jahren
Wenn die für heute auf institutioneller Ebene differenzierte, die Kriterien- und Methodensysteme einer „normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) beachtende ungarische Literaturtheorie ihre eigene Überlieferung zum Gegenstand der Reflexion macht, wird neben den theoretischen Synthesen von Vilmos Tolnai1 (Bevezetés az irodalomtudományba [Einführung in die Literaturwissenschaft], 1922) und Tivadar Thienemann2 (Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturgeschichtliche Grundbegriffe], 1931) am häufigsten auf ein Werk zurückgegriffen, das als gedruckter Text (im Sinne des Prinzips ultima manus) eigentlich nicht existiert. 1961 gab der Debrecener Literaturhistoriker und Komparatist János Barta in der Zeitschrift Irodalomtörténet [Literaturgeschichte] den Grundriss der literaturtheoretischen Vorlesungen des Dichters Mihály Babits (1883–1941) 3 auf Grundlage der Aufzeichnungen seines ehemaligen Schulkameraden (Sándor Kálmán Nagy) heraus,4 und der Kontext von Az irodalom elmélete [Theorie der Literatur] wurde in seiner Abhandlung, die die Textausgabe begleitete, durch den Vergleich mit 1 Vilmos Tolnai (geboren Lehr, 1870–1937), Literaturhistoriker, Sprachwissenschaftler, Hochschullehrer, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Sein Hauptwerk (Bevezetés az irodalomtudományba [Einführung in die Literaturwissenschaft], Budapest, Eggenberger, 1922) bietet einen systematischen Überblick über die Bereiche und Arbeitsmethoden der Literaturwissenschaft des Positivismus. Er war Mitglied und einer der Initiatoren des Minerva-Kreises. 2 Tivadar (Theodor) Thienemann (geboren Thass-Thienemann, 1890–1985) Germanist, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, einer der bedeutendsten ungarischen Literaturwissenschaftler der Vorkriegszeit. 1922 gründete er den Minerva-Kreis und die Zeitschrift Minerva für Geistesgeschichte, bis 1940 war er Herausgeber der Zeitschrift. Ab 1948 lebte er im Exil in Boston und beschäftigte sich mit Sprachphilosophie. Sein Buch Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturgeschichtliche Grundbegriffe], Pécs 1931, ist bis heute ein wichtiger Ankerpunkt der ungarischen literaturtheoretischen und medienarchäologischen Reflexion. Siehe dazu: Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Berlin/New York 2003. 3 Über die Dichtung von Mihály Babits siehe: Csongor Lőrincz, Ästhetische und gegenständliche Dichtung. Im Zeichen des Schönen: Ästhetizismus und das artistische Subjekt, in: Ernő Kulcsár Szabó (Hg.), Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung, Berlin/Boston 2013, S. 321–331. 4 János Barta, Babits Mihály egyetemi előadásai [Vorlesungen von Mihály Babits an der Universität], in: Irodalomtörténet 49 (1961), S. 42–58.
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den erwähnten Arbeiten bestimmt. Bartas Werturteil ist eindeutig: Er reiht die literaturtheoretischen Vorlesungen von Babits trotz ihrer Fragmentarität vor den beiden Monografien ein, weil er sie unmissverständlich moderner, vielseitiger und charakteristischer findet.5 In der Kurzmonografie von György Rába über Babits wiederholt sich diese Äußerung Wort für Wort, obwohl der Schwerpunkt seiner Argumentation auf den Analogien zum russischen Formalismus und zu einigen Momenten des Prager Strukturalismus liegt.6 Durch die spätere Kritik und die Rezeption von Babits wurde dieser Konsens auch überliefert, und damit hat die Theorie der Literatur unter den wichtigsten Texten des gesamten Werkes von Babits ihren Platz gefunden. Für die heutigen Leser wirkt Thienemanns Buch, das auf der Ebene seiner höchst sophistischen Argumentiertheit kaum mit den oft eklektischen Problemdarstellungen und Entwürfen von Babits vergleichbar ist, lebendiger, subversiver und provozierender.7 Trotz allem hat die Literaturtheorie von Babits eine eigenartig erstaunliche Wirkungsgeschichte, auch wenn sie immer noch nicht vollständig, aber als längerer, zusammenhängender Text – und nicht mehr als kurzer Grundriss – erst durch die Abschrift von Zoltán Fábry und durch aus dem Nachlass des Dichters Lőrinc Szabó in Kurzschrift überlieferte Teile zugänglich gemacht wurde.8 Die entscheidenden Bausteine dieser Wirkungsgeschichte bilden jene zeitgenössischen Eindrücke, über deren umstürzende und kathartische Natur 5 Ebd., S. 58. 6 György Rába, Babits Mihály, Budapest 1983, S. 168. 7 Siehe in diesem Band: Zoltán Kulcsár-Szabó, Das „Grundverhältnis“ bei János Horváth und Theodor Thienemann. Ferner Csongor Lőrincz, Die Archäologie der literarischen Kommunikation und der Textbegriff bei Theodor Thienemann, in: Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008, S. 139–167. 8 Die Babits-Gesamtausgabe übernimmt die Abschrift von Fábry. Vgl. Mihály Babits, Esszék, tanulmányok, Bd. I, Budapest 1978, 553–645. Die Veröffentlichung der Materialien aus dem Nachlass von Lőrinc Szabó erfolgte in zwei Etappen (Vgl. István Gál, Babits egyetemi irodalomtudományi előadásai Szabó Lőrinc lejegyzésében [Babits’ Universitätsvorlesungen zur Literaturwissenschaft in der Mitschrift von Lőrinc Szabó], in: Tiszatáj 29 [1975] 3, S. 52–68; Ágnes Kelevéz/Jánosné Sárdy, Babits irodalomelméletének öt egyetemi előadása Szabó Lőrinc lejegyzésében (1919. május 7., 8., 12., 14., 15.) [Fünf Universitätsvorlesungen über Babits’ Literaturtheorie in den Mitschriften von Lőrinc Szabó], in: Ágnes Kelevéz (Hg.), Mint különös hírmondó [Als besonderer Bote], Budapest 1983, S. 241–271). Bei den Vorarbeiten zur historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Lőrinc Szabó, einem der wichtigsten Dichter der ungarischen Spätmoderne, wurden die bisher fehlenden Teile der Babits-Vorlesungen in Kurzschrift gefunden. Die Manuskriptblätter von Lőrinc Szabó wurden schon transkribiert, und die Ausgabe des gesamten Vorlesungstextes steht bevor. Babits war nicht nur Professor von Lőrinc Szabó, sondern ein väterlicher Freund des jüngeren Dichters und hat ihn zu Beginn seiner dichterischen Laufbahn unterstützt.
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viele Erinnerungen berichten, und die auch die Grundlage für die spätere Legende schaffen. Die theoretische Tradition der Vorkriegszeit war vor der Wende 1989 mit einer eigenartigen Amnesie belastet, ihre Wiederentdeckung in den letzten zwei Jahrzehnten erfolgte parallel zur Zunahme des literaturwissenschaftlichen Interesses an Rhetorik und Medienarchäologie. Die Bedeutung von Mihály Babits als einem der bedeutendsten Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mit Sicherheit einflussreichstem Autor seiner Zeit bzw. seine feste Stellung im Kernkanon der ungarischen Literatur blieb in den Jahrzehnten des marxistischen Literaturkanons ebenso unberührt wie nach der Wende. In der ungarischen Literatur repräsentierte er kontinuierlich die Figur des modernen Dichterfürsten, des poeta doctus,9 und sein Kult ist bis heute ungebrochen. Daraus folgt, dass das Literaturdenken in Ungarn durch die Bildung und den Literaturunterricht letztendlich nicht nur von Babits’ lyrischem Werk und seinen Romanen, sondern auch von seinen kritischen Schriften bis heute in enormem Maße geprägt ist, seine Geschichte der europäischen Literatur ist sogar auf Deutsch erschienen.10 In diesem Kontext hat die Tatsache, dass das erste Dokument der systematischen ungarischen Literaturtheorie von Mihály Babits stammt, der zum ersten Mal Vorlesungen zur Literaturtheorie an der Universität zu Budapest hielt, eine außerordentliche Bedeutung. Babits wurde 1919 (in der Zeit der Räterepublik) zum ordentlichen Professor für „die moderne ungarische Literatur und die Weltliteratur“ ernannt, und im Sommersemester dieses Jahres stand seine Vorlesung unter dem Titel Theorie der Literatur auf der Liste des Studienplans für das Lehramtsstudium. Sie war in zweifacher Hinsicht eine einmalige Performance. Babits war zu diesem Zeitpunkt der Stardichter seiner Zeit, eine wahre Zelebrität. Die Hörerschaft seiner Vorlesungen hat sich weit jenseits der Studierenden ausgedehnt, nach Erinnerungen war nicht nur das Auditorium Maximum, sondern der Korridor davor voller Menschen, unter ihnen Berühmtheiten der Pester Künstlerwelt. Babits’ weitere Karriere als Hochschullehrer wurde nach dem Sturz der Räterepublik durch die damalige Kulturpolitik unterbrochen. Trotz eines Vertrags mit ei9 Er verfolgte mit großem Interesse auch die Laufbahn des jungen Georg Lukács. 1910 veröffentlichte er sogar eine polemische Rezension in der wichtigsten literarischen Zeitschrift der Epoche, im Nyugat, über Lukács’ Buch A lélek és a formák (auf Deutsch: Georg von Lukács, Die Seele und die Formen, Berlin 1911). Auf Babits’ Kritik antwortete Lukács in derselben Zeitschrift. Über die sogenannte Babits-Lukács-Debatte siehe in diesem Band István M. Fehér, Der Nyugat und die Philosophie. 10 Vgl. Michael Babits, Geschichte der europäischen Literatur. Übers. E. Bitay-Radloff und H. G. Gerlich, Wien/Zürich 1949. Siehe ferner: Ferenc Szász, Der Weg der ungarischen Literatur in die Weltliteratur oder ihre Aufnahme im deutschen Sprachraum. Ein Rückblick von der Jahrtausendwende, in: Studia Caroliensia 4 (2004), S. 152–170.
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nem bekannten Verlag ist die Theorie der Literatur als Buch nie veröffentlicht worden, und das Manuskript blieb bis heute verschollen. In der Theorie der Literatur teilt Babits das Fachgebiet der Literaturtheorie in sieben Themenbereiche auf, die auf eine Einleitung folgen, die die Natur der literarischen Normen analysiert. Die ersten drei Teile, die sich mit der Klassifizierung der literarischen Werke, mit den treibenden Kräften des literarischen Prozesses und mit der Frage der Objektivation und Idealisierung der Literatur beschäftigen, sind ausführlicher ausgearbeitet als die weiteren vier Themen, die die Instrumente des sprachlichen Ausdrucks (Expression), die Analyse der Formen, die literarische Überlieferung und den Einfluss der Literatur auf die Gesellschaft behandeln. Die Einleitung ist nach der traditionellen Struktur und Logik einer Propädeutik aufgebaut. Babits definiert die Literaturtheorie als selbstständige, die – im Gegensatz zur Literaturgeschichte − keine Geschichten „erzeugt“: In einer dualen Arbeitsteilung der Literaturwissenschaft sei sie nicht die Wissenschaft der Fakten (Tatsachen), sondern die Wissenschaft der Verhältnisse, und infolgedessen stehe sie der Philosophie nahe. In dieser Differenz ist die Terminologie von Heinrich Rickert wohl zu erkennen: Vor allem das Begriffspaar Wirklichkeitswissenschaft/Gesetzeswissenschaft. Babits kommt bereits hier auf das Problem der fundamentalen Verschiedenheit beider zu sprechen, die die Naturwissenschaften auch methodisch von den Kulturwissenschaften trennt. Wenn Babits die Arbeit eines Botanikers und eines Literaturwissenschaftlers gegenüberstellt, bestimmt er bereits hier, in der Einleitung, die Kategorien und Begriffe und die daraus stammenden Fragerichtungen, die später im Ganzen die Explikation der Theorie der Literatur dominieren. Nicht nur konstatiert Babits die Notwendigkeit der Differenzierung zwischen den Kultur- und Naturwissenschaften, die er in einem späteren Kapitel als den wichtigsten Gedanken der zeitgenössischen Philosophie ausführlich analysiert, sondern – mit Verweis auf Rickert – grenzt er die geschichtliche Begriffsbildung von der naturwissenschaftlichen ab. Die literaturtheoretischen Vorlesungen von Babits bieten gleichzeitig eine Kritik an dem Positivismus und vor allem an der Milieutheorie von Hippolyte Taine sowie an der Geistesgeschichte von Dilthey mit dessen Erlebnisbegriff. In beiden Fällen stützt sich die Kritik weitgehend auf die Argumentation von Rickert. Seine Ausführungen und der Umstand, dass es keine Abschrift gibt, in der der Begriff Kulturwissenschaft vorkommt, sind ein Beweis dafür, dass Babits nicht den programmatischen Grundriss Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1899, Tübingen) gelesen hat, der auf Ungarisch 1923 (in der Übersetzung von Árpád Posch) erschien und eine bemerkenswerte ungarische Rezeption erfuhr. Das Konzept von Geschichtlichkeit nach Rickert hat Babits aus dem Hauptwerk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung kennengelernt, aber sein Entwurf zur Geschichtlichkeit der Literatur und Literaturgeschichte bezieht sich auf weitere
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Quellen. Die Vorlesungen zeugen nicht nur von der umfassenden Kenntnis der aktuellsten Entwicklungen der Literaturtheorie seiner Zeit, sondern auch von Anregungen der zeitgenössischen ungarischen Philosophie und Kunsttheorie, aus denen Babits vielfach schöpfen konnte (Babits bezieht sich mehrmals auf Julius Petersens Buch Literaturgeschichte als Wissenschaft [1914] sowie auf Georg Simmels Kritik. Die nach Bartas Meinung wichtigste Quelle für Babits, Fernand Baldenspergers Buch, La littérature: création, succés, durée erschien 1913). In der schon erwähnten Abhandlung von János Barta wird darauf hingewiesen, dass sich Babits bei der Entwicklung der ersten größeren thematischen Einheit seiner literaturtheoretischen Vorlesungen, die dem Charakter und der Methode der Literaturwissenschaft gewidmet war, auf die kurz davor erschienenen Aufsätze von Béla Fogarasi stützt. Béla Fogarasi (geboren Fried, 1891–1959) war eine wirklich fragwürdige Figur in der ungarischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Éva Karádi, die Herausgeberin seiner deutschsprachigen Werke, teilweise aus seinem Nachlass, konfrontiert den Leser schon im Auftakt des Vorworts des Sammelbandes damit: Angesichts der offensichtlichen Parallelitäten seiner Laufbahn und der von Georg Lukács stellt sich die Frage, wieso sein Name viel weniger bekannt ist. Er hinterließ keine Nachfolger, Schüler und Anhänger, seine Werke werden weder in Ungarn noch im Ausland gelesen, sein Lebenswerk ist praktisch vergessen.11
Fogarasis wissenschaftliche Laufbahn begann ziemlich früh: mit 19 Jahren übersetzte er Bergsons Einführung in die Metaphysik12 und wurde dadurch bekannt. Nach der Promotion (bei Béla Zalai) verbrachte er einige Monate in Heidelberg und gehörte zum Kreis von Emil Lask. Mit Georg Lukács, Béla Balázs, Arnold Hauser und Karl Mannheim war er einer der Begründer des sog. „Sonntagskreises“.13 Seine erste selbstständige philosophische Arbeit, deren Wirkung auf Babits’ Theorie der Literatur János Barta erkannt hat, erschien 1914 auf Ungarisch (A kiválasztás és a kiegészítés a történeti megismerésben [Selektion und Ergänzung in der geschichtlichen Erkenntnis], die deutsche Textvariante wurde 1917 in Kant-Studien mit einem modifiziertem Titel veröffentlicht.14 Der Aufsatz Umrisse einer Theorie der 11 Éva Karádi, Vorwort, in: Béla Fogarasi, Parallele und Divergenz. Ausgewählte Schriften, hg. v. Éva Karádi, Budapest 1988, S. 9. 12 Vgl. Henri Bergson, Bevezetés a metafizikába [Einführung in die Metaphysik], übers. Béla Fogarasi, Budapest 1910. Bis 1922 gab es 4 Ausgaben. 13 Mehr dazu: Karádi, Vorwort, S. 11. 14 Adalbert Fogarasi, Das Prinzip der Ergänzung in der Geschichtslogik, Kant-Studien 21 (1917), S. 270–293.
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Interpretation wurde aus seinem Nachlass herausgegeben,15 diese unbeendete Abhandlung ist ein Dokument seiner Arbeit in der Freien Schule der Geisteswissenschaften (der Akademie des Sonntagskreises), von deren systematischer Argumentation auch Mannheim „tief beindruckt“ gewesen sein soll.16 Unter der Wirkung des Ersten Weltkrieges wandte sich Fogarasi der marxistischen Philosophie und der Kommunistischen Partei zu. Während der Räterepublik spielte er eine wichtige Rolle im Hochschulwesen und musste deshalb nach dem Sturz der Räterepublik die Emigration wählen. Er lebte in Wien, ab 1922 in Berlin und von 1930 bis 1945 in Moskau. Er wurde sogar zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion, obwohl er als Philosoph die 25 Jahre seiner Emigration später als vergeudete, verlorene Zeit betrachtete.17 Nach seiner Heimkehr wurde er der offiziellen Nomenklatur der kommunistischen Diktatur eingegliedert, nach dem Sturz der demokratischen Revolution von 1956 war er gleichzeitig Direktor des neuen Philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften, Generalsekretär der Akademie, Chefredakteur, Lehrstuhlleiter und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Karádis Darstellung entfaltet Fogarasis intellektuelles Porträt aus seiner belasteten Beziehung zu Lukács: „[L]ange genug, schon seit jungen Jahren litt er unter der wuchtigen Überlegenheit von Lukács.“18 Sie stellt in ihrem historischen Überblick auch die politisch komplizierte Lage der beiden ausführlich dar: Mitte der 50er Jahre standen Fogarasi und Lukács an der Spitze jener Philosophen, die sich gegen den offiziellen, den durch Stalin verzerrten Marxismus wandten und, zu den ursprünglichen Marxschen Texten zurückkehrend, die ,Renaissance des Marxismus‘ vorbereiteten. Fogarasi war einer der Neuentdecker – und durch seine Vorträge und Vorlesungen an der Universität einer der Verbreiter – der Frühschriften von Marx: der ökonomisch-philosophischen Manuskripte und der Grundrisse (die er – wiederum ebenso wie Lukacs – noch in Moskau, in der Ausgabe von Rjasanow gelesen hatte). […] Zwar trat er im Dezember 1956 noch dafür ein, dass Lukács ins wissenschaftliche Leben Ungarns zurückkehren müsse, […] nach außen hin, in der Öffentlichkeit jedoch war der Angriff auf Lukács seine letzte Äußerung.19
15 Béla Fogarasi, Umrisse einer Theorie der Interpretation (1918), in: Fogarasi, Parallele und Divergenz, S. 63–98. 16 Vgl. Karádi, Vorwort, S. 13. 17 Vgl. Ebd., S. 36. 18 Ebd., S. 41. 19 Ebd. S. 38, 41.
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Barta sieht diesen Einfluss von Fogarasis frühen Schriften einerseits in der Aufwertung der Bedeutung und des Begriffes der Form oder der Gestalt, andererseits aber in der Anschauungsform, die das Konzept und System der Literaturgeschichte von Babits geprägt hat, und die, nicht unabhängig von der zentralen Stellung des Formbegriffes, die Geschichte der Literatur nicht als Geschichte der Autoren, sondern als Geschichte der Sprachkunstwerke definiert. Dieser Titelsatz, mit dem Babits bereits eine eigentlich poetologisch fundierte, formalistische, letztendlich das Kunstwerk selbst in seiner Textualität erfassende Sichtweise andeutet, wird in der Konzeption der literaturtheoretischen Vorlesungen höchste Wichtigkeit erlangen und mehrmals mit Nachdruck wiederholt werden. Barta nimmt auf zwei Aufsätze Fogarasis Bezug, in erster Linie auf die Abhandlung, die 1915 unter dem Titel Az irodalomtörténet filozófiai problémái [Die philosophischen Probleme der Literaturgeschichte] in einer der wichtigsten ungarischen Zeitschriften zur Literaturwissenschaft, Egyetemes Philologiai Közlöny [Allgemeiner Anzeiger für Philologie], erschienen ist. Die scharfe Kritik an Taine, die einen markanten Angelpunkt für die Literaturauffassung der Vorlesungen bildet, ist auf ein Argument von Fogarasi gegründet. Babits führt aber sowohl die Bestrebung, die Literaturwissenschaft als Hilfswissenschaft der Psychologie unterzuordnen, als auch die Einsicht, dass Literaturgeschichte ihren jeweiligen Akt der Interpretation des historischen Materials aus jeweils wechselnden Blickwinkeln vollzieht, primär auf Rickerts Konzept, in dem die Kulturwissenschaften mit den Naturwissenschaften konfrontiert werden. Rickerts Einfluss lässt sich auch in der Argumentation von Fogarasi beobachten, obwohl er seinen Namen gar nicht nennt. Davon nicht unabhängig und ebenso bemerkenswert ist der Moment, in dem sich die Argumentationen von Babits und Fogarasi signifikant voneinander unterscheiden. Während Fogarasi Diltheys Einfluss auf die Literaturwissenschaft eindeutig hoch schätzte, lehnte Babits Diltheys Erlebniskategorie als äußerliche und dem Prinzip der werkimmanenten Betrachtungsweise fremde Kategorie ebenso ab wie den Milieubegriff von Taine. Die literaturtheoretischen Vorlesungen stellten also einerseits das Interpretieren, das aus dem als Lebensereignis gemeinten Erlebnis beziehungsweise aus dem Rekonstruieren des Entstehungskontextes des Werkes oder aus dem Milieu hervorgeht, auf der Ebene der Textauslegung als den Gegensatz zum Prinzip der Werkimmanenz dar. Andererseits aber hält Babits die Prinzipien des Milieus, der Generation und des Erlebnisses als Inspiration oder Motivation der Schöpfung eines Kunstwerkes für das Entthronen, für die Degradierung des schöpferischen Individuums. Die Abhandlung von Fogarasi plädiert für die Autonomie/Unabhängigkeit der Literaturgeschichte: „Der Begriff des Kunstwerkes und der Literatur, die Geschichtlichkeit der Wertung und das Selektionsprinzip der immanenten (innerlichen) Wirkung ermöglichen, die Logik der Literaturgeschichte ohne entliehene
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Verfahren und Grundbegriffe aufzubauen.“20 Die Literaturtheorie von Babits teilt diesen Standpunkt, er bestreitet nur einen einzigen Punkt in Fogarasis Auslegung von Dilthey, und zwar dort, wo bei Babits der Dichter über den Wissenschaftler die Oberhand gewonnen hatte. Die andere von Barta erwähnte Abhandlung, A kiválasztás és a kiegészítés a történeti megismerésben, bildet nach Fogarasis Ansicht den Ausgangspunkt für seine eigene, schon erwähnte spätere Studie, in der er die Autonomie der Literaturgeschichte und die Gesetzmäßigkeiten der Literaturgeschichtsschreibung schildert. Es ist deshalb merkwürdig, dass in der Argumentation der Vorlesungen kein Hinweis auf diesen fundamentalen Aufsatz vorkommt. Die einzige Ausnahme bildet die vom zeitgenössischen Standpunkt ohne Zweifel charakteristische, starke Ausgangsthese von Fogarasi, die zum Titelsatz der Vorlesungen avanciert, namentlich: „Die Geschichte der Literatur ist keine Geschichte der Autoren, sondern die Geschichte der Sprachkunstwerke.“21 Der Kontext, der Fogarasi zu dieser wohl kritisch gemeinten Grundthese führte, ist hier höchst interessant. Er setzt voraus, dass allein diese Unterscheidung die Voraussetzung für disziplinäre Selbstständigkeit der Literaturgeschichte bilden kann, und dass die Literaturgeschichtsschreibung durch sie die erzählungskonstituierenden Akte der Begriffsbildung, der Selektion und der Ergänzung so durchführen kann, dass sie sich dadurch auch von den benachbarten geschichtlichen Wissenschaften abgrenzt. Es ist vielleicht nicht abwegig zu behaupten, dass Babits die Argumente, die Fogarasi zu dieser These geführt haben, wegen seiner widerspruchsvollen und mit Missverständnissen belasteten Beziehung zu Diltheys Schriften außer Acht lässt. Nachdem Fogarasi diese durch Babits berühmt gewordene Grundthese ausdrücklich mit kritischem Akzent formuliert hat, lehnt er die zeitgenössische Praxis der Literaturgeschichtsschreibung im Vergleich zur Entwicklung der Kunstgeschichte nach Winckelmann mit einem Argument ab, das auch bei Jakobson eine zentrale Rolle spielt: [Die Literaturhistoriker] glichen […] bislang meist einer Polizei, die eine bestimmte Person verhaften will und zu diesem Zweck für alle Fälle alles und jeden, was sich nur in der Wohnung anfindet, samt den unbeteiligten Passanten auf der Straße mitnimmt. So kam denn auch den Literaturhistorikern alles zupaß – Soziales, Psychologie, Politik, Philosophie. Statt einer Literaturwissenschaft kam ein Konglomerat von hausge20 Béla Fogarasi, Az irodalomtörténet filozófiai problémái [Philosophische Probleme der Literaturgeschichte], in: Egyetemes Philológiai Közlöny 29 (1915), S. 712–724, hier: S. 724. 21 Béla Fogarasi, A kiválasztás és a kiegészítés a történeti megismerésben [Selektion und Ergänzung in der geschichtlichen Erkenntnis], in: A Magyar Filozófiai Társaság Közleményei 51–52 (1914) 3–4, S. 175–192, hier: S. 188.
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backenen Disziplinen zustande. Man vergaß gewissermaßen, daß diese Gebiete jeweils zu entsprechenden Wissenschaften gehören – zur Philosophiegeschichte, Kulturgeschichte, Psychologie usw., und daß diese natürlicherweise auch literarische Denkmäler als defekte und zweitrangige Dokumente verwenden können. Wenn aber die Literaturwissenschaft eine Wissenschaft werden will, ist sie genötigt, das „Verfahren“ als ihren einzigen „Helden“ zu akzeptieren.22
Die „Literaturhistoriker“ sehen nach Fogarasis Analyse weder die Ziele noch die Methoden klar; sie sind außerstande, den Gegenstand ihrer Forschung klar und eindeutig abzugrenzen. Die Literatur, die aus Kunstwerken beziehungsweise aus einer Gesamtheit von Kunstwerken besteht, erfordere weder die Voraussetzungen (den Psychologismus) der Gestaltpsychologie noch die positivistische Wirkungsforschung der Autorenbiographien. Damit argumentiert er auch für die Destruktion des einer organischen Literaturauffassung zugrunde liegenden Ursprungsprinzips, das in Ungarn bis heute bedeutenden Einfluss auf den Literaturunterricht ausübt. Die Literaturgeschichte sollte ihm bloß als Beispiel dienen, weil die eigentliche Frage, die auch für uns heute ihre Aktualität klar zeigen kann, auf das geschichtliche Verstehen gerichtet ist: Die universellen Forderungen der wissenschaftlichen Erkenntnis gelten auch für die geschichtlichen Erkenntnisse, die keine treuen Abbildungen oder Spiegelungen ihres Gegenstandes, der geschichtlichen Realität, sind, sondern vielmehr Gestalten, Reorganisieren, Wiederaufbauen oder Schöpfung.23
Fogarasi stellt also die Geschichte nicht als Ergebnis einer Re-Konstruktion, sondern als Ergebnis des Konstruierens dar, das sich durch zwei grundsätzliche Operationen, durch die „Selektion“ und die „Ergänzung“, verwirklicht. Den Akt der Selektion und den Akt der Ergänzung dürfe man sich nicht als einander entgegengesetzte Aktivitäten vorstellen; sie seien vielmehr aufeinander folgende, zeitlich strukturierte Schritte, deren geregelte Reihenfolge unverwechselbar sein sollte. Die Selektion lässt sich immer als der vorbereitende, die Ergänzung hingegen als der vollendende, synthetisierende Akt der geschichtlichen Erkenntnis vorstellen. Letzteren verglich Fogarasi in Anlehnung an Dilthey mit dem Akt der philologischen Rekonstruktion, sodass schon an diesem Punkt der Argumentation klar wird, was der Autor später eindeutig behauptet. Die geschichtliche Erkenntnis wird den hermeneutischen Operationen zugeteilt und setzt durch die Unendlich22 Roman Jakobson, Die neueste russische Poesie, in: Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Texte der russischen Formalisten, Bd. II, München 1972, S. 31ff. 23 Fogarasi, A kiválasztás és a kiegészítés a történeti megismerésben, S. 175.
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keit der Hin- und Herbewegung des trivialen hermeneutischen Verfahrens die Permanenz der Reinterpretation und Neuerschöpfung voraus: „Vom Ganzen zum Teil und vom Teil zum Ganzen bewegt sich der unendliche Weg des historischen Verstehens.“24 Diese vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zum Teil führende Bewegung lässt sich als eine Zirkelstruktur beschreiben, die theoretisch keinen Abschluss findet. Fogarasi zufolge bildet die Struktur der Teile und des Ganzen das Grundverhältnis des geschichtlichen Phänomens, das gleichzeitig eindeutig machen sollte, dass das geschichtliche Phänomen (oder das historische Ereignis) die Aktivität der Auslegung voraussetzt; es sei ein Produkt der Auslegung der Geschichte. Die historischen Ereignisse treten also nicht als Resultate des Selektionsprozesses hervor, und die Geschichte als narrative Struktur konstituiert sich auch nicht durch das Enthüllen der als Gegebenheit verstandenen logischen Figuren. Die Interpretation, die von dem Ganzen ausgeht, schafft das historische Ereignis selbst. Mit diesem Argumentationsschritt erreicht Fogarasis Entwurf eine solch radikale Auffassung der Geschichtlichkeit, wie sie erst Jahrzehnte später bei HansGeorg Gadamer und Reinhart Koselleck eine Parallele findet. Jenseits des bloßen Feststellens der narrativen Strukturiertheit der Geschichte betrachtet Fogarasi die Handlungselemente der narrativen Struktur der Geschichte als Produkte (Resultate) der Interpretation: „Die historische Erscheinung ist im allgemeinen Sinne ein Teil desjenigen Ganzen, das die Geschichte zur Geschichte und nicht zu bloßer Vergangenheit macht.“25 Ein wichtiger Beweis für die Radikalität dieses Konzeptes zeigt sich an dem Punkt, wo sich Fogarasi von der zeitgenössischen Theorie der Geschichte distanziert, indem er diese als mit dem Wesen des historischen Verstehens unvereinbar verurteilt. Die Gegenwärtigkeit des Prozesses der Interpretation spielt seiner Meinung nach eine entscheidende Rolle beim Konstituieren der Vergangenheit und schließt auch die semantische und syntaktische Abtrennung der einzelnen Zeitaspekte aus: „Die Begriffe der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart sind voneinander untrennbar; […] jenes universelle Ganze, das der Gegenstand des geschichtlichen Bewusstseins ist, ist nichts anderes, als die Synthese von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.“26 In einer Fußnote weist er darauf hin, dass die Ergänzung durch die Perspektive und Potenzialität der Zukunft im Akt der Interpretation die Geschichte schaffen könnte: „[D]ie Geschichte ist die Ergänzung des Vergangenen und Gegenwärtigen durch das Zukünftige. […] Die Vergangenheit entsteht nur so und dadurch, dass sie mit der Gegenwart konfrontiert und durch sie ergänzt wird. Die Zukunft ist das historische Hypostasieren des Ergänzungsprin24 Ebd., S. 187. 25 Ebd., S. 189. 26 Ebd., S. 186.
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zips.“27 Der Gedanke der Unabgeschlossenheit und Unendlichkeit der Vergangenheit macht bereits die Aufwertung der Kontingenzerfahrung sichtbar, die Fogarasi in diesem Zusammenhang unmissverständlich als Wert und keinesfalls als Mangel an Gewissheit gilt. Die entscheidende Wirkung von Dilthey auf Fogarasis Argumentation liegt nicht mehr in dem Einfluss der von Babits mehrmals scharf kritisierten und auch missverstandenen Erlebnistheorie. Die hermeneutische Struktur des Aktes des historischen Verstehens erschließt einen Horizont, der dem Verständnis der Geschichtlichkeit für die Operationen der Selektion und Ergänzung eine unerwartete und unkalkulierbare Perspektive verleihen kann. Babits betrachtet das literarische Faktum ähnlich wie Tynjanow als etwas, was die historisch wechselnde Beurteilung der literarischen Erscheinungen zum Ausdruck bringen kann und infolgedessen ein dynamisches Korpus bedeutet, dessen Bestandteile ständig wechseln. Seine Konzeption von Literaturgeschichte und Geschichtlichkeit kann die Argumentation von Fogarasi jedoch nicht weiterverfolgen, nicht nur aufgrund der Kontingenzerfahrung in der Geschichte oder seiner Abneigung gegenüber der diltheyschen Hermeneutik. Die Literaturgeschichtskonzeption der literaturtheoretischen Vorlesungen, die sich in zahlreichen Fragen auf bestimmte Schlussfolgerungen von Fogarasi stützen, kehren letztendlich zur Instanz des Genies, des schöpferischen Individuums, zurück. Daraus folgt auch, dass das Immanenzprinzip im Namen der Autorität der Intention vor der Instabilität des Auslegungsaktes verteidigt werden soll. Die deutsche Fassung, die Fogarasi zwei Jahre später in den Kant-Studien veröffentlichte, radikalisierte seine Thesen über das geschichtliche Bewusstsein, das schon in der ungarischen Version als ein Begriff behandelt wurde, dem die hermeneutische Operation der Ergänzung (Pars pro Toto / Totum pro Parte) strukturell angehört. Nichtsdestoweniger zeigt bereits die Argumentation der ersten, ungarischen Auffassung eine kaum verkennbare Tendenz in ihrer Auffassung von Historik. Für heutige Leser könnte bereits das Zitat von Eduard Meyer („Historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist.“28) an der gegebenen Stelle unausweichlich die bekannte These von Rudolf Bultmann in Erinnerung rufen, und die Verbindung der beiden Texte dürfte im weiteren Prozess des Lesens bestätigt werden. Bultmann schreibt in Bezug auf die Unhaltbarkeit der Unterscheidung zwischen geschichtlicher Erkenntnis und historischem Gegenstand: Das heißt nicht, dass der Historiker dem historischen Phänomen nach seinem Belieben einen Sinn zuerteilt. Aber es heißt, dass historische Phänomene das, was sie sind, nicht isoliert und für sich selbst sind, sondern erst in ihrer Beziehung zur Zukunft, für die sie 27 Ebd., S. 186. 28 Ebd. S. 178.
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eine Bedeutung haben. Es lässt sich sagen: zu jedem historischen Phänomen gehört seine Zukunft, eine Zukunft, in der erst als das erscheint, was es wirklich ist; genaugenommen muss es heißen: eine Zukunft, in der es immer deutlicher als das erscheint, was wirklich ist.29
Den Ausgangspunkt für Fogarasis Fragestellungen bietet die neukantianische Historik, Rickert und vor allem Windelband, deren Ergebnisse ihm als die wichtigsten Ereignisse der zeitgenössischen Geschichtstheorie erscheinen. Die Gegenüberstellung der Problemgeschichte von Windelband mit der Kontinuitätsgeschichte von Dilthey liegt in dieser Argumentation der Erörterung zugrunde, die zu der Behauptung führt, dass das geschichtliche Bewusstsein ohne das Prinzip der Ergänzung kaum vorstellbar ist, da die Singularität des Geschichtlichen ohne diese hermeneutische Operation kaum zu einer geschichtlichen Erkenntnis führen kann. Die geschichtliche Erkenntnis setzt die unendliche Hin- und Herbewegung vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zum Teil voraus, und Fogarasi beschreibt diesen unendlichen Zwang der Neu-Interpretation im Falle der Literaturgeschichte mit einer Metapher des Netzwerkes (!).30 Die Vorstellung einer jeweiligen Literaturgeschichte als Netzwerk der Texte kann auch beleuchten, warum er Georg Lukács’ soziologische Interpretation der literarischen Wirkung für unzutreffend erklärte.31 Das System eines Netzwerkes der literarischen Texte erlaubt zahlreiche potenzielle Kombinationen, die weder praktisch noch theoretisch kalkulierbar sind: Laut Fogarasi kann sich die literarische Wirkung als eine unvorhersehbare Interaktion zwischen den Texten und keinesfalls zwischen Autoren realisieren (die soziologische Sichtweise schließt die Leseprozesse völlig aus). Die Struktur der deutschen Fassung des Aufsatzes wurde klarer, die Argumentation zielstrebiger und kühner, auch in der Terminologie gibt es einige Veränderungen. Wie schon mit dem Titel des Aufsatzes betont ist, wird in der späteren (deutschen) Version der Schwerpunkt auf den Aspekt der Ergänzung verschoben: Das historische Prinzip der Ergänzung ist das korrelative Element zum historischen Prinzip der Auswahl. In der formalen Grundlegung ist ihre Stelle zu suchen. Nicht eine isolierte Auswahl und eine isolierte Aufsuchung des historischen Zusammenhanges, 29 Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie (1955), übers. Eva Kraft, Tübingen, 1979, S. 135. 30 Vgl. Fogarasi, A kiválasztás és a kiegészítés a történeti megismerésben, S. 188. 31 Vgl. ebd., S. 190. Die von Fogarasi erwähnte Textstelle: György Lukács, Megjegyzések az irodalomtörténet elméletéhez [Bemerkungen zur Theorie der Literaturgeschichte], in: Dolgozatok a modern filozófia köréből [Arbeiten aus dem Bereich der modernen Philosophie], Budapest 1910. Zur erwähnten Auffassung von Lukács siehe in diesem Band István M. Fehér, Literaturgeschichte ohne Ästhetik? Zur Literaturtheorie-Auffassung des jungen Lukács.
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sondern eine sinnvolle Ergänzung, die unmittelbar auf die Auswahl folgt, macht das Wesen des historischen Erkennens aus.32
Im Unterschied zu der zeitgenössischen Historik argumentierte Fogarasi dafür, dass das Prinzip der Ergänzung nicht nur in der Interpretation und Darstellung eine „grundlegende Bedeutung“ haben soll, sondern in den beiden Gebieten der Geschichtswissenschaft, die traditionell die Dokumente und das historische Material bilden bzw. feststellen (Quellenkunde und Kritik).33 Bei der Unterscheidung der vier Gebiete der Geschichtswissenschaft folgte Fogarasi nur teilweise der geläufigen Terminologie von Ernst Bernheim, indem er nach Droysen den Begriff „Interpretation“ (statt „Auffassung“) benutzte und diese Verwendung sogar theoretisch begründete. Auf Die Entstehung der Hermeneutik von Dilthey und das Beispiel der Philologie wies Fogarasi schon in der früheren ungarischen Fassung hin, aber in dieser späteren Erörterung der geschichtlichen Erkenntnis rückt die diltheysche Warnung, nach der alles Verstehen eine Grenze hat, die aus der Zirkelstruktur des Verstehens folgt und für Dilthey die „zentrale Schwierigkeit aller Interpretation“ darstellte, geradezu in den Brennpunkt der Argumentation. Das klassische Beispiel bietet für dieses Verfahren die philologische Rekonstruktion der Texte und die archäologische Rekonstruktion der Kunstwerke. Die Hermeneutik hat die Aufgabe, Regeln und Methoden dieser Ergänzung näher auszuarbeiten, die Geschichtslogik ihre logische Funktion im Gesamtgewebe der historischen Erkenntnis hervorzuheben. Die innige Verflechtung der Rekonstruktion und Textkritik mit der Interpretation, die ohne einander gar nicht bestehen können, zeigt, dass die zwei Sphären der historischen Forschung und Begriffsbildung nicht so einfach zu sondern sind, wie es in der Historik angenommen wird. Daher auch die Hermeneutik beide Richtungen der sinnvollen Ergänzung in sich begreift, die rekonstruierende, wo das Glied oder die Glieder gesucht werden und die interpretierende, bei der es sich um die Einordnung des als Teil betrachteten Individuums in den sinnvollen Zusammenhang handelt. Alles, was die Historik als Interpretation behandelt, findet hier seine logische Stelle. Das Ganze, das den Bedeutungszusammenhang darstellt, ist in der philologischen Interpretation das Werk, in der philosophischen das System, in der historisch-psychologischen der neuerdings als „politisches System“ bezeichnete Zusammenhang, oder die umfassenden Zweckzusammenhänge, deren Natur besonders Dilthey analysiert und in glänzenden historischen Darstellungen beleuchtet hat. Die für Philologie und Geschichtswissen32 Fogarasi, Das Prinzip der Ergänzung in der Geschichtslogik, in: ders., Parallele und Divergenz, S. 51. 33 Vgl. ebd. S. 54.
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schaft gleichsam fundamentale Maxime, dass die Teile nur in ihrer Beziehung auf das Ganze, auf den Zusammenhang aufzufassen und zu würdigen sind, ist die logische Konsequenz dieser Verhältnisse.34
Dass das Problem der Interpretation und dadurch auch die Hermeneutik in den Fokus seines theoretischen Interesses gerückt sind, kann Fogarasis unbeendeter Aufsatz Umrisse einer Theorie der Interpretation (1918)35 klar bestätigen. Diese Arbeit wurde erst 1988 im Sammelband seiner Schriften aus seinem Nachlass herausgegeben und soll eine Textvariante seiner im Frühling 1918 an der Freien Schule der Geisteswissenschaften gehaltenen Vorlesungen sein. In diesem Aufsatz geht Fogarasi von der „Notwendigkeit der Interpretation“ als einer allgemeingültigen Erfahrung aus, von der alle betroffen sind, die schon einmal zum Beispiel eine kunstgeschichtliche oder philosophiegeschichtliche Untersuchung durchgeführt haben. Für die Kulturwissenschaftler sei die Erkenntnis „keine Selbstverständlichkeit“, sogar die Möglichkeit der Erkenntnis kann „in Zweifel gezogen werden.“36 Fogarasi betont nachdrücklich, dass „die Interpretation nicht als die Universalmethode für die theoretische Bemächtigung der Sinngebilde, sondern als das spezifische Organ der historisch-geistigen Wissenschaften auftritt.“37 Statt der Methode von Dilthey versucht Fogarasi „von dem apriorischen Begriff der Interpretation“ auszugehen und „die klassischen Probleme und Methoden der philosophischen, juristischen, theologischen, philosophischen Hermeneutik im Rahmen einer apriorischen Typologie zu behandeln.“38 Die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus der Sicht des jeweiligen Betrachters lässt sich kaum anders beschreiben als mit der „erschreckenden“ Erfahrung der Entfremdung, und nach Fogarasi kann gerade diese Kluft die Notwendigkeit der Interpretation klar machen.39 Die im Prozess des Verstehens sich verwirklichende Hin- und Herbewegung, die auch der Struktur des hermeneutischen Zirkels nicht fremd ist, wurde von Fogarasi durch die Wechselseitigkeit der Dialoge beleuchtet: „Ohne Fragestellung keine Antwort, ohne Einstellung keine Antwort, ohne Einstellung keine Möglichkeit des Sehens. Und je komplizierter die Struktur des Sinngebildes, umso notwendiger das fortschreitende gegenseitige Beziehen und Rückbeziehen der Teile auf das Ganze, des Ganzen auf die Teile.“40 Der 34 Ebd., S. 58. 35 Béla Fogarasi, Umrisse einer Theorie der Interpretation, in: ders., Parallele und Divergenz, S. 63–98. 36 Vgl. ebd. S. 64. 37 Ebd. S. 67. 38 Ebd. 39 Ebd. S. 71. 40 Ebd. S. 74.
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Gegenwartsstandpunkt des Betrachters kann in dieser Konzeption der Interpretation als Stützpunkt dienen, von dem aus die Reflexion auf die Andersheit der Strukturen der Vergangenheit möglich wird.41 Daraus folgt, dass ein „Neu-geschrieben-werden-Müssen“ „keine Subjektivität“ bedeuten soll wie aus der Sicht eines „standpunktlosen Positivismus“, sondern die einzige Möglichkeit des geschichtlichen Verstehens.42 Im zweiten Teil des Artikels wird eine typologische Untersuchung durchgeführt, und im Exkurs am Schluss des Manuskriptes vergleicht Fogarasi die Typen der transzendenten und immanenten Interpretationen am Beispiel der Bibelexegese. Man kann es sogar als symbolisch betrachten, dass das Manuskript an dem Punkt abgebrochen wurde, wo Fogarasi anfängt, die Interpretationsmethoden von Lukács in der Theorie des Romans zu analysieren. Vielleicht konnten auch diese wenigen Aspekte des theoretischen Hintergrundes von Babits’ Vorlesungen zur Theorie der Literatur und insbesondere Béla Fogarasis Beitrag zu Babits’ Konzeption einen Einblick in die Verhältnisse des theoretischen Denkens der Vorkriegszeit in Ungarn ermöglichen. Sowohl Babits als auch Fogarasi haben sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an aktuellen Fragen der zeitgenössischen europäischen Philosophie orientiert und der stark positivistisch belasteten ungarischen Literaturgeschichtsschreibung zumindest auf indirekte Weise einen innovativen methodologischen Rahmen geboten. Dieses europäische Erbe des ungarischen theoretischen Denkens musste aber nach der Wende 1989 erst wieder neu entdeckt werden. Fragt man nach den Gründen für diesen Bruch in der ungarischen theoretischen Tradition, so muss man sich zunächst auch damit konfrontieren, dass das theoretische Interesse der ungarischen Literaturwissenschaft gleich nach dem Ersten Weltkrieg zurückgegangen ist. Babits und Fogarasi können die zwei typischen Modelle dieser Zeit verkörpern. Fogarasi wendete sich der Politik zu und trug später als marxistischer Philosoph sogar zur Legitimierung der Diktatur bei. Im Falle von Babits können eine Re-Konservativisierung und die Idee eines neuen, zeitlosen literarischen „Klassizismus“ beobachtet werden. Seine Geschichte der europäischen Literatur lässt sich als eine theoretisch wenig reflektierte Erzählung lesen, deren Struktur von einem Gänsemarsch der Autoren bestimmt wird und die von der formal-immanenten Interpretation der Texte nichts mehr wissen will.
41 Ebd. S. 75. 42 Vgl. ebd. S. 76.
Zoltán Kulcsár-Szabó
Das „Grundverhältnis“ bei János Horváth und Theodor Thienemann
Im ersten Entwurf seiner „Entwicklungsgeschichte“ der ungarischen Literatur, die ausschließlich „reinen“ Kriterien folgen sollte, beschreibt János Horváth das Schema, das dieser Entwicklung zu Grunde liegt, bekanntlich als eine grundsätzliche Veränderung bzw. allmähliche Verengung des Literaturbegriffs, als eine Reihenfolge einander ablösender Kriterien von Literarizität: Demnach gelten zunächst alle in Ungarn entstandenen, dann auf Ungarisch verfasste, später „nationalen Inhalt“ aufweisende, schließlich nur mehr „künstlerische“ Texte als Literatur.11 Dem Sammelbegriff von Literatur, dessen historische Relativität dadurch erkannt wird, ordnet Horváth die umfassende Kategorie des „literarischen Bewusstseins“ über: Dieses bedeutet, sobald es vorhanden ist, das Bewusstsein der zugleich synchronen und diachronen Bestimmtheit des literarischen Werkes (die bewusste Bezugnahme auf das Publikum bzw. auf die literarische Tradition); es führt einerseits zur „ethischen Zusammengehörigkeit“ aller Elemente dieser doppelten Relation und zeugt andererseits von seinem Vorhandensein durch Selbstreflexion. Kritik ist „das verkörperte literarische Bewusstsein“2. Man erkennt leicht, dass diese Konzeption bereits in dieser entwurfartigen Form zwei ernst zu nehmende Paradoxa mit sich bringt. Das erste liegt darin, dass – wie Horváth es mehrmals darstellt – die eigentliche „Entwicklung“ vor allem als die Entwicklung des literarischen Bewusstseins selber zu verstehen ist, d. h. an einem Punkt anfängt, an dem also die Grundlagen ihrer Beschreibung noch gar nicht vorhanden sind („literarische Produktion“ gibt es auch dort, wo das „literarische Bewusstsein“ noch nicht existiert). Vielleicht liegt es gerade an diesem Widerspruch, dass Horváth etwas später, in A magyar irodalom fejlődéstörténete (‚Entwicklungsgeschichte der ungarischen Literatur‘) bzw. im programmatischen Aufsatz Magyar irodalomismeret (‚Ungarische 1 János Horváth, A magyar irodalom fejlődéstörténete [Die Entwicklungsgeschichte der ungarischen Literatur], Budapest 1980, S. 16, 46f, 57f. – Die Vorgeschichte der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung zeugt davon, dass aus der Perspektive der Entwicklung des „literarischen Bewusstseins“ von „Literatur“ (die zunächst keine „schöne Literatur“, keine Belletristik ist) offensichtlich erst nach der Spezialisierung der „litterae“ gesprochen werden kann (vgl. Zoltán Kenyeres, Vázlat Horváth Jánosról [Skizze über János Horváth], in: ders.: Irodalom, történet, írás [Literatur, Geschichte, Schreiben], Budapest 1995, S. 17–55, hier S. 42f, v. a. die Ausführungen zu Péter Bod). 2 Horváth, A magyar irodalom, S. 17f.
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Literaturkunde‘) von 1922, der diesem zugrunde liegt, die Kategorie des „literarischen Grundverhältnisses“ einführen wird, die er auf die vermutlich konstantesten Elemente (auf das bloße Vorhandensein von Schriftstellern, Lesern und Werken) reduziert. Der andere Widerspruch der Konzeption liegt darin, dass – wie József Szili unlängst überzeugend dargestellt hat – das Muster der historischen Verengung der Literaturbegriffe die Möglichkeit der geschichtlichen Kontinuität in Frage stellt, zumindest was den Kanon der zu verschiedenen Zeiten die Literatur definierenden Texte betrifft, sodass dadurch auch das Kriterium der bewussten Bezugnahme auf die Tradition gefährdet wird.3 Die – wie sich später herausstellen wird – wichtigste Voraussetzung für das „Grundverhältnis“, die der Schriftlichkeit bzw. der schriftlichen Aufzeichnung, dient für Horváth vielleicht gerade dazu, diese Gefahr zu entkräften. Die Grundlage der ganzen Konzeption von A magyar irodalom fejlődéstörténete liegt in dieser Hinsicht in der Unterscheidung zwischen den konstanten und geschichtlich variablen Komponenten von „Literatur“: In letzteren wird gerade die Relativität des Literaturbegriffs sichtbar (und dadurch Horváths berühmte Vorschrift der „sachlichen Treue“, die die universale Geltendmachung einzelner Literaturbegriffe untersagt, verständlich), die ersteren sind dagegen schlicht „die äußersten Voraussetzungen jeder Art von Literarizität“, hierher gehören die Komponenten, ohne die kein Begriff von Literatur überhaupt existieren könnte und die Horváths zweites literaturgeschichtliches Gebot, das Prinzip der „Eigengesetzlichkeit“ von Literatur, erforderlich machen: Dass Literatur überall und jederzeit entstehen konnte, dazu brauchte es einen, der etwas schrieb, und einen, der das las. Es brauchte Schriftsteller, schriftliches Werk und Leser. Die geistige Beziehung von Schriftsteller und Leser durch die Vermittlung schriftlicher Werke: das konstante Wesen von Literatur könnte kaum auf eine Grundlage zurückgeführt werden, die abstrakter, breiter und zugleich wahrer wäre.4
Unmittelbar danach wird auch klar, dass das eigentlich Neue an dem auf diese Weise definierten Grundverhältnis für Horváth selbst darin lag, dass dadurch die andere Seite des zugrunde liegenden kommunikativen Schemas, das Publikum, miteinbezogen wird: Dieser, meistens zur „soziologischen“ Orientierung verein3 József Szili, A magyar irodalom fejlődéstörténetének apóriái [Aporien der Entwicklungsgeschichte der ungarischen Literatur], in: András Veres (Hg.), Az irodalomtörténet esélye. Irodalomelméleti tanulmányok [Die Chance der Literaturgeschichte. Literaturtheoretische Aufsätze]. Budapest 2004, S. 45–62, hier 50–58; vgl. József Szili, Az irodalomfogalmak rendszere [Das System der Literaturbegriffe], Budapest 1993, S. 180–182. 4 Horváth, A magyar irodalom, S. 62.
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facht gefeierte oder – wie von Mihály Babits5 – verurteilte Schritt scheint zumindest wichtiger zu sein als die vermittelnde Komponente dieser Definition, die aus der Perspektive späterer Kommunikationstheorien vielleicht zu verschwommen erscheinen kann. Horváth spricht von einer „geistigen Beziehung“, die von schriftlichen Werken aufrechterhalten wird, und dies, das Kriterium der Schriftlichkeit, ist das einzige Moment des Grundverhältnisses, dem er die Abwehr aller Bedrohungen zutraut (seien sie – profan formuliert – das Rauschen des Kanals, die Unermittelbarkeit des Codes oder – gehobener – der Bruch der Tradition), die die ununterbrochene Vermittlung gefährden könnten. Schnell wird klar, dass mit „Schrift“ in diesem Sinne vielmehr Aufzeichnung oder Speicherung überhaupt gemeint ist (Horváth zählt auch mit dem Phonographen aufgenommene Texte dazu), jedoch – da er Oralität, genauer die mündliche Speicherung oder Überlieferung in einer seit langem umstrittenen Geste ausschließt6 – eben doch keine bloße Speicherung, sondern technische Aufzeichnung, die die Erhaltung und Übermittlung von Texten in unveränderter Form ermöglicht. Im Falle der oralen Überlieferung sei dies höchstens als „Ziel“ oder Absicht zu betrachten,7 was in der Tat als ein Mittel zur Optimierung des Signal- Rausch-Abstandes verstanden werden kann. Aus den in dieser Hinsicht relevantesten Stellen der Werke A magyar irodalom fejlődéstörténete und A magyar irodalmi műveltség kezdetei (‚Die Anfänge der ungarischen literarischen Bildung‘), die sich vor allem auf István Hajnals Arbeiten zur Geschichte der Schrift stützen, wird deutlich, dass Schriftlichkeit für Horváth nicht von Anfang an, sondern erst ab einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung imstande ist, Literatur zu produzieren, z. B. von dem Moment an, in dem sie vom kirchlichen Schrifttum, von der Urkundenliteratur und der Latinität – d. h. von der angenommenen symbolischen Funktion, die die Anfänge der Schriftlichkeit bestimmt – unabhängig wird, wo sie nur sich selbst speichern kann, da sie hier „noch an ihrem spezifischen Inhalt haftet“; also von da an, wenn Schrift als eine „eigenständige technische Fähigkeit an und für sich betrachtet“ werden kann, die „für die Festlegung jeder Art von Texten dienlich“, also „ein rein formales Instrument“ ist.8 Diese Entwicklung wird im Grunde genommen als die eigenartige Ausdifferen5 Mihály Babits, Szellemtörténet [Geistesgeschichte], in: ders.: Esszék, tanulmányok [Essays, Aufsätze], Bd. 2, Budapest 1978, S. 299–319, hier S. 309. 6 Siehe Andor Tarnai, Előszó az 1988. évi kiadáshoz [Vorwort zur Ausgabe von 1988], in: János Horváth, A magyar irodalmi műveltség kezdetei. Szent Istvántól Mohácsig [Die Anfänge der ungarischen literarischen Bildung. Vom Heiligen Stephan bis Mohács], Budapest 1988, S. I–XII, hier S. VIII–X. 7 Horváth, A magyar irodalom, S. 73. 8 Ebd., S. 77f, siehe János Horváth, A magyar irodalmi műveltség kezdetei. Szent Istvántól Mohácsig [Die Anfänge der ungarischen literarischen Bildung. Vom Heiligen Stephan bis Mohács], Budapest 1988, S. 16f.
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zierung von Schrift als Technik dargestellt, die erst dann Literatur schafft, wenn ihre Funktion nur noch zur Festlegung oder Speicherung dient und wenn sie fähig wird, wirklich alles aufzuzeichnen. Dieses Muster der Ausdifferenzierung von Schrift ist in Horváths Vision der Entwicklungsgeschichte an unzähligen Stellen zu erkennen: Den eigentlichen Anfang von Literatur beschreibt er z. B. als die Abtrennung der Literatur von subliterarischen Bereichen (was als eine Abkopplung der Schriftlichkeit von der Oralität zu verstehen ist); die Ablösung der Schriftlichkeit von ihrer Gebundenheit an eine bestimmte Sprache führe zur Entstehung der ungarischsprachigen Literatur; der historische Beginn der Lyrik werde durch die Abgrenzung des geschriebenen vom gesungenen Gedicht festgelegt usw.9 Das formative Moment von Literatur ist jenes der Ab- oder Einschreibung selbst, da in Horváths Auffassung jedes „Produkt“ der Volksdichtung in den literarischen Verkehr gelangen kann, von dem Augenblick an, da eine seiner Varianten durch Abschrift festgelegt wird10. Zwar sei hier auch mit der verkehrten Richtung, dem „Abstieg“ oder dem „Herabsickern“ der Kunstdichtung ins populäre Register zu rechnen (das auf der Hand liegende Paradigma hierfür liefert die durch ständige Manuskriptabschriften vereinfachte, in Oralität und zum kollektiven Eigentum niedersinkende Literatur), diese spielt eher nur als eine Möglichkeit des Zurückfindens zur „alten Poesie“ eine (literatur-)geschichtliche Rolle11. Die für Horváth selbstverständliche Erklärung weist einerseits auf das Fehlen der schriftlichen Archivierung hin (die einen totalen Traditionsbruch verhindern könnte), andererseits auf das literarische Bewusstsein, „das Volksdichtung grundsätzlich für außerliterarisch hielt“. Der dritte Grund für den Ausschluss oraler Literatur ist mindestens ebenso wichtig: Nämlich, dass das „Vermittlungsmaterial“ des Grundverhältnisses (das Horváth, in Anführungszeichen, „Werk“ nennt) in der mündlichen Literatur kaum konstant bleibt, dass es nicht nur von einem einzigen – hier sogar nur postulierten – Verfasser, sondern von seinem Publikum mitgestaltet ist.12 Was daraus am selbstverständlichsten folgt, ist, dass die mündliche Kommunikation das grundlegende Schema des Grundverhältnisses stören muss, da sie keine eindeutige Unterscheidung zwischen „Schriftsteller“ und „Leser“ zulässt und dadurch auch die unvermeidliche Bedingung der „Vermittlung“ abschwächt. Die Vermittlung als solche scheint zugleich eine Bedingung für die Entstehung des literarischen Bewusstseins zu sein: Wird in der oralen Kultur das Werk von der Gemeinschaft erzeugt, wodurch höchstens eine „vegetative Kollektivität“ zustande kommen kann, so ist es in der schriftlichen Kultur das Werk, das Publikum und/ 9 10 11 12
Horváth, A magyar irodalom, S. 74, 83, 104f; Horváth, A magyar irodalmi műveltség, S. 9. Vgl. Horváth, A magyar irodalom, S. 64, 74. Siehe ebd., S. 110, 273f; Horváth, A magyar irodalmi műveltség, S. 9. Horváth, A magyar irodalom, S. 63.
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oder Gemeinschaft erschafft („eine Kollektivität, die der genetischen Selbstkenntnis fähig ist“), was – wie bereits festgestellt werden konnte – dann als Kennzeichen für das Vorhandensein des literarischen Bewusstseins fungiert.13 Ferner gibt es geschichtliche Vermittlung nur durch Schrift: Nur im Falle ihrer schriftlichen Aufzeichnung gliedert oder schichtet sich Tradition in ihrer vielfältigen Originalität (literarische Tradition ist „konservierende Ablagerung“), da z. B. die Wiedereinführung vergessener Texte erst durch Schrift möglich wird, und es ist wiederum die Schriftlichkeit, die auch der verspäteten Rezeption von literarischen Werken – Horváths Beispiel ist die Rezeptionsgeschichte von József Katonas Nationaldrama Bánk bán (Banus Bank) – literaturgeschichtliche Bedeutung zukommen lässt.14 Das Grundverhältnis zwischen Schriftsteller und Leser ist zugleich immer ein historisches, d. h. das Grundverhältnis wird von dieser Dimension (und nicht von der horizontalen Achse zwischen Autor und Leser) getragen. Die technischen Medien und Bedingungen der Vermittlung (von den Möglichkeiten von Vertrieb oder Vervielfältigung bis zur Zusammensetzung des Lesepublikums, den Gattungskonventionen und sogar der Sprache!) werden von Horváth – anders als die Aufzeichnung an sich – unter die „unbeständigen“ Momente gerechnet. Hierher gehört sogar die „kollektive geistige Form“, die all dies zusammenfasst und aus zwei grundsätzlichen Komponenten aufgebaut ist: dem literarischen Geschmack und dem literarischen Bewusstsein15. Horváth beschreibt deren Entstehung wieder als eine Art Ausdifferenzierung, stellt jedoch sogleich fest, dass in den beiden der Gipfel, die „letzte Resultante“, der Entwicklung zum Vorschein kommt: „Die Zwillinge literarischer Geschmack und literarisches Bewusstsein sind die letzten Variablen im System der Entwicklung, wie Edelstein und Fassung am obersten Punkt eines Ringes“, welcher Ring den ewigen „Kreislauf“ des Einzelnen und des Kollektiven (letztendlich also das Grundverhältnis) darstellt. Diese kollektive geistige Form (die sich in Horváths Auffassung im Kanon des sog. „nationalen Klassizismus“ äußert) ist offenbar die „ethische Gemeinschaft“, auf die das literarische Bewusstsein begründet ist: „ethische Gemeinschaft in Formen der literarischen Kultur“, „das zu jeder Zeit geltende Moment [...] der Zusammenschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart“ (in diesem Zusammenhang ist es durchaus konsequent, dass vom „literarischen Bewusstsein“ erst von dem Moment an gesprochen werden kann, da das Literaturkriterium des „nationalen Inhaltes“ zur Geltung kommt). In der Terminologie, die das Grundverhältnis beschrieb, hieße diese Gemeinschaft dann eine Traditionsgemeinschaft, eine durch das in seiner Gestalt konstante Werk, durch den „literarischen Bestand“ erschaffene Gemeinschaft, die ihre Kontinuität statt aus relativen Litera13 Ebd., S. 64, 69. 14 Ebd., S. 64f. 15 Vgl. ebd., S. 68f.
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turbegriffen aus der Konstanz des „Werkes“ bezieht und immer wieder auf diese Konstanz zurückgreift. Theodor Thienemann, der – einige Jahre nach dem Erscheinen von Horváths Konzeption – im ersten Teil seiner Irodalomtörténeti alapfogalmak (1931) davon ausgeht, dass der „Objektbegriff“ von Literatur durch einen „Relationsbegriff“ ersetzt werden sollte (der also Literarizität als eine soziale Relation oder Funktion fasst), bezieht sich – neben einem obligatorischen Goethezitat – auf die Definition von Horváth16. In einem viel später verfassten Brief (bereits aber in der 2. Ausgabe des Werkes) verweist er auf das posthume Werk Poetik des deutschen Positivisten Wilhelm Scherer. Laut dem Brief soll dieser Hinweis gerade die Tatsache verdeutlichen, dass die Konzeption von Irodalomtörténeti alapfogalmak nicht auf Horváth, den einstigen Realschullehrer von Thienemann, sondern auf Scherers Bestimmung des „Haupt- und Grundverhältnisses“ zurückgeht, das die beiden Pole Dichter und Publikum verbindet. Damit wird zugleich angedeutet, dass die Quelle Horváths, der über Literaturangaben bekanntlich eher großzügig hinwegging, vielleicht ebenfalls in Scherers Werk zu entdecken sei.17 Obwohl in der Wissenschaftsgeschichte der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung von Zeit zu Zeit die Meinung auftaucht, gewisse Werke der deutschen Literaturwissenschaft vom Ende des 19. Jahrhunderts hätten Horváth, der sich in erster Linie am französischen Positivismus orientiert hat, tiefer als angenommen inspiriert,18 wurde diese Frage bislang kaum befriedigend geklärt. Sie wird auch hier nicht beantwortet und könnte vielmehr in der Aufklärung der Differenzen zwischen den beiden Auffassungen eine Rolle spielen – unter der Annahme, dass die prinzipiellen Grundlagen von Horváths und Thienemanns Überlegungen zum „Grundverhältnis“ im Kontext der europäischen Literaturwissenschaft ihrer Zeit keineswegs als altmodisch oder zurückgeblieben erscheinen. Den direkten Einfluss von Scherer angenommen, ist leicht festzustellen, 16 Tivadar Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs 1985, S. 40f. 17 György Poszler, Thienemann Tivadar levele [Theodor Thienemanns Brief ], in: Irodalomtörténet 57 (1975), S. 467–475, hier S. 472 – Zum Hinweis auf Scherer siehe Thienemann, Alapfogalmak, S. 44. Die hier angegebene Stelle ist Wilhelm Scherer, Poetik, Tübingen 1977, S. 54. Zur Frage der Wirkung von Scherer, dem die Weiterentwicklung der Literaturgeschichte zu einer Wissenschaft der „nationalen Ethik“ vor Augen schwebte, auf Horváth siehe Sándor Somogyi, Irodalomtudományunkról, múltjáról szólva, in: ders.: Gyulai es kortársai. Fejezetek egy negyedszázad irodalomtörténetéből, Budapest 1977, S. 229–363, hier S. 297; Tarnai, Előszó, S. Vllf, Kenyeres, Vázlat, S. 33 (als Horváths bezeichnende Hinweise auf die eigene Praxis der Literaturangabe siehe z. B. Horváth, A magyar irodalmi műveltség, S. 296; János Horváth, Petőfi Sándor, Budapest 1922, S. 5; K. Mihály Erdélyi, A szintézis jegyében [Im Zeichen der Synthese], in: Literatura 7 [1980], S. 389–409, hier S. 401; Tarnai, Előszó, S. V.) 18 Erdélyi, Szintézis, S. 397–403.
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dass die grundsätzliche Unterscheidung von mündlicher und schriftlicher Literatur in der Poetik, wo der Begriff des Grundverhältnisses übrigens in mehreren weiteren Zusammenhängen vorkommt, tatsächlich als signifikant auftaucht: der poetische Trieb zum Ausdruck von Gefühlen und die Beziehung von Kritik und Publikum werden ebenfalls als Grundverhältnisse der Literatur beschrieben.19 Scherer fügt jedoch gleich hinzu, dass es sich hierbei um einen „in Wirklichkeit [...] sehr relativen Unterschied“ handelt.20 Scherer begreift die Beziehung von Dichter und Publikum in erster Linie als eine ökonomische, als ein dynamisches Wechselspiel von Angebot und Nachfrage; den Beitrag der Rezeption im so aufgefassten „Grundverhältnis“ leitet er vor allem von den institutionellen und soziologischen Bedingungen der Vermittlung ab, u. a. aus dem Einfluss dieser auf die Entstehung und Gliederung des Publikums – er unterscheidet zwischen „idealem“ und „Tauschwerth“ eines Werkes, das Werk selbst erscheint als „Ware“, und es ist natürlich das Publikum, das Ware aus ihm macht.21 In diesem Zusammenhang wird klar, dass in der Poetik dem medialen Charakter dieses Verhältnisses eine wichtige Funktion zukommt, die Entstehung von Sprache wird z. B. als eine Art Optimierung des zwischenmenschlichen Verkehrs beschrieben und mit jener der Landstraßen, Eisenbahn und Telegrafie verglichen,22 wodurch jedoch vor allem die Versuche einer soziologischen Umorientierung der deutschen Literaturwissenschaft im 20. Jahrhundert vorweggenommen werden: in erster Linie Levin L. Schückings Theorie einer Soziologie des literarischen Geschmacks,23 die er in den 1910er und 1920er Jahren entwarf und die in ihrer Zeit verhältnismäßig breit bekannt war; ihre Wirkung kann auch in den geistesgeschichtlich geprägten Regionen der ungarischen Literaturwissenschaft wissenschaftsgeschichtlich belegt werden24 (in Irodalomtörté19 20 21 22 23
Siehe Scherer, Poetik, S. 55, 89. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 100. Ebd., S. 13. Levin L. Schücking, Literaturgeschichte und Geschmacksgeschichte, in: GRM 5 (1913), S. 561–577; Levin L. Schücking, Die Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. München 1923. 24 Zu Scherer und Schücking bzw. Scherer als Vorläufer der Rezeptionsästhetik siehe Gunter Reiss, Einleitung. Germanistik im Kaiserreich, in: Wilhelm Scherer, Poetik, Tübingen 1977, S. I–XLII, hier S. XVIIf, XXIf. Daraufhin erscheint später Scherer in der von Hans Robert Jauß entworfenen „unerkannten Vorgeschichte“ der Rezeptionsästhetik (Hans Robert Jauß, Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte. Konstanz 1987, S. 26). Zu Thienemann als ungarischem Vorboten der Rezeptionsästhetik siehe Előd Halász, Thienemann Tivadar (1890–1985), in: Irodalomtörténet 67 (1985), S. 1026–1030, hier S. 1028. Laut György Poszler handelt es sich bei Thienemanns Ansatz um eine „Anwendung“ von Horváths Konzeption, die mit der Einbeziehung von Schückings soziologischem Aspekt bereits über den geistesgeschichtlichen Horizont hinausreicht (vgl. György
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neti alapfogalmak ist jedoch nur ein eher unbedeutender Hinweis auf Schücking zu finden). Obwohl er die Definition von Literatur als Ware verwirft,25 führt Schücking den Geschmack, der die literarische Produktion bestimmt, konsequent, ja ausschließlich auf die Entwicklung von Publikum und Vermittlung zurück. Solch eine soziologische Sichtweise wäre für Horváth kaum akzeptabel (die Diagnose der modernen Zerstückeltheit des Publikums würde oder könnte den entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt des Publikums als einer von schriftlichen Werken zustande gebrachten Gemeinschaft kaum bestätigen), für Thienemann aber umso mehr, da die Konzeption von Irodalomtörteneti alapfogalmak die Entwicklung des Grundverhältnisses gerade aus den Veränderungen der einzelnen Komponenten der Vermittlung fassen möchte. Hier wäre also festzustellen, dass von den beiden grundsätzlichen medialen Leistungen des „Grundverhältnisses“ – Aufzeichnung und Vermittlung – für Horváth erstere, für den Verfasser von Irodalomtörténeti alapfogalmak letztere den wahren Ausgangspunkt liefert. Obwohl Thienemanns Modell einen höheren Grad an kommunikationstheoretischer Komplexität erreicht zu haben scheint (da seine Perspektive den Umständen, die das Vorhandensein des Verhältnisses stören oder verhindern könnten, mehr Aufmerksamkeit schenken muss), bedeutet dies keineswegs, dass damit Horváths Bestimmung des „Grundverhältnisses“ widerlegt ist. In Thienemanns Entwicklungsschema, das in drei Phasen aufgegliedert ist (aber auch die Übergänge zwischen den einzelnen Phasen mehr als Horváth in Betracht zieht), werden die geschichtlichen Erscheinungsformen des Grundverhältnisses ebenfalls durch den Bezug auf die zentralen Kategorie des „Werkes“ dargestellt, und zwar je nach dem Grad der Konstanz oder Nachhaltigkeit seiner Aufzeichnung. Im so aufgestellten Schema impliziert der „Text in der Phase der Gestaltung“, typisch für die Literatur der Oralität, das eigentliche Fehlen eines Autors (oder zumindest, mit Thienemanns Ausdruck, seine „Unpersönlichkeit“), die Untrennbarkeit von Autor, Darsteller (Rezitator) und sogar Publikum sowie die Anwesenheit des letzteren; in der handschriftlichen Literatur setzt „der sich festigende Text“ die untrennbare Nähe der Positionen von Autor und Kopisten sowie ein bestimmtes, eingrenzbares und „nahes Publikum“ voraus; im Zeitalter des „Buchdrucks“ („des konstanten Textes“) schließlich ist der Autor (wie auch der Rezipient, der hier als Teil des „fernen Publikums“ begriffen wird) individualisiert. In Thienemanns Darstellung setzt der hypothetische Anfangspunkt der Entwicklung eine enge Verbindung zwischen Poszler, Szerb Antal, Budapest 1973, S. 102f, 161). Der Begriff bzw. seine Anwendung bei Thienemann wird ebenfalls aus „der deutschen bürgerlichen Literatursoziologie“ abgeleitet von Borbála H. Lukács, Szellemtörténet és irodalomtudomány [Geistesgeschichte und Literaturwissenschaft], Vázlatok a Minerva köréből, Budapest 1971, S. 103f. 25 Schücking, Soziologie, S. 70.
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dem Wort und dem durch ihn bezeichneten Gegenstand voraus,26 die auch an frühen oder primitiven Formen der Schriftlichkeit, z. B. Inschriften, noch zu erkennen ist (die Argumentation läuft hier also durchaus parallel zu Horváths Ausführungen zur Rolle der „symbolischen“ Funktion der frühen, lateinischen Schriftlichkeit in der ungarischen Literaturgeschichte). In der Abfolge von Veränderungen zeichnen sich einerseits die allmähliche Individuation der kommunikativen Faktoren, andererseits das Muster immer abstrakter werdender Formen der Kommunikation ab. Dazu kommt eine weitere Regel, nämlich dass die Zunahme von Individualität den Rückgang von Vermitteltheit (genauer: die Reduktion der Vermittlungsfunktionen) mit sich bringt,27 oder, anders formuliert, dass die Zunahme der physischen Distanz (die Entfernung von Autor und Publikum) durch die Abschwächung der technischen Vermittlung oder Vermitteltheit (die Ausschaltung der dazwischenkommenden und „störenden“ Vermittler: Darsteller, Rezitator, Abschreiber) ausgeglichen wird. So schließt zwar Mündlichkeit bei Thienemann ähnlich wie bei Horváth grundsätzlich Literatur aus (um diesen Ausschluss zu rechtfertigen, wies Horváth u. a. auf den geschichtlichen Ursprung des Begriffs Literatur hin), und er stellt an mehreren Stellen fest, dass „es ohne Schrift keine Literatur gibt“ (was ihn jedoch nicht daran hindert, an einer dieser Stellen, in Anführungszeichen, von „ungeschriebener Literatur“ zu sprechen)28, dennoch sieht er die eigentliche Leistung des Buchdrucks als optimale Bedingung für die technische Aufzeichnung von Texten nicht oder zumindest nicht in erster Linie in der erhöhten Möglichkeit der Festsetzung von Textformen (derartige Möglichkeiten sind – durch poetische Mnemotechnik, Rhythmik oder Gesten – bereits in der mündlichen Literatur gegeben), sondern darin, dass die Hindernisse der Vermitteltheit durch den Buchdruck auf ein Minimum reduziert werden. Thienemann bezieht sich später sogar auf das Radio als eine noch effektivere maschinelle Aufzeichnungstechnik: „Ein noch treuerer Übermittler [im Vergleich zum Buchdruck] könnte nur die Maschine sein, das Radio, das als Ergebnis einer langen Entwicklung den Vermittler ganz ausschaltet, die Stimme vom Sprecher abschält und unmittelbar zum unsichtbaren Hörer weiterleitet.“29 Darin könnte die Erklärung dafür liegen, dass Thienemann – ein bedachtsamer Anhänger der Schriftkritik Nietzsches, Wagners und des diktierend schaffenden Goethe30 – sich viel intensiver als Horváth mit 26 27 28 29
Thienemann, Alapfogalmak, S. 49. Ebd., S. 212. Ebd., S. 48, 70. Ebd., S. 194. – In einem späteren Brief erwähnt er sogar das Fernsehgerät unter „den technischen Produktionsmitteln von Literatur“ (Béla Lengyel, Thienemann Tivadarról [Über Theodor Thienemann], in: Kritika N. F. 18 (1989), S. 13–14, hier S. 14) 30 Vgl. Thienemann, Alapfogalmak, S. 39f, 63, 83, 187–189.
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den kompensatorischen oder andersartigen Formen von Wiederkehr, Weiterleben oder Simulationstechniken der Mündlichkeit in von Schriftlichkeit bestimmten Kulturen beschäftigt.31 Er hält z. B. daran fest, dass „es ohne unmittelbare Oralität keine künstlerische Prosa gibt“; weist auf die spezifische Leistung der der mündlichen Rede untergeordneten Schriftlichkeit in den Prosawerken von Luther oder Péter Pázmány hin; stellt die Überlegenheit der zum Zweck der Vorlesung verfassten Texte gegenüber den nur durch Zufall schriftlich aufgezeichneten Bruchstücken der oralen Überlieferung fest; an anderer Stelle denkt er über die kulturelle und künstlerische Funktion der Simulation von Mündlichkeit in Luthers „Tischreden“, bei Goethe und Eckermann und genauso in den Interviews der modernen Tagespresse nach.32 Überhaupt ist allgemein feststellbar, dass die Übergänge der verschiedenen Entwicklungsphasen in Thienemanns Darstellung öfters den kompensatorischen oder andersartigen Funktionswandel der einzelnen, um ihre frühere Rolle gebrachten Faktoren oder die Umbildung der Beziehungen zwischen diesen mit sich bringen, die bei Horváth höchstens als Fälle des „Niedergangs“ in niedrigere kulturelle Register in Betracht kommen: Für eindeutige Belege bei Thienemann sei hier nur auf seine Überlegungen zum Fortleben der handschriftlichen Literatur in literarischen Briefwechseln oder noch mehr zur Rückkehr der Inschriften in Form des gedruckten Buchtitels hingewiesen.33 Der wohl wichtigste Unterschied, der sich zwischen den beiden Darstellungen des „Grundverhältnisses“, um die hier es in erster Linie geht, zeigen kann, hat ebenfalls damit zu tun, dass Thienemann besonderen Nachdruck auf die Vermittlung (und freilich Konstellationen der Unvermitteltheit) legt. Wie erwähnt, sah Horváth den wichtigsten Ertrag des Begriffs des „Grundverhältnisses“ darin, dass es die Trennung zwischen konstanten und geschichtlich variablen Komponenten des literarischen Prozesses ermöglicht. Erstere bilden das Grundverhältnis selbst, letztere sind nach Horváth als die sprachlichen, technischen, sozialen, stilistischen, geschmacksgeschichtlichen usw. Träger und Realisierungen des Grundverhältnisses aufzufassen. In Thienemanns Modell wird jedoch mehrfach belegt, dass es Fälle geben kann, wo es unmöglich wird, die beiden Seiten klar voneinander zu trennen: So ist die Funktion des Autors in der von Inskriptionen bestimmten medialen Konstellation kaum von der Materie, die die Schrift trägt, unabhängig oder trenn31 Irodalomtörténeti alapfogalmak scheint gerade in diesem Zusammenhang Horváths Konzeption überlegen zu sein, zumindest nach Halász (siehe Halász, Thienemann, S. 1027). Nach der geschmacklos vulgärmarxistischen Monographie zur Geistesgeschichte in Ungarn zeige sich hierin hingegen nichts anderes, als dass – im Gegensatz zu Horváth – Thienemann „einen älteren, amorphen Literaturbegriff“ geltend gemacht hat (Lukács, Szellemtörténet, S. 105). 32 Thienemann, Alapfogalmak, S. 40, 68, 122, 185. 33 Ebd., S. 139f, 149.
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bar, während es im Falle der handschriftlichen Vervielfältigung das Werk ist, das kaum vom konkreten Träger oder von Abschriften abgesondert werden kann.34 Die vollständige Unterscheidung wird erst unter der Bedingung der gedruckten Schriftlichkeit, d. h. der konstanten oder definitiven Textform möglich, und also wird das, was für Horváth als die übergeschichtliche Konstante von Literatur erscheint, in der Darstellung Thienemanns wiederum erneut als Funktion eines besonderen Medien- oder Literatursystems entblößt und setzt sich dadurch den Gefahren der geschichtlichen Rückprojektion aus, auf die Horváth die Methodologie seines Fachs ununterbrochen aufmerksam machen wollte. Ebenfalls auffallend sind die Unterschiede, die die andere wesentliche mediale Bedingung des Grundverhältnisses, die Aufzeichnung, betreffen. Das ganze System von Horváth beruht, wie sich herausstellte, auf dieser Grundlage, die – unter anderem, vielleicht sogar vor allem – für die Möglichkeit des ständigen Rückschlusses auf die „Werke“, für die Vermittlung der Tradition sorgt. Auf die Frage, wie diese Leistung bei Thienemann dargestellt ist, hält Irodalomtörténeti alapfogalmak den Begriff der „Dauerhaftigkeit“ oder „Unvergänglichkeit“ (maradandóság) parat. Diese hat ihre hauptsächliche Funktion in der Vollbringung oder im Vollzug von Individualisierung, obwohl eine ihrer wesentlichen Leistungen auch für Thienemann in der Hervorbringung des/eines Publikums liegt. Das gedruckte Buch monumentalisiert ähnlich wie Inschriften, durch das Buch wird aber nicht bloß unpersönlicher Inhalt, sondern vielmehr Individualität verewigt.35 Andererseits liegt im konstanten Text die eigentliche Möglichkeit für das literarische Kunstwerk, „bleibende Vollkommenheit“ anzustreben, die – wenn sie nur erreicht ist – wie in Thienemanns Beispiel (mit Goethes Faust geraten alle früheren Faustdarstellungen in Vergessenheit, das Werk „ragt als ein beinahe unbezwingbares Hindernis über den späteren“) gerade zur Verblassung der Tradition führt: „Es knüpft an die Kontinuität der Tradition an, aber nicht wie das mittelalterliche Manuskript, um diese Tradition zu bewahren, sondern um sie durch die eigene Vollständigkeit in den Schatten zu stellen.“36 Gegen Ende von Thienemanns Werk häufen sich die Hinweise darauf, dass unter den Bedingungen des modernen Buchdrucks durch die Festlegung von Texten die Verewigung oder gar Unsterblichkeit des individuellen Autors erreicht werden kann, mehr noch, dass der Dichter erst durch die enge Verbindung von Autor und bleibendem Werk die Möglichkeit bekommt, sich selbst auszudrücken; „der Mensch entfaltet sich durch die Schrift“.37 Diese Überlegungen stehen jedoch kaum in grundsätzlichem Widerspruch zu Horváths Modell der Entwicklungsge34 35 36 37
Ebd., S. 73, 89. Ebd., S. 197f. Ebd., S. 148. Ebd., S. 208, vgl. S. 206.
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schichte. Andererseits kann man ebenso wenig vom restlosen Einklang der beiden Konzeptionen sprechen: In Thienemanns Darstellung des literarischen Individuums im Zeitalter des Buchdrucks gibt es keinen Unterschied mehr zwischen geschriebener literarischer Rolle und wirklicher Persönlichkeit38 (Horváths berühmte Konzeption des literarischen Rollenspiels in seiner Petőfi-Monografie von 1922 idealisiert gerade die dichterische Überwindung solcher Rollen). Die zunehmende Entfernung wird – hier im völligen Widerspruch zu Schücking – als die Einsamkeit des Autors39 bzw. durch die Beschreibung eines durch Individualisierung zergliederten Publikums gedeutet, und Thienemann äußert hier sogar seine Zweifel daran, ob der Rezipient in der Entwicklung der modernen Literatur überhaupt eine Rolle spielen kann. Wenn es um die Kräfte geht, die aus dem atomisierten Publikum Gemeinschaft schaffen würden (in Horváths „Entwicklungsgeschichte“ lag der höchste Grad in der „kollektiven geistigen Form“, die sich im literarischen Geschmack und Bewusstsein äußert), weicht Thienemann in den letzten und wohl schwächsten Kapiteln von Irodalomtörténeti alapfogalmak zu literatursoziologischen Kategorien des den Massenbedarf bedienenden Autors („in denen der Leser stärker verankert ist als der eigentliche Autor“) oder der Mode zurück, denen – nicht besonders überzeugend – ein „literarisches Verhältnis“ entgegengehalten wird, das von einem „literarischen Führer“ gesteuert ist und sich zum „paedagogicum“ wandelt.40 Während Horváths A magyar irodalom fejlődestörténete ihre Königskategorie im „nationalen“ oder „ungarischen Klassizismus“ festlegt, in welchem sich die „kollektive geistige Form“ der ungarischen Literatur entfaltet hat und die vollständige Harmonie der nationalen und künstlerischen Literaturkriterien erreicht wurde, liegt der Höhepunkt der in Irodalomtörténeti alapfogalmak entworfenen Entwicklung (zusammen mit oder neben Goethe, der über jeder Entwicklung thront) in der Romantik. Gegen den Schluss seines Werkes zur Entwicklungsgeschichte, in dem er die Kategorie des „Klassizismus“ erörtert, stellt Horváth fest, dass dieser keinen Gegensatz zum „Romantizismus“ darstellt, sondern ihn – als „geschmackliche Resultante aller Entwicklungen der ungarischen Literatur bis dahin“ – mit einschließt. Dennoch stellt hier die Romantik letzten Endes die frühere Entwicklungsphase 38 Ebd., S. 208f. 39 „Je gewaltiger sich um ihn die Publizität des gedruckten Buchstabens ausbreitet, umso mehr zieht sich der Schriftsteller ins eigene Schneckenhaus und die ewige Einsamkeit der schaffenden Seele zurück. Wenn er die größtmögliche Öffentlichkeit meint, ahnt er den Leser in einer unendlich weiten Entfernung, schreibt für sich selbst, hört nur auf die eigenen Worte, ist einsam, als ob er vor dem Mikrophon stünde und seine Worte in die ferne Unendlichkeit, an Unbekannte richtete.“ (Thienemann, Alapfogalmak, S. 232) Dazu, ablehnend, siehe Lukács, Szellemtörténet, S. 101. Nach Schücking gebe es ohne das Zutun des Publikums keine geniale künstlerische Leistung (vgl. Schücking, Soziologie, S. 72–77). 40 Thienemann, Alapfogalmak, S. 234, 239.
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eines „internationalen Klassizismus“ dar.41 In Thienemanns Werk taucht diese Unterscheidung der beiden literaturgeschichtlichen Reflexionsfiguren bereits am Anfang unter umgekehrtem Vorzeichen auf, paradoxerweise an einer Stelle, wo er in der Erklärung seiner Auffassung einer „geistige[n] Entwicklung“, die dem von Thienemann abgelehnten „organischen“ Entwicklungsmuster entgegengesetzt wird, darauf zu sprechen kommt, dass es in der historischen Welt des Geistes „keine Blüte- und Dürrezeiten gibt“: Das Romantische liege gerade in dieser Auffassung, während die „organische Entwicklung“ nach Thienemann unter die Ideen des Klassizismus falle.42 In Hinsicht auf das „Grundverhältnis“ sind diese Unterschiede viel geringer, Klassizismus gilt hier als eine Art Vorbereitungsphase für die Romantik. Letztere gilt Thienemann als Paradigma von „Metaliteratur“, von Literatur über Literatur, und ist als eine Art unüberwindlicher Höhepunkt zu betrachten: ,,[D]ie deutsche Romantik stieg in vorher nie erreichte Höhen literarischen Bewusstseins hinauf.“ Dies zeige sich an einem erhöhten Grad von Reflexivität und der völligen Selbstbezogenheit der literarischen Kommunikation sowie an ihrer dichten Abgrenzung von Wirklichkeit:43 an Formen der Selbstspiegelung in Vorwörtern und Pseudovorwörtern, an romantischer Ironie, am Programm der sich selbst zu ihrem einzigen Ziel erklärenden Literatur, an der weltfremden „abstrakten Welt der Buchstaben“ und am „neuen Kult des Lesens“ (der u. a. an der Konjunktur der Hermeneutik zu erkennen wäre!). Das ist die höchstmögliche Ebene der Unabhängigkeit von Literatur: nicht im Sinne einer „Geschmacksgattung“ oder einer nationalen Literatur, die zu sich selbst und ihrem Publikum findet wie bei Horváth, sondern im Sinne der schriftlichen Kommunikation selbst. Wie breit die Kluft zwischen den beiden Konzeptionen in dieser Hinsicht auch sein mag, wie oft auch immer Thienemann auf die These zurückkommt, das Eigentliche der „geistigen Entwicklung“ liege darin, dass sie unabschließbar ist und unorganischen Mustern folgt, das Muster seiner Geschichte ist von dem Horváths weit weniger entfernt. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, um festzuhalten, dass eine der Grundlagen von A magyar irodalom fejlődéstörténete, ja von Horváths Auffassung von Literatur überhaupt, in der historischen Diagnose zum Vorschein tritt, die Literatur der letzten Jahrzehnte sei unfähig gewesen, den (ersten) Höhepunkt des „nationalen Klassizismus“ zu erreichen oder zu wiederholen, mehr noch, sie habe die von diesem Paradigma verkörperte „kollektive geistige Form“ in ihrem Wesen angegriffen. An einer Stelle dient der Befund eines neuerdings einsetzenden „unnationalen Zeitalters“ als Beweis dafür, dass das „nationale“ Literaturkriterium
41 Horváth, A magyar irodalom, S. 346. 42 Thienemann, Alapfogalmak, S. 25. 43 Ebd., S. 151f, 170, 174, 178f.
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nicht zu den konstanten Bedingungen von Literarizität gehört.44 Es gibt, wenn auch nicht in solch eindeutiger Form, Argumente dafür, dass Thienemanns Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Grundverhältnisses, die auf den Begriff der geistigen „Entwicklung“ begründet ist,45 nicht grundsätzlich dem narrativen Schema von Horváths „Entwicklungsgeschichte“ widerspricht. Es ist unschwer zu erkennen, dass für Thienemann – wie übrigens auch in Scherers Geschichte der deutschen Literatur, die von demselben Oskar Walzel fortgesetzt wurde, der sie 1910 wegen ihres „Evolutionismus“ eher zurückhaltend aufgenommen und (im Gegensatz zu Thienemanns Urteil) als „romantisch“ beschrieben hatte46 – die von der Gegenwart her gesehen vorletzte Epoche (oder Entwicklungsphase) den Höhepunkt bedeutet bzw. die vollständig entfaltete Form des grundlegenden Konzeptes von Literatur trägt. Thienemanns Befund der Entwicklung nach der Romantik weist vor allem darauf hin, dass die Trennung der modernen Presse- und Buchkultur, die Verselbstständigung der „Zeit-Presse“ (idő-sajtó) die „selbstbezügliche“ Schriftlichkeit der klassisch-romantischen Literatur gleichsam zurückdreht oder zumindest kompensiert.47 In der Presseliteratur, die sich der jeweiligen Gegenwart, der ständig verfließenden Zeit anpasst und immer wieder umgestaltet, „kommt das zum Leben, was in der Romantik postuliert wurde, eine lebendige Papierpersönlichkeit“, die die Funktion der Individualität des modernen Autors in den Hintergrund drängt und durch eine neue Unmittelbarkeit ersetzt (indem sie z. B. das Fehlen von Oralität in der modernen Gattung des Interviews kompensiert), womit sie – zusammen mit den neuen technischen Massenmedien sowie dem literarischen Programm des Naturalismus – auf den Einfluss der „gegen-literarischen Kräfte“ 44 Horváth, A magyar irodalom, S. 59. 45 In Thienemanns Diskurs „ist Entwicklung (er versteht darunter Wandlung!) nicht unbedingt Fortschritt (worunter er Entwicklung versteht!). Sie bewegt sich nicht nach oben, immer höher, sondern immer fort, auf der gleichen Ebene“ (György Poszler, A könyv margójára [An den Rand des Buches], in: Tivadar Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs 1985, S. 269–272, hier S. 270). 46 Oskar Walzel, Analytische und synthetische Literaturforschung, in: ders., Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Heidelberg 1968, S. 3–35, hier S. 10–15; Oskar Walzel, Wilhelm Scherer und seine Nachwelt, in: ZfdPh 49 (1930), S. 391–400, hier S. 296–299 – Zu Thienemanns Meinung über die „antiromantischen“ Tendenzen bei Scherer siehe Tivadar Thienemann, Irodalomtörténet [Literaturgeschichte], in: Bálint Hóman (Hg.), A magyar történetírás új útjai [Neue Wege der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung], Budapest 1931, S. 53–86, hier S. 66–67. Über die Widersprüchlichkeiten von Scherers Auffassung der Literaturgeschichte aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive siehe Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 222–225. 47 Thienemann, Alapfogalmak, S. 182–192.
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aufmerksam macht, die geradezu zur „allmählichen Auskühlung der Idee von Literatur“ führen dürften. Für Horváth bringt Modernismus den Zerfall der Einheit von nationaler und künstlerischer Originalität mit sich, in Irodalomtörténeti alapfogalmak ist es das Medium Literatur, das zum Ende des 19. Jahrhunderts anscheinend sich selbst überlebt hat. Die Parallelen zwischen den beiden Auffassungen von „Entwicklung“, die hier trotz aller konzeptionellen Unterschiede der Fragestellung zum Vorschein treten, erklären sich dadurch, dass – wie sich gezeigt hat – keiner der beiden ganz ohne die kompensatorische Figur der organischen Entwicklung auskommt. Die Ähnlichkeiten erscheinen viel wichtiger und größer mit Hinblick darauf, dass weder Horváth noch Thienemann auf ein in vieler Hinsicht evolutionistisches, mithin unmittelbar biologisches Muster verzichten können (das ironischerweise auf die methodologische Tradition des Positivismus zurückgeht). Dies überrascht bei Horváth, dem Schüler von Brunetière, weniger, aber bei Thienemann wird die Herausbildung des Grundverhältnisses bis zum Schluss als Prozess der Ausscheidung und Aufgliederung oder vielmehr Abtrennung oder gar Ausdifferenzierung (entlang der verschiedenen Funktionen) dargestellt, und zwar nicht nur auf den umfassenden Ebenen (z. B. der Trennung von Autor und Darsteller, Autor und Schreiber, Schriftlichkeit und Mündlichkeit usw.), sondern auch im vorhin erwähnten Beispiel der geschichtlichen Abgrenzung der Tagespresse von der Literatur. In beiden Darstellungen des Prozesses spielt die Erscheinung oder Verselbstständigung der Literaturwissenschaft (oder Literaturgeschichtsschreibung) eine besondere Rolle, was vor allem in Horváths klassischer Definition einen starken Akzent bekommt, wo die Disziplin als eines der wichtigsten Kennzeichen oder gar als „Organ“ des entwickelten literarischen Bewusstseins betrachtet wird. Horváth stellt hier ganz genau fest, dass eine Wissenschaft von der Literatur (die Literatur selber entwickelt sich, „um den Prozess ihres Bewusstwerdens zu vollenden“!) eigentlich „das Organ [szerv] der genetischen Selbstkenntnis des literarischen Bewusstseins“ sein muss.48 Man wird in diesem Wort, das aus der Zeit der ungarischen Sprachreform stammt, wohl die abstrakte Bedeutungsebene ebenso mithören können wie im Wort „Organ“; der Bezug auf Ausdifferenzierung oder Aufgliederung im biologischen Sinne – Horváth spricht ja von einem „genetischen Prozess“ – dürfte trotzdem maßgeblich bleiben. Obwohl das, was Horváth hier „genetisch“ nennt, auf die geschichtliche Erkenntnis verweist, zeugt der Ausdruck auch davon, dass die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis für Horváth aus derselben Entwicklung stammen muss, die durch sie beschreibbar wird. Die Möglichkeit der Versetzung dieser Definition in den modernen wissenschaftlichen Rahmen, den die Theorie der „autopoietischen Systeme“ bietet, liegt auf der Hand: Diese Operation kann hier nicht ausgeführt wer48 Horváth, A magyar irodalom, S. 68f.
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den, würde aber vermutlich den Vorteil mit sich bringen, dass dadurch das Interpretationsschema der genetischen Entwicklung aufgelockert werden könnte, womit sich zumindest die Frage nach der Möglichkeit einer systemischen Neubeschreibung von A magyar irodalom fejlődéstörténete stellt. Horváths Definition wird auch in Irodalomtörténeti alapfogalmak zustimmend zitiert49 und das Erscheinen oder vielmehr die Ausdifferenzierung einer selbstständigen Literaturgeschichte und -theorie ähnlich wie bei Horváth auf die Entwicklung der Literatur zur Phase ihrer „Mündigkeit“ zurückgeführt.50 Literaturwissenschaft spielt also unter modernen Bedingungen eine wichtige Rolle, sie hat eine ausdifferenzierte Funktion im Grundverhältnis. In Horváths Formulierung: ,,[I]m literarischen Bewusstsein, diesem zweiten Phänomen der kollektiven geistigen Form [...] betrachtet die Literatur sich selber“.51 Da nun einerseits die Entwicklung des literarischen Bewusstseins in der Herausbildung der Literaturwissenschaft gipfelt, und andererseits – nach Niklas Luhmann – eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Entstehung von autopoietischen Systemen (d. h. Systemen, die sich ausschließlich aus ihren Bestandteilen reproduzieren) in der Fähigkeit liegt, sich selbst zu beobachten,52 liegt die Folgerung nahe, dass die Literaturwissenschaft geradezu die Bedingung für die Autonomie von Literatur verkörpern muss (oder – um es durch eine überaus irreführende Parallele auszudrücken – ist Literaturwissenschaft gar als das eigentliche Vererbungs- oder Zeugungsorgan von Literatur zu denken?). Heutzutage werden der Wissenschaft von der Literatur solche Fähigkeiten wohl in keiner Selbstbeschreibung des Fachs zugetraut; die Frage, auf welche Weise sie diese Rolle in der Auffassung von Horváth und/oder Thienemann ausübt, erscheint schon deshalb angebracht. In den auf der Hand liegenden Beispielen von Horváth und Thienemann tritt Literaturwissenschaft als eine Art Therapie auf, durch die die aus verschiedensten Gründen gestörte Autonomie des literarischen Bewusstseins wiederhergestellt werden soll. Horváth beschreibt diese höchstrangige Funktion seines Fachs in erster Linie auf negative Weise. Er begründet die Bedingung einer organischen Entwicklung, die die Autonomie von Literatur gewährleisten soll, bekanntlich auf der nationalen Identität. In seinen Streitschriften, die er noch vor der Veröffentlichung seiner Entwicklungsgeschichte A magyar irodalom fejlődéstörténete, jedoch Jahre nach der ersten Konzeption (d. h. des Aufsatzes Irodalmunk fejlődésének főbb mozzanatai 49 50 51 52
Thienemann, Alapfogalmak, S. 34. Z. B. ebd., S. 170f, 186. Horváth, A magyar irodalom, S. 67. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 64; Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Autopoietische Systeme, in: Humberto R. Maturana, Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig/Wiesbaden 1985, S. 170–235, hier S. 223f.
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[‚Wichtigste Momente der Entwicklung unserer Literatur‘, 1908]) publiziert hat, schildert er die Gefahren, die im Modernismus der Zeitschrift Nyugat und eines dieser zugeschriebenen neuen Publikums aufscheinen, als eine Bedrohung vor allem für die organische Entwicklung der ungarischen Literatur. In der Debatte mit Ignotus, dem Kritiker und Herausgeber von Nyugat, bedient sich Horváth einer zur damaligen Zeit nicht unbekannten Unterscheidung, durch die das Entwicklungsmuster der organischen Entfaltung einem von fremden Kräften herbeigeführten, von außen mit Gewalt erzwungenen Eingriff entgegenstellt wird: Auf der einen Seite steht also – in Horváths Formulierung – die sprachliche Originalität des idealen Dichters, der „unwillentlich Literatur schafft“, auf der anderen ein anorganischer Modernismus fremder Herkunft, der von fremden Mustern angetrieben wird.53 Es ist genau dieses Schema, das sich dann auch im Aufsatz Aranytól Adyig (‚Von Arany zu Ady‘) wiederholt, den Thienemann später als „eine offen antisemitische Schrift“ bezeichnen wird.54 In dem Aufsatz (von dem hier vor allem der Untertitel interessieren kann: Irodalmunk és közönsége [‚Unsere Literatur und ihr Publikum‘]) wird das Hindernis der weiteren Entfaltung des „nationalen Klassizismus“ darin erblickt, dass dieses Paradigma der ungarischen Literatur – auch wenn es zu einer bis dahin nie erreichten Höhe der „selbstbewussten Literarizität“ aufsteigen konnte55 – aus verschiedenen geschichtlichen und politischen Gründen nicht imstande war, ein eigenes Publikum zu schaffen; ganz im Gegenteil zu dem – mit Horváths Worten „wurzellosen“, die Festung der ungarischen Literatur bestürmenden, „fremde Stöcke verpflanzenden“, „entarteten“ usw.56 – Modernismus, der sich die Dichtung von Endre Ady auf die Fahnen schrieb und dessen Kraft genau darin lag, dass er fähig war, sich ein Publikum zu „erziehen“.57 Abgesehen davon, wie ideologisch fragwürdig das auch sein mag, erscheint hier am wichtigsten, dass die Form dieser Krise als Asymmetrie oder Unterbrechung der Beziehung zwischen Literatur und Publikum beschrieben werden kann, wofür Horváth „das Versäumnis der Kritik“ verantwortlich macht,58 des genetischen Organs also, das seine Aufgabe nicht erfüllen konnte, die – und darauf käme es hier eigentlich an – genau in der 53 János Horváth, A „Nyugat“ magyartalanságairól [Über das Unungarische im „Nyugat“], in: Magyar Nyelv 6 (1911), S. 61–74, hier S. 61, siehe Gergely Angyalosi, Szerves fejlődés vagy folytonos ujrakezdés? [Organische Entwicklung oder kontinuierlicher Neubeginn?], in: András Veres (Hg.), Az irodalomtörténet esélye. Irodalomelméleti tanulmányok [Die Chance der Literaturgeschichte. Literaturtheoretische Aufsätze], Budapest 2004, S. 37–44, hier S. 37f. 54 Poszler, Thienemann levele, S. 473. 55 János Horváth, Aranytól Adyig. Irodalmunk és közönsége [Von Arany bis Ady. Unsere Literatur und ihr Publikum], Budapest o. J., S. 17. 56 Horváth, Aranytól, S. 4f, 7, 19. 57 Vgl. ebd., S. 17, 39. 58 Ebd., S. 54, vgl. S. 31, 41.
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Wiederherstellung des Grundverhältnisses (der aus diesem entstehenden „kollektiven geistigen Form“) liegen sollte. In Thienemanns Narrativ tritt die Krisenphase, die auf den maximalen Grad der Unabhängigkeit oder Ausdifferenzierung des Literarischen folgt, mit dem Erscheinen der „gegenliterarischen Kräfte“ ein. Die wichtigste Folge dieser Entwicklung ist die Zurückdrängung der Literatur in die Zuständigkeit ihrer eigenen Fachwissenschaft, was in der Darstellung von Irodalomtörténeti alapfogalmak neben der bereits erwähnten „Zeit-Presse“ auf die schnell zunehmende Rolle der verschiedenen Technologien „der schnellen und buchstabenlosen Mitteilung von literarischen Inhalten“ sowie der Wirtschaft und sogar des Sports in der gesellschaftlichen Wertbildung zurückzuführen ist. Die „literarische Idee [...] verliert ihre einstige nationale Bedeutung und fällt aus dem geistigen Leben ihrer Zeit heraus“. Thienemann setzt schnell und entschlossen die Richtung einer möglichen (Selbst-) Therapie der Literaturwissenschaft fest: Diese konnte in diesem Sinne nur dadurch sich selbst treu bleiben (und „das wollte keineswegs ein Verlassen des sinkenden Schiffes sein“), dass sie ihren Gegenstand über die Literatur hinaus erweiterte und sich „als eine Geschichte des geistigen Lebens“ (d. h., könnte man hinzufügen, eine Art Kulturwissenschaft) umgestaltete.59 Es bedarf keiner besonderen Erklärung dazu, dass es zwischen den beiden Programmen unübersehbare Unterschiede gibt: Thienemann äußert sich viel selbstbewusster, da er auf eine bereits erfolgte Umorientierung hinzuweisen glaubt, außerdem hat der Entwurf der methodischen Grundlagen in Irodalomtörténeti alapfogalmak – im Gegensatz zu Horváths Werk zur Entwicklungsgeschichte – keine nationale Literaturgeschichte im Visier, worin zugleich Ursache und Folge der grundlegenden Differenz liegen dürften, die sich zwischen beiden Auffassungen der organischen, autonomen Entwicklung der nationalen Literaturen auftut – siehe dazu den Schlusssatz von Irodalomtörténeti alapfogalmak, dass die „spontane, von fremden Einflüssen unabhängige Entwicklung“ der ungarischen Literatur erst dann zu begreifen sein wird, wenn die Literaturwissenschaft „die allgemein geltende Gesetzmäßigkeit und den europäischen Charakter auch in dem erblicken kann, was in unserer Literatur untilgbar ungarisch ist“.60 Es kann dabei jedoch kaum unbeachtet bleiben, dass die von Thienemann entworfene konsequente Umorganisierung der Literaturwissenschaft ebenfalls die Verschiebung des Grundverhältnisses notwendig macht, deren offensichtlichstes Anzeichen, die Veränderung des Publikums (der erhöhte Bedarf an Oralität, an unmittelbarer Kommunikation, neue Lesegewohnheiten) bzw. seine Entfernung von der selbstbezüglichen Literarizität im Grunde genommen zugleich Merkmale der neuen Kultur der modernen „Zeit-Presse“ sind. 59 Thienemann, Alapfogalmak, S. 193. 60 Ebd., S. 251.
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Diese Erklärung deutet (trotz aller ideologischer Unterschiede) auf dieselbe Entwicklung hin, wie Horváth sie in seinem Aranytól Adyig für die Entstehung des neuen, für fremde Einflüsse offenen Publikums aus der modernen Massenkommunikation herleitet. Diese merkwürdige Übereinstimmung führt dann (neben weiteren Folgerungen, die hier nicht – nicht hier – gezogen werden) zu der Erkenntnis, dass die Kategorie des „Grundverhältnisses“, die die substanziellen Literaturbegriffe ersetzen sollte, die Autonomie (oder Autopoiese) von Literatur ebenso wenig beschreiben kann wie jene: Kein Wunder, dass es noch viel Zeit gebraucht hat, bis die Literaturwissenschaft erneut versucht hat, ihren Gegenstand von der Rezeption, vom Lesen her zu bestimmen.
Mediale Kulturtechniken
Attila Simon
Forschungen zur Medien- und Kommunikationsgeschichte in der ungarischen Altertumswissenschaft im 20. Jahrhundert In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Ungarn bedeutende kommunikations- und mediengeschichtliche bzw. -theoretische Forschungen betrieben.1 In diesem Zusammenhang ist vor allem Melchior Palágyi auf dem Gebiet der Philosophie, der Sozialhistoriker István Hajnal, der sich mit Stilhistorie befassende Béla Zolnai und der Literaturhistoriker Theodor Thienemann zu erwähnen. In den letzten Jahrzehnten haben zuerst wichtige Arbeiten der philosophiegeschichtlichen Forschung dazu beigetragen, die Ergebnisse der erwähnten Forscher für die Wissenschafts- und Ideengeschichte zu erschließen2, seit 2000 sind aber die Beiträge der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft zur Neuauslegung dieser Lebenswerke nicht weniger relevant.3 1 Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde durch das János-Bolyai-Forschungsstipendium unterstützt. 2 István Bodnár, Szóbeliség és írásbeliség az archaikus Görögországban [Mündlichkeit und Schriftlichkeit im archaischen Griechenland], in: Kristóf Nyíri (Hg.), Informatika történetfilozófiai szempontból [Informatik aus geschichtsphilosophischer Sicht], Budapest 1990, S. 104–110; Kristóf Nyíri, Ausztria avagy a posztmodern keletkezése [Österreich oder die Entstehung der Postmoderne], in: ders., A hagyomány filozófiája [Die Philosophie der Tradition]. Budapest 1994, S. 65–82; ders., Hajnal István időszerűsége [Die Aktualität István Hajnals], in: ders., A hagyományi filozófiája, S. 132–143; Katalin Neumer, „Vasa lecta et pretiosa“. Zur Geschichte der sprachtheoretischen Reflexion über Mündlichkeit-Schriftlichkeit und Joseph Balogh zu Fragen des lauten Lesens, in: Semiotische Berichte 27 (2003), S. 75– 96; Tamás Demeter, A kommunikáció iránti érdeklődés megélénkülése a századelőn [Das Aufleben des Interesses an der Kommunikation am Jahrhundertbeginn], in: Szabolcs Oláh/ Attila Simon/Péter Szirák (Hg.), Szerep és közeg. Medialitás a magyar kultúratudományok 20. századi történetében [Rolle und Medium. Medialität in den ungarischen Kulturwissenschaften des 20. Jahrhunderts], Budapest 2006, S. 207–222. 3 Ernő Kulcsár Szabó/Péter Szirák (Hg.), Történelem, kultúra, medialitás [Geschichte, Kultur, Medialität], Budapest 2003; Gábor Bednanics/Tibor Bónus (Hg.), Kulturális közegek. Médiumok a 20. század első felében Magyarországon [Kulturelle Medien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ungarn], Budapest 2005; Oláh/Simon/Szirák, Szerep és közeg; Tibor Bónus/Zoltán Kulcsár-Szabó/Attila Simon (Hg.), Az olvasás rejtekútjai. Műfajiság, kulturális emlékezet és medialitás a 20. századi magyar irodalomtudományban [Holzwege des Lesens. Gattungsfragen, kulturelles Gedächtnis und Medialität in der ungarischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts], Budapest 2007; Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka
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Wie steht es aber mit der ungarischen Altertumswissenschaft in der betreffenden Epoche? Haben die ungarischen Altertumswissenschaftler wesentliche Beiträge zur kommunikations- und mediengeschichtlichen Forschung geliefert? Meiner Ansicht nach ist das der Fall, und mehr noch: auf dem Gebiet der historischen Untersuchungen zu den sprachlichen, psychologischen, kulturellen und technischen Komponenten der menschlichen Kommunikation hatten sie in manchen Fällen eine führende Rolle. Diese Behauptung soll im Folgenden durch eine kurze Darstellung von drei Lebenswerken belegt werden. Gyula Hornyánszkys Forschungen über die antike griechische Öffentlichkeit, die massenpsychologischen und rhetorischen Merkmale der (mündlichen) politischen Kommunikation haben zu bedeutenden Ergebnissen geführt. Die Forschungen von József Balogh über das laute Lesen stellen eine auch international hervorragende Leistung dar. Das Werk von Károly Marót, der eine originelle Konzeption der an Oralität gebundenen „kollektiven Dichtung“ ausgearbeitet, „Homer als diktierenden Dichter“ begriffen und in Verbindung damit über die mediengeschichtlichen Eigentümlichkeiten der frühen Schriftlichkeit zu forschen begonnen hat, bleibt – meines Erachtens nicht nur auf dem Gebiet seiner engeren Wissenschaft – auch in der Zukunft lesenswert.
I. Psychologie und Rhetorik der öffentlichen Rede (Gyula Hornyánszky) Der klassische Philologe und Althistoriker Gyula Hornyánszky ist in der professionellen Öffentlichkeit der Altertumswissenschaft vor allem dank seinem Buch über Hippokrates bekannt.4 Weniger bekannt ist, dass er in den 10er und 20er Jahren des letzten Jahrhunderts neben wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen mehrere Aufsätze auch über Themen der griechischen Öffentlichkeit veröffentlichte. Eine dieser Arbeiten analysiert Reden und Massenszenen in den homerischen Epen,5 andere sind aber dem griechischen Konzept der „öffentlichen Meinung“6 und der Frage nach der Öffentlichkeit in der Zeit von Demosthenes geOraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008. 4 Gyula Hornyánszky, A görög felvilágosodás tudománya. Hippokrates [Die Wissenschaft der griechischen Aufklärung. Hippokrates], Budapest 1910. 5 Gyula Hornyánszky, A homerosi beszédek tömeglélektani vonatkozásukban (Rhetorica homerica) [Die homerischen Reden in ihrem massenpsychologischen Bezug], Budapest 1915. 6 Gyula Hornyánszky, A közvélemény eszméje a görögök között [Die Idee der öffentlichen Meinung bei den Griechen] in: Társadalomtudomány 2 (1922), S. 44–60; ders., A szabadság nevében. Adalék a közvélemény történetéhez [Im Namen der Freiheit. Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung], in: Társadalomtudomány 2 (1922), S. 281–293; ders., Die Idee der
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widmet7. Hornyánszkys Methode ist durch die Verbindung von Gesichtspunkten der Geschichte des öffentlichen Rechts, der Institutionengeschichte, der Massenpsychologie und der Rhetorik geprägt. In seinen Untersuchungen zur Altertumsgeschichte wendete er auch die psychologischen und soziologischen Einsichten der Jahrhundertwende an. Einen ganzen Aufsatz widmete er beispielsweise der Frage, ob und wie die Arbeiten von Herbert Spencer in der Altertumswissenschaft angewendet werden könnten; dabei stellte er fest, dass „die Geschichtswissenschaft ohne die Begriffe und Sätze der Soziologie und der Psychologie ganz und gar unvorstellbar“ sei.8 Hornyánszkys wichtigster Ansatz liegt aber darin, dass er die Ergebnisse der damaligen Massenpsychologie – vor allem von Gustave Le Bon, dessen Werk in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf andere (unter anderem ungarische) Autoren eine große Wirkung ausübte – in die Betrachtung der griechischen Geschichte mit einbezogen hat. In der Studie über Massenpsychologie und griechische Geschichte (Tömegpsychologia és görög történet) geht er von terminologischen Überlegungen über die griechischen Wörter für ,Masse‘ aus, der philologisch-lexikographische Gesichtspunkt wird aber durch Untersuchungen zu verschiedenen anderen Aspekten ergänzt; so untersucht er auch Siedlungsverhältnisse, Verkehr und Berichterstattung, Lebensweise, Institutionen (darunter insbesondere die politischen Institutionen), den „inneren Charakter“ und die „Bildung“ (die kulturellen Gewohnheiten).9 Für die mediengeschichtliche Forschung kann vor allem Hornyánszkys Absicht, „die Macht des Wortes und die Persönlichkeit des führenden Individuums“ eigens zu untersuchen, interessant erscheinen.10 Er meinte nämlich, dass die Menge sich nur selten nach den Handlungen richtet; es ist meistens die Rede, an der sie sich orientiert, die sie beeinflusst und zu Handlungen bewegt. Das Wort hat eine suggestive Kraft, die sich am prägnantesten in der Stimme, dem Tonfall und anderen Äußerlichkeiten des Vortrags manifestiert. Was aber den Inhalt betrifft, für Reden, die vor einer
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öffentlichen Meinung bei den Griechen, in: Acta Litterarum et Scientiarum Reg. Universitatis Hung. Francisco-Josephianae. Sectio philologico-historica I (1922), S. 1–36. Gyula Hornyánszky, A hadvezértől az ügyvédig [Vom Heerführer zum Anwalt], in: A Magyar Humanisztikus Gimnázium Hivei Egyesületének Közleményei 2. Bd., o.O. 1923, S. 43–54. Gyula Hornyánszky, Történetírás és philosophia [Geschichtsschreibung und Philosophie], Budapest 1904. Gyula Hornyánszky, Tömegpsychologia és görög történet [Massenpsychologie und griechische Geschichte], in: Magyar Filozófiai Társaság Közleményei 12 (1912), S. 224–245, hier S. 224–239. Ebd., S. 240.
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großen Volksmenge gehalten werden, gelten ganz besondere Bedingungen hinsichtlich der erzielten Wirkung. Hier erscheinen manche Eigenarten, die bei einer an inhaltlicher Wahrheit orientierten Mitteilung zu Recht verworfen werden, geradezu als Tugend, und umgekehrt gilt das gleiche; ich erinnere hier nur an apodiktische Behauptungen ohne mühsame Beweisführung, die geschickte Verwendung von Parolen, die Phantasie stimulierenden sinnlichen Bilder, die Übertreibungen, die der Eitelkeit schmeicheln oder die Leidenschaften aufpeitschen.11
Hornyánszkys Studien über die massenpsychologischen Aspekte der politischen Kommunikation in der griechischen Öffentlichkeit (sie wurden von ihm nicht zu einer selbstständigen Monographie zusammengestellt) bleiben dann von der Frage nach dem oralen, unmittelbar erklingenden Wort angezogen. Die in der zitierten Passage auftauchenden Gesichtspunkte kommen in mehreren seiner weiteren Arbeiten wieder vor und erweitern sich zu ausführlichen Analysen der Reden, die in den homerischen Epen vor einer Menge gehalten werden. Bevor aber diese Analysen näher ins Auge gefasst werden, soll in einem kurzen Exkurs auch Hornyánszkys Aufsatz Die Macht des Wortes (A szó hatalma) berührt werden, die nach ihrem Untertitel eine Einführung in die Geschichte der griechischen Redekunst darstellt und dabei auch Hornyánszkys Sprachauffassung und Gesichtspunkte bei der Untersuchung der politischen Rhetorik erhellt. Als Ausgangspunkt dient ihm auch hier die Kraft des „lebendigen Wortes“, aber noch nicht des zu Taten bewegenden Wortes der politischen Reden, sondern es geht um Verwendung, Rolle und Wirkung des lebendigen Wortes auf dem Gebiet der Religion und des Rechts. Die „mystische Seite der menschlichen Stimme“ gewinnt nämlich am meisten in den Äußerungen religiösen Charakters an Gewicht: „in den Gebeten, Gelübden, Schwüren, Flüchen und Zauberformeln.“12 Im Hinblick auf die politische Rede ist das Merkmal der Zauberworte am wichtigsten, dass ihre Zauberkraft nicht im Willen oder einem anderen Vermögen des sprechenden Subjekts, sondern unmittelbar im Wort selbst liegt. Hornyánszky stellt einen ähnlichen Zug im formelhaften Charakter der Rechtssprache fest: das Bestehen auf feststehenden Strukturen bedeutet, dass die Bedingung der Erfüllung und Gültigkeit der Worte nicht in der (in jedem Fall nur indirekt zu ermittelnden) Absicht des Sprechenden, sondern im genauen Aussprechen der festgelegten Worte selbst liegt.13 Die handelnde und zu Handlungen bewegende Kraft der sprachlichen Äußerungen wird von Hornyánszky auf konsequente Weise immer mit dem mündlichen 11 Ebd., S. 240–241. 12 Gyula Hornyánszky, A szó hatalma [Die Macht des Wortes], in: Egyetemes Philologiai Közlöny 1914, S. 633–656, hier S. 634. 13 Ebd., S. 635–638.
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Aussprechen der Worte verbunden. Die Bedeutung der schriftlich entstandenen oder erst später schriftlich festgelegten und überlieferten Reden liegt darin, dass sie etwas von der bewegenden Wirkung und suggestiven Kraft bewahren können, die die vorgetragenen Reden auszeichnete, und möglicherweise die griechische Geschichte auf entscheidende Weise beeinflussen (s. die massenpsychologische Analyse der Darstellung der Sizilienexpedition bei Thukydides)14, aber in den gerichtlichen Reden auch die alltäglichen Angelegenheiten auf eine das Schicksal der Beteiligten bestimmende Weise entscheiden konnte.15 Für Hornyánszky liegt das Schlüsselmoment dieser enormen Wirkung darin, dass die Rhetorik der politischen Reden sich den Regelhaftigkeiten anpassen muss, die von der Massenpsychologie erschlossen und bei den alten Griechen bis zur Zeit der Sophisten auf eine gleichsam unbewusst wissende Weise angewendet worden waren. Weil die Masse von Menschen, die zusammengekommene Menge Eigenarten annimmt, die eben vom Zusammensein bestimmt sind, und der Redner sich diesen anpassen muss. Er wendet sich weniger an den Verstand der Einzelnen; vielmehr strebt er danach, die allgemein vorherrschenden Emotionen zu leiten, zu steigern und umzuformen. Er nutzt das emotionale und Willensvermögen der Masse für seine eigenen Zwecke aus. Statt Ideen und Begriffe zu klären stellt er Parolen her, durch die er das politische Verhalten der Zuhörer und die öffentliche Meinung manchmal auf entscheidende Weise bestimmt.16
Im Jahre 1915 veröffentlichte Hornyánszky seine Abhandlung über die homerischen Reden.17 In der Einleitung stellt er fest, dass er die „‚Masse‘ immer als Terminus und zwar im Sinne der gleichzeitig am gleichen Ort zusammenwirkenden Menschenmenge“ versteht, in der „das menschliche Wort, das Wort der führenden Person der eigentliche nervus regens ist“.18 Im Text der Ilias und der Odyssee fasst er 14 Hornyánszky, Tömegpsychologia, S. 226–228. 15 Gyula Hornyánszky, Görög társadalomrajz [Soziographie der griechischen Gesellschaft], in: Acta Litterarum et Scientiarum Reg. Universitatis Hung. Francisco-Josephianae. Sectio philologico-historica III (1931), S. 3–38, hier S. 20. 16 Gyula Hornyánszky, Demokratikus eszmék és intézmények a görögök között a közvélemény keletkezésének szempontjából [Demokratische Ideen und Institutionen bei den Griechen im Hinblick auf die Entstehung der öffentlichen Meinung], in: Emlékkönyv dr. Gróf Klebelsberg Kuno negyedszázados kultúrpolitikai működésének emlékére születésének ötvenedik évfordulóján [Festschrift zum Gedächnis der 25jährigen kulturpolitischen Tätigkeit von Dr. Graf Kuno Klebelsberg anlässlich seines 50. Geburtstags], Budapest 1925, S. 65–74, hier S. 73; ähnlicherweise ders., Tömegpsychologia, S. 225, 238, 243; ders., Görög társadalomrajz, S. 16–18. 17 Hornyánszky, A homerosi beszédek. 18 Ebd., S. 3.
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die Stellen näher ins Auge, wo „sich das Heerlager bzw. das Volk selbst versammelt und den Rednern zuhört“, aber auch die anderen Gelegenheiten, wo das Reden sich vor der ganzen Öffentlichkeit der Zuschauer der Wettkämpfe oder der miteinander kämpfenden Heere vollzieht.19 Ausführlich erörtert er den öffentlich-rechtlichen Charakter der homerischen agora, deren Eigenart darin gesehen wird, dass die vom Erzähler dargestellten Volksversammlungen die Eigentümlichkeiten einer Übergangszeit bewahren, „in der die Willkür des Herrschers allerdings durch eine weitgehende Volksfreiheit eingeschränkt wird“20 und „die Stellungnahme des Volkes ein öffentlich-rechtlicher Akt ist, der als eine notwendige Bedingung den Willen des Herrschers ergänzt und diesem den legalen Charakter gewährt.“21 Das Recht des Volkes zur Teilnahme an den zu Entscheidungen führenden Diskussionen – welches Recht hinsichtlich seiner öffentlich-rechtlichen Regelung allerdings sehr vage umrissen bleibt – bedeutet für die Redner die Notwendigkeit, sich vor der Öffentlichkeit zu streiten und alle rhetorischen Mittel einzusetzen, um das Volk für sich zu gewinnen. Der Ursprung der Redekunst liegt also in der Dynamik und lebendigen Wirklichkeit der politischen Institutionen und vor allem des politischen Lebens selbst, weil „die öffentlich-rechtliche Notwendigkeit des Volksentscheids unmittelbar die Notwendigkeit der Redekunst mit sich brachte“.22 Im rednerischen Vortrag verbindet sich das Wort, das zur sinnlichen Welt der „Präsenz“ gehört und von ihr aus erklingt,23 mit anderen Faktoren der Kultur der Präsenz, die die Umstände der vorgetragenen Rede bestimmen und unter dem Gesichtspunkt der durch sie ausgeübten oder zumindest erzielten Wirkung keineswegs nebensächlich sind. Maßgebend ist vor allem der Umstand, dass die Redner bei Homer ihre Reden im Freien vortragen, und das verleiht der Beratung bereits einen demokratischen Charakter, weil die freie Teilnahme, der öffentliche, offene Charakter der Reden auch durch die Umstände des Vortrags hervorgehoben und unmittelbar erfahrbar gemacht wird. Darüber hinaus übt die freie Luft, der freie Horizont selbst eine massenpsychologisch relevante Wirkung aus, „die sich im Selbstgefühl der sich im Freien bewegenden, begeisterten, beratenden Menge manifestiert.“24 Das bühnenhafte Arrangement der Beratung (die Zuschauer sitzen und hören dem in der Mitte stehenden Redner zu), die „Redefreiheit“ und die „freie Äußerung einer Meinung“ (das erstere bedeutet das Recht auf Rede, das letztere die Äußerung ohne inhaltliche Einschränkungen), die Freiheit im Ausdruck der 19 20 21 22 23
Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz in der Sprache, in: ders., Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S. 20–32. 24 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 23.
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Gefühlsbewegung, die im Vergleich zu den Gewohnheiten am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr heftig erscheint – all das gehört zu der eigentümlichen Welt der Reden bei Homer.25 Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Unterscheidung, die in Hornyánszkys Analysen, in denen er die massenpsychologischen und sprachlichen Eigenarten der homerischen Rhetorik erörtert, auf mehreren Ebenen durchgeführt wird. Er unterscheidet zwischen der ursprünglichen homerischen Rhetorik des lebendigen Wortes und der späteren Redekunst, die von der ersteren in mehr als einer Hinsicht abweicht, indem sie bereits von der Schriftlichkeit, dem theoretischen Wissen über Redekunst und den veränderten, die Struktur der Öffentlichkeit prägenden institutionellen oder persönlichen Bedingungen bestimmt wird.26 All das war aber – wie bei Hornyánszky so oft27 – auch im zeitgenössischen Horizont aufschlussreich, zu den Untersuchungen über die „Rhetorik des lebendigen Wortes“ wurde er sogar von deren Aktualität angeregt, die die veränderten politischen Umstände hervorriefen: [D]ie Rhetorik war schon bei den Griechen zur Stilistik geworden und bis heute auch in unserer Wissenschaft Stilistik geblieben; wir konnten uns gerade hier, bei den theoretischen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, kaum oder nur sehr wenig von der antiken Tradition emanzipieren. Die Phänomene des demokratisierten und vergesellschafteten Lebens richten nur als neueste Entwicklung unsere Aufmerksamkeit auf das lebendige Wort; je mehr die Reden an die Massen in den letzten Zeiten an Gewicht gewonnen haben, umso mehr können wir hoffen, dass neben den lebensfremden Stilistiken mit der Zeit auch eine auf massenpsychologischen Grundlagen aufgebaute Rhetorik wieder erscheint.28
Bemerkenswert an der zitierten Passage ist die Kritik an der einengenden Umgestaltung der rhetorischen Tradition zur Stilistik, die anregende Wirkung des politischen und gesellschaftlichen Lebens auf die Fragestellungen der Wissenschaft sowie die neuen Kommunikationssysteme der im Werden begriffenen Massendemokratien und die klare Erkenntnis der dadurch entstehenden neuen Ansprüche. Zur Erforschung der medialen Eigenschaften des lebendigen Wortes wurde Hornyánszky also durch den Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit seiner eigenen Zeit angeregt, so begann er sich mit den Bedingungen der (Massen-) 25 Ebd., S. 22–30. 26 Über das Letztere s. ausführlicher Hornyánszky, A hadvezértől. 27 Gyula Hornyánszky, A parlamentek ellen [Gegen die Parlamente], in: Társadalomtudomány 1 (1921), S. 1–16; ders., A szabadság nevében. 28 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 30–31.
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Kommunikation zu beschäftigen und fand dabei den Ausgangspunkt in Homer. Er hatte vor, später – im Rahmen einer umfassenden „griechischen Gesellschaftskunde“ – eine auf massenpsychologischen Grundlagen beruhende „Kommunikationsgeschichte“ der griechischen Demokratie zu schreiben, die er aber dann als vollständige Abhandlung nicht mehr ausarbeitete. In Bezug auf die Homer-Studie sollen noch zwei Züge hervorgehoben werden. Erstens weist Hornyánszky durch zahlreiche subtile und treffende Beobachtungen nach, dass die „homerische Rhetorik“ primär auf die Erweckung von Gefühlen abzielt. Die Anredeformen, die die Gemeinschaft von Redner und Zuhörerschaft betonen sollen, die Berufung auf die Menge der Anwesenden, das Lob der Zuhörer (oder manchmal auch deren Beschimpfung – im Vertrauen auf die zum Gegenbeweis anregende Wirkung des Tadels), die schöne Gestalt und das angenehme Organ, die Feierlichkeit, die imperativen Sprechakte, die ausführende Wiederholung, die Vortragsweise (mit dem späteren rhetorischen Terminus: hypokrisis), d. h. die Betonung des Gewichts von Gesten, Körperhaltung, Lautstärke und Tonfall, die Ausnutzung der Möglichkeiten der Veranschaulichung, die Übertreibung und zuletzt der nebenordnend-assoziative Charakter der Satzstruktur, die hier nicht dem ästhetischen Genuss, sondern „der Leitung der Gefühle und des Willens dienen“ – all diese rhetorischen Mittel als Elemente der unmittelbaren Wirkung des lebendigen Wortes werden in Hornyánszkys Arbeit in einer ergreifenden Fülle entfaltet.29 Zweitens begreift Hornyánszky die Reden in Homers Epen als charakteristische Äußerungen der Oralität und stellt sie den späteren Entwicklungen – dem Erscheinen der schriftlichen Reden (der Schriftlichkeit überhaupt) und ihrer am Ende des 5. Jahrhunderts immer größeren Verbreitung30 – gegenüber. Die rhetorischen Charakteristika der Reden bestimmen aber auch die anderen Äußerungsweisen und somit den Stil des Erzählers im Allgemeinen: Die Grundlage sind hier der Unterschied zwischen dem lebendigen Wort und der Schrift, bzw. die Weisen und Hilfsmittel der unmittelbaren Darstellung, über die der Redner im Unterschied zum Schriftsteller frei verfügen kann. (…) Alle diese rhetorischen Züge findet man bei Homer nicht nur in den Reden, den feierlichen Dialogen, monologischen Erzählungen und Unterhaltungen, sondern ebenso auch in den Worten des Dichters. (…) Wir können hier eine Art Umsichgreifen der rednerischen Manier beobachten, wofür wir Beispiele in Homers Sprache auch an anderen Stellen gefunden 29 Ebd., S. 32–74. 30 Vgl. dazu Alkidamas, Über diejenigen, die schriftliche Reden schreiben, oder über die Sophisten und Zsigmond Ritoók, Alkidamas és a „Beszéd a szofistákról“ [Alkidamas und die Sophistenrede], in: Antik Tanulmányok 41 (1997), S. 35–43.
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haben. In diesem Fall ist aber dieses Übertreten ins Rednerische umso wichtiger, da es sich nicht auf isolierte Momente, sondern auf Erscheinungen ganz allgemeiner Natur bezieht, und diese verleihen dem ganzen Stil einen rhetorischen, sogar deiktischen Charakter.31
Am Ende des allmählichen, nicht in einer Richtung verlaufenden, sondern als Wirkung und Gegenwirkung sich vollziehenden Übergangs von der Oralität zur Schriftlichkeit erscheint bei Hornyánszky – wie auch bei anderen Autoren, z. B. Wolfgang Rösler32 – Aristoteles, der ausdrücklich zwischen dem schriftlichen und dem eigentlichen (oralen) agonistischen Stil (lexis graphikē und agōnistikē) unterscheidet.33 Die hier kurz und nur nach bestimmten Gesichtspunkten skizzierten Abhandlungen Hornyánszkys wurden in den letzten Jahrzehnten wenig gelesen. Es ist aber vorstellbar, dass das neue Interesse für die Phänomene bzw. seelischen und rhetorischen Wirkungsmechanismen der Medien und der Kommunikation, die Fragen der politischen Reden oder der Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Aufmerksamkeit wieder auf seine wertvollen Arbeiten lenkt.
II. Das laute und das stille Lesen (József Balogh) József Balogh war einer der bedeutenden ungarischen Altphilologen des 20. Jahrhunderts, der auch als Übersetzer und Redakteur tätig war. Der Schwerpunkt seiner Untersuchungen lag in der Patristik (vor allem in den Werken Augustins), aber er veröffentlichte auch mehrere Aufsätze im Umfeld des klassischen Altertums (z. B. Catull, Vergil), des lateinischen Mittelalters in Ungarn (z. B. Stephan der Heilige, Heiliger Gerhardt) und der Ethnographie (z. B. über das laute und das stille Beten). In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde auch in Ungarn die Aufmerksamkeit auf jenen Teil der Baloghschen Forschungen gelenkt, der in der westlichen Wissenschaft Jahrzehnte früher aufgedeckt worden war: nämlich auf das Problem des lauten Lesens und Schreibens.34 Während nämlich Baloghs Beiträge in 20er 31 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 67–68. 32 Wolfgang Rösler, Schriftkultur und Fiktionalität. Zum Funktionswandel der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles, in: Aleida Assmann/Jan Assmann/Christof Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1983, S. 109–122, hier S. 116–120. 33 Hornyánszky, A homerosi beszédek, S. 71–72. 34 Tamás Demeter, From Classical Studies towards Epistemology: The Work of József Balogh, in: Studies in East European Thought 51 (1999), S. 287–305; ders., József Balogh and
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und 30er Jahren von Literaturwissenschaftlern wie János Horváth, Theodor Thienemann oder Béla Zolnai mehrmals zitiert wurden,35 wurde seine Konzeption über das laute Lesen und Schreiben auf dem Gebiet der klassischen Philologie, der Literaturwissenschaft sowie der Kommunikations- und Medienwissenschaften in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg international viel stärker rezipiert als in Ungarn.36 Balogh hat von zwei Autoren die grundsätzliche Anregung zur Untersuchung des Problems des lauten Lesens bekommen: von Friedrich Nietzsche, der seine Karriere als Klassischer Philologe mit der des Philosophen vertauscht hat, und von Eduard Norden, dem Meister der Erforschung des antiken Prosastils. Nietzsche weist mehrmals auf das Phänomen des lauten Lesens in der Antike hin, das er dem stillen Lesen seiner Zeit gegenüberstellt. Er sieht die Ursache des Verfalls des deutschen Stils in der Tatsache, dass „der Deutsche [...] nicht laut [liest], nicht fürs Ohr, sondern bloß mit den Augen, er [...] seine Ohren dabei ins Schubfach gelegt [hat].“37 Nietzsche erklärt mit dieser Tatsache auch die Erscheinung, dass die antike (und besonders die römische) Literatur im modernen Leser den Eindruck erweckt, sie sei zu „rhetorisch“, dem „natürlichen Stil“ gegenüber „künstlich“. Im Gegensatz zur antiken Prosa, die „durchaus Widerhall der lauten Rede ist“, [ist] unsere Prosa immer mehr aus dem Schreiben zu erklären, [gibt] unsere Stilistik sich als eine durchs Lesen zu perzipierende [...]. Der Lesende und der Hörende wollen aber eine ganz andere Darstellungsform, und deshalb klingt uns die antike Literatur „rhetorisch“: d. h. sie wendet sich zunächst ans Ohr, um es zu bestechen.38
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the Reappearance of Reading Aloud, in: Peter Fleissner/J.C. Nyíri (Hg.), Philosophy of Culture and the Politics of Electronic Networking vol. 1: Austria and Hungary, Historical Roots and Present Developments, Innsbruck/Wien 1999, S. 27–43; ders., A kommunikációfilozófia magyar előfutára [Ein ungarischer Vorreiter der Kommunikationsphilosophie], in: Vera Békés (Hg.), A kreativitás mintázatai [Schemata der Kreativität], Budapest 2004, S. 178–203 sowie zusammenfassend ders., József Balogh, in: Karla Pollman/Willemien Otten (Hg.), Oxford Guide to the Historical Reception of Augustine, 3. Bd., Oxford 2013, S. 128–130; József Balogh, Hangzó oldalak. Voces paginarum [Klingende Seiten. Voces paginarum], Budapest 2001. Über die Beziehung zwischen Zolnai und Balogh siehe Béla Lóránt Kovács, Médium és stílus. A nyelv optikája és akusztikája Zolnai Béla életművében [Medium und Stil. Die Optik und Akustik der Sprache im Lebenswerk Béla Zolnais], in: Oláh/Simon/Szirák, Szerep és közeg, S. 149–168. Dazu ausführlicher siehe Attila Simon, Lesen und Bekenntnis, in: Kulcsár Szabó/Oraić Tolić, Kultur in Reflexion, S. 229–234. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke. Bd. VIII, Leipzig 1912, S. 215 (§ 247). Ders., Rhetorik, ebd., S. 248.
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Eduard Norden ist in seinem Werk Die Antike Kunstprosa zu der Schlussfolgerung gekommen, dass im Altertum das laute Lesen die bestimmende Lesepraxis war. Er hat seine Behauptung in der ersten Fassung des Werkes39 nur mit einem einzigen unzweifelhaften Beweis begründet, nämlich mit jener Stelle der Bekenntnisse, an der Augustin überraschend erfuhr, dass Ambrosius, der Bischof von Mailand, zurückgezogen in seinem Zimmer in ein Buch vertieft war und es lautlos las (Confessiones VI, 3, 3: vox autem et lingua quiescebant … eum legentem vidimus tacite et aliter numquam). Nach Norden spricht eben diese Überraschung Augustins für seine Annahme, dass das lautlose Lesen als eine Anstoß erregende Besonderheit galt, also die gewöhnliche Praxis das laute Lesen war. Die Quellen sprechen von dem Phänomen des lauten Lesens eben darum nicht, weil dies im Altertum die selbstverständliche und gewöhnliche Leseweise war. Vor allem kann die Praxis des lauten Lesens anhand der Stellen bewiesen werden, die das leise Lesen bezeugen, und über diese Erscheinung als eine Abnormität sprechen.40 Norden hat in den späteren Ausgaben seines Werkes (1909, 1915) – gestützt auf Untersuchungen anderer Forscher (z. B. die von Balogh) – mehrere Stellen aufgezählt, die für seine Behauptung sprechen. Balogh versucht in Voces paginarum, mit derselben Methode – aufgrund der Nordenschen Stellen und neuer eigener Beiträge – das Phänomen des lauten Lesens zu beweisen. Bernard M. W. Knox hat in seinem Aufsatz Silent Reading in Antiquity41 eine eingehende und überzeugende Kritik der Baloghschen Methode geliefert, und er hat von einem Teil der Stellen, die Balogh erörterte, gezeigt, dass sie keine Beweise für das Phänomen des lauten Lesens sind. Vor allem hat Knox Kritik an Balogh geübt, weil dieser den Kreis des Phänomens allzusehr ausgedehnt habe, und er über das stille Lesen so spreche, als ob es in jedem Fall und im ganzen Altertum „etwas Außerordentliches“ gewesen wäre.42 Also bestreitet Knox einerseits, dass alle Texte unter allen Umständen laut gelesen wurden, andererseits verweist er auf die historischen Wandlungen der Lesepraxis und auf die sehr verschiedenen kulturellen Konventionen und Praktiken der verschiedenen Gebiete des römischen Reichs. Diese Kritik scheint mir richtig. Aber auch Knox erkennt an, worin die späteren Forscher miteinander übereinstimmen, nämlich dass in der Antike bei den literarischen Texten das laute Lesen die bestimmende, wenn auch nicht die einzige, Praxis war. (Zu den literarischen Texten gehörten damals – neben den bis heute als literarisch gel39 Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Leipzig 1898. 40 József Balogh, Voces paginarum. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, in: Philologus 82 (1927), S. 84–109, S. 202–240, hier S. 87. 41 Bernard M. W. Knox, Silent Reading in Antiquity, in: Greek, Roman and Bizantine Studies 9 (1968), S. 421–435. 42 Ebd., S. 435.
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tenden Texten – z. B. die rhetorischen Reden, die Geschichtsschreibung und der größte Teil der philosophischen Schriften. Außerdem könnte man in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass die griechische und lateinische metrische Poesie überhaupt kaum anders rezipiert werden kann, als durch lautes Vor-lesen.)43 Ferner gilt zu erwähnen, dass Knox sich nicht mit den frühen christlichen Stellen auseinandersetzt, sondern nur der so genannten Ambrosius- und der berühmten Garten-Szene einige Worte widmet und anerkennt, dass an der ersten Stelle das stille Lesen wirklich als „etwas Außerordentliches“ erscheint. Mary J. Carruthers bestreitet auch das „Außerordentliche“ in Ambrosius’ stillem Lesen. Ihrer Meinung nach lebte die Praxis der lectio und der meditatio nebeneinander, und in dieser Szene geht es einfach darum, dass Ambrosius hier das meditative Lesen, das Lesen in silentio praktiziert. Die Gleichzeitigkeit der Praxis des lauten und des stillen Lesens kann natürlich möglich sein, aber Carruthers gibt keine überzeugende Erklärung für die Formulierung eum legentem vidimus tacite et aliter numquam (!) in der von Augustin oben zitierten Passage.44 Außerdem liegt die bedeutendste Leistung Baloghs nicht in der (bestreitbaren) Festsetzung eines Wechsels oder einer Epochenschwelle zwischen lautem und stillem Lesen. Seiner Ansicht nach, die er in seinem kleinen Buch „Vasa lecta et pretiosa“ erörterte, geschieht sogar die spirituelle und die „formal-ästhetische“ Bekehrung Augustins, deren Teil der „Wechsel“ zwischen lautem und stillem Lesen sein sollte, nicht als eine rasche Wende oder radikaler Bruch, sondern beginnt immer wieder.45 Katalin Neumer hat überzeugend dafür argumentiert, dass Baloghs Augustin-Aufsätze in dem Sinn verstanden werden können, dass ihr Autor die dichotomische Gegenüberstellung von lautem und stillem Lesen und im Hintergrund die von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vermieden hatte.46 Wenn wir der Leistung Baloghs gerecht werden wollen, müssen wir anerkennen, dass er im Fieber der Entdeckung der Erscheinung des lauten Lesens einer 43 Hier lässt sich erwähnen, dass die scriptio continua von vornherein das laute Lesen hervorruft, so ist es gleichsam von vornherein im Text inbegriffen. Andererseits kann man nicht sagen, dass die scriptio continua das stille Lesen völlig unmöglich machen würde, weil die Griechen neben der Bewahrung der scriptio continua in Stille lesen konnten. ( Jesper Svenbro, Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens, in: Roger Chartier/ Guglielmo Cavallo [Hg.], Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt/New York 1999, S. 59–96.) 44 Mary J. Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 2008, S. 213–214. 45 József Balogh, „Vasa lecta et pretiosa“. Szent Ágoston Konfessziói. Egy stílustörténeti tanulmány vázlata [„Vasa lecta et pretiosa“. Die Confessiones des Heiligen Augustinus. Entwurf einer stilgeschichtlichen Abhandlung], Budapest 1918, S. 9–10, 18–19; ders., Augustins „alter und neuer Stil“, in: Die Antike 3 (1926), S. 351–367, hier 357–358. 46 Neumer, „Vasa lecta et pretiosa“.
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Neigung zur Übertreibung nachgegeben hat, und dass seine Textanalysen, mit Hilfe derer er die referentiellen und stilistischen Beweise des lauten Lesens vorlegen wollte, nicht ohne Irrtum und Überinterpretation sind. Zugleich aber hat er mit seinen Untersuchungen grundsätzlich den ersten Schritt in die richtige Richtung getan, so beweist bis heute eine Reihe von Aufsätzen und Büchern die wichtige, tatsächlich bestimmende Rolle des lauten Lesens in der antiken literarischen Kultur. Aber auch das Phänomen des stillen Lesens und Schreibens (neben dem des lauten) ist in der antiken Lesekultur zu beobachten (Knox bringt griechische Beispiele dazu aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.). Man kann annehmen, dass beide Arten nebeneinander existiert haben, und ob diese oder jene angewendet worden ist, war abhängig von der Art des zu lesenden Textes, der Lesesituation, den Umständen des Lesens, der Menge der zu lesenden Texte und schließlich auch von der Geübtheit und Bildung des Lesers. Weitergehend kann man auch behaupten, dass zwischen dem lauten und dem lautlosen Lesen mehrere Stufen zu beobachten sind. Man kann z. B. über ein artikuliertes lautes Lesen (das eigentliche „Vor-lesen“), ein wisperndes Lesen, dann ein unartikuliertes Murmeln, eine lautlose Bewegung der Lippen, dann eine nur innere, mentale Artikulation des gelesenen Textes und schließlich über ein tatsächlich bloß mit den Augen vollzogenes Lesen sprechen.47 Das unbestreitbare Verdienst der Baloghschen Untersuchungen ist, dass diese die Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit der mitteilenden Formen der literarischen Texte gelenkt haben, auf die Tatsache also, dass ein grundsätzlicher Perzeptionsunterschied zwischen dem modernen, ausschließlich mit den Augen vollzogenen Lesen und dem lauten, auch für die Ohren vollzogenen Lesen besteht. Die Forscher der antiken Literatur gewöhnen sich bereits im Laufe ihrer Ausbildung an die Praxis, die Texte auch oder in erster Linie laut zu lesen. Dieselbe Praxis ist unentbehrlich auch für die Forscher anderer Epochen: denn wenn wir aus der Untersuchung der literarischen Sprache die akustischen Elemente ausschließen, verengen wir künstlich die sinnlichen Dimensionen der Sprache. Ferner können die Ergebnisse von Balogh in der Untersuchung des lauten Lesens eine besondere Bedeutung gewinnen im Licht der Wandlungen in der literarischen Kommunikation in letzten Jahren: Man denke nur an die Verbreitung der lauten Bücher oder die steigende Popularität der literarischen Vorlesungen und des „Poetry Slam“ denken.
47 George Lincoln Hendrickson, Ancient Reading, in: Classical Journal 25 (1929), S. 182–196, hier S. 93.
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III. Die kollektive Dichtung und der diktierende Dichter (Károly Marót) Károly Marót begann seine Gelehrten- und Lehrerlaufbahn ebenfalls im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, er überlebte den Zweiten Weltkrieg und schrieb seine wichtigsten Bücher – die auf seinen früheren, jahrzehntelangen Forschungen beruhen – nach 1948, in der letzten Periode seines Lebens. Marót kam aus der Homer-Forschung, aus seinen Beiträgen zum Verständnis der homerischen Dichtung entfalten sich seine mediengeschichtlichen Analysen, die immer in einem literaturgeschichtlichen Rahmen bleiben, trotzdem liefern seine Arbeiten wichtige Einsichten auch für die seitdem selbstständig gewordene mediengeschichtliche Forschung.48 Unter Maróts Vorstellungen sollen hier zwei hervorgehoben werden, die unter dem Gesichtspunkt unserer Fragestellung besonders beachtenswert erscheinen: erstens seine Konzeption der kollektiven Dichtung, zweitens seine Antwort auf die sogenannte homerische Frage, d. h. seine Vorstellung über den „diktierenden Dichter“ und im Zusammenhang damit seine Ansicht über die Anfänge des Vertriebs der homerischen Texte. Marót schafft den Begriff der kollektiven Dichtung, um die herkömmliche Gegenüberstellung von Volksdichtung und Kunstdichtung zu überwinden. Das Werk der kollektiven Dichtung geht „aus der Zusammenarbeit von Individuum und Gemeinschaft“ hervor.49 Die Originalität des dichterischen Werks ist immer relativ, weil es in beträchtlichem Maße die Verwendung und Neubelebung der aufgehäuften sprachlichen Bestände, der poetischen Konventionen, Themen und Motiven darstellt. Dabei bestreitet aber Marót nicht, dass diese Neubelebung in jedem Fall eine individuelle Leistung voraussetzt: „das Volk“ dichtet nicht, auch die „Volksdichtung“ besteht immer aus individuell geschaffenen Werken (deren Autoren man bloß nicht kennt), andererseits aber wurzeln auch die Schöpfungen der „Kunstdichtung“ immer in der Tradition der Vergangenheit oder den „Gemeinplätzen“ (topoi) der Gegenwart, so ist ihr „Ursprung“ nie absolut, und in diesem Sinn ist die erfolgreichste Dichtung, die echte kollektive Dichtung, immer unpersönlich. Jede bedeu48 Péter György, Memex. A könyvbe zárt tudás a 21. században [Memex. Das in Büchern verschlossene Wissen im 21. Jahrhundert], Budapest 2002, S. 36–37; Attila Simon, Recepció és médium. Marót Károly irodalomszemléletéről [Rezeption und Medium. Über die Literaturbetrachtung von Károly Marót], in: ders., Dionysos színrevitele. A közvetítés kulturális technikái az antik irodalomban és filozófiában [Die Inszenierung des Dionysos. Die Kulturtechniken der Vermittlung in der antiken Literatur und Philosophie], Budapest 2009, S. 243−275. 49 Károly Marót, Homeros „a legrégibb és legjobb“ [Homer, „der älteste und beste“], Budapest 1948, S. 7.
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tende Dichtung ist laut Marót kollektive Dichtung, weil sie „im Munde des Volkes lebt“, in die Umgangssprache eingeht, zitiert wird, ihre Wendungen verwendet werden, ihre Metapher in der Sprache und im Denken der Sprechenden der jeweiligen Sprache weiterwirken. In seinem Buch Homeros „a legrégibb és legjobb“ formuliert er wie folgt: [D]er unseren Vorstellungen entsprechende Dichter arbeitet nicht allein, sondern mit dem anonymen „Volk“ zusammen, er lässt also – den Verhältnissen, aber auch seinen eigenen Absichten gemäß – sein Werk notwendigerweise offen für weitere dichterische Einwirkungen. Der Dichter ist nicht nur eine Art Ergebnis der Gemeinschaft, sondern man muss notwendigerweise auch damit rechnen, dass die Gemeinschaft nachträglich, beim oralen Fortleben, nicht aufhören kann, das „gemeinsame Werk“ des Dichters und ihrer selbst fortwährend zu modifizieren, zu kontrollieren, dem Ort und der Zeit anzupassen.50
In Maróts Homer-Buch wird immer wieder der dynamische, prozesshafte Charakter in der Dichtung betont: so hebt er auch in Verbindung mit dem griechischen Wort aoidē, das „Gedicht“, „Gesang“ bedeutet, dessen nomen actionis-Charakter („Singen“) hervor.51 Der Grund für diesen dynamischen Charakter liegt darin, dass Produktion und Rezeption in der kollektiven Dichtung eine unzertrennliche Einheit bilden. Den Hintergrund für diese Vorstellung bildet aber der Sachverhalt, dass unter den eigentümlichen Verhältnissen der Oralität diese Einheit immer schon gleichsam von selbst besteht, denn in der Welt der Oralität gibt es den „Text“ von vornherein nur, indem er immer wieder vorgetragen und neu erzählt wird: in seinem unfeststellbaren Zustand oder anders gesagt in seiner Prozesshaftigkeit. Einen noch radikaleren Schritt geht Marót, wenn er die Geltung des schöpferischen Moments auf der rezeptiven Seite der kollektiven Dichtung, die er als „gemeinsames Werk“ des Dichters und seines Publikums versteht, auf jede auslegende Tätigkeit ausweitet: [M]it dem Namen „Volk“ wird hier die Gruppe von Menschen bezeichnet, die durch ihr vorausgehendes Mitwollen ihr zweifellos aktiveres Mitglied, d. h. den schaffenden (aussagenden) Dichter, bestimmt hat, dann aber werden dessen individuelle, Wort gewordene Vorschläge allein von ihr als Dichtungen sanktioniert, und zwar dadurch, dass sie sie – auf eine nach der Erfahrung immer aktive, feilende, modifizierende Weise – annimmt. (...) Vergrößert erscheint hier diese positiv gemeinte, immer wieder ändernde Aktivität des Publikums – der Zuhörerschaft, der Zitierenden, Nachsprechenden, Ko50 Ebd., S. 102. 51 Ebd., S. 95.
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pierenden, ja im Allgemeinen der Verstehenden, also z.B. auch der Übersetzer –, d. h. die Tatsache, dass das Nachsprechen, ja das Verständnis selbst deutlich eine dichterische Tätigkeit, eine aktive Neuschöpfung bedeutet, (…) die von vornherein geschriebenen Werke erlitten von den Sängern, die sie als eigene behandeln, ähnliche, bis zur Entstellung gehende Interpolationen und Änderungen, wie sie in einigen Homer-Papyri und auch in Kodexabschriften – je nach Neigung des jeweiligen Schreibers – nicht selten vorkommen. Auch die Veränderung oder Entstellung unserer eigenen Lieblingszitate können wir beobachten.52
Wenn ich den Kern der Gedanken von Marót, der seinen etwas verschrobenen Sätzen nicht immer leicht zu entnehmen ist, nicht missverstehe, so ist seiner Auffassung nach die dichterische Schöpfung unter den Verhältnissen der Mündlichkeit eine Art Übergangsprodukt: der Dichter vermittelt zwischen den vorausgehenden Erwartungen der Gemeinschaft und einer neueren, gerade durch das Gedicht erscheinenden „Gestalt“ derselben. Die Erwartungen des Publikums können hier eine Art seelische Disposition bedeuten („Mitwollen“), die der Dichter zum Wort bindet, dann aber wird dieses Wortmaterial bereits von der empfangenden-übernehmenden Gemeinschaft bearbeitet. An der zitierten Stelle bleibt das wichtige – und von Marót an vielen anderen Stellen betonte – Moment im Hintergrund, dass die vorausgehenden Gegebenheiten der oralen Tradition, die die Tätigkeit der Sänger bestimmt (programmiert), offenbar auch selber nur sprachliche Formen sein können.53 Die die sprachliche Gestalt des Gedichts mitprägende Rolle der Rezeption wird von Marót jedoch bereits hier mit den medialen Eigenarten der Fixierung der „Texte“ in Zusammenhang gebracht, was bereits zu der mediologischen Fragestellung überleitet, die in Maróts letztem, postum erschienenen Büchlein das größte Gewicht bekommt. Maróts Interesse an den Aufzeichnungssystemen wird in seinem letzten Buch stärker (als Teilaspekt erschien es nämlich bereits in seinen früheren Arbeiten), und zwar in beträchtlichem Maße durch die damalige Verbreitung der technischen Medien angeregt. Im Vergleich zum Durchschnitt der damaligen ungarischen geisteswissenschaftlichen Forschung hatte Marót eine klare Vorstellung von der Wirkung dieser neuen Medien auf die Literatur. Er wirft – Paul Valéry folgend – die Frage auf, ob „die Zukunft – im Hinblick auf die großen Möglichkeiten des Rundfunks usw. – statt der geschriebenen Literatur nicht bald einer ‚purement oral et auditive‘
52 Ebd., S. 85–86. 53 Ebd., S. 64–65, 69–72, 77, 113; ders., A görög irodalom kezdetei [Die Anfänge der griechischen Literatur], Budapest 1956, S. 21–22, 67–70; ders., Az epopeia helye a hősi epikában [Der Ort der Epopeia in der Heldenepik], Budapest 1964, S. 24–25, 73–74, 80–81.
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Literatur gehört.“54 Er erwägt auch die Erfahrungen der Zeit seit Valérys Formulierung und stellt fest, dass auch die neuerdings immer stärkere Favorisierung von Rundfunk, Tonfilm, Fernsehen und man kann hinzufügen: von Stücken, die mit den „Korrekturen“ der Regisseure ausschließlich in der Form von Aufführungen verbreitet werden und von den Werken der Schriftsteller oft wesentlich abweichen, oder von musical comedys, Vortragsabenden u. Ä. die Entwicklung des literarischen Lebens in derselben oral-auditiven Richtung weiterbringt, die anscheinend in der Tat nach ihrem ursprünglichen Element, dem Urmeer der Mündlichkeit zurückstrebt. Wenn dieses Zurückstreben auch nicht so zwangsläufig und unmittelbar sein kann, wie es natürlich ursprünglich in der schriftlosen Epoche war.55
Anerkennung verdient hier nicht nur das Interesse eines Altphilologen für die neuesten Telekommunikationsmittel und das breite Spektrum der kulturellen Performanz, sondern auch, dass Marót hier eigentlich die Erscheinung entdeckt, die später von Walter J. Ong als „zweite Oralität“ bezeichnet wird;56 er versucht diese zu beschreiben und ihre möglichen Wirkungen abzuwägen, so erkennt oder erahnt er zumindest auch, dass die neueren Formen der Oralität nicht eine einfache Wiederholung der primären Oralität bedeuten können, weil sie immer schon durch die Logik und Praxis der dazwischengekommenen Schriftlichkeit bestimmt sind und auch der kulturelle Kontext der zweiten Oralität aus schriftlichen oder auf Schrift beruhenden Produkten besteht. In A görög irodalom kezdetei vertrat Marót noch den Standpunkt, dass Homer in der Phase des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit stand, vielleicht mit Hilfe von kurzen (nicht unbedingt alphabetischen), hauptsächlich (oder ausschließlich) für sich selbst geschriebenen Aufzeichnungen die Reihenfolge der vorzutragenden Gedichte festzuhalten suchte.57 In seinem letzten Buch schließt er sich aber dem Vorschlag von A. B. Lord und C. H. Whitman an.58 Ihnen folgend 54 Ebd., S. 28; das innere Zitat: Paul Valéry, Regards sur le monde actuel et autres essais, Paris 1945, S. 214. 55 Marót, Az epopeia helye, S. 28, ähnlich S. 27, 75. 56 Walter J. Ong, Orality and Literacy, London 1982, S. 136. 57 Marót, A görög irodalom kezdetei, S. 37–38; ders., A epopeia helye, S. 104. 58 Albert B. Lord, Homers Originality: Dictated Texts, in: TAPhA 84 (1953), S. 124–134, Cedric H. Whitman, Homer and the Heroic Tradition, Cambridge 1958. Die Urquelle des Gedankens: Milman Parry, The Making of Homeric Verse, Oxford 1971, S. 451. Über die Veränderungen der Thesen von Parry–Lord, die kritischen Auseinandersetzungen mit ihnen und die Missverständnisse in Bezug auf sie siehe Richard Janko, The Homeric Poems as Oral Dictated Texts, in: Classical Quaterly 48 (1998), S. 1–13.
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hält er es zu dieser Zeit schon für wahrscheinlicher, dass Homer (oder vielleicht einer seiner unmittelbaren Schüler) „wie ein Märchenerzähler heute, einem ihm vertrauten Schriftkundigen seine fertigen, aus dem Kopf erzählten Kompositionen diktierte.“59 Im Hintergrund des Diktierens musste die Erfahrung der Übernahme und allmählich vor sich gehenden Verbreitung der Schrift stehen. Unter den Umständen der Anfänge der Schriftlichkeit konnten bereits Zweifel über die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit der früheren, auf dem Gedächtnis basierenden Speicherung und oralen Überlieferung der Informationen auftauchen. So konnte Homer selbst oder ein die Tradition am besten kennender treuer „Schüler“ (...) die Zweckmäßigkeit des Diktierens erkennen, dieser regte vielleicht seinen Meister an, die Schätze der Tradition möglichst vollständig zu konservieren oder konservieren zu lassen, damit er sie als sein eigenes bzw. als des Meisters Erbe – gegen die freien und natürlich willkürlichen Varianten der auf zerstreute Weise Auszüge singenden Aoiden oder Rhapsoden oder als Maßstab für diese –, als das Eigentum des phylon [d.h. das „Geschlecht“ der Sänger – A. S.] auf authentische Weise kodifiziert.60
Das Diktieren ermöglichte dem Dichter nicht nur die möglicherweise vollständige Bewahrung der bisher im Kopf gespeicherten, aber nie zusammenhängend als Ganzes vorgetragenen Schätze der Tradition, sondern so konnte – für uns – auch der Umfang und die Einheit der Komposition eine Erklärung erhalten. Demnach zeigt die Ilias in ihrer uns bekannten Gestalt „bereits so sehr vollkommene Spuren 59 Marót, Az epopeia helye, S. 104 – Für die Vorstellung vom diktierenden Dichter argumentiert unter mehreren Gesichtspunkten Richard Janko, The Iliad and its Editors: Dictation and Redaction, in: Classical Antiquity 9 (1990), S. 326–334; ders., [Review on] Homeri Odyssea. (Recognovit Helmut van Thiel), in: Gnomon 66 (1994), S. 289–295. Die Hypothese des „diktierenden Homer“ wird neben Janko auch von zahlreichen anderen Forschern vertreten, so z. B. Martin L. West, Archaische Heldendichtung: Singen und Schreiben, in: Wolfgang Kullmann/Michael Reichel (Hg.), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990, S. 33–50; Barry B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991, S. 232–233; ders., Homer and Writing, in: Ian Morris/Barry Powell (Hg.), A New Companion to Homer, Leiden 1996, S. 3–32; aber sie wird freilich von anderen bestritten, so z. B. von Hans Schwabl, Was lehrt mündliche Epik für Homer?, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 65–109; Michael Reichel, Retardationstechniken in der Ilias, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 125–151; Odysseus Tsagarakis, Das Untypische bei Homer und literarische Komposition, in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur, S. 111–124. Zum kurzen Überblick über die Frage siehe auch Robert Fowler, The Homeric Question, in: Robert Fowler (Hg.), The Cambridge Companion to Homer, Cambridge 2004, S. 220–232, hier S. 225–226. 60 Marót, Az epopeia helye, S. 110.
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der geschriebenen Literatur, die mit dem ursprünglich Vorgetragenen zwar unleugbar zusammenhängen, aber auf solche Weise, dass das Werk bereits auch Züge eines neuen Kunstwerks in den Vordergrund stellen soll.“61 Auf die ursprüngliche, mündliche Tradition kann man also (natürlich) nur folgern, aber nicht ohne Grund kann man darauf folgern, dass die Komposition – selbst wenn Homer selbst oder sein bereitwilliger Schreiber seine Verse aufgezeichnet hat – dennoch die Spuren des oralen Dichtens und der oralen Vortragsweisen auf bestimmende Weise an sich trägt. Welche Wirkung konnte das Diktieren auf Homers Schaffen haben, der in den Traditionen der Mündlichkeit wurzelte und dichtete? Marót beantwortet diese Frage wie folgt: Es ist nämlich ohne Zweifel, dass der diktierende Sänger nicht mehr vom Rhythmus der gezupften Laute begleitet wird und auch die Anregung entbehren muss, die ihm allein seine enge Verbundenheit mit dem Publikum zu geben vermag. Umgekehrt steht aber auch außer Zweifel, dass das Festhalten der gesprochenen Rede durchs Diktieren, wenn diese Idee aus irgendeinem Grund schon auftauchte, auch gewisse unwillkürliche Vorteile zeigte (nicht anders als im Falle des Photoapparats oder der Drucktechnik).62
Der Diktierende hatte mehr Möglichkeiten (mehr Zeit), die reichen Schätze der Tradition, die er im eigenen Gedächtnis speicherte, die „Gänge“, die Formeln, die phraseologischen Einheiten zu sammeln und auf eine geeignete Weise miteinander zu verbinden. „Dabei ist aber natürlich, dass der Text, der sich auf solche Weise ergibt, sich wesentlich vom frei und mündlich Vorgetragenen unterscheidet“, 63 weil „eine solche nicht dem originalen Material entsprechende Umstellung in ein fremdes Medium nie ohne Wirkung auf den Inhalt und die Form selbst bleibt.“64 Die Entdeckung und dermaßen eindringliche Betonung der medialen Fragen, der Art und Weise des Festhaltens und Vermittelns, d. h. der Medialität der Literatur überhaupt am Anfang der 60er Jahre ist auf jeden Fall eine bemerkenswerte Leistung, auch im internationalen Vergleich. Marót erkennt den wesentlichen Zug der Medien, die „Botschaft“ nicht einfach „unberührt“ weiterzugeben, sondern auch auf deren Form und Inhalt einzuwirken. Maróts diesbezügliche Gedanken entstehen gleichzeitig oder in manchen Fällen früher als einige grundlegende Einsichten der Autoren der Medientheorien, die sich in den 60er Jahren entwickelnden und später weltweit eine große Wirkung ausübten, oder des Paradigmas Mündlichkeit/ 61 62 63 64
Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd. Ebd., S. 74–75.
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Schriftlichkeit (McLuhan, Havelock, Goody und Watt oder der weiter oben zitierte Ong). Marót bringt die auch heute ergreifende ästhetische Wirkung und Beschaffenheit der Epen in unmittelbaren Zusammenhang mit der Weise der Aufzeichnung. Seiner Auffassung nach verhält sich das Archivierungssystem nicht rein äußerlich zu dem von ihm bewahrten sprachlichen Gebilde, es drängt sich aber auch nicht vor dessen sinnvolle ästhetische Erfahrung: Die Unmittelbarkeit und Schmiegsamkeit der oralen Form vor großem Publikum und die sich ad hoc anbietenden Änderungen sollen hier bereits von einer Version kompensiert werden, die reich an Schichten, zurechtgefeilt und von „vollkommensten und prächtigsten“ Verzierungen voll ist; dies hat dann in beträchtlichem Maße dazu beigetragen, dass die uns vorliegende eigentümliche griechische Epopeia-Form des Epos in der heute bekannten Vollkommenheit sich erfüllt.65
Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass man beim Lesen der Texte der Epen nicht außer Acht lassen darf, dass „Homer noch nicht Bücher und nicht für Leser komponierte“,66 dass es also „im Hinblick auf die traditionelle Praxis des Dichters und das Leben des Gedichteten eine Übertreibung wäre, jene Berechnung in hohem Maße und jene künstlerische Bewusstheit anzunehmen“, die für die in der Kultur der Schriftlichkeit entstehenden geschriebenen Werke charakteristisch ist.67 Marót kehrt in seinem letzten Buch, das erst in seinem Todesjahr erschienen ist, zu einer zentralen Frage seiner 1907 publizierten, als 22-Jähriger geschriebenen Dissertation, der Frage nach den homerischen Gleichnissen zurück.68 In seiner letzten Arbeit sieht er den bestimmenden Umstand der Entstehung der Gleichnisse, die umfangreiche Digressionen bilden, bis ins Einzelne ausgearbeitet sind und das genussreiche Lesen des Epos weitgehend mitbestimmen, bzw. auch den Anlass zu deren Einfügung in den Text (damit auch deren ästhetische Rechtfertigung) in den künstlerischen Bestrebungen des diktierenden Dichters, der von den Anforderungen der Oralität teilweise schon befreit worden ist.69 Über die Verwendung der aufgezeichneten Texte behauptete Marót bereits in seinem Homer-Buch, dass sie sich grundsätzlich von jenen späteren Formen der Schriftlichkeit unterschied, die von Prinzipien wie Treue zur ursprünglichen oder als ursprünglich angenommenen Gestalt der Texte, Anerkennung der einzigartigen 65 66 67 68 69
Ebd., S. 105. Ebd., S. 114. Ebd., S. 113. Károly Marót, Fejezetek a Homeros-kérdéshez [Kapitel zur Homerfrage], Budapest 1907. Marót, Az epopeia helye, S. 107–108.
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Leistung des individuellen Autors und Berücksichtigung seiner Absicht gekennzeichnet sind, wobei diese freilich je nach Epochen und Formen der schriftlichen Überlieferung anders zur Geltung kommen.70 Der frühe Vertrieb und Verwendung der Homer-Texte ist eigentlich immer noch von den Charakteristika der Mündlichkeit geprägt. Davon zeugen vielerlei antike Berichte „über die unterschiedlichen Ausgaben, Rezensionen, die gleichsam natürliche Folgen davon waren, dass die Texttradition zersungen worden war oder einen Hang dazu hatte“, ferner auch die Tatsache, „dass die überlieferten Manuskripte in der Tat auffallende Abweichungen, d.h. Verzweigungen aufweisen, die Varianten der Papyri – im Vergleich zur Vulgata – manchmal phantastisch sind“.71 Aufgrund der vergleichenden Untersuchungen und des die antike literarische Kultur auch lange nach dem 8. Jahrhundert v. Chr. bestimmenden oralen Charakters, z. B. der Praxis des lauten Lesens,72 der festlichen und Symposion-Dichtung, der Dramendichtung, der Reden, der recitatio usw. nimmt Marót an – und seine Annahme ist allem Anschein nach begründet –, dass die Aufzeichnung an der oralen, auf dem Gedächtnis beruhenden Praxis der Sänger nichts grundsätzlich änderte.73 Die neueren Forschungen scheinen Maróts Ansichten zu bestätigen. Michael Haslam weist den radikal instabilen und offenen Charakter der homerischen Texte (die eigentümliche „textuelle Dynamik“ des materialen Bestands der Texte) bzw. den der oralen Tradition ähnlichen Charakter des Vertriebs der Schriften bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. nach.74 Ähnliche Ansichten formulierte in der ungarischen Forschung Zsigmond Ritoók, der auch die Interessen und die Situation des Aufzeichnenden (und demgemäß auch des Empfängers) in Betracht zog: Die Mündlichkeit wirkt also auf die Gestaltung der Texte nicht nur, indem die mündlichen Varianten gelegentlich aufgeschrieben werden, sondern auch innerhalb der Schriftlichkeit, indem die einmal schriftlich festgehaltenen Texte – innerhalb von bestimmten Grenzen – der Situation entweder des Sprechenden oder aber des Schreibenden (Niederschreibenden) angepasst und dementsprechend eventuell umgeformt wer70 Über die Eigenarten der Schriftlichkeit der mittelalterlichen Handschriften und das Phänomen des Diktierens – wobei beide zahlreiche Ähnlichkeiten zu den Eigentümlichkeiten der von Marót untersuchten Zeit aufweisen – siehe Theodor Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs 1931 (Reprint: Pécs 1986), vor allem: S. 80–114. 71 Marót, Homeros „a legrégibb és legjobb“, S. 74–75. 72 Marót beruft sich mehrmals auf die diesbezüglichen Forschungen von József Balogh (Marót, A görög irodalom kezdetei, S. 36; ders., Az epopeia helye, S. 27. 73 Ebd., S. 75, 110–111. 74 Michael Haslam, Homeric Papyri and Transmission of the Text, in: Morris/Powell, A New Companion to Homer, S. 55–100, hier S. 55–56, 69; ähnlich auch West, Archaische Heldendichtung, S. 48–50.
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den, nicht anders als unter den Verhältnissen der Mündlichkeit – und niemand nimmt daran Anstoß.75
Ritoók machte auch darauf aufmerksam, dass die Beurteilung der „Texte“ der Epen (der Seinsweise dieser Texte überhaupt) nicht eindeutig ist: wenn man nämlich die Maßstäbe des von den Verhältnissen der Oralität bestimmten „Textes“ als Grundlage betrachtet, so kann man sagen, dass es „Homer-Text, Homer-Vulgata“ bereits vor dem Wirken der Alexandriner gab.76 Die möglichen Antworten auf diese Frage sind also nicht ein für allemal gültig: sie hängen davon ab, was man unter „Text“ versteht. Die schriftliche Archivierung (oder wie sie Marót nennt: „Konservierung“) veränderte also nicht mit einem Schlag die Verwendungsweise homerischer Dichtungen; dazu brauchte es Jahrhunderte. Die Homer-Kommentare des Aristoteles aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., mit denen er an die Tradition der im 6. Jahrhundert v. Chr. beginnenden Homer-Exegese anknüpft, machen deutlich, dass die Rezeption der Epen durch Lesen damals schon in den Vordergrund gerückt sein muss und es deshalb nötig wurde, „unvernünftige Stellen“, „Unmöglichkeiten“, „Widersprüche“, fremd anmutende sprachliche Formen, Metaphern usw. aufgrund einer umfassenden ästhetischen Theorie zu erläutern.77 Diese ästhetische Theorie interpretiert den mimetischen Charakter der Kunstwerke insofern bereits vom Phänomen der Fiktion her, als sie „die Aufgabe eines Dichters“ nicht darin sieht, „die geschichtliche Wirklichkeit ,einfach‘ wiederzugeben, (…), sondern etwas so ,darzustellen‘, wie es gemäß ,innerer‘ Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde“.78 Diese Wende aber, die in der „Entdeckung“ der Fiktion (genauer: des „fiktiven Charakters“ der Kunstwerke) liegt, verbindet sich eng mit der Verbreitung der Schriftlichkeit und des Schriftgebrauchs in breiten Schichten der Gesellschaft oder auf eine noch entscheidendere Weise: mit der immer wichtigeren Rolle der Praxis des einsamen Lesens in der Rezeption der Literatur.79 Der Gegenstand dieser Lesepraxis
75 Zsigmond Ritoók, A szóbeliségtől a szövegtörténetig [Von der Mündlichkeit zur Textgeschichte], in: Antik Tanulmányok 29 (1982), S. 9–20, hier S. 13. 76 Zsigmond Ritoók, Szóbeliség és írásbeliség. Az átmenet néhány görög tanulsága [Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Einige griechische Lehren aus dem Übergang], in: Katalin Neumer (Hg.), Kép, beszéd, írás, Budapest 2003, 23–32, hier S. 28–30. 77 Siehe dazu Aristoteles, Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, Berlin 2008, Kapitel 24–26, und seine Homerischen Fragen. 78 Aristoteles, Poetik 9, 1451a 36–38. 79 Wolfgang Rösler, Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), S. 283–319, ders., Schriftkultur und Fiktionalität, S. 116–120.
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war aber am häufigsten, vom Schulunterricht an bis zur Tätigkeit der Kommentatoren, Homers Dichtung.80 Marót hielt die Frage nach den Eigentümlichkeiten der Mündlichkeit und Schriftlichkeit für einen wesentlichen Aspekt in der Erforschung der homerischen Epen und betrachtete es als seine Aufgabe, die verwickelten Wesenszüge des Verhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im antiken Griechentum zu skizzieren. Diese Bestrebungen Maróts knüpften an eine von Milman Parry und Albert Lord initiierte mediologisch-kommunikationstechnologische Forschungsrichtung an, die in der Homer-Forschung bis heute in bestimmender Weise präsent ist: dafür können aus den letzten zwei Jahrzehnten unter anderem Arbeiten von Pietro Pucci, John Miles Foley, Barry B. Powell als Beispiel erwähnt werden. Das Thema wurde natürlich auch in der breiteren mediengeschichtlichen und -theoretischen Forschung immer mehr beachtet. So muss man in diesem Zusammenhang vor allem auf Eric A. Havelocks Werke hinweisen81 oder auf das Kapitel Singen und Schreiben in Musik und Mathematik I/1 von Friedrich Kittler, der sich als Medienwissenschaftler in seinen letzten Jahren der Antike zugewendet hat; in der Interpretation der Gestalt und Rolle der Sirenen beruft sich Kittler auf Marót.82 Marót hat auch die mediologische Wende der Literaturwissenschaften an vielen anderen Punkten vorweggenommen. Die vorliegenden skizzenhaften Darstellungen konnten hoffentlich plausibel machen, dass die Werke von Gyula Hornyánszky, József Balogh und Károly Marót aus dem letzten Jahrhundert unumgängliche Beiträge der damaligen ungarischen Wissenschaft zu den Fragen der Kommunikation und Medialität sind. Ihre Arbeiten stellen zugleich wichtige Leistungen der ungarischen Altertumswissenschaft dar, auf die sich auch gegenwärtige Forschungen stützen können. Denn die Untersuchungen über die medialen Besonderheiten der antiken Literatur und die politische Kommunikation in der Antike können sowohl für Altertumswissenschaftler als auch in breiteren Kreisen in vieler Hinsicht auch zukünftig aufschlussreich sein.
80 Egert Pöhlmann, Zur Überlieferung griechischer Literatur vom 8. bis zum 4. Jh., in: Kullmann/Reichel, Der Übergang von der Mündlichkeit, S. 11–30, hier S. 11–17. 81 Attila Simon, Szóbeliség és írásbeliség az archaikus és klasszikus kori görögség világában. Eric A. Havelock elmélete – néhány lehetséges kultúratudományi összefüggés [Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der archaischen und klassischen Welt der Griechen. Die Theorie von Eric A. Havelock – einige mögliche kulturwissenschaftliche Zusammenhänge], in: Simon, Dionysos színrevitele, S. 201–223. 82 Friedrich Kittler, Musik und Mathematik I. Hellas 1. Aphrodite, München 2006. S. 90–125.
Tamás Demeter
Scholarship and the Medium of Thought On the growing interest in communication in Fin-De-Siècle Hungary
Introduction The various aspects of communication-related problems occupy a central position in Hungarian scholarship in the first half of the twentieth century. This exhilarated attention to the modes, traditions, technologies and the history of communication, as well as to their consequences regarding the history of ideas, the history of style and social history, were present at the same time in the fields of philosophy, classical scholarship, literary theory, history, sociology etc., and contributed significantly with new ideas and insights to all of these disciplines. In the present paper I attempt to sketch some of the leading ideas in this field, and to formulate some hypotheses concerning the origins of the problems characteristic to these areas, and its sociologically relevant context. While an exact answer may elude us when attempting to explain the causes and the validity of István Hajnal’s diagnosis, which claims that “it was Hungarian scholarship that brought up the cultural historical problem of literacy, and helped to position it as a fruitful problem in the research on European development“1, yet I hope that possible elements of an answer might be fruitfully gestured toward. It was neither around this specific time, nor in this particular place that matters of communication came into the focus of theoretical attention for the first time. Several problems with respect to writing and its philosophical consequences have been with us ever since the time of the sophists and Plato. Ever since the technology of communication has received immense philosophical attention, especially in times of significant innovations. So questions related to reading, writing and thinking also had a quite successful career in the eighteenth century, when the social and cognitive consequences of a widespread print culture became clearly visible. In the early decades of the twentieth century the problems pertaining to communication were perceived in Hungary with an exceptional intensity, and one can 1 István Hajnal, Technika, művelődés [Technology, culture] (ed. Ferenc Glatz), Budapest 1993, p. 444.
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point out two defining aspects that render this period outstanding when compared to earlier periods. One of these is concentration: interest is focussed on the various problems of communication in a way that is easy to localize in both space and time, while in previous instances, attention given to such problems had been typically scattered throughout great spatial and temporal distances. Besides being concentrated, the issues taken up are also far-reaching: interest in these problems in this specific period is not confined to the limits of one or two disciplines, but is pervasive in all areas of the Geisteswissenschaften. Furthermore, there is not only an interest in synthesizing achievements, nor is there merely an elaboration of old insights, but, beyond that, new aspects of old problems are revealed – aspects that have not been perceived before. I will explore these two phenomena from the vantage points of the sociology of knowledge and that of ideology-critique. The approach of the sociology of knowledge is taken here to mean a genetic inquiry: enquiring about the causes that help illuminate why specific attention is paid to these problems at this particular time, in this particular place and in this particular fashion. Investigating this issue is especially fitting when one seeks to address the question of concentration. The approach of ideology-critique reconstruction – aims to explore the socially relevant meaning of ideas, being in this sense a hermeneutic enterprise that enables us in the present context to shed light on the phenomenon of far-reaching. Common to these modes of investigation is the commitment to view and understand thoughts as being socially and historically situated, and in what follows, I attempt to do exactly that as well.
Figures and themes Before I can begin to satisfy the sociological interest, let me first turn to the central figures and topics that were discussed with a sensitivity to the means and ways of communication. I will introduce how the problems of various media and their uses figured in the work of a philosopher, a classical scholar, a social historian and a literary theorist who have had a lasting influence on their fields of study. The first noteworthy figure in this respect is the philosopher Melchior Palágyi, who attempted to deal with some questions in the philosophy of knowledge within the framework defined by the history of communication. He begins with pointing out that writing is a precondition of several ideas that have a distinguished role in the history of logic. As he argues, it is inconceivable to distinguish between different kinds of thoughts such as concepts and judgements, and also to discover that judgements arise from the combination of concepts. He further points out that hieroglyphs are not sufficient to take this step forward, and it takes alphabetical writ-
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ing to reach this insight, because hieroglyphs can represent concepts and judgements as well, so their use does not facilitate drawing this otherwise essential distinction in logic2. The consequences of Palágyi’s insight go beyond its direct logical context, because he in fact claims that a technique of communication, namely alphabetical writing, is not only a new way of expressing thoughts, but it also has an influence on the very contents of thought as it makes ideas thinkable that were unthinkable without this technique. And Palágyi is quite explicit on this count when he emphasizes that it was writing that “made people more attentive” to the workings of the mind.3 In this latter, psychological context another suggestion has special relevance. As Palágyi claims, there is a “precise analogy” between silent reading and silent thinking, the former being nothing else than a silent re-thinking a previously fixed “text of ideas“.4 The central elements of Palágyi’s analogy are 1) the motoric functions equally associated to the processes of reading and thinking that are hardly noticeable, and 2) the fact that silent reading and silent thinking are possible only after one has managed to learn reading aloud and thinking out loud. The point is, Palágyi argues, that one has to learn first to associate meaning with audible signs and it becomes possible only after that to revive the same process silently. As a consequence, our internal, psychological world is not a secretive, private realm that stands opposite to the external world, but it is a product of a process through which external signs are turned into internal ones. At the end of this process we start to feel so secure and natural in our internal world, that we begin to think that it is a world existing and accessible independently of the external world. And this process is a source of dangerous philosophical illusions that can be grasped as the common error of empiricism and rationalism, namely that they both consider psychological processes as essentially internal, and think that we do not need (external or learned) signs for thinking. Rationalists dream about thinking without signs that arises from “pure reason” hermetically closed from the world of the senses. Empiricists are mistaken because they consider signs to be irrelevant for knowledge, and conclude that impressions arising from the senses are the only condition of knowledge – so much so that they can hardly make a distinction between impression and knowledge. So, the common error springs from the same source of overlooking the importance of signs for human knowledge, and this mistaken view “has developed under 2 Menyhért Palágyi, Az ismerettan alapvetése [The Foundations of Epistemology], Budapest 1904, p. 13. 3 Ibid. 4 Ibid., p. 30–31.
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the mystical nature of silent thinking“.5 This is the source of the idea that the word is only a means of communication between human beings, and that the individual thinker can get along without the use of words. But as there are no relevant psychological and epistemological differences between silent reading and reading aloud, there are equally no such differences between silent thinking and thinking out loud – except for the greater speed and automatism introduced by long practice in these processes. The historical role Palágyi ascribes to the techniques of reading, writing and thinking has significance in the context of his critique of psychologism. Psychologistic doctrines in various forms had been dominant in epistemology from the time of Descartes and Locke until at least the mid-nineteenth century when they came under attack from various philosophical angles.6 A most characteristic feature of psychologistic stances is the divide they presuppose between the cognitive subject and object, the inner and the outer, and thus becomes consciousness the shadow phenomenon of impression arriving from the external world.7 From the end of the nineteenth century a new, experimental psychology started to take shape on the basis of this distinction. Lacking its own chairs at universities, the new discipline started to occupy philosophy chairs, and this provoked a fierce reaction among the representatives of the philosophy profession proper.8 Palágyi took part in the ensuing controversy, and considers the roots of psychologism as reaching to the metaphor of “an inner world” that due to sociological reasons has been overstretched. Under the influence of the natural sciences psychology started to postulate its own sphere of authority and interpreted this metaphor literally as a separate realm of phenomena. Thus the world of human beings has been doubled: it turned into an external world, which is in space-time, where physics is in charge, and an internal world, which is only in time, where psychology is supposed to have authority.9 In the controversy about psychologism Palágyi sides with anti-psychologism, but at the same time he warns against the dangers of Platonistic tendencies in some versions of anti-psychologism. For example, he welcomes the liberation of logic from under the oppression of psychology, but he would not accept its subsumption
5 Ibid., p. 31. 6 See J. C. Nyíri, Beim Sternenlicht der Nichtexistierenden: Zur ideologiekritischen Interpretation des platonisierenden Antipsychologismus, in: Inquiry 17 (1974), p. 399–443. 7 Palágyi, Az ismerettan, p. 46; Melchior Palágyi, Der Streit der Psychologisten und Formalisten in der modernen Logik, Leipzig 1902. p. 3. 8 Martin Kusch, Psychologism: A Case Study in the Sociology of Philosophical Knowledge, London 1995. 9 Palágyi, Az ismerettan, p. 46–47, 214.
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under the rule of mathematics,10 and it is equally unacceptable to create an independent, abstract realm for the laws of logic. This would make those laws unknowable and truth unreachable.11 This is the spirit in which he criticizes Bolzano and Husserl who claim that the content of our judgements exist independently of anyone ever thinking them. There is a certain independence, Palágyi admits, in the sense that the content remains the same whenever someone thinks it, but without these occasions of thinking them the judgement could not claim validity.12 Despite his criticism of Platonistic tendencies, Palágyi’s anti-psychologism is beyond doubt. He insists that human thinking and cognition would not be possible without “expressive signs“.13 In this sense thinking consists in the manipulation of symbols: Palágyi intends to replace the psychologistic account of cognition that builds upon the philosophical illusion of an inner world with a different image of cognition as processing signs. The attention Palágyi turns on the techniques of communication and their psychological and epistemological surroundings thus leads him to unmasking philosophical illusions. Beginning at the end of the 1910s József Balogh, a classical scholar, started to explore Augustine’s work with an attention to its aesthetic and stylistic features, and as a by-product of these investigations he published important contributions on the history of reading aloud. Of central importance for Balogh’s understanding of Augustine is his perceived connection between Augustine’s conversion, his turn from rhetoric to philosophy, and the development of a new literary style in connection with those conversions. As Balogh believes, a primarily aesthetic investigation of the link between them might provide a deeper understanding of the real origins of Augustine’s philosophy. This was the focal point of his investigations which he intended to develop into an overarching interpretation of Augustine’s thought, of which, however, only some central fragments have eventually been published. Balogh’s main point is not that Augustine’s conversion is linked to the arbitrary creation of a new literary style, but that behind it lay a real and deep conflict between the spoken and the written word, between oral and literal styles of expression, composition and indeed of thought. Augustine’s conversion to Catholicism is in significant part an outcome of his rejection of rhetoric in favour of philosophy, which Balogh understood as an aesthetic conflict, and this stylistic turn not only influenced the formal modes of expression, but also his way of thought. As Balogh puts it: “Augustine’s real conversion is preceded by a formal, so to speak, aesthetic one, which he only subsequently became aware of. Indications of this may be found 10 11 12 13
Palágyi, Der Streit, p. 5, 12. Ibid., p. 47. Ibid., p. 28–29. Ibid., p. 28; Palágyi, Az ismerettan, p. 220–221.
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in a given word or sentence, or in an unusual turn of phrase.“14 Augustine’s turn to philosophy opened up a new sphere of experience for him: it was “not sound but feeling that leads him into the new realm“.15 This stylistic conversion was, however, not without problems and was not complete either: As Balogh sees it, Augustine’s oeuvre as a whole is characterized by the conflict between orality and literacy and its consequences, as well as his nostalgia felt for his former self as rhetorician. For an illustration of Balogh’s core idea one could turn to the interpretation of, and the context Balogh creates for, Confessiones 1.16.26.16 Here Augustine contrasts the beauty of rhetorical words (vasa lecta atque pretiosa) and their erroneous content (vinum erroris). Balogh shows that this metaphor is deeply rooted in Augustine’s thought and reoccurs frequently in various passages.17 For example, in Confessiones 1.18.29 Augustine complains about obeying the laws of letters and syllables instead of the eternal laws of salvation; in a letter to Licentius he blames him for his rhetorical ideals compared to which the moral man is diminished (Letter 26). Augustine also points out that the simple and concise style of the Bible may seem less appealing to those coming to Christianity with a background in rhetoric (Catech. rud. 9, 1 ff ). This poses the need for an educational reform that places more emphasis on intellectual content as opposed to the beauty of expression thus making people more sensitive to the spiritual content of real importance. This insight leads Augustine from rhetoric to Christian mysticism, whose symbolic moment is the tolle lege scene in Confessiones. 8.12.29. For Balogh the act of taking and reading the Bible silently is symbolic both for Augustine’s religious as well as stylistic conversion: the mystical experience of religious conversion is also an important moment of turning away from the spoken word.18 Balogh explores the traces of the oral-literal opposition and its consequences throughout Augustine’s work, both for his philosophy and Christianity. For example, he points out Augustine’s complaint about his struggles with language in search for appropriate expressions for his new themes. Balogh ascribes this to the fact that the means the oral tradition provides are not suitable for the meanings Augustine 14 József Balogh, „Vasa lecta et pretiosa” – Szent Ágoston konfessziói: Egy stílustörténeti tanulmány vázlata [„Vasa lecta et pretiosa” – Saint Augustine’s confessions: A sketch for a study in the history of style], Budapest 1918, p. 7. 15 Joseph Balogh, Augustins alter und neuer Stil, in: Die Antike 3 (1927), p. 351–367, here p. 361. 16 Ibid., p. 365. 17 Balogh, Vasa lecta, p. 16–18. 18 Ibid., p. 11–14; for a discussion see Attila Simon, Lesen und Bekenntnis. József Balogs Interpretation des Heiligen Augustin, in: Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka Oraić Tolić (eds), Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der Mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008, p. 219–234.
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intended to convey. For these he needed a different kind of language, a new conceptual scheme which increasingly distanced him from rhetoric and turned his attention to the problems of philosophy. In the course of this stylistic journey he created, as Balogh argues, a new genre which had no predecessor in Latin literature – namely, Latin mystical prose.19 This changing perspective explains Augustine’s growing dissatisfaction with the contemporary system of education, which was rooted in the requirements posed by oral expression, and which was thus in conflict with his emerging literary cultural ideals. Balogh finds the origins of this conflict in a clash between, on the one hand, the oral-rhetoric tradition in which Augustine was educated, and, on the other, his new experiences originating in private reading practices and a deeply interiorized literacy. In Balogh’s interpretation the significance of these and similar topics is that they present orality, rhetoric, and the oral tradition as an obstacle to truth, both in cognitive and moral respects. These must be overcome by setting new stylistic and aesthetic standards in order for the soul to arrive at its proper food, i.e. truth. This is the angle from which Augustine’s religious conversion and the development of his thought are said to arise from his gradual conversion to literacy. While studying these aspects of Augustine’s work, Balogh came to realize the central significance of the phenomenon of reading aloud in ancient and medieval culture whose well-known locus classicus is in the Confessiones 6.3.3 where Augustine reports his surprise upon seeing Ambrose reading silently. Also inspired by reading relevant passages in Nietzsche, Balogh was the first to systematically collect textual evidence on the strength of which he was able to establish conclusively just how widespread and deeply entrenched the habit of reading aloud actually was. As he points out, this fact alone explains why this phenomenon had previously avoided systematic scholarly attention: it was a natural practice at that time that hardly anyone thought to be worthy taking note of. Literary sources reporting a common practice are of course scarce, and it is somewhat easier to find reports on the rare deviating exceptions of someone reading silently. The habit of reading aloud deeply influenced the styles of thought and composition at that time, including those of the Confessiones itself.20 As Balogh saw it, this custom produced an orally based literacy, which prevailed in the ancient and medieval intellectual worlds. Beside its relevance to cultural history, this insight has also proved to be methodologically significant in translating and interpreting certain sentences whose meaning, as Balogh argues, are perceived in a different way if the fact that it had been composed not for the eye but for the ear is taken into due consideration.
19 Balogh, Augustins alter und neuer Stil, p. 363; Balogh, Vasa lecta, p. 47–49. 20 Ibid., p. 26, 46.
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István Hajnal’s works on the history of writing and its relation to social history had been published from the 1920s onwards. A characteristic feature of Hajnal’s early writings is that – up until his A History of the Modern Age, published in 1942 – he took the history of writing to be the primary key to solving historical problems. It was such a strong conviction that he initially wanted to write his A History of the Modern Age on the foundations of a history of writing. This intention is rather obvious in the eventually unpublished draft introduction of this volume. Hajnal’s historical interests in this period are focused the concept of literacy: the way in which writing as a technique of recording thoughts plays an ever-increasing part in the organization of society. Writing itself is a mere technique until it is transformed into a highly relevant historical factor when it permeates the life of society in depth. As Hajnal puts it: it is not writing in itself that plays the role of an instrument of dynamics and development; it is ‘literacy’ that has historical importance. That is: when writing truly becomes a means to establish sociological relations. [...] This only happened in the modern age, after centuries of development in the Middle Ages.
This perspective of the history of communication provides him with the opportunity to criticize Max Weber’s theory of rational organization, which derives the development of modern European societies from a process in which a certain ‘spirit’, i.e. the spirit of capitalism prevails. Contrary to that, Hajnal maintains that “if we would like to explore the developments in the modern age from the widest, all-encompassing point of view”, then we should “investigate the consequences of the techniques of written interaction and thought instead those of a rational spirit. These consequences drive us towards rationalization, but they are not the products of a pervasive spirit.“21 That is precisely what guarantees the exceptionality of European social development: writing as we understand it [i.e. as alphabetical writing] has never appeared outside the boundaries of European culture. In all other areas, it was an instrument detached from speech and linguistic thought: it was thinking in pictures, symbols and, finally, syllables.22
The proliferation of literacy throughout almost all areas of life triggered a process as a consequence of which “the role, the constitution and the whole concept of the
21 Hajnal, Technika, művelődés, p. 34. 22 Ibid., p. 33.
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literary-intellectual stratum had been transformed, and it became society itself“.23 For Hajnal, this process is the defining characteristic of European development, the help of which enabled Europe to reach levels of economic, social and cultural organization that would have been left unattainable in its absence. Large-scale economic organizational processes are impossible to maintain without writing. The economic instinct is the motivational force that has always been part of the human condition; writing is the sociological element, a novelty attached to the existing forces, developing them and developing itself as well. Even its most primitive form leads to a novel way in which the existing forces can manifest themselves.24
Techniques of writing and literacy are thus not causes that operate only when they emerge, but they have a self-developing character due to their interaction with various social processes. So, the role literacy plays in social development is not only due to its ever-widening application, but it also depends on the intensification of its applications. It is not only the extension of literacy to various fields of social organization, from the universities, to governance and economics, that matters, but also the degree to which literacy permeates these fields – not only the breadth but also the depth of literacy should be seen as a driving force. The expansion of literacy is intertwined with socially relevant processes due to it becoming connected to wider and wider circles of society, and through this process literacy also permeates the modes of thinking. This insight of Hajnal that closely resembles Palágyi’s remarks on the matter: people of the antiquities “had essentially been thinking and interacting verbally“,25 whereas from the Middle Ages onwards, “thinking in writing and reading” became more and more prevalent.26 The intellectual consequences of this development are far-reaching. Interiorized literacy makes the objectification of thought possible, thereby enabling us to view our thoughts from an ‘external perspective’; it facilitates the emergence of individualism, as “it brings to the surface such human peculiarities that members of a community came to recognize as common general and eternal human characteristics” (18). And it can be generally concluded that without literacy our civilized life could not have come into being; whatever values humanity has uncovered in emotional, spiritual and material achievements, they all have been accumulated with the help of letters, and they all continued to spread and evolve through them. 23 24 25 26
Ibid., p. 62. Ibid., p. 51. Ibid., p. 432. Ibid., p. 441.
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Human development is fashioned after an entirely different method ever since letters started to conserve (and to refine) each and every thought.27
Social and intellectual development walk hand in hand in Hajnal’s account, with the active participation of literacy as an ever-present and catalyzing factor. Through these insights, the vantage point of the history of communication becomes a necessary element of investigations in the fields of both social and intellectual history – making its recognition probably the most important achievement of Hajnal’s intellectual endeavour.28 Béla Zolnai’s works containing his analyses in poetics, the history of style and aesthetics fall also within the framework that a perspective from the history of communication can provide. Just like Balogh’s and Hajnal’s contributions, Zolnai’s papers started to appear in the 1920s. His interests are demonstrably connected to Balogh’s investigations in the history of style and Hajnal’s research on the history of writing.29 Zolnai shares their belief that the techniques of communication and recording thoughts are, stylistically speaking, “formal agents of influence“;30 moreover, they are agents that shape thinking itself, rendering “the history of writing and intellectual history [to be] parallel phenomena“.31 Zolnai – in accordance with Hajnal and Palágyi – maintains that writing has an effect on our thinking: “writing (printing) is not a neutral instrument of communicating thoughts. Its mediating presence is felt at every step, sometimes even becoming an aesthetic end in itself.“32 Writing also plays a part in shaping our worldview: ancient forms of writing are closely tied to a religious-metaphysical worldview, and only the emergence of alphabetic writing opens up the possibility to draw away from that and push toward “intellectualization and abstraction“. Zolnai also suggests that styles of writing and “the spirit of the ages” are closely connected: this connection is made manifest in the general taste and the works of art characteristic to a given era.33
27 István Hajnal, Írástörténet az írásbeliség felújulása korából [A history of writing from the age of the renewal of literacy], Budapest 1921, p. 5. 28 For a more detailed discussion see Péter Szirák, Socialising Technology: The Archives of István Hajnal, in: Studies in East European Thought 60 (2008), p. 135–147. 29 Béla Lóránt Kovács, Médium és stílus: A nyelv optikája és akusztikája Zolnai Béla életművében, in: Szabolcs Oláh/Péter Szirák/Attila Simon (eds.), Szerep és közeg: medialitás a magyar kultúratudományok 20. századi történetében, Budapest 2006, p. 149–169. 30 Béla Zolnai, A látható nyelv [The visible language], Budapest 1926, p. 13. 31 Ibid., p. 21. 32 Ibid., p. 56. 33 Ibid., pp. 13–14, 16.
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Zolnai’s interest in the history of ideas is, however, rather tangential, his attention being primarily focused on the history of style – just like Balogh’s attention in the case of Augustine. The most important organizational principle behind his investigations is the contraposition of the “acoustics” and the “optics of language“.34 This distinction is clearly motivated by the tension between the spoken and the written word that is commonly alluded to ever since Plato. As for him “literacy is in opposition with spoken language even from a stylistic point of view“,35 Zolnai is primarily interested in those stylistical characteristics and aesthetic ideals that differentiate between the oral and written techniques of communication. Parallel to the changing techniques of communication, Zolnai also explores the problem of style in the context of literary history and theory: “if we would like to find theoretical literature on the style of the complex sentence, we are left with no other option than to consult the chapters of older rhetoric and stylistics“.36 Following Balogh’s path, he differentiates between “visual” sentences written for the eye, and “acoustic” sentences that target the ear, and accordingly between poetry for the eye and poetry for the ear. His enquiries regarding the consequences of such a distinction, however, are conducted against a background of literary history that is substantially broader in scope than what Balogh’s similar excursions exploited. Zolnai’s interests reach from classical stylistic characteristics to the comparative study of baroque and romantic literature,37 and he explores how various poetic devices fit oral and written stylistic ideals in poetry. Further examples of similarly inspired investigations could be introduced to illustrate the importance of communication in various fields of contemporary scholarship. The list of emblematic figures would include Béla Balázs, Helga Hajdú, Ede Kallós, Károly Kerényi, Tivadar Thienemann or Nándor Várkonyi among others, but this enterprise would far exceed the limits of the present paper.
The sociological context Let me now turn to the question whether it is possible to explain why the problems of communication and media gained special importance in the specific period of the early decades of the twentieth century. The growing historical attention is of interest in itself, but as we have seen, there are methodological consequences arising from this attention, as is the case especially in Balogh, Hajnal and Zolnai, 34 35 36 37
Ibid., p. 3. Ibid., p. 53. Béla Zolnai, Nyelv és stílus [Language and style], Budapest 1957, p. 149. Ibid., p. 154, 173.
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and this has been largely missing from earlier enquiries. Communication technologies play a leading role in humanity’s development according to Condorcet’s philosophy of history, but the need never arises for him to conduct further investigations into social or intellectual history based on this insight. Friedrich Nietzsche laments on the disappearance of the practice of reading aloud in passing remarks, but never elaborates its consequences for classical scholarship any further. JeanJacques Rousseau, Johann Gottfried Herder and Nietzsche all disapprove of the current state of book-culture, and find the ‘reign of books’ worrying – but they all do so without systematically examining the differences between orality and literacy, between oral and written modes of expression, and without taking into account the cognitive and sociological consequences of the shift from orality to literacy and the prevalence of literacy in all areas of life. Hungarian scholars, however, are not the only ones to show interest in these questions. It may suffice here to refer to Oswald Spengler’s philosophy of history and the role writing plays in it. Spengler’s explorations proved to be inspirational for Zolnai and to the circle of classical scholars formed around Eduard Norden, to which Balogh was professionally tied to – a connection that loosely tied him to Nietzsche.38 Bronislaw Malinowski’s research on the cognitive consequences of orality in primitive societies is also of relevance, as well as Milman Parry’s works that concern themselves with the mnemotechniques used in Homeric epics - and the list could certainly be extended with countless more examples.39 Most of these investigations, however, (Malinowski being an obvious exception) do not urge further research based on their primary results, and to draw methodological conclusions from them. It is worth reminding here that contrary to these tendencies, Balogh was planning to write a comprehensive treatise on the history of style; the examination of the acoustics and optics of language provides a framework for Zolnai’s work in literary history and theory, and Hajnal attempted to write about social history based on the history of writing. Palágyi had also formulated his critical remarks towards the psychologistic tendencies of modern philosophy in the frame of the history of communication. Elaborating and extending the insights provided by the history of communication is a defining characteristic of Hungarian cultural history in the period. 38 Tamás Demeter, A kommunikációfilozófia magyar előfutára: Balogh József, in: Vera Békés (ed.), A kreativitás mintázatai, Budapest 2004. 39 Bronislav Malinowski, The Problem of Meaning in Primitive Languages, in: C.K. Ogden/I. Richards (eds.), The Meaning of Meaning: A Study of the Influence of Language upon Thought and of the Science of Symbolism, London 1924.; Milman Parry, The Making of Homeric Verse, Oxford 1971.
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What motivated such investigations? The technological advances in the middle of the nineteenth century were signalling the dawn of a new era of communication. The telegraph and the typewriter paved the way for a process in which the word and its context was about to go through swift and radical transformations – a process that was completed by inventions such as the radio, the film, the television, and finally, the computer. On the one hand, the vocal word has regained some of its former importance, while on the other, this new, technically produced “orality” has demonstrably affected grammatical structures, the modes of thinking and expression. These tendencies marked the beginnings of the era of “secondary orality” (following Walter J. Ong’s terminology). Secondary orality is fundamentally different from literacy, but it is not to be equated with the primary orality of pre-literal communities, since “this new orality [...] is essentially a more deliberate and self-conscious orality, based permanently on the use of writing and print“.40 This renewed importance of the spoken word has served as a catalyst for the rising interest that lies behind the growing need to inquire into mediality. It is worth noting in that respect how Hungary excelled at developing and employing communication technologies at this time, the prime example of which is the work of Tivadar Puskás, who was – to borrow a phrase from Ian Hacking41 – a prophet of this process. These Hungarian investigations can, however, be placed in a different context of Wirkungsgeschichte, which could lead us to a further component of a possible explanation besides the catalytic effect of developing communication technologies. This component is to be found in the specific socio-political situation of the Austro-Hungarian Monarchy. In an earlier paper, Kristóf Nyíri alluded to the importance of “disturbed communication” as the source of the tension between contemporary philosophies of language.42 Disturbed communication is not only the consequence of the diversity and coexistence of multiple languages, it is also a corollary of the fact that “extra-linguistic factors have again and again rendered the process of semantic equalization rather difficult“. Among these factors the tension between spoken and written language plays the most important role for our present concerns, for example the fact that it was not the same language that had been used for the purposes of written and oral communication. It may suffice to mention here tensions between various dialects and literary language, or the different national languages and the official language 40 Walter J. Ong, Orality and Literacy, London 1982, p. 136. 41 Ian Hacking, Genres of Communication, Genres of Information, in: Kristóf Nyíri (ed.), Mobile Understanding, Wien 2006, p. 28. 42 Kristóf Nyíri, Österreich und das Entstehen der Postmoderne, in: Jeff Bernard/János Kelemen (eds.), Zeichen, Denken, Praxis, Vienna 1990.
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of the Empire. Nyíri partially attributes the lively interest for the philosophy of language in Austrian philosophical circles to this context, though one might even say that this kind of experience could not facilitate interest in such problems only within the borders of Austria – it was manifested in Hungary too. The only difference is that Hungarian interest did not emerge primarily in the field of philosophy – an understandable discrepancy considering the differences between the philosophical cultures of Austria and Hungary.43 These problems were pressing in the everyday life of the Monarchy, and they plausible contribute to the explanation of interests – the intensity of which could not be matched by areas where such problems emerged only on the theoretical level, and not in the actual practice of everyday life. These two elements – technological development and the specific circumstances of communication within the Monarchy – are able to shed light on why Hungarian intellectual life was especially well positioned to tackle such issues; while they also let us grasp why the attention devoted to problems of communication has transcended disciplinary boundaries. There is, however, one further component one needs to consider when taking account of the interdisciplinary nature of these investigations, and it stems from the conservative image of man characteristic of Central-European thought. Kristóf Nyíri has argued that a strong orientation to conservative anthropology is present in Austro-Hungarian philosophies. This orientation can situate local intellectual achievements in a coherent narrative and this may also explain the ideological background against which contemporary interest in problems of communication and mediality can plausibly be positioned.44 The most striking feature of this interest from this perspective is the way the authors discussed above turn with great nostalgia towards vocal speech, and contrast it with the mechanization of the word. Balogh, for instance, turns back to the centuries of reading aloud, for he takes silent reading to be the product of a technology that ultimately smothers language through its mechanical connections: This process of mechanization has begun with the invention of the printing press, and has gone on undeterred to the present day. The mechanization of written and oral human word has at its disposal the writing-, dictating- and speaking-machines, on the one hand; and the telegraph, the telephone and “Broadcasting” on the other. A special place
43 Tamás Demeter, The Sociological Tradition of Hungarian Philosophy, in: Studies in East European Thought 60 (2008), pp. 1–16. 44 J. C. Nyíri, Am Rande Europas, Wien 1986.
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is guaranteed for the cinematograph, which not only displaces the stage, but functions as a book-surrogate in many respects as well.45
Palágyi also promulgates the superiority of the vocal word by saying: We, so-called “modern people”, are enamoured with our steam engines, our telegraphs and telephones that, as the saying goes, vanquish all distance on the face of the Earth. But what are these inventions altogether, when contrasted with our words that vanquish the distance of time between us, connecting generations of millennia through the electric currents of the spirit! Should we call our speech an invention, it would be the greatest of all our inventions, since this is the one thing that makes it possible for us to have inventions in the first place.46
And Zolnai is also frequent in letting his nostalgia shine through when he is talking about the displacement of spoken word by writing, and the modern culture under the sign of the dead word, or when he voices his complaint that in the present we tend to talk as if we were reading. At other times, he turns with sympathy towards the rules of classical sentence construction, and refers us to consult authors that belonged to the classical, oral-rhetorical culture when we attempt to lay the foundations for a theory of complex sentences. Zolnai’s paragraphs strongly suggest that he takes vocal language to be under the oppression of writing, and his own ideal is much closer to orality than it is to some exaggerated and anarchistic typography.47 A similar kind of nostalgia is easily discernible in Hajnal’s writings as well: [T]he true intellectual of the day almost only takes part in direct personal interactions accidentally, he is much more defined by his electric connections to cultural down-trickling. The fatal extremes of his position are mocked with bitter irony by Nietzsche.48
Hajnal puts it differently on another occasion: The interactional instrument of writing is already in the age of full maturity; it has absorbed everything that has formerly been the property of vocal language. [...] In this age of maturity the one-sided role of literacy has to come to an end. [...] Orality is once 45 Joseph Balogh, Voces Paginarum. Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, in: Philologus 82 (1926), pp. 84–109, 202–240. 46 Palágyi, Az ismerettan, pp. 84f. 47 I. e. Zolnai, A látható nyelv, pp. 7, 12, 23. 48 Hajnal, Technika, művelődés, p. 33–34.
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again what we desire, the possible elimination of writing: spontaneity is the main value, in both art and life.49
This nostalgia provides the framework for the thought processes and interests of our heroes, and this is the link that connects them to the tradition of conservative anthropology. It is not necessarily political conservatism, although it is certainly not an exaggeration to state even that in the case of Balogh.50 More importantly though, it is anthropological conservatism: adherence to an image of man that takes traditions and customs to be necessary, desirable and valuable parts of human life; that is sympathetic to organic development and the natural in general; and that is averse to artificiality. The above expressions of nostalgia convey precisely these sentiments. For Balogh, the process of the mechanization of the word means distancing it from its natural origins, while the declining importance of classical educations in the wake of secondary orality represents a loss of important values for him. Palágyi embeds the problem of reading and writing into his criticism of psychologism’s liberal anthropology, the one that understands man to be a consciously acting agent who is the absolute ruler of his mental realm; a conception against which he emphasizes that cognition is maintained and transmitted through signals (through language), and is therefore bound to a community. The central concept of Hajnal’s social historical approach based on communication technologies is “habituality“: communication technologies can only be seen as true instruments of shaping and moulding society and thought once their use becomes habitual and gets embedded into everyday practice. This is an organic process that cannot be guided artificially, and that is an ineliminable part of the lives of the community and the individuals. Zolnai’s ideal of style, as it is evident from his aversion towards avant-garde, is classical, very much in the vein of Balogh’s (or it can be said to lean towards natural-oral modes of expression). These sympathies and aversions constitute possible vantage points from which the significance of the interest regarding communication in the context of the history of ideas could be explored.
49 István Hajnal, Írásbeliség és fejlődés, in: Replika 30 (1998), p. 202. 50 Tibor Frank, A patrisztikától a politikáig, in: Györgyi Erdei/Balázs Nagy (eds.), Változatok a történelemre, Budapest 2005.
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Die „Gesellschaftlichkeit“ der Technik Aus dem Archiv von István Hajnal „Es gibt keine Philosophie der Technik, es gibt nur eine Sozialgeschichte der Technik.“
István Hajnal begann seine Laufbahn mit Forschungen über die Geschichte der Schrift. Als Schüler des legendären László Fejérpataky beschäftigte er sich an der Budapester Universität mit Paläographie. Wie bekannt, stellte die Urkundenlehre (Diplomatik) im ersten halben Jahrhundert der modernen Geschichtsschreibung deren Ausgangspunkt und erstrangige Quelle dar.1 In seinen Forschungen zu den Schreibtechniken begriff Hajnal die Untersuchung, Typisierung und Lokalisierung der Schreibweise von Urkunden von Anfang an im Rahmen von Institutions- und Bildungsgeschichte, indem er ein ganzes System von Hilfswissenschaften entwickelte, das von der Siegelkunde und der Genealogie über die Heraldik bis hin zur Paläographie vieles umfasste. Die vorrangige Aufgabe der Urkundenlehre besteht in der Rekonstruktion der Umstände der Entstehung und Überlieferung von Urkunden. Daher ist es kein Zufall, dass István Hajnal sich von Anfang an mit der Frage der Institutionalisierung der Schreibtechnik und der gesellschaftlichen Rolle der Schrift auseinandersetzte.2 Um die Jahrhundertwende erfuhr die Diplomatik durch die Nutzung der Fotografie neuen Aufschwung: das massenhafte Ablichten ermöglichte die regelmäßige Ausgabe von Urkundenkopien und erleichterte die 1 Vgl. Ferenc Glatz, Hajnal István történetírása [Die Geschichtsschreibung von István Hajnal], in István Hajnal, Technika, művelődés [Technik, Kultur], ausgewählt und zum Druck freigegeben, Einführung, Anmerkungen und Verbindungstexte von Ferenc Glatz, Budapest 1993, S. XI–XLII, hier S. XX. 2 In seiner Habilitationsschrift Írástörténet az írásbeliség felújulása korából [Schriftgeschichte in der Zeit der Erneuerung des Schriftwesens, 1921] schrieb er später: „… wir werden die Schriften nicht benoten und wollen nicht ihre Form kennen lernen, sondern wir sind darauf bedacht, aus der Führung der Feder, aus jeder winzigen Biegung der Linien herauszufinden, was dem Schreiber die Kunst der Schrift bedeutete, (…), wir wollen erfahren, inwiefern die Schrift zu eben seiner Zeit ein konsequentes Handwerk wie in den vorhergehenden Generationen war.“ – Zitiert von László Lakatos, Bevezetés [Einleitung], in: ders., Hajnal István [István Hajnal] ausgewählt, zum Druck freigegeben, Einführung und Anmerkungen von László Lakatos, Budapest 2001, S. 7–63, hier S. 16.
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kontrastive Untersuchung von Schreibweisen.3 Mit Anfang des 20. Jahrhunderts wandte sich die Forschung verstärkt der Materialität der Buchstaben, der Visualität der Sprache (Schriftsysteme, Buchstabenformen, Abkürzungen usw.) zu, wie Béla Zolnai in seinem Aufsatz A látható nyelv [Die sichtbare Sprache]4 dem ungarischen Publikum systematisch vorstellte. Nach dem Abschluss seines Studiums war István Hajnal von 1914 bis 1919 Präfekt am Wiener Theresianum, einer Bildungsstätte für Diplomaten und Politiker der Monarchie, und nahm im Institut für Österreichische Geschichtsforschung, das als europäisches Zentrum für Urkundenlehre galt, an einer postgradualen Ausbildung teil. Schon Fejérpataky hatte ihn zu Untersuchungen über die Gründe für das große und gleichzeitige Aufleben von Technik, Handel, Rechtspraxis und Schrifttum im 13. Jahrhundert inspiriert.5 Das war das Jahrhundert, in dem die europäische Kultur von der fast ausschließlichen Mündlichkeit des Frühmittelalters in die neuere Epoche der Schriftlichkeit überging; das war also nach der Antike gleichsam eine zweite Zeitenwende der Schriftlichkeit. Unter Annahme von Unterschieden in den Schreibweisen verglich Hajnal anfangs ungarische und österreichische Urkunden aus dem 12. und 13. Jahrhundert und musste dabei überrascht feststellen, dass die Schreibtechniken auffallende Ähnlichkeiten aufwiesen. Daraufhin bezog er italienische bzw. deutsche und französische Urkundenmaterialien in die komparative Untersuchung ein. Während er im Süden voneinander abweichende – aus antiken Überlieferungen stammende – Schreibweisen vorfand, konnte er in den Gebieten nördlich der Alpen von Frankreich bis Ungarn eine überraschende Parallelität und Gleichförmigkeit feststellen6 (verblüffend war diese zeitliche Parallelität besonders im Hinblick auf die für Ungarn allgemein angenommene „Verspätung“ um fünfzig oder sogar hundert Jahre). In jener Zeit nahm die Schreibtechnik anstelle der großen stämmigen Buchstaben der karolingischen Schrift sanftere Formen an und begann der Schreibschrift zu ähneln. Der Schwung der Hand beugte den steifen Buchstabenrücken, die veränderte fortlaufende Linienführung erlaubte ein schnelleres Schreiben. Hajnal bemerkte den Zusammenhang, dass die Epoche der neuartigen, sich ausbreitenden und immer ein3 Zuerst wurde das mittelalterliche Material von der Bibliotheque Nationale und dem British Museum herausgegeben, siehe Glatz, Hajnal István történetírása, S. XXI. 4 Béla Zolnai, A látható nyelv [Die sichtbare Sprache], in: Minerva 5 (1926), S. 18–71. – Hier beruft sich Zolnai auch auf die zu Beginn der zwanziger Jahre von István Hajnal publizierten „kulturhistorischen“ Ergebnisse, namentlich darauf, dass im 13. Jahrhundert aus der komparativen Schriftgeschichte auf den französischen kulturellen Einfluss der nördlich der Alpen gelegenen Region geschlossen werden darf. Ebd., S. 30. 5 Glatz, Hajnal István történetírása, S. XXI. 6 István Hajnal, Árpád-kori oklevélírások és a francia egyetemek [Urkundenschriften aus der Zeit der Árpádendynastie und die französischen Universitäten] (1920), in: Hajnal, Technika, művelődés, S. 3–11, hier S. 5–8.
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heitlicher werdenden Schriftlichkeit eben in die Zeitspanne der schnellen Herausbildung der Universitäten in Europa fiel. Die Untersuchungen zur Entwicklung der Schreibtechnik und die exakte Lokalisierung der Schreibweisen verband er also an diesem Punkt mit schul- und elitehistorischen Ausführungen. Hajnal konnte zeigen, dass in Europa (mit Ausnahme von Italien) die neue Art der Urkundenverfassung von der facultas artium der sich zu jener Zeit mit unerhörter Effektivität organisierenden Pariser Universität als einer Art europäischen Bildungszentrums ausging.7 Dies geschah einerseits, weil sie von den hierher ausgewanderten mitteleuropäischen Studenten – genauer gesagt Priester, die auf päpstliche Anweisung die Universität besuchten – in den nicht-italienischen Teilen Europas verbreitet wurde, und andererseits, weil auch die weiteren Universitäten des Kontinents nach dem Muster der Pariser Universität gegründet wurden (wie zum Beispiel in den deutschen Landen). Hajnal machte auch darauf aufmerksam, dass die Studenten an den neuen europäischen Universitäten eine praktisch ausgerichtete Ausbildung bekamen. Teile des Studiums waren Schreiben, Lesen (Grammatik) und praktische Rechtswissenschaften. Auf zweiter Stufe studierten sie Rhetorik, deren Hauptelement das Schreiben und Verfassen von Urkunden war. Nach ihrem Universitätsabschluss waren die Magister ausgebildete Kleriker (Hofprediger), die nicht mehr die Liturgie ausübten, sondern als Urkundenverfasser und Diplomaten in ihrer Heimat eine Vielfalt von administrativen Aufgaben übernahmen, und zwar vom Königshof bis hin zu den Kapiteln auf dem Lande. Die neuartige, immer einheitlicher werdende Schreibtechnik ging also von der Pariser Universität aus und wurde durch die intellektuelle Schicht der Hofprediger verbreitet, die nunmehr neue gesellschaftliche Funktionen innehatten. Die grundlegenden Dilemmata im späteren Schaffen von Hajnal traten schon in dieser relativ frühen Arbeit8 zutage, und zwar in der Frage der ungewissen Kausalität zwischen Technik und Gesellschaftsorganisation. Tatsache ist, dass die Schriftlichkeit in ganz Europa auflebte und zum Massengut wurde, und dass ihr „Träger“, die neue klerikale Intelligenz – eine der Grundlagen der späteren spektakulären okzidentalen Entwicklung – sich vervielfachte. Zeichen hierfür war auch die europäische Schulreform im 13. Jahrhundert. Die Frage aber ist, ob die Verbreitung der Administration (Urkundenschreiben, Rechtsprechung) Ursache oder Wirkung war. Ob die Umgestaltung gesellschaftlicher Organisationen (Zünfte, Lehnswesen) ein Aufleben der Schriftlichkeit herbeiführte, oder ob die Vereinheitlichung der Schrift, ihr erleichterter 7 Als Beleg dafür nutzt er – zwischen den Diskursen, u. a. „literarische“ – philologische Daten, z. B. begonnen damit, dass in den ungarischen Urkunden die Vornamen auf französische Weise geschrieben wurden, bis dahin, dass die Lieder der fahrenden Studenten voller französischer Zitate steckten, ebd., S. 9. 8 Die Forschungen zum 12. und 13. Jahrhundert fasste er in seiner Habilitationsschrift, Budapest 1921, zusammen.
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Erwerb und ihr professioneller Unterricht die Umformung der gesellschaftlichen Organisationen vorantrieb. Bezeichnend ist, dass Zolnai in seinem erwähnten Aufsatz die Lehre aus dem von Mathias Mieses verfassten – auch von Hajnal gelesenen und rezensierten – Buch über die Wechselseitigkeit von Schrift- und Religionsgeschichte wie folgt zusammenfasst: „Schriftgeschichte und Geistesgeschichte sind parallele Phänomene, die Schrift ist eine Funktion des geistigen, religiösen und politischen Lebens.“9 Im Unterschied dazu nahm aber Hajnal schon damals keine Wirkung in einer Richtung, sondern eine Wechselseitigkeit zwischen Schreibtechnik und Gesellschaftsorganisation an: Allgemein heißt es, dass das juristische und wirtschaftliche Leben sowie das staatliche Verwaltungswesen immer enger miteinander verflochten wurden, und deshalb brauchte man die Schrift. Das ist unumstritten, betrachtet man aber den übergangslosen, schnellen Aufschwung der Schriftlichkeit, so lässt sich die These andererseits wohl auch umgekehrt aufstellen: Vielleicht konnten die Rechtsprechung, das Wirtschaftswesen und das staatliche Leben gerade deshalb eine exaktere und komplexere Entwicklung nehmen, weil sich die Schriftlichkeit plötzlich verbreitete und zu einem alltäglichen Hilfsmittel der Entwicklung wurde. Allem Anschein nach war plötzlich eine große Anzahl an höher ausgebildeten Männern da, die das Wissen um die Schreibschrift verbreiteten und den Menschen deren Anwendungsmöglichkeiten beibrachten.10
In den zwanziger Jahren musste sich Hajnal von der Erforschung der Schriftlichkeit abwenden, seine Auftragsarbeiten richteten sich nämlich auf Themen der neuzeitlichen ungarischen Geschichte. Graf Kunó Klebelsberg betraute ihn damit, in Wien die Emigration von Kossuth in der Türkei zu erforschen (A Kossuth-emigráció Törökországban [Kossuths Emigration in der Türkei], 1927; als Abzweigung und Weiterentwicklung dieser Arbeit gab er in den fünfziger Jahren sein Buch A Batthyány-kormány külpolitikája [Die Außenpolitik der Batthyány-Regierung] heraus11), später erschloss er als Archivar des Fürsten Pál Esterházy in Eisenstadt den Lebensweg des Palatins Graf Miklós Esterházy im 17. Jahrhundert. Auf seine zu Recht als grundlegend betrachteten schrifthistorischen Entdeckungen griff er jedoch umgehend zurück, als er 1932 auf Vermittlung von Graf Pál Teleki vom 9 Zolnai, A látható nyelv, S. 36. 10 Hajnal, Árpád-kori, S. 6. Eine der „Umwandlungen“ Hajnals klingt in der Mieses-Kritik wie folgt: „Demzufolge erschafft nicht die Religion die Schrift, sondern in gewisser Weise erschafft die Schrift religiöse Vorstellungen.“ (István Hajnal, Írásbeliség, intellektuális réteg és európai fejlődés [Schriftlichkeit, intellektuelle Schicht und europäische Entwicklung], in: ders., Technika, művelődés, S. 37–64, hier S. 41. 11 Der Band erschien postum 1957 und wurde 1987 von Aladár Urbán im Verlag Gondolat erneut herausgegeben.
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amerikanischen Forschungsrat für Gesellschaftsgeschichte ersucht wurde, eine neue Geschichte Europas in einem Werk enzyklopädischen Charakters zu konzipieren. Als er bald darauf die Aufgabe erhielt, in der von Bálint Hóman, Gyula Szekfű und Karl Kerényi redigierten Universalgeschichte das Kapitel „Neuzeit“ zu verfassen, machte er sich mit noch mehr Elan daran, die neuzeitliche europäische Entwicklung mit seiner schrifthistorischen Konzeption in einen engen Zusammenhang zu bringen, um den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit – zumindest teilweise – mit der „sozialisierenden“ Rolle der Schriftlichkeit zu erklären. In Vorbereitung auf die Abfassung der Geschichte der Neuzeit versuchte er in der Zeit zwischen 1932 und 1934 in mehreren Aufsätzen sein Konzept zu skizzieren und zu verfeinern. In Telekis Auftrag fertigte er die Arbeit Europäische Kulturgeschichte – Schriftgeschichte (1932) an. Noch im gleichen Jahr verfasste er seine Studie Rationale Entwicklung und Schriftlichkeit, die 1933 erschien. Darauf folgte die großangelegte Arbeit Schriftlichkeit, intellektuelle Schicht und europäische Entwicklung, deren französische Ausgabe unter dem Titel Le rôle social de l’ecriture et l’évolution européenne (Revue de l’Institut de Sociologie. Bruxelles, 1934) von außerordentlicher Wirkung auf die sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entfaltenden Forschungen zur Kommunikations- und Mediengeschichte war. Hierauf beriefen sich Harold A. Innis in seinem Buch The Bias of Communication (Toronto, 1951), Marshall McLuhan in seinem Werk The Gutenberg Galaxy, Walter J. Ong in seinen Büchern über die sekundäre Mündlichkeit sowie Elisabeth Eisenstein in ihrer Arbeit zum Buchdruck12. Weil diese Autoren aber beispielsweise auch auf Eric Havelock eine wesentliche Wirkung entfalteten, darf heute gesagt werden, dass István Hajnal mit seinen in den dreißiger Jahren verfassten Arbeiten auf die angelsächsischen Forschungen zur Mediengeschichte im zwanzigsten Jahrhundert eine Wirkung ausübte, die von konzeptioneller Bedeutung ist.13 Hajnals Konzeption entfaltete sich, indem die Geschichte der Schriftlichkeit und der Kommunikation in den Vordergrund gestellt, die menschen- und gesellschaftsformende Macht des Mediums aus soziologischem Blickwinkel untersucht und schließlich ein mehrere Elemente in Betracht ziehendes, aber nicht teleologisches Entwicklungsprinzip erarbeitet wurde. Aus der Tradition der Paläographie machte er es sich zu eigen, auf dem Konkreten, der Materialität der Quellen, zu 12 Marshall McLucan, The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man, Toronto 1962; Walter J. Ong, The Presence of the Word: Some Prolegomena for Cultural an Religious History, Yale, 1967; ders., Orality and Literacy: The Technologizing of the Word, London 1982; Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change: Communications and cultural transformations in early-modern Europe I–II, Cambridge, 1979. 13 Vgl. Kristóf Nyíri, Hajnal István időszerűsége [Die Aktualität István Hajnals], in: ders., A hagyomány filozófiája [Die Philosophie der Tradition], Budapest 1994, S. 132–143, hier: S. 136–137, 142.
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beharren. Doch schon während eines Semesters in Leipzig (Frühjahr 1913) eignete er sich als Schüler von Lamprecht auch an, sich um die Durchsetzung des gesellschaftshistorischen Aspekts zu bemühen und das Wesen der historischen Entwicklung zu erfassen. All dies wurde noch dadurch bestärkt, dass bedeutende Vertreter der Geistesgeschichte, die nach einem einheitlichen morphologischen Denkmodell für die Kulturepochen strebten, offensichtlich einen nicht unwesentlichen Einfluss auf Hajnal ausübten. Hierbei ist in erster Linie an die Wirkung von Dilthey14, Spranger und allen voran an die von Spengler15 zu denken. Als Hajnal über die Schriftlichkeit der Antike schrieb, zog er Spenglers Ansichten über den tieferen Zusammenhang von Kultur und Schrift in Betracht.16 Zugleich aber war er mit der Herangehensweise der Geistesgeschichte von Grund auf unzufrieden, und zwar vor allem deshalb, weil er das geistesgeschichtliche Bild einer diskontinuierlichen Reihe von Kulturen für gekünstelt hielt, in deren Entwicklungsgeschichte von Anfang an eine größere Kontinuität wähnte und im Zusammenhang damit das ereignishafte Auftauchen und die kulturformende Rolle des „Geistes“ als spekulativ, kontingent und unerklärbar ansah. Er strebte danach, eine Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte auszuarbeiten, die die Entwicklung aus den langsamen Entfaltungsformen „alltäglicher Kleinarbeit“, aus der Erneuerung vergessener, jedoch irgendwie archivierter, stets „in Bereitschaft stehender“, erneuerbarer Aspekte der Tradition, mit anderen Worten „von innen heraus“ erklärt. In dieser Hinsicht fand er Anregung und Bestätigung durch die soziologische Denkweise deutscher Zeitgenossen; zu erwähnen ist dabei vor allem Vierkand (Die Stetigkeit im Kulturwandel, 1908), der in Frage stellte, dass ein sprunghafter „Kulturwandel“ ohne jegliche Vorbereitung möglich sei, und die Entwicklung als einen Prozess begriff, der vom unendlichen Strömen des Lebens, von der Dynamik der Gesellschaft sowie der Art und Weise der „Aufnahmefähigkeit“ der gegebenen Gemeinschaft abhänge. „Der ,Gedanke‘ und der ,Geist‘ sind demnach nicht Anfang, sondern Ergebnis; und immer schon verläuft unter ihnen die unberechenbare Massenarbeit, deren Richtung und zukünftige Ergebnisse nicht abzusehen sind, sondern ganz im Gegensatz dazu stehen, was sich inhaltlich aus Gedanken und Geist ergäbe“17, schrieb Hajnal an einer Stelle. Der auf rezeptiver Fähigkeit basierende, nicht ereignishafte Wandel verändert aber nicht das Individuum, wie er auch nicht von Individuen (den repräsentativen Gestalten der Geistesgeschichte) vollzogen wird, sondern er verändert das Medium, die Beziehung der Menschen zueinan14 Auch Dilthey wurde von Hajnal kritisiert, vgl. István Hajnal, Történelem és szociológia, in: ders., Technika, művelődés, S. 157–204, hier S. 178. 15 Ebd., S. 142. 16 In Írásbeliség, intellektuális réteg és európai fejlődés bezieht sich Hajnal über Zolnai – mit Hinweis auf A látható nyelv – auf Spengler (Írásbeliség, S. 43; 63). 17 Ebd., S. 39.
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der, die Mittel und die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen, welche dann die Rolle des Individuums formen und bestimmen.18 Von der zeitgenössischen deutschen Beziehungstheorie entlieh Hajnal den Gedanken, das interpersonelle Verhältnis ins Zentrum zu stellen, und er verband diesen gesellschaftlichen Aspekt großartig mit den Ergebnissen seiner eigenen Schriftforschungen. Die Schlussfolgerung aus diesem Gedankengang ist, dass der Entwicklungsdynamismus der Kultur durch das Verhältnis zwischen der Geschichte von Gesellschaftsorganisation und der Kommunikationsgeschichte, die sich stets gegenseitig bestimmen19, also durch beider langsame Evolution gestaltet wird. Schon in seinen Aufsätzen von 1920/21 stellt István Hajnal den zweiten historischen Übergang zur Schriftlichkeit, die Verbreitung des Schriftgebrauches im 12. und 13. Jahrhundert, als den Vormarsch einer „speziellen Kommunikationstechnik zur Datenerfassung und -verarbeitung“20 dar, die die Formen der Gesellschaftsorganisation in ihren Grundfesten verändert. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, zu einem alten-neuen Archivierungssystem, eröffnet aufgrund der Bewahrung und Kumulation von Kulturgütern neue Möglichkeiten der Entwicklung.21 Durch die Schrift wird das Denken technisiert und somit auch kompliziert: die Schrift objektiviert das Denken, kehrt es nach außen, speichert es, kausalisiert es und ermöglicht es ihm so, sich zu reflektieren und weiterzuführen.22 Die Schrift schafft eine „organisierte Lebenskontinuität“, d. h. ein historisches Bewusstsein. Die 18 István Hajnal, Európai kultúrtörténet – írástörténet [Europäische Kulturgeschichte – Schriftgeschichte], in: ders., Technika, művelődés, S. 13–28, hier S. 16. 19 „Hajnals Aktualität besteht darin, dass die sich hinter seinem geschichtswissenschaftlichen Werk verbergenden philosophischen Gedanken vom Zeitgeist aufgenommen werden können. (…) Hajnal versteht die wesentliche Dimension des historischen Ablaufs als Geschichte der Kommunikation. Den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit begreift er – bei den Griechen und dann im europäischen Mittelalter – als soziologisch und erkenntnisphilosophisch entscheidende Veränderung, als Übergang vom Traditionellen zum Rationalen, während er in der vervollkommneten Schriftlichkeit der heutigen Zeit den Ausgangspunkt für eine eventuell neue Mündlichkeit erblickt. Anders herum treibt Hajnal jene sich im Westen in den sechziger Jahren entfaltende (…) Strömung voran, die den europäischen Geist als dem Zauber der alphabetischen Schrift erlegen interpretiert und die Mündlichkeit als postmoderne Alternative erscheinen lässt. Er treibt diese Strömung voran, er dient ihr sogar als Quelle.“ Nyíri, Hajnal, S. 132. 20 Lakatos, Bevezetés, S. 17. 21 „Die Schrift ist nicht Ursache für diese Entwicklung. Sie ist keine Wirkungskraft. Allein für sich bringt sie keine Entwicklung zustande. Doch ohne sie ist dies auch unmöglich.“ Hajnal, Európai kultúrtörténet, S. 17. 22 Im Hinblick auf die gedanken- und gemeinschaftsorganisierende Funktion der Schriftlichkeit war Hajnal viel weiter als Spengler, als Bronislaw Malinowski (der sich 1923 mit den semantischen Unterschieden von Oralität und Schriftlichkeit beschäftigte), weiter als Milman Parry (der Ende der zwanziger Jahre das Oral- Traditionelle der Texte von Homer
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Schrift befähigt „größere Massen zu einem neu organisierten gegenseitigen Kontakt“.23 In der zweiten Hälfte des Mittelalters kam es durch die immer größere Verbreitung der Schriftlichkeit (an die Stelle der karolingischen Minuskel trat die Schreibschrift) zu einer „Verlagerung“, durch die das materielle und das geistige Leben „auf künstliche Fundamente gestellt wurden“: So kam es zu einer Rationalisierung und Intellektualisierung, zur Differenzierung des Beamtentums nach einzelnen Sparten, zur Geschäftsorganisation in Zünften, es entstanden die gesellschaftlichen Organisationen von Handel, Urbanisierung, Rechtsprechung und Lehnswesen sowie Diplomatie, Sprachen unterschiedlicher Gegenden traten in den Vordergrund, Literatur breitete sich aus. Somit war die organisierende Funktion der Schriftlichkeit, die Herausbildung einer europäischen Kulturgemeinschaft zu ermöglichen, erfüllt. Die Erfindung des Buchdrucks war nur noch eine zwangsläufige Folge der groß angelegten und tiefgreifenden Schriftlichkeit gegen Ende des Mittelalters. Da der Kreis der Schriftkundigen immer größer wurde, gab es in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters eine zahlreiche Leserschaft, somit auch eine große Buchproduktion, wodurch sich die Erfindung des Buchdrucks aus praktischer Zweckmäßigkeit ergab.24
Die Entwicklung ist demnach nicht die Konsequenz aus technischen Ereignissen (Verbreitung der Schreibschrift, dann Erfindung des Buchdrucks), es besteht kein technischer Determinismus, die bloße Technikgeschichte hat keine „erzwingende Macht“. Die Entwicklung basiert auf dem Wechselmechanismus von „Vergesellschaftung“ und Technik. Technische Innovation wird durch ein entsprechendes Niveau der Gesellschaftsorganisation und der kulturellen „Aufnahmefähigkeit“ ermöglicht, diese aber wurden auch durch die „vergesellschaftlichende“ Wirkung der Technik einer früheren Phase mitbestimmt. entdeckte) und auch weiter als der Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs (der 1925 auf das Fiktive des kollektiven Gedächtnisses hinwies), vgl. Nyíri, Hajnal, S. 136. 23 Hajnal, Európai kultúrtörténet, S. 23. 24 Hajnal, Európai kultúrtörténet, S. 24. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es Reflexionen zu zahlreichen Feststellungen seitens Hajnals in der angelsächsischen Fachliteratur zur Mediengeschichte des Altertums, des Mittelalters sowie der Neuzeit von dem hier schon genannten Innis über Michael Clanchy und Brian Stock bis hin zu dem Anthropologen Jack Goody. So schreibt das Autorenpaar Asa Briggs und Peter Burke die Erfindung des Buchdrucks kommentierend in ihrer Zusammenfassung der Gesellschaftsgeschichte der Medien in Bezug auf Stock: „Manuscripts, including illuminated manuscripts, were being produced in increasing numbers in the two centuries before the invention of printing, a new technology introduced in order to satisfy a rising demand for reading matter.“ Asa Briggs/Peter Burke, A Social History of the Media: from Gutenberg to the Internet, Cambridge 2002, 11.
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Das von Vierkand übernommene Modell der auf dauerhaften Prozessen aufbauenden Gesellschaftsdynamik – in welchem nicht ausschließlich die Herauskristallisierung der Elite, sondern die Aktivität einer großen Lebensmasse die Grundvoraussetzung der Entwicklung darstellt – verband sich im Denken Hajnals mit den ebenfalls an Vierkand anknüpfenden Vorstellungen von Max Weber. Die Erklärung für die einzigartig effektive Entwicklung im Europa der Neuzeit hatte auch bei Weber ihren Ursprung im Unterschied der sozialen Dynamik. Diese spezifische, in die gesellschaftliche Struktur integrierte Antriebskraft bezeichnete er als europäischen Rationalismus. In zahlreichen Punkten stimmte Hajnal mit den Ausführungen Webers überein, so zum Beispiel in der Anerkennung der Kausalität und der Kraft des Rationalismus, ein System gegenseitiger Beziehungen und eine fachliche Differenzierung hervorzubringen. Er übte aber eine Kritik an Weber vor allem in der Hinsicht aus, dass dieser bei der Untersuchung der Wechselwirkung von religiösem und ökonomischem Leben die „Tatsächlichkeit des sozialen Prozesses“, d. h. die konkrete Verwebung von religiösen Ideen und Alltagspraxis, nur ungenügend dargestellt hatte. Dies hatte zur Folge, dass bei Weber (laut Hajnal zumindest in der Religionssoziologie) in der Wechselbeziehung zwischen den gesellschaftlichen Organisationsformen und der religiösen Idee der Vorrang der letzteren bestimmend wurde.25 Bekanntlich erklärt Weber die Herausbildung der modernen europäischen Gesellschaft mit dem Aufkommen des den Traditionalismus verdrängenden, alles durchdringenden Rationalismus. Hajnal folgte diesem Schema, kritisierte es aber auch, indem er die Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur mit der massenhaften Verbreitung der Schriftlichkeit und deren rationaler Wirkung in Verbindung brachte, das heißt mit der prägenden Kraft einer in der gesellschaftlichen Praxis schon vorhandenen, sich in einem langwierigen Prozess entwickelnden und umfunktionierenden Fertigkeit, und nicht mit einer als ereignishaft begriffenen (und so gegen Weber gemünzten)26 religiösen Idee (z. B. der protestantischen Ethik). 25 Siehe: Die Ausnahmen des Manuskripts Írásbeliség, intellektuális réteg …, von Glatz zitiert im Kommentar zu István Hajnal, Racionális fejlődés és írásbeliség, in: ders., Technika, művelődés, S. 29–36, hier S. 31 bzw. 35 bzw. anderswo: „Der Geist ist eher Folge als Ursache. Die geistesgeschichtlichen Erforscher der modernen wirtschaftlichen Entwicklung stellen zu Recht fest, dass die Grundvoraussetzung für diese Entwicklung die Rationalisierung und Berechenbarkeit des Lebens ist. Die Rationalisierung lässt sich jedoch ebenso wenig mit rationalem Geist erklären wie der wirtschaftliche Aufschwung mit wirtschaftlichem Geist.“ Hajnal, Írásbeliség, S. 48. „Anstelle des rationalen Geistes sollte man lieber die Folgeerscheinungen von schriftlicher Kontakt- und Gedankentechnik untersuchen. Folgen stark rationalisierender Wirkungen, jedoch nicht die des Wirkens eines durchdringenden Geistes (…) Schriftfixierung, Schriftdenken ist das, was arbeitet, nicht aber ein immanenter Geist.“ Hajnal, Racionális fejlődés, S. 34. 26 Diese kritische Bemerkung – die Aktualität der Wirkung der religiösen Idee – kann wohl kaum bestätigt werden, soweit man Max Webers Abhandlung Die protestantische Ethik und
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In Rationale Entwicklung und Schriftlichkeit (1932) erörterte Hajnal die Bedeutung der griechischen alphabetischen Schrift, eines für Europäer so besonders wichtigen Schriftsystems, dessen Aneignung weitaus leichter ist und das exaktere Formulierungen zulässt als andere Systeme.27 Zur gleichen Zeit erschien seine Abhandlung Europäische Kulturgeschichte – Schriftgeschichte, in der er nicht die Verbreitung eines Schriftsystems, sondern die massenhafte Anwendung der praktisch nutzbaren Schriftlichkeit ins Zentrum seiner Argumentation stellte28, worauf er dann auch bis zuletzt beharrte. Zweifelsohne ist die Buchstabenschrift leichter zu erlernen, was in ihrer Verbreitung zuweilen keine geringe Rolle spielte. Dennoch wies die antike griechische Schrift keine gesellschaftliche Wirkung auf, die mit der Wirkung der Schrift an der Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit verglichen werden könnte. Laut Hajnal liegt die Erklärung dafür gerade in der unterschiedlichen „Aufnahmefähigkeit“ der jeweiligen Gesellschaften. In antiker Zeit wurde die Schriftlichkeit nicht wirklich zu einem entscheidenden Ansporn für die Gesellschaftsorganisation, weil die Lese- und Schreibfähigkeit stets an Sklavenarbeit, Profession und vornehme Bildung gebunden blieb, aber auch an ein bestimmtes Gebiet; eine einheitliche Schreibschrift bildete sich nicht heraus. Sie war keineswegs das, was man heute darunter versteht, eine gemeingültige, allgemein lesbare Schrift. Demzufolge zeitigte die antike Schriftlichkeit hohe geistige Ergebnisse, war aber an bestimmte Schichten und Gruppen gebunden und zog keine größeren Massen in den Kreis ihrer Benutzer. Das erfolgte erst in unserer Neuzeit nach jahrhundertelanger mittelalterlicher Entwicklung.29
Das von Max Weber entliehene Begriffspaar Traditionalismus–Rationalismus verknüpfte er mit schrifthistorischen Termini: der Rationalismus ließ sich mit der Massenhaftigkeit der Schriftlichkeit erklären, der Traditionalismus („das Gewohnheitsmäßige“) aber mit der Mündlichkeit verbinden. Demnach setzte Hajnal die der Geist des Kapitalismus in Betracht zieht. „Der Geist des Kapitalismus“ als „ethisch gefärbte[…] Maxime der Lebensführung“ ist nämlich ein gemeinsames Produkt aus Religionsmoral und gültiger gesellschaftlicher Praxis. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17–206, hier S. 32. 27 Hajnal, Racionális fejlődés, S. 33. 28 Hajnal, Európai kultúrtörténet, S. 16. Lakatos kommentiert diesen Schritt: „Jene Ausgangsannahme, dass der Rationalismus an einen besonderen, nur in Europa benutzten Schrifttyp gebunden ist, ist unnötig, ebenso unnötig wie die Annahme, dass ein Geist, eine Mentalität ihr Träger sei.“ Lakatos, Bevezetés, S. 20. Die Lage ist jedoch komplizierter, weil die massenhafte Verbreitung der Schriftlichkeit von Hajnal stark mit der Entwicklung des Mediums der europäischen Gesellschaft in Zusammenhang gebracht wird. 29 Hajnal, Racionális fejlődés, S. 34 bzw. Hajnal, Írásbeliség, S. 43–44.
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organisatorischen Prinzipien der Gesellschaft bei Archivierungsarten an, die Entwicklung versuchte er sozusagen „von innen heraus“ zu erklären, während in seiner Argumentation die Kausalität ständig schwankte. Einmal galt bei ihm die Entwicklung der Schriftlichkeit als dominant, dann wieder die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft, an anderer Stelle dominierte die Wechselwirkung zwischen beiden, dann wieder hing die Entwicklung beider von kontingenten Faktoren ab.30 In den ausgefeilten Phasen seiner Argumentation konnte Hajnal die Autonomie der Schriftgeschichte nicht beibehalten. In der 1936 erschienenen Geschichte der Neuzeit ist die Geschichte der Schriftlichkeit jedenfalls in die Geschichte der „intellektuellen Schichten“, des Klerus und des Beamtentums eingebettet. Hajnal beschrieb den großen Umbruch in der europäischen Gesellschaftsentwicklung, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, indem er die weberschen Kategorien etwas uminterpretierte. Im Laufe des langsamen Abbaus fest verankerter, jede Entwicklung behindernder traditioneller Rahmen entstand ein neues, dynamisches, rationales und effektives Gebilde. Ähnlich wie Weber wertete auch Hajnal31 das Traditionelle gegenüber dem Rationalen nicht ab, sondern erkannte eben im ausgewogenen Verhältnis beider zueinander das Unterpfand für eine ideale – oder wie man es heute auch sagen könnte: nachhaltige – Entwicklung. Das Gewohnheitsmäßige (das Traditionelle) und das Kausale (das Rationale) stellen ja immer doppelte Aspekte dar, und für ihre wechselseitige Abhängigkeit ist der Zusammenhang von kulturellem Verfall im Frühmittelalter und spätmittelalterlicher Blüte eines der charakteristischsten Beispiele. Nach dem Untergang des Römischen Reiches erlitt die europäische Kultur in kurzer Zeit einen allgemeinen Verfall: Handwerk und Handel lagen darnieder, die Städte zerfielen, der Schriftgebrauch war extrem zurückgegangen. Lese- und Schreibfähigkeit wurde zum Monopol der Kirche, wobei selbst unter den Kirchengeistlichen nur wenige lesen und noch weniger schreiben konnten. Die Kultur fiel aus der antiken Schriftlichkeit in die Mündlichkeit zurück. Zerfall, Chaos und Existenzangst hatten Zustände zur Folge, deren man mit antiker Rationalität nicht mehr Herr werden konnte. Die elementaren Bedürfnisse zur Sicherung und zum Erhalt des Daseins führten zu einer Versorgung im Rahmen gegenseitiger Über- und Untergeordnetheit sowie einer gewohnheitsmäßigen Ordnung stufenartig angeordneter Autonomien. Es bestand keinerlei Möglichkeit, die Lebensformen zu regulieren, ihr
30 Lakatos, Bevezetés, S. 20–22. 31 Im Gegensatz zu den Gedankengängen von Lakatos (vgl. Ebd., S. 39–40) sehe ich die Überbewertung des Rationalen gegenüber dem Traditionellen bei Weber nicht als entscheidend, ganz im Gegenteil, der deutsche Autor betont die Relativität dieser beiden Begriffe, ihre zeitliche und räumliche Wechselhaftigkeit und Umkehrbarkeit, vgl. Max Weber, 33-47.
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Wachstum wurde allein durch den Gewohnheitszwang, sich aneinander anzupassen, eingeschränkt. Die irrational wuchernde Natur der Lebensformen, Methoden und Techniken stellte somit tatsächlich ein auf Rückkopplungen aufbauendes, sich selbst regulierendes System dar. Die Gewohnheit konnte nur durch die effektive Praxis bestätigt werden, während die effektive Praxis wiederum durch die Gewohnheit geschützt und bestätigt wurde.32
Aber gerade dieses Absinken des Lebensniveaus, diese Weise traditioneller Bindungen wurden zum Garanten für Zeit, Gelassenheit und Disziplin, um Leistungen zu erbringen, die auf eigener Arbeit basierten, anderen nicht schadeten oder sie nicht unmöglich machten, um Mittel und Methoden immer vollkommener zu gestalten sowie Sachkundigkeit und Gesetzmäßigkeit zu entwickeln. Das bodenständige, an die Arbeitsmittel gebundene Handwerk, das den ganzen Menschen forderte, die gesamte Gesellschaft umfassende gegliederte Arbeitsorganisation der Bauern- und Handwerkerschaft und die auf Sachverstand und Gesetzmäßigkeit beruhende Berufsordnung der Gesellschaft waren die wichtigsten Vorboten für den Übergang in die Neuzeit. Mit anderen Worten: Die abendländische Entwicklung war eine Folge der tiefgehenden Gliederung und der sachkundigen Gestaltung der mittelalterlichen Gesellschaft (Organisation der Bauernschaft33 nach dem Muster des französischen Lehnswesens.) Die Gliederung nach Berufen konnte der Durchsetzung roher materiell-politischer Kräfte widerstehen. Im 18. Jahrhundert fand eine rationale, zweckmäßige Verwertung dieser alten Gliederung statt, die von den Ergebnissen des Nationalstaates, der wirtschaftlichen Eroberung und der Technik, aber auch den sozialen Spannungen, die aus diesen Zusammenhängen resultierten, mitbestimmt wurde. Voraussetzung für die Bewahrung der Schrift wurde auf eigentümliche Weise auch der Traditionalismus, die Mündlichkeit. Die antike Schrift stand niemals unter dem Monopol einer kirchlichen Organisation, also auch unter keinem diskursiven Schutz. Das Leben der Gesellschaft baute grundlegend auf der Mündlichkeit auf, die Schrift wurde in erster Linie zu praktischen Zwecken verwendet. 32 Lakatos, Bevezetés, S. 49. 33 „Demnach lebte die Bauernschaft – in ihrem Verhältnis zum Material die detaillierte, vertiefte Arbeit bevorzugend – in einer Fixiertheit der Bräuche, sie ließ sich in keiner Weise drängen und schuf somit einen soliden Untergrund für ihre eigene und die Entwicklung der Gesellschaft.“ Zsuzsanna Kondor, A kreativitás mintázata, Hajnal István [Muster der Kreativität, István Hajnal], in: Vera Békés (Hg.), A kreativitás mintázatai. Magyar tudósok, magyar intézmények a modernitás kihívásában [Muster der Kreativität. Ungarische Wissenschaftler, ungarische Institutionen in der Herausforderung der Modernität], Budapest 2004, S. 204–230, hier S. 211.
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Schreibarbeiten gehörten zumeist zu den Sklavenarbeiten. Aufgrund der fehlenden diskursiven Kontrolle und des niederen Ansehens der Schriftkundigen entarteten die Schriftformen. Dagegen kam es in der ersten Hälfte des Mittelalters zu einem völligen Rückzug der Schrift aus dem praktischen Leben, so wurde sie zum Monopol eines geringen Teils des Priestertums. Die Gesellschaft wurde durch das Gewohnheitsmäßige reguliert, die Schriftlichkeit machte aber nicht einmal einen Versuch, dabei mitzuwirken.34 Gleichzeitig jedoch nahm die Schrift in engen Kreisen, innerhalb der Klostermauern, immer einheitlichere Formen an, in Norditalien zum Beispiel blieb sie auch weiterhin Bestandteil des praktischen Lebens. Als dann „die Zeit gekommen war“, stand der weltlichen Macht und der Geschäftspraxis eine einheitliche, leicht erlernbare Buchstabenschrift zur Verfügung. „Derselbe Traditionalismus, der im frühen Mittelalter den Schriftgebrauch unanwendbar und somit überflüssig gemacht hatte, bewahrte und schützte die Schrift vor einer Entartung nach verschiedenen Gegenden, um sie auf eine spätere Entwicklung vorzubereiten.“35 Was dieses Auslegungsschema erschließen kann, ist demnach nicht der Grund, der die Entwicklung, die Veränderung auslöst, sondern vielmehr die Weise, wie eine Entwicklung verläuft: Sie beruht immer auf einer Vor-Struktur, ist in jedem
34 Hajnal bringt auch hier die Kausalität in zwei Richtungen, die frühmittelalterliche Gesellschaft benutzte die Schrift nicht, gleichsam wäre die Schrift auch ungeeignet, das komplizierte Gewebe der Gesellschaft zu beschreiben. Das „Leben“ entblößt sich der „Struktur“. Hajnal beruft sich in seiner großangelegten Studie Történelem és szociológia [Geschichte und Soziologie] auf Indien, wo sich ohne eine weitverbreitete Schrift eine – außerordentlich – stabile Gesellschaft herausgebildet hat. Die organisierende Kraft der Schrift war hier nicht vonnöten, doch das Ausbleiben der dynamisierenden Wirkung der Schrift ließ die Gesellschaft erstarren. Vgl. Hajnal, Történelem és szociológia, S. 189–190. 35 Lakatos, Bevezetés, S. 46. Die mittelalterliche Erneuerung der Schrift, ihre Verbreitung und weitreichende Wirkung bleibt mehr als rätselhaft. Hajnal argumentiert mit der fortschreitenden Neudynamisierung eines „in Bereitschaft“ befindlichen Archivierungssystems. Dieser Gedankengang lässt sich mit dem medienhistorischen Modell von André Gaudreault und Philippe Marion (2000) vergleichen, „mit der Theorie der sich in drei Phasen dynamisierenden Doppelgeburt“, die „die nicht an ein Ereignis gebundene“ Entstehung des Mediums bezeugt. Demzufolge ist das Medium erst in einem mehrphasigen (sich institutionierenden) Ablauf in der Lage, eine eigenständige Produktivität zu erringen (so war das Kino z. B. anfangs kein eigenständiges Medium, sondern Bühnenspiel, Schaustellerei, und erlangte erst allmählich Eigenständigkeit). Dieser Auffassung nach ist das Medium die Summe aus Kommunikationstechnologie und deren gesellschaftlicher Praxis, die zur Erstellung und Aneignung dieser Technologie notwendig ist. Bei Hajnal wirken die Schriftlichkeit und die technischen Neuerungen auch nur in diesem System („in der Gesellschaftlichkeit“). (An dieser Stelle sei Gyula Maksa für seine diesbezüglichen Betrachtungen gedankt.)
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Moment prekär ausgeglichen und droht eine andere Richtung zu nehmen.36 Auf den Spuren Durkheims argumentiert Hajnal für die Bedeutung der durch Tradition angehäuften, objektivierten Lebenserfahrungen, Wissensvorräte und Fertigkeiten/Vermögen (bzw. für die Beschränkungen und Möglichkeiten, die aus ihnen den eben lebenden Generationen gemeinsam erwachsen). Die historische Entwicklung beruht nicht auf den Werken großer Organisationen, Taten und Gedanken, nicht auf der selbstbewussten Zweckmäßigkeit, sondern auf der Kleinarbeit der Massen, den sich spontan artikulierenden „Gewohnheitsmäßigkeiten“. Es gibt nicht eine einzige Ursache, aber die Ursachen sind stets Produkte der vorhergehenden Epochen. Schon in den Ausführungen über die Geschichte der Neuzeit kommt dem auf die Mitte der dreißiger Jahre datierbaren technikhistorischen Interesse Hajnals eine Rolle zu. In der Schrift erblickte er die Objektivierung, die Archivierung des Denkens und die Möglichkeiten für neue Ausgänge, in der Technik aber die allmähliche Vergegenständlichung physischer Geschicklichkeiten und neue Rahmenbedingungen für deren Entfaltung. Hinter den großen technischen Erfindungen beobachtete er die langsame, Jahrhunderte andauernde Entwicklung der Gewerke und den allmählichen Wandel traditioneller Verfahren. Dies waren die Vorstufen für jene wissenschaftshistorische Erkenntnis, dass nicht die neuzeitliche Naturwissenschaft der Motor der technischen Entwicklung ist.37 Die Technik ist nach Hajnals Auffassung vor allem der Selbstausdruck des Menschen, die Fertigkeit des Menschen, seine Welt, seine Umgebung und sich selbst zu gestalten. Diese Fertigkeit „löst sich“ vom Menschen „ab“, „objektiviert sich“ und wird zum Gemeingut der Menschheit. Sie kann anhand der Vergegenständlichung wiederholt, erlernt
36 „Rationale Lebenskräfte und vernünftige Gedanken können nur dann etwas Neues, Ursprüngliches schaffen, wenn die tiefliegend gewohnheitsmäßige Entwicklung ihnen schon neue Kulturmittel, Methoden und Gesellschaftswerke zur Verfügung gestellt hat. Durch eben solch eine rationale Nutzung büßen die Formen mit der Zeit ihre Entwicklungsfähigkeit ein; durch plötzlich erreichte große Ergebnisse, die bestimmte Zwecke befriedigen, wird der organische Zusammenhang anhand der persönlichen Formbildungen der Vergesellschaftlichung von ihrem Nährboden abgetrennt“, schreibt Hajnal in Történelem és szociológia, S. 194–195). 37 Vgl. István Hajnal, A technika fejlődése [Die Entwicklung der Technik], 1937, in: Hajnal, Technika, művelődés, 139–156. Wissen ist praktisches, in Handlung eingebettetes, implizites Wissen, und nicht theoretisch, durch Aussagen überbracht, explizit (Thomas Kuhn und Mihály Polányi), Nyíri, Hajnal, S. 132–133.
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und weiterentwickelt, d. h. „vergesellschaftet“ werden38. Die „Fertigkeit zum Objektivieren“ unterscheidet den Menschen vom Tier.39 Alles entscheidend in der Argumentation von Hajnal ist die Erkenntnis, dass die Technik nicht eine plötzliche Erfindung ist, sondern die geduldige Arbeit an den Materialien über Jahrhunderte hinweg, das Kennenlernen des Materials, der lange Prozess einzelner, aufeinander aufbauender Momente im Umgang mit dem Material. Anhand der Geschichte der Eisenbearbeitung40 zeigt er, dass Technik ein Zusammenwirken von Vorstellungen und den Fertigkeiten ist, die die neuen Materialien bearbeiten und gestalten, wobei die Komponenten dieses Zusammenwirkens jeweils anders gewichtet werden. Die wahre Tragkraft der Technik ist die sich auf das jeweilige Material konzentrierende Anschauungsweise. Darüber hinaus muss der arbeitende Umgang mit den Materialien gesellschaftlich sein. In der Antike wies das in zweifacher Hinsicht Mängel auf. Da einerseits die Technik vorwiegend nur den Menschen mechanisierte, blieben die Mittel an den Körper gebunden, die Mensch-Maschine arbeitete, letztendlich objektivierte41 sich die Fertigkeit nicht. Andererseits ließen der übertriebene Rationalismus der „Technik“, ihr erzwungenes Tempo, Fertigprodukte für den Markt hervorzubringen, keine Zeit, das Material 38 In A technika fejlődése schreibt Hajnal: „Die wahre Neuerung ist demnach im Allgemeinen die Entwicklung der menschlichen Fertigkeiten. Sie muss gesellschaftlich sein, im elementarsten Sinne; selbst wenn sie keinen direkten Nutzen bringt, so nährt sie doch das Selbstbewusstsein des Menschen, sein Vertrauen in die eigenen Fertigkeiten. Nur so eine Neuerung verbreitet sich und gelangt zu einer ausführlichen, allseitigen Praxis.“ (Hajnal, A technika fejlődése, S. 142–143); „Es gibt ,Technik‘, die von individueller Geschicklichkeit und Praxis abhängt, wie zum Beispiel die Technik des Steinschleuderns, oder des heutigen Geigenspiels oder die Technik des Autowettrennens. Diese sind für sich allesamt auch bei größtem Bravour keine technischen Ergebnisse und bedeuten keinen technischen Fortschritt; dies tun sie erst dann, wenn sich ein geschickter Handgriff in Material-Form zu irgendetwas ,objektiviert‘, was die individuelle Fertigkeit übernimmt und auf alle überträgt; die Abtrennung der Fertigkeit vom Menschen ist ihre Objektivierung, macht sie für jedermann jetzt und in Zukunft zum Allgemeingut.“ (Ebd., S. 143) 39 Vgl. Hajnal, Történelem és szociológia, S. 183. In der Herleitung seiner eigenen Objektivierungstheorie stützte Hajnal sich auf die Objektivierungstheorie des ihm auch persönlich bekannten Hans Freyer, vgl. Gábor Kovács, Hajnal István pozíciója a pozitivizmus és a szellemtörténet vitájában [Die Position István Hajnals im Diskurs um Positivismus und Geistesgeschichte], in: Békés, A kreativitás mintázatai, hier S. 240. 40 Vgl. István Hajnal, A technika fejlődése, S. 146–154. 41 „Von der Steinbearbeitung verstanden sie erstaunlich viel, was schon an den Skulpturen zu sehen war und sich auch in den Steinbrüchen bewies, wie sie die Felswände senkrecht mit wunderbarer Glätte und exakten Eckkanten abspalteten. Von der ganzen Arbeit blieb keine technische Ausrüstung zurück – abgesehen von den Spuren, die Keile und Meißel hinterlassen hatten, alles andere gehörte wie auch die Bewegungen des menschlichen Körpers der Vergangenheit an.“ István Hajnal, A gépkorszak kialakulása [Die Herausbildung des Maschinenzeitalters] (1944), in: Hajnal, Technika, Művelődés, S. 299–356, hier S. 338.
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geduldig kennenzulernen. Die antike Industrialisierung durchwaltete die Gesellschaft nicht, sie führte zu einer „seelenlosen Virtuosität“, erhob aber nicht das Selbstwertgefühl des die Fertigkeiten ausübenden Menschen.42 Die Römer spielten schon mit der Idee des Buchdrucks, dennoch blieben sie dabei, ihre Sklaven schreiben zu lassen, sie kannten das Prinzip der Wassermühle, dennoch ließen sie ihre Mühlen von (meist verurteilten) Menschen antreiben (z. B. massenweise von Christen, die solche Betriebe „Blutmühlen“ nannten). In der Antike kannte man die Technik des Brustblattgeschirrs und des Kummets (Verteilung der Zugkraft auf Brustkorb, Schultern und Widerrist), dennoch zügelte und lenkte man die Tiere nach uralter Methode vom Hals aus, denn man verstand sich nicht auf die fachgerechte Nutzung der tierischen Kraft: es fehlte der damaligen Lebensform an Geduld, ein Tier zu zähmen. Mit den Pferden lebte man nicht zusammen, sondern man benutzte sie, vorwiegend zu kämpferischen Zwecken als Reittier. Demgegenüber wurde die moderne technische Entwicklung laut Hajnal durch das mittelalterliche Handwerk begründet, das von einem niedrigen Niveau ausging, später jedoch massive Grundlagen schaffen konnte, indem einerseits der „geduldige Umgang mit dem Material“ bestimmend wurde, andererseits die technischen Fertigkeiten sich im Rahmen eines Regelsystems entfalten konnten, das in einer durch Gewohnheiten bestimmten Gemeinschaft Gegenseitigkeit und Würde garantierte. In Herausbildung der maschinellen Epoche schreibt Hajnal: Das Wesen der technischen Entwicklung besteht darin, dass sie nicht von den praktisch nützlichen Zwecken der lebenden Menschen mit rationaler Kalkulation geleitet wird, sondern sich gleichsam an den tief liegenden Verbindungsstellen der Gesellschaftsstruktur herauskristallisiert. Die Struktur der Gesellschaft muss die natürlichen Phänomene in sich selbst integrieren, nicht aber die ,zweckmäßige‘ Technisierung der Natur soll die Gesellschaftsstruktur formen, indem sie sie gleichsam nach sich zerrt.43
Die Betriebsorganisation im Mittelalter ermöglichte die Entwicklung technischer Fertigkeiten, indem sie gleichzeitig die existentielle Sicherheit des Handwerks, sein Recht auf kreative Arbeit sowie den „partnerschaftlichen“ Charakter seines Verhältnisses zur Natur bewahrte.44 Im Gegensatz hierzu beschritt die moderne 42 „Die antike Technik entwickelte sich nicht, weil sie dem Sklaventum übertragen wurde. Sklaven musste man einsetzen, weil man überaus plötzlich eine vollkommene Technik erwartete.“ Ebd., S. 345. 43 Ebd., S. 325. 44 „Im Mittelalter wurde die Technik zum Ausdruck von Erlebnissen in materiellen Formen, als Erlebnis des Kontaktes mit der Natur, ihrer Einreihung in die Gesellschaft. Zweifelsohne geht es hier nicht allein um physische Arbeit, sondern um den Ausdruck des schöpferischen Geistes in materiellen Formen.“ István Hajnal, Kézművesség, írásbeliség és az európai
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industrielle Entwicklung einen Weg, auf dem ähnlich wie durch den verstärkten antiken Rationalismus (profitgesteuerte Produktion) das Wesentliche der Technik, das Selbstbewusstsein kreativer Arbeit und das ausgeglichene Verhältnis zur Natur allmählich verkümmern mussten. Die industrielle Revolution spaltete die den ganzen Menschen fordernde Facharbeit in Teilprozesse auf, und im Verlauf dieser Spezialisierung erfolgte als erstes eigentlich die Mechanisierung der menschlichen Bewegungen, dann wurde aufgrund der einseitigen Entwicklung von Kraftmaschinen die Beteiligung des Menschen am Arbeitsprozess immer mehr beseitigt.45 Die Massenproduktion überschwemmte die Welt mit ihren Produkten, die Arbeit „büßte aber ihre Seele ein“, es kam zur Auflösung der einstigen Harmonie im Zusammenleben mit der Natur.46 Zur Zeit des Handwerks half die Maschine dem schaffenden Menschen aufgrund einer Art Prothesen-Prinzip, wobei sie aber die menschliche Kreativität bewahrte. Mit der Herausbildung der Großindustrie, der Zergliederung und Mechanisierung der menschlichen Arbeit und dem Einsatz von Kraftmaschinen, die den Menschen völlig ausschalteten, eliminierte die Maschine die menschliche Kreativität. Die maschinelle Technologie wurde zum Herrscher über den Menschen.47 fejlődés, in: ders., Technika, Művelődés, S. 421–444, hier S. 428. Die Überzeugung Hajnals in Bezug auf die im Mittelalter den Durchbruch der neuzeitlichen Technologie vorbereitende technische Entwicklung steht den derzeitigen Vorstellungen von Marc Bloch, der Führungspersönlichkeit der Annales, sehr nahe. Siehe Kovács, Hajnal István pozíciója, S. 253. 45 Hajnal, Az újkor története, S. 130–131. „Dies sind zielgerichtete Strukturen, zur Gewährleistung eines ihrer Existenz würdigen Platzes hatten sich keine modernen Methoden herausgebildet. (…) Aber die zielgerichtete Struktur kann nicht die gesamte menschliche Existenz bewerten, was jedoch das Wesen der Zünfte war.“ Ebd., S. 134. 46 Hajnal István, Ember és technika (Rádióelőadások, 1946–1947) [Mensch und Technik (Radiovorträge 1946–1947)], in: Hajnal, Technika, művelődés, 375–394, hier S. 390. Siehe auch: „(…) später verfolgte die moderne Geschichte laut Hajnal aus der Antike bekannte Schemata: die vom Alltagsleben losgelösten intellektuellen Methoden und in erster Linie Geld und Kapital sprengten die traditionellen Bande und unterwarfen sich die Gesellschaft.“ Kovács, Hajnal István pozíciója, S. 250. In A technika fejlődése schreibt Hajnal: „Die Maschinen hocken an den Knotenpunkten dieser unendlichen Gewebe wie die zu Material gewordenen Träger der über Jahrtausende entwickelten Fertigkeiten. (…) Und wenn nicht mehr die Fertigkeiten der völligen menschlichen Natur zur Entwicklung kommen, sondern die abstrakte Ratio, dann reckt sich dieses Gebilde trostlos in die Höhe und erlebt durch überschnelles Wachstum keine Entwicklung mehr“ (A technika fejlődése, S. 155). 47 István Hajnal, Az első gépek [Die ersten Maschinen] (1949), in: Hajnal, Technika, művelődés, S. 453–472, hier S. 469–470 bzw. Materializmus I–II [Materialismus I–II] (1946), in: Hajnal, Technika, művelődés, S. 357–374, hier S. 365. Mit der großindustriellen Technologie verhielt es sich genauso wie mit den in Überfluss produzierten und vervielfältigten Texten: „Hajnal charakterisiert die moderne Kultur als eine an ,Buchstabennarkose‘ leidende Epoche, deren einziger Ausweg die Rückkehr zur ,Wahrhaftigkeit von Erlebnissen und Erfahrungen‘ bedeuten kann. Kondor, A kreativitás mintázata, S. 225. Seine Ängste wegen der Überwuche-
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Seine Gesellschaftsgeschichte über die Verirrung der Technik arbeitete Hajnal im Misstrauen gegenüber der Philosophie über die Verirrung der Technik aus. Dieses Misstrauen rührt von seiner früheren Auseinandersetzung mit der Geistesgeschichte her; so war in seinen Abhandlungen auch eine Art Voreingenommenheit gegen die Untersuchungen über die als spekulativ verstandene geistig-mentale Sphäre zu beobachten.48 Dennoch ist auffallend, dass die Gedanken von István Hajnal, wo er über das Wesen und die Irrwege der Technik schrieb, in der Geschichte der Technik die Selbst- und Welterkenntnis des Menschen betonte oder sich über das Verkümmern der kreativen Arbeit und die Auflösung des harmonischen Verhältnisses zur Natur ausließ, den Überlegungen Martin Heideggers sehr nahe kamen – bei aller Unterschiedlichkeit der Methoden und Kenntnisse, der Kontexte und Konklusionen. In Heideggers Denken ist die Technik „nicht bloß ein Mittel“, sondern eine „Weise des Entbergens“, das etwas „Her-vor-zu-bringendes“ nach verschiedenen Hinsichten entbirgt; techné als Entbergen ist kein Verfertigen, sondern ein Hervorbringen. Die moderne Technik entfaltet sich aber nicht als ein entbergendes Hervorbringen, sondern im Sinne des „Herausforderns“ der Natur: Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann. Gilt dies aber nicht auch von der alten Windmühle? Nein. Ihre Flügel drehen sich zwar im Winde, seinem Wehen bleiben sie unmittelbar anheimgegeben. Die Windmühle erschließt aber nicht Energien der Luftströmung, um sie zu speichern. (…) Das Wasserkraftwerk ist nicht in den Rheinstrom gebaut wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Wasserkraftwerk verbaut.49
Nicht der Mensch betreibt die Technik, sondern er muss an dem ihn „bestellenden“ (Heidegger) Funktionieren der Technik teilnehmen und so ist er angestellt, um die Anwendung der Dinge zu gewährleisten. Diese Inanspruchnahme vernimmt er jedoch nicht, ebenso auch nicht, dass dieser herausfordernde Anspruch, indem er das „Her-vor-bringen“ verunmöglicht, das „Entbergen“ selbst verbirgt. Die Gefahr liegt nicht in der modernen Technik selbst.
rung durch Schriftlichkeit wurden auch von seinen Zeitgenossen des Sziget-Kreises (László Németh, Karl Kerényi und Béla Hamvas) geteilt. 48 vgl. Kovács, Hajnal István pozíciója, S. 246. 49 Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik (1953), Gesamtausgabe (GA), Band 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 15; 16.
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Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen. Die Herrschaft des Ge-stells droht mit der Möglichkeit, daß dem Menschen versagt werden könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren.50
Bei Hajnal wie auch bei Heidegger gibt es keinen Weg, aus der Technik herauszutreten, so kann es nicht darum gehen, in der Technik-Feindlichkeit eine „Zuflucht“ vor dem „Wüten“ der Technik zu suchen, sondern es kommt auf die Erneuerung von Kunst und Gedanken an, die ursprünglicher als die Technik sind. Die Technik zu hinterfragen, ist Sache der Gesellschaftsgeschichte und der Philosophie. Und das heißt auch eine erneuerte, die Technik hinterfragende Gesellschaftsgeschichte und Philosophie.51 Aus dem Ungarischen von Alice Eged
50 Ebd., S. 32. 51 István Hajnal sah nach dem Krieg auch in der kapitalistischen und in der kommunistischen Gesellschaftsordnung den Irrweg der Leistungssteigerung der großindustriellen Technologie, welche die Macht der maschinellen Technologie über den Menschen nur noch anwachsen lässt. In der letzten Nummer von Válasz (Antwort) erschien 1949 seine Abhandlung Az első gépek, in der er ein Programm zur Industrieentwicklung vorschlug, bei dem der Wert der Humanisierung der Arbeit vor den Aspekt der Produktionssteigerung gestellt wurde. Typisch ist, dass László Németh, der es in der Tanu-Ära für wichtig erachtete, die schwerwiegenden Missstände der großindustriellen Produktion zu kritisieren (A kapitalizmus vége [Das Ende des Kapitalismus]; Európa földrengéstérképéhez [Zur Erdbebenkarte Europas]), und der bis dahin Hajnal nicht anerkannte, von dessen Aufsatz begeistert war, weil er die Konklusionen mit „der Revolution der Qualität“ gleichstellte. Unter Berufung auf den Artikel Hajnals wurde Válasz von dem sich konstituierenden kommunistischen System verboten. Vgl. Lakatos, Hajnal, S. 14; 60.
Intermedialität, Psychotechniken, Anthropologie
Robert Smid
„Die Introjektions- und die Projektionsmaschinen“
Freud, Ferenczi, and the Idea of Machinic Temporality1 Psychoanalysis in its essence is, notwithstanding the undercurrent of the founding father’s totemistic dominance, the development of joint theoretical efforts. Whereas to a German speaking audience names like C. G. Jung, Wilhelm Fließ and Otto Rank most certainly sound a lot more familiar than the Hungarian Sándor Ferenczi’s, the latter, after Freud had successfully alienated most of his companions one way or the other, remained a loyal student and faithful correspondent up until his death in 1933. And the father of psychoanalysis took advantage of Ferenczi’s dedication with making it evident that while he committed himself to theoretical questions and to producing another wave of speculations on metapsychological issues, Ferenczi was advised to attend to the problems posed by therapeutic praxis, and to devote himself to practical matters at hand.2 Freud’s appreciation of Ferenczi for his technical writings, however, did not mean that Ferenczi himself would have refrained from wildly innovative associations, sometimes going to extremes with his interpretations, as in the case of telepathy or bioanalysis,3 both of which are to be discussed in the second and third parts of this paper, respectively. Yet his ongoing interest in therapeutic methods approached from a practical perspective granted psychoanalysis numerous epistemological gains, ranging from the idea of introjection – which Freud rather skeptically commented upon, predicting meager effectiveness and short life-span for the concept4 – through the theory of the “amphimixis,” intermingling ontogenetic and phylogenetic viewpoints in in1 This paper is part of the MTA-ELTE Association of General Studies of Literature Research Group’s project Culture-Producing Media, Practices and Techniques (TKI01241). 2 1021F, 1115F. In order to refer to the correspondence between Freud and Ferenczi, I apply the customary means throughout this essay; using ordinal numbers followed by abbreviations F if the letter is sent by Freud or Fer if the addresser is Ferenczi. This way, readers can refer to either the German (Sigmund Freud/Sándor Ferenczi, Briefwechsel, [eds. Eva Brabant/ Ernst Falzeder], Wien 1993–2005, vol. 1–3.) or to the English edition (The Correspondence of Sigmund Freud and Sándor Ferenczi [eds. Eva Brabant/Ernst Falzeder/ Patrizia Giampieri-Deutsch], Cambridge [MA] 1993–2000, vol. 1–3.) of the correspondence. 3 Ferenczi’s project, which was encouraged by Freud (See 557F), is presented in detail: 572Fer. 4 90F.
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vestigating the mechanics of the psychic apparatus, to the different aspects and usages of transference in and out of analysis. Of course, these innovations had to be rediscovered after Ferenczi’s death, and his most well-known disciple, and probably the only analyst towards whom Lacan articulated more than just witty insults, Michael Bálint did a pioneering job in reintroducing the aforementioned concepts to post-Freudian psychoanalytic discourse. The present contribution to the volume on the history of Hungarian cultural studies thus intends to present a small portion of Ferenczi’s oeuvre with respect to his integration of evolutional theory into the psychical development of the individual. I aim to answer the questions: to what extent did he manage to grasp the various temporal processes (of repression, trauma, foreclusion etc.) with supposing intersections between onto- and phylogenesis, and by what means could he establish a link between the two? It will also be enlightened why he turned to hypostasizing the unconscious in a mechanical ecology, and most importantly, how he postulated a prosthetic historical condition for the sake of investigating the psyche. The year 1915 is exemplary in this regard, as it connected his quest of practicing bioanalysis on Lamarckian premises with his insights into the history of mechanics, along with an even stronger interest in occult phenomena. I will start with a reading of Ferenczi’s criticism on Ernst Mach’s essay Kultur und Mechanik, where he stumbles upon machines of introjection and projection, both of which have to do with tools, devices and apparatus being put forward either as extensions or as projections to the human body, depending on the subject’s phase in development. Then in the second part, the applications of the prosthesis in psychoanalysis will be discussed via tracing Ferenczi’s fascination with occultism and supernatural forces, while making use of the concept of “Dark Media” as has been suggested recently by Eugene Thacker. In the third and final section, Freud’s and Ferenczi’s preference of Lamarckism to Darwin’s evolutionary theory will be elaborated, including an explanation of the necessity for establishing symbolic relations on machinic temporality.
psychoanalytic machinery After his bitter personal and professional disappointment with Fließ, and the severe excommunication of Jung following a love-hate relationship aggravated by the latter’s increasingly evident antisemitic utterances, Freud devoted most of his time and energy to pin down psychoanalysis to a clear-cut scientific basis once and for all. In this enterprise, Ferenczi proved to be a valuable asset and mediator, who constantly looked for allies as he felt the lack of acknowledgment towards the discipline in the Hungarian part of the Monarchy even more than Freud did in Vienna. For a short period, however, after the communist dictatorship raised
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to power and established the Council Republic in Hungary as an aftermath of the First World War, Ferenczi was awarded with the directorial position of a psychoanalytic clinic functioning as the Psychoanalytic Department of the University of Budapest, under the condition that his private praxis should be terminated, to which he willingly agreed.5 Except for the period between April and August 1919, due to the lack of any official academic recognition Ferenczi spent most of his time around students who were eager to learn the new game in town called Freudism, 6 while he also recruited open-minded mathematicians, physicists and high school teachers7 for his cause with privately lecturing on the basics of psychoanalytic theory for a symbolic fee. As an eccentric intellectual, Ferenczi felt the constant urge to excavate8 psychoanalytic themes in texts which were seemingly very far from having such an agenda. Each essay in the natural sciences which applied arguments established upon psychoanalytic axioms, even in an avant la lettre fashion, was a breath of fresh air to him. Among his “psychoanalyzing” readings, one of the most surprising experiments is his review of Mach’s penultimate book. Ferenczi’s interpretation of the essay is characterized by the presupposition that Mach intended to establish a “general genetic technology” (allgemeinen genetischen Technologie)9 via a scrutiny into the prehistory of mechanics. This mode of understanding, according to Ferenczi, coincides with the most basic psychoanalytic practice of all, that is coordinating the temporal horizon of analysis with respect to the primal scene.10 Ferenczi also proposes that Mach has the means of transgression from the particular to the general11 in common with psychoanalysis, and thus he constitutes a hypothetical origin for the subject in order for it to be grasped on an historical-theoretical level. In this fashion, not only did Mach manage to anticipate what later would have become Canguilhem’s maxima, namely that the history of any scientific discipline could actually provide immeasurable epistemological gain 5 Pál Harmat, Freud, Ferenczi és a magyarországi pszichoanalízis [Freud, Ferenczi, and the Hungarian Psychoanalytic Movement], Budapest 1994, p. 96. 6 137Fer. 7 See 203Fer, 390Fer. 8 While Freud’s connection to archaeology has already been exquisitely discussed at length in Knut Ebeling’s Wilde Archäologien (Berlin 2012, pp. 254–361), despite its evident symptoms, one cannot find a single essay that thematizes Ferenczi’s fascination with the subject. 9 Ernst Mach, Kultur und Mechanik, Stuttgart 1915, p. 5. The copy I am working with is Ferenczi’s own, containing his notes to certain passages. 10 Sándor Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, in: id., Schriften zur Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1970, vol. 1, pp. 288–296, here p. 289. 11 Cf. Althusser’s idea of differentiating and connecting partial and general theory: Louis Althusser, Three Notes on the Theory of Discourses, in: id., The Humanist Controversy and Other Writings (1966–67), London 2003, pp. 33–84, here p. 63.
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to its practitioners,12 but he also utilized the temporal horizon of the analytic situation to support his argument. Ferenczi, however, goes further than this by pointing out that Mach’s goal of reconstructing an undoubtedly collective history (of mechanics), with its references to the primitive tool-user state of the human race, shares its causal basis with psychoanalysis’s own act. Namely, the latter always tends to uncover a basic principle to trace the mechanics13 and most eminently, of course, the breakdowns or defects of the psychic apparatus, just like Freud set the example for such techniques of temporal manipulation, a year earlier than Mach’s essay was published, with the metapsychological paper Remembering, Repeating and Working-through (Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten). Each member of this triad contributes to a different aspect of regression to a primitive stage, of which Mach made good use in his pursuit of the origin of mechanics. That settled, mechanics can only ever be understood through its history, yet, continues Ferenczi, not by executing simple excavations, but with the help of strictly methodical genealogy-oriented research.14 This standpoint would later become reinforced in psychoanalysis via Freud’s chapter on the super-ego in The Ego and the Id (Das Ich und das Es), where he explicitly states that the individual ceaselessly relives those biological turning points of the human race, which are conserved by the Id in an archive-like fashion.15 This way, Freud identifies phylogenetic processes with ontogenetic ones in order to avoid introducing the superego as residue of the Id’s first object.16 That eventually leads to the possibility of discovering the traces of the biological (and technological) progress of the species in individual psychological development, by means of focusing on techniques of iteration, such as the ones mentioned in the title of his essay. Consequently, the basic principle required to engage with an historical constellation, be it the history of mechanics with respect to fire grates and firesticks,17 or the history of society in relation to tribal complexes – as was laid down by Freud in Totem and Taboo –, turns out to be the restoration of a prehistoric state of mind. Yet Mach himself seems to omit individual efforts when it comes to the progress of machinery because his diagnosis has rested on his strong belief in a collective instinct, which, together with the state of affairs shaping everyday life back then, produced technological innovations. His idea of allocating the job of maintenance
12 See Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007, pp. 99f. 13 Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 289. 14 Ibid., p. 290. 15 Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Wien 1923, p. 43 16 Ibid., p. 40. 17 Mach, Kultur und Mechanik, pp. 46f.
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for mankind18 is supported by devices that operate through carrying out circular movements: when activated, they produce a(n imaginary) close-circuit, this way contributing to the feeling that such tools possess an ecology of their own.19 Opposing that conception, Ferenczi connects individual needs with collective commitments20 in an historical fashion, such that, nowadays, we would say that he attempted to carry out an investigation into the genesis of the Anthropocene.21 And while necessity, whether it is individual or collective, is no doubt a common factor for both Mach and Ferenczi as far as the motivation behind technological development is concerned, the latter’s conception of it is in no way similar to how Freud formulated the disruption of the organism’s homeostasis, and, thus, of its inner channeling of tension22 in order to fulfill needs. Therefore necessity’s actual importance in Ferenczi’s essay does not lie in opening the way for the interaction between inner and outer milieus, the latter which in Mach’s paper could be equated with the role humanity play in the history of machines, but rather in the fact that it utilizes cultural phenomena in order to trigger certain “technological ruptures.”23 According to this perspective, the development of the reality principle can neither be posed as an adaptation process, nor as the result of lucky accidents, but as the foundation of the two; Ferenczi enlightens the neuralgic point at the heart of the matter with taking Mach’s exemplary Eskimos,24 and commenting right away that the supposedly positive conditions, which would somehow result in fortunate contingencies responsible for technological developments, are clearly missing in an arctic environment. Employing an historical perspective yet again, Ferenczi goes on to refer to the privation of mankind in the ice age,25 when the odds were turned to the species’ 18 Mach’s attitude, however, is far from being unique in the 20th century; when tracing the birth of technology, Gille implemented a similar interaction between man and machine. See Bertrand Gille, Les mécaniciens grecs: La naissance de la technologie, Paris 1980, p. 214. 19 Mach, Kultur und Mechanik, pp. 48–53. 20 Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 292. 21 See Paul Dukes, Minutes to Midnight: History and the Anthropocene, London 2011, pp. 50f. 22 Sigmund Freud, Project for a Scientific Psychology, in: id., The Origins of Psychoanalysis. Letters to Wilhelm Fliess, Drafts and Notes 1887–1902, New York [NY] 1950, S. 347–451, here p. 358. 23 Bernard Stiegler’s term, to whose approach Ferenczi’s point of view is actually quite similar. They both regard technology as neither a positive nor a negative attribute of the human, but as its default and de-faulting origin. Bernard Stiegler, Technics and Time vol. 1: The Fault of Epimetheus, Stanford [CA] 1998, p. 235, and id., Technics and Time vol. 2: Disorientation, Stanford [CA] 2009, p. 18. The basic idea of technogenesis running parallel to anthropogenesis is, however, also valid for Mach, of course. 24 Mach, Kultur und Mechanik, p. 28. 25 See 551F.
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favor by human agency.26 He proposes that the symbolic horizon, consisting of man’s libidinally fuelled interactions with objects27 is precisely the blind spot of Mach’s investigation, whereas that is the very horizon where the active agency of man is suspended. In other words, Ferenczi criticizes Mach’s failure to notice that the most basic forms of handling objects are movements analogous to those which are exercised to provide satisfaction,28 like rubbing (sticks together)29 or thrusting.30 That said, while Mach actually practices psychogenetic research, he dismisses Kapp’s way of doing it; appropriating technological devices as unconscious projections. Mach argues for a less mystical formulation,31 which he discovers in Herbert Spencer’s conception of society being an extension of the individual’s organic body.32 Mach’s approach, however, proves that in the end he does not question the pertinence of a certain type of media anthropology, considering that the history of machines is situated as a progress independent from the human condition and connected to man’s physical development at the same time. Ferenczi tries to employ an assertive attitude in this matter, legitimating both the Spencerian and Kappian theses, constituting a synthesis, not surprisingly in a temporal context: the determining factor behind categorizing machines either as projections or as extensions is the developmental phase which is reached by the individual. In this fashion, a certain device can act as an extension to the human body, if its function mainly consists of orienting its user throughout his wayfaring in the world of objects. Since these very apparatus also provide means of the psychic process introjection, which is the addressing of outer phenomena,33 Ferenczi applies the label “introjection-machines” to them. Introjection-machines, according to him, thus, are those devices whose usage extends the “field of operation of the ego” (der Wirkungskreis des Ich) in its infantile phase,34 and that coincides precisely with the usage of primitive tools like staves and hammers at the beginning of civilization. Ferenczi establishes this supposition in a manner that does not contradict Mach’s own, since he preserves the latter’s theorem concerning the urge to engage with objects of the outer milieu; the psychoanalyst simply tailors it to fit the develop-
26 Cf. Sándor Ferenczi, Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes, in: id., Schriften zur Psychoanalyse, pp. 148–163, here pp. 162f. 27 Ibid., p. 158. 28 Id, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 292. 29 Cf. Mach, Kultur und Mechanik, p. 48. 30 Cf. Ibid., p. 53. 31 Ibid., p. 16. 32 Ibid. 33 Cf. Sándor Ferenczi, Introjektion und Übertragung, Wien 1910, pp. 12f. 34 Id., Zur Psychogenese der Mechanik, p. 293.
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mental motif central to the physicist’s argument.35 In contrast to that, the formulation which is disregarded by Mach, namely, treating machinery as projection, as a matter of fact is the very precondition of arguing for an automaton with its own ecology. To pose such devices as exfoliations of the individual, hence as projection-machines that are hypostasized in their respective objecthood, made and maintained not by hand, but by human intelligence,36 is, says Ferenczi, to equate them with the automatism of the unconscious, such that they ultimately gain their machinic agency via human development on individual and collective levels as well. These entities require a subject only to the extent of exploiting it for their manifestations.37 Consequently, individual development and machinic progress inevitably coincide, operating complementarily to one another. And that is the very aspect, to which Ferenczi draws the most attention in Mach’s theory: while Mach admits that mechanics is simply incapable of demonstrating irreversible (i.e. thermodynamic) processes in an exact way,38 Ferenczi reveals that the reason why mechanics is stuck with being mere idealization is indeed the exclusive linear development that is generated by a Machian model for the history of mechanics.39 Consequently, historicizing mechanics as a means of abstraction itself, cannot give credible account of forms of interaction between man and machine, and fails to contribute to individual psychic processes, eventually undermining Mach’s inquiry into both individual and collective phases of primordial development. Moreover, from the standpoint that Ferenczi occupies, it seems that Mach failed to establish a link between the two types of development. The lack of this very step taken becomes all the more inconsequent in the light of his application of a genital approach; Mach shares psychoanalysis’s means by promoting the differentiation between the development of the individual and of culture in general, as being primarily a quantitative act: “Being born into a certain cultural phase, with just a short amount of time passed (similarly to the fetal state), we go through a vast development.”40 Ferenczi’s argument against such a seemingly valid analogy is once more supported by Mach’s ignorance towards recognizing the basic instincts lying at the heart of even the most complicated structures, as was already made clear by Freud, when he connected life to technology on developmental premises.41 That is to say, in Mach’s paper Ferenczi discovers the absence of a method that could draw 35 See Mach, Kultur und Mechanik, pp. 20 and 61. 36 Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 293. 37 See Jacques Lacan, The Seminar of Jacques Lacan vol. 2: The Ego in Freud’s Theory and in the Technique of Psychoanalysis (1954-1955), New York [NY] 1988, p. 194. 38 Mach, Kultur und Mechanik, pp. 17f. 39 Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 294. 40 Mach, Kultur und Mechanik, p. 61. [my translation – R. S.] 41 Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 295.
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the actual profit from psychoanalytic tropes employed as analogous to processes (e.g. infantile phase, dream, prehistory, etc.). The correct way would be to promote such figures as mere intermediaries in order to reach those basic structures via which mankind with all their technological innovations can be investigated.42 Against all his attempts to relate the prehistoric man to the infantile stage, Mach fails to render a temporal context which would suffice for the history of machinic interactions, unlike psychoanalysis with its ceaseless reordering of events, establishing its technique on iteration.43 In Mach’s book, temporality is posed to be as linear as his firesticks: “If our culture suddenly disappeared, then machines would be invented in the exact same order, starting from the tinkering of prehistoric men etc.”44 Finishing with the reading of Ferenczi interpreting Mach’s paper, it can be equitably stated that the former undoubtedly recognizes the latter’s animistic way of thinking, and praises him for applying such a perspective on mechanics. Yet if it is primarily the spirit which makes machines operate, it is most unfortunate that Mach neglected individual development for the sake of securing the position of the janitor for mankind. Ferenczi can thus state that while the physicist can discover the soul in any machinery, the analyst in return reveals those processes in the psyche that are machinic;45 simultaneously extending the field of human-machine progress via mechanizing the psychic apparatus. That said, Mach’s disregard for the individual delimits the number of possible constellations for the history of machines. Unlike Mach’s own, Ferenczi’s theorem of deus cum machina exploits the inherently technological in the psychic apparatus which drives innovations on individual and collective levels simultaneously. Ferenczi, nevertheless, also carries out a peculiar theoretical ricochet by proposing temporal processes inherent to machines as means of excavating components of the psychic apparatus; this double bind between the history of mechanics and the mechanics of the unconscious can be posed as an a priori to the machinic hypostasis of the unconscious. Accordingly, the mutual influence between technology and mankind manifests whenever mechanics is set in motion: mechanics acquires history through the very work of the psyche, which in turn is investigated with the help of machinic processes. This constellation, however, transgresses the boundaries of simple abstractions; the very model starts to hypos-
42 In this regard – as will be discussed in the third part of this essay – the state of sleep gains its exemplary importance. See esp. 155Fer. 43 See Freud’s compliments to Ferenczi for establishing the conditions of repetition in a bioanalytic context in 559F. 44 Ferenczi paraphrasing Mach: Ferenczi, Zur Psychogenese der Mechanik, p. 296. 45 Ibid.
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tasize in bodily discharges (Korpsifizierung),46 producing occurrences, which are approached by Ferenczi using media of both mystical and technological origins.
the charms of occult prostheses Even those scholars, whose main research profile does not include psychoanalysis, might be familiar with at least the fact that Freud’s opinion on occultism was mixed at best.47 Jung’s esoteric inclinations particularly aggravated him, but he encouraged Ferenczi to carry on with his experiments concerning telepathy48 so as to explore domains previously hidden from psychoanalytic investigations. Opposing the mentalist transmission of thoughts and future-telling, Freud proposed the concept of overdetermination, instead:49 when he was a child, Freud chose 17 as his lucky number, which was back then interpreted by a mystic as the number of faithfulness, and then a couple of decades later Freud proposed to his wife-to-be on the 17th.50 This incident, however, might just belong to a type of occult faith present in psychoanalysis that dismisses contingencies on the basis of unconsciously motivated decisions.51 Another example is Freud’s trip to Paris after his wedding, during which he repeatedly heard the voice of his wife,52 yet this case can also be interpreted as a wish-fulfilling hallucination instead of a mysterious sonic transference, or thought-insertion. Freud nonetheless could hear a voice without any prosthesis, and this peculiar type of transmission played its part in his relationship with Ferenczi too. The Hungarian analyst yearned for Freud’s recognition while Freud him-
46 Bitsch’s term; cf. Annette Bitsch, Diskrete Gespenster: Die Genealogie des Unbewußten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, Bielefeld 2009, p. 151. 47 For a short summary, see Roger Luckhurst, The Invention of Telepathy, Oxford 2002, pp. 270–273. For a more detailed overview: Júlia Gyimesi, Sándor Ferenczi and the Problem of Telepathy, in: History of the Human Sciences, 25 (2012) 3, pp. 131–148. 48 See 555F. 49 Cf. Jacques Derrida, My Chances / Mes chances, in: id., Psyche: Inventions of the Other, Stanford 2007, vol. 1, pp. 366f. Another example is Ferenczi’s explanation for Freud’s typo when writing 1809 instead of 1909 on page 181 in the second edition of his The Interpretation of Dreams. Ferenczi allocates the mistake to the imperative form used by Freud in the sentence (“see”) and to the impossibility of carrying out the comparison Freud desires. Namely, Freud employs antedating, referring to an essay that was not yet published in 1908, but writing the series of numerals 1909 still felt unusual to him. 26Fer. 50 See Júlia Gyimesi, Pszichoanalízis és spiritizmus [Psychoanalysis and Spiritism], Budapest 2011, p. 79. 51 Sigmund Freud, Psychopathologie des Alltagslebens, Wien 1923, p. 309. 52 Gyimesi, Pszichoanalízis és spiritizmus, p. 80.
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self struggled to keep his distance from him,53 still haunted by the memories of his failed friendship with Fließ. Ferenczi refused to accept that Freud had not been the same person since the mistreatment of Emma Eckstein, and that he would never utterly open himself up to him. On top of that, a few years after they met for the first time, Freud found himself in a situation all too familiar to him: after Ferenczi realized that he had fallen in love with his fiancé’s daughter Elma Pálos, he sent her to Vienna for analysis in 1912.54 For Freud it was Beuer’s affair with Anna O. (Bertha Pappenheim) all over again. If we now proceed to elaborate on Ferenczi’s fascination with occult phenomena, which is closely linked to the occurrence of transference in analysis,55 the conjecture can be put forward that he saw spiritism as a way-out of playing his part in Freud’s self-imposed repetition of personal relations. Yet, on a less personal level the origin of his interest in the occult was actually related to the dynamism between the pleasure and reality principles. Lou Andreas-Salomé noted in her diary that her discussion with Freud had provided the insight that scientific phenomena in psychoanalysis could be posed as constant divergence from the former towards the latter.56 For Ferenczi, this dynamism coincided with questioning – as was already demonstrated above with his review on Mach’s paper – the basic principles of scientific practices. And it indeed included the experience granted to him by occultism, as the progress towards the reality principle had not excluded, but rather amplified supernatural factors. Because, according to Ferenczi, the supposed dominance of monism in the sciences is proposed as an act of projection via supplements (like the concept of materiality or atomism) that eventually misses its subject.57 Ferenczi addresses this very confusion in experimental disciplines as the cause of neurosis in science, complementing its “dry atomism” and “rigorous materialistic take-on“58 with his no less holist focus on the ego, thus exploiting the interconnections between technological 53 See 169Fer and 171F. It all started with Ferenczi’s distress over cooperating with Freud on the Schreber-project. Freud planned to write the psychoanalytic interpretation of the late judge’s memoire with Ferenczi being assigned the role of a simple scrivener in the process. Their relationship got even more uneasy, when Ferenczi accused Freud of carrying out an analysis on his letters, similar to the one executed on Schreber’s text. 54 Harmat, Freud, Ferenczi és a magyarországi pszichoanalízis, pp. 89f; André Haynal, Ferenczi and the Origins of Psychoanalytic Technique, in: Lewis Aron/Adrienne Harris (eds.), The Legacy of Sándor Ferenczi, London 1993, pp. 53–74, here p. 55. 55 See Ibid., p. 58. 56 Lou Andreas-Salomé, The Freud Journal of Lou Andreas-Salomé, New York [NY] 1964, p. 105. 57 Sándor Ferenczi, A tudás mérlege [A Report on Knowledge], in: id., A pszichoanalízis felé: Fiatalkori írások 1897–1908 [Towards Psychoanalysis: The Writings of the Young Ferenczi 1987–1908], Budapest 1999, pp. 190–193, here p. 190. 58 Id., Spiritizmus [Spiritism], in: ibid., pp. 27–30, here p. 27.
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progress and the mysticism of his time.59 It can be justifiable after all, especially if we take into account that the rehabilitation of the mechanical world-view in the second half of the 19th century coincided with discovering new means of accessing the supernatural through somnambulism and hypnotism, which had clearly been amplified by the emergence of new media.60 The models for psychoanalytic acts (e.g. projection, introjection, transference) and techniques (such as hypnosis61 and telepathy) rooted in spiritism were, however, not discredited by Freud entirely, as he primarily criticized the motives behind occultist exercises; he was dissatisfied with the spiritist disposition, mainly because it was not driven by the inadequacy of scientific axioms and practices, but by the overall belief in a universal power.62 And the reason lurking behind Freud’s prompting Ferenczi to continue his experiments with occult phenomena is that the former was certainly (more) capable of telling science from shenanigans, while the latter was eager to look for new methods applicable to psychoanalysis everywhere; this could at least count as an actual cooperation. Even though, hierarchy was still preserved via prosthetic means, since Freud’s prosthesis was not only cut out for the modern individual,63 but despite his constant complaints concerning his artificial lower jaw,64 it also secured the position of the primordial father for him:65 his legacy has persisted as the unconscious got mechanized by Ferenczi, then cybernetized by contemporary German media theory.66 Yet it has seldom been proposed that Ferenczi himself, as well as his theoretical disposition might have played the role of 59 Cf. Élisabeth Roudinesco, Why Psychoanalysis?, New York [NY] 2002, pp. 106f.. Roudinesco argues that despite its occultist connotations, psychoanalysis should be understood less as being integrated into the millennium-old tradition of spiritism, but rather on the merits of psychoanalysis, in its essence, posed as an alternative form of knowledge opposing “official” investigations on perception. 60 See Varadaraja V. Raman, Vielfalt in der Mystik und Parallelen zur Naturwissenschaft, in: Christoph F. E. Holzhey (ed.), Biomystik: Natur, Gehirn, Geist, München 2007, pp. 61–80, here p. 71. 61 Ferenczi especially likes to draw an analogy between hypnosis and suggestion applied in analysis as they both aim at „[i]nfluencing someone by activating transference phenomena in someone.” [my translation – R. S.] 271Fer. 62 Sigmund Freud, Psychoanalyse und Telepathie, in: id., Gesammelte Werke Bd. XVII, London 1955, pp. 28–30. 63 Cf. Id., Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1931, p. 50. 64 See 1031F, 1124F, and 1145F. 65 See Friedrich A. Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München 2000, p. 213. 66 Annette Bitsch, Die Kybernetik des Unbewußten, das Unbewußte der Kybernetik, in: Claus Pias (ed.). Cybernetics – Kybernetik: Die Macy-Konferenzen 1946-1953 vol. 2: Dokumente und Reflexionen, Zürich 2004, pp. 153–168, here p. 156.
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an occult prosthesis to the “Freudian robot,”67 presenting firsthand unconscious machinery. Because psychoanalysis does not simply differ from other scientific disciplines by means of simultaneously working with and working on apparatus, but also because it produces its own. This is why Eugene Thacker’s newly introduced concept of “Dark Media” comes in handy here. Whereas Thacker’s examples are mainly taken from pop culture, such as J(apanese)horror adapted to support the argument that horror movies, in general and since the birth of the genre, eminently thematize the usage of media within the medium itself, his predominant goal remains, nonetheless, to explain how media can actually simulate means of interaction with phenomena below sensory thresholds.68 Thacker distinguishes three types of practices for which he uses the umbrella term dark media, all three of them involving actual temporal disjunctions. While “dead media” enact the interplay between “an outmoded or outdated artifact and its still-active technical principle,”69 that can be associated with the interconnections between the compact cassette and audio recording in general, or as in Thacker’s example, between the laterna magica and visual sensation, “haunted media” as the second subtype of dark devices, cover cases when a still active object is utilized in a non-normative way. The third type of mediation carried out by “weird media” differs from the former because it is based on negation instead of cooperation. Weird mediation never negotiates peace between different ontological orders (i.e. natural and supernatural) but points to the unbridgeable rift, the original lack of compatibility between them. While Thacker states that the idea of haunted media principally distinguishes itself from the modern cybernetics-influenced conception of mediation first put forward in the 50’s, one which always works with a single consensual reality,70 his formulation of weird media does, nevertheless, come to terms with contemporary ideas, since the successful operations of weirdness mainly manifest through executing breakdowns and presenting glitches; as it will be later argued, Ferenczi’s machines do something utterly similar. Apart from connecting these practices to spatiotemporal distortions, Thacker’s most important conclusion is, however, that devices positioned as dark media do not mediate between addressers and addressees, and cannot be approached on the principle of coding and deciphering because they first and foremost enact protocols. They are capable of realizing such mediations since they operate not due to interactions be67 See Lydia H. Liu, The Freudian Robot: Digital Media and the Future of the Unconscious, Chicago [IL] 2010, pp. 2f. 68 See Eugene Thacker, Dark Media, in: Alexander Galloway/Eugene Thacker/McKenzie Wark (eds.), Excommunications: Three Inquiries in Media and Mediation, Chicago [IL] 2014, pp. 77–149, here p. 93. 69 Ibid., p. 129. 70 Ibid., p. 131.
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tween medium and object, but in the domain ruled by things;71 supernatural phenomena in this regard provide an eminent example, as they implement entities and processes which can only be accessed via technological media, bringing back the 19th-century “mystic” sense of the word. This rehabilitation exercised by psychoanalysis is backed by mediated spectral occurrences that certainly share the features of psychoanalytic transference in a way that they also involve manipulations. The importance of manipulation here does not necessarily reside in its capability of producing inescapable illusions, but in the fact that it can be defined as a form of exercising control over a field established upon noise instead of tangible information: Freudian slips, misunderstandings, and distorted syntax. The weird phenomena of ghostly apparitions and voices from the “otherside” equal those material-somatic phenomena in analysis that are inseparable elements of meaningful statements, and cannot be detached from the means of how such articulations are formulated. You cannot record one without the other because there does not exist a unique way of psychoanalytic filtering. This lack, nevertheless, does produce a singularity in psychoanalysis since it ultimately leads to the weirdness of mediation. Processes of decoding thus come to hold no real value: it is how the experience “out of reach” can be presented72 that matters: “the hallucinations of madmen are not illusions per se, rather they are actual percepts originating from the outside world of objects and from other people’s psyches; these can be accessed due to psychotics’ psychological oversensibility.”73 If we approach Ferenczi’s machines by building upon this principle, introjection-machines provide a model for the phase of the separation between the ego-libido and the object-libido,74 that is, when the first disruption of inner ecology occurs, with the organism reaching out to its outer milieu. In contrast to this, projection-machines pop up in a neurotic state, when the patient is stuck with the occult obsession that his thoughts and wishes are omnipotent,75 and thus projects them to the world whenever he is engaged with objects. Therefore psychotics and neurotics, with their machines, act like telepaths who can carry out mediation without any extra organs, yet who also are clearly backed up by devices functioning as
71 Ibid., pp. 134f. 72 At a quite early stage in their correspondence, when Ferenczi enthusiastically told Freud about his experiments with telepathy, the latter reacted that „even if Mrs. Siedler could reproduce your thoughts, she would not comprehend their visual manifestations in her mind.” 75F. [my translation – R. S.] 73 Sándor Ferenczi, Das klinische Tagebuch, Frankfurt/M 2013, p. 103. [my translation – R. S.] 74 See Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Wien 1924, pp. 6f. 75 See Sándor Ferenczi, Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes, in: id., Schriften zur Psychoanalyse, pp. 155ff.
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extensions to their bodies, nevertheless.76 Moreover, due to his interest in counter-transference,77 Ferenczi regarded projection as a weird type of transmission, one that did not simply seek for objects to trigger interactions with them,78 but by means of “active analysis” – a technique developed by him – projection could actually establish a psychic link between the analyst and the analysand. The almost telepathic force exercised by a projection-machine in this situation is “a wish which magically manifests even if in such a primitive form, via the materials accessible in and by the body […] in a way as, according to occultists, a medium can execute with a simple wish the ‘apport’ or ‘materialization’ of certain objects.”79 It is not by chance that Ferenczi avoids the term representation, as materiality more often than not can be accessed as something deformed and weird in such interactions, like, for instance, the distorted body in therapeutic sessions, when the patient materializes the close-circuits of his psychic apparatus as somatic symptoms (e.g. as ticks, stuttering). Therefore the projected organs of the unconscious (as projection-machines) manifest in a way analogous to how the supernatural is traditionally addressed and brought forth in communication: always partially realized, in a spectral-immaterial deformation,80 during mediating something otherwise inaccessible. This process is no longer dependent upon the idea of perfectibility, and sacrifices the demand for high-quality transmission, executing a regression in order to get a peek into the great beyond. Before proceeding to those associations which are brought along by introjection- and projection-machines in a psychoanalytic context, first it has to be clarified that there existed a difference between the words “Apparat” and “Maschine” in Freud’s time. The former covered devices that dealt with inscription techniques in general and were used for the transmission of messages in particular, whereas the latter mainly stood for machinery which was based on the principles of energy, hence machines that took after the steam engine, for instance.81 Secondly, another differentiation has to be mentioned, this time it is one that was introduced by Freud himself – between neurosis and psychosis; it cannot but become dubious, however, 76 Cf. Stefan Andriopoulos, Okkulte und Technische Television in: Stefan Andriopoulos/ Bernhard J. Dotzler (eds.), 1929: Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt/M 2002, pp. 31–53, here p. 41. 77 Due to Ferenczi’s work and despite Jones’s attempt to limit this fascination in the International Psychoanalytical Association, the possibility of occult transmissions between analysts and patients became a serious issue. See Luckhurst, The Invention of Telepathy, p. 275. 78 Ferenczi, Introjektion und Übertragung, p. 11. 79 Id., Hysterie und Pathoneurosen, Wien 1919, p. 23. [my translation – R. S.] 80 John Durham Peters, Speaking into the Air: A History of the Idea of Communication, Chicago [IL] 2000, p. 142. 81 Mai Wegener, Neuronen und Neurosen: Der psychische Apparat bei Freud und Lacan, München 2004, p. 22.
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if it is considered that while most of his patients suffered from – or at least were diagnosed with – hysterical neurosis, his most important theoretical insights (on temporality, on the work of phantasy, etc.) were provided by people categorized as psychotics (e.g. Schreber, the Wolf man, the Rat man). Moreover, despite the fact that Freud was inclined to focus almost exclusively on cases of paranoia, and entirely neglected the term “schizophrenia” in his works and preferred to use “paraphrenia”82 instead, the supposed formulation of schizophrenic structures received more attention in his legacy. That is why Freud has often been criticized for utilizing inadequate terminology; he refused to classify certain cases schizophrenic, even though the label itself came from his “household:” Eugen Bleuler, who originally introduced this terminus, was engaged in frequent correspondence with Freud, and even submitted to self-analysis with him. There is a hypothesis, however, put forward by Lacan, naturally, that Freud’s decision of using “paraphrenia” instead of “schizophrenia” had been based on his will to position himself on the side of traditional, experimental and descriptive psychology, even if he could never inspect his patients’ brains by means of the “talking cure,” like Broca, Charcot or Flechsig had done with their microscopes and scalps.83 With the help of idiosyncratic terminology, Freud took the “hard-science alternative” to the ways of interpretative psychology practiced by Bleuer.84 Therefore, as Lacan puts it, Freud was out of synch with the age around him,85 as usually: he was either way behind, not noticing that the term schizophrenia had quickly spread in analytic quarters,86 or he already antici82 The term originates from the concept of “hebephrenia” as described by Hecker and Kahlbaum; its symptoms included mood-swings, bizarre and infantile behavior, along with mental regression (cf. Abdullah Kraam/Paula Phillips, Hebephrenia: A Conceptual History, in: History of Psychiatry 23 (2012) 4, pp. 387–403, here pp. 389f.). Later, Emil Kraepelin, however, classified hebephrenia as a subtype of dementia praecox (Ibid., p. 399.), and separated those cases which did not include the mentioned mental regression at all, but still caused distortion in the patient’s personality. Consequently, he positioned this new, mixed set of symptoms between paranoia and schizophrenia, labelling it paraphrenia in the end. See Ian Dowbiggin, Delusional Diagnosis? The History of Paranoia as a Disease Concept in the Modern Era, in: History of Psychiatry 11 (2000) 1, pp. 37–69, here p. 45. 83 See Friedrich Kittler, Flechsig/Schreber/Freud: Ein Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende, in: id., Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart, Frankfurt/M 2013, pp. 76–90, here pp.78–80. 84 Dowbiggin, Delusional Diagnosis?, p. 48. 85 Jacques Lacan, The Seminar of Jacques Lacan vol. 3: The Psychoses 1955–1956, New York [NY] 1997, p. 4. 86 Even Ferenczi tried to draw Freud’s attention to the mistake in the second edition of his Schreber-essay by pointing out that Freud inconsistently used the terms paraphrenia and dementia praecox interchangeably, supposing that one took Kraepelin’s differentiation seriously: 425Fer.
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pated a kind of middle-ground which provided greater leeway for his speculative disposition.87 Now, back to Ferenczi, who, in contrast to Freud, tries to propose the relation between neurosis and psychosis in a more elastic manner. While he chiefly allocates introjection, to neurosis and projection to paranoia,88 he also leaves open the possibility of describing certain cases, most eminently Schreber’s, as paranoiac introjection building upon the phenomenon of constant self-addressing and compulsive self-reference. Ferenczi, nevertheless, makes serious efforts to define introjection as something close to incorporation and as the inverse of projection, even if he somehow realizes that the borders separating these two processes are more subtle than that. The terms he has chosen in his review on Mach’s essay (i.e. introjection- and projection-machines) acquire their significance because – at roughly the same time – two more imaginary media89 appeared in psychoanalysis, both of which similarly exploited the processes of introjection and projection, but with respect to schizophrenia; it is the so-called “influencing machine” (Beeinflussungsapparat) of Victor Tausk,90 and the spirit photography of Hippolyte Baraduc. Media approached on imaginary premises are usually addressed from the side of inscription technologies, since their materialization is inextricably linked to the event of imprinting.91 Like Tausk’s apparatus, they can also manifest as processes; realized via triggering change in the outer milieu (e.g. ordering objects), whose source lies at the heart of the inner’s.92 Therefore imaginary media are not passive subjects in the redistribution of elements and energies due to protocols, but occupy the position of creators and shapers of such. Yet the medium itself may not necessarily be tangible or even ut-
87 Viz. Freud’s construction of an analogy between a paraphreniac’s hipochondric traits and the anxiety of a neurotic; where anxiety is supposed to emerge, there the libido’s partial detachment from objects can be found, which is motivated to reestablish cathexes due to reconstructive (or regressive) urges (cf. Sigmund Freud, Zur Einführung des Narzißmus, pp. 6f.), eventually resulting in repetition. 88 Ferenczi, Introjektion und Übertragung, p. 10. Also see 218Fer. 89 Although the term was first put forward by Siegfried Zielinski, I use this concept as was elaborated on by Jussi Parikka. He defines imaginary media with the help of Deleuze’s and Guattari’s machinic theory as media that are materially manifested with the help of discursive practices ( Jussi Parikka, What is Media Archaeology?, London 2012, p. 44.). 90 While Tausk uses the word “apparatus” instead of “machine,” he might have got the overall idea to write about this topic from Ferenczi. It is all the more possible because Freud made it quite explicit that the main reason he refused to accept Tausk as an analysand for fear of being robbed of his ideas by him. See 499Fer. 91 Cf. Parikka, What is Media Archaeology?, p.47 92 See id., Media Ecologies and Imaginary Media: Transversal Expansions, Contractions, and Foldings, in: Fiber Culture 17 (2011) 3, pp. 34–50, here p. 36.
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terly “material,” as in the case of Ferenczi’s machines for meditating operations.93 That is also the reason why such devices can become means of probing; they are cut out for experimenting with materialities, for spatiotemporal orientation via interaction with existing objects, in the end enlightening the capabilities of mediated situations.94 Because such apparatus cannot simply be categorized in a purely discoursive manner but only as an assemblage of interactions connected to existing media technology in a particular era. Here, the term “assemblage” is understood in the Deleuzean way, as bodies, scenes, and things making up complex constellations, all of which take place in a temporal dimension, opening up new operational possibilities.95 Yet imaginary and dark media go beyond Deleuze’s concept of machinic assemblages that generally materialize in environmental architecture, hermenautics, and time-tables (i.e. economical praxis), with providing an interface where heterogeneous factors and their potential interactions for the subject do not lead to assimilation, but to a cluster of distinctive operations. Imaginary media this way always stem from the synthesis of inner cooperative elements, even though their function is precisely to disrupt such equilibriums – mediating in order to announce the breakdown of mediation. Consequently the practices of dark media can be included in imaginary media. On the one hand, Ferenczi’s machines of introjection can, thus, be compared to the “influencing machine.” Tausk presents his apparatus as a mediating device in schizophrenia that haunts the subject because “it produces, as well as removes, thoughts and feelings by means of waves or rays or mysterious forces, which the patient’s knowledge of physics is inadequate to explain.”96 Its components and blueprint remain a mystery, the only feature conceivable of it, is its operation including “thought broadcasting” (viz. projection) and “thought insertion” (viz. introjection).97 It is partially realizable, nonetheless, only as far as it satisfies the need for causality of those suffering from paranoia.98 And while it shares its features of spatial disposition and operation with Ferenczi’s machines, the influencing machine triggers exactly the renouncing of interactions with objects,99 and fuels intersubjec93 See ibid., p. 45.; Id., What is Media Archaeology?, p. 54.; Félix Guattari, Chaosmosis: An Ethico-Aesthetic Paradigm, Indianapolis [IN] 1995, p. 35. 94 See Parikka, Media Ecologies and Imaginary Media, p. 43. 95 Cf. Alan Parr, The Deleuze Dictonary, Edinburgh 2010, p. 18. 96 Victor Tausk, On the Origin of the “Influencing Machine” in Schizophrenia, in: Journal of Psychotherapy Practice and Research 2 (1992) 1, pp. 185–206, here p. 186. 97 See Jeffrey Sconce, On the Origins of the Origins of the Influencing Machine, in Erkki Huhtamo/Jussi Parikka (eds.), Media Archaeology: Approaches, Applications, and Implications, Berkeley [CA] 2011, pp. 70–94, here p. 71. 98 Tausk, On the Origin of the “Influencing Machine,” pp. 187 and 190. 99 Ibid., p. 201.
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tive relations instead.100 Therefore, Tausk’s machine is closer to acting as a telepathic device, rather than one which can manipulate time structures, against all claims stating that the apparatus is connected to regressive processes taking place in the psyche.101 The influencing machine works more like an unpleasant amplifier: it makes the subject’s thoughts heard in his outer milieu, while allows (supposed) offensive utterances to reach the schizophrenic’s mind in return. A certain transference is undoubtedly involved in this case, yet it does not reside in the mediating act of the apparatus, as much as it does in the subject’s act of identifying the thing made up by “boxes, cranks, levers, wheels, buttons, wires, batteries, and the like”102 as the source, transmitting his or someone else’s voice. This type of apparatus can be classified as weird media to the extent that its parts, which seemingly dispense with interconnections of any kind, are, nevertheless, capable of mediation. Just like Ferenczi’s machines that are always manifested through material disruptions of the somatic dimension, the noisy breakdown executed by Tausk’s influencing machine is possible because of its scrap parts – those elements which against all odds can work together. The latter’s weirdness is provided by this very mechanical framework, as such random and incompatible parts ultimately execute a twisted mediation; ceaseless negative effects towards the paranoiac. Just like Ferenczi’s introjection-machine, it can transfer something which is apparent but not (yet) present for its user,103 but while for Ferenczi, weird media involve intermingling organs and tools to open up interactions between man and its environment, for which the accessibility of supernatural phenomena provide a model, in Tausk’s case, the weirdness of mediation lies in the inexplicability of components analogous to psychic factors which are used to “grasp the completely new sensory realms that came about with new media technology.”104 On the other hand, projection-machines too can be compared to another imaginary medium, namely spectral photography – an eminent example of Thacker’s haunted media –, whose popularity persisted up until the end of the 19th century. Charcot’s contemporary, Hippolyte Baraduc expressed his interest in the subject because he wanted to see the aura of his patients, or rather the process when the soul acquires its real form,105 to be precise. He pursued those movements, which could not be perceived by the naked eye during seizures. His experiments, nevertheless, provided a model for temporal operations in analysis via employing a certain 100 101 102 103 104 105
See Sconce, On the Origins of the Origins of the Influencing Machine, p. 82. Tausk, On the Origin of the “Influencing Machine,” pp. 195 and 199. Ibid., p. 186. Cf. Thacker, Dark Media, p. 133. Parikka, What is Media Archaeology?, p. 50. Georges Didi-Huberman, Invention of Hysteria: Charcot and the Photographic Iconography of the Salpêtrière, Cambridge [MA] 2003, p. 92.
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aggressive disposition, which later was partly covered by Ferenczi under active analysis,106 a decade before Freud made his own contribution to the topic.107 According to Ferenczi, the preparations associated with making projection-machines in analysis operate, are made up by the conflicts triggered, but for Baraduc it was setting the stage before inflicting effects that play their parts in getting his desired seizures. In the latter’s case, hysterical symptoms appeared on the photographic disc, whereas in the former’s it was the ego itself that realized a machine; as a projection of a surface.108 These recorded conflicts hold the potential endlessness of analysis, even if it is finished, hence the process of photography is taken for as deferred and exposed temporality, in the end providing the model for the symptom in analysis, whose temporal basis resists linearity. Hesitation and haste for coordinating the subject in front of the camera are paired up with afterwardsness (Nachträglichkeit) generated by materials such as ether and amyl-nitrite, both of which were utilized by Baraduc in order to temporally delay symptoms109 like tremors, twitches and ticks, as well as by different ones, like nitrocellulose and mercury, which were widely used for the development of photographs. In this regard, repetition, as a form of materialist manifestation due to manipulating the hysteric via suggestion or telepathy, inherently contains the act of transmission. And while repetition as a symptom of repression also becomes recordable due to its “transmissional” origin, repression itself produces marks that are inaccessible to the analysand; these so-called “crypto-symbols” as meaningless factors110 make introjection- and projection-machines break down unless the idea of mediating the uncommunicable (viz. dark media) is implemented in them. Therefore, Ferenczi’s machines, orienting patients by means of spatiotemporal manipulation through their materializing tendencies, have to operate on the merits of spiritist mediums and dark media, while they also introduce those things into the analytic situation, which could not be accessed any other way. Consequently, they can make the temporal frame, in which psychoanalysis functions, plausible and transmissible to the analysand, rather than just producing a simple discharge of satisfaction.
106 Ferenczi originates the methodology of inducing conflicts in patients, and consequently scansioning analysis (i.e. hastening or slowing the progression of sessions) from his genital theory. See 51Fer. Yet, in contrast to Freud, he dismissed the thesis that acting out (Agieren) could ever be adequately substituted for the act of remembering, and he adhered to the key role of verbally reconstructing memories even in active analysis. Cf. 1009Fer. 107 See. Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, in: Zeitschrift für Psychoanalyse 23 (1937) 2, pp. 209–240, here p. 223. 108 See Freud, Das Ich und das Es, pp. 24f. 109 Didi-Huberman, Invention of Hysteria, p. 215. 110 344Fer.
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machinic temporality: evolution, Entwicklung, or neither? It is certainly not a demanding task to provide a valid answer to the question, why Darwin’s predecessor, Lamarck could function as common ground for Freud’s and Ferenczi’s historical views.111 In fact, Ferenczi’s statement about his ontogenetic theory having received a phylogenetic sister112 is quite telling in this matter. When in 1915 Freud was even more eager than before to investigate the unique temporal horizon of repression, he was also moving closer and closer to identifying with Ferenczi’s perspective, whose grounding hypothesis was that phylogenesis can be discovered in ontogenesis. Their aim was to substantiate the psychoanalytic method, and Lamarck’s idea of development had several features that could be used as support for speculations. First of all, his theory of inheritance extended to environmental effects and to the usage of an organ (or the passivity of one, for that matter),113 proved the interchangeable nature of individual and collective historical development for psychoanalysis. Secondly, his concept of neoteny as “the preservation in adults of shapes and growth rates that characterize juvenile stages of ancestral primates”114 certainly falls in line with the psychoanalytic practice of tracing regression back to the infantile phase. Precisely because, unlike Mach’s analogy drawn between infants and prehistoric men, it actually works on the level of species, supposing for instance that domesticated animals took after the cubs of wild ones. Thirdly, and in contrast to Darwin’s conception of evolution, which first and foremost (but not exclusively) utilized adaptation via natural selection115 – and through a so-called “struggle for life” which was later rephrased by Spencer as “the survival of the fittest” –, the Lamarckian way provided a larger space for speculating on the intersections of tribal and individual memory linked to development. Freud rejected Darwin’s conception regarding the chain of being because the biologist conceived of it as a dynamism based on “lifeless causality.”116 All the more because memory, be it mental or biological, is not simply passed down from one generation to another, but from a theoretical perspective its very existence is 111 After ordering Lamarck’s books, Ferenczi writes to Freud that „I am predicting all kinds of things there and am actually already convinced about it.” 634Fer. Freud then replies that „each of us reads, if possible, everything that is noteworthy […]. We should support each other from the beginning with hints as to where things can be found.” 638F. 112 556Fer. 113 Cf. Stephen Jay Gould, Senseless Signs of History, in: id., The Panda’s Thumb: More Reflections in Natural History, New York [NY] 1980, pp. 27–34, here p. 29. 114 Id., Our Allotted Lifetimes, in: ibid., pp. 299–305, here p. 301. 115 Id, The Panda’s Thumb, in: ibid., pp. 19–26, here pp. 21–23. 116 Harry Gershenowitz, The Influence of Lamarckism on the Development of Freud’s Psychoanalytic Theory, in: Indian Journal of the History of Science 14 (1978) 2, pp. 105–113, here p. 106.
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an a priori condition for the whole Lamarckian system to function. And finally, as this also seems to shed some more light on Mach’s blind-spot vis-á-vis Ferenczi:117 regression, reversal, repetition, and subversion are all inherent to such a system, as Lamarck was the first to offer a temporalization of organic life by abandoning the fixity of species, and in return proposing the “mechanism of progressive modification.”118 The aforementioned Lamarckian theorems,119 even though Lamarck himself still confined them to teleology, and preserved the hierarchy of species with taking man for the model of perfection,120 on the whole disrupted linear temporality. Lamarck’s conception of “use-inheritance,” and the inheritance of acquired traits, however, required an ecology based on necessity, whose psychological counterpart was established upon genetic predisposition as adaptation.121 His steady and dedicated materialist approach, nevertheless, allows for a hybrid praxis that handles organic processes according to the principles of mechanics. Whereas Darwin’s idea of natural selection was postulated mainly as a strong opposition against the artificial selection practiced by animal breeders, professing that generations inherited the characteristics of the species’ survivors,122 Lamarck’s materialism in his theory of evolution, via allowing a two-way correspondence (and communication) between genotype and phenotype, may show more affinity for machinic tendencies.123 Therefore, even though Darwin’s model suited the discoveries made during those fifty years between Philosophie Zoologique and The Origin of the Species,124 Lamarck’s chain of being for psychoanalysis ultimately holds the potential of non-linear, reversible, deferred temporality. Ferenczi had demonstrated this thesis in such a convincing way that not even Lacan, whose standpoint remained untouched by phylogenetic and bioanalytic influences, could avoid referring to his idea when confronted with 117 It is worth noting that while Ferenczi’s review of Mach’s book was not published until 1918, he had already been working on it since 1915. This is the same year when, together with Freud, he picked up the idea of employing the Lamarckian theory of development in psychoanalysis. On top of that, Ferenczi did not consider his work on Mach’s conception of the history of mechanics as abandoning the project of bioanalysis, but rather as a part of it. See 577Fer. 118 Friedel Weinert, Copernicus, Darwin, & Freud: Revolutions in the History and Philosophy of Science, Oxford 2009, p. 104. 119 For a different taxonomy, see Gershenowitz, The Influence of Lamarckism …, p. 107. 120 Weinert, Copernicus, Darwin, & Freud, p. 105. 121 Gershenowitz, The Influence of Lamarckism…, pp. 106 and 108. 122 David Christian, Maps of Time: Introduction to Big History, Los Angeles [CA] 2011, p. 88. 123 George Dyson, Darwin among the Machines: The Evolution of Global Intelligence, New York [NY] 1997, p. 31. 124 See Weinert, Copernicus, Darwin, & Freud, pp. 105–112.
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Jones’s own of the aphanisis (i.e. sublimation of desire).125 In his wildly speculative126 and probably most influential book entitled Thalassa, Ferenczi discussed repetition and regression on the merits of connecting ontogenesis to phylogenesis, so as to suppose an origin that deflects chronology and progression; the simultaneity of fertilization and anorganicity.127 He supported this idea with his theory of the “amphimixis,” a process of accumulation in libidinal energies,128 introducing a twist notwithstanding; accumulation happens on evolutionary soil, namely, in the swamp, a natural habitat to amphibians, eventually transforming amphimixis into amphioxus. Putting puns aside, Ferenczi conceived of the coitus of amphibians as a unifying act, both regressive and progressive, that simultaneously pointed to the origin of the species, as well as to its adaptation to various environments.129 Ferenczi identified it as an exemplary process going both ways at the same time, and consequently transposed Freud’s enigmatic “zeitlich-Entwicklungsgeschichte,” based on the principle that the patient’s past can be accessed due to his future,130 onto a phylogenetic level. Lacan, however, instead of following Ferenczi’s lead on this one, turns to Norbert Wiener’s thought experiment to explain Freud’s historical perspective. It concerns two entities that live on opposing temporal planes. If one of them sends a message to the other, then while it is being inscribed, the other sees it disappear before it would have ever entirely manifested.131 Lacan concludes that traces in psychoanalysis “continue not to be understood“132 (viz. crypto-symbols) until their meanings are discovered. It is a standpoint immensely similar to Freud’s Lamarckism. When repression is also situated as “after repression” (Nachdrängung), then Freud can legitimately exploit the Lamarckian thesis of interconnections between progression and regression; the development of a certain organ goes hand in hand with the devolution of another.133
125 Jacques Lacan, On the Subject Who is Finally in Question, in: id., Écrits, New York [NY] 2006, pp. 189–196, here p. 192. 126 Ferenczi admits that the book and his genital theory on the whole are products of his years in the army, when he served as a medical officer during World War I. At that time he totally surrendered to speculative thinking. Cf. 1196Fer. Back in those years, Ferenczi compared himself to speculative biologists, „who, always moving far from reality – would like to build the entire world edifice on the few facts that are known to them.” 535Fer. 127 Sándor Ferenczi, Thalassa: A Theory of Genitaly, New York [NY] 1986, p. 63. 128 Lacan, On the Subject Who is Finally in Question, p. 192. 129 Ferenczi, Thalassa, pp. 63f. 130 Jacques Lacan, The Seminar of Jacques Lacan vol. 1: Freud’s Papers on Technique (1953– 1954), New York [NY] 1991, p. 157. 131 Ibid., p. 159. 132 Ibid. 133 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, Wien 1923, p. 57.
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Supplementing Freud’s conception, Ferenczi proposes a moratorium that can serve as a temporal field of manifestation for a passing from the individual to the collective, pairing the dormancy of an organism with its fertilization (i.e. the stimulus triggering change).134 This time-span might be the origin of how Freud imagined latency in his book on Moses, which originally utilizes the interval between taking a photo and developing it.135 Ferenczi’s conception of the caesura, nevertheless, comes closer to spectral photography discussed above; it allows something otherwise inaccessible, that is the coincidence of two occurrences which are seemingly temporally apart. This difference in synchronicity is plausible only within a temporal framework established upon recurrence and reversals,136 and this is the reason why it is clearly fuelled by a Lamarckian perspective for Ferenczi as well. Applying a Lamarckian approach, an event is self-identical only if it has either regressive or progressive consequences for the organism. Ferenczi’s example concerns the tails of cats and dogs, an organ which once acted as support for body segments that no longer exist, and wherefore became an organ of expressing basic emotions, i.e. archaic gestures: “[i]t is in such lurking places, and in others of like kind, that the regressive tendency may be concealed at times of intensive adaptation, to come into play again as a formative factor when the worst of the danger has been surmounted.”137 But in cases like this, both regression and progression have to be in operation: “the return of the repressed is the effaced signal of something which only takes on its value in the future, through its symbolic realization, its integration into the history of the subject.”138 Simply put, temporal structures present in individual neurotic and psychotic cases grant access to those transformations in the outer milieu that are in fact no longer present (e.g. most eminently for Ferenczi, those of the ice age),139 but whose effects nonetheless shaped collective inner milieus for the species. It accumulates, on the one hand, something simultaneous, a synthesis of past and future, of memory and adaptation for the history of the subject and for the development of the species alike, as in the case of Ferenczi’s amphibious unification act. On the other hand, this structure is only accessible on a non-atemporal basis, via a regressive movement as an act of restoration, one which cannot do without historical disposition. One can access the turns that determined the development of mankind 134 Ferenczi, Thalassa, p. 63. 135 Freud, Moses, pp. 120f. 136 For example, Ferenczi executed a peculiar subversion in the tropological relationship between sea and womb. Whereas the former is usually taken for representing the latter, according to Ferenczi, it is the womb which has to be comprehended as a symbol for the sea due to the organism’s urge to return to its prehistoric habitat. Ferenczi, Thalassa, p. 76. 137 Ibid., p. 92. 138 Lacan, Freud’s Papers on Technique, p. 159. 139 See 971Fer.
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on an individual level whenever the possibility of such regressive movement is granted by the temporality of repression. Ferenczi points out that Darwinian theory could never cater for the reoccurrence of traits supposedly extinct, that is “the return in the new product of evolution of earlier forms and modes of functioning,”140 meaning that regression in a Darwinian context would be posed as sheer impossibility, whereas Lamarckian design acts as a fail-safe for less developed species to linger.141 Ferenczi, however, directed criticism at Lamarck too, for the inverse reason he did towards Mach: for securing the eminent role of man and overlooking the potential pertinence of his theory for machinery, thus, dodging – not unlike Mach in this regard – the main question of „why it is that in the living organism the use of an organ does not result in its wearing out, as in the case of an inorganic thing such as a machine, but instead of this in its strengthening.”142 Because the answer to that, against all seemingly biological rhetoric,143 might precisely point to an ecology that is based on non-organic properties contributing to the evolution and history of the subject. Introjection- and projection-machines, once again as themselves being correlated with phases in development such that the former contributes to the subject’s integration into the world of objects, while the latter provides automata that still offer interaction with the outer milieu of the subject, are, thus, for Ferenczi, ultimately means of coping with temporal processes beyond irreversible thermodynamics. The “Anthropos” plays its part in this matter only to the extent as it can be positioned as a variable in a formula that is shaped by the interaction between the inner and outer conditions in evolutionary history, providing a two-way temporal movement. This is the reason why Ferenczi has put forward catastrophes144 as points of passage between the history of the individual and of the species, thus, also as occurrences of inscription. Catastrophes are events of recording, the inorganic forming of the living memory of matter, which are granted at the disposal of individuals whenever their psychic apparatus malfunction (i.e. in neurotic and psychotic states). It is then that they can access the archive of ancient relations (viz. the Id) with the help of those organs that present them a history long forgotten. Machines do not make their contribution to Ferenczi’s theory as models for how frequently used organs should deteriorate, but via the possibility that their components can deteriorate at all, and that the apparatus can be taken apart. Machines with their detachable parts 140 141 142 143 144
Ferenczi, Thalassa, p. 51. Weinert, Copernicus, Darwin, & Freud, p. 105. Ferenczi, Thalassa, p. 91. Lacan, Freud’s Papers on Technique, p. 22. It is worth noting that unlike all editions published outside Hungary, the original Hungarian version of Ferenczi’s Thalassa is entitled “Catastrophes in Genital Activity” [Katasztrófák a nemi működésben].
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can support (phylogenetic) recording and (ontogenetic) replaying; Ferenczi’s machinic model enables the different organs of the body to be posed as a scene for hysteria and at the same time as a product of the evolution of the species. Putting it bluntly, machines can succeed in extracting catastrophes as events characterizing developments inscribed in the human first and foremost because they are implemented with the possibility of amputation. The removal of prosthesis in psychoanalysis is identified as means of restoring the prehistoric state, which happens as a regression, just like in Freud’s interesting passage in A Metapsychological Supplement to the Theory of Dreams, where he defines the sleep-state as a return to the primitive fetal phase via removing all extensions; fake teeth and wigs, etc. included.145 As has already been discussed concerning the materializing tendencies in producing somatic symptoms, Ferenczi radicalizes this idea by proposing that during sleep-phase when motility is all but fully limited, there can still occur a unique type of bodily discharge.146 Because organisms tend to turn to different ways of realizing intensities via energetic accumulations, more often than not those based on the coupling of deference and reservation.147 Ferenczi formulated this process that organisms recourse to, as resting phases in active adaptation, unifying a fallback upon less developed conditions with progressing forward in life.148 For partial paralysis to appear in sleep-state as an eminent somatic symptom, a kind of regression is also required, one which, from a topical angle, has to reach the deepest layers of the psychic apparatus. Because unconscious motility can only be triggered, if the instance itself coincides with the mechanical hypostasis of the unconscious.149 In order for that to happen, the psychic apparatus would have to “leap back” to the prehistoric era of organisms. A bodily reconstruction of such a phase can only be possible with the act of auto-amputation inherent to Ferenczi’s imaginary machines. Because if dark media, as covered by Thacker, announce the end of communication or the impossibility of mediation,150 then Ferenczi’s usage of introjection- and projection-machines for modeling temporal processes in a psychoanalytical way, mediate the removal of devices in order to reach a supposed original state of the organism. Machines are made use of so as to approach the state of synchronic unification, since they are simultaneously time 145 Id., A Metapsychological Supplement to the Theory of Dreams, id., Standard Edition vol. 14: On the History of the Psycho-Analytic Movement, Papers on Metapsychology and Other Works, London 1975, pp. 222–235, here p. 222. Also see 552Fer. 146 Ferenczi, Hysterie und Pathoneurosen, p. 24. 147 Dominic Pettman, Human Error: Species-Being and Media Machines, Minneapolis [MN] 2011, p. 185. 148 Ferenczi, Thalassa, p. 92. 149 Id., Hysterie und Pathoneurosen, p. 24. 150 Thacker, Dark Media, p. 133.
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appended to and removed from the human body. According to Ferenczi, this unification is the very act of waste-management; “the excretion of actual waste products (i.e., urine and fæces) with the elimination of the erotic tension accumulated in the genital and also with that of the age-old material of unpleasure [italics in the original – R. S.] which we think of as stored in the germ-plasm.”151 Nowadays, after inquiries into the materiality of media shifted their focus towards the resistance against total decomposability and inoperativity with “zombie media” that refuse to die when becoming obsolete,152 with the handling of objects’ remains in post-apocalyptic scenarios,153 or with methods of digital waste-management,154 Ferenczi’s idea of linking organic and inorganic textures as being pursued upon Lamarckian premises can share some peculiar insights and contributions to the subject. Postulating his introjection- and projection-machines as imaginary media’s (re)ordering relations between inner and outer environments, between subject and world, extending the ego’s field of operation, they cannot do without an ecology of their own. Based on this principle, Ferenczi once again criticizes the immensely theoretical and abstractly founded physicist perspective restrained by the second law of thermodynamics which in spite of accepting that in dead and inert matter some life still prevails, can only agree to disagree with Darwinian natural selection as far as it supposes a reassembling of energy. Psychoanalysis, however, sticking to the more animistic Lamarckian conception of evolution, supposes that a strict differentiation between life and death cannot at all be preserved, considering that “germs of life”155 can still be excavated from inorganic matter – and in a parallel fashion, for machines, regression can be set in operation to access their components. The thing, which for Tausk seemed sheer impossibility, and consequently became the key element of weirdness in his apparatus, namely, how utterly incompatible parts could make the influencing machine work, in case of Ferenczi’s imaginary media’s ceaselessly introjecting and projecting, show that it takes exactly scraps and salvaged components to make up such devices. Ferenczi’s idea of machines stemming from disintegration156 explains that imaginary media are not simply sites of cooperation but the act of disruption and that folding temporal domains into each other by means of the persistence and undying piling-up of materiality ultimately constitutes a framework outside of which no such entity can exist. 151 Ferenczi, Thalassa, p. 64. 152 See Jussi Parikka/Garnet Hertz, Zombie Media: Circuit Bending Media Archaeology into an Art Method, Leonardo 45 (2012) 5, pp. 424–430. 153 See esp. the part on McCarthy in Eva Horn, Zukunft als Katastrophe, Frankfurt/M 2014, pp. 181–240. 154 Jennifer Gabrys, Digital Rubbish: A Natural History of Electronics, Michigan [MI] 2013. 155 Ferenczi, Thalassa, p. 94. 156 Ibid.
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In Ferenczi’s ecology Lamarck’s idea is put to use insofar as Leroi-Gourhan’s conception of machinic assemblages plays a leading role for Guattari’s; the abstract vitality of the organic matter is always ready to interfere with machines, or in other words, the constant exchange from the organic to the inorganic and back is always secured in machinic environments. While according to Guattari, “[h]uman action remains adjacent to their gestation, waiting for the breakdown which will require its interventions: this residue of a direct act,”157 Ferenczi portrays an ecology in which all stages passé are stored in the biological strata separated by the resistances of the subject.158 He preserves the breakdowns of machinery, but not in a clear-cut manner as was exercised by Mach with postulating man as janitor to machines. For Ferenczi, regression in organic and inorganic structures materializes primarily in those organs or parts “which through development have become ‘unemployed.’”159 Machines in Ferenczi’s theory, thus, in their materialized form, can either be tools (as connected to introjection) or automata (as connected to projection), but at the same time they are also the virtual work of defection and temporal manipulation. Hence, such imaginary media compose of twofold processes: they are never solely appropriated as those substance and/or form that mediatize practices, but as the folding and accumulation of space, time, and agency, namely as a cluster of interactions that resist mediation to be summed up or degraded to the binarism of beginnings and ends,160 to inputs and outputs; these devices point to past and future continuously. This view is backed up by Lacan’s witty use of words that expresses the psychoanalytic belief in looking for a patient’s past in the dustbin,161 while it is rather the regressive processes happening from the future towards the past – like the displacement of phantasy constructed in the future, projected back to the past as a substitute for an event – that can be identified by analysis working in its respective “deep time.”162 The idea discovered in Gould’s thematization of the two extrema, refined to the passage of time in civilization, namely time’s arrow as “an irreversible sequence of unrepeatable events,”163 and time’s cycle composed of fundamental states “always present and never changing,”164 is situated in a framework 157 Guattari, Chaosmosis, p. 36. 158 Ferenczi, Thalassa, p. 91., for a “deep time” take on the subject, see Manuel De Landa, A Thousand Years of Nonlinear History, New York [NY] 2000, p. 137. 159 Ferenczi, Thalassa, p. 92. 160 Cf. ibid., p. 93. 161 Lacan, Freud’s Papers on Technique, p. 157. 162 Cf. Sigfried Zielinski, Deep Time of the Media. Toward an Archeology of Hearing and Seeing by Technical Means, Cambridge [MA] 2006, pp. 3–5. 163 Stephen Jay Gould, Time’s Arrow – Time’s Cycle: Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time, Cambridge [MA] 1996, p. 10. 164 Ibid., p. 11.
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that caters for a material environment that takes minerals, rocks, and elements, hence geometric factors to characterize its own temporal ground.165 Gould, with these two distinct views identified in man’s attitude to history, successfully opened a way for contemporary theoretical discourse on geological time, which skyrocketed only after Siegfried Zielinski reintroduced the idea of such deep time in media’s cultural studies. He took Blumenberg’s insight into the history of technological media differing from history approached by man seriously. That resulted in a temporal disposition that executes the mediation of those objects which themselves mediate at all times.166 Zielinski’s concept of deep time utilized in his project of “anarchaeology” or “variantology” encapsulates the sum of some possible media-genealogies – in a Nietzschean and not in a Foucauldian sense. His geological approach aims at excavating deep strata to identify tectonic movements in the history of technology, consisting of events, ideas, and drafts for innovations. Deep time is made up from certain segments of time, all bearing the plurality of forms and consequently enabling new constellations for the present. With folding layers into each other, new processes are set into motion, disrupting periodization and opening secret passages in history. This tesserae-like meshwork of a genealogy accumulates the handling of temporal planes along with human and geological history in a similar fashion as pursued by De Landa with his idea of nonlinear history.167 Ferenczi’s machines likewise point back to their original disintegration, the ragand-bone shop of mechanical parts, and also forward to the middenhide of their surviving components after they fall apart, – to apply some McLuhanian rhetoric. Enacting the deep time of machinic ecology, they come into operation in the breakdowns of the psychic apparatus itself, which are considered to be psychosis and neurosis, and simultaneously disrupt linearity in history, thus, dismissing the simple idea of innovations always happening in the very same order, as was laid down by Mach. The more successful the mediation is proposed to be, the more the apparatus itself is blurred168– however, imaginary media are idiosyncratic in this sense, since their manifestation is dependable on breakdowns and inaccessibility, as in mental discordance and in supernatural communication. Ferenczi’s machines, like all imaginary media, tend to function according to the hybrid Darwinian-Lamarckian rephrasal found once again in Gould:
165 166 167 168
Ibid., pp. 196f. Cf. Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik, Frankfurt/M 2009, pp. 52–55. See De Landa, A Thousand Years of Nonlinear History, pp. 59f. See Parikka, What is Media-Archaeology?. pp. 61f.; Bruno Latour, Pandora’s Hope: Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge [MA] 2000, pp. 183–185.
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Although an organ may not have been originally formed for some special purpose, if it now serves for this end we are justified in saying that it is specially contrived for it. On the same principle, if a man were to make a machine for some special purpose, but were to use old wheels, springs, and pulleys, only slightly altered, the whole machine, with all its parts, might be said to be specially contrived for that purpose. Thus throughout nature almost every part of each living being has probably served, in a slightly modified condition, for diverse purposes, and has acted in the living machinery of many ancient and distinct specific forms.169
The archeology of their effects can be carried out nevertheless, which is actually the mapping of conditions for manifestation, the interaction of virtual operations with and through their material basis. Ferenczi’s introjection- and projection-machines in this manner execute a leap back to the era of primitive tools, or of no tools at all, for that matter, and are at the same time unified with and differentiated from the era where devices are disjointed from man, but still make up his environment. 170 The subject’s integration into the Symbolic, or his interaction with objects is of a temporally atemporal nature; introjection- and projection-machines, when removed, mediate beyond the timeless Symbolic, and reveal the historical basis with their obsolescence. Consequently, this ecology on the one hand is constructed by the successful functioning of machinery in events of breakdowns that in turn, and on Lamarckian premises, provide the history of regressive traits for the species, and the regressive processes in neurotic and psychotic states for the individual. While, on the other hand, machinery functioning in malfunctioning – as was often the case with spectral photography171 – grants the job of maintenance to man, just like Mach insisted. Ferenczi’s machinic framework is, nevertheless, dominated by a different regime of entropy than the one present in thermodynamics, which also provides Mach’s linear history. Because psychoanalysis is precisely an investigation that requires going beyond autopoiesis, and not a return to it 172 when faced with the regression to a primal state through machinic decomposition: it does not dispose of a linear feedback loop, but makes use of disequilibrium. Disrupting homeostasis with the accumulation of simultaneous feedbacks and feedforwards, 169 Gould, The Panda’s Thumb, p. 26. 170 Even in the immensely material way of obsolete media becoming part of the Earth’s ecosystem. See Jussi Parikka,The Anthrobscene, Minneapolis [MN] 2014, loc. 449, 597. [Kindle ebook] 171 See Friedrich Kittler, Gramophone, Film, Typewriter, Stanford [CA] 1999, pp. 10f. 172 Distinguishing between autoplastic and alloplastic adaptations, Ferenczi links the former to the operation of the psychic apparatus carrying out sleep-state materialization of tendencies which are considered the organism’s immediate reaction to stimuli (Ferenczi, Hysterie und Pathoneurosen, p. 24.).
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psychoanalytic inquiries of this kind also draw a so-called “proto-subjective diagram,”173 which serves as the blueprint for the operations of the psychic apparatus. What Ferenczi criticizes in Mach’s scheme for the history of mechanics, namely that it can only be postulated as abstraction, he himself puts forward in a structure that later becomes the ground for Gilbert Simondon: “he speaks in terms of the essence of technical objects at the same time that he speaks of a modern historical transformation that brought the technical individual to the fore.”174 The history of machinery as laid down by Ferenczi’s apparatus, connected to human subjects, reveals the potentiality of disruptions, of the psychic apparatus’s breakdowns, via introjection- and projection-machines functioning in malfunctioning; reconstructing states in the history of the species through the history of devices. The field of operation for the ego can then be proposed as a field of interactions between man and machine, via which the accessibility of the inaccessible can be executed due to the material basis that is manifested in nonsense crypto-symbols, persisting in deep time, refusing to die, and operating from the strata of stored inoperative traits and salvaged parts, reactivated whenever regression takes place with regard to the aim of such persistence – to establish connection with the eternal great beyond and with mythical prehistory, one and the same time. To conclude, Ferenczi’s introjection- and projection-machines, despite being allocated to phases of individual development, substantiate a history of machines that is characterized by breakdowns, removals and failures when operating successfully. In this fashion, not only do they integrate and orient the subject in his outer milieu, but produce regressions to access processes that shaped the development of the species, thereupon connecting the individual to catastrophes as events of inscription on the organs of the body. These prostheses however, do not simply mediate something uncommunicable like dark media, but via the possibility of being removed, they restore a supposed original fetal state for neurotics and psychotics in an environment that is, in the end, constructed by them. Carrying out an act of unification, folding together befores and afters, Ferenczi’s machinery is a means of accessing the “proto-psychical.”175 It all comes down to Ferenczi’s theorem of unification linked to the handling of waste-products and to the processes of discharge, disrupting both the atemporal symbolic world of objects, and the presumed linearity of history, on the basis of obsolescence and disjunction: by Lamarck’s view of defective traits and desolated organs, Ferenczi’s model for describing the relations between the ego and its outer milieu via tools is ultimately transformed into an ecology suitable for human-machine interactions. And in that, the analyst acts not 173 Félix Guattari, Chaosmosis, p. 37. 174 Thomas Lamarre, Humans and Machines, in: Inflexions 5 (2012), pp. 29–67, here p. 44. 175 Ferenczi, Hysterie und Pathoneurosen, p. 24.
Freud, Ferenczi, and the Idea of Machinic Temporality |
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as a janitor but as an engineer, calibrating components in the patient’s projectionand introjection-machines in order to achieve the machinic hypostasis of unconscious temporal processes.
Tamás Lénárt
Die Transparenz der Bilder Über Béla Balázs Das aktuelle Interesse am Werk von Béla Balázs1 hat seinen Ursprung in einer auch als visual culture bezeichneten Betrachtungsweise, die sich auf die „neue Macht der Bilder“, auf die Rolle und Bedeutung der Visualität und der technischen Bildproduktion konzentriert, wobei sie diese vornehmlich als Konkurrenzphänomen betrachtet und davon ausgeht, dass die neuen Möglichkeiten und Funktionen der Bildmedien die Positionen, Praxen und Institutionen der Schriftkultur beeinflussen. Im Fokus dieses Interesses stehen wenige Seiten aus Balázs’ Lebenswerk, die Einleitung zum Buch Der sichtbare Mensch (1924), die dank der vor der Massenverbreitung stehenden Filmkunst eine neue, vielsprechende Ära der Sichtbarkeit, der visuellen Welterfassung prophezeit, die die von Begriffen belastete Welt ablösen soll. Diese Gegenüberstellung findet sich nirgendwo in dem sonst voluminösen Oeuvre mit ähnlicher Vehemenz wieder, bereits einige Ausführungen aus Der sichtbare Mensch könnten als Entschärfungen jener krass formulierten Medienkonkurrenz gelesen werden. Als Ziel des folgenden Essays wird angestrebt, einen theoretisch orientierten Überblick über Balázs’ Lebenswerk zu geben, ohne den obigen, kulturwissenschaftlich relevanten Fokus der Untersuchung aus dem Blickfeld zu verlieren. Die Ergebnisse der internationalen Filmästhetik, die Balázs’ Werk als einen Klassiker der frühen Filmtheorie würdigen, oder der ungarischen Geistesgeschichte, die vordergründig die Zusammenarbeit, die gegenseitige Wirkung, die „Waffenbruderschaft“ zwischen Balázs und György Lukács vor Augen hat, werden demgemäß nur dann zurate gezogen, wenn diese Ergebnisse die für die neuere visual culture relevanten Thesen erklären oder zumindest mit ihnen in Verbindung gebracht werden können. Die Frage der Kontingenz wird im Zusammenhang mit dem theoretischen, essayistischen Werk von Béla Balázs selten gestellt, wohl aus dem Grund, dass es um ein in mindestens drei Sprachen (Ungarisch, Deutsch, Russisch) verfasstes, teilweise verschollenes oder zumindest schwer zugängliches und sehr divergentes Kor1 Dieses Interesse belegen etwa Neuveröffentlichungen wie z. B. Béla Balázs, A látható ember. A film szelleme, Budapest 2005; Béla Balázs, Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a. M. 2001; Béla Balázs, Early Film Theory. Visible Man and The Spirit of Film. New York/Oxford 2011; Béla Balázs, L’homme visible et l’esprit du cinéma, Belval 2010.
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pus geht. Auch neuere Monografien, die sich bereits für die Gesamtheit der Schriften von Balázs interessieren, d. h. neben den Ideen des Filmtheoretikers auch die des engagierten Dichters, Dramatikers, Essayisten und Prosaautors behandeln, klammern diese Frage dadurch aus, dass sie die Schaffensphasen des Autors einzeln beschreiben2 oder aber das theoretische Oeuvre als eine monolithische Einheit betrachten.3 Der junge Balázs, der beinahe unstillbare schriftstellerische Ambitionen hegt, probiert sich in verschiedenen Gattungen aus; er schreibt Gedichte, dank Hebbels prägendem Einfluss konzentriert er sich sehr früh auf Dramen, später entdeckt er die Märchen bzw. mystisch-symbolischen Erzählungen für sich und verfasst bereits im deutschen Exil ein als Entwicklungsroman gedachtes, doch als Schlüsselroman charakterisierbares Werk mit dem Titel Unmögliche Menschen. Dieses beträchtliche, im Großen und Ganzen jedoch erfolglos gebliebene schriftstellerische Oeuvre flankieren kunsttheoretische Essays, Traktate und Überlegungen in diversen Formen; der Ästhetiker scheint manchmal, wenn auch nur für kürzere Perioden, den Schriftsteller in den Hintergrund zu drängen. Literarische Tätigkeit wird also permanent ästhetischen Reflexionen unterzogen; außerdem schreibt Balázs ein – posthum veröffentlichtes – Tagebuch, das als zweite Reflexionsebene fungiert, wo das Privatleben (zahlreiche Geliebte und bedeutende Freunde) und die Auseinandersetzung mit den Fragen der Ästhetik noch enger miteinander verwoben dargelegt werden. Dieses ziemlich egozentrische Textuniversum wird durch die Beschäftigung mit der Filmkunst ergänzt: Im Wiener Exil fängt er an, Filmkritiken zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt sichern zu können. Trotz seiner bekannten Thesen im Kinobuch Der sichtbare Mensch sieht er im Film bloß eine interessante Möglichkeit, die sich mit (seinen eigenen) „großen“ Werken der Literatur kaum vergleichen lässt: In seinem Tagebuch finden sich abwertende Bemerkungen gegenüber der Kinoproduktion noch aus der Berliner Zeit, wo er bereits hauptsächlich für die Filmbranche und mit ihr zusammen arbeitet.4 Die Form- und Gattungsvielfalt des Lebenswerkes wirft nicht nur Fragen nach der Periodisierbarkeit oder nach der geistlichen Entwicklung in den wechselhaften Kontexten eines bewegten Lebens auf, sondern spiegelt sich in gewisser Hinsicht in den Überlegungen zur Ästhetik selbst. Balázs’ Ästhetik beruht nämlich auf einer grundlegenden, mit unterschiedlichen Begriffspaaren charakterisier2 Vgl. Hanno Loewy, Béla Balázs. Märchen, Ritual, Film, Berlin 2003. 3 Vgl. Matthias Hein, Zu einer Theorie des Erlebens bei Béla Balázs, Würzburg 2011. 4 S. z. B.: „Dies [weitere Drehbuch-Aufträge von Hauptmann Lövenstein] und viele andere Möglichkeiten, die sonst nur vorbeihuschen, mit dem Kino gutes Geld zu verdienen, dank meines Nebentalentes, das wenig von mir aufbraucht und wenig Zeit kostet.“ Vgl. Béla Balázs, Napló 1914–1922 [Tagebuch 1914–1922], Budapest 1982, S. 503. Die unmarkierten Zitate aus ungarischen Quellen sind Übersetzungen des Verfassers.
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baren Differenz: Transzendenz (Substanz) vs. physische Umwelt; Seele vs. Körper; Inhalt vs. Form oder Tiefe vs. Oberfläche. Diese metaphysische Grundstruktur ist prägend und allgegenwärtig in Balázs’ Schriften zur Ästhetik und Literatur und bietet einen theoretischen Hintergrund zur permanenten Formsuche des Autors, denn das Kunstwerk als Vermittler zwischen diesen beiden Sphären sucht immer neue Formen zum auszudrückenden Inhalt, und der Künstler ist dementsprechend stets auf der Jagd nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. So ist es etwa das Vorhaben des jungen Balázs, zusammen mit György Lukács und anderen Mitgliedern des späteren „Sonntagkreises“ zu verstehen, ihre Gedanken und theoretischen Überlegungen in unterschiedlichsten Formen (von philosophischen Dialogen bis zu öffentlichen Vorträgen an der privat gegründeten Akademie) zu präsentieren. Selbstverständlich gilt diese metaphysische Grundhaltung nicht als Rarität im engeren und breiteren intellektuellen Umkreis von Balázs; sie verbindet seine Ansichten mit den wichtigsten Strömungen und Tendenzen der Spätromantik und der Modernität (die Forschung weist neben der evidenten Wirkung des engen Freundes György Lukács auf biografisch belegbare Impulse von Georg Simmel und Henri Bergson sowie auf die Nähe der klassischen Phänomenologie hin) und bildet ein flexibles gedankliches Hinterland, das immer neu formuliert, mit neuen Inhalten und Begriffen aufgefüllt werden kann. An dieser Stelle seien nur einige Aspekte zur näheren Bestimmung aufgeführt, die aus der Perspektive der späteren Ansichten zur „visuellen Kultur“ relevant erscheinen mögen. Zum einen bildet den Kern von Balázs’ Metaphysik weder der transzendentale Inhalt noch die bloße Oberfläche, sondern die Differenz der beiden. Die Existenz der metaphysischen Inhalte wird zwar nie in Frage gestellt, ohne sie sind die Formen, der Körper, die physische Welt substanz-, inhalts- und sinnlos, leer. Diese Inhalte sind jedoch nie vorhanden, nie greifbar. Dies führt allerdings nicht etwa zu einer Philosophie der Verborgenheit des Seins, sondern zu einer permanenten Formsuche und zu einem nie zu stillenden Drang zum Ausdruck, der sich als einen Grenzübergang, einen Übergang zwischen den zwei Sphären konstituiert. Der Ort, wo dieser Grenzübergang stattfindet, ist das Kunstwerk, das somit einen metaphysischen Rahmen um das irdische Leben zieht. Dieses Konzept bildet bereits den Kerngedanken des Frühwerks Todesästhetik (1907), in dem der metaphysische (d. h. mit dem biologischen Vergehen wenig zu tun habende) Begriff des „Todes“ eben dieses Grenzgebiet des Kunstwerkes zu beschreiben versucht. Nach der Veröffentlichung der ursprünglich in deutscher Sprache, für das Privatseminar zur Kunstphilosophie von Georg Simmel geschriebenen Todesästhetik in Ungarn reagiert die Kritik zurückhaltend: Mihály Babits lobt die revoltierende Kraft und die gedankliche Tiefe des Essays, distanziert identifiziert er jedoch den Autor als
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„einen Schüler Schopenhauers“5 – das Urteil ist bestimmt nicht unrecht, bemerkenswert jedoch, dass gerade Georg Simmel in einem Artikel von 1906 – aus der Zeit also, wo sein Berliner Privatseminar von Béla Balázs und seinem späteren Freund György Lukács besucht wurde – den Unterschied zwischen der „modernen“ Ästhetik und Schopenhauers Position erklärt: „Was die Kunst leistet, ist konsequenterweise dies, daß sie die Idee an einer Materialität, in einer Sondergestalt ausdrückt, die ihr noch einen gewissen Widerstand entgegensetzen, an denen das, was nicht Idee ist, nicht ganz verschwunden ist“, betont Simmel im Gegensatz zu Schopenhauer, der die Kunst zum „bloßen Vortragsmittel der Idee“ degradiere.6 Die Nähe zwischen Simmels Interesse an der „materiellen“ Komponente und Balázs’ Kunstauffassung fällt zwar auf, die Wirkung Simmels auf den jungen Balázs ist aber sicherlich nicht eindimensional. Simmels ästhetische Auffassung sucht nämlich die Besonderheit der Kunst (im Vergleich zur „Idee“ oder anderen Phänomenen der Welt), und es ist eben diese Autonomie, die seine Aufmerksamkeit auf die „Materialität“, genauer auf die Wechselbeziehung zwischen der materiellen bzw. der inhaltlichen Seite lenkt. Dieses Interesse führt Simmel zu konkreten Übergangs- und Grenzphänomenen wie Bildrahmen, Brücke und Tür7 und somit zu einer neuen, phänomenologisch orientierten, sich der „Oberfläche“ zuwendenden Sprechweise über Kunstwerk bzw. -erlebnis. Balázs bestreitet die Differenz zwischen Leben und Kunst, sein Interesse gilt dementsprechend ausschließlich der „anderen“, der metaphysischen Seite. Kunstwerke sind da, um dieser Transzendenz eine Form zu geben, d. h. den Übergang zu metaphysischen Inhalten zu erleichtern. Demgemäß ist Transparenz ihre wesentlichste Eigenschaft, so wie etwa das Kunstmärchen als vielleicht die wichtigste, produktivste und erfolgreichste Gattung des Schriftstellers Balázs eine Tür zum Symbolhaften, zum Unendliche öffnen soll.8 Trotz „moderner“ Akzentuierung und einer Tendenz zur Profanisierung bleibt also Balázs doch einigermaßen im romantischen Kunstparadigma, in der romantischen ästhetischen Sprechweise haften. Diese grundlegenden Prinzipien hallen auch in späteren ästhetischen Arbeiten und Konfrontationen nach: als 5 Mihály Babits, Halálesztétika. Balázs Béla könyve [Todesästhetik. Béla Balázs’ Buch], in: Nyugat 1 (1908), S. 445–446, hier S. 445. 6 Georg Simmel, Schopenhauers Aesthetik und die moderne Kunstauffassung, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908/II, Frankfurt a. M. 1993, S. 87–108, hier S. 98 [= Gesamtausgabe, Bd. 8]. 7 Georg Simmel, Der Bildrahmen – Ein ästhetischer Versuch, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908/I. Frankfurt a. M. 1995, S. 101–109 [= Gesamtausgabe, Bd. 7]; Brücke und Tür, in: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918/I, Frankfurt a. M. 2001, S. 55–62 [= Gesamtausgabe, Bd. 12]. 8 Balázs, Napló, S. 308: „Meine Märchen haben eine Form. Sie haben doch eine Unendlichkeit inne. Nicht des Weges, sondern des Brunnens Unendlichkeit, dessen Laibung eine Form hat.“
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Mihály Babits, bereits als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der literarischen Moderne in Ungarn, auf die mangelhafte Erarbeitung der (sprachlichen) Oberflächenstrukturen, auf die Dominanz der Tiefe, der abstrakten, lyrischen Inhalte in den Dramen von Balázs hinweist, wird seine Kritik vom Autor vehement mit dem Argument abgelehnt, seine Dramen seien tief, aber nicht abstrakt9 – ein Argument, das eben die Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe nicht zu verabschieden oder überwinden, sondern aufzuheben, im transparenten Medium der Kunst aufzulösen glaubt. Ähnlich argumentiert Balázs in seinem vielleicht profundesten Essay Über die lyrische Sensibilität (1917), einer universellen Geschichte der Lyrik, die in eine kritische Beurteilung der aktuellen, d. h. avantgardistischen Tendenzen mündet. Das historisierende Essay, das, von einer modernen Erfahrung der Verfremdung ausgehend, für sich die Wiederherstellung der Harmonie zwischen Subjektivität und Natur im Medium der Lyrik in Anspruch nimmt, sieht in den Werken der Avantgarde bloß „eine leere geometrische Figur“, die des „Ausdrucks“, d. h. der (metaphysisch aufgeladenen) Bedeutung beraubt wurde – nicht zufällig bedient sich Balázs’ Erläuterung an dieser Stelle der rhetorischen Figur der Prosopopeia (der Ausdruck wird von den Dingen abgenommen, wie eine Maske vom Gesicht) und legt damit die romantischen Wurzeln seiner Lyriktheorie frei.10 Die Abhandlung, deren Ausgangspunkt (die verfremdete Subjektivität), historisierendes Konzept sowie Vokabular („seelische Inhalte“ und Kunst als „Form“) bereits stark unter der Wirkung des Freundes György Lukács stehen,11 ist also als eine Konservierung der grundlegenden Differenz, der Untrennbarkeit der beiden Pole zu lesen; in diesem Sinne kann Balázs die Kunst als die „Materialisation der Seele“ definieren.12 Die Fortsetzung des Essays mit dem Titel Das Gleichnis unternimmt demgemäß eine Analyse der Sprache als Ausdrucksmittel, versucht also die „materiellen“ Komponenten der Sprache (die wichtigsten Problempunkte sind Benennung, Lapsus, Akustik und Metapher) von einer metaphysischen Grundlage her auszulegen. Bei diesem Beharren auf der metaphysischen Grundstruktur 9 Mihály Babits, Dráma, in: ders., Esszék, tanulmányok I [Essays, Aufsätze], Budapest 1978, S. 344–348, hier S. 347. Die Antwort auf Babits’ Kritik wird vom „Waffenbruder“ György Lukács verfasst. Balázs’ Meinung ist seinem Brief an Lukács zu entnehmen, vgl. Júlia Lenkei (Hg.), Balázs Béla levelei Lukács Györgyhöz. Egy szövetség dokumentumai [Béla Balázs’ Briefe an György Lukács. Dokumente eines Bündnisses]. Budapest 1982, S. 105. 10 Béla Balázs, A lírai érzékenységről [Über die lyrische Sensibilität], in: ders., Válogatott cikkek és tanulmányok [Ausgewählte Artikel und Aufsätze], Budapest 1968, S. 123–170, hier S. 151. S. dazu Amália Kerekes, Béla Balázs’ Entwurf einer universalen Lyrikgeschichte, in: Estetika 48 (2011), 81–86. 11 Das Essay ist die schriftlich bearbeitete Version des Vortrages, den Balázs an der mit Lukács und den Mitgliedern des „Sonntagkreises“ gemeinsam betriebenen „Freien Akademie der Geisteswissenschaften“ gehalten hat. 12 Balázs, A lírai érzékenységről, S. 153.
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ist jedoch eine Akzentverschiebung kaum zu übersehen: Die „Materialität“ gerät immer mehr in den Vordergrund, sie bzw. ihre Integration in die metaphysisch fundierte Ästhetik bildet sozusagen das einzige Thema des lyriktheoretischen Essays Das Gleichnis; parallel zu einer intensivierenden Beschäftigung mit den Fragen der Sinneswahrnehmung lokalisiert Balázs den „Inhalt“, den metaphysischen Kern des Kunstwerks, immer näher an den materiellen Komponenten; statt eines Jenseits der materiellen Welt, einer mythologisch-symbolischen Ferne, ist hier das „Seele bedeutende“ Potenzial der Wörter in ihrem „materiellen Dunstkreis“ zu finden.13 Ästhetische Theoriebildung oder Kunst im Allgemeinen bedeutet unter diesen Umständen nicht mehr als eine Kenntnisnahme, ein Bewusstmachen des Nicht-Materiellen, d. h. eine Aufrechterhaltung der metaphysischen Differenz, wie der im Tagebuch notierte Chiasmus resümiert: „Mit der Materialisierung des Geistes geht eine Spiritualisierung der Materie einher“.14 Zum anderen wird Balázs’ kunsttheoretisches Frühwerk von einer heterogenen, doch prägenden visuellen Metaphorik durchzogen. Der häufige Rekurs auf Begriffe wie „Sehen/Sicht“ und „Bild“ hat weder mit Sinnesorganen bzw. -wahrnehmung noch mit Optotechnik zu tun; es geht vielmehr um eine beträchtliche Tradition der abendländischen Philosophie, das Sehvermögen mit der Wahrnehmung, Sicht mit Einsicht zu vertauschen,15 d. h. die Erfassung der Welt mit optischer Metaphorik zu beschreiben. Diese Tendenz bei Balázs ist wohl auch als ein Erbe Schopenhauers einzuschätzen: Dieses „Sehen“ zeigt das wahre Gesicht der Welt, gewährt einen Einblick in das Wesen der Phänomene, verspricht also einen unmittelbareren Zugriff auf die Welt als etwa die system- und begriffszentrierten Ausführungen des deutschen Idealismus. In den ästhetischen Überlegungen Balázs’, wo diese optische Metaphorik nach der Todesästhetik – in der die Phänomene der Welt als „transparente Bilder“ definiert werden16 – immer seltener, doch kontinuierlich, vornehmlich in den Tagebüchern eingesetzt wird,17 findet sich auch der Konkurrenzgedanke insofern, als die Sprache – parallel zum Lob des adäquaten 13 Ebd., S. 155. 14 Balázs, Napló, S. 278. 15 Eine knappe, aber sehr gut dokumentierte Zusammenfassung über den „Okulozentrismus und seine Kritik“ in der westlichen Philosophie: Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethischästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a. M. 2008, S. 29–62. Weiterführend s. Hans Blumenbergs klassischen Beitrag: Hans Blumenberg, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1957), in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt a. M. 2001, S. 139–171. 16 Balázs Béla, Halálesztétika, Budapest 1998, S. 16. 17 Balázs, Napló, S. 13, 166, 204, 503 usw.: „Ist es möglich, dass von all unseren Sinnen nur das Sehen adäquat mit dieser Welt ist?“; „Ich möchte mich daran gewöhnen, jeden Abend aufzuschreiben, was ich sehe. Die Bilder, die von meinen Augen aufgefangen werden. Die
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Weltzugriffs durch das Sehen – als ein Mittel zum Zweck, ein schwer handhabbares Vehikel, sogar als Störfaktor, als eine irritierende Nebensächlichkeit behandelt wird.18 Den Anspruch auf eine in der ästhetischen Metaphysik implizierte Transparenz des Mediums scheint also eher das Sehen, die von den „inneren Augen“ erblickten Bilder als eine opake, stets aus der Kontrolle geratene Sprache zu erfüllen. Balázs veröffentlicht 1924 eine Filmtheorie – oder eher eine Sammlung von Aufsätzen und Filmkritiken – mit dem Titel Der sichtbare Mensch, die vehement für die Autonomie der Filmkunst plädiert, indem sie einige Aspekte zu einer Grammatik der neuen Filmsprache ausarbeitet und diese mit anderen Kunstformen und künstlerischen Tätigkeiten (Literatur, Theater, Tanz) konfrontiert. Die „Medienkonkurrenz“ ist also eher ein Konkurrenzverhältnis unterschiedlicher künstlerischer Formen; eine notwendige Bedingung für die Formulierung des Autonomieanspruchs, der auf einer gemeinsamen ästhetischen Plattform artikuliert wird. Mit anderen Worten, Balázs’ Autonomie der Filmkunst heißt nicht nur eine Aufwertung einer bis dahin eher marginalisierten visuellen Technik, sondern, dass diese Technik ausschließlich innerhalb des ästhetisches Feldes diskutiert werden kann. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die nicht immer geradlinige Argumentation in Der sichtbare Mensch. Balázs legt dabei besonderen Wert auf die neue Sichtbarkeit des Menschen und seines Körpers, auf die Bedeutung der Gestik und vor allem der Mimik („Mienen und Gebärden“19) als Grundmorpheme der neuen „internationalen Sprache“20 des Films. Diese Akzente verorten Balázs’ erstes Filmbuch in einer Geschichte der Filmtheorien auf der Schwelle zwischen „Schauspieler-“ und „Montage-Theorien“, denn die Analytik der filmischen Mittel kündigt die Morphologie an, die das zweite Buch Der Geist des Films kennzeichnet, als das ästhetische Zentrum des Kinos wird jedoch das in Großaufnahme gezeigte Gesicht angegeben.21 Diese Repositionierung des Körpers im Medium des Sehens macht
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sichtbare Welt.“; „Ich erschließe die Gedanken nicht, ich sehe sie“; „Wunderbar, wie ich einfältig erzählen und in Bildern sehen kann“. Balázs Béla, Napló 1903–1914 [Tagebuch], Budapest 1982, S. 51, 414: „Meine Sprache ist nicht reich, nicht flexibel genug. Das Schreiben verursacht mir Mühe.“; „Weg vom Wort!“, s. noch ebd., S. 185, 188, 234, 392, 548. Der Kontext dieser Stellen ist selbstverständlich weniger philosophischer als persönlicher-psychologischer Natur; der bilinguale Balázs als ambitionierter Dichter war stets um die Plastizität, um die Ausdrucksfähigkeit seiner Sprache besorgt – eine Sorge, die die kritische Rezeption seiner schriftstellerischen Versuche immer wieder bekräftigt hat. Béla Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 22. Ebd. S. Helmut H. Diederichs (Hg.), Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim, Frankfurt a. M. 2004, besonders die Einleitung des Herausgebers
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andererseits Balázs’ Gedanken aus der Perspektive der visual culture relevant, denn der visuelle Zugriff auf die Welt wird antizipiert. Hebt man jedoch die bereits behandelten – immerhin augenfälligen – Aspekte des ästhetischen Denkens des jungen Béla Balázs hervor, wird das theoretische Fundament sichtbar, das auch die Perspektive und das Interesse des Filmkritikers und Drehbuchautors bestimmte, zu dem der in existenzielle Not geratene Emigrant Balázs in Wien wurde. Die Einleitung des Bandes Der sichtbare Mensch, der seine ersten Versuche auf diesem Gebiet zusammenfasst, artikuliert und konkretisiert nämlich im Namen des neuen technischen Mediums Film eben die genannten, bereits vorliegenden Problemfelder aus dem Bereich der traditionellen Ästhetik. Die neue „Sichtbarkeit“, die der Film gewähren soll, bedeutet in diesem Sinne einen unmittelbareren Zugriff auf die menschliche Substanz, auf den „Geist“ des Menschen, ein grundsätzlich metaphysisches Erlebnis also, das dem verwickelten, mit intransparenten Begriffen belasteten sprachlichen Zugang gegenübergestellt wird. Für Balázs spielen dabei die Fragen der Neustrukturierung der optischen Wahrnehmung (etwa das im Bezug der frühen Filmgeschichte oft angesprochene Thema der „Schockerlebnisse“ im Kino), die technisch-materielle Beschaffenheit des Films bzw. der von der analogen Technik bestimmte neue Realitätsbezug des Kinos nur insofern eine Rolle, dass diese Aspekte nur von der „wahren“ Bedeutung der Filmkunst abzulenken drohen. Die in der Einleitung vorgeführte Medienkonkurrenz zwischen Buch- und Filmkultur wird im Späteren abgemildert (das Kino wird als Sprache bzw. Sprachvariante charakterisiert und als solches mit Werken der Schriftkultur verglichen, siehe zum Beispiel das kurze Kapitel „Film und Literatur“22) bzw. an neue Fronten verschoben: Balázs verwendet oft den Ausdruck „fotografiertes Theater“ als Synonym für schlechtes Kino – eine Formulierung, die öfters als Stellungnahme für die Autonomie der Filmkunst ausgelegt wird –, schafft jedoch damit ein doppeltes Konkurrenzverhältnis, in dem der Film seinen ästhetischen Wert in Abgrenzung zum „Realismus“ der Fotografie und zur „Materialität“ oder „Körperlichkeit“ des Theaters zu erringen scheint. Die Schlüsselbegriffe der einleitenden Worte von Balázs sind nämlich die Unmittelbarkeit des Sehens und der Körper als „Ausdrucksorgan“.23 Diese Formulierungen geben deutlich an, was die „neue Sichtbarkeit des Menschen“ durch das neue Medium Film in theoretischer Hinsicht leistet: Letztendlich geht es um nichts anderes als um eine Zuspitzung des vorhandenen ästhetischen Konzepts, denn die Differenz zwischen Inhalt und Form, Tiefe und Oberfläche, die durch den „Aus(S. 9–27) sowie sein Nachwort zur zitierten deutschsprachigen Balázs-Ausgabe (Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 115–148). 22 Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 22, 26. 23 Ebd., S. 19.
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druck“ zugänglich gemacht werden kann, wird so beibehalten, dass sie in „unmittelbare“ Nähe geraten, beinahe austauschbar werden. Balázs’ Folgerungen sind öfters Bemühungen, die diesen paradoxalen Sachverhalt zu fixieren versuchen: Film sei „nicht Form und Ausdruck“, sondern „einziger Inhalt“24 oder „eine Flächenkunst“, für die gilt: „was innen ist, ist außen“.25 Die „Unmittelbarkeit“ des Films ist demnach seine Fähigkeit, die ursprüngliche Differenz zu überwinden, die vollkommene Transparenz des Mediums und somit die Ununterscheidbarkeit, die Austauschbarkeit der beiden Seiten der Differenz, des Inhalts und der Form, der Substanz und der Materie ermöglichen zu können. Eine Fähigkeit, die sich allerdings weniger aus den technischen Eigenschaften des Films als aus der bereits vorliegenden, selbstauflösenden Logik des ästhetischen Konzepts ableiten lässt. Diese Logik, die sich früher u. a. in den Überlegungen zu Kunstmärchen oder in der Lyriktheorie Das Gleichnis (Märchen und das Gleichnis, die eine unmittelbare Erfahrung des Inhalts ermöglichten) zeigte, zeichnet die Grenzen einer Begrifflichkeit, einer theoretischen Sprechweise auf, die zwar in der ursprünglichen Unterscheidung zwischen Inhalt und Form, signifiant und signifié, begründet ist, aber eine permanente Überwindung, eine endgültige Auflösung dieser konstituierenden Differenz begehrt. In diesem Sinne ist Balázs weniger ein Vorbote einer neuen visuellen Kultur, vielmehr schreibt seine Filmtheorie das neue technische Medium Kinofilm in die Tradition einer Schriftkultur ein. „[Balázs erneuert] in seiner Schrift die Renaissance-Utopie einer transparenten und unmittelbaren Ursprache der Menschheit, als die auch die Hieroglyphen einst gegolten haben“,26 meint Aleida Assmann; Balázs schreibt damit eine Tradition fort, die die Welt nicht in ihrer Unmittelbarkeit erfahren, sondern „auf eine unmittelbare Art und Weise codieren“27 will. Balázs’ Definition, der Film sei „eine unmittelbare Körperwerdung des Geistes“,28 liest sich also in dieser Hinsicht als eine mit Begriffen der romantischen Ästhetik geäußerte Rekapitulation dessen, was Friedrich Kittler das „moderne Rätsel“29 genannt hat, des – von den Nachrichtentechniken um die Jahrhundertwende scheinbar in Erfüllung gehenden – Wunsches nach einer unmittelbaren, immateriellen Kommunikation. 24 Ebd., S. 25. 25 Ebd., S. 27. 26 Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015, S. 177. Assmann scheint zu bedauern, dass Balázs, trotz konzeptueller Relevanz, „in diesem Zusammenhang nicht von Hieroglyphen spricht“. Hieroglyphen, zumindest als Metapher, werden jedoch an einer nicht unbedeutenden Stelle des Frühwerks Todesästhetik erwähnt, s. Balázs, Halálesztétika, S. 16: „ein Gefühl, dass die Bilderreihen der Lebensphänomene, Reihen von unlösbaren Hieroglyphen, die etwas ausdrücken […]“. 27 Assmann, Im Dickicht, S. 179. 28 Balázs, Der sichtbare Mensch, S. 21. 29 Friedrich A. Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 161.
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Dieser vorwiegend auf der Ebene des ästhetischen Vokabulars austastbare theoretische Kern bzw. dieses Grundverhältnis von Balázs’ filmästhetischen Orientierungen, der auch in den späteren filmtheoretischen Werken, in Der Geist des Films (1930) sowie in Der Film (1949), trotz der filmtechnischen Veränderungen (Tonund Farbfilm), der industriellen und kulturellen Verbreitung und der Entfaltung des theoretisch-kritischen Diskurses um den Film im Wesentlichen unberührt bleibt, integriert also die neue Medientechnik in einen ästhetisch-philosophischen Diskurs, der sich als Mutation des romantischen Kunstparadigmas bestimmen lässt. Dabei vollzieht sich allerdings eine Verschiebung nicht struktureller, vielmehr kontextuell-diskursiver Art: Die metaphysisch aufgeladenen Grundbegriffe, die einst ein anthropozentrisches, ästhetisches Weltbild definierten, werden notwendigerbzw. konsequenterweise zu Bausteinen einer Medientheorie. Balázs’ Anspruch, die neue Sichtbarkeit des Menschen, das durch die Großaufnahmen erfasste menschliche Gesicht, in den Mittelpunkt seiner Filmtheorie zu setzen, ist demnach genauso als Rettung der kartesianisch definierten Anthropologie auf die neuen Gebiete der Kunstproduktion wie als ungewolltes Bekenntnis der nunmehr ausschließlich und unausweichlich medialen, medientechnischen Zugänglichkeit der menschlichen Substanz aufzufassen.
Izabella Füzi
Face or Ornament of the Masses? Balázs with Kracauer To Jonathan Auerbach
Exposition In the last years, recurring mass demonstrations have occupied the streets of the capitals all over the world.1 Political commentators have been taken by surprise: on the one hand, these movements took place at a time when public opinion seemed to be dominated by inertia and a general disinterest in (not to say disgust with) politics, and, on the other, the movements were not organized by political parties but by communities created on the sites of new media. These phenomena also contravene the diagnosis set up by many political theorists concerning the disappearance of physical crowds. For example, Peter Sloterdijk2 announces the demise of the masses, at least in the form of a legitimate subjectivity envisioned by modern democracy. According to Sloterdijk, Western modernity should face the fact that the project of transforming the crowds into a political subject has failed. Nothing could be more symptomatic of this failure than the lack of people’s need to assemble, and to represent themselves. The common motif of the current wave of protests, however, consists precisely in a crisis of political representation, and a demand for the actual political agency of the masses. Public and political discussions following the recurring protests in Budapest3 have concentrated on the power of immediate actions taking people out to the streets in what seemed a general mobilization. Yet, some of the commentators 1 In 2011: the Occupy-movement, the Egyptian revolution, the anti-austerity movement in Spain, in 2014: Hong Kong protests, recurring demonstrations in Budapest, etc. 2 Peter Sloterdijk, Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. 3 To name just a few of the most mass-mediated events: October 26: Demonstration against the internet tax, organized by the “Tens of Thousands against Internet Tax” Facebook group, November 9: Demonstration against corruption, November 17: The Day of public indignation, organized by the FB-community “We won’t keep silent“, December 3: Protest against the all-pervasive corruption and lawlessness, organized by the “Millions against Internet Tax and
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doubted the success of these protests as real means of political intervention since they were not represented by leaders or political parties that could totalize and express their goals, while the protesters themselves equally expressed their political independency. Others, however, welcomed the mass demonstrations as events heralding a new grassroots bottom-up political culture, often revolving around single issues, and represented by groups involved in horizontal relations, rather than dominated by a top-down vertical hierarchy. It seems that discussions about and practices of the political agency of the masses are torn between two positions, both felt unviable: one is the paralysis caused by the crisis of political representation, and the other is the totalization and appropriation which is supposed to “channel” the energies of the masses, by speaking in their name. Questions concerning the modes and forms of representation in general and political representation in particular bring us back to founding notions of modernity, the historical concept of the masses, and to the possibilities and limits of their agency. Mass movements of today conceive of themselves as representing civil society, and as posing a singularly real challenge to political power. Similarly, mass movements at the turn of 19-20th century made claims at representing a greater will, that of the masses, this emergent social formation vindicating political agency. The emergence of the mass as a political actor can be attributed to multiple factors, including the claim to extend the principle of popular sovereignty to the lower classes, capitalist industrialization and urbanization, the self-organization of the workers; all these played a crucial role in shaping the idea of modern democracy. On the other hand the masses also appear as the product of these processes, especially of mass mediatization and mass culture, the masses form a rather homogenized “public” of media society. My aim is to examine the relation between the two senses of the mass (as a political actor and as the object of power relations) and to recuperate the active sense of the word. My questions refer to the nature and type of subjectivity the masses represent, and more precisely to the representational acts that invested them with agency; the ways in which verbal and visual representation (i.e. linguistic and visual structures) contribute to conferring them subjectivity. Why is it felt that the term “masses” has lost its legitimacy, its politically active sense in favor of rival categories (nation, people [Volk], civil society, public, audience, etc.)? Both on the level of the critical discourses and social practices it seems that the time has come to re-imagine the forms and possibilities of collective action and representations. I shall argue that in this process forms and representations of mass media play a significant role: they create their own public, and shape the consciousness of belonging to a collectivity. Lawlessness” FB-group, December 16: We have nowhere to back off!, organized by “One Million People against Internet Tax” and “Free Education” FB-communities.
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The choice of the term “masses” may seem somewhat arbitrary, compared to “popular culture”, for example. I would suggest that the term “popular” as used in the phrase “popular culture” does not relate to a historically determined political entity, the way the term “masses” does; consequently, “popular” deprives its subject of agency and preserves only its passive sense. “Masses” keeps its political origin, but it has also been overdetermined with conflicting meanings from the 19th century on. On a conceptual level these differences can be traced along the following divisions: – a physical presence characterized by volume, density, numerosity, and physical actions as a temporary condition of the people gathered vs. a transcendental entity imperceptible in the physical world; – the imaginary frame of individual identity (“we”) vs. a pejorative form of calling others (“The masses are always the others, whom we don’t know, and can’t know”4) – an ahistorical term understood as an anthropological behavior motivated psychologically (for example the mass psychology formulated by Gustave Le Bon, or the need for protection of the individual from fear of death, fear of touching, as elaborated by Elias Canetti in Crowds and Power) vs. the masses as a new type of collective subjectivity invested with political agency emerging at the end of 19th century and represented by mass movements; – the social class of working people vs. a homogenized audience or public, a globalized transnational product of an economic system and the globalized mass-media. The persistence of these conflicting meanings can be somewhat “flattened out” by looking at the etymology of the word in English (and presumably in other indo-European languages). It is marked by two phases or transfers: 1. from ‘a physical quality of the matter (consistence, density, weight or size) without a definite shape’ (from the Latin massa and French masse), to ‘a large quantity, amount, or number’, and 2. to the plural masses: the abstract concept of a (political) collective. According to the Online Etymology Dictionary, “Mass” entered Middle English in the late 14th century from the French masse, “lump, heap, pile; crowd, large amount; ingot, bar”, derived directly from Latin massa, “kneaded dough, lump, that which adheres together like dough”. This sense pertaining to a material quality is extended in the 1580s to the more abstract “a large quantity, amount, or number” (as a term in physics from 1704). During the French Revolution the word begins to signify a political collective, a new subjectivity, and around the turn of the 19-20th century, adjectival compounds emerge: mass murder (1880), mass movement (1897), mass 4 Raymond Williams [1958], Culture and Society 1780-1950, Penguin Books, 1971, 289.
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hysteria (1914), mass culture (1916), mass grave (1918), mass production (1920), mass media (1923).5 (A similar path is followed by the sense extensions of the word “crowd” from the old English crudan, ‘to press, crush’.6) By connecting the material quality of the ‘kneaded dough’ (denoting structure and texture: something sticking, adhering, or glued together) to an undetermined size or multitude (heap, pile, lump, etc.) through the figurative passages from concrete to abstract, and from abstract to the most abstract sense of agency or subjectivity, etymology unravels the imaginary of language in a double sense. It not only testifies to the figurative comprehension of material dispersion, but also shows the ‘muddiness’ of the idea (note the elusive and unusual plural involved in “masses“). The term “masses” can thus be considered as a master-trope displaying the ambivalence inherent in these linguistic movements, which break down ultimately to seizing a whole or creating a unity, also haunted by dispersion, and multitude. Obviously, these movements are not in the least innocent. Raymond Williams points out that although different social tendencies contributed to the emergence of the masses (the physical massing of people in cities [urbanization], the multiplication of factories [industrialization], and the social and political massing of the self-organizing working class), the term retained its derogatory label: “There are in fact no masses; there are only ways of seeing other people as masses.”7 Stefan Jonsson takes a similar approach when he emphasizes the malleability of the term as used in Weimar Germany in the 1920s, and asserts that “it is to be doubted whether the masses ever existed.”8 Instead, he argues, the “masses” functioned as a negative labeling of people deprived of political representation. This representational approach (according to which the “masses” are historical constructs fabricated by those in power in order to subject them), however, does not account for the actual physical force of the crowds (their destructiveness, for example), or the symbolic power of the masses, as manifested in general strikes.9 5 Online Etymology Dictionary. http://www.etymonline.com/. 6 Before the 19th century, there were numerous Hungarian words for denoting an unspecified amount or number or volume (garmada, csokor, had, raj: ‘multitude, bunch, pile, bundle, etc.’), but the current Hungarian equivalent of the “masses” is tömeg, a neologism coined presumably by the poet Mihály Vörösmarty in 1828 from the Finno-Ugric root word TÖM/TEM meaning ‘fill, stuff, full’. Gábor Zaicz (ed.), Etimológiai Szótár, Budapest 2006. 7 Raymond Williams [1958], Culture and Society 1780–1950, Harmondsworth 1971, p. 289. 8 Against the meaninglessness of the “mass” as a concept, Jonsson proceeds to show the often contradictory values of the “mass” as a “historical sign” in the different (sociological, novelistic, psychoanalytical) discourses of the era. Stefan Jonsson, Crowds and Democracy. The Idea and Image of the Masses from Revolution to Fascism, New York 2013, p. 9f. 9 This would reduce the action of the masses to an abrupt irruption of desires repressed by these acts of representation. If this is true for physical force, it does not hold for the “power” of the masses. Canetti offers an interesting perspective on the differentiation of force and
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At the same time, one cannot overlook the significance of the acts of representation and the moment of force and power proper to the constitution of the masses. The political function of the masses had long been determined by discursive practices based on oppositions such as individual/collective, minority/majority, educated/unlearned, reason/passion, paternal/feminine, organized/disordered, scattered, etc. The discursive space articulated by these oppositions had been shaped mainly by crowd psychology, which also formulated the argument that was probably responsible for the failure of the masses to become part of the modern social imaginary10. The most influential role in social psychology was played by Le Bon;11 he claims that crowds are temporary gatherings possessed by a “collective mind”, depriving individuals of their better judgment. Starting from a phenomenological account of crowd behavior, his universal and ahistorical descriptions served to theorize the agency and subjectivity of different mass formations. Le Bon’s terms “suggestion” and “contagion” often resurface in conceptualization of the masses as a homogenized faceless product, as well as in the oppositions often established between some regressive, primitive, normative majority and a progressive and creative minority. Although these accounts are ways of representation that serve to master and control fears and anxieties related to the restructuring of the social sphere, the concept of the “masses” cannot be reduced to the status of an object of representation. What I hope to show by invoking the spirit of two seminal thinkers of the masses, Béla Balázs and Siegfried Kracauer, is the intertwining of the political and the aesthetic representation of the masses as subjects, and their mediation through technical media. Despite the fact that public assemblies and gatherings are presumably the dominant images shaping the social imaginary and forms of sociality conceived as “the masses”, we cannot neglect the role of media in giving form to them, and articulating the social space. In Balázs’s and Kracauer’s time the constitution of the masses as subjects was still an open question and cinema contributed largely to give form to this entity by showing topical images of co-present crowds and give
power in terms of spatial and temporal relations. While force is “something close and immediate”, power is more elegant, “ceremonious” and “patient”, giving time and space to those subjected to it. Elias Canetti, Crowds and Power, transl. by Carol Stewart, London 1987, p. 328f. 10 The concept of the social imaginary has been theorized among others by Charles Taylor as a “common understanding which makes possible common practices, and a widely shared sense of legitimacy“. See Charles Taylor, Modern Social Imaginaries, Durham 2014, pp. 23–30. 11 Gustave Le Bon, The Crowd: A Study of the Popular Mind, New York 2002. Originally published in 1895 as La Psychologie des foules.
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form “metatopically”12 to a collective consciousness. According to Gertrud Koch, “The silent film of the 1910s and 1920s provides a visual dramatization of the mass as the constantly shifting, contingent border of the subject − a border that is established through the cross-cut from wide shots of the mass to close-ups of the face.”13 Balázs and Kracauer made similar claims on the role of cinema and the emergent mass culture in shaping the social category of the masses. Thus the enthusiasm for the possibilities of new media forms working out new modes of collective constructs and representation does not seem to be a novel idea. Film was considered by many contemporaries the first medium capable of representing the masses in many ways: giving a visual and aural representation of the mass experience, speaking for them and to them. Similarly, mass demonstrations organized through social media can also create a sense of immediate participation in the public sphere. This is made largely possible by the medial possibilities, the functions of social media, which can gather many individuals on a single platform, share information among them and even create a sense of shared presence. Contemporary mass-mediated events and living practices of physical crowds (celebrations, rallies, marches, protests, flash and smart mobs, festivals, concerts, groups and networks of social media, live, large-scale television broadcasts) are often theorized with a set of rival terms populating the contemporary social space, like audience, users, community, collectivity, public, nation, people, “global village”, etc. While formulating the role of media in shaping the social sphere, there is also a need for the close analysis of the social practices available to individuals to articulate their social relations, as well as for an analysis of the ways in which aesthetic representation and technical mediation give form to them. In what follows I shall focus on two models concerning the possibilities of visual media, proposed by Béla Balázs and Siegfried Kracauer, two crucial theorists whose formulations still resonate in our concepts of the masses and their culture.
12 The differentiation between topical and metatopical is introduced by Charles Taylor to demarcate face-to-face (topical) relations between people and an abstract, but shared concept of time and space (metatopical). According to Taylor the public sphere (as formulated by Jürgen Habermas) was the first modern (i.e. metatopical and secular) form of the social imaginary. Benedict Anderson also emphasizes the principle of metatopicality in the formation of the concept of the nation or “nation-ness” as an imagined community, relating this modern notion to the simultaneous temporality and spatiality articulated by novels and newspapers. See Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006. 13 Gertrud Koch, Face and Mass: Towards an Aesthetic of the Cross-cut in Film, in: New German Critique 95 (2005), pp. 139–148, 141.
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Balázs and Kracauer In a short review written on Balázs’s The Spirit of Film (published in 1930 in Berlin), Kracauer names the most important “realization” of Balázs’s book – in addition to what he regards as a keen sensitivity to different film forms (close-up, dissolve) − his approach to film as “an art form that turns towards the masses and has the task of unmasking.”14 This “insight”, however, continues Kracauer, is predicated on an oversimplified “social theory based on Soviet Russian practice”, i.e. “the concept of the fulfilled collective and the positive approach to masses”. It is clear from these few lines that Kracauer does not share Balázs’s enthusiasm for the masses, rendered naïve, for example, by a “far too simplistic explanation of the petty bourgeoisie” (ibid.). Beyond the ideological debate on the concept of the masses which can be staged by a parallel reading of relevant passages from their oeuvres, there is a difference not only in their mentality, but also in their temperament and mode of inquiry.15 While they share a readiness to have recourse to examples taken from everyday life or to describe film excerpts, the status and the function of their examples differ greatly. Balázs would reject the idea that his examples could be reduced to simple “illustrations”, they mark instead a personal involvement and, most importantly, they give substance to a conceptuality which is at the same time contested or undermined by the same examples. His text always runs the danger of saying something else – but this is not something unintended, rather, it pertains to Balázs’s method to examine everything from the opposite direction, too. This shifting or contrasting character of his prose makes it almost impossible to totalize his statements using a single viewpoint.16 On the contrary, Kracauer’s examples tend to grow into all-encompassing allegories, subordinating his examples to conceptual 14 Béla Balázs [1924/1930], Early Film Theory. Visible Man and The Spirit of Film, translated by Rodney Livingston, edited by Erica Carter, New York/Oxford 2009, p. 240. Further references indicated in parenthesis in the text. 15 Balázs’s style is on the one hand highly rhetorical, maintaining a permanent contact with the reader by direct addresses, questions, exclamations (it is labeled by Kracauer a “simple style”) and, at the same time plastic, thinking in visual terms (“optical thinking”), operating with expressive and memorable illustrations, descriptions of film excerpts. According to the more analytical Kracauer his prose lacks elaboration, “culminating in dazzling formulations” (239) and adopting “ready-made forms”, “without following them back to their origins and thinking them through from the inside” (240). Comparing their styles is all the more justified since both of them were experienced journalists, indeed, the passages under analysis appeared first as newspaper articles. Balázs was a regular correspondent for Der Tag (from 1922 to 1926), while Kracauer was writer and later editor at the Frankfurter Zeitung (from 1921 to 1933). 16 Nevertheless, one is always tempted to make up for the lacking theoretical systematization, which attempt is then often followed by a sense of guilt for just using his text and never
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analyses of minute details. As to the language of affections spoken by Balázs, his remark from The Little Shopgirls Go to the Movies is characteristic: “many tears are shed which flow only because crying is sometimes easier than contemplation” (in other words: “sacrifice is easier than rebelling”).17 Kracauer always keeps his analytical distance from the observed phenomena, but at the same time gives plastic and memorable descriptions, a configuration owed in great part, I believe, to his training as an architect. Kracauer’s mode of inquiry resembles most of all the attitude of the diagnostician who is interested in the phenomenology of the symptoms to the extent of their usefulness in describing the illness. This difference between Balázs and Kracauer detected as a question of style resonates in their approach to the masses, too: while Balázs seeks ways to conceive of the mass as a totality to which the individual can connect through a subjective aesthetic relationship, Kracauer is interested in breaking it up into its constituent parts and principles, and analyze them. What are the contexts in which the masses enter Balázs’s film aesthetics? In The Spirit of Film (1930) the Marxist terminology of class struggle is more dominant than in Visible Man (1924), where the idea of the cinema’s novelty is highlighted as a “new sensory organ” (5), a new site of articulation, of subjectivity. Although, partially, the later book is a rewriting of the earlier one, in some aspects it is more systematic: while Visible Man seeks to give a phenomenological account of the cinematic sensory experience, The Spirit of Film gives a more categorized description of film form, and does so from a Marxist approach. The passage between the two books is one from the visibility to the spiritualization of film, as indicated by the titles, with all the complexities the term “spirit” bears within Marxism itself. What I would like to point out is a fundamental break between the two aspects of the representation of the masses, a gap running across both Visible Man and The Spirit of Film, and not unrelated to the nature of the formal and ideological analysis carried out by Balázs. On the one hand, we have the representation of the masses exemplified by “mass-action films”, passages taken mainly from Soviet montage films depicting the masses as a collective actor and a social and political agent at that. In this case the mass appears to be the result of an aesthetic relationship between the individual and collectivity elaborated in terms of formal analysis. On the other hand, the term “masses” is used to denote the audience of cinema, shaped by a value system characteristic to European and American films, and attuned, according to Balázs, to the mentality of the petty bourgeoisie. The analysis of the representation for the masses (i.e. of films addressed to them) is carried out in ideological terms; making justice to it. The other alternative is to get stuck in his language, repeating his formulations and metaphors over and over again. 17 Siegfried Kracauer, The Mass Ornament. Weimar Essays, ed. and transl. by Thomas Y. Levin, Cambridge Mass. 1995, p. 302f.
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Balazs introduces a Marxist terminology (class struggle, class consciousness, etc.). Kracauer’s model tries to connect the representation of the masses and the representation for the masses in a single allegory, a scene on vision, but what seems to be a moment of synthesis ends up as a failure of self-recognition.
a. Representation of the masses as a cinematic collective actor The question of the masses arises in Balázs’s film aesthetics first of all as the possibility of alternative agencies and narratives – “films without heroes”, “cross-section films”, “mass-action films” − subverting the teleological structure of classical narrative, and aiming at presenting individual characters in the context of their “social existence” (154). Regarding narrative structure, this amounts to giving up the linearity adopted by Hollywood narration, having at its center the goal-oriented protagonist. Cinema’s power to shape a new collectivity is explicated in terms of formal and aesthetic analysis (i.e. how to invest collectivity with agency through visual representation), and through the contrast established between the possibilities of the different media (the novel, theatre) in organizing social experience. The core of Balázs’s argument on the representation of the masses can be summed up by the following passage, taken from The Spirit of Film, an excerpt from a subchapter entitled The Mass: On the stage, as in every artistic representation, the mass was formerly no more than a formless chaos. It might be friendly or hostile, ugly or beautiful – the image of the mass in art always appeared blind and faceless. For only isolation gives us form, only separation gives us consciousness. The mass devours both, and has thus always appeared as law without thought, motion without form. (149)
The paradox lying at the core of representing “the mass” is quite evident, and the terms are familiar from the earliest writings of Balázs. In his essay entitled The Aesthetics of Death (1908)18, written for the seminar given by Georg Simmel Balázs attended, the centrality of the concept of form is derived from a dialectical relation between being and consciousness: nature and life on the one hand, form, art and consciousness on the other. The reversals which articulate these relations, “consciousness of life is death” (or art), “consciousness of nature is man”, revolve around the act of giving form, an act described either in terms of violence, like cutting-off, or as freezing, numbing; therefore the act of giving form becomes the tragic-heroic condition of man. Only death can give form to life by positing its end, introducing 18 Béla Balázs [1908], Halálesztétika, Budapest 1998.
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time, pain, remembering, rounding off and totalizing something without borders. This exchange between the vitality of life and the totalizing inertia, or stillness of form implies gains and losses, and the ambiguity following this transaction haunts Balázs’s later writings and generates complexities worth exploring.19 The problem exposed in the passage above thus not only concerns the lack of physical separation or isolation in case of the masses, but it is also a question of form, or reflexive consciousness without which the mass is “blind and faceless”. The two adjectives are not at all random, for Balázs identifies subjectivity in precisely these terms: to perceive and to be perceived, conditioned by sight and face. The question how the masses can avoid equation with a blind agency or a faceless entity is resolved – at least in cinematic representation – by the term coined by Balázs, “the face of the masses”. Here a detour seems necessary to explore the ramifications of the notion of the face as the central category of Balázs’s film aesthetics, elaborated from different angles in Visible Man and The Spirit of Film. Face, as a cinematic term, is related to the use of close-up; whereas in Movement-Image, Deleuze takes up the balázsian explanation of the face in close-up20, and equates close-up with the face (every close-up is face), in Balázs’s writings, the concept of the face is far more complex than what would allow us to relate it to a single cinematic technique. It is rather an all-encompassing principle of cinematic articulation, the guarantee of representation conceived as expression, which, at the same time, inherits some of the problems met in the notion of form. Through its figurative extensions the face becomes a master-trope around which not only cinematic articulation, but also Balázs’s own text is organized. In what follows, I will outline and schematize a few of the transfers or passages between the literal and the figurative meanings of the term “face”, investing this trope with a heuristic power in terms of cinematic representation. 1. Individual/Typical. Balázs’s starting point is that no one owns his or her face in entirety, our face is “common property of our family, race, and class” (30). Neither the individual characters of the face, nor the typical ones are already given in themselves; the individual is not simply the concretization of the type; type is not the general abstract term under which the individual appears. Face, thus, is an image marked by this difference between the individual and the typical, and their permeability allows staging a “visible relationship, [the] interplay of facial expressions, 19 In terms of articulation between image and sound see: Izabella Füzi, Connecting and disconnecting. Sound and Cinema in Balázs’s Film Aesthetics, in: György Fogarasi/Ervin Török/ Zoltán Cora (eds.), Terrorism and Aesthetics, Szeged 2014, http://etal.hu/en/wp-content/ uploads/downloads/2014/10/fuzi-connecting-and-disconnecting.pdf 20 Gilles Deleuze [1983], Cinema 1: The Movement-Image, transl. by Hugh Tomlinson, Minneapolis 1986, p. 87.
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[…] a struggle between the type and the personality” (31). The individual and the typical − as visible configurations of the face − can make room one for the other as a “translucent mask”, or transform the face into a “field of battle” (31). Typecasting non-professional actors instead of trained actors (a general procedure named typage in the filmmaking of 1920s in Russia) and substituting acting with montage was meant to reinforce the relation between the individual and typical, personal and collective. Even in films casting professional actors, inserting the close-up of the people making the “crowd” as frequent reaction shots served to authenticate this relation. Actions unfold and they are judged against the background of this visually constituted “public”.
Fig. 1 The face of the class in October (Sergei Eisenstein and Grigori Aleksandrov, 1928): bourgeois people mocking the soldiers marching in solidarity with the workers.
2. Temporality: the play of facial expressions. This interpretation of the face gives the figure a temporal dimension, it invests it with simultaneity, while conceiving it as a surface on which different facial expressions unfold. This movement is designated by musical metaphors such as “modulation” (a Bergsonian term), rhythm, and a “lyrical” aspect (34-37), which opens up the image inward. Face undergoes a continuous transformation in which parts loose their independent role and contribute to a whole which is nothing else but this interaction of parts. There are no autonomous parts with clear-cut boundaries, rather all the parts are present at the same time, molding in a simultaneity, “the legato of visual continuity” (34), making the face a temporal site of continuous development, change and becoming.
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Fig. 2 The “storms that pass” over Lilian Gish’s face in Way Down East (D.W. Griffith, 1920)
3. Anthropomorphism. As we have seen, Balázs uses the term face in relation to impersonal entities (the face of the class, race, landscape, machine). (It is a question if equating face with individual character is qualified as anthropomorphism.) “The face of things” is accounted for by multiple motives: magical thinking, a childlike and new way of seeing things (favored by expressionism), lifting “the veil of our traditional, abstract way of seeing” (47). This vision is often described as the gaze of things reversed on man, the uncanny experience of “everything speaks”, which results in the succession of the projection of humanness involved in anthropomor-
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phism and the “defacement” moment of prosopopoeia. This figure anticipates the lacanian term gaze and Benjamin’s definition of aura as a form of perception which invests objects with “the ability to look back at us.”21 4. Distance − part and whole relations. According to Balázs, the most valued technical achievement of cinema that made possible the representation of the masses and for the masses, is the elimination of “the spectator’s position of fixed distance” from the image, which in itself makes room for “a radical new ideology” (104). The democratization of perspective22 means the introduction of a mobile viewpoint instead of privileged or static ones. Distance always implies perspective, a grasping of the whole, as in the case of form (the act of giving form to life in The Aesthetics of Death), but the changing perspective brings about a moving relation between the image and the viewer. 23 Translating this insight into the structure of the cinematic shot means that the close-up is not simply a part of the long shot, and their relation cannot be quantified by numerical conversions (substitution, totalization, reduction or multiplication as in the case of the scale of maps). The part and whole relations unfold as dynamic and subjective relations of scale, size, distance, proximity. Summarizing its different (signifying) aspects, the “face” emerges as a master-trope, a figure in which the deficiencies of the previous concept of “form”, seemingly, are superseded: face gives form, grasps the whole, and at the same time remains a sensuous figure, an articulation through movement. Cinematic representation constitutes a language, a new “sensory organ” inasmuch as it articulates an expressive surface through which differences are rendered sensible. This play of signification, of transfers between individual and collective, human and inhuman, inside and 21 Walter Benjamin [1940], “On Some Motifs in Baudelaire”, in: Illuminations, transl. by Harcourt Brace Jovanovich, ed. by Hannah Arendt, New York 1968 [2007], p. 194. 22 Another mass-medium which democratizes perspective, according to Oettermann, is the panorama, a “critical reaction” to Baroque theatre characterized by its central perspective, offering the correct perspective of the stage only to a single person, the sovereign. Panorama can be thought of as the precursor of cinema in the sense that it developed different spatial and temporal practices of seizing the whole while observing the details of the image. Stephan Oettermann, The Panorama: History of a Mass-Medium, New York 1997, p. 23f. 23 Later on Balázs summarizes his view on the part-whole relationships involved by the image this way: “What is done is not to break up into detail an already existent, already formed total picture, but to show a living, moving scene or landscape as a synthesis of sectional pictures, which merge in our consciousness into a total scene although they are not the parts of an existent immutable mosaic and could never be made into a total single picture.” Béla Balázs, Theory of the Film. Character and Growth of a New Art, transl. by Edith Bone, London 1952, p. 52.
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outside, distant and close, etc. is threatened and halted only by the isolation of sensory appearance, like “great beauty”, labeled “an ornament in itself ”, “an impenetrable mask” (30). As long as a continuous articulation takes place, in Balázs’s view, the principle of physiognomy is elevated to the status of the Kantian categories of space and time.24 Perceiving something as a face means to tear it up from its actual spatial and temporal relations and to enter a “new dimension”, where “we find ourselves alone with it” (105). Conceiving the face as “expressive” means to establish an aesthetic relationship with it, marked by the double movement between sensory experience and a totality never already given. With these the frames of the cinematic representation of the masses are set. Balázs makes two interrelated claims: the masses should be represented as a “single organism” (42) and they should be invested with a face. The “organic” notion of the masses is contrasted with both the formless, amorphous character of the crowd, or the mob (a “sudden gathering, senseless tumult, adventitious mob“), and the “organized” masses (Balázs’s examples include: “the disciplined regiment of soldiers”, ballet, or the masses “composed in the spirit of decorative commercial art [as is the workers’ march in Fritz Lang’s Metropolis]” 150).
Fig. 3 The “workers’ march” in Metropolis (Fritz Lang, 1927).
Contrary to the latter, “These masses have a physiognomy of their own, which is as expressive as only a face can be: a mass physiognomy. The movements of the masses are gestures in their own right. Mass gestures.” (150) But how can the masses ac24 “Just as time and space are categories of our understanding, and can thus never be eliminated from the world of our experience, so too the physiognomical attaches to every phenomenon. It is a necessary category of our perception.” (57) This could seem a bald move from the part of Balázs, but still it demonstrates the stakes involved in the category of the face. Here Balázs equates perception with the taking of something as a face, an interpretation which seems to highlight the primacy of perception as a subjective relation to things.
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quire a face? This is where cinema can play a crucial role, by articulating something new compared to other media. The face of the masses is sometimes given by the close-up of individual faces. The complex dialectic movement and interdependence between the individual and the masses in the balázsian thinking is underlined by the fact that the technique of close-up is introduced in The Spirit of Film by the face “glimpsed in the midst of a crowd” (105). The advent of sound film makes possible the superposition of the individual face with the aural experience of the crowd: I cannot show a head in close-up and at the same time show it disappearing in a crowd. The sound film can lend form to this significant paradox. It can allow us to both see and hear a man screaming in close-up and at the same time, in the same image, to hear the general tumult that drowns his lost, lone voice. (204)
A recurrent idea of The Spirit of Film is the reversal of the stereotype proposed by Le Bon that the masses lower the intellectual abilities of the individual, more precisely the intellectual level of the masses is established by their common denominator, the properties shared by all people constituting the crowd.25 Balázs’s formula instead is to render “visible not the way in which individuals are submerged in the mass, but the way in which the mass appears in each individual face.” (150) This continuous mediation between individual and collective is responsible for not obliterating or forgetting the individual. The other option to invest the masses with a face is to frame the close-up of the masses: “fifty heads compressed into a single frame” (150), “a hundred raised fists”, instead of a “never ending procession of demonstrators” (44).
Fig. 4 The revolutionary crowd in October (Sergei Eisenstein and Grigori Aleksandrov, 1928).
25 This claim is reinforced by the Motion Picture Production Code (Hays Code) adopted in 1930: “Psychologically, the larger the audience, the lower the moral mass resistance to suggestion.”
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Replacing the long shot with the close-up is also a technique to represent monumentality, according to Balázs. One of the main themes of the chapter on close-up is the “colossal”, the “pathos of the large”. The question why cinema is the most capable of representing the monumental, or the experience of sublime is answered by the mobility of its viewpoint (monumentality is never static, says Balázs). What does it mean to seize the close-up of the earth, or of the masses? And in what way is this close-up different from a long shot? The relativization of distance results in a dehumanization of the cinematic system of framing distance, having at its center as a standard measure of distance, scale and size, the human body. Elsewhere the close-up is characterized as a “mute pointing” (40), possessing an indexical character bringing forth the performative and future-oriented moment in every close-up. Ultimately the agency of the masses in cinematic representation is conferred by a special relation between individuality and collectivity, formulated against the continuity of classical narrative. Setting aside the individual hero and the conventional story, Balázs wants to secure the umbilical chord connecting the individual to collectivity: If two scenes are connected, they provide the action with a certain direction and point to a particular event – that is to say, they cease to refer to the totality. But a man filling his pipe, another man loading his rifle, yet another leaning over a wounded man, together with two men asleep, etc., do not form a coherent storyline. The coherence they have is within the totality: within the social existence of the masses. (154)
What Balázs formulates here through the cinematic technique of montage is a visual practice of representing the masses, a collective form of consciousness. This is possible by “atomization”, i.e. rendering sensible the constituent parts of the whole and their relations (without presupposing the whole as something given already). Taking this point one step further, in this view cinema becomes a medium in which the “social existence of the masses”, a social experience is organized. Balázs does not specify if this viewing experience is an individual one or shared by a collective, however, the aesthetic terms he employs (subjective relation to the face, its aesthetic totality) can be compared to those of viewing nature, or the landscape presupposing the simultaneity of distant contemplation and absorbed participation.26 These are rather the conditions of individual aesthetic experience; when he 26 For further elaboration see: Izabella Füzi, The Face of the Landscape in Béla Balázs’s Film Theory, in: Acta Univ. Sapientiae, Film and Media Studies, 5 (2012), 69–81. http://www.acta. sapientia.ro/acta-film/C5/film5-5.pdf, republished in Irma Duraković/Michael Lommel/ Joachim Paech (eds.), Raum und Identität im Film. Historische und aktuelle Perspektiven, Marburg 2012, 29–42.
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speaks of the masses as a collective audience, the terms of discussion are shifted to another context.
b. Representation for the masses − audience or public? If cinema is a privileged medium representing the masses, the question remains, nevertheless, in what ways it represents for them. This train of thought is mainly elaborated in the final chapter of The Spirit of Film, entitled Ideological remarks (based on the final chapter of Visible Man entitled World View). Here another concept of the masses emerges, predicated on the discussion of the technical and economical conditions of filmmaking: as the work of a “technical collectivity”, and more importantly as a product of the capitalist economical activity, cinema yields an ever greater popularity. The profit orientation in this case means a fragile equilibrium between different (class) interests: “The capitalist film industry […] must go halfway to meet the ideology of the broadest masses, while at the same time not compromising its own.” (222) The negotiation between the ideology of the lower and the ruling classes results in a compromise, since it adopts the mentality of the petty bourgeoisie. A class without class consciousness, apolitical and asocial, concerned only by the individual values of security and welfare, the petty bourgeoisie finds refuge in the immediate idyll or the “far distant” great romanticism, and Balázs lists the diverse forms of escape into history, love, adventure, etc. A classless class (“the least aware of its own interests”, 222), the petty bourgeoisie threatens the identity of the other classes; while, as Balázs argues, there may be something of a petty bourgeoise in every one of us. What Balázs proposes by conceiving cinema as a representation for the masses is a symptomatic analysis carried out in order to examine film as “a document of the thoughts and feelings of the masses”, or “a cultural history of our times, a symptomatic index of living ideologies in general” (219). What are the phenomena of which cinema can become an index or a symptom, and what are its mediation processes? Here again the answers are manifold. I shall try to contrast them to show the complexity of these sign relations and their mediation by different agencies. 1. The mass-mediated character of cinema, Balázs argues, allows multiple presuppositions concerning the ways capitalist film industry thinks to achieve popularity, to appeal to the masses, all of which constitute “the negative conditions of popularity” (220). Contrary to this approach of understanding cinema as the projection of taste or persuasion by film industry, cinema appears as a symptom by showing something which is not intended by the capitalist film industry, that is, rendering visible abstract and invisible forces, revealing the essence of their system of production, “large-scale capitalism”. It is not a simple relation between base and superstructure
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which is proposed here, but a mediated relation between abstract conditions and an ambiguous visuality. For example the figure of the detective, the modern hero, encapsulates “the element of fantasy, adventure and the marvelous that appears to transcend the bounds of the natural” (85), but at the same time can be exposed as “the doughty defender of private property”, “the St George of capitalism” (85). 2. If the targeted audience of cinema is the petty bourgeoisie, a class formed before the advent of cinema, it is the lack of class-consciousness which contributes to the classless homogenization of the public. Unrecognizing the historical condition of its own formation and its place in the capitalist system of production, not being “aware of its own interests” leads to a homogenization which in case of the cinema is often described as a decisive event − adopting and reinforcing the classical narrative at the end of the 1910s forged the most successful mass product of the century on a global level. Summarizing the concept of the masses as it appears in Balázs in these two different contexts, we can distinguish between a positive sense of the concept, based on an active participation in an (individual) aesthetic experience, and a negative sense in which the concept of the masses is posited as a result of the transactions and interests between different classes. One reflects an ideal of the masses with a liberating potential, presupposing the relation between individual and collectivity as a process, articulated through the cinematic techniques of montage, dissolve, close-up; the other is a repressive category obscuring the relations between individual and collectivity. One has as its model the cinematic articulation of the actual presence of the masses (mass demonstrations, the revolutionary crowd), sharing the same space and time, while the other is dispersed into individuals unable to realize their belonging to a community and therefore to act as a political entity. The class relations on which this dichotomy is predicated are clear from the start (the working classes against the petty bourgeoisie or the capitalist industry), Balázs’s accomplishment is the translation of the Marxist terminology into cinematic terms by opposing the two models of the masses. The novelty of this approach becomes manifest if we contrast it to contemporary psychological approaches27 explaining the emergence of the masses by a regression to a primitive or atavistic state both on the individual and collective level. Balázs makes the figure of the masses readable through a cinematic language, transforming the masses into a cinematic figure, articulated by the relation between images, the relation between the moving images 27 To name just the most influential ones: Le Bon (1895): Psychologie des Foules, Wilfred Trotter (1916): Instincts of the Herd in Peace and War, William McDougall (1908): An Introduction to Social Psychology, Sigmund Freud (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse.
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and the viewer, and finally between film as a product or a symptom and its audience. In this view cinema can render sensible the coherence or constitution of the masses and thus participate in shaping the social imaginary. The two aspects of representation − of the masses and for the masses, accounted for as the difference between two systems of production: the Soviet and the capitalist one − differ in their degree of collective consciousness perceived as a continuous mediation between the individual and collective. According to Balázs’s overall perspective one has a critical function, while the other performs the task of ideology, at best serving as its symptom. What he cannot achieve is a folding or a critical reading of these two aspects, to show the way in which the representation of the masses is always a representation for them, i.e. every representation of the masses in their “social existence” implies presuppositions on what these masses represent. If the chance of the masses to become a political subject(ivity) leads through a moment of self-representation, the dichotomy of the two concepts of the masses repeats the unresolved dialectics of being and consciousness, life and death, nature and form, detected by Balázs at the core of every artistic endeavor. Commenting on Eisenstein’s plan to adapt Marx’s The Capital to film by translating its abstract, philosophical ideas into cinematic images and emotions, Balázs takes a skeptical attitude towards the category of “unity” implied by this project. “This unity cannot be achieved by gluing or mixing” (155), “A warlike march tune can inspire combatants on both sides of the barricades. The eventual impact of the tune then depends on the text alone.” (156) Consequently, the aesthetic form of the face, the mediation of the individual and the collective at the core of the representation of the masses cannot in itself guarantee the formation of class consciousness in the viewer. Paradoxically enough Balázs does not mention the actual audiences in the movie theatre and does not consider film viewing as a collective experience. Let us not forget that in Balázs’s days film viewing was only possible through a collective viewing experience, in the shared time and the shared space of the movie theatre, consequently, every representation of the masses is self-reflexive: it is a representation for the masses. These are the aspects, among others, Kracauer translates into the allegory of the “mass ornament”.
c. A scene on vision (Kracauer) During the 1920s in his articles published in Frankfurter Zeitung Kracauer dedicated himself to register and analyze the “surface-level expressions”28 of a mul28 Siegfried Kracauer, The Mass Ornament. Weimar Essays, ed. and transl. by Thomas Y. Levin, Cambridge Mass. 1995, p. 75. Further references indicated in parenthesis in the text.
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tifaceted modernity. In describing such modern phenomena as the circus, hotel lobbies, arcades, picture palaces, sport events, etc. he was interested in rendering them as both historical expressions, symptoms of their epoch, and actual means, albeit transitory ones, in achieving the new moral order of modern democracy based on egalitarianism. Miriam Bratu Hansen charts the trajectory of Kracauer’s intellectual journey from “a metaphysics of modernity” to “a critique of ideology”29, and through the latter she emphasizes his contribution to the elaboration of the theoretical frames of critical theory. Kracauer’s fascination with the sheer externality of the emerging mass culture is rooted in his belief that all these phenomena arising in the wake of capitalism, industrialization and urbanization can effectively promote the delineation of new relations. By loosening and dismantling long ingrained social forms deemed natural, the new forms of distraction have the power of unveiling and undoing the old relations by untying natural connections and privileging inorganic relations. The proposal that mass culture can become a surface for the negotiation of new modes of subjectivity is built on “the eschatologically tinged idea that modernity could be overcome – and could overcome itself − only by realizing all its disintegrating and destructive potential.”30 When the hopes attached to this project shattered under the pressure of fascism, Kracauer’s position shifted to a fervent criticism. One of the key texts exhibiting his ambiguous position toward the masses and the socioeconomic and cultural forms leading to their emergence is the one bearing the same title as the volume edited by Kracauer himself in 1963, The Mass Ornament (1927). I will focus on the text’s visual terms and show how the allegory of the masses unfolds. Contrary to psychoanalytical primal scenes, which yield individual identity, Kracauer’s allegory recounts the experience of the masses. The stage is occupied by the Tiller Girls, a dance troupe originally founded by John Tiller in the 1890s, performing on all major revue theatres and variety shows (Folies Bergère, London Palladium etc.). The performance of the group dancers, matched by height and weight to look the same, aimed at creating the illusion of moving as one single person. (The Tiller Girls’ legacy of precision dance is carried on today by successors such as rhythmic gymnasts performing in teams, or synchronized swimmers.) In all these spectacles the goal is to obliterate and make the audience forget individual performance, in order to highlight the overall geometrical effect achieved by the disciplining of individual bodies.
29 Miriam Bratu Hansen, Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno, Berkeley/Los Angeles 2012, p. 11. 30 Ibid. 5.
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Fig. 5 Tiller Girls in the 1920s.
Kracauer sees the Tiller Girls as pertaining to the “body culture” (75) of the 1920s, displaying movements as “demonstrations of mathematics” (76), leading to dismemberment and dehumanization. He labels the production of Tiller Girls an “ornament”, partly based on the mathematical relations made visible by them, and the endless calculability of the figures: “They are composed of elements that are mere building blocks and nothing more. The construction of the edifice depends on the size of the stones and their number.” (76, my italics) But not only the dancers’ bodies are shaped by a precise pattern, their audiences in the stadium, or in front of the screens are “themselves arranged by the stands in tier upon ordered tier” (76) as well. Here Kracauer proposes a concept of the masses as an endless crowd, a configuration obtained through the derivation of a mathematical function, combining the variables of size and number, a “pattern of undreamed-of dimensions” (77). The analogy between the Tiller Girls and the masses constituting their audience consists in the fact that in both cases the component parts are not individuals, but “fractions of a figure.” (76) So far this would seem a critique of the monotonization and the dismemberment from a humanist perspective, but Kracauer values, in fact, the ornament as a means to bring forth the mechanism which makes people parts of the masses. In Girls and Crisis (1931) he returns to the dance of the Tiller Girls to make explicit the language which their bodies speak: When they formed themselves into an undulating snake, they delivered a radiant illustration of the virtues of the conveyor belt; when they stepped to a rapid beat, it sounded like “business, business”; when they raised their legs with mathematical precision over their heads, they joyfully affirmed the progress of rationalisation; and when they continually repeated the same manoeuvre, never breaking ranks, one had the vision of an
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unbroken chain of automobiles gliding out of the factory into the world and the feeling that there was no end to prosperity.31 (Girls and Crisis, 1931)
The phenomenal analogies formulated in visual terms, linking the girls’ bodies to the capitalist mass production, resonate Balázs’s claim that cinema should render sensible the abstract and invisible forces organizing production and society. For Kracauer, the structural moment built in the mass ornament is that the masses cannot recognize the ornament as such. Although the masses derive a “legitimate” aesthetic pleasure from the dance movements, this is only made possible by their not being conscious of it as an ornament, i.e. “an end in itself” (76). The ornament is “an end in itself”, a pure form from a double perspective: on the one hand, it is a proliferation without any transcending purpose, an expansion for the sake of expansion, and on the other hand, it cannot function as a means of self-representation. The relation of the audience to the dancing girls is that of “the bearer [Träger] of the ornament”, a word suggesting both bodily contact (‘wearer’), and a mechanical platform or device (‘support’, ‘carrier’). As the ornament is composed of inorganic fragments, the bearing carried out by the masses is something inorganic, too. That is why the ornament “appears above them” (77), or “hovers” in midair. The blindness of the masses confronting the ornament is counterbalanced by the dancing girls’ bodies which act out almost literally the mechanization and formalization carried out by mass production. For whom is the ornament, this emptied-out form, then “perceivable“? The visual terms of Kracauer’s allegory suggest a paradoxical closeness between the ornament, the capitalist organization and the position of the observer, that is, the social critic, occupied here by Kracauer himself.32 Their overview perspective delineates the pattern of the ornament: “Like the pattern in the stadium, the [capitalist] organization stands above the masses, a monstrous figure whose creator withdraws it from the eyes of its bearers” (78) and “[i]n fact, nobody would notice the figure at all if the crowd of spectators, who have an aesthetic relation to the ornament and do 31 Siegfried Kracauer [1931], Girls and Crisis, in: Anton Kaes/Martin Jay/Edward Dimenberg (eds.), The Weimar Sourcebook, Berkeley/Los Angeles 1994, p. 565f. 32 In his text from 1932, The Task of the Film Critic, Kracauer makes explicit what this position involves. He differentiates between films “of real substance” and films as commodities. While the former call for an “aesthetic analysis”, the latter should be subjected to a “sociological” examination highlighting “the image of society” by “compar[ing] the illusory world portrayed in such films with social reality”. Here Kracauer’s position shifts to that of a proponent of ideological criticism. Despite the terms of this essay (“illusory” falsifications vs. reality), the emphasis is also on the social functions cinema wields by constructing cinematically and visually different forms of sociality. Siegfried Kracauer [1932], The Task of the Film Critic, in: The Weimar Republic Sourcebook, 634.
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not represent anyone, were not sitting in front of it” (77). The misperception of the masses, their blindness to the ornament, their unconscious and spontaneous reaction to it enables a material inscription. The ornament in this way becomes a hieroglyph written on the body of the Tiller Girls and that of the masses, made readable from “above”.
Fig. 6 One possible diagrammatical representation of the mass ornament.
The ornament is similar to the arcades which are inscribed on the body of the city, passages leading “through the bourgeois life” (338), not only unveiling that which should remain hidden, but giving “surface-level expressions” in form of “transient objects” (338), sensations, images and pictures the artificiality of which promises to carry us over the “bourgeois façade”. The ornament is a “transient object”, a fragmentary configuration of relations from a perspective inscribed by the ornament itself; being a formal principle and a critical trope at once, the ornament is not a redundant figure: “the path leads directly through the center of the mass ornament, not away from it.” Another occurrence of the term “ornament” in the same volume points to a similar crystallization and articulation of relations by the material, bodily enactments of its carriers. The article entitled Lad and Bull. A Study in Movement gives a plastic description of a bullfight by a choreographic recording of the movements performed in the arena. The ornament is the red cape attached to a stick to tease the bull, and in Kracauer’s description it becomes the centre of the scene around which the “lad” (the matador) and the bull are reduced to simple marionettes. In the red cape the bull recognizes its “counterfetish” and tries in vain to defeat it, since the cape “floats away, transformed into an arabesque by the little puppet” (33). The “ornament’s power” consists not only in veiling the deadly dagger, but also in its ability
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to organize both the movements of the bull and the lad as a “love battle”, a spectacle offered to the “drunken mass” of the arena. The function of the ornament in Kracauer’s writings is that of an inscription of abstract relations, gathering heterogeneous elements into a single formula without frustrating their fragmentary character. The ornament presents itself most of all in visual terms, as in the case of the ornament of the Tiller Girls. It is based on the specular relation between the dancers and their audience articulated from an overview position occupied by the ornament, its creator and the critic functioning as a diagnostician. While the Tiller Girls present only an “aesthetic reflex of the rationality to which the prevailing economic system aspires” (79), the ornament makes possible “thinking them through from the inside”. Commenting on the function of visuality in Kracauer, James Donald interprets the Tiller Girls’ ornament as “a flash of recognition and insight as history reveals itself in the form of an image.“33 Confronting the terms Balázs and Benjamin uses to shape the concept of the masses, we find different logics of creating their subjectivity. By insisting on the organicity of the masses and their relation to the individual, Balázs’s first concept of the masses comes close to Kracauer’s, as it emerges from the text entitled The Group as a Bearer of Ideas (Die Gruppe als Ideenträger). “Bearing” in this case does not amount to some unconscious bodily reflex of acting out, as in the case of the ornament, but to a group identity that Kracauer wants to save from both the “authoritative doctrine” (the subordination of the individuals to the group unity)34 and the “individualist doctrine” (viewing the group as the sum of its independent individualities). Groups according to Kracauer are paramount in articulating the social sphere by mediating “between the individuals and the ideas that pervade the social world” (148). Groups can be regarded as agencies which derive their legitimacy from the idea by concretizing, materializing it in their confrontation with rival groups and the “logic of reality” (162). In their activities groups are always confined by the idea they are dedicated to – this amounts to a certain rigidity and edginess regarding group individuality (a group can split, but cannot convert as an individual). In the group individuals give up their full individuality becoming “partial-selves, half-creations and quarter-creation” (151), but are never transcended by the idea. At the same time, groups and ideas are governed by different laws, the failure of a group does not amount to the end of the idea. Whereas Balázs seeks to enforce the relation between the individual and the masses, to strengthen the umbilical chord between them by 33 James Donald, Kracauer and the Dancing Girls, in: New Formations 61 (2007), p. 49–63. 34 The individuals’ relation to the idea „borne” by the group in the case of the authoritative type is very similar to the description of the ornament: “The ideas detach themselves from him [the individual] and, like stars, follow an orbit above his head.” (146)
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rendering the coherence of the masses visible, Kracauer insists on the externality of the idea or the ornament. This idealist35 moment in Kracauer is coupled with the principle of allegory: groups and masses can be seen as materializations of (higher) ideas, but it is, precisely, this inorganic connection that allows for a critical reading, “following them back to their origins and thinking them through from the inside”. The difference between the position of Balázs and Kracauer can be further elaborated by the discrepancy between their attitudes toward the ornament. For Balázs, the ornament is purely external, governed by a principle exterior to the thing itself: in ballet scenes or marching parades, but also in the workers’ march in Metropolis, he identifies a decorativity or an arrangement which arrests the movement between the individual and collective, a movement responsible for establishing subjectivity. (A general aversion toward the ornament is detectable in Hungarian writings on the aesthetic of dance, blaming the ornament for detaching the consciousness of the dancers from the consciousness of the viewers who perceive the dance as an abstract ornament, a spectacle filling out space.36) The same examples of the ballet and of the parade march are regarded by Kracauer as remnants of bourgeois (i.e. mythological) thinking “burdened with meaning to such an extent that they cannot be reduced to a pure assemblage of lines” (76). The pure form of the ornament achieves liberation from the connections deemed natural and makes room for rationalization. Externality is rejected by Balázs as a means of objectification, producing an ornament with the power to freeze relations, making them impenetrable and subject to appropriation; as a contrast, it is appraised by Kracauer as a means of shaping perspective (“from above”) through which components can be analyzed in their fragmentary and inorganic character. By positing the masses as an intersubjective relation, Balázs fails to resolve the discrepancy between the two concepts of the masses (as a subject and as a symptom or product of ideologies), and although Kracauer relates these two aspects in the figure of the ornament, he cannot account for the active and moving relations constituting the consciousness and subjectivity of the masses. 35 Balázs’s position can be considered as „idealist”, too, but in another sense than Kracauer’s position which posits the intangibility of the idea by the groups representing it. 36 See Miklós Marsovszky [1924], New Art: The Film, transl. by Izabella Füzi and Eszter Polónyi, in: Apertúra 29 (2012), http://uj.apertura.hu/2012/osz/marsovszky-new-art-thefilm/ On the role of the ornament in shaping cinematic form through a rivalry between media see Izabella Füzi, Mechanical Motion and Body Movements in Early Cinema and the Hungarian Film Theories of the 1920s, Apertúra 29 (2012), http://uj.apertura.hu/2012/osz/ fuzi-mechanical-motion-and-body-movements-in-early-cinema-and-in-hungarian-filmtheory-of-the-1920s/. Kracauer uses the same logic analyzing travel and dance as appropriations of space and time. Here the positive valuation of the ornament gives place to a radical critique. See Siegfried Kracauer, Travel and Dance, in: The Mass Ornament, pp. 65–74.
Autorenverzeichnis
Tamás Demeter lehrt am Institut für Philosophie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Pécs Wissens- und Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftstheorie, Soziologiegeschichte und Theorie. Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Wissenschaftsgeschichte der frühen Moderne, Traditionen der Wissenssoziologie in Mitteleuropa. Wichtige Publikationen: „The Many Faces of Sociological Interpretation“, in: T. Demeter (Hg.), Essays on Wittgenstein and Austrian Philosophy, Amsterdam 2004; A szociologizáló hagyomány [Die soziologisierende Tradition], Budapest 2011; „Three Genres of Sociology of Knowledge and Their Marxist Origins“, in: Studies in East European Thought 67, 2015/1–2. István M. Fehér, Professor für Philosophie (Eötvös-Loránd-Universität Budapest und Deutschsprachige Gyula Andrássy Universität Budapest), ord. Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, phänomenologisch-hermeneutische Philosophie, Heidegger, Gadamer, Lukács, Sartre. Humboldt-Stipendiat in Bochum und Tübingen. Mitglied im wissenschaftlichen Beirat internationaler Fachzeitschriften. Wichtigere Publikationen: Schelling – Humboldt: Idealismus und Universität. Mit Ausblicken auf Heidegger und die Hermeneutik (Frankfurt a. M./Berlin/New York 2007); (Hg.) Kunst, Hermeneutik, Philosophie: Das Denken Hans-Georg Gadamers im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts (Heidelberg 2003); (Mithg. mit Peter L. Oesterreich), Philosophie und Gestalt der europäischen Universität (Stuttgart/Bad Cannstatt 2008): „Hermeneutics and Ontology,“ „Prejudice and Pre-understanding,“ „Hermeneutics and Humanism,“ in: N. Keane/Ch. Lawn (Hg.), The Blackwell Companion to Hermeneutics, Oxford 2015. Izabella Füzi lehrt am Lehrstuhl für Visuelle Kultur und Literaturtheorie der Universität Szeged. 2005 gründete sie die Zeitschrift Apertúra,für die sie bis heute als verantwortliche Redakteurin arbeitet. Forschungsschwerpunkte: komparative Untersuchung der Narration in Film und Literatur, Medialität, visuelle Massenkultur, filmtheoretische Untersuchungen zur Beschaffenheit des Zuschauersubjekts. Aufsätze zu diesen Themen erschienen in Aufsatzbänden und Zeitschriften (Literatura, Alföld, Holmi, Helikon, Metropolis, Apertúra). Ko-Autorin des Bandes Bevezetés az epikai szövegek és a narratív film elemzésébe [Einführung in die Analyse epischer Texte und des narrativen Films], Szeged, 2006; selbstständige Publikation: Retorika, nyelv, elmélet [Rhetorik, Sprache, Theorie], Szeged 2009.
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Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert Guérard Professor für Literatur an der Stanford University. Letzte Publikationen: Präsenz, Berlin 2012; Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012. Hajnalka Halász ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Ungarische Literatur und Kultur der Humboldt-Universität zu Berlin; sie lehrt allgemeine Literaturwissenschaft und ungarische Literaturgeschichte. Thema der Dissertation: Der Begriff der Differenz in den Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik und Dekonstruktion. Wichtigste Publikationen: „Gesetz zwischen Code und Rauschen. Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson“, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Bielefeld 2011; „Das Bild, der Verdächtige und der Kronzeuge. Horizonte der Bildhaftigkeit bei Gadamer und Husserl“, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Berlin 2013; „Medien zwischen Latenz und Symbol: Der Begriff des Mediums bei Niklas Luhmann“, in: Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lőrincz (Hg.), Signaturen des Geschehens: Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014. Ágnes Hansági lehrt seit 1997 Literaturtheorie und Kulturwissenschaft an der Károli-Gáspár-Universität der Ungarischen Reformierten Kirche in Budapest. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Feuilletonromans, Serialität in der Literatur, Kanonisation. Neuere Publikationen: Tárca – regény – nyilvánosság. Jókai Mór és a magyar tárcaregény kezdetei [Feuilleton – Roman – Öffentlichkeit. Maurus Jókai und die Anfänge des ungarischen Feuilletonromans], Budapest 2014; „Abbauende Medien – expansive Archive: die Öffentlichkeit der Literatur. Zsigmond Móricz und der Feuilletonroman in den 1930er Jahren“, in: Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lőrincz (Hg.), Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014; „Romanphilologie ist Buchphilologie?“, in: Pál Kelemen et al. (Hg.), Kulturtechnik Philologie, Heidelberg 2011. Ernő Kulcsár Szabó, Professor für Literatur und Kulturwissenschaft an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest, ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Herausgeber der literaturwissenschaftlichen Vierteljahrsschrift Irodalomtörténet [Literaturgeschichte]. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Medialität der Literatur in der Moderne, literarische Hermeneutik, Kulturwissenschaft, Theorie der Literatur. Neueste Veröffentlichungen: Megkülönböztetések. Médium és jelentés az irodalmi modernségben [Unterscheidungen. Medium und Bedeutung in der literarischen Moderne], Budapest 2010; „Der hermeneutische Koloß und die mediale Unterscheidung. Ist die Philologie (noch) eine Text-
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wissenschaft?“, in: P. Kelemen/E. Kulcsár Szabó/Á. Tamás (Hg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011; „Medialisierung des Literarischen. Die Spätmoderne“, in: E. Kulcsár Szabó (Hg.), Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung. Berlin/Boston 2013. Zoltán Kulcsár-Szabó ist Professor für Literaturtheorie und Komparatistik am Institut für Ungarische Literaturgeschichte und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der modernen Lyrik, Dekonstruktion, Theorien des Politischen. Jüngste Buchpublikation: A gondolkodás háborúi [Kriege des Denkens], Budapest 2014. Tamás Lénárt PhD, Wiss. Assistent für moderne ungarische Literatur, Komparatistik und Literaturtheorie am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaften, Eötvös-Loránd-Universität Budapest; Forschungsschwerpunkte: ungarische Nachkriegsliteratur, vergleichende Medien- und visuelle Kulturgeschichte der Moderne. Dissertation zum Thema Fotografie und Literatur in der ungarischen Kulturgeschichte (2012, Buchveröffentlichung mit dem Titel Rögzítés és önkioldás [Festhalten und Selbstauslösen] Budapest 2013), weitere Publikationen zur ungarischen Frühgeschichte der Film- und Fototheorie sowie zum Werk von W. G. Sebald, Péter Nádas, Miklós Mészöly u. a. Csongor Lőrincz ist Leiter des Fachgebietes Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin, lehrt Allgemeine und Ungarische Literaturwissenschaft bzw. Literaturgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Interpretationstheorie, Theorie und Geschichte der Lyrik, Performativität (Zeugenschaft). Letzte Publikationen: Költői képek testamentumai [Testamente des lyrischen Bildes], Budapest 2014; Hg.: Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Berlin 2013; Hg. (mit Zoltán Kulcsár-Szabó): Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014. Csaba Olay ist Leiter des Lehrstuhls für neuzeitliche und zeitgenössische Philosophie am Institut für Philosophie der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Schwerpunkte (auch in der Lehre): die deutsche Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert; Hermeneutik, Lebensphilosophie, politische Philosophie, Heidegger, Gadamer, Arendt, Frankfurter Schule. Veröffentlichungen: Hans-Georg Gadamer: Phänomenologie der ungegenständlichen Zusammenhänge, Würzburg 2007; (mit Tamás Ullmann) Kontinentális filozófia a XX. században [Kontinentale Philosophie im 20. Jahrhundert], Budapest 2011; „Die Tradition der Gegenwart und die Gegenwart der Tradition. Heidegger und Gadamer über Tradition“; in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 2013, VII, S. 196-219.
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Attila Simon lehrt antike Literatur und moderne Philosophie bzw. Literaturtheorie an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: praktische Philosophie in der Antike, antike Rhetorik und Literaturtheorie, griechische Dramen; deutschsprachige Publikationen über die Antigone des Sophokles, über die Ekphrasis bei Lukian, zur Philosophie des Aristoteles und Platons, und zur Geschichte der klassischen Philologie (Karl Kerényi, József Balogh). Robert Smid studierte an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest Ungarische Philologie (BA) und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft (MA), er lehrt ebendort als Mitarbeiter der MTA-ELTE Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft mediale Kulturwissenschaft und Literaturtheorie. Forschungsschwerpunkte u.a.: der inhärente medienarchäologische Diskurs der Psychoanalyse, Geschichtsauffassungen der posthermeneutischen Trends und die kartografischen Kulturtechniken der Literatur. Jüngste Publikationen: „Freud ,Chained‘ to Shannon. Transcribing Temporal Processes in Psychoanalysis“, in: Archiv für Mediengeschichte 14 (2014); „Pressing Bodies/Pressing Concerns. The ,Lived Experience‘ of the Non-Hermeneutic via the Works of Hans Ulrich Gumbrecht“, in: Pragmatism Today, Winter 2014; Between Media Archaeology and Media Historiography, in: Metaphora, October 2015. Péter Szirák lehrt am Lehrstuhl für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Debrecen; Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft; Publikationen: „Im Sog des Schrifttextes. Der literalistic turn in der ungarischen Nachmoderne ab 1960/1970“, in: Ernő Kulcsár Szabó (Hg.), Geschichte der ungarischen Literatur. Eine historisch-poetologische Darstellung, Berlin/ Boston 2013; „Ungarische Reiseliteratur in der Zwischenkriegszeit (Lőrinc Szabó, László Németh, Dezső Kosztolányi und Sándor Márai)“, in: Berliner Beiträge zur Hungarologie 16, Berlin 2011; „A Grotesque Allegory of Human Dignity. István Örkény: Welcoming the Major“, in: Kamila Cerná et al. (Hg.), Visegrad Drama III.: The Sixties, Prag 2009.
Personenregister Adorno, Theodor W. 31, 44, 51, 55–56, 110, 384 Ady, Endre 17, 19, 36 ,38, 107, 259, 261 Ahn, Thomas von 43–46 Aleksandrov, Grigori 375, 379 Alkidamas 270 Althusser, Louis 325 Anderson, Benedict 370 Andreas-Salomé, Lou 332 Andriopoulos, Stefan 336 Angyalosi, Gergely 259 Arany, János 19, 24, 31 Aristoteles 62, 83 271, 284 Asbóth, János 25 Assmann, Aleida 271, 363 Augustinus 60–62, 271-274, 291–293, 297 Avenarius, Richard 32 Babits, Mihály 22, 32–34, 36, 60–92, 227–234, 237, 241, 245 357–359 Bacsó, Béla 98, 114, 133–134, 144, 179 Baecker, Dirk 127–128, 203 Bahr, Hermann 17, 19, 21, 30–31, 38–39 Balázs, Béla 11, 13–15, 19, 27, 48 , 91, 151, 179, 231, 297, 302, 355–365, 369–383, 386, 388–389 Baldensperger, Fernand 231 Bálint, Michael 324 Balogh, József ( Joseph) 13, 263–264, 271–275, 283, 285, 291–293, 296–297, 300, 302 Baraduc, Hippolyte 338, 340–341 Barta, János 227–228, 231, 233–234 Battaglia, Debbora 165–166 Baudelaire, Charles 35, 38, 49, 122, 137, 151, 160–162, 165, 172, 377 Bauer, Erwin 25 Beer-Hofmann, Richard 75–76, 79–80 Belting, Hans 167 Bendl, Júlia 46 Benjamin, Walter 15, 39–40, 110, 122, 137, 156, 160, 165, 169, 377, 384, 388 Benn, Gottfried 17, 38, 176
Bergson, Henri 27, 32–34, 47–48, 65, 69, 77, 82–84, 151, 153, 156, 160, 223–224, 231, 357, 375 Bernheim, Ernst 239 Bertalanffy, Ludwig von 180 Bitsch, Annette 331, 333 Bloch, Ernst 96, 99, 101 Block, Marc 319 Blumenberg, Hans 25, 122, 350, 360 Bodnár, István 263 Bohrer, Karl Heinz 56, 148 Bolzano, Bernard 291 Bormuth, Matthias 113 Bratu Hansen, Miriam 384 Broch, Hermann 168 Bultmann, Rudolf 237–328 Bürger, Peter 110 Butler, Judith 46, 52, 55, 100, 117, 119, 122, 124 Calinescu, Matei 168 Canetti, Elias 367–369 Carruthers, Mary J. 274 Cassirer, Ernst 166, 180 Cerny, Lothar 41 Cézanne, Paul 166–167 Christian, David 343 Crary, Jonathan 32 Croce, Benedetto 83–84, 151–152, 161, 171 Darwin, Charles 324, 342–343, 346, 348, 350 De Landa, Manuel 349–350 de Man, Paul 126, 141, 161–162, 165, 173 Deleuze, Gilles 34, 338–339, 374 Demeter, Tamás 10–11, 263, 271 Derrida, Jacques 25, 82, 127, 138, 156– 157, 159–166, 331 Descartes, René 84, 290 Despoix, Pierre 115, 118, 125 Didi-Huberman, Georges 340–341 Dienes, Valéria 224 Dilthey, Wilhelm 47–48, 62, 70, 109, 160, 222–223, 230, 234–234, 237–240, 308
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Dostojewski, Fjodor 99, 107–109 Dowbiggin, Ian 337 Droysen, Johann Gustav 239 Dukes, Paul 327 Dyson, George 343 Eagleton, Terry 113, 122, 126 Eckermann, Johann Peter 252 Eisenstein, Elisabeth 307 Eisenstein, Sergei 375, 379, 383 Ernst, Paul 118, Esterházy, Miklós 306 Esterházy, Pál 306 Fehér, Ferenc 103–104 Fehér, István M. 10, 12, 93, 105, 115, 118, 125, 144, 229, 238 Fejérpataky, László 303–304 Ferenczi, Sándor 13–14, 323–353 Fichte, Johann Gottlieb 98 Figal, Günter 28, 34, 39, 102, 162 Fischer, Joachim 104 Fischer, Kuno 86 Fließ, Wilhelm 323–324, 332 Fogarasi, Béla (Adalbert) 13, 113, 129, 142, 151, 227, 231–241 Foley, John Miles 285 Fowler, Robert 280 Frank, Tibor 302 Freud, Sigmund 13, 27, 30, 32, 140, 151, 153, 159–160, 162–163, 172, 323–327, 329–331, 333–339, 341–347, 382 Freyer, Hans 317 Fülep, Lajos 12–12, 113, 146–177, 179 Füzi, Izabella 15 Gabrys, Jenifer 348 Gadamer, Hans-Georg 29, 64–65, 69, 79, 87, 131, 135–136, 147–148, 157, 159–160, 215–216, 221–222, 236 Gál, István 228 Garborg, Arne 26 Gaudreault, André 315 Gecsei, Kolos 142 Gehlen, Arnold 14, 25, 176 George, Stefan 45, 75, 80, 118, 120 Gershenowitz, Harry 342–343 Gervinus, Georg Gottfried 215 Gigante, Denise 41 Gille, Bertrand 372
Glatz, Ferenc 303–304, 311 Goethe, Johann Wolfgang von 70, 108, 160, 248, 251–254 Goldmann, Lucien 90, 93, 115 Goody, Jack 282, 310 Gould, Stephen Jay 342, 349–351 Grauer, Michael 105–106 Guattari, Félix 338–339, 349, 352 Gumbrecht, Hans Ulrich 11, 115, 268 Gyergyai, Albert 26 Gyimesi, Júlia 331 György, Péter 276 Gyulai, Pál 37, 248 Habermas, Jürgen 31, 370 Hacking, Ian 299 Hajdú, Helga 297 Hajnal, István 11–14, 245, 263, 287, 294–298, 301–321 Halász, Előd 249, 252 Halász, Gábor 25, 37 Halász, Hajnalka 11, 134 Hamacher, Werner 148 Hamsun, Knut 26 Hamvas, Béla 320 Hansági, Ágnes 13, 129, 142 Hansson, Ola 26 Harmat, Pál 325, 332 Harnack, Adolf von 78 Harrison, Robert Pogue 57 Harrison, Thomas 47–48 Hart, Heinrich 21–22, 30 Hart, Julius 21–22, 30 Haslam, Michael 283 Hauser, Arnold 11, 113, 149, 151, 231 Havelock, Eric 282, 285, 307 Haverkamp, Anselm 160 Haynal, André 332 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 9, 28, 35, 59, 84, 88, 102, 109, 116, 124, 129–130, 135–136, 148, 168, 170, 221–222 Heidegger, Martin 17, 59, 61–63, 69, 78, 83–84, 86–87, 89–91, 93, 105–106, 115, 118, 144, 166, 174, 216–217, 224–225, 320–321 Heider, Fritz 205–206 Hein, Matthias 356 Heller, Ágnes 99
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Helmholtz, Hermann von 30 Hendrickson, George Lincoln 275 Herder, Johann Gottfried 141, 298 Hertz, Garnet 348 Hertz, Heinrich 32 Hévizi, Ottó 97 Hofmannsthal, Hugo von 9, 21, 29–30, 35, 76, 168 Hóman, Bálint 256, 307 Horn, Eva 348 Hornyánszky, Gyula 264–271, 285 Horváth, János 228, 243–261, 272 Husserl, Edmund 51, 62–64, 87, 153, 161–162, 186–187, 291 Ibsen, Henrik 26 Ignotus 19–22, 31, 35–36, 60, 259 Innis, Harold A. 307, 310 Jakobson, Roman 234–235 James, William 27 Janko, Richard 279–280 Jaspers, Karl 87, 96, 113, 224 Jauß, Hans Robert 35, 38, 126, 132, 249 Jonsson, Stefan 368 Joyce, James 122 József, Attila 64 Jung, C.G. 323 Jung, Werner 104, 108–109 Kabdebó, Lóránt 22 Kafka, Franz 26 Kallós, Ede 297 Kant, Immanuel 60, 66, 69, 84, 107, 128, 130, 161, 171, 222, 231, Karádi, Éva 179, 231–232 Kassák, Lajos 26 Kassner, Rudolf 70, 75, 80, 125 Katona, József 247 Kaube, Jürgen 42–44, 50, 56–57 Kavoulakos, Konstantinos 94, 106 Kelemen, János 171 Kelemen, Pál 41 Kelevéz, Ágnes 228 Kenyeres, Zoltán 25, 243, 248 Kerekes, Amália 41, 47, 359 Kerényi, Karl (Károly) 297, 307, 320 Kierkegaard, Søren 46, 75, 80, 97, 104, 106, 111, 121 Kiesel, Helmuth 27, 38
Kiss, József 19 Kittler, Friedrich 9, 14, 28, 124, 137, 140, 285, 333, 337, 351, 363 Klebelsberg, Kunó 306 Knox, Bernard M.W. 273–275 Koch, Gertrud 370 Komlós, Aladár 19 Kondor, Zsuzsanna 314, 319 Koopmann, Helmut 37, 35 Kosztolánczy, Tibor 20, 35 Kosztolányi, Dezső 32 Kovács, Béla Lóránt 272, 296 Kovács, Gábor 317, 319–320 Kraam, Abdullah 337 Kracauer, Siegfried 15, 365, 369–373, 383–389 Kraepelin, Emil 168, 337 Krudy, Gyula 29 Kuhn, Thomas S. 227, 316 Kulcsár Szabó, Ernő 9–10, 174, 215–216, 263 Kulcsár-Szabó, Zoltán 10, 13, 228 Kusch, Martin 290 Lacan, Jacques 324, 329, 336–337, 343– 346, 349 Laczkó, Géza 24, 27 Lakatos, László 303, 309, 312–315, 321 Lamarck, Jean-Baptiste de 324, 342–352 Lamarre, Thomas 352 Lánczi, Jenő 27 Lang, Fritz 378 Lask, Emil 89, 109, 120, 144, 221, 231 Latour, Bruno 350 Laube, Reinhard 12, 114, 116, 129, 131 Le Bon, Gustave 265, 367, 369, 379, 382 Lénárt, Tamás 15 Lengyel, Béla 251 Lengyel, Géza 38 Leroi-Gourhan, André 14, 349 Lipps, Hans 139, 141, 149–150 Liu, Lydia H. 334 Loewy, Hanno 356 Lord, Albert B. 279, 285 Löwy, Michael 110 Luckhardt, Ute 103, 109 Luckhurst, Roger 331, 336
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Luhmann, Niklas 11, 116, 126, 128, 130, 134, 138–141, 143, 149, 181, 202–211, 258 Lukács, Georg (György) 11–12, 23, 27, 41–58, 66–83, 85–101, 103–111, 113–127, 129, 131–132, 135–136, 139, 144, 148–149, 151, 171, 177, 179, 215, 217–225, 229, 231–232, 238, 241, 250, 252, 254, 355, 357–359 Lukacs, John 23 Luther, Martin 252 Mach, Ernst 17, 27, 32–33, 324–330, 332, 338, 342–343, 346, 349–352 Maier, Heinrich 89 Maksa, Gyula 315 Malinowski, Bronislaw 298, 309 Mann, Thomas 26 Mannheim, Karl 11–13, 113–114, 116, 129, 131, 139, 146, 151, 179 , 231–232 Marion, Philippe 315 Márkus, György 94, 98, 100, 103–104, 109–110, 115, 122, 149 Marót, Károly 264, 276–285 Marsovszky, Miklós 389 Marx, Karl 60, 95, 102, 157, 232, 383 Maturana, Humberto R. 258 McLuhan, Marshall 282, 307 Meyer, Eduard 237 Mieses, Mathias 306 Misch, Georg 61–62, 89 Mitchell, W. J. T. 164 Monet, Claude 167 Morus, Thomas 60 Müller, Hans-Harald 43–46 Müller, Klaus 180 Musil, Robert 9 Nagy, Sándor Kálmán 227 Natorp, Paul 78 Németh, Béla G. 22, 37 Németh, László 33, 320–321 Neumer, Katalin 263, 274, 284 Nietzsche, Friedrich 14, 27–29, 32–34, 39, 129, 133–135, 137–139, 151, 157, 166, 170, 172–176, 217, 272, 293, 298, 301 Norden, Eduard 272–273, 298 Nottmeier, Christian 78 Novalis 75, 80–81, 104, 108, 120
Nyíri, Kristóf ( Janos Cristof ) 10–11, 95, 99, 107, 263, 290, 299–300, 307, 309–310, 316 Ong, Walter J. 279, 282, 299, 307 Palágyi, Melchior (Menyhért) 13–14, 263, 288–291, 295–296, 298, 301–302 Pálos, Elma 332 Pappenheim, Berta 332 Pareyson, Luigi 120 Parikka, Jussi 338–340, 348, 350–351 Parr, Alan 339 Parry, Milman 279, 285, 298, 309 Patočka, Jan 90 Pázmány, Péter 252 Peters, John Durham 336 Petersen, Julius 231 Petőfi, Sándor 248, 254 Pettman, Dominic 347 Phillips, Paula 337 Plessner, Helmuth 14, 29, 104 Pöhlmann, Egert 285 Polanyi, Michael (Mihály) 11–14, 142, 316 Popper, Karl 84 Popper, Leo 44, 46, 47, 96, 115–118, 124–126, 132, 139, 168–169, 174 Poszler, György 248–250, 256, 259 Powell, Barry B. 280, 285 Pucci, Pietro 285 Rába, György 22, 228 Radnóti, Sándor 101 Raman, Varadaraja V. 333 Rancière, Jacques 149 Rank, Otto 323 Ransmayr, Christoph 7 Reichel, Michael 280 Reinhardt, Max 24 Rheinberger, Hans-Jörg 326 Rickert, Heinrich 230, 233, 238 Riedel, Manfred 130 Rieger, Stefan 14 Rilke, Rainer Maria 9, 177 Ritoók, Zsigmond 270, 283– 284 Rösler, Wolfgang 271, 284 Roudinesco, Élisabeth 184, 333 Rousseau, Jean-Jacques 27, 60, 298 Sárdy, Jánosné 228
Personenregister |
Sartre, Jean-Paul 78, 82, 96, 391 Saussure, Ferdinand de 140, 145 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 84, 86, 88–89 Scherer, Wilhelm 248–249, 256 Schlaffer, Heinz 42 Schmitt, Carl 12, 105 Schnitzler, Arthur 76 Schopenhauer, Arthur 47, 358, 360 Schöpflin, Aladár 24 Schücking, Levin L. 249–250, 254 Schürmann, Eva 360 Schwabl, Hans 280 Schwartz, Hillel 165, 168 Sconce, Jeffrey 339–340 Seidler, Irma 46–48, 50, 99 Simmel, Georg 45, 78, 94–95, 101–103, 108–109, 118, 120, 122, 125, 137, 166, 169, 220–221, 231, 357–358, 373 Simon, Attila 13, 292 Simondon, Gilbert 352 Sloterdijk, Peter 365 Smith, Barry 130 Spencer, Herbert 265, 328, 342 Spencer-Brown, George 202, 204 Spengler, Oswald 298, 308–309 Spranger, Eduard 308 Sterne, Lawrence 45, 75, 80, 122, 124 Stiegler, Bernard 327 Strindberg, August 26 Svenbro, Jesper 274 Svevo, Italo 26 Szabó, Dezső 22, 27 Szabó, Lőrinc 228 Szabolcsi, Mikós 26, 33, 37 Szász, Ferenc 229 Szegedy-Maszák, Mihály 11 Szekfű, Gyula 307 Szilasi, Wilhelm (Vilmos) 62–64, 113 Szili, József 244 Szinyei Merse, Pál 167 Szirák, Péter 11, 168, 263, 296 Szondi, Péter 95 Taine, Hippolyte 230, 233 Tausk, Victor 338–340, 348
Taylor, Charles 369–370 Teleki, Pál 306–307 Thacker, Eugene 324, 334, 340, 347 Theunissen, Michael 111 Thienemann, Theodor (Tivadar) 13, 227– 228, 243, 248–260, 263, 272, 283, 297 Thouard, Denis 95, 102 Tolnai, Vilmos 227 Tolnay, Charles de 151 Tolstoi, Lew 108–109 Troeltsch, Ernst 78 Tsagarakis, Odysseus 280 Vaihinger, Hans 32 Vajda, Mihály 93 Valéry, Paul 278–279 Varela, Francisco L. 258 Várkonyi, Nándor 297 Vattimo, Gianni 41 Verlaine, Paul 22 Vierkand, Alfred 308, 311 Vietta, Silvio 40 Vörösmarty, Mihály 368 Wagner, Richard 28, 39, 251 Walzel, Oskar 256 Watt, Ian 282 Weber, Max 25, 77, 89, 95–96, 109, 166, 294, 311–313 Wegener, Mai 336 Weinert, Friedel 343, 346 Wessely, Anna 139 West, Martin L. 280, 283 Whitman, Cedrik H. 279 Wiener, Norbert 344 Williams, Raymond 367–368 Wolff, Eugen 21–23, 30–31, 33 Woolf, Virginia 122 Wunberg, Gotthart 20–21 Young, Julian 78 Zalai, Béla 11–14, 113–114, 120, 123, 127–147, 149–151, 170, 179–195, 198–205, 207–210, 212–213, 231 Zielinski, Siegfried 338, 349, 350 Zolnai, Béla 263, 272, 296–298, 301–302, 304, 306, 308 Zweig, Stefan 23–24, 38–39
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WILLIAM M. JOHNSTON
ZUR KULTURGESCHICHTE ÖSTERREICHS UND UNGARNS 1890–1938 AUF DER SUCHE NACH VERBORGENEN GEMEINSAMKEITEN AUS DEM ENGLISCHEN VON OTMAR BINDER (STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG, BAND 110)
Österreich und Ungarn generierten nicht nur nationale Kulturen, sondern auch eine bisher unterbewertete „Reichskultur“, die ihren Niederschlag in Literatur, Operette, Architektur, Design und Psychoanalyse fand. William M. Johnston bietet anhand seiner profunden Recherche literarischer Quellen eine neue Sichtweise auf die Zeit der Doppelmonarchie und deren Nachfolgestaaten. Auf bauend auf seinen Standardwerken Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte und Der österreichische Mensch untersucht William M. Johnston in seinem neuen Werk Denkmodelle, die die kulturelle Konkurrenz zwischen Wien und Budapest in der Spätphase der Doppelmonarchie beleuchten. Er bedient sich dazu neuer Leitbegriffe, die entweder noch weitgehend unbekannt sind (Virgil Nemoianus „mitteleuropäische Lernethik“, Peter Weibels „dritte Kultur der Wissenschaft als Kunst“) oder die, wie das „Unklassifi zierbare“, neu konzipiert wurden. Gemeinplätze wie „Wien 1900“ oder „Budapest 1905“ werden aus drei Blickwinkeln untersucht: dem österreichischen, dem ungarischen und jenem der Doppelmonarchie. 2015. 328 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79541-4
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