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German Pages 252 Year 2018
Alice Lagaay, Anna Seitz (Hg.) WISSEN FORMEN
Theater | Band 102
Alice Lagaay, Anna Seitz (Hg.)
WISSEN FORMEN Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. Erkundungen mit dem Theater der Versammlung
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: © Frank Pusch 2013 Lektorat: Carolin Bebek, Alice Lagaay, Simon Makhali, Anna Seitz Korrektorat: Caroline Gutberlet Satz: Bianca Holtschke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3964-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3964-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Festschrift für Jörg Holkenbrink
Inhalt Einleitung Alice Lagaay & Anna Seitz Wissen Formen – Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst – Einleitung der Herausgeberinnen | 11
PROLOG Jörg Holkenbrink berichtet Lügen unter Wahrheitssuchern – Gedanken zu Papieren und Aktionen | 21
AKT I … zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst Alice Lagaay in dialogue with Jörg Holkenbrink Performance in Philosophy/Philosophy in Performance: How Performative Practices Can Enhance and Challenge the Teaching of Theory | 27 Carolin Bebek Vom Innern und vom Äußern – Eine Bildungswissenschaftlerin und Performerin wandert zwischen den Welten | 37 Simon Makhali Klick im Kopf – Ein Performer und Dramaturg hört auf innere Stimmen und spricht in Zitaten seiner Rollen | 51
Peter Sinapius „Being in Uncertainties“ – Über eine Didaktik des unverfügbaren Wissens | 55 Maria Peters Performative Ereignisformen in der Kunstpädagogik | 67 Frieder Nake Ein Tanz zwischen Stühlen und Tischen – Betrachtung vor Informatik-Hintergrund | 75 Johanna Maj Schmidt Kopfsprünge. Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit — Ein Brief | 83
AKT II … zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst Anna Seitz im Dialog mit Jörg Holkenbrink Auf dem Spielfeld der Formate – Zur Entwicklung ästhetischer Sensibilitäten in der Welt der Wissenschaft | 91 Carolin Bebek, Jörg Holkenbrink, Alice Koubová, Alice Lagaay, Simon Makhali, Anna Seitz The Conference as Performance. Manifesto for “How does Performance Philosophy act? – Ethos, Ethics, Ethnography” | 103 Frank Pusch TSCHECHOW – Eine Landpartie. Performance als Feldforschung/Feldforschung als Performance | 107 Guido Becke Reflexive Subjektivität in vermarktlichten Arbeitsorganisationen – Zum Aufklärungspotenzial von Performance Studies | 113 Marion Bönnighausen & Philipp Kamps Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen | 125
Elisabeth Arend Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft | 139 Doris Ingrisch & Katharina Weinhuber Pas de trois – Ein Sich-Bewegen im Möglichkeitsraum | 151
AKT III … zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst Heidi Schelhowe im Dialog mit Jörg Holkenbrink Am seidenen Faden – Inszenieren im Bestattungsinstitut | 173 Malina Günzel, Annika Port & Anne Storm Schicksal spielen – Die Parzen zu Gast im Trauerraum | 179 Thomas Kleinspehn Performance, Rituale, Wissenschaft und Sinne – Notizen zum Sehen anlässlich der Performance-Abende des Theaters der Versammlung im Rahmen der Sonderausstellung „Sie. Selbst. Nackt. – Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt“ | 191 Anke Euler & Helge Letonja Tanz der Erinnerung – Performative Nach(t)gespräche des Theaters der Versammlung als Schlüssel zum leiblichen Verstehen im Tanz | 201 Joachim Heintz speisen mit dem menschenfeind – erinnerung an eine produktion | 209 Tobias Winter Theater-Produktion als modellhafte Konstitution von Gesellschaft | 213 Florian Ackermann, Mobile Albania, Quast & Knoblich: Blockflötenorchester und Nagelstudios – Die Theater der Versammlung von Mobile Albania und Quast & Knoblich | 225
EPILOG Jörg Holkenbrink berichtet Das Mo(b)bile | 235 Zu den Herausgeberinnen, Jubilaren und Autor*innen | 239 Bildnachweise | 249
Wissen Formen Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst Einleitung der Herausgeberinnen
„Was passiert, wenn die Sprache der Wissenschaften auf die Sprache der performativen Künste trifft?“ „Welche Zusammenhänge können wir herstellen, um Menschen, die gewohnt sind, über Sachverhalte nachzudenken, durch künstlerische Strategien in ungewohnte Sachverhalte zu verstricken, über die sie dann anschließend neu wieder nachdenken?“ „Welche Formen der öffentlichen Inszenierung, Darstellung und Versammlung laden dazu ein, sich auf die Produktivität der Fremdheit im Umgang mit Gegenständen und Situationen, mit anderen und mit sich selbst einzulassen?“ „Wie können Strategien und Methoden performativer Forschung in Studien- und Ausbildungsgänge unterschiedlicher Fachrichtung integriert werden?“1
1 | Diese und ähnliche Fragen leiten Jörg Holkenbrink und das von ihm erfundene Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst seit den 1990er Jahren. Siehe auch: http://www.tdv.uni-bremen.de.
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Heute ist die Begegnung mit dem Fremden in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zum Thema geworden. Fremde Menschen kommen in ihnen fremde Länder, worauf manche Alteingesessene in diesen Ländern befremdlich reagieren. Sogenannte „Filterblasen“ im Internet verhindern oder erschweren zumindest die Begegnung mit dem Unbekannten, und das Begegnen selbst droht im Zeitalter der Beschleunigung und des Digitalismus zu etwas Fremdem zu werden. Gleichzeitig ist in Wissenschaft und Kunst „Interdisziplinarität“ als die Begegnung mit oder der Austausch von etwas Fremdem zur gefragten Maxime geworden. Künstlerische wie wissenschaftliche Projekte müssen häufig einen interdisziplinären Anspruch betonen, um Finanzierungen zu erhalten, was möglicherweise einen der Gründe für die rasant gestiegene Anzahl von inter- und transdisziplinären Kooperationen darstellt. Der Gedanke dahinter ist zweifellos berechtigt und kann als eine Reaktion auf den Umstand betrachtet werden, dass die einzelnen Disziplinen sich womöglich allzu lange voneinander abgeschottet haben. Denn obgleich wir in Zeiten der Vernetzung leben, ist es in vielen Disziplinen, und mitunter sogar deren Unterdisziplinen, häufig der Fall, dass ihre Vertreter*innen kaum wissen, was die anderen jeweils tun, selbst wenn sie im selben oder einem verwandten Themenbereich tätig sind. Es ist deshalb eine Trendwende zu begrüßen, die nahelegt, dass auch Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen an gemeinsamen Themen arbeiten und ihre Perspektiven und Forschungsansätze miteinander in Austausch bringen. Der Gedanke der Interdisziplinarität verlangt also nach einer neuen Dialogkultur innerhalb der Institutionen, aber auch über die Institutionsgrenzen hinaus, welche zum einen auf Synergieeffekte zwischen den Dialogpartner*innen abzielt, aber auch darauf, das Abtauchen im eigenen Mikrokosmos zu bremsen. Wo eine solche Dialogkultur glückte, wurden in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Fortschritte im Sinne einer solchen Trendwende erzielt. Doch wer je in einem interdisziplinären Zusammenhang tätig war, weiß auch, dass eine solche Dialogkultur zu initiieren keine leichte Aufgabe darstellt. Die Besonderheiten jeder einzelnen Disziplin in Bezug auf ihre Sprache, ihre Methoden, ihre Diskurse, ihren Habitus und auch ihre Ziele sind häufig so disparat, dass es großer Anstrengungen und Übersetzungsleistungen bedarf, um überhaupt die Ausgangsposition für einen inhaltlichen Austausch zu erreichen. Oft sind zudem die institutionellen Rahmenbedingungen für derartige Übersetzungsvorgänge widrig gestaltet, und es fehlt an Orientierungen für die konkrete praktische Umsetzung solcher Transfers. Die traurige Folge kann dann leider durchaus darin bestehen, dass die Interdisziplinarität nur noch pro forma als leeres Versprechen auf dem Papier existiert. Grenzüberschreitungen zu meistern, ist dabei schon innerhalb der verschiedenen Wissenschafts- oder Kunstformen ein Herkules-Akt und erst recht, wenn es zu einem Austausch zwischen Bereichen wie Bildung, Wissenschaft und Kunst kommen will. Jede dieser Welten folgt einer eigenen Logik, einer eigenen Performanz und eigenen Wertesystemen, die mitunter im Widerspruch zueinander stehen. Und
Einleitung
doch gibt es eben auch gemeinsame Aufgaben in Bezug auf gesellschaftliche, ökonomische, ökologische oder globale Entwicklungen, bei denen es unbedingt wünschenswert wäre, die unterschiedlichen Bereiche darüber im Dialog zu wissen. Ein solcher Dialog müsste im besten Fall die Herausforderung bewältigen, die jeweiligen Dialogpartner*innen in ihrer Verschiedenartigkeit wertzuschätzen und gleichzeitig so aufeinander einzugehen, dass die schwierigen Übersetzungsleistungen einen Austausch auf Augenhöhe zulassen. Es müsste ein Raum für Gemeinsamkeiten geschaffen werden, ohne gleich Fusionsbefürchtungen aufkommen zu lassen. Man könnte sagen, es bedarf hier so etwas wie einer Einladung zur differenzbewussten Grenzüberschreitung. Die Arbeitsweise am Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS) und am angeschlossenen Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) kann hier als wegweisend betrachtet werden. Theater ist als Kunstform per se interdisziplinär, es entsteht ja erst aus der Kombination und durch die wechselseitige Bezugnahme verschiedener Disziplinen. Von diesem Umstand ausgehend, hat es sich das TdV als künstlerische Einrichtung innerhalb einer wissenschaftlichen Institution zur Aufgabe gemacht, Wege differenzbewusster Grenzüberschreitungen zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst zu suchen und begehbar zu machen. Es agiert bereits seit den 1990er Jahren, also noch bevor Interdisziplinarität zum Modebegriff wurde, an diesen Schnittstellen und untersucht als eines der ersten Forschungstheater in Deutschland, welche neuen Theaterformen geeignet sind, eine interdisziplinäre Dialogkultur innerhalb und außerhalb der Institutionen zu initiieren, ohne den künstlerischen Anspruch an die Theaterarbeit aufzugeben. Das Theater wurde 1992 von Jörg Holkenbrink im Rahmen eines Modellversuchs der Bund-Länder-Kommission für Bildungsfragen erfunden. Bereits im folgenden Jahr erhielt es den Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation im Hochschulbereich, 2001 wurde seine Verstetigung als Herzstück des ZPS an der Universität Bremen beschlossen. Das Konzept ist so simpel wie brillant: Studierende und Dozent*innen verschiedener Fachrichtungen kooperieren mit professionellen Aufführungskünstler*innen verschiedener Sparten und bringen die Unterschiedlichkeit ihrer Perspektiven und Herangehensweisen miteinander in Dialog. Das Ensemble wandert von den Arbeitswissenschaften über die Informatik und Produktionstechnik bis zu den Bildungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften durch die verschiedenen Fachbereiche. Dort untersucht es Themen und Fragestellungen, die in den Seminaren theoretisch behandelt werden, mit den Mitteln der Performance. Die einzelnen Fachbereiche können eine Mitgliedschaft im ZPS beschließen und dann in Abstimmung mit dem TdV Teile ihrer wissenschaftlichen Forschung und Lehre mit der performativen Forschung in Beziehung setzen, um so neue Sichtweisen auf ihre Fragestellungen zu generieren. Umgekehrt entwickelt das TdV im Rahmen dieser Zusammenarbeit seine Inszenierungen, die regional, überregional und international aufgeführt und diskutiert werden. Die neuen Er-
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kenntnisse werden anschließend wieder in universitäre Arbeitszusammenhänge integriert und vice versa, so dass hier Dialogketten zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst entstehen, die sich wechselseitig anregen und befruchten. Damit nimmt das TdV den derzeitigen Trend in der Freien Szene wie auch an Stadt- und Staatstheatern vorweg, theoretische Inhalte performativ mit und für Publikum erfahrbar zu machen, und bereichert ihn mit einer besonders flexiblen und kontextorientierten Variante. So wird auch innerhalb des Ensembles neben der künstlerischen eine weitere Berufsausübung ausdrücklich begrüßt. Der amerikanische Regisseur, Professor und Mitbegründer der Performance Studies Richard Schechner beschreibt in seinen Schriften zur Theateranthropologie eine Fülle von Theaterzusammenhängen, in denen die Aufführungskünstler*innen einen zweiten oder dritten Beruf haben, „was nicht heißen soll, dass sie als Darsteller Amateure seien, eher das Gegenteil, denn die lebendige Beziehung zu einer Gemeinschaft kann alle Aspekte der Kunst vertiefen. Die flexible Behandlung von Zeit und Raum – die Fähigkeit, einen gegebenen Raum durch das Können der Darsteller, nicht durch die Illusionsmittel der Bühne, in viele verschiedene Räume zu verwandeln – geht Hand in Hand mit einer flexiblen Auffassung von Charakter (Rollendopplung, Rollenwechsel) und einem engen Kontakt zum Publikum“2. Das Engagieren von sog. „Expert*innen des Alltags“ oder wissenschaftlichen Berater*innen für Produktionen wird so in vielen Fällen obsolet, sie finden sich bereits als Dialogpartner*innen im Ensemble wieder. Die Bremer Performance Studies bilden für diese untersuchende und intervenierende Form der Theaterarbeit aus. Sie orientieren sich dabei als einziger Ausbildungszusammenhang einer deutschen Hochschule an der ursprünglichen Maxime Schechners, nämlich der komplexen Verbindung von Theorie und Praxis einer Vielfalt von unterschiedlichen Disziplinen im Rahmen performativer Forschung, im Gegensatz zu einer primär theaterwissenschaftlichen Ausrichtung (mit theaterpraktischen Anteilen) oder einer primär theaterpraktischen Ausbildung (mit theatertheoretischen Anteilen). Dieser Richtlinie folgend, können die künstlerisch ausgerichteten Performance Studies in Bremen programmatisch nur in Kombination mit einem wissenschaftlichen Studiengang unterschiedlicher Fachrichtung studiert werden und nicht als isolierter Master. Dieselbe verbindende Programmatik gilt auch für die inner- und außeruniversitären Aufführungen des TdV, die stets aus dem unmittelbaren Erleben in der performativen Situation und den anschließenden gemeinsamen Reflexionen darüber mit allen Beteiligten bestehen. Jörg Holkenbrink ist Künstlerischer Leiter des ZPS und des ihm angeschlossenen TdV. Der besondere Charakter dieses Zentrums als einem Zentrum der Fachbereiche ermöglicht hier die tatsächlich interdisziplinäre Auseinandersetzung, die auch die Arbeitsweise etlicher Wissenschaftler*innen und Künstler*innen produktiv beeinflusst hat. 2 | Schechner, Richard (1990): Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 127.
Einleitung
In dieser Festschrift für Jörg Holkenbrink zum 25-jährigen Jubiläum des Theaters der Versammlung werden Einblicke und Ausblicke von kooperierenden Wissenschaftler*innen und Künstler*innen zusammengetragen und die Fruchtbarkeit ihrer wechselseitigen Bezugnahmen beispielhaft aufgezeigt. Gleichzeitig möchten wir Weggefährt*innen aus Bildung, Wissenschaft und Kunst die Gelegenheit geben, ihre Stimmen zu versammeln als optimistisches Plädoyer für das, was in den Institutionen möglich ist. Der Band möchte so auch ein Zeichen setzen gegen die Verarmung der Vielfalt der Formate in der akademischen Welt. Uns scheint hier ein bedenklicher Widerspruch zwischen dem wachsenden inhaltlichen Interesse am Performativen und der Performanz der Institutionen zu bestehen. Die dialogische Maxime des TdV stellt dem Trend zur schieren Wissensreproduktion dabei das Ideal der gemeinsamen Generierung inter- und transdiziplinären Wissens gegenüber und schöpft aus einem reichen Erfahrungsschatz in der konkreten Gestaltung solcher Begegnungen. Hierin findet sich Orientierung in Bezug auf die Rahmenbedingungen, die Zeitlichkeit, den Ethos und den Ton solcher Austauschprozesse, die in den Institutionen oft erst hergestellt werden müssen. Wo häufig die Ergebnisorientiertheit im Vordergrund steht, steht das TdV für die Maxime des Prozesshaften, sowohl in seiner Zeitlichkeit als auch auf der Beziehungsebene. Denn inmitten stark wirkender gesellschaftlicher Zentrifugalkräfte ist es Holkenbrink und dem TdV gelungen, langjährige Beziehungs- und Arbeitszusammenhänge zu gestalten, deren Qualität in unserer Zeit zunehmend abgebrochener Anfänge außergewöhnlich zu nennen ist. Der Band versammelt Vertreter*innen von 21 verschiedenen Disziplinen. Die Vielstimmigkeit dieser Versammlung steht dabei im Zeichen der Multiperspektivität, die wir der wissenschaftlichen Maxime einstimmiger Objektivität zur Seite stellen möchten. Diese Vielfalt bildet sich nicht nur in den unterschiedlichen inhaltlichen Perspektiven auf die Dimensionen von Performativität ab, sondern gestaltet sich auch in ihren Darstellungsformen divers. So haben wir beispielsweise entschieden, weder Gender- noch Zitierweisen anzugleichen, um hier auch in Details eine Diversität offenzulegen, die normalerweise verborgen bleibt. Diesem Prinzip folgend, ist es auch möglich, das Buch in unterschiedlichen Lesemodi zu rezipieren, zum einen in der traditionell eher wissenschaftlich assoziierten, linearen Weise, zum anderen in der eher künstlerisch assoziierten Weise des emergenten Querdenkens, wozu Markierungen in den Beiträgen einladen. Unser Anliegen ist es nicht, die heterogenen Erscheinungsformen und Logiken der Beiträge zu vereinheitlichen, zu nivellieren und damit zu glätten und zu beschneiden, sondern sie in und als Diversität zu präsentieren und darin unsere gleichwertige Anerkennung und Wertschätzung pluraler Wissensformen auszudrücken, im Bestreben, einen bescheidenen Beitrag zu ihrer Enthierarchisierung zu liefern. Der Titel „Wissen Formen – Performative Akte zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst“ versteht sich dabei gleichermaßen als Arbeitsbeschreibung der Aktivitäten des TdV und als Appell an uns alle: Es gilt, das Wissen zu formen, in und
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als Ausdruck der Wertschätzung gegenüber den unterschiedlichen Wissensformen. Der Ausdruck „performative Akte“ spielt hier neben seiner gängigen Bedeutung auch auf den Aspekt der Nacktheit bzw. der Verletzlichkeit an: „Wenn unterschiedliche Wissenskulturen aufeinander treffen und in Beziehung treten möchten, ist dafür zwingend auch eine psychische Abrüstung nötig, wenn die Begegnung nicht im Kampfgetümmel enden soll“, wie Holkenbrink zu sagen pflegt. Hierin äußert sich eine wohlwollende und neugierige Haltung von Respekt und Aufrichtigkeit gegenüber dem Fremden, die uns in Zeiten der Angst vor dem Anderen als Orientierung für eine Ethik der Begegnung erscheint, indem sie Irritationen als Einladung versteht, sich mit der jeweils anderen (Wissens-)Kultur und den blinden Flecken gegenüber der eigenen auseinanderzusetzen. Das bedeutet immer auch, sich ungeschützt zu zeigen und damit gleichsam ein Vertrauen zu kommunizieren, dessen man sich wechselseitig würdig erweisen muss. So entsteht ein Zwischenraum, in dem sich das Emergente ereignen kann und im besten Fall beide Seiten wachsen lässt. Jörg Holkenbrink und das Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst haben eine überwältigende Zahl solcher Begegnungen gestaltet. Und so versteht sich der vorliegende Band auch als eine Sammlung von Akten im Sinne von Dokumenten dieser performativen Akte oder als performative Intervention in drei Akten. Dieses Buch ist ebenfalls das Ergebnis eines kollektiven Begegnungsprozesses. Unser Dank gilt allen Beitragenden, sowohl denen, die hier mit einem eigenen Text präsent sind, als auch den vielen Freund*innen, Kolleg*innen und Institutionen, mit denen das TdV im Laufe eines Vierteljahrhunderts kooperiert hat und die in ihrem Wirken das Theater und das Zentrum unterstützt, begleitet und mitgestaltet haben. In allererster Linie gebührt dieser Dank den aktuellen und allen ehemaligen Ensemblemitgliedern des Theaters der Versammlung sowie den aktuellen und ehemaligen Studierenden der Performance Studies. Wir danken der Universität Bremen dafür, dass sie die Existenz des Theaters der Versammlung und des Zentrums für Performance Studies ermöglicht, und hier als Mitinitiator*innen und Mitgestalter*innen des ursprünglichen Modellversuchs auch Hartwig Struckmeyer, Anne Kehl und in memoriam Johannes Beck. Beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bedanken wir uns für die materielle Unterstützung dieser Publikation durch „ForstAintegriert – Heterogenität als Potenzial“, ein Projekt im Qualitätspakt Lehre an der Universität Bremen. Für die besondere redaktionelle Unterstützung des Buches, für ihr sorgfältiges Lesen und Wahrnehmen und ihre klugen und mannigfaltigen Anregungen danken wir vor allem Carolin Bebek und Simon Makhali wie auch dem Mitbestimmungs- und Organisationsgremium des ZPS/TdV, dem RoToR. Ebenso danken wir dem Fotografen Frank Pusch, der Grafikdesignerin Bianca Holtschke und der Lektorin Caroline Gutberlet für die sensible Arbeit am Wechselspiel von Form und Inhalt, welches stets von großer Bedeutung für die Aktivitäten des Theaters der Versammlung ist.
Einleitung
Die höchste Anerkennung und Widmung gilt in tiefer Dankbarkeit Jörg Holkenbrink, dessen Wirken als Freund, Regisseur, Forscher und Lehrer in unzähligen Zusammenhängen Inspiration und Orientierung schafft und dessen Alternativsinn uns in seiner vehementen Offenherzigkeit zum Kompass unseres eigenen Lebens und Arbeitens geworden ist. Alice Lagaay und Anna Seitz Bremen, Februar 2018
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Prolog
Jörg Holkenbrink berichtet:
Lügen unter Wahrheitssuchern Gedanken zu Papieren und Aktionen 1
„Werden Institutionen, die einander nicht verstehen können, abrupt miteinander konfrontiert, so entsteht regelmäßig an der Trennstelle ein intelligenter Funke. Er entsteht aus der Not, in die die Kommunikation gerät.“ 2 (Alexander Kluge) „Forschendes Theater muss erlebt werden.“ Diese oder ähnliche Äußerungen stammen oft von Hochschulangehörigen, die praktisch-ästhetischen Ansätzen in theoretischen Arbeitszusammenhängen zuvor eher gleichgültig bis skeptisch gegenüberstanden. Möglicherweise ist bei dem Versuch, Universitäten für künstlerische Strategien zu öffnen, die Überzeugungskraft von Argumenten in Konzeptpapieren begrenzt. Wenn ich zum Beispiel in einem Rundschreiben an wissenschaftlich Lehrende behaupte, dass „in Seminaren durch themenorientierte szenische Aktionen verborgene Apathien aufgespürt und die Beschäftigung mit Inhalten intensiviert werden können“, darf ich selbstverständlich nicht davon ausgehen, dass die Empfänger*innen meines Schreibens dieses überhaupt zur Kenntnis nehmen. Wenn 1 | Überarbeitete Fassung eines Abschnitts aus: Holkenbrink, Jörg (2010): Lügen, Stehlen, Ausbilden. Zur Arbeitsweise des Theaters der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. In: Eberhardt, Ulrike (Hg.): Neue Impulse in der Hochschuldidaktik. Sprach- und Literaturwissenschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 299–308. Ebenfalls in: Bülow-Schramm, Margret; Gipser, Dietlinde; Krohn, Doris (Hg.) (2007): Bühne frei für Forschungstheater. Oldenburg: Paulo Freire Verlag, S. 35–44. 2 | Kluge, Alexander (1985): Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit. In: Bismarck, Klaus; Gaus, Günter; Kluge, Alexander; Sieger, Ferdinand (Hg.): Industrialisierung des Bewußtseins. München: Piper, S. 51–129.
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Jörg Holkenbrink
ich formuliere, dass „performative Verfahren das Vorstellungsvermögen und die Imaginationskraft in Produktionsund Reflexionszusammenhängen stärken können“, muss ich selbstverständlich immer damit rechnen, dass den Adressat*innen ausgerechnet solche Bilder vom Theater im Kopf herumspuken, deren Wirkung auch mein Reflexionsvermögen eher schwächen würde. Und wenn ich für die „Produktivität der Fremdheit im Umgang mit Gegenständen und Situationen, mit anderen und mit sich selbst“ plädiere, kann ich neuerdings auf breite Zustimmung stoßen – verbunden mit der Nachfrage, was denn in diesem Zusammenhang Künstler*innen in einer wissenschaftlichen Einrichtung zu suchen hätten. Es liegt also für ein Theater in Forschung und Lehre eine große Herausforderung zunächst schon einmal darin, Menschen, die gewohnt sind, über Sachverhalte nachzudenken, in ungewohnte Sachverhalte zu verstricken, über die sie dann anschließend neu wieder nachdenken. Dazu kann es hilfreich sein, die Hochschule selbst als ein großes Theater voller Inszenierungen zu betrachten und diese Sichtweise, beispielsweise durch produktives Lügen, zu verbreiten. Als ich vor einigen Semestern an der Universität Bremen für zwei Vorträge in ein mit dem Theater der Versammlung kooperierendes Pädagogikseminar eingeladen worden war, hetzte ich beim ersten Termin aufgrund einer Verspätung mit Riesenschritten auf die neu erbaute gläserne Eingangshalle zu. Diese wurde ganz im Sinne der beschleunigten Studierendenströme mit einer langen Reihe sich automatisch öffnender Türen bestückt. Dummerweise öffnen sich diese Türen nicht immer automatisch, sondern geben den Weg lediglich nach einem von mir bis heute nicht zu durchschauenden Wechselprinzip frei. Jedenfalls wurde an jenem Morgen mein Drang zum vereinbarten Auftritt vorerst jäh gestoppt, als mir die erste Tür, die ich gewählt hatte, den Zutritt brüsk verweigerte. Als ich mich daraufhin nach kurzem Zögern einer nahe gelegenen zweiten Tür zuwandte, versagte auch sie mir ihren Dienst, während die soeben verlassene Tür mich just in diesem Augenblick mit einem leisen Öffnungszischen zum Durchqueren einlud. Wie Sie jetzt bereits ahnen werden, entwickelte sich auf diese Weise ein längeres Hin-und-Her-Gehüpfe zwischen mindestens sechs Eingangspforten, an dem sich neben dem Dozenten auch noch eine größere Anzahl Studierender aufgeweckt beteiligte. Das unverhoffte Körpertrai-
Lügen unter Wahrheitssuchern
ning führte zu Gesprächen, in einem Fall sogar zur Freundschaft – mit regelmäßigen Verabredungen zum „Philosophieren“ in wechselnden Bremer Cafés. Schließlich doch im Seminar gelandet, berichtete ich entschuldigend vom Vorfall und fügte, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu, dass es sich bei dem Verhalten der Türen in der Glashalle keineswegs um einen Defekt, sondern um ein Begegnung förderndes interaktives Kunstwerk handele. Es sei noch von einem früheren Rektor der Universität weitsichtig in Auftrag gegeben worden, um in einer immer schneller werdenden Zeit ein irritierendes Moment des Innehaltens in den Hochschulalltag einzuschmuggeln. Außerdem sei mit der Installationskünstlerin Geheimhaltung über den Kunstcharakter der Installation vereinbart worden, um eine möglichst intensive Wirkung des Kunstwerks zu gewährleisten. Ich habe zufällig von diesem Geheimnis erfahren und gebe es hier nur deshalb preis, weil es so wunderschön zu einem der Themen der Veranstaltung, nämlich „Zeit und Bildung“, passe. – Ich bin mir nicht sicher, wie viele Zuhörer*innen mir in diesem Moment geglaubt haben. Allerdings werde ich bis heute auf nachhaltige Folgen meiner „Indiskretion“ und ihrer anschließenden Verbreitung im Mensa- und Cafeten-Tratsch aufmerksam gemacht. Studierende und Lehrende berichten, dass sie jetzt „infiziert sind“ und nicht nur das „Türenspiel“ in der Eingangshalle „mit anderen Augen betrachten“. Immer wieder ertappen sie sich selbst dabei, wie sie neugierig nach weiteren „verborgenen Kunstwerken“ und ihren Wirkungen in der Uni Ausschau halten und damit einen ganz neuen Zugang zum Thema „Zeit und Bildung“ gewinnen. Es scheint also gar nicht so schwer zu sein, schon im gewohnten Rahmen eines Vortrags oder Seminargesprächs durch eine kleine unkorrekte Anmerkung „schöpferische Aspekte von Mehrdeutigkeit und Ungewissheit zu verdeutlichen“ sowie „Freude am Perspektivwechsel und an innersubjektiven Übergangsfähigkeiten zu wecken“. Und wer diese Freude erst einmal verspürt hat, wird sich dann vielleicht auch den Papieren widmen, die versprechen, dass „theatrale Inszenierungen in der universitären Lehre eingespielte Kategorisierungen herausfordern und Automatismen in der Herangehensweise an Bildungs- und Lerninhalte Erkenntnis fördernd unterbrechen können“.
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AKT I
… zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst
Performance in Philosophy/ Philosophy in Performance: How Performative Practices Can Enhance and Challenge the Teaching of Theory 1 Alice Lagaay in dialogue with Jörg Holkenbrink
Nietzsche on Stage: Das Theater der Versammlung im Tanzquartier Wien, 2015.
Theater der Versammlung (“Theater of Assemblage”) regularly accompanies Alice Lagaay’s philosophy seminars, and together, she and Jörg Holkenbrink, have recently begun to present a fusion of their methods on various academic and artistic platforms internationally (e.g. the Philosophy-on-Stage festival at Tanzquar-
1 | A version of this dialogue was first published in Performance Matters, vol. 2,1 (2016), http://performancematters-thejournal.com/index.php/pm/article/view/38/54.
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Alice Lagaay & Jörg Holkenbrink
tier Vienna2 or the 2015 Performance Philosophy conference in Chicago3). For the “Performance and Pedagogy” issue of the journal Performance Matters (Performance matters 2.1. (2016): 78−85), Lagaay and Holkenbrink proposed a dialogue in which they discussed the pedagogical results of bringing performance strategies into contact with academic themes in general, and with philosophy in particular. This approach gives rise to many questions. What can performance do to enhance the teaching of theory? To what extent is philosophy a performance in itself, and how can certain performative strategies help make this tangible? Can the experience of fusing performance and philosophy help identify wider pedagogical issues within and beyond the boundaries of academia? What happens when the language of science (Wissenschaft) is confronted with the performative arts? To help readers visualize what this cooperation between a theatre company and an academic philosophy seminar might look like in practice, consider this example of a seminar on ‘Theories of Failure’ that was held in the philosophy department at the University of Bremen in the summer term of 2014. The four-hour seminar sessions took place fortnightly. On this particular occasion, the seminar is not opened by the course leader (Lagaay), but by a group of young performers who enter the stage (a space created between the tables and chairs of the seminar room). Their director (Holkenbrink) promises to make the evening’s topic (i.e. ‘failure’) accessible to the seminar participants by way of a public rehearsal of Hamlet. “To be or not to be” is the issue. The actor in the role of Hamlet starts out with her own personal perspective on one of the “greatest procrastinators in world history” and then proceeds to launch into her monologue. However, whenever she’s just about to immerse herself in her part, something pops into her mind that interrupts her, something that still needs to be pondered, discussed, or bemoaned. Increasingly eager to begin with the rehearsal proper, some of the other actors become irritated and impatient. Some even begin to worry about the well-being of the Hamlet actor, while others wonder how they themselves can save face before the audience in the light of such an embarrassing situation. Various ploys are attempted in order to encourage the Hamlet actor to start her performance. But they only result in the opposite: the actor remains silent and motionless, caught up in her own thoughts. Finally, the director takes the initiative and asks the seminar participants (= audience) for suggestions on how to resolve the situation. This triggers an improvised lecture and a conver2 | “SCORES N°10 // Philosophy On Stage #4 Artist Philosophers – Nietzsche et cetera“ was a large international festival held 26th–29th November 2015 at Tanzquartier Vienna. The event was conceived and organised by Arno Böhler and Susanne Granzer (Vienna) as part of the FWF-funded PEEK project “Artist Philosophers. Philosophy AS Arts-Based-Research”, in partnership with Walter Heun (Tanzquartier Vienna), Jens Badura (Zürich University of the Arts), Laura Cull (University of Surrey) and Alice Lagaay (University of Bremen). See: www. tqw.at/de/events/scores10-philosophyonstage4 (last retrieved 29/12/2015). 3 | “What can Performance Philosophy Do?” Second Biennial Performance Philosophy conference held 10th–12th April 2015 in Chicago, co-organised by Will Daddario, John Muse and Laura Cull. See: www.performancephilosophy.ning.com/page/chicago-2015 (last retrieved 29/12/2015).
Performance in Philosophy
sation. The performers take up and discuss the various propositions and eventually propose a solution: to let the pensive Hamlet actor continue her pondering in private and, instead of having her perform the monologue, move on to rehearsing the king’s council scene, in which Hamlet’s inconsolable grief disrupts the government affairs of King Claudius and his wife Gertrude, Hamlet’s mother. The Claudius actor and the Gertrude actor thus begin to involve the recalcitrant Hamlet so as to draw him out of his disconcerting grief. Although at the end of this rehearsal, Hamlet is even more desperate, the Hamlet actor, however, is finally in a position to perform the Hamlet monologue. The philosophy seminar now proceeds to discuss ‘failure’ in relation to notions of success, ‘hesitation’ as a productive force, and the manner in which a performative situation can flip from commentary (on a particular subject) to demonstration (of a physical condition), both intentionally and non-intentionally. Far from simply playing an illustrative role in the seminar, the performative opening clearly provokes alertness to an experimental setting which, in turn, helps sharpen the attention and engagement of those present through embodied thought in a way that conventional text-based work alone only rarely manages to bring about – in a seminar context. *** Jörg Holkenbrink: In working with you, Alice, as one of the founding members and core conveners of the Performance Philosophy network, I often find myself thinking of this quote by Nietzsche: “As for the superstitions of the logicians, I shall never tire of underlining a concise little fact
which these superstitious people are loath to admit – namely, that a thought comes when ‘it’ wants, not when ‘I’ want; so that it is a falsification of the facts to say: the subject ‘I’ is the
condition of the predicate ‘think’. It thinks: but that this ‘it’ is precisely that famous old ‘I’ is, to put it mildly, only an assumption, an assertion, above all not an ‘immediate certainty’.”
(Nietzsche 2003, 47)
‣ S. 59
This quote often comes to mind when I hear you talk in your seminars. I experience you as someone who is not simply rehashing a pre-written, pre-rehearsed text, but as someone in whom “it” thinks. You demonstrate this “it thinks” in your lectures. One of the most concise definitions of “performance” that I know is by Richard Schechner, one of the founders of Performance Studies as a discipline. He speaks of performance as “showing doing” (Schechner 2002, 22). So I wonder if we might not get closer to answering the question “What is Performance Philosophy” by drawing attention to, and thematizing, the manner in which “it” thinks in you. And what would this “it” refer to from a philosophical perspective?
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Alice Lagaay: The idea is that it is not “I/me”, no particular ego, that is “doing” the thinking, but that “it” is doing it “through” me, that I (anyone) could be a sort of medium for something that moves through me/them, and that the art of thinking, of performing and creating, has as much to do with a particular kind of letting something happen as it has with hard work and discipline. Yes, this all sounds very familiar. And it places the kind of philosophy that I tend to engage with closer to the boundary of what the art of performance is (or might be). It involves work of course – rehearsal, action and repetition, reading and re-reading. – but also a form of active passivity, in other words… patience, which equates with a certain willingness and ability to expose oneself to and draw on the energy that comes from the present moment, at the risk that “it” might not come… but it always does. S. 185 Doing philosophy in this way is truly a creative process, and paradoxically giving way to the “it” requires that one give oneself over to the process completely. S. 153 It is through giving oneself, putting oneself into the moment, not hiding – with all the vulnerability and risk that that might entail – that one invites, evokes, invokes, the “other” into the equation. The history of philosophy, the history of culture, is full of references to a third instance that is neither you nor me, neither mother nor daughter, father nor son, neither this nor that, but something between all beings present that we can bear witness to and, in so doing, allow that something to colour the mood, atmosphere, timing, and rhythm of the event we have gathered together to attend.4 It is this instance, I think, that provides the kind of cohesion that is capable of revealing the political in the aesthetic, the ethical in the artistic. It is of course intrinsically connected to the live quality of performance, which is why talking into and out of silence is so important – because silence is what connects one to the present. And being (A)LIVE means being able to respond to the new, being open and available to serendipity, surprise and wonder.
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JH: In the context of the relation between performance and philosophy, you emphasise the notion of active passivity. This makes me think of absichtsvolle Absichtslosigkeit, “intentional non-intentionality”, a common trope among theatre makers. Both formulations play an important role in describing staging processes in the theatre. So, for example, one of the important skills in directing is knowing when to interrupt players during rehearsals. Yet even moments before I intervene, I often don’t know that I am going to interrupt, or who I am going to interrupt, or what I am going to say. It all happens in a split second. And, conversely, it depends on the flow of my observation being interrupted, which is what provokes my need to say something. Despite this, or perhaps even because of this, I often find myself making further suggestions (even before I have had time to actually think them). And this in a world in which university teachers warn their students to “think first, then speak”! 4 | An example of this third in-between instance, “neither this nor that”, is the figure of the neutral in e.g. the writings of Maurice Blanchot, or Roland Barthes. Cf. e.g. Blanchot 1993; Barthes 2005.
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At the same time, my experience has shown me that over the years the quality of my spontaneous interruptions has increased. So are “active passivity” and “intentional non-intentionality” learnable and teachable? And what part do interruptions play in your profession? AL: I wonder if your somewhat Zen-inspired notion of “intentional non-intentionality” might echo in a significant way Freud’s “evenly-suspended attention” (gleichschwebende Aufmerksamkeit, Freud 1958, 109–120)? This is a kind of neutral, directionless listening that tries not to privilege one particular narrative over another, nor to allow preconceived ideas or to get in the way of the free expression of unconscious associations. Freud’s evenly-suspended or “hovering” attention describes an attitude, or posture of being that is wary of the analyst’s (or in this case let’s say the philosopher’s) tendency to want to appropriate, to be inclined to want to “grasp”, focus and hold (and thereby often manipulate, for instance by means of reification) a certain train of thought, to make one thought, one narrative, one interpretation – the big bright one in front of you – somehow more valuable, more noteworthy than any other. Resisting this tendency, in other words practicing a form of attentive disinterest, means being fundamentally open to the possibility that one might not be fully in control of the situation, nor fully in control of the thoughts or connections that an event provokes. It means letting go of the anchor provided by hierarchies of thought, and trusting in a radical form of immanence, by which one’s own subjective perspective by virtue of its fundamental equality with any other imaginable perspective becomes virtually irrelevant – but not quite. For, of course, the actor, analyst, director, or performance philosopher remains engaged. Practicing evenly-suspended attention means learning to attend not just to the salient or intentional, to the “major” action, but learning to listen to the minor, the unintended, the unfocused or indistinct, the sub-beat, the slip, the glimpse or spark from the periphery… and to move in-between and to draw on these, not by method, nor even by acquired skill, but in the way that a good jazz singer might sometimes let the note trail off and, in missing the mark however slightly, allow it to become something new. Practicing this form of attentive disinterest also brings you back to the present moment and therefore to the body, to this body. This is, of course, something that Nietzsche understood clearly, that thoughts and ideas are not somewhere out there in the ether, nor are they simply in the brain; they are not random figments or indeed (to put it more positively) achievements of a purely intellectual journey. They are not pure maths. For any intellectual journey is the intellectual journey of an embodied person, with a biography, a history, a rich and multidimensional experience, drawn from all the things and events that have happened to them, situations they have come through, lessons they have learnt, pain they have born… And the force of life (call it will-to-power) that is at the root of this journey includes an implicit
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knowledge, an implicit physical knowledge, of how to live, how to grow and how to become. So when you describe how in your work as a director you often do not know and cannot predict how, when, or whose dialogue or action you will interrupt, and when you cannot even say why this happens, it sounds as if it is not so much you, or a particular conscious part of you, that intervenes, but the experience you embody, the wealth of experience that is lodged in your body, that takes charge and knows when to intervene. With regard to interruption, there would be so much to say here. Interruption suffers something of a bad name in our culture, and this despite the fact that the modern technological age comes with many and various interruptions, such that it seems to be becoming more and more difficult, hopeless almost, to concentrate on anything. But the creative interruption you are referring to is not the kind that disturbs or is at odds with concentration. Rather, what it perhaps signals is the end of, or at least the tendency to relativize what some call the “grand narrative(s)”, and possibly even the end of “drama” and their replacement by a celebration of, or a newfound attentiveness to, the fragmentary, the incomplete, the non-linear., the inconclusive, the snippet, the snapshot, the infinitely repeatable… in a word: the aphoristic. JH: This is nothing particularly new. Attentiveness to the fragmentary has played an important role within the performative arts at least since the performative turn in the 1960s. With our performance entitled “C Copy A, Encrypted”, S. 37 Theater der Versammlung has invented an experimental field in which the audience brings the ensemble into movement and directs the players during the show using computer commands such as “copy”, “cut”, or “paste”. S. 51 The performers draw on snippets of movement and text extracts from roles they have played in other pieces. Over multiple rounds and at a rapid pace, these fragments are randomly composed into new patterns of relation and meaning. The goal is to allow little islands of meaning to emerge from the random chaos. Everybody present has an influence on the outcome, but no single person drives the whole thing. The audience soon learns how to handle the commands, and their instructions end up mirroring themselves, insofar as through the speed of their calls they can create confusion or instead grant space for a particular role to evolve on its own without interruption. This Click-performance can be seen as demonstrating whether, or to what extent, people remain able to act in complex systems and whether, or how, one can react to the ever increasing interruptions in everyday life. It might also be read as revealing the political in the aesthetic, the ethical in the artistic, to refer back to what you said earlier. Fragmented worlds challenge the practices of the connecting arts. “Theatre of Assemblage” attempts to offer a framework for just that. Here I would like to pick up on a few thoughts and formulations from articles I have written that take a closer look at these themes. (Holkenbrink 2013; Bebek/Holkenbrink 2015) A typical pro-
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duction process that we experience in our “Theatre of Assemblage” can be broken down into the following stages: a) b)
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free improvisation on the themes and questions that are being handled theoretically in the seminars we intervene in and cooperate with; improvisation using theoretical, documentary and literary texts that relate in one way or another to the themes and questions of the teaching context we are involved with (this could be a seminar held in any faculty of the university); selection of the material arrived at through improvisation and its organization into scenic fragments/sequences that will continue to be developed until they are ready to be performed (using the principles of collage and montage/ assemblage); experimentation with various alterations and re-organisations of the scenic sequences within the framework of a context- and dialogue-orientated performance practice (recycling).
In concrete terms, within the context of C COPY A, ENCRYPTED, this “context-orientated performance practice” also refers to the fact that the same or a similar performance can generate a multitude of different meanings, connotations or questions, depending on the context in which it is performed, be it for instance within the realm of computer science, cognitive psychology, political science, research on dementia, or philosophy. S. 127 On the other hand, the dialogical aspect of our performance practice means that each performance is always discussed within the particular field in which it is performed. This in turn leads to the experimental action continuously being developed further. The strategies and methods required for this form of research are consciously acquired. Students at Bremen University can only sign up for Performance Studies as an additional course to be taken in combination with studies in another discipline. The curriculum is thus structured to allow students from various different faculties to come together in trans-disciplinary projects, and it is explicitly geared towards them bringing in their knowledge from these different areas into the performative work of the Centre for Performance Studies. Conversely, students receive training in performative methods that they subsequently learn how to apply to their respective disciplinary backgrounds. They soon begin to interrelate, both critically and constructively, the practical-aesthetical methods they have acquired with the more theoretical/traditionally academic approaches to reality they encounter in the course of their studies, thus combining and enriching both aspects of their education respectively. Needless to say, this remains an important resource that students can draw on later in whatever professional capacity they eventually grow into. This may be in an artistic realm, where the ability to combine different forms of knowledge is increasingly valued, or even, and espe-
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cially, in non-artistic work fields, where a wide range of artistic competences are also increasingly becoming acknowledged as fundamentally important. Another perspective and further synergies occur when both artistic and non-artistic worlds are combined, for example when someone is active as a performer whilst carrying out a second or third profession of a different kind at the same time. It is important to remember, however, that people who are at home in both science/academia and the arts, and who actively seek to facilitate a dialogue between these two realms, are taking a significant risk. Indeed, seeking new forms of cooperation between the two worlds requires that each world change its habitual manner of dealing with that which otherwise falls outside its respective zone of knowledge. In other words: To embark on a process in which a certain ‘foreignness’ with regard to particular objects and situations is responded to productively means being sovereign enough to risk one’s own sovereignty; being powerful enough, one could say, to embrace one’s sense of powerlessness. Carolin Bebek is a regular performer with Theater der Versammlung, and also a qualified scientist of education (Erziehungswissenschaftlerin). As part of a qualitative analysis, she carried out a series of episodic (narrative) interviews with former students in Performance Studies at Bremen University. She recounts how these interviews reveal different forms of interplay between self-assertiveness and submission, in the sense of risking one’s own sovereignty. Drawing on Judith Butler, she refers to the phenomenon in question in terms of “post-sovereignty” (Butler 1997: 139, 145). For Bebek, the notion of post-sovereignty captures a basic principle of movement: “It marks a tension between sovereignty and non-sovereignty that does not resolve itself one
way or another, but hangs between letting oneself into something/exposing oneself and asserting oneself, between submission to the factors at work/acceptance of the given and transgression or
exceedance towards something new. Post-sovereignty points to a kind of being in movement, within which it becomes possible to experience the other and oneself differently. Only a subjectivity that is capable of appreciating other foreign subjectivities, on the one hand, and its own foreign otherness on the other, can connect to this principle of movement.” (Bebek/Holkenbrink 2015, passage translated by A. Lagaay)
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AL: Thank you for bringing the notion of post-sovereignty into our dialogue here. It gives me the opportunity to relate back once more to the one who might be considered the original modern performance philosopher, Friedrich Nietzsche, whom I feel has been our subliminal chaperone throughout the course of these reflections. For me, one of the most salient and troubling things about reading Nietzsche, and also therefore what I find to be most provocative and inspiring in his writing, is the clear tension that is to be found between, on the one hand, his unquestionable celebration of empowered subjectivity, S. 97 the idea that it is all up to ‘Me’, this damned ‘EGO’, to create its own world, define its own values, launch into its own becoming,
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take what it needs, stop at nothing, embrace the plant-like drive towards the sun (Will-to-Power) etc. etc., and, on the other hand, his very idiosyncratic, at once incredibly compelling and hugely challenging, recognition and call to acceptance of a fundamental human powerlessness. On the surface of things, and even upon closer analysis, these two thoughts would appear to be profoundly at odds with each other, mutually incompatible. And yet, in Nietzsche they are not. For he posits both: on the one hand, that one should embrace the challenge that resides in the call to become one’s own person, emancipate from the burden of moral traditions and define one’s own values, but on the other hand, that one must ultimately emancipate from one’s emancipation, so to speak, in order to reach a state of consenting being – amor fati – in which one accepts everything that has been (the good and the ugly) and embrace “eternal return”. What could be more preposterous than the latter for even the most humble of egocentrics? Yet within this very contradiction lies a mystery, which I take as a kind of guiding principle in my attempt to approach the teaching of philosophy through the lens, and drawing on the methods, of performance. It is therefore not so much a question of merging the two ‘Ps’ (performance and philosophy) to create a new disciplinary field (and here I am referring to the on-going Mind-the-Gap discussion in performance philosophy circles, e.g. Cull 2014) so much as of allowing and welcoming, indeed actively preparing the ground (in the pedagogical sense of a “prepared environment”5) for a dynamic movement to occur, e.g. from emancipation to the emancipation of emancipation, or from powerlessness to sovereignty to post-sovereignty. My passion is to facilitate the arrival of humble moments of recognition on this circular course, and to help them be experienced not just in a consciously lived life, but also in the philosophy seminar. Here what can be witnessed is not only how performative practices can enhance and challenge the teaching of theory, but also – and more importantly still – how theory can enhance and challenge the experience of life.
5 | The importance of a “prepared environment” is central to many reform pedagogical methods, especially, for example, the pedagogical approach of Maria Montessori. Cf. e.g. Montessori 2008.
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R eferences Barthes, Roland. 2005 [2002]. The Neutral (Le Neutre. Cours au Collège de France 1977–1978), trans. Rosaline E. Krauss and Daniel Hollier, New York: Columbia University Press.
Bebek, Carolin/Holkenbrink, Jörg. 2015. Denkräume in Bewegung setzen. Performance Studies: Möglichkeiten der Transformation in fächerübergreifenden Studienprojekten mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. In: Schelhowe, H.; Schaumburg, M.; Jasper, J. (eds.). Teaching is Touching the Future. Academic Teaching within and across Disciplines, Bielefeld: UVW, pp. 76–82. Blanchot, Maurice. 1993 [1969]. Infinite Conversation (L’Entretien infini, Paris: Gallimard, 1969), trans. Susan Hanson, Minneapolis: University of Minnesota Press. Butler, Judith. 1997. Excitable Speech, London/New York: Routledge. Cull, Laura. 2014. Performance Philosophy – Staging a New Field. In: Cull, Laura; Lagaay, Alice (eds.). Encounters in Performance Philosophy, London: Palgrave Macmillan, pp. 15–38. Freud, Sigmund. 1958 (1912). Recommendation to physicians practicing psychoanalysis (Standard Edition 7), London: Hogarth Press. Holkenbrink, Jörg. 2013. Alles eine Frage der Zeit. Performance Studies: Forschendes Lernen mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. In: Huber, L.; Kröger, M.; Schelhowe, H. (eds.). Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen, Bielefeld: UVW, pp. 105–121. Montessori, Maria. 2008. The Montessori Method, Blacksburg, VA: EarthAngel Books. Nietzsche, Friedrich. 2003. On the prejudices of philosophers. In: Beyond Good and Evil, §17, translated by R. J. Hollingdale, London: Penguin, p. 47. Schechner, Richard. 2002. Performance Studies. An Introduction, London: Routledge.
Anmerkung der Herausgeberinnen: Einladung zur Klick-Performance des Theaters der Versammlung: C COPY A, VERSCHLÜSSELT S. 32/54/75 – Ein Spiel mit der Geschwindigkeit: Jeder hat Einfluss, niemand steuert das Ganze. Bei der Klick-Performance des Theaters der Versammlung erhalten Sie Gelegenheit, das Ensemble mit Hilfe von Computerbefehlen wie „kopieren“, „ausschneiden“ oder „verschlüsseln“ live in Bewegung zu setzen. Dabei greifen die Darsteller*innen auf Bewegungsabläufe und Textbausteine von Rollen zurück, die sie ansonsten in unterschiedlichen Stücken verkörpern. In mehreren Spielrunden können aus diesen Fragmenten gemeinsam und in hohem Tempo neue Beziehungs- und Bedeutungsmuster komponiert werden, die aber auch immer wieder zerfallen.
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Vom Innern und vom Äußern Eine Bildungswissenschaftlerin und Performerin wandert zwischen den Welten Carolin Bebek
Mein Tätigkeitsfeld an der Universität Bremen umfasst zwei Bereiche. Einerseits bin ich wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Allgemeinen Erziehungswissenschaften, Schwerpunkt Bildungstheorie, andererseits Performerin im Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV). Auf verschiedenste Weise sind diese beiden Bereiche miteinander verknüpft. So integriere ich beispielsweise als Lehrende performative Übungen in Seminare, insbesondere in die Lehrer*innenbildung. Auch die spezifische Art und Weise, wie die Beteiligten (Publikum, Studierende, Spielende, Gäste …) nach Aufführungen des TdV oder
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im Veranstaltungsformat KOPFSPRÜNGE1 S. 83 miteinander ins Gespräch kommen, beeinflusst meine Seminargestaltung. Ganz selbstverständlich erlebe ich, wie Erfahrungen, gedankliche Impulse und Fragestellungen aus dem einen den jeweils anderen Bereich herausfordern und bereichern. Im Folgenden soll eine Situation im Mittelpunkt stehen, die ich vor dem Hintergrund dieser beruflichen Doppelexistenz als besonders heikel erlebe. Wenn ich das Theater der Versammlung in meine Seminare einlade, dann bin ich nicht nur eine Dozentin, die wie andere Dozierende das Theater einlädt, sondern gleichzeitig eine der eingeladenen Spielerinnen des Ensembles. S. 76 Folglich stellt sich in der konkreten Seminarsitzung die Aufgabe, gleichzeitig als Dozentin der Universität das Seminar zu leiten und als Spielerin des Ensembles einen Auftritt zu absolvieren. Ich habe einige Zeit abgewartet, bis ich mich dieser Doppelrolle gestellt habe. Anfänglich befürchtete ich, meine Autorität, meinen anerkannten Status als Dozentin, zu unterminieren: Was geschieht insbesondere bei nicht-theateraffinen Studierenden, wenn die Dozentin plötzlich als Performerin im Seminar auftritt? Andererseits sorgte ich mich darum, dass durch die andere Form meiner Aufmerksamkeit für die Seminarteilnehmenden – eben die Aufmerksamkeit einer Dozentin und nicht die einer Spielerin – die Qualität des Spiels gefährdet sein könnte. Ich möchte in diesem Beitrag darüber nachsinnen und nachdenken, was sich in den Seminarsitzungen mit TdV-Beteiligung als Herausforderung gezeigt hat. Mich interessiert, worin sich das ‚Dozentin-Sein‘ vom ‚Spielerin-Sein‘ unterscheidet und wie sich diese beiden Weisen des ‚Im-Seminar-Seins‘ aufeinander auswirken, aneinander reiben, vielleicht ineinander übergehen, sobald ich angehalten bin, beides gleichzeitig zu sein. Anders – weiter – gefragt: Worin unterscheiden sich (meine) Auftritte auf der Bühne der Wissenschaft von (meinen) Auftritten auf der Bühne des Theaters? Und was geschieht, wenn eine*r es wagt, die unsichtbaren Grenzen leibhaftig spielend zu überschreiten, sich uneindeutig zu positionieren? Die beiden Skizzen, mit denen dieser Beitrag beginnt, sind dabei weit mehr als nur Grundlage für die anschließenden Ausführungen im dritten Teil. In ihrer jeweiligen Form gehen sie über das hinaus, was reflexiv einholbar ist.
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1. Dozentin-Sein Ich stehe an einen Tisch gelehnt vor meinem Hochschulseminar. Hinter mir eine dunkelgrüne Tafel. Hin und wieder gehe ich zu ihr, schreibe Worte, male Pfeile, verbinde und verweise auf bereits sichtbare Begriffe oder Zusammenhänge. Die 1 | Die KOPFSPRÜNGE sind ein Kolloquium im Rahmen der Bremer Performance Studies. Sie gehen der Frage nach, wie praktisch-ästhetische und theoretische Arbeitsweisen und Darstellungen produktiv miteinander verknüpft werden können. Dabei werden die vielfältigen Verständigungsformen und Settings, die diese Veranstaltung auszeichnen (Spiel mit Raumund Zeitstrukturen, Vortrags- und Fragetechniken, Aufmerksamkeitslenkungen etc.), selbst zum Thema und auf ihre Wirkungen hin erprobt.
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Kreidestaubschicht an meinen Fingerkuppen begleitet mich durch die Veranstaltung, circa anderthalb Stunden. Ich blicke in die Runde der Studierenden, stelle Fragen, registriere Wortmeldungen, erteile eine Sprecherlaubnis, indem ich den Arm anhebe und in Richtung einer Studentin zeige. Ich höre, nicke, lasse sie ausreden, sehe im Augenwinkel weitere Meldungen, wende meinen Blick, meinen Kopf ruhig einem Studenten zu, der als Erster aufgezeigt hat. Er beginnt zu sprechen… – Oh, ein guter, wichtiger Aspekt! Darf ich da einhaken? – Ja klar! antwortet er. Ich ergänze, erkläre, bringe Beispiele, führe aus und betone schließlich, dass es einen signifikanten Unterschied gibt zwischen der Frage, wie sich eine Sache verhält, und der, wie diese Sache von einer bestimmten Autorin beschrieben, bestimmt, benannt und diskutiert wird. Und ich füge hinzu, dass es wichtig sei, dies beim wissenschaftlichen Arbeiten nicht zu vergessen. Denn sonst geschehe es nur allzu schnell, dass man die Dinge, die man für gut, richtig, sinnvoll hält, in Thesen und Argumente hineininterpretiert, hineinmogelt, obgleich der, die Schreibende sie gar nicht im Sinn hatte bzw. dies am Text nicht belegbar ist. Ich monologisiere, appelliere, komme zurück zum Ausgangstext, zur Ausgangsfrage. Ja, worum geht es in diesem Text denn nun? An welcher Problematik wird sich hier abgearbeitet? Welche Thesen und Argumente werden formuliert und welche gerade nicht? Was wird nicht benannt, nicht gesehen, beiseitegeschoben, abgetan? Dem Text zu folgen, ist eine Sache. Ihn mit Fragen zu konfrontieren, die sich aus dem eigenen alltäglichen (profanen wie professionellen) Leben speisen, eine andere… – obgleich die beiden Zugangsweisen stets ineinander verwoben sind… Viele Anmerkungen, Fußnoten ließen sich noch hinzufügen, aber: Stopp. Halt. Pause. Genug geredet. Stille. Stille. Denken sie nach? Sind sie gelangweilt oder überfordert oder beides? Die klassische Frage. Egal. Aushalten. Warten. Schauen. Etwas wird geschehen. Nichts geschieht. Ich könnte eine provokante, alltagsnahe These in den Raum werfen. Das funktioniert immer. Aber das eben Gesagte war doch klar genug, oder? Nichts geschieht. Egal. Aushalten. Warten. Schauen. Etwas wird geschehen, eventually. Keine deutsche Beschreibung trifft hier so gut wie dieses englische Adverb, das auf eigentümliche Weise dreierlei vereint: Ereignis, Hoffnung und Erfüllung. Und dabei erinnert es klanglich an das deutsche ‚eventuell‘ – es schwingt ein Hauch von Melancholie, ein Bangen mit. Über all dies mache ich mir jetzt, nachträglich, am Schreibtisch sitzend, schreibend, Gedanken. In der Seminarsituation fesselt die nicht-sprechende, nicht-antwortende Studierendenwand meine Aufmerksamkeit. Eben noch habe ich monologisiert. Bestimmt wirkte ich wissend und selbstsicher. Jetzt herrscht Ruhe, eine machtvolle Stille. Was ich gesagt habe, meine Glaubhaftigkeit, meine Autorität als Dozentin, – ich – stehe auf dem Spiel. Wie lange darf die Ruhe dauern? Sie dauert schon zu lang, ist anwesend, spürbar, fast greifbar. Wenn ich sie jetzt beende, hat sie mich besiegt. Oder haben die Studierenden mich besiegt? Warum sprechen sie nicht? Die Frage wird immer drängender. Gerade will ich anfangen, die Gesichter der Teilnehmenden genauer zu erforschen, um die quälende Unsicherheit nicht mehr aushalten zu müssen, um der Ursache auf die Schli-
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che zu kommen, um die Gründe ihres Schweigens herauszulesen, zu extrahieren aus ihrer Mimik und Körperhaltung… – da blickt mir ein Student plötzlich direkt in die Augen. Wir lächeln beide. Einfach Lächeln. Mein Körper entspannt sich. Sie – die Studierenden – sind einfach da. Sie sitzen da vor ihren Texten und Federmappen und Tablets, vielleicht wartend, vielleicht denkend, vielleicht träumend. Na, wo seid ihr gerade? Was geschieht? Eine Hand hebt sich zaghaft, stoppt wenige Zentimeter über der Tischplatte. Ja? – Ich weiß nicht, ob ich jetzt zu weit weg gehe vom Thema… (Pause) …meine Gedanken sind irgendwie abgeschwiffen, abgeschweift… (Pause) …aber irgendwie hat es was damit zu tun, also… Nach diesem folgen weitere tastende Wortbeiträge. Mit großer Vorsicht werden kritische Anmerkungen geäußert, Anekdoten und Geschichten als Beispiele und Gegenbeispiele angeführt und von anderen Teilnehmenden aufgegriffen. Im Gespräch bringe auch ich mich ein, erzähle von mir, frage mich laut, wie ich jetzt gerade auf diese Erinnerung stoße, die doch irgendwie mit unserem Thema, unserer Fragestellung in Verbindung steht, auch wenn ich noch nicht weiß, wie. Wir springen, zitieren, diskutieren durcheinander, kommen auf die Ausgangsfrage zurück, entfernen uns wieder. Mancher Wortbeitrag bleibt gänzlich unkommentiert. Nur eine merkwürdige kurze Ruhe weist ihn als sperrig, komisch, nicht anschlussfähig aus. An solche Momente werde ich mich später besonders erinnern. Eine eigene Dynamik ist im Gange. Ich merke erst nach dem Seminar, dass ich niemanden mehr ‚drangenommen‘ habe. Ein Gespräch hat stattgefunden, ‚Ein-fällen‘ wurde stattgegeben. S. 34
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2. Spielerin-Sein „C copy A!“ klingt an mein Ohr. Ich wende mich Manfred zu. Er lächelt, grinst, setzt an zu sprechen. Ich tue es ihm nach: „Zwischen der Sonne und dem Abendstern.“ Wir spielen Klick. Das Publikum ruft (Computer-)Befehle. Drei (von sechs wechselnden) Spieler*innen, die sich in jeder neuen Runde die Buchstaben A, B, C geben, befinden sich auf dem Spielfeld, einem Karree, um das herum das Publikum platziert ist. Ich bin am liebsten C. Manfred ist immer A, weil er schon etwas schlecht hört und ein gerufenes A am klarsten zu vernehmen und von B und C zu unterscheiden ist. Ich kopiere Manfred, spreche seinen Text, den Text seiner Figur, passe mich an, an seine Sprachmelodie, an den Klang seiner Stimme, schaue ihm ins Gesicht, folge im Augenwinkel seinem Finger, seiner Hand, die sich spiralförmig nach oben bewegt, ahme die Geste nach, so synchron wie irgend möglich. Das Kopieren vereinnahmt mich. Ich lasse mich im Folgen fallen, gehe auf, führe aus, bin Durchgangspunkt. Mein Körper formt sich nach dem Bild vor mir. Eine Schauspiel-Fingerübung. Das Publikum wird später fragen, ob das Kopieren nicht
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unheimlich schwierig sei. Im Gegenteil. Und ob es nicht wahnsinnig viel Konzentration brauche, alles wahrzunehmen und dann sofort – quasi gleichzeitig! – nachzumachen. Ja, das braucht es. Nur anders, als man zu vermuten geneigt ist. Mein Körper kopiert. Meinem Körper ist es erlaubt zu kopieren. Ich denke nicht, zumindest nicht im engeren Sinne. Gesten, Bewegung und Worte von Spieler A nehme ich nicht zuerst bewusst wahr, verarbeite nicht zuerst die Information und beginne anschließend, wenn ich erkannt und verstanden habe, mit der Imitation. S. 56 Ist dieses bewusste, begreifende Denken nicht ohnehin merkwürdig überstrapaziert, überbewertet? Geschieht es nicht viel seltener, als wir gemeinhin annehmen? Mein Körper kopiert, folgt, und es ist fast so, als ob ich meine Hände und Arme und Beine dabei beobachten kann, wie sie Bewegungen machen, die mir fremd sind, die ich mir so nicht hätte ausdenken und/oder initiieren können – auch nicht bzw. gerade nicht in einer ‚freien‘ Improvisation. ‚Ich‘ justiere also nur nach. „Es bedeutet, was es heißt… Nichts.“ – Fast synchron sprechen Manfred und ich weiter. „B copy A1!“ Ein neuer Befehl. Ich erstarre, verharre in genau der Position, in der ich mich im Moment des Vernehmens befinde. Es ist ein Spiel mit klaren Regeln. Wenn A und B aufgerufen werden, nicht aber mein Buchstabe, gehe ich ins Freeze. Die Zeit im Freeze ist eine Zeit des Zuhörens, des passiven Verfolgens, der Wahrnehmung meines Körpers und, wenn nötig, der zarten Korrektur. Eine Zeit des Verschnaufens und des kurzen Nachdenkens. Manchmal ist es ein hartes Aushalten: lange auf einem Bein stehen, in der Halbhocke verharren, einem Zuschauer ganz nah in die Augen schauen. Dann ist mein kindlich-spielerischer Ehrgeiz geweckt. Ich will es schaffen, in einer solchen Phase nicht zu blinzeln, will das Heben und Senken meines Brustkorbs beim Atmen reduzieren, den Ausstoß der verbrauchten Luft unmerklich so lenken, dass mein Gegenüber nichts davon spürt. Ich will Spielfigur sein, so wenig ‚natürlich‘ wie möglich. Wie ein Mantra tönt hinter mir das letzte Wort Manfreds, das von B wiederholt wird: Nichts … Nichts … Nichts … Nichts … Wird die „1“ hinter einem Buchstaben gerufen, wird die jeweils letzte Aktionseinheit wieder und wieder wiederholt, so lange, bis ein neuer Befehl die Schleife beendet. Was wird wohl als nächstes gerufen? Vielleicht C. Was tue ich dann? Schön wäre C copy A1. Dann würde ich mich zu den beiden in einen Halbkreis gesellen und zeitlich versetzt ins Mantra einsteigen. Würde bestimmt gut klingen. Tatsächlich: „C copy A1, B1!“ Zufall? Nein, nicht unwahrscheinlich. Ein gemeinsamer Flow vereint Spieler*innen und das Publikum. Wie von Geisterhand scheint es sich nun auch noch darauf verständigt zu haben, die entstandene Klanginsel lange laufen zu lassen. Niemand stört. Wie Musik: Ein Rhythmus entsteht, ein Takt baut sich auf und zerfließt. Das Wort ist nicht mehr als solches, in seiner Bedeutung vernehmbar. Silben, Laute, die sich überlagern und wiederholen. Ich bin / Körper ist Instrument. Körper ist / Ich bin instrumentalisiert. Ich lasse mich / Körper lässt sich instrumentalisieren. Das „Nichts“ löst sich in den Ohren immer mehr zu Klängen auf, obwohl wir unsere Münder, Lippen, Zungen jedes Mal wieder in die gleiche Form bringen. Die Wiederholung ist eine eigentüm-
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liche Mischung aus Entlastung (von Entscheidung, Verantwortung) und physischer Anstrengung. Die Herausforderung besteht darin, das Maß an Spannung in der zu wiederholenden Aktion weder zu- noch abnehmen zu lassen. Nicht einschlafen, nicht übertreiben. Nicht einfach. Und plötzlich ein neuer Befehl: „B1 fett!“ B folgt dem Einser-Befehl, wiederholt das, was er als Letztes gemacht hat – aufgrund des „Fettdruck“-Befehls jedoch größer und intensiver als zuvor. Vereinzelte Spucke-Spritzer erreichen mein Gesicht. Sichtbar. Das Publikum lacht. B: „Nichtsssss!“ Weitere Spucke-Spritzer. Das Publikum lacht lauter. Da bei jeder Wiederholung dasselbe droht, muss B anfangen zu grinsen, obwohl er es ernsthaft zu vermeiden sucht. Das provoziert weitere Lacher im Publikum. B fällt es immer schwerer, nicht zu grinsen. Ich höre sein leichtes Prusten. Längst kichere ich verstohlen mit, obwohl ich im Freeze bin. Spieler A geht es ebenso. „Alle 1!“ Der jeweils letzte Moment des privaten Lachens, Prustens, Kicherns – samt Vermeidungs-Mimik und Unterdrückungs-Gestik – ist in der Wiederholungsschleife gelandet. Was eben noch als problematischer bzw. sympathischer Ausrutscher dreier Spieler*innen gelesen werden konnte, transformiert sich schlagartig. Das Lachen verliert seine Spontaneität und Natürlichkeit, wird plötzlich künstlich, zum Spielmaterial. Erst ist es weiterhin lustig. Das Lachen im Publikum erreicht einen Höhepunkt. Dann flaut es langsam ab und verwandelt sich in eine leicht beklemmende Atmosphäre. Nach einiger Zeit wird ein anderer Befehl ins Feld gerufen, etwas Neues beginnt. Die Situation ist vorbei, aufgelöst.
3. Doppeltes Spiel Mit der Klick-Performance tritt das Theater der Versammlung regelmäßig in universitären Lehrveranstaltungen auf. Ich kenne diese Spielpraxis, diese Auftrittsroutine, mit selbstverständlicher Kopplung von Spiel und Gespräch und ebenso selbstverständlicher Vorbereitung auf den jeweiligen Kontext (Fachbereich, Disziplin, Thema etc.). Die Konfrontation des wissenschaftlichen Seminars mit einer künstlerischen Aktion – die den Anspruch erhebt, das Seminarthema aufzugreifen und in eine neue, unbekannte Richtung zu führen – erlaubt einen Zugang, den ich hier als ‚unmittelbaren Umweg‘ bezeichnen möchte. Unmittelbar, weil das Spiel das teilnehmende Publikum in eine ungewohnte Situation verstrickt. Umweg, weil es nicht darum geht, das Thema bzw. die offenen Fragen theoretisch präzise zu erfassen, zu begreifen, zu klären, wie es dem wissenschaftlichen Gestus (zumeist) entspricht; sondern sie im Spiel gemeinsam zu erkunden, zu verschieben, zu verlieren und aus neuer Perspektive zu betrachten. Wenn sich in solchen Settings also, auf durchaus unterschiedliche Weise, ein Dialog entspinnt zwischen Wissenschaft und Kunst, treten nicht selten die Dozierenden als Anwält*innen der Wissenschaft auf, während das TdV-Ensemble für eine künstlerische Herangehensweise
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(ein-)steht. Dieser Unterschied, die Differenz, der Spalt, the gap, die Nicht-Identität, das Nicht-Gleiche, und damit einhergehend Nicht-Verstehen, Skepsis und Neugier – all das konnte ich wieder und wieder beobachten. Ich war wiederholt mittendrin. Mir scheint, diese starke, reibungsvolle und zugleich frag-würdige Differenz zwischen einer wissenschaftlichen und einer künstlerischen Herangehensweise ist eine notwendige Bedingung für den stattfindenden Dialog. Gleichzeitig sehe ich, dass sich diese Differenz just in der Konfrontation, im Dialog erst stiftet. Muss zumindest ein vager Unterschied also schon vorher gegeben sein, oder nicht? In diesem Sinne verweist die Erfahrung auf die grundsätzliche Frage nach dem, was Kunst und was Wissenschaft ausmacht – jeweils für sich und in Abgrenzung zueinander. Mit dieser Frage im Hinterkopf erlebe ich jeden Auftritt als kleine Feldforschung. Praktisch gewendet zeigt sich in dieser Frage eine erste Herausforderung hinsichtlich der Gleichzeitigkeit von Spielerin-Sein und Dozentin-Sein im Seminar. S. 72 Sie betrifft die Konstitution der TdV-Seminarsitzung, die spezifische Form, Spannung und Atmosphäre, wie sie beim Besuch des TdV in universitären Veranstaltungen durch die produktive Differenz von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeitsweise entsteht. Macht sich diese Differenz vielleicht in erster Linie daran fest, dass die Dozierende eben nicht als Performerin, als Schauspielerin in Erscheinung tritt, sondern eben als die Person, die beim Besuch des Theaters für die Wissenschaft steht? Virulent wird diese Herausforderung unter anderem zu Beginn der Seminarsitzung und in der Nachbesprechung der Performance. Aus diesen beiden Phasen sollen nun einige Beispiele genannt werden. Die zentrale Frage, die sich hier stellt, lautet: Als wer spreche ich? Es zeugt von einer gewissen Absurdität, wenn ich als Dozentin gegenüber den Studierenden den anstehenden Besuch des Theaters der Versammlung ankündige und mich dafür bedanke, dass das Ensemble die Einladung angenommen hat. Indem ich diese gängige Dozent*innen-Praxis reproduziere, grenze ich mich zum einen auf eigentümliche Weise von meinen TdV-Kolleg*innen ab und danke zum anderen in gewisser Weise auch mir selbst, was einen schalen Beigeschmack hinterlässt. Die Situation wird noch absurder, wenn ich in dieser Begrüßungssequenz bereits mein Kostüm trage – und mich sorge, dass die Studierenden diese Verkleidung ggf. nicht als solche erkennen, wenn ich als Dozentin zu ihnen spreche. Wenn ich dann im obligatorischen Nachgespräch der Performance als Spielerin spreche, kann ich mir normalerweise sicher sein, als eine von diversen Stimmen des Ensembles gehört zu werden. Trete ich jedoch gleichzeitig als Dozentin auf, bekommen meine Worte ein größeres Gewicht. Mir scheint, sie sollten ‚richtiger‘ sein, geschliffener formuliert, weniger fragmentarisch, klarer, runder. Meine Worte – so sehr ich in diesem Moment auch versuche, nur Spielerin zu sein – werden gleichzeitig als die wichtigen, kommentierenden Sätze der Dozentin gehört – zumindest potenziell bzw. von einem Teil der Studierenden. Die Erfahrung zeigt: Es ist durchaus möglich, die genannten ‚Probleme‘ situativ und elegant zu lösen. So kann ich beispielsweise zu Seminarbeginn charmant
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scherzend auf die Doppelrolle hinweisen und die Moderation an den Regisseur Jörg Holkenbrink übergeben. Im Nachgespräch kann ich die Differenz markieren, indem ich meine Beiträge als Spielerin besonders provokant formuliere, ggf. unterstützt durch eine äußerst lockere Körperhaltung, während ich immer dann, wenn ich als Dozentin kommentiere, seriöser spreche und posiere. Ich springe also innerhalb weniger Sekunden zwischen den beiden Rollen hin und her. Dieses Spiel ist für mich selbst in der Situation kaum merklich und eher reflexiv einholbar. Situativ spürbar wird es aber durchaus in jenen Momenten, in denen mir Studierende durch irritierte Blicke dezent zu verstehen geben, dass der Switch unsauber war, dass die Dozentin während des Seminars nicht ausgepowert auf ihrem Stuhl sitzen sollte, während dies der Spielerin nach der Performance sehr wohl gestattet ist, ihre zuvor erbrachte Leistung sogar eher unterstreicht. Was also geschieht beim Aufeinandertreffen dieser Rollen? Es kann festgehalten werden, dass mich die Doppelrolle während der TdV-Seminarsitzung und über diese hinaus beschäftigt und irritiert. Offen bleibt die Frage, wie sich dies auf mein Spiel, den Inhalt der Wortbeiträge und die Seminargestaltung auswirkt. Leidet die Qualität aufgrund fehlender Schärfe, Klarheit und Tiefe? Entsteht vielleicht ein unbekömmlicher Brei oder umgekehrt – durch eine allzu forcierte Trennung – eine eindimensionale Zeichnung der jeweiligen Rollen? Oder eröffnet vielleicht gerade die Irritation, das Nicht-ganz-drin-, sondern Daneben-Sein interessante perspektivische Verschiebungen, die nicht zuletzt Einblick geben in das, was „die Spielerin“ bzw. „die Dozentin“ ausmacht? Die zweite Herausforderung, auf die ich, ausgehend von den beiden einleitenden Skizzen, eingehen möchte, betrifft die Körperlichkeit, durch die und mit der ich in den Veranstaltungen präsent bin. So fällt gleich zu Beginn der Beschreibungen auf, dass bei Ersterer das Ich, bei Letzterer das Wir dominiert. Während ich als Dozentin allein vor der Tafel stehe, mich an einer Stelle vor einer Studierendenwand wiederfinde und meine herausgehobene, tonangebende Rolle nicht zuletzt in dem Moment sichtbar wird, wo ich über eine Entscheidung in Zweifel gerate, bin ich als Spielerin stets Teil eines Ensembles. Wir agieren gemeinsam auf der Bühne, ein Fehler meines Spiels kann durch Kolleg*innen aufgefangen werden und vice versa. Im Gegensatz zum Seminar, wo ich ggf. auch im Nachhinein noch weiter zweifle (schließlich war ich ‚allein‘ drin), bietet sich im Ensemble der professionelle Austausch an (schließlich waren ‚alle‘ dabei). Das Seminar ist eine One-WomanShow. Ich performe Gesten des Überblickens und Im-Griff-Habens, zu deren Aufführung mich die Studierenden herausfordern, wenn ich als ordentliche Dozentin, als Lehr-Autorität anerkannt sein möchte. Die Show beginnt mit meinem Eintritt in den Veranstaltungsraum; sie endet damit, dass die Studierenden den Veranstaltungsraum verlassen. Ein gradueller Spannungswechsel findet bei der offiziellen Eröffnung und kurz nach dem Beschließen der Sitzung statt. Auch bei TdV-Auftritten erfolgt ein Spannungswechsel. Er ist jedoch viel intensiver. Vor und nach dem Auftritt sind wir als Performer*innen quasi privat anwesend. Wenn das Spiel
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beginnt, wechseln unsere Körper in einen höchst aktivierten, spannungsreichen Modus, der auf die jeweilige Inszenierung abgestimmt ist. So entsteht im Schutzraum der Klick-Performance ein rezeptiver Flow. Ich erlebe, dass ich gleichzeitig spiele und gespielt werde, besser: dass wir gleichzeitig spielen und gespielt werden. Das sorgfältig konstruierte und zugleich fragile raumzeitliche Setting ermöglicht genau diese Form der aktiven Passivität. Mit dem Applaus klingt die Körperspannung wieder ab, auch wenn wir weiter im Raum bleiben. Die Ent-Spannung nach getaner Arbeit zeichnet mich als professionell aus. Im Gegensatz dazu darf ich als Dozentin auch nach dem Seminar meinen Dozentinnen-Habitus nur in geringem Maße ablegen. Was geschieht nun hinsichtlich dieser unterschiedlichen Zustände, wenn ich das TdV in mein eigenes Seminar einlade, wenn ich also gleichzeitig Dozentin und Spielerin bin? Es wird körperlich anstrengend. Ich bin herausgefordert, mit Betreten des Raums Dozentin zu sein und mit der Eröffnung der Veranstaltung einen ersten Spannungswechsel zu vollziehen. Es ist mir folglich nicht möglich, erst mal quasi privat da zu sein. Zu Beginn der Performance muss ich direkt von der Dozentinnen-Spannung in den höchst aktivierten Spielerinnen-Modus wechseln. Die Gesten der souveränen Dozentin geraten dabei in Konflikt mit der Selbstverständlichkeit, Teil eines Ensembles zu sein, wo Qualität gerade daraus erwächst, dass nicht ich allein meine Augen und Ohren überall haben und alles managen muss. Nicht ganz so heikel, aber doch irritierend ist die Situation am Ende der Aufführung, wenn mein Körper nicht selbstverständlich als Post-Auftritts-Körper sichtbar werden darf, da eine solche Ent-Spannung einer Dozentin im Seminar nicht angemessen wäre (siehe oben). Körperlichkeit wird jedoch nicht nur vor und nach einer Performance zum spannenden Kristallisationspunkt. Auch während der Aufführung interferieren die beiden Rollen und provozieren Fragen, die späteres Nachdenken inspirieren und über ihren Entstehungskontext hinausweisen. S. 131 Ich beschränke mich im Folgenden auf ein etwas plakatives Beispiel, mit dem ich auf etwas hinweisen möchte, das nicht nur diese konkrete, sondern die gesamte Spielsituation durchzieht. Ich vollziehe im Spiel, wenn es die Figur verlangt, auch unelegant-unvorteilhaft wirkende Gesten, zeige mich mitunter auf unelegant-unvorteilhafte Weise. Was will ich mit dieser gewundenen Formulierung sagen? Worauf will ich hinaus? Schlicht gesprochen: Das, was mein Körper als Spielerin tut, bin ich und gleichzeitig nicht ich – für Performer*innen eine selbstverständliche Erfahrung. Spiele ich aber vor meinen Studierenden, ist das, was mein Körper als Spielerin tut, zusätzlich auch das, was die Dozentin Frau Bebek tut und gleichzeitig nicht tut. Meine Studierenden haben im Rahmen der Klick-Performance also grundsätzlich die Wahl zwischen mehreren Beobachtungsebenen. Sie können die von mir verkörperte Figur sehen. Sie können mich als Spielerin sehen und zum Beispiel meine Leistung, eine spezifische Rolle zu verkörpern, wertschätzen (auch, vielleicht sogar insbesondere dann, wenn das, was ich tue, nicht dem entspricht, was Dozentinnen normalerweise
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von sich zeigen). Oder sie sehen die Dozentin, ihre (!) Dozentin, von der sie geprüft werden, von der sie sich vielleicht schon mal gegängelt oder unfair behandelt fühlten, die also zu ihnen in einem Machtverhältnis steht. Und sie können sehen, wie nicht nur ihr Körper, sondern sie, diese Dozentin, genau diese unvorteilhaften Gesten macht: Wahnsinn. Peinlich. Unvergesslich. Ein genugtuendes Geschenk, welches die Köpfe nie mehr verlässt! Ich möchte dies weiter konkretisieren. Die bewusst typisierte weibliche Figur, die ich für die Klick-Performance nutze (Ida Perger: weißer Häkelrock, pinke Bluse, rosa Tuch, Kette mit Kreuzanhänger, silberne Glitzerringe an beiden Händen), hat eine Geste im Repertoire, bei der sie sich unsicher windet und dabei – quasi als versehentliches Nebenprodukt – ihren Hintern ungeschickt hin und her bewegt. Oft provoziert dies, sehr nachvollziehbar und durchaus gewollt, Lacher. Befehle wie „1“ und „fett“ ermöglichen es dem Publikum, die Geste zu ihrem Spielmaterial werden zu lassen, sie also in der Wiederholungsschleife auszustellen und zu vergrößern. Nicht selten verschiebt sich dabei die inhaltliche Konnotation. Zum unsicheren Sich-Winden gesellt sich bisweilen eine sexualisierte Ebene, auf der die Geste jedoch nach wie vor wenig elegant, sogar eher noch ungeschickter wirkt. Ist mir das bei unseren regelmäßigen Auftritten in unterschiedlichsten Kontexten unangenehm? Ist es Schauspieler*innen unangenehm, sich auf der Bühne zu exponieren? Ja, es gibt Grenzen dessen, was ich zeige. Aber nein, diese Bewegung gehört nicht dazu, sonst würde ich sie unterlassen. Ich weiß, dass das Publikum die Geste in die Wiederholungsschleife schicken und somit potenziell auch das beschriebene Spiel mit den Konnotationen starten kann. Und ich erlebe gerade dieses Spiel, insbesondere die Unsicherheit aller Beteiligten, als reizvolle Spielsituation, als genau das, wozu eine Performance herausfordern soll und worin ihr Wert begründet sein kann. Nicht zuletzt habe ich in der Nachbesprechung sogar die Möglichkeit, mit dem Publikum genau darüber ins Gespräch zu kommen und Zuschauer*innen darauf aufmerksam zu machen, wie sehr sie sich in unserem Spiel selber spiegeln. Alles in allem ist klar, dass es schlicht nicht um mich geht. Es geht um etwas, Themen, gesellschaftliche Fragestellungen. Um mich geht es nur insofern, als dass es für das Gelingen der Performance meiner Fähigkeit zu spielen, zu performen bedarf. Ich bin Instrument. In diesem Moment. Im Spiel. Ich habe mich dafür entschieden, es zu sein. Erst im Anschluss, im Nachgespräch, bin ich reflektierende Gesprächsteilnehmerin. 2 Werde ich innerhalb des Spiels also ausgelacht, werde nicht „ich“ ausgelacht, denn es ist im Rahmen der Spielregeln, und ich rechne genau damit. Es betrifft „mich“ folglich nicht, es verletzt mich nicht. Findet die Aufführung aber in einem meiner Seminare statt, bin ich also gleichzeitig Dozentin, bin ich sehr wohl be- und getroffen. Warum? Weil ich davon ausgehe, dass die Studierenden, zumindest einige, nicht nur die Spielerin, sondern auch die 2 | Darüber hinaus gibt es auch noch jene Momente, in denen mir eher zufällig Unvorteilhaftes widerfährt. Während ich es mir als Privatperson verbitten würde, bespuckt zu werden, ist es keine Ausnahme, dass dies auf einer Bühne geschieht. Und die Nicht-Reaktion (also Einbindung ins Spiel) zeichnet mich als professionelle Spielerin aus.
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Dozentin sehen und ggf. genau deshalb den Befehl rufen. Weil ich höre, dass die Studierenden – meine Studierenden – mehr als andere Zuschauer*innen über jene Szenen lachen, in denen ich als Spielerin ansatzweise unvorteilhafte Gesten zeige. Letztlich: Weil ich mich darum sorge, dass sie das Bild von ihrer hintern-wackelnden Dozentin nicht mehr aus dem Kopf bekommen, auch wenn sie es versuchen. Zusammengefasst lässt sich also schließen: Gerade das, was mich als Spielerin in meiner Professionalität auszuzeichnen vermag, kratzt an meinem Image der souveränen Dozentin. Das mag am klarsten dort zu Tage treten, wo etwas Unvorteilhaftes geschieht. Genauer betrachtet ist dies aber sekundär. Es ist schon schlicht die Tatsache, dass eine Dozentin als Spielfigur, als Instrument, in Erscheinung tritt, die hier den Widerspruch, den Rollen-Clash provoziert. Wie also damit umgehen? Natürlich kann man nun sagen, dass es darum gehen müsse, zu zeigen, dass ich ‚da drüber stehe‘. Und dass eben dies darüber entscheide, wie meine Studierenden die Sache beurteilen. Sicher, damit lässt sich das akute Handlungsproblem ‚in den Griff bekommen‘. Ein so gearteter Reflex scheint mir jedoch einen wesentlichen Aspekt der Problematik eher zu verschleiern als anzugehen; und ich bin verführt zu sagen, dass es genau hier erst richtig interessant wird. Vielleicht rühren wir in dieser ganzen Doppelgeschichte genau jetzt an einen entscheidenden Punkt. Beim Spielen setze ich mich einem Publikum aus, mache mich angreifbar, werde verletzbar. Eine mir unangenehme Zuschauerreaktion auf eine unelegante Geste betrifft mich dementsprechend nur insofern nicht, als ich potenziell mit ihr rechne, sie auf der Ebene der Performerin sogar willkommen heiße, da ich mit ihr spielen, sie im Nachgespräch thematisieren kann. Dies ist jedoch nie garantiert. Es bleibt stets ein Risiko bestehen, das es einzugehen gilt. Weshalb? Ich suche – wir suchen – mit den Mitteln der Performance und des Theaters Möglichkeiten, mit dem Publikum eine Begegnung auf Augenhöhe zu gestalten. Die Regeln, die im Rahmen der Klick-Performance aufgestellt werden, dienen letztlich diesem Ziel. Somit geht es nicht darum, Zuschauer*innen durch eine fehlerfreie Show zu beeindrucken, durch ein perfektes Werk zu überwältigen. Stattdessen laden wir zu einer Versuchsanordnung ein, deren konkrete Ausgestaltung maßgeblich von allen Anwesenden abhängig ist. Über Erfolg und Scheitern – inklusive deren Definitionen – entscheiden die konkret Beteiligten. Hierbei wäre jedoch Folgendes zu bedenken (und dieses Thema wird im Rahmen des TdV immer wieder kritisch besprochen, um in eben jene ‚Falle‘ gerade nicht zu tappen): Indem ‚Performance‘ bzw. ‚Begegnung auf Augenhöhe‘ auf diese Weise gefasst werden, laufen Künstler*innen Gefahr, die Verantwortung für ein Ereignis vollends an die Rezipient*innen abzugeben, was nach meinem Dafürhalten auf trickreiche Weise den überkommen geglaubten Werkbegriff umso perfider reinstalliert. S. 229 Ähnliches lässt sich bei einem Blick auf die Seminargestaltung an Hochschulen beobachten. Das Format des Seminars soll – anders als die Vorlesung – zu reger Kommunikation, zu Gesprächen anstiften. Vielen performativen Kunstformen ähnlich, sucht es also die vierte Wand zu durchbrechen und den Se-
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minarraum zur kollektiven Bühne werden zu lassen, auf der diskutiert und fachlich gestritten werden soll. Stattdessen beobachte ich tatsächlich eine Form der ‚Professionalisierung‘ von Lehrenden, die mit einer Didaktisierung und einer angestrebten Perfektionierung der Seminare einhergeht. Das Ziel besteht dann darin, durch die wachsenden Fähigkeiten der Seminarleiter*innen den Erfolg des Seminars zu garantieren – und zwar erstens auf interaktive Weise (Methodenvielfalt, viel Eigenaktivität und Partizipation der Teilnehmer*innen etc.) und zweitens unabhängig von den konkret beteiligten Studierenden. Die einst angestrebte Begegnung im Sinne eines guten Streitgesprächs zwischen einer Person, die etwas vorbereitet hat, und denjenigen, die die Einladung dazu annehmen, wird somit konterkariert. Sowohl in künstlerischen Zusammenhängen als auch in den Räumen wissenschaftlicher Lehre findet also im Namen und im bunten Kleide der Zuschauer*innen- bzw. Studierenden-Partizipation eine neuerliche Distanzierung, Absicherung und Immunisierung gegen Andere(s) statt. Sowohl elegante Ignoranz (‚Ich will niemanden erreichen!‘) als auch serienmäßiger Erfolg (‚Ich kriege alle!‘) können Indizien für diesen letztlich egozentrischen Trend sein. In beiden Fällen findet eines nicht statt: Begegnung und Gespräch im Sinne eines ernst gemeinten Austauschs mit den konkret Anwesenden. Zu dieser Diagnose gelange ich vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Erfahrung des Sich-Aussetzens bzw. Angreifbar-Werdens, welche ich als Performerin im TdV eben nicht nur ertrage, sondern geradezu suche. Diese Erfahrungen bergen das Potenzial, mir anzuzeigen, inwiefern meine Arbeit dem Anspruch der ‚Begegnung auf Augenhöhe‘, des zugewandten Gesprächs, des tatsächlichen Austauschs überhaupt entspricht. Aus dieser Beobachtung und Analyse leitet sich keine zwangsläufige Schlussfolgerung ab, keine eindeutige Handlungsanweisung, schon gar nicht der Zwang, ständig die Begegnung, die Gefahr suchen zu müssen. Sehr wohl erwächst aus den Erfahrungen aber die Unmöglichkeit, abgesicherte FakeBegegnungen und didaktisch aufgehübschte Schein-Gespräche mit ihren herausfordernden Vorbildern zu verwechseln. Und diese Fähigkeit, das eine vom anderen unterscheiden zu können, ermöglicht es mir, darüber nachzudenken, wie viel Risiko ich eingehen möchte, kann oder darf. Blickt man auf die oben beschriebene heikle Seminarsituation, in der ich mich von Seiten der Studierenden durch ihr Schweigen, ihr Nicht-Antworten unangenehm berührt fühlte, so könnte man sehr wohl zu dem Schluss gelangen, dass ich das Seminar anders hätte planen müssen, oder dass ich nicht lange Monologe halten und dann plötzlich eine Frage stellen sollte. Ja, es gäbe diverse Stellschrauben, die Anlage der Veranstaltung sinnvoll zu verbessern. Aber wie und seit wann ist das Kriterium „reibungsloser Ablauf“ zum entscheidenden Qualitätsmerkmal hochgestuft worden? Woher die Selbstverständlichkeit, mit welcher eben nicht der holprig-verschlungene Weg, sondern die glänzende Überholspur als Sinnbild und Top-Metapher für Best-Practice-Bildungsprozesse bemüht wird? Und: Mit welcher Berechtigung leiten vor diesem Hintergrund überhaupt noch
Vom Innern und vom Äußern
fehlbare Menschen Seminare? Eine diagnostisch sowie methodisch-didaktisch geschulte künstliche Intelligenz wäre für ein so definiertes Anforderungsprofil die weitaus bessere Alternative. Neutral in ihrer Bewertung wäre sie obendrein. Sinnlos und abwegig erscheint mir der Einsatz einer KI folglich nur dort, wo mit klarer Stimme gerade der reibungsvolle Verlauf einer Veranstaltung angestrebt wird – also zum Beispiel überall dort, wo Fragestellungen auf eine Weise verhandelt und kritisch diskutiert werden, für die es kein bereits vorgefertigtes Curriculum, keinen fertigen Wahlspruch gibt. Ergo: Das potenziell Wertvolle einer künstlerischen oder akademischen Veranstaltung, in der Menschen leibhaftig zusammenkommen, liegt nicht in ihrem reibungslosen Ablauf, sondern vor allem auch im berührenden Miteinander, wobei Berührungen durchaus auch unangenehm sein können. Aufgabe von Künstler*innen wie Dozent*innen wäre es folglich, dies zu ermöglichen, vorzubereiten, und sich selbst dabei in eine Position zu versetzen, die auch rezeptiv und antwortend sein kann, wobei Letzteres nicht einfach mit der vielbeschworenen Flexibilität gleichgesetzt werden darf. Beim Blick auf die Dimension Körperlichkeit hinsichtlich der Doppelrolle Dozentin/Spielerin, die ich einnehme, wenn die Klick-Performance im Rahmen meines eigenen Seminars aufgeführt wird, landete der Fokus auf einer für mich unangenehm-gefährlichen Situation. Davon ausgehend offenbarte sich, dass es jedoch, wenn ich Begegnung und Gespräch suche und ernst nehme, keine ‚Lösung‘ sein kann, sich im Sinne eines Darüber-Stehens und didaktisch-methodischen Perfektionierens des eigenen Auftritts als Dozentin erneut zu immunisieren und vom Gegenüber abzuschotten. Es gilt hinzuspüren und ehrlich zu sondieren, welche meiner Gesten im Seminar schließend und welche öffnend wirken. Im Rahmen von TdV-Aufführungen sind wir Spieler*innen quasi Medium. Und insbesondere unsere konkrete Bereitschaft, auch uns selbst dabei verletzlich zu zeigen, bietet immer wieder Ansatzpunkte für die gemeinsame Reflexion gerade jener Fragestellungen, die sich nur unterschwellig zeigen. Für mein Dozentinnen-Dasein stellt sich so die Frage, inwiefern es nicht auch im Rahmen von Seminaren genau darum gehen muss; inwiefern also das Thematisch-Werden heikler gesellschaftlicher und in meinem Fall insbesondere pädagogischer Herausforderungen gerade daran gekoppelt ist, dass eben kein erfolgsgarantierendes Standardverfahren abläuft, sondern Studierende und Dozierende gemeinsam im Seminar, in der körperlich-leiblichen Ko-Präsenz herausgefordert sind, aufeinander zu antworten, miteinander ins Gespräch zu kommen. Folglich gilt es, ein gewisses Maß an willkommen geheißenem Risiko und mutwillig ausgehaltener Unsicherheit nicht schlicht als Bürde der Doppelrolle (in meinem konkreten Fall) oder allgemein als möglichst schnell qua Professionalisierung zu überwindendes Schicksal abzutun, sondern gerade diese heiklen Momente als jene Situationen wertzuschätzen, in denen wir aushandeln, wie wir miteinander arbeiten, lernen und leben wollen.
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Klick im Kopf – Ein Performer und Dramaturg hört auf innere Stimmen und spricht in Zitaten seiner Rollen ‣ S. 32 Simon Makhali
den Text von Frau Bebek beiseite legend Clavigo Dass man so veränderlich ist! Dramaturg Stellen Sie sich unseren Leserinnen und Lesern doch bitte einmal vor. Dann will ich aber auch ’ne Fanfare. Ich bin immer König-Darsteller noch Claudius, König von Dänemark. Dramaturg Gern. lässt eine Fanfare ertönen Da hast du dein billiges Mitmachtheater. König Ich bin ein eitles, ekelhaftes Kind, das alles darf, weil es einen Thron hat. Dramaturg Sie bitte – Herr Steiner! Managementtrainer Gern. Mein Name ist Robert Steiner. Ich arbeite hauptberuflich als Managementtrainer. Dramaturg Vielleicht noch etwas Persönlicheres?
Eine Weile geschieht nichts. Philinte Clavigo Ein Freund Astrow Managementtrainer
Worauf warten Sie, wir sind gespannt. Also, was machen wir? Also, ich höre … Bis jetzt hat er alles nur kaputt gemacht. Moment mal, so geht das nicht. Darf ich Sie daran er- innern, dass wir diese Szene, diese Liebesszene …
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alle im Chor Auch ich kenne den Zauberglanz der Augen beim Verführungstanz. Heiner Müller aus dem Off Ihr Herz ist ein Ziegelstein. Managementtrainer … diese Liebesszene als Verhandlungssituation spie- len wollten. Dramaturg Ich hab ja gesagt: Lad die nicht alle ein, aber auf mich hört ja keiner. König Wovon wir wissen, es muss sein und ist üblich, was sollten wir’s mit saurem Widerstand zum Herzen nehmen? Clavigo Einen Funken deiner Stärke, deines Muts. Ich bin ein kleiner Mensch. Ritter Simon Mir ging’s wie einem Kind, das – im Denken unerfahren – sein Spiegelbild in einem Quell erblickte und es bis zu seinem Tode lieben muss. Also, ein Kind … war einmal so frech zu seinen El- Freund tern, dass sein Vater darüber vor Ärger starb, und als der Vater nun im Sarg lag – Simon-Darsteller Nicht, dass du ihm ein prächtig Denkmal baust, mit tausend Tränen seine Gruft betaust. König Lust beim Begräbnis, Jammer bei der Hochzeit. Clavigo Ich hab sie nicht getötet! Dramaturg Gib’s doch zu. Ich hab sie nicht getötet. Clavigo Managementtrainer Wir machen jetzt mal einen Bruch. Nehmen Sie bitte – Dramaturg Herr Steiner, es ist nett, dass Sie mir diese Aufgabe abnehmen wollen, aber vielleicht sollten Sie sich et- was mehr auf Ihre eigene Rolle konzentrieren. Clavigo Hallo? Kommen deine feindseligen Grillen wieder? Astrow Eine Provinzposse, mehr ist es nicht. Das übliche Gemisch aus Suff und Seele. Diese ganzen Jahre auf dem Land haben Karikaturen aus uns gemacht, und jetzt sehen wir aus wie der Rest. Clavigo Die Welt urteilt nach dem Schein. Wer Maries Herz besitzt, ist zu beneiden! Hatten Sie früher nicht größere Gegenstände? Die Ballonflieger Französische Revolution zum Beispiel. Jetzt sind Sie ganz privat. Clavigo Ich gestehe gern, ich schrieb damals mit offnerem Herzen, und es ist wahr, sie hatte viel Anteil an dem Beifall, den das Publikum mir gleich anfangs
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gewährte. Aber in der Länge, man wird der Weiber bald satt. Astrow Ich liebe schon lange niemanden mehr … Aber was sollʼs: Es gibt eben keine Beziehung mehr zur Natur und also auch keine unter den Menschen. Simon-Darsteller Sie sind doch auch einer von denen. scheint etwas sagen zu wollen, winkt dann aber ab Astrow Philinte Ganz unversehens verschieben sich die Grenzen und man weiß nicht mehr, ob man sich auf dem Feld der kulinarischen Genüsse oder im Wunderland der Erotik befindet. Das eine beflügelt das andere, und gelegentlich mag auch von dem einen die Rede sein, wenn das andere gemeint ist. Liebe spürt man. Ritter Simon Astrow Ich liebe schon lange niemanden mehr … Aber was soll’s: Es gibt eben keine Beziehung mehr zur Natur und also auch keine unter den Menschen. Musstest du’s wiederholen? Ich gestehe, ich bin in Clavigo einer schrecklichen Lage. Also ich langweile mich heute nicht weniger als du, Ein anderer Freund doch was wir dagegen machen könnten, weiß ich leider auch nicht. Managementtrainer Es heißt Lei-ter. Lass gut sein, und vergiss nicht, dass unser HauptClavigo-Darsteller werk gegenwärtig sein muss, uns dem neuen Rektor notwendig zu machen. „Dem neuen Minister“. Dramaturg König Der zeigt einen Willen, frech gegen den Himmel. Simon-Darsteller Schalt doch mal ab! Philinte Ich mach mir keine Illusionen. Ich glaube nicht, dass sich Proteste lohnen. Simon-Darsteller Typisch. Managementtrainer Am Ende des Gesprächs zeigt auf Clavigo ist Dr. Dodds psychisch nicht mehr in der Lage, eine vernünftige Entscheidung im Hinblick auf seine Karriere zu treffen. Clavigo zu Robert Steiner Glaubst du denn, dass ich mich nicht noch weiter treiben, nicht noch mächtigere Schritte tun kann? Ritter Simon Ist jemand hier drinnen, der seinen Kopf bisher behalten hat?
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Astrow Wer weiß schon, was eigentlich sein Beruf ist. Ihr alle kommt mir vor wie Käfer, die ich unters Mikroskop gelegt hab. Mir scheint, das interessiert Sie nicht besonders. Ritter Simon Lange zu schweigen, daran hatte ich gedacht. Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde Simon-Darsteller klirren die Fahnen. Die Sitzung ist beendet. Managementtrainer König Allen unsern Dank. Dramaturg sitzt da, Gesicht in den Händen Clavigo Ich wäre nichts, wenn ich bliebe, was ich bin. *** Die Figuren, die ich seit Jahren im Theater der Versammlung verkörpere, sind mir in unterschiedlichem Grade ans Herz gewachsen oder sonst irgendwie Teil von mir geworden. Sie stammen von Goethe, Shakespeare, Molière, Clara Müller-Jahnke, Thomas Brasch, Lothar Trolle, Walther von der Vogelweide, Anton Tschechow, Wolfgang Deichsel, Hölderlin, Urs Widmer, Rolf Vollmann und anderen. Eine zentrale Aktion des Theaters der Versammlung ist „C copy A, verschlüsselt!“, die Klick-Performance, in der Figuren aus unterschiedlichen Stücken und Inszenierungen vom Publikum mit Computerbefehlen live in Bewegung gesetzt und immer wieder neu kombiniert werden können. S. 37 Im hier verfassten Gespräch habe ich also gewissermaßen auf dem Papier KLICK mit mir selbst gespielt.
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„Being in Uncertainties“ Über eine Didaktik des unverfügbaren Wissens1 Peter Sinapius
Einleitung Der australische Philosoph Frank Jackson hat sich 1986 in einer Abhandlung mit dem Titel „Epiphenomenal Qualia“ mit Phänomenen beschäftigt, die unser Bewusstsein von der Welt betreffen und die mit den Mitteln der Neuro- und Kognitionswissenschaften nicht erklärbar sind. Im Zentrum seiner Abhandlung stand folgendes Gedankenexperiment: „Mary is a brilliant scientist who is, for whatever reason, forced to investigate the world from
a black and white room via a black and white television monitor. She specializes in the neuro-
physiology of vision and acquires, let us suppose, all the physical information there is to obtain
about what goes on when we see ripe tomatoes, or the sky, and use terms like ‚red‘‚ ‚blue‘ and so on. She discovers, for example, just which wavelength combinations from the sky stimulate the
retina, and exactly how this produces via the central nervous system the contraction of the vocal
chords and expulsion of air from the lungs that results in the uttering of the sentence ‚The sky is blue‘. […] What will happen when Mary is released from her black and white room or is given a color television monitor? Will she learn anything or not?“ (Jackson 1982)
Jacksons Antwort fiel ziemlich eindeutig aus: „It seems just obvious that she will learn something about the world and our visual experience of it. But then it is inescapable that her previous knowledge was incomplete.“ (ebenda) Jackson wandte sich mit diesem Gedankenexperiment gegen den Physikalismus und physikalistische erkenntnistheoretische Positionen, die annahmen, alles Wissen könne aus 1 | Dieser Beitrag beruht zu Teilen auf dem Aufsatz: Sinapius, Peter (2017): Das Atelier als Lernort / Eine Didaktik des unverfügbaren Wissens. In: von Spreti, F.; Martius, P.; Steger F.: KunstTherapie. Stuttgart: Schattauer, S. 331–338.
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physikalischen Gegebenheiten abgeleitet werden. Es scheint zwar offensichtlich, dass das nicht der Fall ist. Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass heute so viele physikalische Daten gesammelt und ausgewertet werden wie nie zuvor – in der Hoffnung, möglichst viel über die Wirklichkeit zu erfahren. Aus diesen Daten werden Theorien, Modelle und Konstruktionen über die Welt entwickelt, in der wir leben. Sie werden in riesigen Enzyklopädien und Wissensdatenbanken verwaltet, in denen unser Wissen um die Wirklichkeit abrufbar ist. Der Zugriff auf dieses Wissen scheint nahezu grenzenlos zu sein. Mit dieser Produktion von Wissen sind auch Vorstellungen verbunden, welchem Standard das Wissen zu folgen hat, auf das wir zugreifen: Es soll stimmen, also valide sein, es soll allgemeingültig, also reproduzierbar sein, und es soll über den Einzelfall hinausgehen, also objektiv sein. Was aber ist mit dem Wissen, über das sich nicht einfach verfügen lässt, weil es mit unseren individuellen Erfahrungen verbunden ist, die eingeschlossen sind in unser individuelles Bewusstsein? S. 41 Was ist mit dem Wissen, das sich Mary erst aneignen kann, wenn sie aus ihrem Wissenschaftslabor entlassen wird und das erste Mal die Erfahrung von roten Tomaten oder einem blauen Himmel macht? Was ist mit den Wissensschätzen, die unsere Aufmerksamkeit, unsere Teilnahme und unsere Präsenz erfordern und über die wir keine Gewissheit gewinnen können, weil sie nicht einfach reproduzierbar und statistisch darstellbar sind: die Schönheit eines Klangs, die Unwiderstehlichkeit einer Situation, das Ergreifende einer Szene, die Intensität eines Augenblicks? Diese Fragen müssen sich zumindest wissenschaftliche Disziplinen gefallen lassen, in denen es nicht nur um physikalisch messbare Fakten geht, sondern um subjektive Erfahrungen, durch die wir in eine Beziehung zur Welt gelangen. Und natürlich muss man fragen: Gibt es eine Didaktik, die einen Zugang zu dem Wissen öffnet, über das sich nicht verfügen lässt – eine Didaktik des unverfügbaren Wissens? Ich versuche jeden Tag in meiner Tätigkeit als Hochschullehrer, einen Zugang zu diesem Wissen zu gewinnen – aber der Schritt von diesem Tun in die Abstraktion der Sprache ist gewaltig. Ich stoße genau auf jene Stelle, auf die mein Thema zielt: den Übergang zwischen Tun und methodischer Verfügbarkeit, zwischen implizitem und explizitem Wissen. Die Frage nach einer Didaktik des unverfügbaren Wissens betrifft nicht nur die Hochschulausbildung künstlerisch angewandter Studiengänge. S. 155 Sie berührt grundsätzlich die künstlerische Praxis in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen, die mehr mit dem Unbestimmten und Ungewissen zu tun hat als mit dem, über das sich etwas mit Gewissheit sagen lässt.
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Implizites und explizites Wissen Ich will mich der Fragestellung, mit der mein Thema verbunden ist, zunächst metaphorisch annähern, um daran anschließend mögliche Eckpunkte für eine Didaktik des nicht verfügbaren Wissens zu skizzieren. Was ist unter implizitem und explizitem Wissen im Zusammenhang mit der künstlerischen/kunsttherapeutischen Lehre zu verstehen, und welche Dichotomie ist damit angedeutet? Hans Dieter Huber (2015) differenziert beide Formen von Wissen, indem er das implizite Wissen als knowing how oder als Können bezeichnet, das explizite Wissen als knowing that oder als Kennen. Als Beispiel für das implizite Wissen führt er das Fahrradfahren an: Fahrradfahren kann ich nicht lernen, indem ich ein Buch darüber lese (knowing that). Ich muss es ausprobieren. Ich lerne durch Versuch und Irrtum (knowing how). Wenn ich allerdings mit dem Fahrrad zu einem bestimmten Ziel gelangen will, werde ich mit Versuch und Irrtum nicht sehr weit kommen. Ich muss mir erklären lassen, wie ich zum Ziel gelange, oder eine Landkarte zur Hilfe nehmen (knowing that). Etwas holzschnittartig ist damit angedeutet, was hier untersucht werden soll: Welche Rolle spielen Zielvorgaben in unseren Curricula (knowing that), und welche Didaktik ist nötig, damit die Studierenden sich durch das Studium bewegen können (knowing how)? Wenn das Bild vom Fahrradfahren zu einem bestimmten Ziel für das Studium zuträfe, hätten die Studierenden die Aufgabe, sich so durch das Studium zu bewegen (knowing how), dass sie auf ein im Voraus festgelegtes Ziel (knowing that) zusteuern. Diese Vorstellung entspricht einem klassischen Verständnis von Lernen bzw. Lehren: Sowohl Ziel als auch Weg sind weitgehend vorgegeben, so dass es nur noch darauf ankommt, dass sich die Studierenden durch das Studium auf einem bestimmten Weg zu einem bestimmten Ziel hinbewegen. Mit einer solchen Vorstellung ist ein deterministisches Menschenbild verbunden, bei dem Entwicklung darin besteht, möglichst erfolgreich in Bezug auf die Annäherung an ein vorgegebenes Ziel zu sein. Wäre das so, könnte man die Studierenden genauso gut zum Ziel tragen und ihnen die Mühsal ersparen, die sie auf sich nehmen, wenn sie die Strecke aus eigener Kraft bewältigen. Als Kunsttherapeut habe ich gelernt, dass sich Biografien nicht gradlinig auf ein im Voraus bestimmtes Ziel hin entwickeln. Das könnten sie nur um den Preis der Gleichschaltung und Entmündigung. Prozesse der Individuation folgen nicht vorgegebenen Wegen. Im Gegenteil: Entwicklung ist von einem im Voraus nicht bekannten Ziel motiviert. Wir entwickeln uns, weil wir wissen wollen, wohin die Reise geht. Ein Studium ist Teil unserer individuellen Entwicklung, die auf eine mehr oder weniger bestimmte berufliche Zukunft hin orientiert ist. Mit dieser Zukunft verhält es sich aber nicht anders als mit einer Reise zu einem Ort, an dem wir zuvor noch nie waren: Wenngleich wir ein Ziel haben, so ist es uns noch nicht bekannt. Als Hochschullehrer habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Lernen nicht als Prozess vollzieht, bei dem der Weg vorgezeichnet ist und es nur noch darum geht, einer bestimmten Route zu folgen. Lernen vollzieht sich individuell und ist besonders da erfolgreich, wo sich die Studierenden zusammen
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mit ihrem Lehrer auf unbekanntes Terrain vorwagen. S. 180 Unter diesem Blickwinkel ist das Fahrradfahren, die Art der Fortbewegung, das knowing how nicht nur Mittel zum Zweck, sondern eine Möglichkeit der Weltaneignung, die vor allem jenen Bereich des Wissens erschließt, der nicht ohne weiteres zugänglich ist oder zwischen zwei Buchdeckel passt. Für eine Didaktik des unverfügbaren Wissens, die Lernen als einen ergebnisoffenen Prozess versteht, gelangen so Weg und Ziel in ein völlig anderes Verhältnis: Die Landkarte oder die Route, das knowing that, bestimmen die Rahmenbedingungen, die die Voraussetzung dafür sind, dass Entwicklung und Lernen möglich sind. In einem kunsttherapeutischen Studiengang zählen dazu beispielsweise kunst- und bildwissenschaftliche Bezüge, phänomenologische und rezeptionsästhetische Theorien, Kenntnisse der Techniken bildnerischen Gestaltens und – je nach Ausrichtung des Studiums – therapeutische Modelle und Konzepte. Sie stecken den Rahmen für Lernprozesse ab, sie sind aber nicht ihr eigentlicher Inhalt. In der künstlerischen Lehre werden wir mehr noch als in anderen Disziplinen an die Schwelle zwischen Wissensaneignung und individueller Erfahrung geführt: Was ein Gelb ist, wie ein Ton klingt, wie eine Bewegungsgeste sich vollzieht, folgt keiner curricularen Grammatik und bleibt grundsätzlich unvermittelbar. Sie erschließen sich nur der individuellen ästhetischen Erfahrung und sind reflexiv beschreibbar (Sinapius 2015). Das aber stellt die traditionelle, nach wie vor in weiten Teilen der Hochschullehre praktizierte Didaktik auf den Kopf: Wissen vollzieht sich hier nicht als Einverleibung, sondern als Verwandlung von Stoff. S. 141 Ein solcher didaktischer Grundsatz steht in der Tradition der Reformpädagogik, die Lernen nicht von einer Enzyklopädie des Wissens her bestimmt, sondern von einem Verständnis seiner Bedingungen und Voraussetzungen. Sie geht von der Prämisse aus, dass es kein Denken, Erkennen und Verstehen ohne Handeln bzw. auf Handlungen gründende Operationen gibt (Piaget 1980), das heißt, sie begreift Lernen als aktiven Prozess und Denken als Methode der bildenden Erfahrung (Dewey 1993). Wissensproduktion wird dabei als etwas aufgefasst, das auf leibgebundenen Erfahrungen beruht, die man an Dingen oder Ereignissen machen kann. Im Folgenden umreiße ich einige Eckpunkte einer „Didaktik des unverfügbaren Wissens“, wie sie sich sowohl aus der Untersuchung meiner eigenen Praxis in der kunsttherapeutischen Lehre ergeben haben, als auch aus einer nicht repräsentativen Erhebung, die ich unter den Studierenden des Studiengangs „Expressive Arts in Social Transformation“ an der MSH Medical School Hamburg durchgeführt habe. Die Umfrage erfolgte mittels offener Fragen online, anonym und schriftlich im Zeitraum vom 08.01. bis 20.01.2015. Von 60 angeschriebenen Studierenden nahmen 26 an der Umfrage teil. Den folgenden Gesichtspunkten sind Zitate aus dieser Umfrage vorangestellt.
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1. „Lernen braucht Freiheit, etwas um seiner selbst willen zu tun.“
„… wir machen täglich selbst neue persönliche Erfahrungen, wir erleben alles am eigenen Kör-
per, probieren alles selbst aus und haben auch die Möglichkeit in die Richtung zu recherchieren, die uns interessiert …“ (Stud. 25)
Wenn ich mit den Studierenden improvisiere, geht es nicht um richtig oder falsch, gut oder schlecht. Wir beziehen uns aufeinander und merken: Es funktioniert, es schließt sich zu einer Gestalt, es irritiert oder überrascht uns. Das Wort ‚Es‘ weist dabei auf das sog. ästhetische Dritte, das in der kunsttherapeutischen Literatur als unvermittelbar beschrieben wird und sich zwischen denjenigen, die improvisieren, einstellen kann (Sinapius/Niemann 2011). Das Improvisieren verhält sich ähnlich wie das Tanzen, von dem der Choreograph William Forsythe gesagt hat: „Das Tanzen ist wie ein Lebewesen. Du kannst es nicht zwingen, du kannst es nicht zu dir holen. Du musst dich selbst wahrnehmend machen, und es kommt.“ S. 29 (Zit. nach Odenthal 1994) Das hat scheinbar nichts mit dem zu tun, was sich in einem wissenschaftlichen Studium abspielt: Wenn Studierende eine Hausarbeit schreiben und zur Begutachtung vorlegen, geht es vordergründig darum, dass sie zeigen, was sie gelernt haben. Dann bekommen sie eine Note, die den Lernerfolg messen soll. Dieser Vorgang hat nicht unerhebliche Wirkung auf das Verständnis von Lernen und Lehren an der Hochschule und ist oft tief verankert in unseren biografischen Erfahrungen. Lernen ist dabei an ein System von Belohnung und Strafe gekoppelt, bei dem es um Noten und damit Kategorien von richtig und falsch, gut oder schlecht geht. Das Ziel der Arbeit ist dann eine Zahl, die das Selbstbewusstsein des Studierenden heben oder aber auch bis ins Mark treffen kann. Dieses System produziert Angst: Angst zu versagen oder eigenen oder fremden Ansprüchen nicht zu genügen. Ich halte dieses System für absurd. Es beruht auf einer Lernkultur, bei der Wissen nicht etwas ist, das aus einer Sachlage erwächst, sondern das bereits vorhanden ist und darauf wartet, dass es abgeholt und reproduziert wird. Lernen geht anders: Wenn sich Studierende für ein Thema interessieren, möchten sie über dieses Thema selber etwas herausfinden. Das Schreiben einer Hausarbeit beginnt damit, dass sie sich überlegen: Was ist meine brennende Frage, die mir einen Zugang zu meinem Thema verschafft? Dann beginnen sie Material zu sammeln, das sie befragen können. Sie versuchen zu verstehen, machen Beobachtungen, stellen Zusammenhänge her. Das ist ein ergebnisoffener, oft mühsamer und manchmal beglückender Prozess, bei dem sie eine Unterstützung von der Dozentin oder dem Dozenten gebrauchen können. Im Grundsatz unterscheidet sich dieser Prozess nicht von einer musikalischen Improvisation: Das Schreiben einer Hausarbeit braucht dieselbe Offenheit und Fokussierung auf die Sache. John Dewey (1993, 218) nennt fünf Merkmale, die die Bedingungen beschreiben, unter denen sich ein Lernen vollziehen kann, das sich einer Sache um ihrer selbst willen hingibt:
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Der Studierende hat eine „wirkliche, für den Erwerb von Erfahrungen geeignete Sachlage vor sich“, an der er „um ihrer selbst willen interessiert ist“. Aus dieser Sachlage muss ein echtes Problem erwachsen und damit eine Anregung zum Denken. Der Studierende muss das „nötige Wissen“ besitzen und die „notwendigen Beobachtungen“ anstellen, um das Problem zu behandeln. Der Studierende soll mögliche Lösungen entwickeln. Er soll die Möglichkeit haben, sie praktisch zu erproben, „ihren Sinn zu klären und ihren Wert selbstständig entdecken“.
Lernen ist intrinsisch motiviert. Es braucht Freiheit, etwas um seiner selbst willen zu tun, hat der Journalist und Filmemacher Reinhard Kahl formuliert (Kahl 2014). Und dann zitiert er den Soziologen Richard Sennett (2008): „Etwas um seiner selbst willen tun und es deshalb gut machen wollen. Dann springt das Virus einer ansteckenden Gesundheit über.“
2. Lernen braucht einen Gegenstand, an dem es sich entzündet und auf den es sich bezieht. „Indem ich eine klare Aufgabe habe, die mir ein guter Rahmen ist, kann ich alles in diese Richtung lenken. Deswegen ist mir die Zeit, in der ich mich mit meiner Aufgabe alleine auseinandersetze, eine Zeit des intensiven Lernens.“ (Stud. 21)
Manchmal lade ich die Studierenden ein, Klänge oder Geräusche zu malen: Wie stellt sich ein „Summ“ im Unterschied zu einem „Quäk“ oder „Piep“ dar? Die Studierenden sind überrascht von der ungewöhnlichen Fragestellung und beginnen mit Farben zu experimentieren: Wie tönt ein Zitronengelb im Unterschied zu einem Orange oder Blau? Wie tönen zwei Farben, deren Flächen aufeinandertreffen? Die Aufgabenstellung führt sie in einen Dialog mit dem, was unter ihren Händen entsteht. Dann setzen wir uns in einen Kreis und betrachten gemeinsam die Bilder, die entstanden sind, und versuchen zu „hören“, was uns entgegenkommt. Die Studierenden lernen dabei ihre Wahrnehmung zu differenzieren und die Qualitäten der Farben genau zu studieren. Lernen vollzieht sich dabei nicht repetitiv, sondern als aktives Geschehen, das einen Gegenstand hat, auf das es sich bezieht. Das ist nicht selbstverständlich. In vielen Hochschulen treffen wir auf Lernumgebungen, die einem ganz anderen Verständnis von Lernen folgen: Das Gegenüber ist nicht ein Gegenstand, eine Sachlage oder das Thema, sondern es sind die Dozentin oder der Dozent, auf die die Stuhlreihen und Tische ausgerichtet sind. Sie sind vermeintlich im Besitz des Wissens, das die Studierenden in sich aufnehmen sollen. Das Lernen folgt dabei der Vorstellung, es gehe um Stoffvermittlung und nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Stoff. Kunsttherapeutische Ausbildungen lassen sich
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schwerlich nur als eine Ansammlung von Stoff beschreiben, für den dann nur noch eine wirksame Form der Vermittlung gefunden werden muss. Ihr Kern sind eher Lernsituationen, die Spielräume öffnen, in denen nicht Stoff vermittelt, sondern mit Stoff (ästhetisch) gearbeitet und Sinn erschlossen wird. An die Stelle der Dualität von Stoff und Vermittlung tritt das Lernen am Stoff durch aktives Gestalten. S. 97 Dann lässt sich die Didaktik als Methode der Vermittlung nicht vom Inhalt trennen, den sie zum Gegenstand hat (Sinapius 2008).
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3. Lernprozesse brauchen einen Spielraum, in dem es etwas zu entdecken gibt. „Um mich künstlerisch zu entwickeln und auszudrücken, hat es mir geholfen, dass ich gelernt habe, auf mich zu achten und mich und meine Umgebung intensiver wahrzunehmen. Außerdem
hat es mir geholfen, dass es immer den Freiraum gab, sich auszuprobieren und zu experimentieren.“ (Stud. 5)
„Ich bin einfach selber immer wieder erstaunt, wenn es diese Klick-Momente gibt. Also meistens lerne ich nicht bewusst, sondern nebenbei und an mir. Wenn ich nach Hause komme und
gefragt werde, was ich gemacht habe, fällt mir immer wieder auf, wie viel hängen geblieben ist.“ (Stud. 8)
Josef Albers entwickelte ab 1933 am Black Mountain College und später ab 1950 an der Yale University eine Didaktik des Sehens und legte sie in dem Buch Interaction of Color nieder (Albers 1975). Er entwarf für seine Lehre ein ebenso einfaches wie kluges Setting, an dem ich mich orientiere, wenn es um das Thema „Relativität der Farbe“ geht: Es liegen eine große Anzahl von farbigen Tonpapieren, Scheren und Klebstoff bereit, mit denen die Studierenden unterschiedliche Farbanordnungen herstellen sollen, um zu untersuchen, wie sich die Farben in unterschiedlicher Weise beeinflussen können. Wie erscheint beispielsweise ein Rot auf blauem Hintergrund, und wie sieht dasselbe Rot auf gelbem Hintergrund aus? Wie wirken umgekehrt unterschiedliche Farben auf gleichfarbigen Hintergründen? Die Studierenden arbeiten in Dreiergruppen und werden aufgefordert, Hypothesen zu entwickeln, die beobachtbare, wiederkehrende Phänomene beschreiben. Als Anregung gebe ich ihnen zwei mögliche Versuchsanordnungen mit auf den Weg: Versuche zwei unterschiedliche Farben wie eine aussehen zu lassen oder versuche eine Farbe wie zwei aussehen zu lassen. Sie haben dafür 45 Minuten Zeit. Danach kommt die ganze Gruppe zusammen, um die Ergebnisse zusammenzutragen. Es gibt keine Gruppe, die dabei nicht überraschende, verblüffende Entdeckungen macht und nach den ersten Beobachtungen den Ehrgeiz entwickelt, dem Grund für die Farbphänomene auf die Spur zu kommen.
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Was ist das Besondere an einer solchen Lernsituation? Das Thema der Stunde beschreibt nicht den zu vermittelnden Stoff, sondern bestimmt das Setting, den Rahmen oder Spielraum, der durch das vorgegebene Material und die zeitliche und räumliche Organisation abgesteckt wird. In diesem Spielraum können die Studierenden vielfältige und unterschiedliche Entdeckungen machen und Hypothesen über das Wirken von Farben entwickeln. Wenn dann im Anschluss referiert wird, was Josef Albers über die „Relativität der Farbe“ gesagt hat, können die Studierenden darin ihre eigenen Erfahrungen wiederfinden. Die Gestaltung einer Unterrichtsstunde gleicht einer Inszenierung. Ein Lehrer ist dabei eher Regisseur des Lernprozesses als Wissensvermittler. Er muss in der Lage sein, Interesse an einem Thema zu wecken, die nötigen Instrumente zur Verfügung zu stellen, die die Studierenden brauchen, um das Thema zu erschließen, und er muss in der Lage sein, Bedingungen zu schaffen, unter denen Entdeckungen gemacht werden können. Seine Aufgabe ist nicht, Wissen zu produzieren, sondern einen Spielraum zu öffnen, in dem es erschlossen werden kann. Wenn alles klar ist, gibt es nichts mehr zu entdecken. Wenn alles gesagt ist, braucht nichts mehr gesagt zu werden. Wenn die Curricula unserer Studiengänge als Inhaltsangabe dessen missverstanden werden, was „durchgenommen“ und hinterher gewusst oder gekonnt werden muss, hat das erhebliche Folgen für den Unterricht, der sich dann als passive Wissensaneignung vollzieht. Wenn die Curricula allerdings als Rahmen für individuelle Lernprozesse genutzt werden, können die Studierenden vorhandene Spielräume nutzen und individuelle Resonanzerfahrungen machen. Lernen vollzieht sich dann nicht als Aneignung, sondern als Konstruktion von Wissen (Reich 2012).
4. Lehren und Lernen haben mit Ungewissheit zu tun: Negative capability. „… die Bestärkung, dass alles ausprobiert werden darf und kann und alles möglich ist; durch die Erkenntnis, dass auch scheinbar unwichtige Nebenwege Impulse für Neues sein können; dass nichts Fertiges im Kopf sein muss …“ (Stud. 18)
Wenn ich meine Studierenden vor eine Aufgabe stelle, tue ich das nicht in der Absicht, etwas Bestimmtes zu erfahren, das mir vorher schon bekannt ist. Ich will mich überraschen lassen, was die Studierenden aus der Aufgabe machen. Als eine Studentin sich entschuldigte für die Eselsohren und Kaffeeflecke, die ihre Zeichnungen zierten, schlug ich ihr vor, in den kommenden zwei Wochen auf ihren Zeichnungen zu frühstücken und die entstehenden Spuren zum Anlass zu nehmen, sich mit dem Zufälligen, den Spuren des Alltags zu beschäftigen und sie als Einladung zu verstehen, mit Ungewissheiten umzugehen. Irritationen oder Störungen können ein ausgesprochen produktives Moment in einem künstlerischen Prozess sein. In Lernprozessen sind sie häufig Ausgangspunkt für neue Erkenntnisse. In der
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Kunsttherapie nutze ich sie ebenso wie in Programmen zur Wahrnehmungsförderung (Sinapius 2014). Der – zuvor vereinbarte – Eingriff in ein fremdes Bild kann zu ebenso überraschenden Ergebnissen führen wie eine gemeinsame Bildbetrachtung, bei der wir das Bild auf den Kopf drehen oder es unter einer neuen Fragestellung untersuchen. Sehen ist ein nicht minder produktives Geschehen als das Malen eines Bildes. Lernen besteht ebenso wenig wie der spätere berufliche Alltag einer Kunsttherapeutin aus einer Abfolge vorhersehbarer Ereignisse. Was vorhersehbar und planbar ist, sind äußere Rahmenbedingungen, die es uns ermöglichen, einzelne Ausschnitte der uns umgebenden Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Die Studierenden merken ziemlich schnell, dass ihre bildnerischen Erzeugnisse nicht einfach inneren Vorstellungen oder Bildern folgen, sondern dass das, was erscheint, davon abhängt, wie sie es ansehen. Wie in einem Gespräch befinden sie sich in einem steten Wechsel von Bildproduktion und Bildrezeption. Sie lernen, mit Unvorhergesehenem, Störungen oder Irritationen umzugehen und sie als produktive Elemente in ihren Gestaltungsprozess einzubeziehen. Ich bin der Überzeugung, dass intensives Forschen und Lernen erst da beginnt, wo wir vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellen und uns auf unbekanntes Terrain vorwagen. Der englische Dichter John Keats nennt das „negative capability“, wohlgemerkt aber nicht „inability“. „Negative capability“, so schreibt er, „that is when man is capable of being in uncertainties, Mysteries, doubts without any irritable reaching after fact and reason …“ (Keats 1899, 277). In dieser Fähigkeit, mit Ungewissheiten umzugehen, „vielleicht sogar ein gewisses Vergnügen zu empfinden, sich vorübergehend verloren zu haben“, sieht der Musiktherapeut Eckhard Weymann eine Ressource, die zu kreativen Lösungen führen kann (Weymann 2014). Ohne ein gewisses Maß an Ungewissheit bleibt Lehren und Lernen ein unproduktives Geschäft, das selber nur noch dazu in der Lage ist, ein System zu reproduzieren, das selber nicht mehr lernfähig ist.
5. Lernen braucht eine Umgebung des Wohlwollens. „Mir ist es endlich gelungen, mich belehren zu lassen, was mir in der Schule nicht gelungen ist. Das hängt zum einen natürlich damit zusammen, dass ich etwas studiere, was mich interessiert
und was mir Spaß macht, aber viel mehr auch damit, dass ich von meinen Dozenten/Lehrern
das Gefühl bekomme, dass ich fähig und gut bin. Gut im Sinne von: Ich glaube an dich, du bist wichtig.“ (Stud. 26)
„Eine offene, vertrauensvolle Lernatmosphäre – konkret: Dozenten zeigen auch etwas von sich, geben eigene Gedanken und Erfahrungen weiter, Arbeits-„Du“ … Begegnung auf Augenhöhe, kein Frontalunterricht, vielmehr ein Gedankenaustausch und ein gemeinsames Teilen von Erfahrungen.“ (Stud. 22)
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Man könnte annehmen, das Verhältnis zwischen Studierenden und Dozentinnen/ Dozenten an den Hochschulen sei durch Prüfungs- und Studienordnungen geregelt. S. 81 Sie stecken den Rahmen ab, in dem sich Studierende und Lehrende begegnen. Sie legen Lernziele fest und definieren die Instrumente, mit denen die DozentInnen überprüfen können, ob die Studierenden die Lernziele erreicht haben. Noten sind schließlich der Maßstab, wieweit ihnen das gelungen ist. Ein solches Verständnis geht von einem hierarchischen Gefälle zwischen DozentInnen und Studierenden aus, führt zu einem output-orientierten Lern- und Lehrverhalten und schafft eine leistungsorientierte Lernatmosphäre. Es misst Lernen an dem, was am Ende gewusst werden soll, stuft Scheitern und Umwege in Bezug auf dieses Wissen als Versagen ein und geht davon aus, dass Lernerfolg und Wissen quantitativ an dem curricular beschriebenen Lernstoff gemessen werden können. Eine solche hierarchische Organisation von Lehre ist ungeeignet, Lernprozesse so zu fördern oder zu unterstützen, dass Lernen als etwas erlebt wird,
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- das intrinsisch motiviert ist, - das sich auf einen Gegenstand bezieht, an dem Erfahrungen gemacht werden können, - das einen Spielraum hat, in dem es etwas zu entdecken gibt, - bei dem Ungewissheiten und die Bereitschaft zu scheitern als wesentliche Katalysatoren des Lernens eine Rolle spielen. Der Umgang mit Studien- und Prüfungsordnungen mag manchmal eine Gratwanderung sein. Man kann Studien- und Prüfungsordnungen aber auch so verstehen, dass sie lediglich den thematischen Rahmen von Lernprozessen festlegen. Sie sind keine didaktischen Leitfäden für den Unterricht. Lernen ist kein hierarchisches Geschehen, bei dem Wissen Macht und Nicht-Wissen Ohnmacht ist. Die Aufgabe des Lehrenden ist es, den Lernprozess zu begleiten, den Spielraum und die nötigen Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit die Studierenden ihren Fragen nachgehen und Antworten finden können. Wenn es um künstlerische oder soziale Fragestellungen geht, zeigt sich besonders deutlich, dass Lernen ein in hohem Maße an individuelle Erfahrungen gekoppelter Vorgang ist, für den Freiräume vorhanden sein müssen, in denen es sich vollziehen kann. Der Philosoph Hartmut Rosa hat dafür den Begriff der Resonanz eingeführt, der eine erfolgreiche Weltaneignung mit subjektiven Resonanzerfahrungen in einen Zusammenhang bringt: „Gelingende Weltbeziehungen sind solche, in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ ‚Resonanzsystem‘ erscheint.“ (Rosa 2012, 10). Dass solch ein System ein anderes als jenes sein muss, das Wissen in die Kategorien von richtig und falsch einordnet und subjektive Leistungen mit gut oder schlecht bewertet, liegt auf der Hand. Lernen braucht einen geschützten Rahmen und eine Atmosphäre des Wohlwollens. Das heißt, dass wir Lernprozesse
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nicht aus dem Blickwinkel von Studien- und Prüfungsordnungen, sondern aus dem Blickwinkel der Studierenden betrachten sollten. Oder, um es mit den Worten des Bildungsforschers John Hattie zu sagen: „If the teacher’s lens can be changed to seeing learning through the eyes of students, this would be an excellent beginning.“ (Hattie 2009, 252)
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Performative Ereignisformen in der Kunstpädagogik Maria Peters
In Konzepten der lehramtsbezogenen Kunstpädagogik und der musealen Kunstvermittlung hat seit den 1990er Jahren die Thematik der Performance Art und, damit verbunden, ein Einbezug von performativen Verfahren in den Lehr-, Lern- und Vermittlungsprozess an Bedeutung gewonnen. An der Universität Bremen gehören im Lehramtsstudium zukünftiger Kunstpädagog_innen performative Verfahren zentral zum fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Curriculum. Hier hat sich in den letzten 15 Jahren eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Kunstwissenschaft – Filmwissenschaft – Kunstpädagogik mit dem Theater der Versammlung und dem Zentrum für Performance Studies aufgebaut. Im Folgenden wird der Einbezug von Performance Art und performativen Verfahren in den Diskurs der Kunstpädagogik näher beschrieben. Anhand einer Differenzierung wesentlicher Inszenierungsstrategien und Merkmalen performativer Verfahren soll ihre Produktivität für schulische, außerschulische und universitäre Vermittlungssituationen deutlich werden. Mit einer Beschreibung der Bedeutsamkeit von performativen Verfahren für Lehr-Lernprozesse in Schule und Universität markiere ich abschließend auch Erkenntnisse aus den produktiven Vernetzungen meiner Arbeit mit dem Theater der Versammlung und dem Zentrum für Performance Studies.
Vom Werkbezug zur Ereignisform Im Diskurs der Kunstpädagogik und im Kunstunterricht wurden fachhistorisch seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Produktion von ästhetischen Artefakten und damit das sichtbare künstlerische und kulturelle Werk in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Erst ab den 1990er Jahren fand ein stärkerer Einbezug von performativen Theorien und Praxen statt, die einen Perspektivwechsel vom Werk
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zum Prozess provozierten. Man stellte fest, dass es in der Kunstvermittlung letztlich nicht nur um die Auseinandersetzung mit singulären Werkbeispielen gehen sollte, sondern auch um eine besondere, aus der Beschäftigung mit künstlerischen Strategien sich entwickelnde Aufmerksamkeit für den prozessualen Verlauf von ästhetischen Handlungen (vgl. Selle/Zacharias/Burmeister 1994). Eine Spielart davon sind performative Verfahren, die es ermöglichen, das Selbstverständliche in unserer Beziehung zu Dingen und Situationen, zu anderen wie zu uns selbst, zugunsten einer „anderen Wahrheit“ (Kämpf-Jansen 2000: 103) produktiv zu bezweifeln. Performative Verfahren sind begründet in der Performance Art, die sich in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Happening formierte und in der zeitgenössischen Kunst vielfältige körperbezogene und multimediale Spielarten entwickelt hat. Performance Art kennzeichnet einen künstlerischen Erfahrungsund Kommunikationsstil, der sich durch Prozesshaftigkeit, Körperbezogenheit und eine Suche nach präsentischem Erleben auszeichnet. Die Kunstwissenschaftlerin Elisabeth Jappe charakterisiert Performance Art wie folgt: „Eine Performance beabsichtigt nicht die Herstellung eines dauerhaften materiellen Produktes, sondern die Schaffung eines einmaligen, ephemeren Ereignisses, das mit den Sinnen wahrgenommen, im Gedächtnis festgehalten werden soll“ (Jappe 1993: 10). Es ist ein Geschehen, das sich zwischen der Künstlerin bzw. dem Künstler, der Inszenierungsweise von Handlungen sowie dem Publikum entwickelt und sich in kontinuierlicher Veränderung befindet. Anstatt einer dauerhaften und repräsentativen Werkform erzeugt die künstlerische Intervention eine performative Ereignisform, die sich in den Handlungen und Vorstellungen der Akteur_innen und Betrachter_ innen immer erst verwirklichen muss (vgl. Peters 2007: 8). Es wird der Akt einer Handlung in seinem ephemeren Verlauf selbst zur Ausund Aufführung gebracht (vgl. Mersch 2002: 247). Erlebnisse und Erinnerungen, persönliche Verhältnisse zu Gegenständen, Relationen zwischen Mensch und Raum usw. können Inhalt einer Performance sein. Über den Bereich der Kunst hinaus kennzeichnen performative Verfahren eine experimentelle Frage-, Handlungs- und Denkform, in der durch wahrnehmbare Aktionen Vorstellungen erzeugt werden, die über Alltagsbeobachtungen und ein funktionsorientiertes Verständnis von Welt hinausgehen. Performative Verfahren ermöglichen veränderte Blicke auf die Wirklichkeit, die eigene Person und die anderen. Die Produktivität von performativen Prozessen für den Kunstunterricht, aber auch für Bildungsprozesse im Allgemeinen, z. B. im Universitätsseminar, wird seit den 1990er Jahren im kunstpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs untersucht und in Situationen der Kunst- und Kulturvermittlung im Rahmen der Lehrer_innenbildung erfolgreich angewendet (vgl. Peters/Inthoff 2015). S. 140 Der Kunstpädagoge und Erziehungswissenschaftler Gunter Otto sieht den performativen Aspekt im Lern- und Bildungsprozess als wirksame Möglichkeit, Wahrnehmungsroutinen in Frage zu stellen und eine Beweglichkeit des Denkens zu fördern (vgl. Otto 1999).
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Performative Ereignisformen in der Kunstpädagogik
Marie-Luise Lange hat als Kunstpädagogin und Wissenschaftlerin performative Verfahren in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen intensiv untersucht. Sie stellt fest, dass „performative Lernformen“ (Lange 2013: 31) nicht mit der Performance Art professionell agierender Künstlerinnen und Künstler zu verwechseln sind. Gleichwohl sollten in Lern- und Bildungssituationen performative Künstlerstrategien genutzt werden, um einen forschenden Umgang mit Dingen, Räumen, Sprache, den anderen und sich selbst zu initiieren. Nach Lange haben performative Verfahren eine hohe Relevanz für ästhetische Bildungsprozesse, da sie „die Aufmerksamkeit für den Augenblick, in das präsentische I’m here und in Formen des ‚sinnfernen‘ Spielens, aus dem heraus individuelle Handlungsideen und ein Verständnis für Präsenzästhetik entstehen“, einüben (ebd.).
Inszenierungsstrategien performativer Verfahren Marie-Luise Lange kennzeichnet performative Verfahren als eine „Art Forschungslabor moderner Weltaneignung“ (Lange 2006: 10). Im Folgenden werden sechs Inszenierungsstrategien performativer Prozesse benannt, um z. B. im Kunstunterricht alltägliche Situationen durch eine ‚Versuchsanordnung‘ des forschenden Handelns anders zu erfahren (vgl. Peters/Inthoff: 2015, 135 ff.). Die beschriebenen Strategien und Merkmale orientieren sich in Teilen an Aussagen von Jörg Holkenbrink (vgl. Holkenbrink 1996: 23). Kombination von festgelegten und zufälligen Strukturen Innerhalb bestimmter Rahmungen, die als Spielregeln vorgegeben sind, entwickeln Schüler_innen und Studierende eigene Freiheiten, mit selbst gewählten Handlungsvollzügen zu experimentieren und ihre Wirkung zu erforschen. Sie agieren in festgelegten und zufälligen Strukturen und können den Verlauf der Aktion sowohl mitbestimmen als auch sich von ihm bestimmen lassen (Fischer-Lichte 2013: 76). Routinierte Gesten und alltägliche Handlungen werden in ihrem bewussten Vollzug vergegenwärtigend wahrgenommen, in ihrer Inszenierung aber auch unterbrochen, verändert und verfremdet. In der Dynamik des Prozesses entstehen subjektiv erfahrene Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Körperlichkeit und Lautlichkeit als „Materialität der Aufführung“ (ebd. 58). Im performativen Geschehen findet ein freies Zusammenspiel dieser Variablen statt, das als solches nicht mehr von seinen Regeln und Bedingungen ableitbar ist. Dazu gehört, dass sich die anfänglich gesetzte Rahmung im Verlauf des Prozesses verändern und durch eine Öffnung von Möglichkeitsräumen auch in Frage stellen kann. S. 218
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Selbst- und Fremdbeobachtungen Alle am performativen Geschehen Beteiligten bilden eine Gemeinschaft, in der ein dichtes Beziehungsgeflecht gegenseitiger Beobachtungen wirksam ist. In ihren
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festgelegten wie unvorhersehbaren Handlungen sind die Teilnehmenden nach Fischer-Lichte wechselseitig sich bedingende Elemente einer „autopoietische[n] Feedback-Schleife“ (Fischer-Lichte 2010: 63). In der Selbst- und Fremdbeobachtung ist es weniger bedeutsam, zu sehen, zu beurteilen, zu kritisieren oder zu bewundern, was jemand substanziell hergestellt hat. Vergleichbar mit einer Versuchsanordnung wird stattdessen ein Fokus auf das Wie der Perspektive, des Blicks und der Entstehung von Sinn gesetzt. Um eigene und fremde Weisen der Wahrnehmung und des Handelns als Konstruktion beobachten und reflektieren zu können, ist es insbesondere im Kunstunterricht sinnvoll, Notationsweisen in Schrift oder Bild mit einzubeziehen. Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit, Empfindung und Körperkontakt In individuellen und kollaborativen Handlungsprozessen der performativen Verfahren ist ein spannungsvolles Moment zwischen Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit sowie singulärer Empfindung und aktionsbezogenem Körperkontakt produktiv. Eine Achtsamkeit auf den eigenen Wahrnehmungsprozess und ein Bewusstsein für die wechselseitigen Bedingtheiten von Körper, Raum, Zeit und Sprache sind konstitutiv. In der Suche nach individuellem Ausdruck setzt sich jede Schüler_in und jede_r Studierende der Öffentlichkeit der Gruppe aus und wird dabei selbst zum Objekt der Beobachtung. Zeitstrukturen und Rhythmus Performative Prozesse werden durch Zeiteinheiten strukturiert (z. B. Anfang und Ende einzelner Abläufe, Wechsel von Handlungsbezügen, akustischen Ereignissen usw.). Sie bilden eine Rahmung, in der sich das Aktionsgeschehen entfalten kann. Fischer-Lichte versteht unter dem Rhythmus von Aufführungen einen zeitlichen Ablauf, in dem sich das Verhältnis von Körperlichkeit, Räumlichkeit und Lautlichkeit organisiert (vgl. Fischer-Lichte 2013: 64). „Im Rhythmus werden performative Hervorbringung von Materialität und Autopoiesis der Feedbackschleife für alle Teilnehmer wahrnehmbar aufeinander bezogen und so füreinander produktiv gemacht“ (ebd. 65). Wiederholung und Variation Der Rhythmus einer Aufführung als wesentliches Ordnungsprinzip von performativen Prozessen lebt von Momenten der Wiederholung und Variation: „Es sind also gerade die Wiederholungen, die aufgrund der unvermeidlichen Abweichungen und häufig intendierten Modifikationen eine spezifische Dynamik in Gang setzen, die zu durchaus signifikanten Veränderungen zu führen vermag“ (ebd. 42). In der Wiederholung von (alltäglichen) Handlungen und ihrer bewussten Variation werden Differenzen zum Bekannten aus ungewöhnlichen Perspektiven beobachtbar. Wiederholungen von Gesten und Situationen bringen eine immer wieder andere ‚Aufführung‘ des Handelns hervor, die einmalig und unwiederholbar ist.
Performative Ereignisformen in der Kunstpädagogik
Handlungsraum wird Sprachraum und vice versa Nach Fischer-Lichte konstituiert sich Räumlichkeit in den Wahrnehmungen, Bewegungen, Interaktionen und der Lautlichkeit aller Beteiligten: „Die Räumlichkeit der Aufführung ist in diesem Sinne instabil, ständig in Fluktuation begriffen. Der Aufführungsraum ist daher als ein beweglicher und bewegter Raum zu konzipieren“ (ebd. 58 f.). Performativ sich konstituierende Handlungsräume entsprechen der Vorstellung eines „gelebten Raumes“ (Merleau-Ponty 1976: 133). Der gelebte Raum bildet sich in unserer Sinnes- und Handlungserfahrung. Zum anderen können wir erst durch ein Handeln im Raum eine Achtsamkeit und ein Bewusstsein für unser Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Sprachvermögen entwickeln. Handlungsraum und Sprachraum bedingen und fundieren sich gegenseitig. Im Versuch einer gleichzeitigen Ausrichtung auf das Vernehmen des Raumes wie auf die Spürbarkeit des eigenen Vernehmens im körperlichen Sensorium entsteht ein Zwischenraum der Präsenz. Er trägt ästhetische Züge, da er auf die im Interaktionsprozess zwischen Subjekt und Raum sich bildenden Assoziationen, Empfindungen und Gedanken ausgerichtet ist. In ihm schieben sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander und verrücken bekannte Erfahrungen zugunsten von unvorhersehbarem Sinn (vgl. Peters 2015).
Performative Verfahren in Lehr-Lernprozessen von Schule und Universität Im Kunstunterricht und im Universitätsseminar kann ein Sprechen, Schreiben und Gestalten in Auseinandersetzung mit ästhetischen Artefakten schöpferische Potenziale der Lernenden und Studierenden freisetzen und sichtbar machen. Dies gelingt oftmals am eindringlichsten, wenn der sprachliche und gestaltungsbezogene Ausdruck im Moment performativen Handelns provoziert wird (vgl. Peters 2011). Damit ist eine Spielart performativer Vermittlung angesprochen, in der ein wahrnehmungsgebundenes Handeln aller am Lehr-Lernprozess Beteiligten in einem spezifischen Dialog mit den ästhetischen Artefakten und Situationen selbst mit ‚ausgestellt‘ wird. Eine performative Handlung meint hier keine künstlerische Bühnenaktion vor Publikum, sondern die Einnahme einer experimentellen Haltung im Prozess der sprechenden, schreibenden und gestaltenden Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Auf diese Weise können flüchtige Momente der Abweichung von regelhaften Verhaltensweisen, vorgesehenen Betrachter_innen-Rollen und tradierten Sprach-Settings im Unterricht und im Seminar sichtbar und produktiv werden. Um performative Prozesse vergegenwärtigen und reflektieren zu können, bedarf es ihrer Übersetzung in eine mediale Form. Nur als Bild, Video, Sprache, Text, Ton usw. kann die je spezifische Haltung und Vorgehensweise der Schüler_innen und Studierenden für jede und jeden einzelnen und für die anderen gegenwärtig werden. Es gibt am Ende kein fertiges Werk, sondern ein Bearbeitungszustand wird präsen-
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tiert und reflektiert. Dieser motiviert dann eine gemeinsame Suche nach theoretischen Äquivalenten, also Begründungszusammenhängen, die die möglicherweise verdeckte Logik des Erfahrungsprozesses erst zeigen. Für eine theoriegeleitete Strukturierung der eigenen Erfahrungen sind Aussagen von Künstler_innen und philosophische und pädagogische Beschreibungen von Phänomenen und Prozessen besonders geeignet, da sie auf der Ebene von Verfahren und Vorgehensweisen argumentieren und weniger fertige theoretische Konzepte anbieten. Lehrende in Schule und Universität müssen in der Arbeit mit performativen Verfahren ein verändertes Selbstverständnis für gemeinsame Lehr-Lernprozesse entwickeln und auch aushalten, dass sie nicht alles zu jeder Zeit immer besser wissen und können. Auf der anderen Seite dürfen die Lehrenden nicht nur aus Empathie mitfühlen, sondern müssen aus den Erfahrungen eigener biografischer, performativer und medialer Arbeit ahnen, was sich abspielen könnte. Im Kontext einer professionellen Lehrer_innenbildung – nicht nur im Bereich der Kunstpädagogik – ist zu fordern, dass im Studium ein Erforschen wissenschaftlicher Themen auch durch performative Verfahren und ihre biografisch motivierte und theoriegeleitete Reflexion stattfindet. Die Ausbildung von Risikofreude, Spielfähigkeit und Inszenierungskompetenz durch performative Handlungen sollte dabei ein wesentliches Ziel sein. Im Kontext der „Verknüpfungskunst“ (Bebek/Holkenbrink 2015: 76) partizipiere ich als kooperierende Seminarleiterin, Vortragende bei gemeinsamen Veranstaltungen und wissenschaftliche Beraterin seit über 15 Jahren an der Arbeit des Theaters der Versammlung. Darüber hinaus kommen regelmäßig die Studierenden unseres Fachbereichs Kulturwissenschaften in den Genuss, direkt in Veranstaltungen des TdV oder über Kooperationen ihrer Seminare mit dem TdV und dem Zentrum für Performance Studies zusammenzuarbeiten. In vielen Diskussionen und gemeinsamen Seminaren habe ich erfahren, dass in der Produktion und Reflexion performativer Handlungen alle am Geschehen Beteiligten, z. B. Schüler_innen, Studierende und Lehrende, Folgendes vergegenwärtigen und erkennen können: Egal, was man redet, schreibt, künstlerisch und medial bildet, es taucht immer etwas anderes auf, als man meint, man macht weniger deutlich, als man beabsichtigt, man sagt, schreibt und bildet anderes, als man bewusst intendiert. Hier geht es nicht darum zu fragen, wer man ist, sondern zu erforschen, wer man sonst noch sein könnte. „Einen Schwerpunkt bildet dabei das Training von innersubjektiven Übergangsfähigkeiten“ (Holkenbrink 1996: 23). In einer ästhetisch-forschenden Haltung sind alte Orte der Identifikation ins Wanken geraten und die kulturellen Grundbilder in Frage gestellt, ebenso wie eine zwanghafte Suche nach Selbstfindung. Es ist das vielseitig orientierte Subjekt, das in sich heterogen und nicht zu fassen ist. Man lebt eine plurale Identität. S. 43 Es genügt nicht mehr, spielen zu können, darüber hinaus gilt es situativ zu entscheiden, welches Spiel an welchem Ort und zu welcher Zeit das momentan richtige ist.
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Performative Ereignisformen in der Kunstpädagogik
Q uellen Bebek, Carolin/Holkenbrink, Jörg (2015): „Denkräume in Bewegung setzen. Performance Studies: Möglichkeiten der Transformation in fächerübergreifenden Studienprojekten mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst“, in: Heidi Schelhowe/Melanie Schaumburg/Judith Jasper (Hg.), Teaching is touching the future. Academic teaching within and across disciplines. Tagungsband, Bielefeld: UVW, Universitätsverlag Webler, S. 76–83. Fischer-Lichte, Erika (2010): Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Fischer-Lichte, Erika (2013): Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript Verlag. Holkenbrink, Jörg (1996): „Das Modell ‚Theater der Versammlung‘. Einsichten und Eingriffe in die Inszenierungen der Realität“, in: Johannes Beck/Jörg Holkenbrink/ Anne Kehl (Hg.), Tragt Masken schont das eigene Gesicht. Das Theater der Versammlung – Performance zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst, Bremen: Ed. Temmen, S. 22–27. Jappe, Elisabeth (1993): Performance, Ritual, Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München: Prestel Verlag. Kämpf-Jansen, Helga (2000): „Ästhetische Forschung. Aspekte eines innovativen Konzeptes ästhetischer Bildung“, in: Manfred Blohm (Hg.), Leerstellen. Perspektiven für ästhetisches Lernen in Schule und Hochschule, Köln: Salon Verlag, S. 83–114. Lange, Marie-Luise (2006): „Vorwort“, in: Marie-Luise Lange (Hg.), Performativität erfahren. Aktionskunst lehren – Aktionskunst lernen, Berlin u. a.: Schibri Verlag, S. 9–20. Lange, Marie-Luise (2013): I’m here. Ästhetische Bildung als Präsenz, Ereignis, Kommunikation, Aufmerksamkeit und Teilhabe. Hg. v. Andrea Sabisch et al., Hamburg. , Zugriff am 01.04.2017. Merleau-Ponty, Maurice (1976): Die Struktur des Verhaltens, Berlin, New York: Verlag Walter de Gruyter. Mersch, Dieter (2002): Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
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Otto, Gunter (1999): „Ästhetik als Performance – Unterricht als Performance?“, in: Hanne Seitz (Hg.), Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung, Essen: Klartext Verlag, S. 197–202. Peters, Maria (2007): Performative Handlungen und biografische Spuren in Kunst und Pädagogik, Hamburg: Hamburg University Press. , Zugriff am 15.05.2017. Peters, Maria (2011): „‚Ich rede und schreibe anders, als ich denke, ich denke anders, als ich denken soll, und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel‘. Sprechen in Auseinandersetzung mit Kunst“, in: Johannes Kirschenmann/Christoph Richter/ Kaspar H. Spinner (Hg.), Reden über Kunst. Fachdidaktisches Forschungssymposium in Literatur, Kunst und Musik, München: kopaed Verlag, S. 245–260. Peters, Maria (2015): „Kommunikative Grenzgänge im medialen Raum der Radiokunst“, in: Malte Brinkmann/Kristin Westphal (Hg.), Grenzerfahrungen. Phänomenologie und Anthropologie pädagogischer Räume, Weinheim: Beltz Juventa, S. 178–198. Peters, Maria/Inthoff, Christina (2015): »Wahrnehmung und Sprache in performativen Versuchsanordnungen«, in: Birgit Engel/Katja Böhme (Hg.), Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen, Bd. 2. München: kopaed Verlag, S. 132–148. Selle, Gert/Zacharias, Wolfgang/Burmeister, Hans-Peter (Hg.) (1994): Anstösse zum „Ästhetischen Projekt“. Eine neue Aktionsform kunst- und kulturpädagogischer Praxis?, Hagen/Loccum: LKD Verlag.
Anmerkung der Herausgeberinnen: Frieder Nake war der erste Informatiker, mit dem das Theater der Versammlung bereits in den 1990er Jahren regelmäßig zusammenarbeitete. Die Idee zur Performance C COPY A, VERSCHLÜSSELT S. 37 entstand während der Kooperation mit seinen Seminaren.
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Ein Tanz zwischen Stühlen und Tischen Betrachtung vor Informatik-Hintergrund Frieder Nake
Das, was wir „Lehre“ nennen, das Lehren, können wir aus einer bestimmten, gewiss ein wenig befremdlichen und vereinfachenden Blickrichtung als ein Tanzen zwischen Stühlen und Tischen sehen. Auch wenn die körperlichen Bewegungen, die es dabei zu betrachten gilt, oft Grazie und Eleganz oder Leichtigkeit missen lassen, so können wir doch nicht leugnen, dass der Eiertanz der Lehrer (und wohl auch von Lehrerinnen) oft nichts anderes ist als die Suche nach einem Weg hindurch zwischen allen Stühlen, auf denen die Studierenden sitzen, und damit dann auch nach einem Weg hin zu den Tischen, an denen sie sitzen. Solch eine Betrachtung auf unterer Ebene finge also im Klassenraum an, der hinsichtlich seiner Besetzung mit Menschen gekennzeichnet wäre durch ein Sitzen auf und an und ein Tanzen dazwischen. Schon auf dieser niedrigsten, aber durchaus faktischen Stufe hätten wir somit überraschenderweise ein performatorisches Element ausgemacht. Der Fall (kaum noch vorstellbar, dass er heute vorzufinden wäre, aber ich kenne ihn an der Universität), dass auch der Lehrer sitzt, vorne, vor allen
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anderen, sie konfrontierend, ist in unserer Betrachtung enthalten. Das tänzerische Element ist hier zwar körperlich stark reduziert, vielleicht jedoch nur, um der geistigen Tänzelei umso größere Freiheit einzuräumen. S. 38 Bei solch einer den ganzen Menschen einbeziehenden Betrachtung fiele bald auf, dass das Potenzial der bewusst eingegangenen Performance in der großen Mehrzahl der Fälle nicht recht genutzt wird. Das müssten und würden wir bedauern. Wir würden aber sogleich Wochenendseminare ausarbeiten und anbieten, in denen eine befreiende Didaktik vorgetragen und geübt würde, mit der wir Verknöcherungen auflösen könnten, die darauf nur warten. Gelegentlich versuche ich derartiges in meiner Praxis. Von zwei, drei Fällen möchte ich erzählen.
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1.
Im Jahre 1990 wohl war ich eingeladen worden, zum Auftakt einer Arbeitstagung im niedersächsischen Bederkesa zu sprechen. Ein relativ kleiner Kreis von umso stärker interessierten Personen würde zusammenkommen. Man begab sich für zwei oder drei Tage in Klausur. Alle waren auf ernsthafte Debatten vorbereitet, Positionen würden vorgetragen und gegeneinander gehalten werden, die Erwartungen lagen hoch. Es ging um theoretische Fundierungen der Informatik, also um Voraussetzungen der spät entstandenen Disziplin in Philosophie, Ökonomie, Psychologie, Politik, Ästhetik. Sichtweisen der Informatik würden aufeinandertreffen, harmonierend und dissonant. Bester wissenschaftlicher Streit würde hoffentlich aufflackern, denn es ging um etwas. Dazu also traute man mir eingangs etwas zu. Eine Ehre, fraglos. „Und Gegenstand der Informatik ist doch die Maschinisierung von Kopfarbeit“, hatte ich meinem Vortrag als Titel vorangestellt. Ich tue das sonst selten einmal, eigentlich nur zur Eröffnung einer Kunstausstellung oder bei der Ehrung eines Kollegen – hier aber tat ich es: Ich kam mit einem ausformulierten Text, brachte mich am Rednerpult in Positur, kramte die Blätter des Manuskripts hervor, legte sie – sie gleichzeitig glättend – auf dem Pult zurecht, gab meinem Gesicht einen entschlossenen, vielleicht gar gewichtigen Ausdruck (was mir schwer gefallen sein wird) und begann mit ernster, eindringlicher Stimme zu sprechen. Naturgemäß kann ich mich an keine einzige meiner Empfindungen in jener Situation mehr erinnern. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass der Anfang ungefähr so gewesen sein muss, wie angedeutet. Ohne dass mir damals schon das Wort richtig geläufig gewesen wäre, hatte ich mir eine Performance vorgenommen. Sie bestand, wie eine jetzige Leserin mir hoffentlich beipflichten wird, aus nichts als einer etwas übertrieben gestalteten Vorlesung. Bis es zu jenem Augenblick kam, nach etwa fünfzehn Minuten. Da nämlich hielt ich inne im Vorlesen, bat um eine kurze Unterbrechung, bevor es sogleich weitergehen würde. Ich verschwand hinter einem Vorhang, der schwer von der Decke bis auf den Boden herabfiel und mit dem
Ein Tanz zwischen Stühlen und Tischen
man die hohen Fenster des Schlosses verdecken konnte, in dem wir uns befanden. Es dauerte nur eine Minute, so schätze ich, bis ich aus meiner Umkleide wieder hervortrat und zurückkehrte zum Standort des Redners, wo ich vorher noch den OH-Projektor eingeschaltet hatte. Zur Erläuterung: ein „OH-Projektor“ war das damals beliebte und unumgängliche Medium bei allen Vorträgen, ein „Overhead-“ oder auch „Tageslicht-Projektor“. Man hatte transparente Folien vorbereitet, die dann eine nach der anderen auf die Glasfläche des Projektors gelegt und von ihm per umgelenktem Lichtstrahl an die Wand oder gar auf eine Leinwand geworfen wurden. Ich trat also aus dem Vorhang wieder hervor und begab mich zum hilfreichen Projektor, um ihn, den ich bis dahin entgegen dem gewöhnlichen Gebrauch nicht verwendet hatte, denn ganz hatte ich auf die Kraft meines Wortes und die Fähigkeit der Anwesenden zum Zuhören gesetzt – um den Projektor nun also endlich einzusetzen. Denn Folien lagen durchaus sichtbar längst schon bereit. Doch wie ich da wieder erschien, war ich, deutlich vom Publikum zu erkennen, ein anderer geworden. Ich hatte ein anderes Gesicht aufgesetzt, eine Maske nämlich angelegt: die eines Polizisten. Ich glaube auch heute noch, sie stand mir gut, verhüllte sie doch mein Gesicht, von dem ich nicht sonderlich überzeugt bin, und hatte auch, falls ich mir das jetzt nicht Jahrzehnte später ausdenke, einen frischen rosigen Teint. Wie man es eben von einem Polizisten erwarten durfte, der meist draußen in der sogenannten frischen Luft herumlief. So also in eine adrette Metamorphose eingetreten, kramte ich die erste Folie hervor; das Manuskript hatte ausgedient, es wurde ersetzt. Die moderne Art des Haltens eines Vortrags kam zu ihrem Recht. Ich hatte gelernt, dass man Material einsparen konnte, wenn man seine Folien (von Hand) relativ dicht beschrieb, dann Zeile um Zeile mehr von der Aussage bekannt gab, die Ziel und Zweck des ganzen Auftritts werden sollte, dabei aber sorgfältig all das verhüllt hielt, was von der Folie noch nicht dem Publikum bekannt gegeben werden sollte. Spannung sollte ja aufgebaut werden. Das Publikum sollte vom Redner geleitet werden, sollte ihm genau zuhören, so als würde er nicht nur sprechen, denn er zeigte nun ja auch etwas, eben das, was die Transparent-Folien enthielten. Durch das schrittweise Enthüllen, das scheibchen- oder zeilenweise Aufdecken des vorformulierten Textes konnte der Redner sein Publikum an einem Gängelband halten. Ich weiß nicht, ob es damals Untersuchungen gab, die dem Publikum den Grad der Spannung zu entlocken suchten, dem es sich ausgesetzt sah. So also war das Setting des zweiten Teiles meines Bederkesaschen Vortrages von 1990. Der Gag aber, wie die Leserin vielleicht erhofft haben mag, kommt erst nun. Während ich also die erste meiner Folien noch ganz mit nicht-transparentem Papier bedeckte, begann ich wieder zu sprechen. Meine Worte jedoch standen in keinem Zusammenhang mehr mit dem Thema der Arbeitstagung. Sie entsprangen einzig dem Augenblick, der freien Assoziation, dem, was mir in der Sekunde in den Sinn kam, und setzten sich so fort, immer ein wenig an Kurt Schwitters denkend,
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aber naturgemäß nicht in konkreten Unsinns-Lauten seiner Ursonate etwa, sondern durchaus in Sätzen, wie sie einem Informatiker zu Gebote standen. Schließlich aber und endlich: Schritt für Schritt zog der Redner (also ich) das verdeckende Papier ein wenig weiter nach unten, was die Zuhörenden daran bemerken konnten, dass mehr Licht an die Wand geworfen wurde. Gewöhnlich erscheint jedoch auf der Projektionsfläche dort weniger Licht und stattdessen vielmehr farbig gehaltene Schrift, wo der Vortragende die Folie beschrieben hatte. Dies aber blieb aus! Nichts, aber auch gar nichts Schriftliches wurde sichtbar. Mehr und mehr der Folie kam zum Vor-Schein. Doch was zum Vorschein kam, war nur Licht. Sozusagen Erleuchtung aus Beleuchtung. Der freie Fluss der Wörter aus dem Augenblick der Situation wurde aufs Schönste ergänzt durch die Feier des freigelassenen Lichtes. Das alles, es sei daran erinnert, hinter der Maske eines etwas altmodisch ausschauenden Polizisten. Das Ganze kam zum Ende, als die einzige Folie, die es zu zeigen gab und die ganz leer war, nun ganz sichtbar geworden war. Mehr war nicht zu sagen, mehr auch nicht zu zeigen. Ergänzen aber muss ich, dass nach weniger als einem Viertel der Enthüllungsaktion ein kluger Kopf, der sich im Publikum befand, aufsprang und mit dem lauten Ausruf „Kasperletheater!“ entschiedenen Schrittes den Saal verließ. Ich konnte mich aus dem Schock dieses Aktes einer selbstständigen Partizipation gerade noch mit dem Ruf „Genau, das ist es!“ befreien und meinen Vortrag ordnungsgemäß zu Ende bringen. (Heimlich freute ich mich über den erbosten Kollegen. Er hatte begriffen.) Anfügen im Sinne eines Kommentars möchte ich, dass ich durchaus einen gewissen Stolz darüber empfand, mir einen solchen Akt der Performance zugetraut zu haben. Und das mit erheblich geringerem Einsatz von Mitteln und Arbeitskraft, als es der Künstler Christo mit seiner Frau Jeanne-Claude bei seinen, logisch gesprochen, Counterparts, den Verhüllungen, verlangte.
2.
Ein anderes Beispiel. Am 10. Juni 2004 wurde an der Universität Bremen das Graduiertenkolleg „prozessualität in transkulturellen kontexten. dynamik und resistenz“ mit einem kleinen Symposium eröffnet. Die dadurch erfreuten und freundlichen Kulturwissenschaftler*innen hatten Susan Grabowski und mich eingeladen, zehn Minuten lang etwas zu tun. Wir ließen uns eine Performance einfallen, die wir dem Raum widmeten, dem Thema „Raum“. In der kurzen Zeit, die wir hatten, was ausdrücklich gut war in seiner Beschränkung und Eingrenzung, wollten wir alle hier Anwesenden auf den Raum aufmerksam machen, in dem wir waren und der als Thema wohl im Kolleg später eine Rolle spielen würde. Als die Reihe an uns kam, stand Susan vorn, dort wo man steht, um dem Publikum ins Auge zu sehen. Sie sah dem Publikum aber nicht ins Auge. Vielmehr
Ein Tanz zwischen Stühlen und Tischen
richtete sie den Projektor so aus, dass er zur linken Seite der Stirnwand des Raumes hin zielte. Die nun zum Vorschein kommenden Projektionen waren also nicht auf die Mitte der Wand gerichtet, sondern, wie erwähnt, nach links, vielleicht für manchen ein wenig ungewöhnlich. Was naturgemäß unsere verfremdende Absicht war. Außer diesem Versatz gab es jedoch nichts sonderlich Aufregendes. Allerdings geschah im weiteren Verlauf dieses Teiles unseres Beitrages – des Projektions-Beitrages – Folgendes. Vorbereitet hatten wir insgesamt dreißig Folien. Eine große Menge für zehn Minuten. Alle zwanzig Sekunden, das war streng einzuhalten, wechselte Susan das Bild. Unsere Performance hatte den Titel „angesichts des dritten“. Die Folien befassten sich auf vielfältige Weise in abwechslungsreicher Gestaltung mit der Drei und dem Dritten. Nur blieb das projizierte Bild nicht dort drüben, an der Seite des Saales, seiner linksseitigen Ferne verpflichtet. Es wanderte vielmehr, Schritt für Schritt von links unten nach rechts oben, von der Flächigkeit der ebenen Wand in die Räumlichkeit des Eckwinkels, entlang einer Diagonalen, alle zwanzig Sekunden weiter. Jene Seite des Raumes wurde von Bildern in wechselnden Positionen bestrahlt, denen das Publikum gewöhnlich seine Aufmerksamkeit zuwendet.
Zwei Folien aus „angesichts des dritten“
Während nun dieses geschah, agierte der Vortragende, also ich, auf ganz andere Weise im Raum. Die Stühle standen so, dass ungefähr in der Mitte des Raumes ein Gang frei blieb, der die Breite des Raumes von links nach rechts durchmaß. Und auch von ganz hinten nach ganz vorn war ein Gang ausgespart worden. Die Stühle bildeten so also vier Blöcke. Das Publikum war zahlreich genug erschienen, so dass alle vier dieser Blöcke besetzt waren. Zu Beginn der Projektionen stand ich am hinteren Ende des Raumes, in dessen Mitte, im Rücken des Publikums. Nicht gerade die gewöhnlich als höflich angesehene Art. Exakt mit Projektionsbeginn fing ich dort hinten an, um die beiden hinteren Blöcke des Publikums herum zu schreiten und im Schreiten einen Text vorzutragen. Als ich wieder an meinem Ausgangspunkt angelangt war, ging ich
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Frieder Nake
die Mittelachse zwischen den Stühlen nach vorn bis genau in die Mitte des Raumes, setzte mich dort auf den Boden und las weiter den vorbereiteten Text vor. Ich beendete dies, als die Projektion in ihrer langsamen Bewegung nach genau zehn Minuten in der oberen rechten Ecke des Raumes angekommen war. Wir wissen nicht, was die Anwesenden sich hierbei gedacht haben mögen. Das Programm ging ja weiter mit Ansprachen der üblichen Art. Nie können wir wissen, was performative Elemente im Rahmen einer typischen akademischen Veranstaltung bei den Anwesenden auslösen und verhindern mögen. Das macht vielleicht den Reiz und das Wagnis solcher abweichenden Formen aus.
3.
Es gibt fürs Vortragen akademischer Äußerungen Kleinigkeiten, spontane Einfälle und generelle Haltungen. Als mit den 1990er Jahren deutlich wurde, dass in Fächern wie der Informatik einerseits die vorherrschende Form des Lehrens die einer Vorlegung (kein Schreibfehler!) geworden war, und dass dieses Vorlegen von Folien ästhetisch meist eine grauenvolle Zumutung darstellte – dass andererseits jedoch immer mehr dessen, was in einem Fachgebiet zum Kanon des Lehrens gehörte, im Internet (bei Wikipedia etwa, aber auch anderswo) zu finden war, stellte ich das Vortragen systematisch geordneter Stoff-Sammlungen weitgehend ein. An ihre Stelle setzte ich die Erzählung. Meine Erzählung. Ich tat es erst noch zögernd, nach der Lektüre von Lyotards Das postmoderne Wissen und unter dem Einfluss des radikalen Konstruktivismus Heinz von Foersters, Ernst von Glasersfelds und anderer jedoch entschieden. Ich erklärte meinen Kolleg*innen, dass es Vorlesung bei mir nun nicht mehr gäbe und auch nicht wieder geben könne. Dem, was die Studierenden, mal gut, mal weniger gut, an Netzorten des worldwide web finden konnten – und deswegen auch finden sollten –, wollte ich mit der Form der Erzählung ausdrücklich etwas entgegensetzen, das sie dort im WWW nicht finden würden oder, wenn doch, dann höchst zufällig. Solch eine Form trägt selbstredend den Stachel von Beliebigkeit in sich. Wenn ich jedoch dem, was ich an systematischem Stoff vorbringen würde, in einigermaßen akzeptabler Form im Internet begegne, muss ich mich fragen, wozu meine Erfahrung, meine Kenntnisse, meine Einsichten dann noch beitragen können, ohne dass diese – wohlfeil und nur ein paar Klicks entfernt – schon bereitliegen. Das Internet verlangte einen Schnitt in der Lehre. Eine Erzählung ist keine wahllose Ansammlung von Geschehnissen und Ereignissen. Die Erzählung hat ein Thema, verfolgt eine Absicht, will eine Aufmerksamkeit herstellen. In einer computergrafischen Erzählung etwa ist es eine Freude, Albertis und Dürers Umgang mit der Zentralperspektive zusammen und gleichbedeutend mit dem Algorithmus der Strahlverfolgung zu behandeln. Dürers sog. Perspektiv-Maschinen sind dann nicht mehr oder minder beliebige historische Il-
Ein Tanz zwischen Stühlen und Tischen
lustrationen, sondern zeigen den Beginn der Maschinisierung bestimmter geistiger Tätigkeiten, die erst Jahrhunderte später tatsächlich algorithmisch gefasst wurden. Die mathematische und algorithmische Behandlung von fraktalen Mengen mit der Erzählung über Felix Hausdorffs Tragik zu verbinden, der nicht nur die fraktale Dimension geschaffen, sondern unter Pseudonym auch literarische Texte verfasst hat, erweckt nach meiner Erfahrung das Interesse von Studierenden auf eine Weise, die ihnen Quellenmaterial online kaum bieten kann. Als ich einmal über die zentralperspektivische Transformation vortrug und dabei über das Wechseln der Perspektive etwas anmerkte, das ich für wichtig hielt, aber anscheinend nicht recht verständlich machte, sprang ich auf den nächsten Tisch und machte so den Anwesenden deutlich, dass meine Perspektive jetzt eine andere geworden war. Denn sie sahen jetzt anders aus für mich (wie auch ich für sie).
4.
Als die Universität Bremen im Herbst 1971 ihren Lehrbetrieb aufnahm, gab es als Form des Lernens-Lehrens nahezu ausschließlich das Projektstudium. Das Projekt schien die adäquate Form zu sein, um das zu realisieren, was in den pädagogischen Grundzügen der Universität Bremen gewollt war: gesellschaftlich relevante Fragen mit einer berufspraktischen Orientierung zu behandeln und dabei Fachlichkeit in Interdisziplinarität aufzuweichen. S. 179 Der Stundenplan war einfach: „Projekt XYZ, Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr, in Raum xy“. Alle kamen zusammen und handelten von dem und über das, was ihr Thema war, Lehrende und Lernende. Ideal ging es nicht zu, wie sollte es auch. Aber eines war erstaunlich und wunderschön: Die Begegnungen der Lehrenden und Studierenden waren geprägt von Vertrauen. S. 64 Vertrauen – habe ich damals gelernt und konnte ich später erneut und besser noch verstehen – Vertrauen muss die Grundlage allen Lehrens und Lernens sein. Daraus folgt, dass Prüfungen ersetzt werden müssen durch Umgebungen, in denen die Beteiligten und Interessierten sich treffen, im Vertrauen zueinander, weil sie wissen, dass sie sich auf Neues, auf Gewagtes einlassen und mithin Fehler machen können und gelegentlich auch scheitern. Die bürokratischen Regelungen der Bachelor/Master-Strukturen, die Ökonomisierung des Studierens, das krankhafte Ranking, die Jagd nach finanziellen Mitteln und manches noch sind Feinde des Studierens. Sie zerstören Vertrauen, verleiten zum Opportunismus, hetzen Studierende von einem credit point, den es zu schnappen gilt, zum nächsten. Dabei ist es so einfach: Lernen verlangt nach Zeit und Muße. Manchmal möchte ich die Tische und Stühle zum Fenster hinauswerfen, zwischen denen wir unsere Tänze vollführen, ohne aber vorher die Fenster zu öffnen. Als Performance müsste das durchgehen.
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Kopfsprünge ‣ S. 38 Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit – Ein Brief Johanna Maj Schmidt
Leipzig, 30.05.2017 Lieber Jörg, ich musste überlegen, wo ein geeigneter Ort wäre, um Dir und dem Theater der Versammlung (TdV) zu Ehren einen kleinen Brief zu schreiben. Ich finde, es muss in einem Café sein, weil es mich an Deine Tradition erinnert, lange Gespräche im Café Rotkäppchen zu führen. Ich habe also ausgewählt zwischen einem dunkleren Café namens „Tunichtgut“, das sich in der gleichen Straße befindet wie mein altes Schultheater, ganz in der Nähe des Schauspiel Leipzigs, und dem lichtdurchfluteten Café „baubau“ mit großer Glasfront, das zur Galerie für Zeitgenössische Kunst gehört. Für Letzteres habe ich mich entschieden. Die Frage nach dem Ort des TdV ist nicht so eindeutig: Wo – oder besser wie – verortet sich das TdV eigentlich? Es hat sich in der Universität eingenistet und nutzt diese Basis für Erkundungstouren in alle möglichen Richtungen. Es ist daher weder ganz nomadisch noch vollkommen sesshaft. S. 227 Wo es auch hingeht, infiltriert es Orte und schafft dadurch neue Begegnungsräume: in der Universität, in der Galerie, im Bestattungsunternehmen. Eine Zeit lang dachte ich, durch das Studium der Performance Studies wäre ich zu einem dekonstruktiven, postmodernen Charakter geworden, der mit der Vielfalt der Verwandlungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Kontexten spielt: als Vortragende auf akademischen Konferenzen, als DJ im Club, als Praktikantin in der Parteipolitik, als Leipzigerin in London. Im schnelllebigen London habe ich aber gemerkt, dass sich dieses Spiel in Beliebigkeit und Zerstreuung erschöpfen kann,
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Johanna M aj Schmidt
wenn jegliche Basis fehlt. Wenn alles ständig in Bewegung ist, beginnt man, sich nach dem Festen und Beständigen zu sehnen. Man beginnt, sich eine Position und eine Richtung zu wünschen. Die Spannung liegt also gerade an dem Punkt, wo das Nomadische und das Sesshafte aufeinandertreffen. Ich denke, dass das TdV genau diesen Punkt kultiviert: Einerseits bewegt es sich innerhalb seiner eigenen Tradition und arbeitet mit Wiederholungen und Variationen. Andererseits erschließt es neue Räume, die sich im Austausch mit bestimmten Orten, bestimmten Menschen, bestimmten Wissensformen auftun. Es entstehen dabei Felder, die eine umschließende Sicherheit gewähren, innerhalb derer man sich verwandeln und zugleich verletzlich zeigen kann. Ich finde, das ist die spannendste Form zu lernen, denn: We’re born naked and the rest is drag – RuPaul Durch das Studium der Performance Studies in Bremen bin ich mit einer Art des Lernens in Kontakt gekommen, die mich bis heute begleitet. Ich glaube, dass diese Form des Wissenwollens, das gleichzeitig ein Erfahrenwollen ist, mich erst sehr geduldig und dann sehr ungeduldig gemacht hat. Das wöchentlich geübte aktive Beobachten und das Darsteller- und Zuschauersein hat zunächst dazu geführt, dass ich auf einmal alles durch eine Art Performance-Brille angeschaut habe. Alle alltäglichen Situationen konnten plötzlich in Hinblick auf ihre performative Seite neu betrachtet werden. Dadurch konnte alles potenziell spannend sein. Selbst wenn der Inhalt einer Vorlesung oder eines Gesprächs nicht besonders anregend war, konnte ich die Personen auch als Darsteller*innen im sozialen Gefüge sehen und hatte damit eine neue Ebene, mit der ich mich bewusst beschäftigen konnte. Für mich mischte sich die neu gewonnene Performance-Perspektive mit Erfahrungen, die ich nach dem Abitur in Indien gemacht hatte. Dort hatte ich das erste Mal erlebt, dass zeitliche Strukturen kulturell bedingt sind. Weil Pläne immer wieder in letzter Sekunde umgeworfen wurden und es nicht ungewöhnlich war, drei Stunden mitten im Nirgendwo auf einen Bus zu warten, ohne zu wissen, ob er noch kommt, begann ich, das Warten als eine aktive Tätigkeit zu sehen. Ich versuchte es zu genießen und wurde sehr geduldig. Zurück in Deutschland fand ich die Vorstellung interessant, inmitten einer linearen zeitlichen Struktur, diese für mich neue Zeitlichkeit beizubehalten. Das Bremer Zentrum für Performance Studies (ZPS) erschien mir dabei wie eine Oase, in der die Zeit eine ganz ähnliche Struktur hat und in der der Akt des Zuschauens nicht als etwas Passives betrachtet wird. S. 126 Doch dann wurde ich irgendwann ungeduldig. Als Performativität für mich zum Konzept wurde, bekam sie in meinen Augen etwas Orthodoxes. Ich verlor das Interesse an Aufführungen, die, anders als beim TdV, ausschließlich darauf abzielten, die selbstreferentielle Ebene sichtbar zu machen, ohne auch andere Inhalte zu verarbeiten. Das heißt nicht, dass das Performative an sich für mich belanglos wurde. Es wurde mir jedoch zum ersten Mal der Widerspruch bewusst, der im Be-
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Kopfsprünge
griff des Performativen liegt: Beim Performativen geht es um etwas, das nicht nur die einspurige Vermittlung einer Narration ist, sondern auch die Beziehung zwischen Darstellenden und Zuschauenden thematisiert. S. 207 Dadurch entsteht in der Aufführungssituation etwas Direktes, Lebendiges. Wenn aber dieses Konzept zu einer fixen Form wird und eine neue Tradition entsteht, besteht die Gefahr, dass die Direktheit und Lebendigkeit dieser neuen Form dadurch verloren geht, dass sie erwartbar wird und als leere Hülle zurückbleibt. Diese Art von Ungeduld hat mich nicht nur in Bezug auf das Performative erfasst. Ebenso ungeduldig wurde ich in der Beschäftigung mit Themen, die in der zeitgenössischen Kunst verhandelt werden. In einem Text, der neulich im Archipelago Journal (Issue #4) zum Thema Melancholia erschienen ist, habe ich versucht, mich dieser Art von Ungeduld zu nähern. Dabei ging es um die Metapher des Wassers: I recently went to an exhibition, which encircled the issue of boundaries. Most of the pieces showed liquidity, waves or the sea. The exhibits conveyed a vertiginous feeling. Maybe it was a light form of naupathia. But I think that the opposite was the case. What caused my uneasiness was that the idea of water had become solid. – Some weeks later, I learned about Hegel’s owl of Minerva, which only starts to move after dusk: „Only one word more concerning the desire to teach the world what it ought to be. For such a purpose philosophy at least always comes too late. Philosophy, as the thought of the world, does not appear until reality has completed its formative process, and made itself ready.“ – As topical perspectives on water merge and turn into an image that seeks to reflect reality, it can only be known. It paints its grey in grey. Metaphor is always delayed. Surrounded by what I regarded to be solidified water, I got impatient. As any kind of impatience, my eagerness rested on the idea of a time lag: The image of water was merely expressing something that had already crystallized. I could not see it as anything but a manifestation of an abstract thought related to a given process. Against the backdrop of the global flow of capital and increasing flexibility, mobility, precarity and porosity, the image of the liquid might still be able to reflect an analysis of this time. It is a sad, unnerving image though because it cannot be rejuvenated, but only known. Meine Ungeduld in Bezug auf verfestigte Bilder wie „Wasser“ und Begriffe und Perspektiven wie „Performativität“ basiert auf dem Gefühl, dass diese, wenn sie einmal in der Welt sind, dazu verleiten, es sich damit zu „gemütlich zu machen“. Das heißt, sie verlocken dazu, einfach in diesen Bildern und Begriffen und Perspektiven zu verharren, ohne, wie ich es im TdV kennengelernt habe, auch grundsätzlichere Fragen zu stellen. In welche Richtungen kann es einen führen, wenn man sie nur als Ausgangspunkt, nicht als Gegebenheit oder Ziel nimmt? S. 223 Wahrscheinlich hat diese Ungeduld etwas Koloniales, weil sie auf Ausdehnung und ein Stück weit auch auf Eroberung beruht. Vielleicht geht es in dieser Bewegung auch einfach um Entwicklung? Wenn ich an mein Studium am ZPS denke, muss ich
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Johanna M aj Schmidt
an den Begriff der Fremdheit denken, der immer wieder aufgetaucht ist. Ich glaube, meine Ungeduld ist auch eine Sehnsucht nach Fremdheit in Kontexten, in denen sich die Gewohnheit ausgebreitet hat. S.161 Ich denke nicht, dass Bewegung oder Entwicklung ausschließlich dann stattfinden, wenn man von einem Bild zum nächsten springt, und dass das Verharren bei einem Begriff Stillstand bedeutet. Im Gegenteil, das „Fremde“ liegt nicht nur zwischen den Begriffen. Auch innerhalb ein und desselben Bildes oder Konzepts kann eine Spannung liegen, innerhalb derer sich Konflikte ereignen. Das wird besonders deutlich am alles vereinnahmenden Begriff des „Globalen“. Welche Art von Fremdheit bleibt in einer Welt bestehen, die sich als global versteht? Gayatri Chakravorty Spivak (2012) weist darauf hin, dass wir mit neuen epistemologischen Herausforderungen konfrontiert sind. Da sich Globalisierungsprozesse primär in Daten- und Kapitalströmen ereignen, wird ein quantifizierter, statistisierter Ansatz privilegiert, der nicht in der Lage ist, Details und Spezifizitäten wahrzunehmen (ebd. 285). Spivak argumentiert daher, dass dieser Uniformierungsprozess eine neue Art und Weise des Wissens erforderlich macht, und plädiert für eine ästhetische Bildung als Vorbereitung auf die kulturelle Seite der Globalisierung. Eine ästhetische Bildung hat das Potenzial, Unebenheiten an die Oberfläche zu tragen, die trotz der dominanten Illusion eines uniformierten Globus bestehen bleiben. Mit ästhetischer Bildung meint sie alles, „that trains the imagination for epistemological performance of a different kind“ (ebd. 345). In meinen Augen ist es genau das, was die interdisziplinäre, künstlerische Arbeit des TdV auszeichnet: Es übt die Teilnehmenden darin, mit verschiedenen Wissensformen und Perspektiven spielerisch umzugehen. Herangehensweisen aus verschiedenen universitären Fachbereichen werden dekontextualisiert und zum Ausgangsmaterial für ästhetische Untersuchungen. Dabei kommen neue Verknüpfungen zwischen sonst distanzierten Disziplinen zustande. Ich denke, dass das TdV auf eindrückliche Weise mit jener neuen Art des Wissens experimentiert, von der Spivak spricht. Es schult die Imagination für neue epistemologische Herausforderungen, die sich aus der zeitlich-räumlichen Struktur bzw. Illusion des Globalen ergeben, und findet eine produktive Form, Gewissheiten aufzubrechen. Dabei verliert es nicht den Kontakt zu dem, was ist. Ich bin Dir, Jörg, und dem TdV für Eure lebendige Arbeit und die Mischung aus Geduld und Ungeduld, aus Sesshaftigkeit und Nomadentum, die es in mir provoziert hat, und alles, was ich bei Euch lernen durfte, sehr sehr dankbar!
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Herzliche Grüße aus Leipzig Johanna
Kopfsprünge
Q uellen Spivak, Gayatri Chakravorty (2012): An Aesthetic Education in the Era of Globalization. Cambridge: Harvard University Press. Schmidt, Johanna Maj (2017): Grey in Grey. In: Archipelago Journal #4. London: Goldsmiths University of London, S. 41.
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AKT II
… zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst
Auf dem Spielfeld der Formate Zur Entwicklung ästhetischer Sensibilitäten in der Welt der Wissenschaft1 Anna Seitz im Dialog mit Jörg Holkenbrink
Anna Seitz: Jörg, auf der Konferenz „Macht (in) der Wissenschaft: Kritische Interventionen in Wissensproduktion und Gesellschaft“2 wurde unter anderem die Frage aufgeworfen, in welchem Sinne ästhetische Praktiken performative Muster des Wissenschaftsbetriebs aufbrechen (können). Du selbst entwickelst als künstlerischer Leiter des Zentrums für Performance Studies der Universität Bremen (ZPS) seit den 90er Jahren regelmäßig Projekte, die eine künstlerische Orientierung in wissenschaftlichen Arbeitszusammenhängen ermöglichen. Das dem Zentrum angeschlossene Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) gilt als eines der ersten Forschungstheater in Deutschland. Inwieweit würdest du in Hinblick auf eure Eingriffe und Einsichten von einer ästhetischen Kritik wissenschaftlicher Wissensproduktion sprechen? Jörg Holkenbrink: Beginnen wir mit Wegen der Wahrnehmung. Was fällt auf, wenn wir beispielsweise die Universität als ein großes Theater betrachten? Auf welche blinden Flecken stoßen wir? Vor einigen Monaten habe ich in dem Gebäude, in dem in Bremen die Geisteswissenschaften beheimatet sind, eine Tür verwechselt. Ich betrat zu meiner Überraschung nicht mein Seminar, sondern einen beengten 1 | Eine englische Version dieses Dialogs findet sich unter dem Titel „Challenging Formats. Content and Form in Dialogue“ in: Ahmad, Aisha-Nusrat; Fielitz, Maik; Leinus, Johanna; Schlichte, Gianna Magdalena (Hg.) (2018): Knowledge, Normativity and Power in Academia – Critical Interventions, Frankfurt/New York: Campus, S. 137–149. 2 | Unter dem Titel „Macht (in) der Wissenschaft: Kritische Interventionen in Wissensproduktion und Gesellschaft“ fand am 13.–14. November 2015 zum sechsten Mal die internationale Graduiertenkonferenz des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ in Frankfurt am Main statt.
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Raum, in dessen Mitte sich auf einem Tisch ungeöffnete Bücher stapelten. Um den Tisch herum gruppierten sich schweigend sechs oder sieben Studierende, deren angewurzelte Körper und glasige Blicke mich spontan zu dem Ausruf drängten: „Was, liebe Leute, macht ihr denn da!“. Kaum hörbar murmelte es zurück: „Wir bereiten gerade ein Referat über Motivations-Theorien vor.“ Solche oder ähnliche „Einsichten“ bestärken mich in meiner Überzeugung, dass es erkenntnisfördernd sein kann, Menschen, die gewohnt sind, über Sachverhalte nachzudenken, durch performative Strategien in ungewohnte Sachverhalte zu verstricken, über die sie dann anschließend neu wieder nachdenken. Diese Bewegungen zwischen „über“, „in“ und „über“, die selbst ethnografisch erforscht werden können, kommen zum Tragen, wenn das Theater der Versammlung nach vorheriger Absprache und gemeinsamer Planung in Forschung und Lehre interveniert. Das Ensemble umfasst sowohl Student*innen und Dozent*innen unterschiedlicher Fachrichtung als auch professionelle Aufführungskünstler*innen unterschiedlicher Sparten. Es wandert durch die verschiedenen Fachbereiche und untersucht dort Themen und Fragestellungen, die in Seminaren theoretisch behandelt werden, mit den Mitteln der Performance. Die entstehenden Inszenierungen werden regional, überregional und international aufgeführt und diskutiert. Zur Veranschaulichung folgendes Beispiel: Ein Seminar, das die Soziologin Sabine Ritter leitet, behandelt das Thema „Diskursanalyse: Zur Selbstrepräsentation der deutschen Mittelschichten“. Das TdV bringt in diesen Zusammenhang eine Variation seiner Performance „Brecht für Manager – Ein Seelentraining“ S. 117 ein, in der es um die Kultur der Selbstoptimierung geht. Die Performance entwickelte sich aus Erkundungen von Fortbildungen, die das sog. Impression Management als zentrale Schlüsselqualifikation in Beruf und Wirtschaft schulen. Die Intervention des TdV verwandelt das reale Soziologie-Seminar für 90 Minuten in ein fiktives Management-Seminar. Die realen Seminarteilnehmer*innen nehmen die Perspektive von Hospitant*innen eines entsprechenden Trainings ein. Ihren Blicken ausgesetzt, üben sich sechs fiktive, typisierte Seminarteilnehmer*innen, die von Schauspieler*innen verkörpert werden, in der Kunst der Selbstdarstellung. Ihr „Trainer“ bittet sie, literarische Liebesszenen als Verhandlungssituationen zu spielen. Oder eine Verhandlungssituation aus dem Personalbüro als Liebesszene. Was passiert, wenn eine Arbeitsstudie aus der Harvard Business Review in einem zweiten Durchgang mit nur geringen Textänderungen als Verhandlung zwischen Liebespartnern am Frühstückstisch gespielt wird? Welches Licht wirft dieses Experiment auf die Verhandlungssituation am Arbeitsplatz? Auf beiden Ebenen, der realen wie der fiktiven, werden also Verhandlungen verhandelt und die inneren wie äußeren Widerstände in der Selbst- und Fremdinszenierung spürbar und greifbar gemacht. Die Interventionen illustrieren nicht eine bereits vorhandene theoretische Einsicht. Sie bilden vielmehr eine Art Unterbrechung der gewohnten Formate, die einen kreativen Raum eröffnet und verdeutlicht, wie stark auch der Einfluss des Emotionalen in der Forschung ist. Erleben und Erkennen verbinden sich im Forschungsprozess.
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Auf dem Spielfeld der Formate
Das Ganze hat eine Art Ritualcharakter im Sinne Victor Turners (Turner 1969, 94): Es gibt ein „Vorher“ und ein „Nachher“ der Intervention, bei der eine Verwandlung beobachtet werden kann. Alle Anwesenden beziehen sich auf ein gemeinsam erlebtes Ereignis, und die Diskussion nach der Intervention hat eine andere Couleur. Die Beobachtung dieser Verwandlung ist mit den Worten der Philosophin Alice Lagaay Philosophie-in-Action, eine Art existenzielle Phänomenologie. – Was fällt dir, Anna, zur Wirkung von Formaten ein? AS: In deiner Anekdote über das unmotivierte Motivations-Referat zeigt sich etwas, das mir typisch für den Umgang mit der Performanz wissenschaftlicher Formate zu sein scheint. – Nur weil die Formate nicht reflektiert sind, ist ihre Performanz nicht automatisch stumm, auch sie vermittelt etwas! Wenn jemand einen Monolog über die Wichtigkeit des Dialogs hält oder es eine Multiple-Choice-Klausur über die Unverzichtbarkeit des angewandten Lernens in der Didaktik gibt, entsteht natürlich eine Diskrepanz zwischen Form und Inhalt, die mindestens in einem Spannungsverhältnis steht, wenn nicht gar widersprüchlich zu nennen ist. Der Wissenschaft sind ihre Formvorgaben inhärent, denn das meint ja gerade Wissenschaftlichkeit, eine bestimmte Form erfüllen. In der Kunst geht es dagegen immer um die Ausgestaltung beider Seiten: Form und Inhalt sollen einander entsprechen oder in einem ausgestellten Spannungsverhältnis zueinander stehen. Dieses Verhältnis scheint uns in der ästhetischen Wahrnehmung zugänglich zu sein, wir sprechen der Beziehung von Form und Inhalt Bedeutung zu, die in einer wissenschaftlichen Rezeptionsweise jedoch keine Rolle zu spielen scheint, das heißt, wir sprechen hier auch etwaigen Spannungsverhältnissen von Form und Inhalt einfach keine Bedeutung zu. Aber heißt das, dass sie auch keine Bedeutung haben? Es gibt in der Philosophie die logische Figur des Performativen Selbstwiderspruchs, sie bezeichnet Widersprüche wie „Können Sie mich hören?“ – „Nein“. Wenn wir diese Figur ausweiten und sie nicht nur auf performative Inhalte, sondern auch auf die Performanz von Formaten anwenden, können wir über Fälle wie den Monolog über die Wichtigkeit des Dialogs in den Geisteswissenschaften im Sinne eines Performativen Widerspruchs anders sprechen, müssen dafür aber ihren performativen Aspekten Bedeutung zuund nicht absprechen. Man könnte nun folgende These prüfen: Wissenschaft definiert sich durch die Einhaltung bestimmter Formen. Kunst definiert sich durch das Erfinden neuer Formen, entsprechend oder gemäß ihrer Inhalte. Das bedeutet, dass die Formen (oder Formate) in der Wissenschaft zwar durchaus einen gewissen Spielraum zur Verfügung stellen, aber mehr oder weniger unantastbar sind, wie bei einem Ballspiel oder Brettspiel: Man kann sie ein wenig biegen oder ausgestalten, aber wenn man es übertreibt, hört es eben auf, das bestimmte Spiel zu sein. In der Kunst scheint mir nun gewissermaßen das Gegenteil der Fall zu sein: Es gilt immer, eine originäre Form zu (er)finden. Und wie (er)findet man eine solche Form? Indem man erforscht, was den Inhalten eigentlich ist. Man fragt sich, welche Form ein
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bestimmter Inhalt verlangt. Auch hier hat die Form natürlich gewisse Vorgaben zu erfüllen, doch sie sind äußerst vage, die formalen Zwänge werden hier nicht als inhärent verstanden. Nur: Welches Machtverhältnis besteht dann eigentlich zwischen Form und Inhalt? Mir scheint, im Falle der Kunst gilt es, dieses Machtverhältnis jedes Mal neu zu verhandeln. Im Falle der Wissenschaft scheint mir die Annahme vorherrschend, dass die Formen die Inhalte zwangsläufig dominieren müssen. Aber ist das auch notwendig so? Wie denkst du darüber, Jörg? Es ist ja geradezu eure Aufgabe mit dem Theater der Versammlung, eine Art Freiraum der Form zu ermöglichen, wie im Falle des Soziologie-Seminars, wo plötzlich eine neue Form auch zu neuen Inhalten führt. JH: In der professionellen Praxis, die das TdV ins Spiel bringt, gilt es, Setting, Timing, Rhythmus und Inhalt performativ aufeinander zu beziehen, auch um die Möglichkeit für Spontaneität zu erhöhen. Der Bezug zur zeitgenössischen Erfahrung des Lebens wird explizit gesucht. Indem die Grundlage der Diskussion nicht ausschließlich auf wissenschaftlichen Texten beruht, rückt grenzüberschreitendes Denken, Inszenieren und Darstellen zwischen den unterschiedlichen Zugängen zur Wirklichkeit in den Fokus. Bei diesen Begegnungen werden Unterschiede nicht glattgebügelt. Das Erkennen von Differenzen will gelernt sein. So wie „Brecht für Manager“ erschafft auch die Inszenierung „TSCHECHOW – Eine Landpartie“ S. 107 einen – wie du nach dem Besuch einer Aufführung formuliert hast – Raum „fiktionaler Realität“. Hier erkundet das Publikum als reale Forscher*innen-Gruppe mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung das fiktive Tschechow-Völkchen. Ich zitiere aus der Ankündigung:
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„Tschechow starb 1904. Seine Figuren gelten als unsterblich. Wo aber leben sie dann?
Kurz vor der Russischen Revolution wanderte das sogenannte „Tschechow-Völkchen“ nach Deutschland aus. Von der Weltöffentlichkeit unbemerkt, ließ es sich im ländlichen Norden nieder. Doch wie schon zu Zeiten des Autors werden die Figuren immer wieder aus ihren Landhäusern vertrieben.
Das Theater der Versammlung bietet nun seit einigen Jahren Forschungsreisen zu den prekären
Aufenthaltsorten des Tschechow-Völkchens an.
Tschechows großes Thema ist die Zeit. Als Forscher*in treffen Sie auf Figuren, die vor allem langsam leben. Die Figuren erhalten sich einen Raum für Erinnerung, der ansteckend wirkt.
Sie folgen den Fragmenten ihrer (Lebens-)Stücke, die mal zu unerwarteten Begegnungen, mal
zum Absinken in innere Welten führen. Die Forscher*innen beobachten und interagieren mit dem Tschechow-Völkchen, bewegen sich aufmerksam durch die Räume und den Garten des
ländlichen Domizils. Nähe und Distanz zwischen den beiden Gruppen werden immer wieder
neu ausgehandelt. Auf der Rückfahrt und in späteren Arbeitszusammenhängen tauschen die Forscher*innen die Erlebnisse und Ergebnisse ihrer Erkundung untereinander aus.“
Auf dem Spielfeld der Formate
Da sich das forschende Publikum sowohl aus Universitätsangehörigen unterschiedlicher Fachrichtung als auch aus außeruniversitären Gruppierungen unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammensetzt, fließen in die anschließenden Auswertungstreffen erwartungsgemäß äußerst disparate Perspektiven, Vorstellungen und Sprechweisen ein. Dies erfordert eine entsprechende Verständigungskultur, zu deren Voraussetzungen der Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält Hinweise gibt. Es geht ihm um jene Gespräche, „in denen die Fähigkeit, anderen zuzuhören, ebenso wichtig ist wie die Fähigkeit zu klarem Ausdruck“. Er erwähnt den Philosophen Bernard Williams, der eine vernichtende Kritik am „Behauptungsfetischismus“ übt. „Die Fähigkeit des Zuhörens spielt bei solch einem verbalen Wettstreit kaum eine Rolle. Der
Gesprächspartner soll voller Bewunderung zustimmen oder ähnlich selbstbewusst kontern – der bekannte Dialog zwischen Tauben, wie wir ihn oft in der Politik erleben.
Auch wenn ein Gesprächspartner sich ungeschickt ausdrückt, kann der gute Zuhörer es nicht mit der bloßen Tatsache dieses Ungenügens bewenden lassen. Der gute Zuhörer muss auf die Absicht, die Anregung eingehen, wenn das Gespräch weitergehen soll.“ (Sennett 2012, 34 f.)
Nun vermute ich mal, dass dir oder unseren Leser*innen der Dialog zwischen Tauben auch im Alltag wissenschaftlicher Institutionen nicht gänzlich unbekannt sein dürfte. Ästhetische Praktiken, die einen Freiraum der Form ermöglichen und in der Verknüpfung mit wissenschaftlichen Arbeitsweisen zu neuen Inhalten führen können, erzwingen aber geradezu, verborgene Apathien aufzuspüren und die Beschäftigung mit Inhalten zu intensivieren. Dies setzt bei allen Beteiligten die Souveränität voraus, im Dialog der Wissenskulturen die eigene Souveränität aufs Spiel zu setzen. Nur wer sich im „Unverständlichen“ aufzuhalten vermag, kann neue Sprachen erlernen. AS: So, wie du hier „Die Fähigkeit des Zuhörens“ ins Spiel bringst, meinst du ja ein Zuhören im Dialog – in einer Vorlesung oder bei einem wissenschaftlichen Vortrag auf einer Konferenz braucht man eine andere Zuhörfähigkeit. Die Art von „Verständigung“, die du hier suggerierst, impliziert Dialogpartner*innen auf Augenhöhe, die einen Austausch wünschen, also eine proportionale Gesprächsbeziehung zur Grundlage haben. Beim Monolog scheint es sich dagegen um eine antiproportionale Gesprächsbeziehung zu handeln, zumindest wenn wir den Aspekt der Verständigung in den Fokus rücken: Nur der oder die eine will von den anderen verstanden werden. Beim Theater der Versammlung ist das anders. Hier wird immer eine proportionale Gesprächsbeziehung angestrebt; selbst wenn es Monologe gibt, werden sie anschließend im Dialog reflektiert, wie du ja sogar von den abendfüllenden Inszenierungen, in dem Fall TSCHECHOW – Eine Landpartie, herausstellst. Das ist zunächst einmal ungewöhnlich. An einem Stadttheater beispielsweise ist es äußerst selten der Fall, dass die Spieler*innen oder gar die
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Regie nach der Vorstellung in Dialog mit dem Publikum treten. Selbst wenn es ein sog. Publikumsgespräch gibt, läuft es meiner Erfahrung nach häufig monologisch, im Sinne von antiproportional, ab – das Publikum soll die Inszenierung verstehen. Oder wie Jacques Rancière es zusammenfasst: „Der Theatermacher oder der Regisseur wollte, dass die Zuschauer dieses und jenes sehen und
fühlen, dass sie dieses verstehen und jene Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das ist die Logik der verdummenden Pädagogik, die Logik der direkten und identischen Übertragung: es gibt etwas – ein Wissen, eine Fähigkeit, eine Energie auf der einen Seite – in einem Körper oder einem Geist –, das auf eine andere Seite übergehen soll.“ (Rancière 2009, 24)
Wie Rancière nahelegt, können wir auch im Fall der Hochschuldidaktik aktuell wieder einen Trend beobachten, welcher ein Wissen auf der einen Seite durch einen Körper oder Geist auf der anderen Seite übertragen will. Nur dass es sich dabei nicht mehr zwingend um einen Körper oder Geist handelt, durch den etwas übergehen soll, sondern dass es sich z. B. auch um ein E-Learning-Portal handeln kann. Der Löwenanteil des Wissenstransfers geschieht heute schriftbasiert, obwohl uns schon Platon in seiner Schriftkritik lehrt, dass Schriften als monologische Formen der Erlangung wahren Wissens eher abträglich sind, da sie einer dialektischen Form bedarf und damit natürlich in enger Verwandtschaft zum dialogischen Prinzip steht (vgl. Platon, Phaidros 274e–275b). Dabei können wir nun Platons schriftliche Schriftkritik auch als Performativen Widerspruch der ersten Stunde betrachten und sehen, dass seine inhaltliche Kritik dadurch abgeschwächt wird, dass sie in Widerspruch zu ihrer Form steht. Wie stellen sich wissenschaftliche Tagungen dar? Wenn ich das TdV auf einer Tagung erlebe, erlebe ich eure dialogische Maxime allermeist als erfreulichen Sonderfall. Die meisten Vortragenden scheinen keinen Austausch im Sinne eines proportionalen Dialogs zu wünschen, sondern etwas abliefern zu wollen, wie man so sagt. Dem Publikum bliebe dann nur noch, „den Empfang zu quittieren“. Meist zeigt sich eine solche Priorität bereits durch die Zeitverteilung: 20 min Vortrag, 10 min Diskussion – wobei der Vortrag meistens 25 min dauert und es dann heißt: „Nun hätten wir noch 5 min für Verständnisfragen oder Kommentare.“ Eine Verständnisfrage, wie auch ein Kommentar, sind aber ebenfalls monologische Beiträge, wenn wir den Aspekt des Austauschs weiterhin fokussieren. In der Lehre sieht es nicht anders aus: Aufgrund der stetig wachsenden Studierendenzahlen bei nahezu gleichbleibender Anzahl der Lehrenden rücken dialogische Formate ins Hintertreffen und nehmen monologische Formate zu. Insgesamt können wir also beobachten, dass sich in den Forschungs-, Lehr- und Lernweisen im akademischen Kontext ein monologischer Trend durchsetzt, obgleich Wissenschaft zu praktizieren ja in erster Linie bedeuten müsste, eine bestimmte Art von Dialog, von Diskurs zu praktizieren! Eine „Fähigkeit des Zuhörens“, wie sie dir vorschwebt, Jörg, kann also kaum noch erprobt werden und führt in der Folge dazu, dass die Akademiker*innen das
Auf dem Spielfeld der Formate
reproduzieren, was sie in ihrer universitären Ausbildung gelernt haben, nämlich monologisieren. Im Falle mehrerer „Monologpartner“ wirkt das dann zweifelsohne wie ein „Dialog zwischen Tauben“. Wenn man sich „Tauben“ dann aber als „Hörender“ präsentiert, also wirklich zuhört und im Sinne des Dialogs Fragen von aufrichtigem Interesse an sie richtet, als gute*r Zuhörer*in „auf die Absicht, die Anregung eingeht“, wie du Sennett zitierst, sind gerade auch solche Begegnungen zwischen Wissenschaft und Kunst beim ersten Kontakt oft angstbesetzt. Das wundert mich. Schließlich ist es doch bereichernd, wenn unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen und sich ergänzen können. Im Laufe der Zeit aber haben sich für mich zwei Erklärungsmöglichkeiten für dieses Phänomen herauskristallisiert. Die eine hat mit der ungelernten oder verlernten „Fähigkeit des Zuhörens“ im dialogischen Sinne zu tun, die andere Möglichkeit wäre die, dass es sich bei einem echten Austausch eben immer auch um eine Ergänzung handelt. Hat man nun aber ein Verständnis von „guter Wissenschaft“ als „vollständiger Erklärung“, so wäre jede Ergänzung immer schon Kritik. Das heißt, wenn ich meine Gesprächspartner*innen im Dialog interessant, also anregend finde und das dadurch zeige, dass ich weiterführende Ideen äußere, werden sie das nicht als Kompliment, sondern als Vorwurf an die Unvollständigkeit ihrer Theorien verstehen. S. 34 Die Idee, eine Theorie im Diskurs zu entwickeln, scheint zu einem Mythos der Antike verblasst zu sein, offenbar sollen Wissenschaftler*innen heute ihre Theorien autark, im Alleingang entwickeln und müssen versichern, dass alle Ideen nur aus ihrem eigenen Kopf stammen. Nietzsches Subjektkritik „Der Thäter’ ist zum Thun bloß hinzugedichtet“ (Nietzsche GM KSA 5: 279) scheint vergessen oder dient als weiteres Beispiel für Performative Widersprüche, wenn wir uns vorstellen, er hätte den Anhang seiner Genealogie mit der üblichen Klausel unterschrieben: „Hiermit versichere ich, alleiniger Urheber der vorliegenden Arbeit zu sein“.
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JH: Vielleicht sollten wir an dieser Stelle einem Missverständnis vorbeugen: Es geht nicht darum, unterschiedliche Formate gegeneinander auszuspielen. Selbstverständlich kann ich mich als Teilnehmer*in von Vorlesungen und Seminaren ebenso bilden wie durch eigene Lektüre, den Besuch einer Performance oder die Beteiligung an eher dialogorientierten Gesprächszusammenhängen, in denen auch unterschiedliche Perspektiven und Sprechweisen ihren Raum haben. Das Problem, das du ansprichst, Anna, liegt ja eher in der Vorherrschaft bzw. tendenziellen Monopolisierung solcher Formate, die die Verfestigung bzw. Einhaltung ihrer Formen sinnvollerweise zur Voraussetzung haben. Erst in dem Moment, wo diese Formate andere Formate, die sich z. B. durch das Erfinden neuer Formen gemäß ihrer Inhalte auszeichnen, aus dem Forschungs- und Verständigungsprozess ausgrenzen, können wir von einer Einschränkung der akademischen Freiheit sprechen, die zugleich wichtige Voraussetzungen für eine Dialogorientierung in der Wissensproduktion schwächt. S. 61 Es stellt sich in diesem Zusammenhang eben nicht nur die Frage
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nach der Koexistenz der Formate, sondern vor allem auch die Frage nach dem Formate-Verbund. Im Einladungspapier zur Konferenz „Macht (in) der Wissenschaft“ wurde dazu angeregt, den Rahmen der Konferenz selbst als eine Form performativer Wissensdarstellung zu hinterfragen, und zu alternativen Präsentationsformen ermutigt. Wenn ich aber alternative Präsentationsformen in Konferenzen integrieren möchte, komme ich nicht umhin, mir sehr genau Gedanken über die Dramaturgie der Gesamtveranstaltung zu machen. Wie können im Rahmen einer Konferenz wissenschaftliche Vorträge, künstlerische Performances, theoriegeleitete Diskussionen, praktisch-ästhetische Workshop-Elemente oder weitere Arbeitsweisen und Darstellungsformen so miteinander kombiniert und aufeinander bezogen werden, dass sie die Produktivität der Fremdheit im Umgang mit Gegenständen und Situationen, mit anderen und mit mir selbst zumindest ansatzweise ermöglichen? Welche Präsentationsformen wähle ich aus? In welcher Umgebung finden sie statt? Welchen zeitlichen Umfang teile ich den jeweiligen Settings zu? In welcher Reihenfolge wechseln sie einander ab? Wie sehen die Übergänge zwischen ihnen aus? Welcher Tagungsrhythmus stellt sich dadurch ein? Und wird dieser Tagungsrhythmus den Interessen der Teilnehmenden, den Inhalten und den Fragestellungen der Veranstaltung gerecht? S. 103 Wenn wir die Ergänzungsbedürftigkeit von Formaten in Hinblick auf die Stärkung der Dialogorientierung in der Wissensproduktion voraussetzen, dürfte sich die Qualität der Veranstaltungsdramaturgie des jeweiligen FormateVerbunds entscheidend darauf auswirken, ob sich die einzelnen Veranstaltungen bzw. Programmpunkte im Erkenntnisgewinn wechselseitig fördern oder aber diesen geradezu blockieren. Die Einsicht in die Notwendigkeit und die Bereitschaft, neben sinnvollen, immer auch umkämpften Abgrenzungen und Schließungen differenzbewusste Grenzüberschreitungen zu wagen, verbreiten sich erst langsam in der akademischen Welt. S. 154 Umso wichtiger wären Begleitforschungen, die die Wirkungen solcher Verknüpfungskünste ethnografisch untersuchen und so zur Steigerung der Qualität von Veranstaltungsdramaturgien im oben beschriebenen Sinne beitragen.
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AS: Es ist wie du sagst, man kann die unterschiedlichen Formate nicht gegeneinander aufwiegen, sie alle haben ihre Berechtigung, doch seit der Modularisierung wird eben das getan. Modularisierung bedeutet Standardisierung, und die funktioniert am besten im Bereich der Reproduktion. So kommt es, dass wir heute wieder ein starkes Übergewicht der Wissensreproduktion in universitären Lehr- und Lernweisen finden (welches mit dem sog. Bulimischen Lernen assoziiert wird). Man könnte auch sagen, es hat eine Linearisierung der Forschungs-, Lehr- und Lernweisen stattgefunden, also eine Begradigung im Sinne von linearis (lat.) = aus Linien bestehend, in einer Richtung stetig verlaufend, ohne Abschweifung – also etwas, das Abweichung verhindert oder zumindest erschwert. Die Alternative wäre dann nicht „nicht linear“, wie du richtig anmerkst, sondern translinear im Sinne einer
Auf dem Spielfeld der Formate
Verflechtung unterschiedlicher Ansätze, die in unserer Gegenwart ja auch verstärkt eingefordert wird. Es gibt in jeder Disziplin mehr als Wissensreproduktion zu vermitteln. In jeder Disziplin (nicht nur in den künstlerischen) finden wir inkorporierte und inhabitualisierte Weisen des Wissenserwerbs und partizipatorische Weisen der Wissensgenerierung, die in actu, also in der leiblichen Interaktion von Subjekten bestehen, also performative Forschungs-, Lehr- und Lernweisen, die nicht in linearisierte Formate übertragen werden können. „Wir wissen mehr als wir zu sagen wissen“, sagt schon Michael Polanyi (1985, 14), und erst recht mehr, als wir zu schreiben wissen. Der Performative Turn hat Fragen der Performativität in allen Disziplinen aufgeworfen, seine Erkenntnisse haben jedoch kaum Anwendung in den Formaten gefunden. Hier regiert noch immer die Maxime des Linguistic Turn: Alles als Text. Was sich nicht in einen Text übertragen lässt, ist demzufolge kein relevantes Wissen, was wiederum im Widerspruch zu den Erkenntnissen des Performative Turn steht und inhaltlich längst als überwunden gilt. Hinzu kommt der neuere Topos, dass „das Wissen“ heute jedem allerorts digital zur Verfügung steht. Wir müssen natürlich auch hier berücksichtigen, in welcher Form welches Wissen digital zur Verfügung steht, denn auch hier liegt Wissen hauptsächlich in schriftlicher Form vor, obwohl gerade das Internet, wie sein Name schon sagt, strukturell auf Vernetzung ausgelegt ist und doch gerade im Fall des E-Learnings häufig linearisierend eingesetzt wird. Nichtsdestotrotz könnten wir sagen, dass es dann umso unsinniger erscheint, die Wissensreproduktion in der akademischen Ausbildung zu fokussieren. Wenn das Wissen immer überall verfügbar ist, gibt es schließlich keinen Grund, es auswendig zu lernen, und wir hätten Platz für andere Dinge, das heißt für translineare Forschungs-, Lehr- und Lernweisen. Der französische Philosoph Michel Serres hat sich mit diesem Zusammenhang befasst und kommt zu dem Schluss, dass es einer grundlegenden Neugestaltung der universitären Ausbildungsformate bedarf: „Wir spüren, dass wir diesen Wandel dringend brauchen, aber wir sind noch weit davon entfernt, ihn zu vollziehen. Wahrscheinlich, weil diejenigen, die zögern, diesen Übergang zu vollziehen,
schon dem Ruhestand entgegensehen, während sie Reformen einleiten, die sich an längst obsolet
gewordenen Modellen orientieren […]. Weshalb stehen diese Neuerungen immer noch aus? Ich
fürchte, ich muss unsere Philosophen dafür verantwortlich machen, Leute, zu denen ich selbst gehöre, die berufen sind, künftige Wissensformen und Praktiken vorwegzunehmen – und die,
wir mir scheint, an ihrer Aufgabe gescheitert sind. Ganz von der Tagespolitik eingenommen, haben sie nicht kommen sehen, was derzeit geschieht.“ (Serres 2013, 21 f.)
In diesem Sinne wäre es nichts „Exotisches“, performative Strategien in universitären Formaten zu implementieren, sondern oberstes Gebot der Stunde! Hier können wir Orientierung für die Verknüpfung unterschiedlicher Formate und ihrer Inhalte finden, die aktuell künstlich voneinander isoliert werden, was nicht nur ein Problem
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für die Qualität der Ausbildung bedingt, sondern letztlich auch für die Qualität der wissenschaftlichen Inhalte bedenklich ist. Zudem wird zu Recht von Akademiker*innen in der Berufswelt erwartet, dass sie in der Lage sind, komplexe Entscheidungen zu treffen, wozu sie aber kaum in der Lage sein können, wenn sie in der Hauptsache gelernt haben, linearisierte Wissensreproduktion zu betreiben. Die Konsequenz wäre, dass sie dann auch in der Arbeitswelt tun, was sie gelernt haben, nämlich Abläufe linearisieren, wie wir es aktuell schon beobachten können. Die Arbeitenden beklagen dann häufig, dass beispielsweise die Dokumentationsformate nicht in der Lage seien, ihre komplexen Arbeitsabläufe zu erfassen, und lehnen sie unter dem Schlagwort des „Dokumentationszwangs“ als unsinnig ab. Wir sollten also Ausschau halten nach performativen, translinearen Weisen des Wissens und des Wissenserwerbs, welche die flexible, kontextorientierte Anwendung von Wissen erst ermöglichen, die Grundvoraussetzung für komplexe Entscheidungen, wie sie in der Arbeitswelt an der Tagesordnung sind. Zudem leben wir in einer Zeit, die das Gegenteil von Linearisierung fordert und ermöglicht, nämlich Vernetzung, und es gilt die Frage zu stellen, wie eine Umorientierung der akademischen Forschung und Lehre gestaltet werden kann und sollte, um an deren Gestaltung teilzuhaben. JH: Andererseits dürfen wir aber auch nicht die Aufmerksamkeit für angemessene Entwicklungszeiten und sichere Orte verlieren, in denen sich überhaupt erst die Qualität dessen entwickeln kann, was später möglichst sinnvoll vernetzt werden soll. Nicht zufällig findet ein Großteil der Arbeit in den darstellenden Künsten in geschützten Proberäumen statt, in deren Abgeschiedenheit von äußeren Kontrollinstanzen sich risikofreudig experimentieren lässt. Der große Theatermacher George Tabori formulierte schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Hinblick auf das Impression Management des Kulturbetriebs: „Für das, was ich vorhabe, sind die Katakomben besser geeignet als die Kathedralen.“ (Tabori 1989, 126) Und Kritiker der Bologna-Reform wie Konrad Paul Liessmann fragen sich bereits in Hinblick auf die aktuelle Hochschulentwicklung, ob nicht angesichts der „Diktatur der Geschäftigkeit“ vielleicht in einer „klösterlichen Zurückgezogenheit die Möglichkeit der Renaissance akademischer Bildung“ liege (Liessmann 2014, 159). Wir sollten also bei allem Enthusiasmus für die Verknüpfungskunst und bei allem Engagement für Bewegungen zwischen „in“ und „über“ eine weitere Wechselbewegung nicht aus den Augen verlieren, nämlich die zwischen Unsichtbarkeit und Auffälligkeit, Geschützt-Sein und Exponiert-Sein, Abgeschiedenheit und Versammlung, Begrenzungen und deren Überschreitung. Auch für diese Bewegungsfreiheit wäre unter den gegebenen Umständen nachdrücklich zu streiten.
Auf dem Spielfeld der Formate
Q uellen Liessmann, Konrad Paul (2014): Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien: Paul Zsolnay. Nietzsche, Friedrich (1968): Zur Genealogie der Moral. In: Colli, Giorgi/MazzinoMontinari (Hg.): Kritische Gesamtausgabe Bd. 2. Berlin: de Gruyter. Platon (1993): Phaidros. In: Sämtliche Dialoge, Bd. 2. Hamburg: Felix Meiner. Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rancière, Jacques (2009): Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen. Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. München: Hanser. Serres, Michel (2013): Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp. Tabori, George (1989): Die graue und die bunte Wahrheit. In: Ohngemach, Gundula: George Tabori. Frankfurt am Main: Fischer. Turner, Victor (1969): The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. Chicago: Aldine Publishing Co.
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The Conference as Performance Manifesto for the 3rd Biennial Performance Philosophy Conference in Prague 2017: “How does Performance Philosophy act? – Ethos, Ethics, Ethnography” 1 ‣ S. 98 Carolin Bebek, Jörg Holkenbrink, Alice Koubová, Alice Lagaay, Simon Makhali, Anna Seitz
Addressing the question ‘How Performance Philosophy Acts’ requires engaging with it not just theoretically or in the standard format of academic conferences. It calls for that very format to be questioned and critically challenged. We propose that the conference itself be considered as a performance and that the ethos of its performativity be investigated as a first instance or case study. If Performance Philosophy seeks to promote an exchange between disciplines, its first basic principle must surely reside in a dehierarchicalization of various cultures of knowledge and their respective formats. Instead of simply placing these different formats (e.g. artistic workshops and philosophical lectures) next to each other, we propose that the conference test their permeability. The usual structure of academic conferences is frequently bemoaned, but there is often a lack of intiative or time to try out alternatives. Performance Philosophy seeks to offer a space in which, together, we experiment with new formats and thus train our sense-for-alternatives. It is in this spirit that the conference dramaturgy has been conceived as an experimental set1 | This Manifesto was published by the programming committee in the conference programme of the 3rd Biennial Performance Philosophy Conference: “How does Performance Philosophy act? – Ethos, Ethics, Ethnography”, which took place at the Academy of Sciences and the Academy of Performing Arts in Prague 22–25 June 2017. For the conference programme and further information see: http://web.flu.cas.cz/ppprague2017/manifest.html (22.10.2017).
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ting which all participants are invited to experience as such, and engage with, over the course of the event. In order to help us become aware of our own blindnesses we call upon you to act as ethnographers yourselves and to engage with various parts of the conference as participant observers, with a view to exploring and describing the specific form of performativity at play in each instance. The aim is to practice taking on a distanced gaze with regard to one’s own habitual culture in order to sharpen one’s perception of its aesthetical and ethical dimensions and thereby foster reflection upon how we act, and also identify as yet unprobed opportunities for experimental action to be explored. With regard to the ethos and ethics of Performance Philosophy, our concern has also been to seek a democratization of output/input and encourage real dialogical exchange by facilitating maximum space for thinking and talking together. We don’t just want to consume knowledge, but we hope to interactively generate it! This is why we have introduced so called “fields” into the programme. Within a field, various disciplines and formats are brought together around a mutual theme/ complex. Each field opens with a lecture. The group in attendance then splits into two tracks. One half follows a more theoretical, the other half a more practical trajectory. Within each branch, chair and delegates may decide to include an informal coffee break for more personal exchange. Afterwards, the whole group comes back together for a collective discussion about what happened (and what was missed) in each track. This is where the ethnographers share their observations with a view to encouraging the recognition of lines of connection between the more theoretical and the more artistic/practical forms of research. (There will be a briefing for chairs and ethnographers every morning at 9AM). For all these reasons, we kindly request and encourage all participants to remain within their chosen field or panel for its entire duration, and not to hop between fields or panels. Please note: in the cases where workshop enrollment is required in advance, your registration counts for the whole respective field. The other formats of the conference include panels combining performances and theoretical contributions, lecture panels and ‘Artistic Dinners’. In the case of lecture panels, the focus is on facilitating collective exchange, not only the delivery of individual research. There will be no 20 minute lectures followed by 10 minutes for questions. Instead, a generous amount of time will be dedicated to the discussion of all papers with a view to encouraging dialogue and cross-mapping. We encourage the ready-made panel proposals to adopt a similar process. On the Friday evening, Artistic Dinners will be introduced, as an alternative to the more ubiquitous, and sometimes quite anonymous and detached ‘gala’ event, and offering instead a taste of Prague’s cultural and artistic life and heritage to small groups of participants. You will thus have the chance to visit Franz Kafka’s Café Arco with experts on his work; to go for a performative walk through Pragueby-night; to break into the apartment of Rehor Samsa’s family and enjoy an opulent dinner at the Institute of Philosophy; to visit a co-housing artistic community in
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the old-fashioned Prague 3; to spend an evening in the apartment of Czech political happening organizers; to take part in the celebration of the socially engaged experimental dance and theatre Studio ALTA in the industrial Prague 7; to paint, draw, create and eat with the Czech painter Antonin Střížek in his own atelier; or to sing and experiment with your own voices on the magnificent Petřín hill and its surroundings. The dramaturgical principle of the conference is a collective experiment, so please be brave and don’t worry: failure is also a result! Or, in the words of Samuel Beckett: “All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better!” (Worstward Ho. 1983)
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Frank Pusch
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Reflexive Subjektivität in vermarktlichten Arbeitsorganisationen Zum Aufklärungspotenzial von Performance Studies Guido Becke
1. Einleitung Hochschulen, d. h. Universitäten und Fachhochschulen, bilden Studierende aus, die nach ihrem Studienabschluss nicht nur in der Wissenschaft, sondern zumeist als Fachkräfte bzw. – nach einiger Zeit der beruflichen Bewährung – auch als Führungskräfte im privatwirtschaftlichen Sektor, in der öffentlichen Verwaltung und Wirtschaft oder im gemeinwirtschaftlichen Bereich tätig sind. Als Fachkräfte üben Studienabsolvent_innen in Wirtschaftsorganisationen qualifizierte Spezialistenoder Expertenarbeit aus. Diese ist gekennzeichnet durch „die Anwendung von mehr oder weniger abstraktem und mehr oder weniger schwierig zu erwerbendem Wissen bei der Bewältigung von (noch) nicht standardisierten Aufgaben“ (Daheim & Schönbauer 1993, 62). Studienabsolvent_innen begegnen als potenzielle Fach- und Führungskräfte einer flexibilisierten Arbeitswelt, in der nicht nur an Führungskräfte, sondern insbesondere an Fachkräfte erhöhte Anforderungen an Veränderungsfähigkeit sowie an eine weitreichende Selbstorganisation ihrer Arbeit (inkl. Rahmenbedingungen) gestellt werden. Damit verbunden ist ein erweiterter, vom Anspruch her umfassender betrieblicher Zugriff auf die subjektiven Leistungspotenziale, der die Gefahr einer ökonomischen ‚Kolonialisierung‘ von Subjektivität in sich birgt. S. 196 An deutschen Hochschulen erhalten Studierende in der Regel eine gute fachliche Ausbildung, die ihnen bei ihren weiteren Karrierewegen zugutekommt. Arbeitswissenschaftliches Fachwissen und Handlungskompetenzen, die sie zu einem reflexiven Umgang mit hohen Flexibilitäts- und Subjektivierungsanforderungen in
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der flexibilisierten Arbeitswelt befähigen, erwerben sie dort allerdings zu wenig. Die Problematik des hierfür unzureichenden Fachwissens spiegelt sich an Hochschulen darin wider, dass arbeitswissenschaftliche oder benachbarte Studiengänge (z. B. Arbeitssoziologie sowie Arbeits- und Organisationspsychologie) vor allem im letzten Jahrzehnt eingestellt, einschlägige Professuren nicht wiederbesetzt oder umgewidmet wurden (z. B. von Arbeits- in Wirtschaftspsychologie oder von Arbeits- in Arbeitsmarkt- und Bildungssoziologie). Hinzu kommt, dass auch in General-Studies-Lehrangeboten Inhalte, die sich mit der Flexibilisierung der Arbeitswelt befassen, kaum präsent sind. Mit anderen Worten: Die Flexibilisierung, Digitalisierung und forcierte Ökonomisierung der Arbeitswelt erzeugen auf der einen Seite erheblichen arbeits- und gesundheitspolitischen Handlungsdruck, auf der anderen Seite verschwindet Arbeit allmählich als Gegenstand der Lehre und Forschung. Die Vermittlung von Fachwissen über die flexibilisierte Arbeitswelt bildet eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Voraussetzung dafür, dass Studierende als zukünftige Fach- und Führungskräfte befähigt werden, reflexive Handlungskompetenzen mit Blick auf betriebliche Flexibilitäts- und Subjektivierungsanforderungen zu entwickeln. Als hinreichende Voraussetzungen hierfür sind u. a. Angebote forschenden Lehrens und Lernens bedeutsam, die Studierenden geeignete Reflexionsräume erschließen. In diesen Reflexionsräumen können betriebliche Anforderungen an die Subjektivität von Beschäftigten kritisch hinterfragt und darauf gerichtete Möglichkeitsräume subjektiver wie kollektiver Handlungsstrategien sondiert werden. Solche reflexiven Handlungskompetenzen können nicht zuletzt durch Kooperationen mit den Performance Studies gefördert werden. Das gleichnamige Zentrum an der Universität Bremen mit dem ihm angeschlossenen Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst bildet dafür ein noch zu rares, aber umso eindrucksvolleres Beispiel, wissenschaftliche, künstlerische und gesellschaftskritische Fragestellungen miteinander zu verknüpfen (Holkenbrink 2013). Performance Studies beinhalten – so meine in diesem Beitrag verfolgte These – ein aufklärerisches Potenzial, das Menschen innerhalb wie außerhalb von Hochschulen bei der Entwicklung reflexiver Handlungskompetenzen im Umgang mit Anforderungen und Zumutungen subjektivierter Arbeitsverhältnisse zu unterstützen vermag. Im Folgenden werden zunächst die Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit als zentrale Veränderungstendenzen der gegenwärtigen Arbeitswelt skizziert und mit Blick auf ihre Implikationen für die Subjektivität und Gesundheit von Beschäftigten, insbesondere von Fachkräften, diskutiert (2.). Im Anschluss daran wird am Beispiel einer Aktion des Theaters der Versammlung verdeutlicht, welches Potenzial Performance Studies für eine kritische Reflexion von Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ beinhalten (3.). Schließlich wird im Ausblick sondiert, inwiefern Performance Studies zur Förderung einer reflexiven Subjektivität im Umgang mit subjektivierten Arbeitsverhältnissen beitragen können.
Reflexive Subjektivität in vermarktlichten Arbeitsorganisationen
2. Selbstrationalisierung durch ‚Subjektivierung von Arbeit‘ Die Arbeitswelt befindet sich seit den 1990er Jahren in einer tiefgreifenden und vielfältigen Umbruchphase, die durch die Herausbildung eines flexiblen Kapitalismus geprägt wird (Sennett 2005). Das neoliberale Credo, wonach die Entfaltung von Markt- und Wettbewerbskräften als Schlüssel für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung betrachtet werden, bildet eine zentrale ideologische Grundlage für die Herausbildung des flexiblen Kapitalismus in den meisten OECD-Staaten. Zur Schaffung günstiger Angebots- und Standortbedingungen für (global agierende) Unternehmen erfolgten politische Arbeitsmarktreformen, die auf eine Flexibilisierung und oftmals auch auf die Entsicherung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen setzten, wie befristete und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit bzw. verschiedene Formen der Alleinselbstständigkeit. Die politisch herbeigeführte Liberalisierung der Finanz- und Kapitalmärkte verschob die Machtverhältnisse in börsennotierten Unternehmen von Unternehmensleitungen zu Anteilseignern, insbesondere institutionellen Investoren. Die Ausrichtung von Unternehmen am Shareholder-Value-Regime setzt Unternehmen und ihre Belegschaften unter einen permanenten Flexibilisierungs- und Reorganisationsdruck. Die Flexibilisierung von Unternehmen orientiert sich am Leitbild des Unternehmensnetzwerks, das sich aus lose gekoppelten, ökonomisch weitgehend eigenverantwortlichen Einheiten zusammensetzt. Ökonomische Ergebnisverantwortung wird an dezentrale Einheiten delegiert, die spezifische Dienstleistungen oder Produkte möglichst umfassend erstellen. Die Netzwerksteuerung erfolgt durch Formen interner Marktsteuerung, bei der Markt- und Wettbewerbselemente auf der Basis von Zielvereinbarungen, kennzifferngestütztem Controlling und ökonomischen Leistungsvergleichen auf die Binnenstruktur von Unternehmen übertragen werden (Becke 2008). Die interne Marktsteuerung von Unternehmen erzeugt einen permanenten Reorganisations- und Optimierungsdruck auf die dezentralen Einheiten, um dynamisierte ökonomische Ziele zu erreichen und in der unternehmensinternen und -externen Konkurrenz zu bestehen. Die flexiblen und intern vermarktlichten Arbeitsorganisationen sind in hohem Maße auf subjektive Leistungsbeiträge von Beschäftigten angewiesen, um marktinduzierte, aufgaben- und kundenbezogene Unwägbarkeiten situativ-flexibel zu bewältigen. Ein Beispiel hierfür bildet die ergebnisoffene und projektförmige IT-Entwicklungsarbeit. Zur Entwicklung kundenspezifischer Softwarelösungen sind relativ unscharfe Problemstellungen und Erwartungen von Kunden in konkrete Entwicklungsaufgaben zu transformieren. Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ zielen darauf ab, die subjektiven Leistungspotenziale von Beschäftigten möglichst umfassend für betriebsökonomische Zwecke zu erschließen und zu nutzen (Moldaschl 2003). Sie beschränken sich nicht auf die fachlichen Leistungspotenziale, sondern erstrecken sich auch auf die sozio-emotionalen Kompetenzen von Beschäftigten und die Beeinflussung ihrer Verhaltensdispositionen.
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Diese Strategien intendieren eine weitgehende arbeitsbezogene Selbststeuerung und Selbstrationalisierung von Beschäftigten im Sinne einer durch sie selbst zu Wege gebrachten Steigerung der Arbeitsleistung (Böhle 2008, 89). Hierbei geht es darum, nicht nur Arbeitsaufgaben selbstgesteuert und eigenverantwortlich zu bearbeiten, sondern vielmehr „fachübergreifend die Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit und deren wechselseitige Abstimmung zu gestalten“ (ebd.). Klassische Managementaufgaben werden also auf die Beschäftigten übertragen. Diese erhöhten Anforderungen an die Selbstorganisation der Arbeit erstrecken sich zwar auch auf die Ebene der operativ tätigen Beschäftigten, z. B. im Rahmen industrieller Gruppenarbeitskonzepte. Im Fokus der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ stehen jedoch hoch qualifizierte Fachkräfte, deren Arbeit einer fremdgesteuerten Rationalisierung ‚von außen‘ bisher kaum zugänglich war (Böhle 2008). Die Grenzen fremdgesteuerter Rationalisierung sollen durch eine Selbstrationalisierung der Fachkräfte aufgehoben werden. Neuere Forschungsstudien zur internen Marktsteuerung von Unternehmen verweisen auf eine deutliche Zunahme psychischer Arbeitsbelastungen durch Arbeitsintensivierung, vor allem durch erhöhten Zeit-, Leistungs- und Optimierungsdruck (Lohmann-Haislah 2012). Im Rahmen der weitreichenden Selbstorganisation von Arbeit und ihrer Rahmenbedingungen wird hochqualifizierten Fachkräften ökonomische Ergebnisverantwortung übertragen. Dies beinhaltet, markt-, kundenund aufgabenbezogene Unwägbarkeiten zu bewältigen, dabei zugleich anspruchsvolle ökonomische Ziele zu erreichen und Terminvorgaben einzuhalten. Häufig wird dieser Spagat durch eine (informelle) Ausweitung von Arbeitszeiten bzw. den Verzicht auf Pausen bewerkstelligt. Werden die Arbeitsintensivierung und die Ausweitung von Arbeitszeit zum Dauerzustand, steigt das Risiko für psycho-physische Erschöpfungszustände und psychische Erkrankungen. Die Überschreitung der eigenen Belastungsgrenzen ist allerdings auch selbstinduziert, insbesondere wenn Beschäftigte eine starke Aufgabenidentifikation und Erfolgsorientierung aufweisen (Kumbruck 2008). Sie neigen dann u. a. zu gesundheitlich problematischen Bewältigungsmustern des Präsentismus, d. h. des ‚Arbeitens trotz Krankheit‘ (Steinke & Badura 2011). Konkurrenzorientierte Arbeitskulturen verstärken diese Gefährdung von Subjektivität, wenn dort die Inkaufnahme hoher Arbeitsbelastungen unhinterfragt als Normalität des Arbeitsalltags betrachtet wird und eine Tabuisierung psychischer Gesundheitsprobleme oder Erkrankungen aus Angst vor sozialer Ausgrenzung erfolgt (Becke 2014). Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ erhöhen die psychische Vulnerabilität von Beschäftigten, da keine definierten Arbeitsrollen als Schutzmantel gegen überbordende betriebliche Leistungserwartungen und Selbstansprüche an die Arbeit mehr vorhanden sind (Senghaas-Knobloch 2001).
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3. ‚Subjektivierung von Arbeit‘ als Basso continuo in Aktionen und Aufführungen des Theaters der Versammlung In meiner arbeitswissenschaftlichen Forschung und Lehre habe ich des Öfteren mit dem Theater der Versammlung (TdV) unter der Leitung von Jörg Holkenbrink kooperiert. Anlässe hierfür bildeten konkrete arbeitswissenschaftliche Themen, die von mir in Lehrveranstaltungen behandelt wurden, oder projektbezogene Veranstaltungen, die sich an ein breiteres Publikum von Unternehmensvertreter_innen und Wissenschaftler_innen richteten. Die darin eingebundenen Aktionen und Aufführungen des TdV bezogen sich zum Beispiel auf soziale Anerkennung in Unternehmen oder organisatorische Veränderungsprozesse und deren Schattenseiten, wie soziale Ausgrenzung. Die ‚Subjektivierung von Arbeit‘ bildete einen teils impliziten, teils expliziten thematischen Grundtenor dieser gemeinsamen Veranstaltungen. Im Folgenden werde ich exemplarisch auf eine der Aktionen etwas näher eingehen, die ich im Rahmen einer Veranstaltung des TdV zum Thema „Welche Rolle spiele ich? – Untersuchungen zur Arbeit in Zukunft“ im Juli 2007 kommentieren durfte. Sie trägt den Titel „Brecht für Manager – Ein Seelentraining“. S. 92 Dieses Beispiel habe ich ausgewählt, da es dem Publikum einen unmittelbaren Zugang zu subjektivierten Arbeitsverhältnissen ermöglicht(e). Hierbei gelang es dem TdV, in der szenischen Performanz einen Basso continuo zu kreieren, in dem die sozialen Mechanismen der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ in ihren Ambivalenzen für Subjektivität spürbar wurden. Meines Erachtens besteht das aufklärerische Potenzial performativer Aufführungen hierbei gerade darin, zu den impliziten, unterschwelligen sozialen Mechanismen von Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ einen erfahrungsorientierten Zugang herzustellen, der die alltägliche (berufliche) Normalität der Besucher_innen zu irritieren vermag. Worum geht es in diesem fiktiven Managementseminar, das in reale Seminare und Konferenzen integriert wird? Einen Schwerpunkt bildet die Vorstellungsszene. Das Seminar wird durch einen Managementtrainer geleitet, der cool auftretend proklamiert, das Seminar solle zur „Rundumbildung der Führungspersönlichkeit“ beitragen. Die Entwicklung der Führungspersönlichkeit orientiere sich daran, dass nun „der ganze Mensch auf dem Markt“ gefragt sei. Darin kommt die Leitorientierung von Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ zum Ausdruck, die subjektiven Leistungspotenziale umfassend für betriebsökonomische Zwecke zu nutzen. Zugleich werden hier Bildung und Persönlichkeitsentwicklung den Marktimperativen untergeordnet. In der Eingangssequenz gelingt es dem „Trainer“, eine sozio-emotionale Atmosphäre der Ambiguität zu erzeugen, die die fiktiven Seminarteilnehmenden offensichtlich verunsichert. Diese Ambiguität äußert sich darin, dass den Teilnehmenden unklar bleibt, ob und inwiefern mit dem Führungskräfteseminar auch andere, verdeckte Ziele verfolgt werden.
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Verunsicherung wirkt hier als sozialer Mechanismus der Aus- und Zurichtung von Subjektivität auf die Vermarktlichung von Unternehmen. Diese erfordert von Führungskräften nicht nur eine „Disziplin des Handelns“, die darin zum Ausdruck kommt, bestimmten unternehmensbezogenen Erwartungen an Führungskräften zu genügen. Gefordert ist überdies eine „Disziplin des Seins“, d. h. die „Verpflichtung, einen bestimmten Charakter zu haben und in einer bestimmten Welt zu leben“ (Goffman 1973, 184). Von den Führungskräften wird erwartet, ihre Identität und Arbeitshaltung in Richtung des unternehmensseitig proklamierten „offiziellen Selbst“ des unternehmerisch handelnden Subjekts (siehe Bröckling 2007) zu entwickeln. Insofern setzt das Führungskräftetraining die Teilnehmenden unter einen Anpassungs- und Bewährungsdruck, zu vermitteln, dass sie gewillt sind, diesen Entwicklungsschritt zum unternehmerischen Selbst zu vollziehen. In der Eingangssequenz bringen die Führungskräfte ihre je spezifische Haltung zu diesem Weiterbildungsseminar zum Ausdruck. Darin spiegeln sich – wie unter einem Brennglas – erlebte soziale Zwänge wider, denen sich die Teilnehmenden durch Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ ausgesetzt fühlen. Im Folgenden wird dies mit Blick auf drei fiktive Führungskräfte näher ausgeführt. In der Vorstellungsrunde inszeniert sich Herr Messinger als Teilnehmer, der dem Führungskräfteseminar aufgeschlossen gegenübersteht. Sein Kernsatz hierzu lautet: „Ich möchte meinen Kritikern beweisen…, dass ich ein moderner aufgeschlossener Manager bin und auch in meiner Position noch die Weiterbildung suche“. Messinger ist bestrebt, seine Lern- und Weiterbildungsbereitschaft unter Beweis zu stellen: zum einen, um zu verdeutlichen, dass er auch aus seiner erreichten höheren Managementposition daran interessiert ist, Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Sich nicht fortzubilden, bedeutet demnach Stillstand, widerspricht dem mit der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ verbundenen Credo des lebenslangen Lernens und gefährdet aus seiner Perspektive das selbst inszenierte Image des modernen Managers. Zum anderen ist seine Weiterbildungsteilnahme darauf gerichtet, seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, d. h. ihnen gegenüber die eigene Modernität, Flexibilität und Lernbereitschaft hervorzuheben. Diese Abgrenzung verweist auf existente Konkurrenz- und Rivalitätsbeziehungen, wie sie für stark wettbewerbsorientierte Arbeitskulturen in vermarktlichten Unternehmen typisch sind (Becke 2014). Unter der selbstinszenierten Oberfläche einer positiv-affirmativen Haltung zu diesem Führungskräfteseminar offenbart Messinger, dass er die Weiterbildungsteilnahme als sozialen Zwang und Bewährungsprobe erlebt, sich als wandlungs- und lernbereiter Manager zu präsentieren, letztlich um sozialen Statusverlusten und Abwertungen in wettbewerbsorientierten Arbeitskulturen vorzubeugen. Frau Perger verhält sich in der Vorstellungsrunde nahezu konträr zu Herrn Messinger, denn sie äußert von Anfang an verbal sowie durch Körperhaltung, Mimik und Gestik ihr Unbehagen über die Seminarteilnahme. Ihr Unbehagen erstreckt sich auf zwei unterschiedliche Dimensionen. Zunächst thematisiert sie, dass ihre
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Seminarteilnahme nicht aus freien Stücken erfolge, sondern sie dazu verpflichtet worden sei. Sie erlebt die Verpflichtung als „Strafexpedition“, d. h. als Sanktion; nicht nur, um ihr zugeschriebene Defizite im Hinblick auf das betrieblich erwartete unternehmerische Sein auszugleichen. Zugleich erfährt sie die Verpflichtung zur Seminarteilnahme auch als soziale Beschämung, denn ihr Ansehen im Kreis der Kolleg_innen werde dadurch beeinträchtigt, dass in ihrer Organisation bekannt sei, dass derartige Weiterbildungen einen Sanktionscharakter hätten. Die Weiterbildung erhält einen stigmatisierenden Charakter für all jene, die den in sie gesetzten betriebsökonomischen Erwartungen nicht (mehr) gerecht werden. In diesem performativen Fallbeispiel verdeutlicht sich das Sanktions- und Abwertungspotenzial von Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ gegenüber Personen, die Erwartungen an das unternehmerische Selbst nicht genügen. Frau Pergers Unbehagen gegenüber der Seminarteilnahme hat noch eine zweite Ursache: Sie erlebt die von ihrer Seite ursprünglich nicht geplante Weiterbildung als Arbeitsverdichtung, da der dafür einzusetzende Zeitaufwand zu Lasten ihrer verfügbaren Arbeitszeit geht. Dies bedeutet, dass sie ihr Arbeitsvolumen im vorgegebenen Zeitrahmen nur durch überlange Arbeitszeiten bewältigen kann. Die Weiterbildungsteilnahme wird hier als Quelle psychischer Arbeitsbelastung erfahren. Zusätzliche Zeitressourcen werden ihr offenbar für die Bewältigung ihres Arbeitsvolumens nicht gewährt. Die Wahrnehmung der Weiterbildungsteilnahme als Belastung ist exemplarisch für das Erleben subjektivierter Arbeitsverhältnisse, in denen Fach- und Führungskräfte mit unterschiedlichen ungeplanten Anforderungen konfrontiert werden, deren eigenverantwortliche Bewältigung von ihnen im Rahmen vorgegebener oder vereinbarter Fristen und Qualitäten erwartet wird. Im Rahmen von Managementstrategien der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ fühlen sich Beschäftigte für das ökonomische Ergebnis ihrer Arbeit verantwortlich. Zugleich werden dabei Unwägbarkeiten und Risiken, die bei der Zielerreichung auftreten können, auf die Beschäftigten abgewälzt. Als ökonomisch eigenverantwortlich handelnde Arbeitssubjekte fühlen sie sich auch dafür verantwortlich, die ökonomischen Ziele möglichst gegen alle Widrigkeiten zu erreichen – auch wenn dies auf Kosten der eigenen Gesundheit erfolgt. Da in subjektivierten Arbeitsverhältnissen das Maß aller Dinge die dynamisierten ökonomischen Ziele sind, fehlt ein Maß für menschengerechte Normalleistungen. Der beständige Optimierungsdruck führt daher nicht selten in eine Überforderungsspirale, an deren Ende die psycho-physische Erschöpfung steht. Frau Illich bringt bereits in der Vorstellungssequenz ihre schroffe Ablehnung der Weiterbildung zum Ausdruck. Darin spiegelt sich ihre Erwartungsenttäuschung wider, denn Illich erlebt das Führungskräfteseminar als unangemessene Gegenleistung des Unternehmens für ihren subjektiven Leistungsbeitrag zum ökonomischen Erfolg. Sie macht im Verlauf der Szene deutlich, dass ihr an einer betrieblich zweckfreien Gegenleistung gelegen ist, die ihr einen unmittelbaren persönlichen Nutzen bringt: zusätzliche Urlaubstage. Die Weiterbildungsteilnahme wird als un-
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angemessene Gegenleistung erfahren, da ihre privaten lebensweltlichen Ansprüche enttäuscht werden. Subjektivierte Arbeitsverhältnisse sind oft dadurch geprägt, dass sie insbesondere Reziprozitätserwartungen von Fach- und Führungskräften anerkennen, die dem betrieblichen Leistungskontext verhaftet bleiben, aber subjektive Ansprüche an eine Balancierung beruflicher und privater Lebenswelten erschweren oder sogar missachten.
4. Ausblick: Zum aufklärerischen Potenzial der Performance Studies in subjektivierten Arbeitsverhältnissen Die skizzierte Eingangssequenz aus „Brecht für Manager“ eröffnet dem Publikum einen vielfältigen erfahrungsorientierten Zugang zu den Zumutungen und Ambivalenzen subjektivierter Arbeitsverhältnisse, mit denen (hoch qualifizierte) Fach- und Führungskräfte konfrontiert werden. Dieser erfahrungsorientierte Zugang erfolgt auf Seiten des Publikums über das audio-visuelle, ästhetische wie sozio-emotionale Erleben der performativen Akte. S. 145 Letzteres stellt sich vor allem dadurch ein, dass es dem TdV-Ensemble gelingt, eine sozio-emotionale Grundtönung zu erzeugen, in der die Zumutungen und Ambivalenzen der ‚Subjektivierung von Arbeit‘ in ihren unterschiedlichen Facetten spürbar werden. Dieser erfahrungsorientierte Zugang wird dadurch verstärkt, dass das vom „Trainer“ zur Hospitation eingeladene Publikum oftmals nicht in einer passiven Rezipient_innenrolle verbleibt, sondern stellenweise aktiv als Subjekte in die Performance eingebunden wird. Die Zuschauer_innen werden insofern zu Mit-Akteur_innen der Aufführung, als sie durch ihre „physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, ihre Reaktionen“ die Aufführung und die Spielweise der Performer_innen mitkonstituieren (Fischer-Lichte 2014, 47). Doch der Subjektstatus der Zuschauenden geht sogar darüber hinaus, denn im Anschluss an die Aufführung erhalten sie die Gelegenheit, mit den Performer_innen in den Dialog zu treten. Diese Dialogräume ermöglichen den Besucher_innen, die erlebte Aufführung mit Blick auf ihre eigene Lebenssituation zu reflektieren (Bebek 2014). Dies ist vor allem der Fall, wenn durch die Aufführung als ‚fiktive Realität‘ die alltägliche berufliche Normalität der Besucher_innen irritiert oder hinterfragt wird. Das mit Blick auf die subjektivierten Arbeitsverhältnisse aufklärerische Potenzial der TdV-Aufführung umfasst zumindest zwei Dimensionen. Die erste Dimension bezieht sich auf das kognitive, ästhetische wie sozio-emotionale Erleben der Zumutungen und Widersprüche der ‚Subjektivierung von Arbeit‘; dies schließt den Einblick in soziale Mechanismen und Zwänge der Beeinflussung von Subjektivität ein. Die Variationen von szenischen Abläufen, die das TdV vornimmt, wirken als quasi-experimentelle Versuchsanordnungen (Holkenbrink & Lagaay 2016; Holkenbrink 2013), in denen auch unterschiedliche Handlungsmodi und kritisch-konstruktive Bewältigungsmuster der dargestellten Akteure mit Anforderungen an die
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‚Subjektivierung von Arbeit‘ aufscheinen können. In diese Richtung einer aufklärungsorientierten Reflexion subjektivierter Arbeitsverhältnisse wirken zweitens die Dialogräume, die das TdV im Anschluss an die performativen Akte für das Publikum eröffnet. Hierbei können Besucher_innen ihre eigenen beruflichen Erfahrungen vor dem Hintergrund der erlebten Aktionen reflektieren und Möglichkeitsräume eines kreativen wie widerständigen Umgangs mit subjektivierten Arbeitsverhältnissen ausloten. Zu betonen ist allerdings die Reichweite des aufklärerischen Potenzials der Performance Studies: Das Publikum erlebt – so meine eigenen Erfahrungen – diese performativen Akte oft als Irritation und Bereicherung, d. h. als neuartigen, anregenden Zugang zu einem bestimmten Thema, das für ihre eigene berufliche Situation Relevanz aufweisen kann. Das aufklärerische Potenzial besteht hierbei darin, neue Impulse für eine reflektierte Auseinandersetzung mit eigenen beruflichen Kontexten zu erhalten, die im günstigsten Falle ermöglichen, eine kritisch-distanzierte Haltung zu betrieblichen Anforderungen an die ‚Subjektivierung von Arbeit‘ anzuregen bzw. neue Umgangsweisen mit solchen Anforderungen zu entwickeln. Für die Performer_innen, aber auch für Studierende, die sich auf das Studien- und Qualifikationsangebot der Performance Studies einlassen, erschließen sich weiterreichende Entwicklungspotenziale reflexiver Subjektivität, die sie in subjektivierte Arbeitswelten einbringen können. Hinweise darauf finden sich auch in der erziehungswissenschaftlichen Masterarbeit von Carolin Bebek (2014), in der u. a. die Erfahrungen von studentischen Mitgliedern des TdV untersucht wurden. Bebek verdeutlicht, dass die Studierenden in den performativen Settings ‚postsouveräne Praktiken‘ entwickeln, die in der Entwicklung spielerischer, zuweilen auch subversiver Herangehensweisen an Aufgaben- und Fragestellungen, der Risikobereitschaft und des Aushaltens von Spannungen sowie der Entwicklung von Sensibilität für andere zum Ausdruck kommen. Diese Praktiken ermöglichen ihnen m. E. auch, mit Ambivalenzen und Zumutungen subjektivierter Arbeit und dem eigenen Arbeitshandeln in beruflichen Kontexten kritisch-distanzierter und konstruktiv umzugehen, d. h. auch alternative Möglichkeitsräume subjektiver Aneignung auszuloten und zu erproben. Dies schließt die Fähigkeit zur Erkundung, Entwicklung und Erprobung alternativer Praktiken im Umgang mit betrieblichen Anforderungen an die ‚Subjektivierung von Arbeit‘ ein. Die in den Performance Studies erworbene erhöhte Sensibilität und Empathie für andere erschließt oder erweitert im günstigen Fall auch kollektive arbeitspolitische Handlungsspielräume gegenüber einer betriebsökonomischen ‚Kolonialisierung‘ von Subjektivität.
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Guido Becke
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Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen Marion Bönnighausen & Philipp Kamps
Im Zentrum unseres Beitrags steht das Phänomen der Ereignishaftigkeit, das eng mit jeder ästhetischen Wahrnehmung oder auch Erfahrung verknüpft ist. Wir möchten der Frage nachgehen, wie sich Ereignishaftigkeit im Kontext des Theaters mit medialen Verflechtungen verbinden lässt, die nach wie vor die Aufführungen im Gegenwartstheater prägen. Am Beispiel des Theaterstücks Stadion der Weltjugend von René Pollesch aus dem Jahre 2016 werden wir auf der Basis einer phänomenologischen Perspektive und der Erörterung transmedial geprägter Wahrnehmungsmuster Dimensionen der medialen Verflechtungen in ihren Auswirkungen auf den Ereignischarakter der Aufführung aufzeigen.
Das Aufführungsereignis Um über Ereignishaftigkeit im Kontext von Theater nachdenken zu können, müssen zunächst Inszenierung und Aufführung voneinander unterschieden werden. Steht der Inszenierungsbegriff theaterwissenschaftlich für den „Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll“1, ist mit dem Aufführungsbegriff das „Ereignis“ gemeint, „das aus der Konfrontation und Interaktion zweier Gruppen von Personen hervorgeht, die sich an einem Ort zur selben Zeit versammeln, um in leiblicher Ko-Präsenz gemeinsam eine Situation zu durchleben.“2
1 | Fischer-Lichte, Erika: Art. Inszenierung. In: dies./ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2014(a), S. 152–160. Hier: S. 152. 2 | Fischer-Lichte, Erika: Art. Aufführung. In: dies./ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2014(b), S. 15–26. Hier: S. 15 f.
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Marion Bönnighausen & Philipp Kamps
Damit geht eine Aufwertung der Zuschauer einher: Sie sind weder distanzierte oder einfühlsame Beobachter der Handlungen, welche die Schauspieler vollziehen, noch intellektuelle Entzifferer von Botschaften, die auf der Bühne formuliert werden, sondern „Mitspieler […], welche die Aufführung durch ihre Teilnahme, d. h. ihre physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, Rezeption und Reaktion mithervorbringen“3. Aus der leiblichen Ko-Präsenz von Spielern und Zuschauern erst resultiert die besondere Medialität der Theateraufführung, die sich in der Interaktion zwischen Spielern und Zuschauern und der gleichberechtigten Beteiligung beider Gruppen am Zustandekommen der Aufführung manifestiert. S. 84 Obwohl die Spieler während der Aufführung die Festlegungen und Absprachen der Inszenierung genauestens einhalten können, öffnet die Bedingung der leiblichen Ko-Präsenz und die aus ihr resultierende Interaktion das Geschehen der Aufführung über die Intentionen der Inszenierung hinaus. Nicht die Aufführung als ästhetisches Produkt und Werk steht hier im Mittelpunkt, sondern das einzigartige und unwiederholbare Ereignis der Konfrontation und Interaktion von Spielern und Zuschauern als Akt einer gemeinsamen performativen Hervorbringung am Ort der Aufführung. Für die Beschreibung und Analyse von Aufführungen ergeben sich daraus neue Perspektiven: So schließt die performative Hervorbringung der Aufführung zwar das Zurückbleiben materieller Objekte nach der Aufführung nicht aus, die Aufführung selbst aber ist nach ihrem Ende unwiederbringlich verloren. Während dabei der Inszenierungsbegriff die intendierte und geplante performative Hervorbringung der Materialität umfasst, fokussiert der Aufführungsbegriff gerade auf jegliche in deren Verlauf tatsächlich hervorgebrachte Materialität, die theaterwissenschaftlich vor allen Dingen mit den Elementen Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit beschrieben wird.4 Im Kontext unserer Fragestellung sind die Elemente Körperlichkeit und Räumlichkeit von Bedeutung. In der Aufführung treffen die Beteiligten mit ihrem phänomenalen Leib, dem leiblichen In-der-Welt-Sein, einerseits und – im Falle der Spieler – mit ihrem semiotischen Körper aufeinander, wenn sie eine bestimmte Rolle verkörpern. Dabei wirkt der phänomenale Leib aller Beteiligten in Aufführungen „mit seinen je spezifischen physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen auf den phänomenalen Leib anderer ein und vermag in diesen je besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen“5. Dabei sind auch Aspekte der Räumlichkeit von Bedeutung. Der bereits in der Inszenierung angelegte und geplante architektonisch-geometrische Raum organisiert und strukturiert die Möglichkeiten, in denen Spieler und Zuschauer interagieren, in der Aufführung selbst aber konstituiert sich ein performativer Raum, den jede „Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten“ zu
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3 | Fischer-Lichte 2014b, S. 16. 4 | Vgl. ebd., S. 18. 5 | Ebd., S. 19.
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
verändern und neu hervorzubringen vermag.6 In diesem Sinne ereignet sich auch die Räumlichkeit der Theateraufführung in deren performativem Vollzug. S. 221 Ganz im Gegensatz zur auf Wiederholung angelegten Inszenierung tritt die Aufführung in ihrer Materialität also „immer hier und jetzt in Erscheinung und wird in besonderer Weise als gegenwärtig erfahren“7. Damit übermittelt sie „nicht andernorts bereits gegebene Bedeutungen, sondern bringt die Bedeutungen, die sich in ihrem Verlauf von den einzelnen Teilnehmern konstituieren lassen, allererst hervor“8. Die Wahrnehmung ihrer Semiotizität, also der Bedeutungsebene der Aufführung, konstituiert sich Fischer-Lichte zufolge als eine von drei Möglichkeiten: als Wahrnehmung selbstbezüglicher Phänomene, als Wahrnehmung von dramatischen Figuren und anderen symbolischen Ordnungen und als Umspringen der Wahrnehmung zwischen den ersten beiden Möglichkeiten. Während im ersten Fall der Leib und die Dinge in ihrer spezifischen Phänomenalität eher chaotisch als etwas wahrgenommen werden, also im Moment der Wahrnehmung das bedeuten, als was sie dem Wahrnehmenden erscheinen, wird im zweiten Fall alles, was wahrgenommen wird, zielgerichtet „im Hinblick auf die Figur bzw. eine bestimmte fiktive Welt oder eine bestimmte symbolische Ordnung wahrgenommen“9. Die Wahrnehmung während der Aufführung findet zumeist als ein Umspringen zwischen dem ersten und zweiten Fall statt und gibt dem Wahrnehmungsprozess damit eine immer neue Wendung. Was nun durch die Interaktion zwischen Spielern und Zuschauern in der Theateraufführung performativ hervorgebracht wird, lässt sich mit Bernhard Waldenfels als „Zwischenereignis“10 präzisieren. Dieses Aufführungsereignis widerfährt den an ihm Beteiligten, indem es sich von jenen Prozessen absetzt, „die sich ohnehin und überall vollziehen“, und kann dadurch in einer besonderen Weise auffällig werden.11 Der Widerfahrnischarakter S. 33 prägt das Aufführungsereignis, denn als Widerfahrnis kann es nicht ausschließlich geplant und inszeniert werden, obwohl geplante Anfangszustände als Impulse denkbar sind:
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„Das gilt gerade auch von ästhetischen Ereignissen, bei denen beliebig viele Anfangszustände feststehen können, die aber doch nur der Anfang eines Geschehens sind, das, wenn es gut geht,
seine eigene Dynamik entfaltet. Nicht nur jede Performance, überhaupt jede Bühnenauffüh-
rung steht dafür: daß unter Anwesenheit des Publikums etwas geschieht, das sich nicht auf die
6 | Ebd., S. 16. 7 | Ebd. 8 | Ebd., S. 20. 9 | Ebd. 10 | Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994, S. 234. 11 | Vgl. Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37–47. Hier: S. 38 f.
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Die Theateraufführung sieht der Philosoph Martin Seel zu einer „Unterbrechung, Umpolung und Transdisposition der Verläufe der Wahrnehmung und des Verstehens“ in der Lage, denn wie alle Kunstwerke macht auch die Theateraufführung Ereignisse reproduzierbar und reanimierbar, weil das Ereignis bei Kunst-Objekten ein Geschehen ist, „das zu eben diesem Zweck gemacht worden ist.“13 Sie sind demnach mit einem „Ereignis-Potential“ versehen, das unter der Bedingung leiblicher Ko-Präsenz an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Zeit ausgestellt und aktualisiert werden kann.14 Diese Aktualisierung wird im Fall der Theateraufführung vor allem aus Differenzen zwischen Spiel und Ernst gespeist, zwischen der Lebenswelt und der Bearbeitung dieser Welt durch die Inszenierung. Für die Aufführung bedeutet das: Die Art und Weise, in der die Materialität der Aufführung von der üblichen, erwarteten oder erwartbaren Gestaltung dieses Materials abweicht – der performative vom architektonisch-geometrischen Raum, der phänomenale vom semiotischen Körper, das von der Inszenierung Intendierte und das in der Aufführung Realisierte –, bestimmt auch das Ereignis-Potential der Aufführung. Die „Differenzen, die aus einer spezifischen Verwendung eines basalen Materials entstehen, können
als das primäre Medium einer künstlerischen Gestaltung verstanden werden. Es stellt ein weites Spektrum von Möglichkeiten der Kombination von Elementen bereit, aus dem heraus etwas in die Gestalt eines bestimmten Artefakts gebracht werden kann.“15
Wie sich die Ermöglichung von Ereignishaftigkeit aus deren Verhältnis zur Materialität im Falle der Hinzunahme medialer Verflechtungen in Aufführungen auswirkt, wollen wir im Folgenden anhand des Theaterstücks Stadion der Weltjugend von René Pollesch untersuchen.
René Polleschs Stadion der Weltjugend René Pollesch verlegte im Juli 2016 seine neue Produktion am Schauspiel Stuttgart in ein Autokino in Kornwestheim. Das Autokino selbst wurde dabei zum Theatersaal, indem die Zuschauer von ihren Fahrzeugen aus das Spiel auf einer Großleinwand verfolgten und den Ton über eine bestimmte Frequenz im Autoradio empfingen. Den eigentlichen Spielort der Inszenierung stellte ein Auto dar, das zwischen 12 | Ebd., S. 40. 13 | Ebd. 14 | Vgl. ebd. 15 | Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003, S. 175.
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
den anderen Fahrzeugen der Zuschauer stand, während Tontechniker und Kameraleute das Geschehen im Wagen abfilmten und live auf die Kinoleinwand brachten.16 Thema des Theaterstücks ist das Kino, beginnend mit Verweisen auf den Hollywood-Kultfilm Bullitt, mit dem das Autokino Kornwestheim 1969 eröffnet wurde, über Raumschiff Orion und den Autokino-Thriller Targets bis zu Reflexionen über Schauspieler wie Boris Karloff oder Robert Mitchum. Der Diskurs über Rollen, (Selbst-)Darstellung und Schauspielstile gerät zu Pollesch-typischen Reflexionen über (Liebes-)Beziehungen und Authentizität. Damit werden in der Inszenierung poetologische bzw. film- und theaterästhetische Prämissen verhandelt, die an die oben diskutierten konstitutionellen Elemente der Theateraufführung wie das Verhältnis zwischen Spielern und Zuschauern, Körperlichkeit und Räumlichkeit, Wahrnehmungsbedingungen oder eben auch die grundlegenden Rollenzuweisungen anknüpfen und diese gleichzeitig auf den Prüfstand stellen. Dies betrifft insbesondere den Anspruch, eine Figur zu verkörpern, denn die Schauspieler fordern die tradierte Trennung von phänomenalem Leib und semiotischem Körper, von Schauspieler und Figur ein, wenn sie sagen: „Das waren noch Zeiten, als man sich nicht immer selbst spielen musste.“ oder „Wo ist denn die Epoche hin, in der man etwas spielte, was man nicht ist?“ Hier wird auf die Spezifik des postdramatischen Theaters verwiesen, die auch für diese Inszenierung gültig ist: Das Gemachtsein, die Illusionsbildung der Fiktionalisierung wird ausgestellt und entlarvt. Der tradierte Schauspieler, der durch seinen Ausdruck in Rede, Mimik und Bewegung die Ganzheit einer Figur imaginiert, ist in dieser Theaterästhetik eliminiert.17 Die Figuren eignen sich Zitate aus filmischen und kulturellen Kontexten an, die in gesellschaftliche Zusammenhänge gestellt werden. Dabei repräsentieren sie weder szenisches Geschehen noch individuelle Personen und sind zu bloßen „Textträgern“ reduziert, die keine Psychologisierung zulassen.18 „Wo ist denn da die Künstlichkeit?“, fragt Martin Wuttke provokativ in Stadion der Weltjugend. Die Frage suggeriert, dass Künstlichkeit grundsätzlich aus der Schaffung von Fiktion durch den Rückgriff auf tradierte Narrative erwächst. Dagegen lässt sich jedoch einwenden, dass der Zuschauer einer Theateraufführung diese Fiktionalität mühelos nachvollzieht und entsprechend Leerstellen schließt. Künstlich wirkt hingegen die bewusste Durchbrechung der Fiktion, die diese Inszenierung durch ihre postdramatische „Poetik der Störung“ intendiert.19
16 | Vgl. Gramling, Karin: Stadion der Weltjugend. Kultur Regional am 1.7.2016. http:// www.swr.de/swr2/kultur-info/schauspiel-stuttgart-autokino-rene-pollesch/-/id=9597116/ did=17707158/nid=9597116/1s9lqvd/index.html 17 | Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, S. 263. 18 | Vgl. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997, S. 297. 19 | Vgl. Lehmann 2001, S. 264.
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Die Definition Fischer-Lichtes, ein Schauspieler, der eine Figur verkörpere, agiere auf bestimmte Weise, mit spezifischem Äußeren und in einem besonderen Raum, trifft letztlich aber auch auf diese Theaterform zu. Brisant wird Wuttkes Problematisierung der ‚Künstlichkeit‘ vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Rezeptionen der Medien Theater und Film, wenn die Darsteller auf besondere Weise theatrale Unmittelbarkeit und Authentizität inszenieren, indem sie vorgeben, sich selbst zu spielen.20 Filmzuschauer tolerieren die ‚Künstlichkeit‘ in einem weitaus höheren Maße, indem sie gemeinhin die Invisibilisierungsstrategie des Films bezüglich der technischen Realisierung räumlich und zeitlich disparater Szenen durch Montage, wechselnde Kameraperspektiven, Einstellungsgrößen und die Bildbegrenzung bedingungslos akzeptieren, um der Narration folgen zu können. Das heißt, sie sind weitaus intoleranter gegenüber Brüchen, da die Grenze zwischen Zuschauer und Filmleinwand weniger wahrgenommen wird als diejenige zwischen Bühne und Zuschauer. Edgar Morin schrieb, dass „der Zuschauer vor der Leinwand [reagiert], als wäre diese eine äußere Netzhaut, durch Fernwirkung mit seinem Gehirn verbunden“21. Das heißt, Störungen im filmischen Kontinuum führen beim Zuschauer zu deutlicheren Irritationen als Darstellungsbrüche auf dem Theater. Wenn die Darsteller in diesem Theaterstück also Fragen der Authentizität des Spielens thematisieren, offenbaren ihre Statements durch den Wechsel der medialen Bezugssysteme die Spezifik der Rezeption des jeweiligen Mediums, lösen diese Irritation aber auch nicht auf. Die Besonderheit der Inszenierung ist also das Spiel mit den Rezeptionserwartungen und -erfahrungen aus verschiedenen Medien wie Film oder Theater, indem Veränderungen im Hinblick auf Präsentationsformen vorgenommen werden, dies vor allem auch vor dem Hintergrund der multimodalen Beschaffenheiten der unterschiedlichen Rezeptionsprozesse. Um die eingangs gestellte Frage nach der Ermöglichung von Ereignishaftigkeit unter den Bedingungen dieser medialen Verflechtungen zu untersuchen, gilt es, diese Verflechtungen im Folgenden genauer zu erörtern.
Mediale Verflechtungen In der Mitte von Medienereignissen ist, so Klaus Hickethier, das Subjekt verortet, so dass im Hinblick auf die Wahrnehmungsaspekte dieser Ereignisse die Subjektivität und damit auch die Imagination der Wahrnehmung im Mittelpunkt stehen.22 Im medialen Kontext hängt die Wahrnehmung dabei weitaus stärker als z. B. beim 20 | Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 3: Die Aufführung als Text. 5. Aufl. Tübingen 2009, S. 25. 21 | Morin, Edgar: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart 1958, S. 152. 22 | Vgl. Hickethier, Klaus: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003, S. 237 ff.
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
literarischen Rezeptionsprozess von der Korrespondenz der Sinne als Grundform ästhetischer Rezeption (und wenn man weiterdenken möchte, ästhetischer Erfahrung) ab. So kommt Sybille Krämer zu dem Schluss, dass Sinnlichkeit im Kontext medialer Rezeption nicht nur als Erkenntnisform, sondern als Performanz zu verstehen sei, die alle Sinne umfasst und die Privilegierung des Augensinns aufhebe.23 Im Kontext der Theateraufführung ist mit Fischer-Lichte und in Anlehnung an Merleau-Ponty24 die sinnliche Wahrnehmung an den Leib zu knüpfen, da das leibliche ‚In-der-Welt-Sein‘ des Menschen die „Bedingung der Möglichkeit dafür [ist], daß der Körper als Objekt, Thema, Quelle von Symbolbildungen, Material für Zeichenbildungen, Produkt kultureller Einschreibungen u. a. fungieren kann“25. Das heißt: Einen Zugang zur Welt kann es für den Menschen außerhalb seiner Sinne nicht geben und – denkt man dies phänomenologisch weiter – der Zugang über die Sinne ist für den Menschen eine Quelle der Erkenntnis. Überträgt man diese Gedanken auf die performative Hervorbringung der Materialität in Theateraufführungen, dann findet in der Wahrnehmung immer eine Symbiose von phänomenalem So-Sein und semiotischer Bedeutung statt. So sind etwa die performativen Akte, mit denen die Körperlichkeit in den Aufführungen hervorgebracht wird, immer Akte der Symbiose von phänomenalem Leib und semiotischem Körper, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Figur dargestellt wird oder nicht.26 In ihnen kommt es zum Dialog zwischen einem Körper in seinem So-Sein und den Deutungen, die er ermöglicht, und es ist letztlich unwichtig, ob es sich um Aufführungen handelt, in denen die Körperlichkeit der Beteiligten ausdrücklich thematisiert wird, oder ob dies nicht der Fall ist. S. 45 Das Aufeinandertreffen von phänomenalem So-Sein und der Deutung ist eine Grundbedingung der Wahrnehmung. Bei technischen und digitalen Medien hingegen zeigt sich eine Besonderheit, denn sie erzeugen, Fischer-Lichte zufolge, anders als unter den Bedingungen der leiblichen Ko-Präsenz, inszenierte Präsenzeffekte und damit „den Schein von Gegenwärtigkeit, ohne doch tatsächlich Körper – und Objekte – als gegenwärtige in Erscheinung treten zu lassen. […] Es ist der besonders geglückte Schein ihrer Gegenwart, der die sogenannten Präsenz-Effekte hervorruft. Die realen Körper, Gegenstände und Landschaften haben sich in Lichtspiele und Pixel aufgelöst. Diese sind gegenwärtig, nicht jedoch das, was in und mit ihnen gegenwärtig zu sein scheint.“27 Daher sind diese Medien, so Fischer-Lichte weiter, in besonderer Weise in der Lage, Illusionen zu erschaffen und dadurch starke Reaktionen im Zuschauer aus-
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23 | Vgl. Krämer, Sybille: Sinnlichkeit, Denken, Medien. Von der ‚Sinnlichkeit als Erkenntnisform‘ zur ‚Sinnlichkeit als Performanz‘. In: Jakob Wenzel (Hg.): Der Sinn der Sinne. Bonn 1998, S. 24–39. Hier: S. 30. 24 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966. 25 | Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004, S. 153. 26 | Vgl. ebd., S. 154. 27 | Ebd., S. 174.
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zulösen. Sie lassen jedoch nicht „den phänomenalen Leib des Darstellers als gegenwärtig in Erscheinung treten“, bringen ihn nicht in seiner Präsenz zur Erscheinung.28 Transformationen zwischen zwei Medien, die wie im Fall von Theater und Film unterschiedlich gelagerte sinnliche Wahrnehmungen und Präsenzerfahrungen ermöglichen, wirken sich auf die Rezeption und damit den Ereignischarakter der Darbietung aus. Die mediale Transformation, die im Stück Stadion der Weltjugend wirksam wird, ist vielschichtig. Zunächst einmal werden intermediale Zusammenhänge offensichtlich, wenn sich ein Theaterstück vermeintlich in einen Film verwandelt bzw. auf das filmische System verweist. Als intermediale Form ließe sich ein Medienwechsel konstatieren, der Irina Rajewsky zufolge vorliegt, wenn ein medienspezifisch fixierter Prätext im weiteren Sinne in ein anderes Medium bzw. semiotisches System übertragen wird, wobei Letzteres zwar Parallelen zum Ursprungsmedium aufweist, diese Relationen jedoch nicht thematisiert.29 In diesem Sinne würden mediale Formen des Theaters in das Medium Film transponiert oder umgekehrt. Dies ist jedoch bei näherer Betrachtung bei Polleschs Theaterstück nicht der Fall, vielmehr liegt eine Form intermedialer Bezüge vor, indem mit spezifischen Diskursformen auf den Film als mediales System verwiesen wird.30 Die Schauspieler kokettieren zwar mit dem Wechsel zwischen den Medien Theater und Film, etwa wenn Martin Wuttke wiederholt stöhnt, er sei ein „Anschluss-Fehler“, oder Christian Schneeweiß den ‚Rollenkonflikt‘ zwischen Film- und Theaterschauspieler selbstironisch offen thematisiert: „Ich hab’s satt, hier rumzusitzen. Ich bin eine dramatische Person, ich muss mich mal bewegen.“ Beide Schauspieler agieren jedoch gleichbleibend aus der Rolle als Theaterschauspieler heraus. Die theatralen Gestaltungsmittel bleiben bestehen, das Spiel der Schauspieler wird lediglich per Video-Livemitschnitt auf eine Leinwand gebracht. Damit werden die konstituierende Materialität des anderen Mediums sowie dessen äußere Aufführungsmodalitäten genutzt, nicht jedoch seine medialen Gestaltungsmittel. Die Zuschauer sehen eine Theateraufführung vermittelt über die technisch geprägte Materialität des Films im Raum eines Autokinos als filmischer Aufführungsort. Es ist jedoch immer noch eine Theateraufführung, an der sie teilhaben, da diese nicht mit filmischen Mitteln gestaltet ist. Wenn in diesem Theaterstück die technisch-digitale Vermitteltheit des Films auf die leibliche Ko-Präsenz als konstituierendes Merkmal des Theaters trifft, bleibt Letzteres trotz allem dominant, da sich die Schauspieler im selben Raum wie die Zuschauer befinden. Und auch in der Spielsituation selbst sind Spieler wie
28 | Vgl. ebd., S. 175. 29 | Vgl. Rajewsky, Irina: Intermedialität – eine Begriffsbestimmung. In: Marion Bönnighausen/ Heidi Rösch (Hg.): Intermedialität im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2004, S. 8–30. Hier: S. 15 f. 30 | Vgl. ebd., S. 16.
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
Zuschauer in einem Interaktionszusammenhang, der das Aufführungsereignis bestimmt. Die Medialität der Theateraufführung bleibt erhalten. Betrachtet man das Theaterstück wiederum unter einer transmedialen Perspektive, geraten Themen, Motive und Phänomene in den Blick, welche die verschiedenen Medien durchwandern und nicht an ein kontaktgebendes Ursprungsmedium geknüpft sind.31 Damit bietet das Phänomen der Transmedialität einen wichtigen Ansatzpunkt zur Analyse der medialen Verflechtungen in dieser Aufführung: Sie eröffnet in ihrem spezifischen, technisch und digital geprägten Verständnis von Modalität, das sich vor allem auf Narrative bezieht, besondere Wahrnehmungsräume und vor allem auch Vernetzungen. Medien wird in besonderer Weise die Möglichkeit zugesprochen, Zwischenräume, Illusionsräume veranschaulichen zu können. Mediales Erzählen, gerade in den digitalen Medien, eröffnet auf unterschiedlichen Ebenen den rezeptiven Anschluss an kulturelle Bilder und Imaginationen.32 Volker Roloff verweist in Anlehnung an Hans Belting33 darauf, dass Wahrnehmung, Imagination und Erinnerung an visuelle und sprachliche Figuren gebunden sind, die zumeist einen kollektiven Ursprung haben, dennoch aber so verinnerlicht sind, dass sie als die eigenen empfunden werden.34 Im Rezeptionsvorgang wird das „Gedächtnis-Archiv der Bilder, der Träume, Mythen, Visionen“ belebt und aktualisiert, das die Medien bewahren und in die Gegenwart vermitteln.35 Von großer Bedeutung ist hierbei, dass Prozesse einer medialen Bedeutungskonstruktion mittlerweile hypermedial geprägt sind und Rezipienten als hyperkulturelle Subjekte die Wissensanordnungen, Formen, Inhalte ständig neu montieren und in Echtzeit von jedem beliebigen Ort kommunikativ ansteuern.36 Die Auflösung der fixen Raum- und Zeitstrukturen mit der strikten Trennung zwischen Gegenwart und Vergangenheit hat zur Folge, dass die äußere Realität entsprechend in den Hintergrund tritt und ersetzt wird durch eine „symbolische und multipel konnotierbare mediale Wahrnehmung“37. Stefan Kramer spricht in diesem Zusammenhang von Key Visuals: Wenn Hypermedialität bedeutet, dass der Materialität der feste Boden entzogen wird, lassen sich – vom rezipierenden Subjekt – Bilder aufrufen, die über ihre mediale 31 | Vgl. ebd., S. 13. 32 | Vgl. Roloff, Volker: Intermedialität und Medienanthropologie. In: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 15–30. Hier: S. 27. Roloff stellt diese Modi subjektiver Wahrnehmung, die an die medialen Inszenierungen gebunden sind, als Spielformen der Intermedialität heraus; die Begriffsbestimmung der Transmedialität würde diese beständigen Metamorphosen von inneren und äußeren Bildern unseres Erachtens zutreffender beschreiben. 33 | Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. 34 | Vgl. Roloff 2008, S. 24. 35 | Vgl. ebd., S. 27. 36 | Vgl. ebd. 37 | Kramer, Stefan: Intermediale Key Visuals. In: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 91–102. Hier: S. 95 f.
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Zugehörigkeit hinaus zu kulturellen Erinnerungen und schließlich zu Gedächtnisbildern verfestigt sind. Diese Bilder ihrerseits lösen entsprechende Narrationen, Mythen und Begriffe in der Erinnerung aus und bilden Verweis- und Erinnerungsketten, die sich in unser kulturelles Gedächtnis einschreiben.38 Wenn sich in einem solchen Sinne Transmedialität als Transkulturalität verstehen lässt und man von einer unaufhörlichen Neukonstruktion und auch Montage von Bedeutung in der Auseinandersetzung von wahrnehmendem Subjekt und Objekt ausgeht,39 wird deutlich, dass auch Stadion der Weltjugend in diesen transmedialen Verweisungszusammenhängen steht. Ein Anknüpfen an den hypermedial geprägten Umgang mit Wissen, Raumund Zeitstrukturen und Realität bezieht dabei auch die Frage nach Authentizität, nach Wahrheit ein, die in dieser Theaterproduktion zentral ist. Da die aktuellen Medienkünste nicht mehr einem grundlegenden, Geschlossenheit suggerierenden Ordnungsprinzip folgen, sondern sich durch Multiperspektivität, Pluralismus und Dissoziation auszeichnen und transmediale wie auch intermediale Spielformen gewohnte Oppositionen von Realität und Imagination, Authentizität und Rollenspiel unterlaufen, bieten sie, wie in dieser Produktion, neue Voraussetzungen für die Wahrnehmung pluraler Wirklichkeiten.
Das Aufführungsereignis unter den Bedingungen medialer Verflechtungen In einigen Pressestimmen wurde die Kritik geäußert, dass bei dieser Inszenierung Polleschs „das direkte Theatererlebnis“ fehle40 und angesichts dieses Ortes die „Sehnsucht nach dem guten, alten Theater, nach Konzentration und Nähe zu leibhaftigen Darstellern“ erwache.41 Diese Einschätzung geht jedoch an der Aussagekraft der Theaterproduktion vorbei, die gerade die mediale Vermitteltheit und transmediale Prozesse produktiv macht. Das Ereignis-Potential, das die Aufführung Stadion der Weltjugend bereithält, liegt nämlich in dem besonderen Aufführungsort, der Räumlichkeit der Aufführung. Hieraus ergeben sich transmediale Zwischenräume, in denen die kollektiven Bilder und Mythen der 1960er Jahre, des Autokinos und der alten Filmbilder transportiert werden.
38 | Vgl. ebd., S. 101. 39 | Vgl. ebd., S. 95. 40 | Berger, Jürgen: Theater im Autokino. Picknick, Popcorn und Pollesch. Spiegel Online.http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft /rene-pollesch-in-stuttgar ter-autokinostadion-der-weltjugend-a-1100993.html 41 | Braun, Adrienne: Die letzte Zigarette. Stadion der Weltjugend von René Pollesch. Süddeutsche Zeitung, 3. Juli 2016. http://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-die-letztezigarette-1.3060804
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
Ihre Wirkung entfaltet die Inszenierung in der Aufführung aber aufgrund der leiblichen Ko-Präsenz. Durch sie konstituiert sich erst die besondere Räumlichkeit, indem das Autokino als architektonisch-geometrischer Raum und der performative Raum, der sich aus dem Handeln, der Ko-Präsenz der Akteure und Zuschauer im Rahmen des Autokinos ergibt, aufeinandertreffen. Während die Inszenierung durch die Wahl des Ortes die Aktivierung bestimmter Vorerfahrungen, Einstellungen und Haltungen intendiert, kommen diese doch erst dadurch zur Entfaltung, dass es sich eben nicht um die Vorführung eines Films auf der Leinwand handelt, sondern um eine Aufführung, die sich des Scheins der Vorführung bedient. Die Wahrnehmung der Zuschauer oszilliert also, wie bei Theateraufführungen üblich, zwischen den symbolischen Ordnungen des Autokinos und der Theateraufführung, die durch ihre Verbindung die klare Zuordnung zu einem einzigen Ordnungssystem verhindern. Der Spielort ist letztlich ein Theater-Aufführungsort, der die leibliche Ko-Präsenz von Schauspielern und Zuschauern einschließt; er ist aber zugleich ein Film-Aufführungsort, der bei den Zuschauern im Sinne von Key Visuals kulturelle Erinnerungen und Gedächtnisbilder auslöst. Die Theaterproduktion selbst hat durch die Wahl des Spielortes, die forcierte Zelebrierung der Parallelität von Theateraufführung und Filmdreh, die inszenierten Verfolgungsjagden und Ausflüge des Schauspielerteams auf dem Gelände des Autokinos bis zur Interaktion mit einer gigantischen Sexpuppe die Form eines Happenings. Das Publikum selbst wird Teil dieser Aufführung, indem es den Genius Loci des Autokinos fortschreibt und auf das Spiel der Spieler in einer bestimmten Weise reagiert. Diese Reaktion ist dadurch gelenkt, dass im transmedialen Sinne bei den Zuschauern die entsprechenden Narrationen, Mythen und Begriffe der Filmzeit der 1960er und 70er Jahre abgerufen werden und eine Verknüpfung ihrer digitalen Wissens- und Ereignisräume mit dem theatralen Geschehen vor Ort stattfindet. Die durch das leibliche Handeln aller Teilnehmer performativ hervorgebrachte Aufführung bewirkt eine von allen wahrnehmbare Atmosphäre: „Es könnte kaum romantischer sein“, sagt Judith Engel in der taz und schreibt von der untergehenden Sonne, dem Geruch nach warmem Beton und Popcorn. „Menschen lehnen an ihren Autos, rauchen, reden und trinken Bier. Kein Instagramfilter könnte so viel romantische Nostalgie über einen Moment legen, wie sie vor Beginn von René Polleschs Inszenierung spürbar ist.“ Und weiter: „Obwohl die riesige Wand, auf die das live gespielte Stück projiziert wird, noch leer bleibt, befindet man sich gefühlt längst im ersten Akt. So fremd, so spannend kommt einem dieses Setting des Autokinos vor, das in einer Gegenwart von medialer Dauerberieselung seine Berechtigung verloren zu haben scheint. Die kindliche Euphorie, mit der sich Zuschauer zwischen
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Autotüren fragen, auf welcher Frequenz die Tonspur zu empfangen sei, macht den Autokinobesuch zum vergessenen Abenteuer, was neu entdeckt werden könnte.42“ Die Zuschauer prägen also durch ihr Verhalten maßgeblich die Atmosphäre des Aufführungsortes, indem sie auf die Intentionen der Inszenierung reagieren. Gleichzeitig stellen die Spieler die Situation eines Autokinos immer wieder in Frage. Diese Infragestellung betrifft vor allem diejenigen Zuschauer, die durch die Aktivierung der Verweisungszusammenhänge selbst zu Mitspielern geworden sind, indem sie die Rolle von Zuschauern in einem Autokino übernommen haben, obwohl sie an einer Theateraufführung teilhaben. In diesem Sinne stellt Pollesch auf den Seiten des Stuttgarter Schauspiels das mediale Setting in den Mittelpunkt und verweist indirekt auf die prägenden transmedialen Verweisungszusammenhänge kultureller Narrationen und Mythen, die dadurch initiiert werden und die den theatralen Raum bestimmen: „Waren Sie schon mal im Autokino? Seit das erste Drive-in Kino 1960 in Gravenbruch bei
Frankfurt am Main eröffnete, ist das Autokino ein magischer Ort, ein geheimer Treffpunkt, ein Ort der Sehnsucht, des Übergangs von der Pubertät in die Jugend, ein Abenteuerplatz. Heute ist es, so der Filmkritiker Georg Seeßlen: ‚einer der letzten realen Orte in einer zunemend virtuellen Welt, ein nostalgischer Ort, an dem man aber nichts vermissen muss, was die aktuelle Medienwelt an Attraktionen hergibt.‘“43
Q uellen Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2004. Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 3: Die Aufführung als Text. 5. Aufl. Tübingen 2009. Fischer-Lichte, Erika: Art. Inszenierung. In: dies./ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2014(a), S. 152–160. Fischer-Lichte, Erika: Art. Aufführung. In: dies./ Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2014(b), S. 15–26. 42 | Engel, Judith: Gehupt wird trotzdem. Die Tageszeitung, 6. Juli 2016.http://www.taz.de/ Pollesch-Inszenierung-im-Autokino/!5315614/ 43 | Pollesch, René: Stadion der Weltjugend. Schauspiel Stuttgart.https://www.schauspielstuttgart.de/spielplan/stadion-der-weltjugend/
Ereignishaftigkeit und transmediale Verflechtungen
Hickethier, Klaus: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003. Kramer, Stefan: Intermediale Key Visuals. In: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 91–102. Krämer, Sybille: Sinnlichkeit, Denken, Medien. Von der ‚Sinnlichkeit als Erkenntnisform‘ zur ‚Sinnlichkeit als Performanz‘. In: Jakob Wenzel (Hg.): Der Sinn der Sinne. Bonn 1998, S. 24–39. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001. Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Rudolf Boehm. Berlin 1966. Morin, Edgar: Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Untersuchung. Stuttgart 1958. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997. Rajewsky, Irina: Intermedialität – eine Begriffsbestimmung. In: Marion Bönnighausen/ Heidi Rösch (Hg.): Intermedialität im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2004, S. 8–30. Roloff, Volker: Intermedialität und Medienanthropologie. In: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen. München 2008, S. 15–30. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003. Seel, Martin: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie. In: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien. Bielefeld 2003, S. 37–47. Waldenfels, Bernhard: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994.
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Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft Elisabeth Arend
Emergenz meint, mit Blick auf das Theater, das Auftreten von nicht Vorhersehbarem, wodurch Ausprägung und Richtung einer Aufführung produktiv verändert werden (Fischer-Lichte 2012, 75–85). Fasst man dieses Konzept weiter, also über das Bühnengeschehen hinaus, können an der Universität Bremen der Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen dem Master Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film (TnL) und dem Zentrum für Performance Studies (ZPS) und insbesondere mit dessen Leiter Jörg Holkenbrink als Beispiel für die Produktivität von Emergenz beschrieben werden. Zuvor soll jedoch der Master TnL vorgestellt und in weiteren Bezügen verortet werden, um dadurch die Anschlussstellen zum Performativitäts-Konzept (Wirth 2002; Fischer-Lichte 2004, 2012 u.ö.) hervortreten zu lassen. 2009 ging der Bremer Master TnL als Gemeinschaftsprojekt aller Philologien des Fachbereichs 10 (Germanistik, Anglistik/Amerikanistik, Frankoromanistik, Hispanistik sowie die zwischenzeitlich abgewickelte Italianistik) an den Start und wurde 2015 mit einem auf der Basis von Praxiserfahrungen reformierten Programm erfolgreich wieder akkreditiert. Sein innovatives Potenzial liegt zunächst in der Überschreitung des nationalliterarischen oder auf eine Sprache zugeschnittenen Rahmens, der für Studiengänge, die sich jenseits der Vergleichenden Literaturwissenschaft mit Literaturwissenschaft befassten, lange verbindlich war. Innovativ ist der TnL darüber hinaus nicht nur durch die im Untertitel angezeigte Erweiterung des Gegenstandsbereichs auf Theater und Film, sondern auch in einem mit 18 von 120 Credit Points umfassenden großen Ausbildungsbereich in der „Praxis“1, 1 | „Praxis“ meint hier im allgemeinsten Sinn Tätigkeit und Handeln. Den Fügungen „Sprach-“ oder „Theaterpraxis“ etwa liegt im gängigen Verständnis die Vorstellung zugrunde, dass es dabei nicht um die in der Sprach- oder Theaterwissenschaft dominierende Erforschung, den auf Abstraktion und Systematisierung zielenden Umgang mit Sprache oder Theater geht,
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wozu Sprachpraxis, Praxis der Literatur oder Literarisches Schreiben gehören, insbesondere eben auch Theater- und Filmpraxis2. In der Theaterpraxis kooperiert der TnL mit der französischen und der englischen Theatergruppe des Fachbereichs für Sprach- und Literaturwissenschaften, insbesondere aber mit dem Zentrum für Performance Studies (ZPS) und dem dort angesiedelten Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV). In den erstgenannten Zusammenhängen werden die Studierenden als Darsteller*innen aktiv, sie beschäftigen sich mit dramaturgischen Problemen und Fragen der Regie, schulen ihre sprachlichen Kompetenzen durch das Spiel in der Fremdsprache. Weitergehend sind die Impulse, die das Lehr- und Forschungsangebot des ZPS vermittelt: Hier geht es um differenzbewusste Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Kunst, anders gesagt zwischen theoretischen und praktisch-ästhetischen Arbeitsweisen und Darstellungsformen. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Konzept der Performativität zu, das nicht allein Gegenstand von Forschung und Lehre ist, sondern gleichzeitig auch den Formen seiner Forschung und Lehre zugrunde liegt. S. 68 Durch die Implementierung der Angebote des ZPS in die theorie- und praxisorientierte Lehre im Bereich Theater, durch die den TnL-Studierenden eingeräumte – und auch gut angenommene – Möglichkeit, in Kombination auch ein Zusatzstudium in Performance Studies zu absolvieren, durch die intensive Arbeit an der Ausdifferenzierung und Qualitätssicherung des gesamten Theaterschwerpunktes, hat der TnL wichtige Impulse durch das ZPS bekommen. Von alledem ist in der ersten Planungsphase des TnL-Masters noch nicht die Rede gewesen. Es war vielmehr Resultat der Begegnung zwischen den Verantwortlichen beider Bereiche, die – ganz im Sinne des Konzepts der Emergenz – der Planung eine unvorhergesehene Richtung gegeben hat, die zugleich Innovation bedeutet. Für die Sprachpraxis, die optional im Praxisbereich des TnL gewählt werden kann, kann diese Innovationsbehauptung nicht gelten, denn Sprachpraxis-Lehre ist traditionell Bestandteil einer philologischen Ausbildung. In gewissem Maß gilt dies auch für die Theaterpraxis, denn Kooperationen zwischen Fremdsprachenphilologie und Theaterpraxis gibt es vielfach, jedoch geht es dabei vorwiegend um
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sondern um das Erlernen von Strukturen, Techniken und deren Anwendung. Insofern werden Praxis und Wissenschaft hierarchisierend unterschieden. Aus performativitätstheoretischer Sicht müsste jedoch betont werden, dass Lernen in Theorie wie Praxis gleichermaßen auf körperliche Aktivitäten wie Gesten, Bewegung oder Sprechen setzt wie auf das in akademischen Formen dominierende denkerische Handeln. Weitergehend stützt diese Arbeit sich auf den von Michel de Certeau entwickelten Handlungs- und Praxisbegriff (de Certeau 1988). 2 | Auf Antrag hin können Studierende ihre Masterthesis auch im Bereich der Praxis absolvieren. Benotet wird dann jedoch nicht die praktische Arbeit (z.B. eine Inszenierung des King Lear oder ein Dokumentarfilm über ein Tanztheater-Festival), sondern die schriftliche Thesis, die den Entstehungsprozess dieser praktischen Arbeit sowie die implizierten theoretischen Fragestellungen reflektiert und insofern eine Arbeit in einem konventionellen wissenschaftlichen Format ist.
Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft
sprachliche Lernziele, d. h. die Schulung des fremdsprachigen Ausdrucks qua Theaterspiel. Im Vordergrund bleibt also meist die Bestimmung der Theaterpraxis als Instrument der Sprachpraxis. Auch Filmpraxis gibt es in geisteswissenschaftlichen Studiengängen, sie wird z. B. in didaktische Lehrveranstaltungen eingebunden. Für die beiden letztgenannten Praxisbereiche gilt jedoch, dass sie bislang anderswo kaum mit einem vergleichbar großen Anteil am Gesamt der zu erbringenden Leistungen ausgestattet sind wie im TnL. Doch der Unterschied zu anderen Literaturwissenschaft vermittelnden Studiengängen ist nicht nur im Quantitativen messbar, sondern auch qualitativ zu betrachten. Er besteht in erster Linie darin, dass die Praxis als vollwertiger Beitrag zu einer komplexen intellektuellen und wissenschaftlichen Reflexion über die transnational verfasste Welt und ihre Repräsentationen verstanden wird. Praxis und Theorie als komplementär und als Ausdruck einer „differenzbewussten“, auf Überwindung allzu griffiger Binarismen abzielenden intellektuellen Haltung zu denken, wird hier auch als Beitrag zu aktueller Performativitätsforschung gewertet, von der ein produktiver Anstoß für die Lehre ausgeht. Die Praxis wird gemeinhin in philologischen Studiengängen als notwendige Voraussetzung für die fachwissenschaftliche Ausbildung verstanden, während die Auszeichnung als Fachwissenschaft bis heute meist exklusiv von Literaturund Sprachwissenschaft beansprucht wird. Damit werden, ungeachtet ihrer Forschungsaktivitäten, Landeswissenschaft und Didaktik nach- und Sprach- oder Theaterpraxis als „Dienstleister“ nochmals untergeordnet. S. 58 Diese hierarchische Konstruktion geschieht in der literaturwissenschaftlichen Academia weitgehend konsensuell und auf der Basis eines Wissenschaftsverständnisses, das Praxis bzw. Anwendungsbezug tendenziell absondert. Vor diesem Hintergrund ist der Zugang des TnL, Praxis als komplementär zu Theorie zu verstehen, nicht nur als eine studiengangsplanerische Einzelentscheidung, sondern als Ausdruck eines spezifischen Verständnisses von Forschung und von Wissenschaftlichkeit. Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, der Universität pauschal das vorzuwerfen, was Julian Nida-Rümelin dem deutschen Bildungssystem insgesamt bescheinigt hat, nämlich eine „kognitive Schlagseite“ (Nida-Rümelin 2014: 64; den Hinweis auf diese Schrift entnehme ich dem Dialog zwischen Jörg Holkenbrink und Anna Seitz 2017) – Versuche wie die des Master TnL, an dem Alleinvertretungsanspruch des Kognitiven in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur, Theater und Film zu rütteln und den ausschließlich textzentrierten – bzw. „konstatierenden“ (Fischer-Lichte 2012: 139) – und insofern akademisch verbürgten Modus von Wissenschaft zu hinterfragen, bleiben ein Stück weit experimentell. Betrachtet man dies jedoch ausgehend von der Kategorie der Performativität, kann dieser Zugang zur Lehre in bestehende Theoriezusammenhänge eingeordnet werden. Um eine normative Definition von Performanz oder Performativität oder grundlegend neue Überlegungen dazu kann es an dieser Stelle nicht gehen; gleichwohl ist der Gebrauch der Begriffe zu klären. Trotz ihrer weiten Auffächerung und ihrer transdisziplinären Verankerung, von der Sprachphilosophie und Ritual-
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forschung über die Gender- und Systemtheorie bis hin zur Theaterwissenschaft (Wirth 2002), um nur einige Felder zu benennen, können Produzieren, Handlung, Dynamik, Prozesshaftigkeit oder Veränderung bzw. Transformation ebenso als Schlüsselbegriffe des Performativen gelten wie Emergenz oder Interaktivität. Im hier gegebenen Kontext ist insbesondere der Zusammenhang mit Literatur, Theater und Film zu beachten. Für das Theater ist dies sicherlich in den Arbeiten von Erika Fischer-Lichte (2004, 2012 u. ö.) am deutlichsten beschrieben und dabei der Aspekt der Aufführung ins Zentrum gerückt worden. Für den Bereich der Literatur (Benthien/Velten 2002: 217 ff.) sind die Unterscheidung zwischen dem der Literatur innewohnenden Performativen, das etwa Wolfgang Iser im Blick hat (Iser 2002 u. ö.), und die Überlegungen zur „Unvorhersehbarkeit der Lektüre“ einerseits sowie zur „funktionalen Performativität“ andererseits, die Erika Fischer-Lichte anstellt, wichtig (Fischer-Lichte 2012: 145; 139 ff.). Im letztgenannten Zusammenhang geht es auch um das Einbeziehen körperlicher Aktivitäten, die über Lesen, Imaginieren oder Empfinden, die grundsätzlich die Körperlichkeit des Rezeptionsvorgangs ausmachen, hinausgehen. Sie entstehen, wenn Literatur in Aufführungssituationen steht, in Lesungen oder szenischen Bearbeitungen etwa. In diesem Sinne können auch performative Formen der literaturwissenschaftlichen Lehre „verkörperte Texte“ (ebd.: 135) hervorbringen und so durch Elemente der Praxis andere Ergebnisse generieren als Lektüren, die auf nicht verkörperte Texte abzielen. Mit Blick auf die Filmpraxis, die von vorneherein nicht auf textliches Handeln beschränkt ist (Gleiches würden auch die Performancepraxis bzw. die Performance Studies für sich beanspruchen), ist von einem Vorhandensein von Aufführungssituationen auszugehen – beim Drehen mit Akteuren naturgemäß eher als beim Arbeiten am Schnittrechner, insbesondere aber durch die Aufführungssituation im Kino oder in vergleichbaren Räumen. Diese Neubewertung der Praxis als Bestandteil eines (literatur-)wissenschaftlichen Diskurses ist auch Ausdruck einer permanenten Weiterentwicklung der Literaturwissenschaft seit ihrer Gründung als akademische Disziplin im 19. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive schreibt sich der performative turn (Bachmann-Medick 2006) in eine kulturwissenschaftliche Orientierung der aktuellen Literaturwissenschaft und zugleich in einen unabgeschlossenen Prozess der Horizonterweiterung ein. Wesentliche Neuorientierungen verdankt die Literaturwissenschaft der Bereitschaft, von scheinbar sachfernen Ansätzen aus immer wieder neu auf den Gegenstand zu blicken. So hat sie ihre theoretischen Orientierungen und methodologischen Impulse aus dem Austausch etwa mit der Sprach- und der Geschichtswissenschaft, den Sozial- und den Kulturwissenschaften, der Psychoanalyse, der Ethnologie, neuerdings auch mit der Didaktik oder, wie im Zusammenhang hier, mit den Performance Studies bezogen. Ebenso hat eine film- bzw. medienwissenschaftliche Erweiterung des Gegenstandsbereichs neue Akzente gesetzt und für Innovation der Disziplin gesorgt. Migrations- oder Transnationalitätsforschung sowie Postcolonial Studies geben vielen Studien einen höchst aktuellen Rahmen und rü-
Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft
cken die Literaturwissenschaft an zentrale Probleme der Gegenwartsgesellschaften heran. All dies zusammen macht die transdisziplinäre Grundlage der Literaturwissenschaft aus. Abgesehen von empirischen Ansätzen wie der Leserforschung, die in den 1970er Jahren aufkam, ist die Literaturwissenschaft in erster Linie eine textzentriert operierende Wissenschaft mit entsprechender Theoriebildung und Methodologie geblieben. Angesichts des Gegenstands, der traditionell der schriftlich verfasste Text gewesen ist, ist diese Textzentriertheit auch im Reflexionsmodus naheliegend; „alternativlos“ ist sie jedoch nicht. Um eine mögliche Alternative geht es hier. Die letzten Jahrzehnte sind in Literatur- und Kulturwissenschaft von einer sich beschleunigenden Abfolge neuer Paradigmen gekennzeichnet, die, wenn sie sich nicht selbst als „turns“ inszenieren, zum Teil als solche gehandelt worden sind (Bachmann-Medick 2006): Cultural, spatial und iconic turn, emotional und cognitive turn und nicht zuletzt auch postcolonial und translational turn, um nur einige dieser Bewegungen aufzuzählen, lösten theoretische Dynamiken aus, die neue und spannende Herausforderungen für die konkrete literaturwissenschaftliche Arbeit mit sich bringen (Kaus/Liebrand 2014: 7). Während sich Literaturwissenschaftler*innen vor allem damit beschäftigen, was diese Theoretisierungswellen für die Forschungsarbeit an Texten bedeuten, und dies im akademischen Modus vermitteln, wurde für den Master TnL weitergehend die Frage aufgeworfen, wie diese Paradigmenwechsel auf eine Weise in der Lehre umgesetzt werden können, die insgesamt deutlicher am Performativitätsansatz orientiert ist und so über eine akademisch-abstrakte Befassung mit diesen Ansätzen hinausgeht. Wie kann also literaturwissenschaftliche Lehre gestaltet werden, die diese Dynamiken und Bewegungen nicht nur theoretisiert, sondern auch tatsächlich praktiziert? Wie können Studierende ausgebildet werden, die vor dem Hintergrund dieser Ansätze nicht nur in der Forschung, sondern auch in der außeruniversitären beruflichen Praxis von vielseitigen theoretischen Öffnungen profitieren? Transnationalität (Hühn/Lerp et al. 2010) ist dabei nicht nur, aber insbesondere seit der Phase der beschleunigten Globalisierung ein zentrales Phänomen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch ein wichtiges Paradigma aktueller Gegenwartskunst. Transnationalität, der in der Forschung ebenfalls turn-Qualitäten zugesprochen werden (Jay 2010), artikuliert sich in literarischen, dramatischen, in filmischen und in Medientexten: Grenzüberschreitungen, Bewegungen, Aufbrechen von homogenen oder binären Strukturen sind als Bestandteile einer transnationalen Denkfigur auszumachen (Arend 2017). Über den Aspekt der Grenzüberschreitung trifft diese den Kern des Performativitätkonzepts. Für die Performativitätsforschung hat Jörg Holkenbrink dies jüngst unterstrichen (Holkenbrink/ Seitz 2017). Der Bremer Entwurf einer transnational fokussierten Literaturwissenschaft greift das im Präfix „trans“ sich artikulierende Moment von Bewegung, Überschreitung und Dynamik auf und macht es in die verschiedensten Richtungen fruchtbar.
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Dabei rückt etwa Transmedialität in den Fokus, wenn Narrationen aus medienübergreifender Perspektive Gegenstand der Lehre werden, insbesondere aber, wenn die Komplementarität wissenschaftlich-textzentrierter sowie praktischer, performativkünstlerischer Reflexion über Transnationalität in Literatur, Theater und Film als eine wichtige Position des TnL artikuliert wird. Die Denkbewegung geht dabei keinesfalls nur in eine Richtung. Aus der Theorie kommende Überlegungen werden in die praktische Arbeit getragen, zugleich aber fließen Erkenntnisse aus dem praktischen Arbeiten zurück in die theoretisierende Forschung.3 So haben wir als einer der wenigen Masterstudiengänge, die nicht an eine Kunsthochschule gebunden sind, curriculare Praxismodule insbesondere im Bereich Theater und Film über das Instrument des Projektstudiums in Forschungszusammenhänge eingebunden. Eigene Aktivitäten in diesen Bereichen verschaffen den Studierenden im performativ-künstlerischen Modus Einblick in grenzüberschreitend verfasste Lebenswelten und generieren neue Blicke darauf. Eindrucksvolle Belege dieser dynamischen Denkbewegung liefern beispielsweise die dokumentarischen Kurzfilme, die Studierende innerhalb von zwei Semestern in dem Praxismodul, Teilbereich Filmpraxis, produzieren (http://www.master-transnationale-literaturwissenschaft.uni-bremen.de/forschung/studentische-praxisarbeiten/studentische-arbeiten-und-filme/ siehe auch: Resonanz 2016). Deren einzige thematische Vorgabe ist, eine innerhalb des Transnationalen relevante Fragestellung auszuwählen und in einem dokumentarischen Kurzfilm umzusetzen, der Aussagen aus der wissenschaftlichen Transnationalitätsdebatte in Plot, Bildern oder Montage/Schnitt sichtbar machen soll. Besonders nachhaltig ist diese Praxis-Lehr- und Lernform, wenn sie im Rahmen von Projektlehre erfolgt. So beteiligten sich literatur- und filmwissenschaftliche Seminare, Film- und Theaterpraxis im Sommersemester 2016 an einem Lehrprojekt zum Thema „Straßenkulturen“. Von handlungstheoretischen Positionen eines Michel de Certeau (de Certeau 1988) aus auf literarische Texte zum Thema „Straße“ zu blicken und die Analyse daran auszurichten, ist die eine Sache, mit diesem Rüstzeug jedoch auch wirklich auf die Straße zu gehen, um dort die Fragestellungen für einen dokumentarischen Kurzfilm zu finden – in ständiger Auseinandersetzung mit emergenten Erscheinungen –, eine andere. De Certeau unterscheidet den Modus, aus großer Distanz auf die Straße zu blicken und sich selbst als Betrachter dabei außerhalb der beobachteten Geschehnisse zu verstehen, von dem Modus des „Gehens“, des Beobachtens der Straße von der Straße aus („Gehen in der Stadt“ ist eines der Kapitel im Teil „Praktiken der Stadt“ überschrieben; ebd.: 179 ff.). Gibt 3 | Ein Beispiel ist die Bearbeitung eines Textes (Barbara Honigmann, Chronik meiner Straße), der im Rahmen eines Seminars zum Thema „Straßenkulturen“ im Sommersemester 2016 literaturwissenschaftlich analysiert wurde und im selben Semester Ausgangsbasis eines Kurses zur theatralen Improvisation war. Die dort herausgearbeiteten Aspekte des Romans haben die Ergebnisse der narratologisch ausgerichteten Analyse fortgeschrieben und in ihrer Kreativität neue Perspektiven auf den Text eröffnet. Von dort aus konnten anschließend weitere, zuvor nicht erkennbar mit dem Gegenstand verbundene Forschungsfragen aufgeworfen werden, wie etwa die nach den Modi des Erzählens im dramatischen Text.
Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft
dies in der literaturwissenschaftlichen Analyse den Anstoß, die Position des Erzählers von Straßentexten genauer anzuschauen und nach narrativer Distanz oder Fokalisierungen etwa zu fragen, bedeutet dies für die dokumentarfilmerische Arbeit eine nachdrückliche theoretische Begründung, den Erscheinungen und Prozessen auf der Straße mit der Kamera zu folgen und dies als Ausdruck einer forschenden Haltung zu werten. Ethnolog*innen ist diese Arbeitsweise vertraut – im Kontext literaturwissenschaftlicher Lehre ist diese Perspektive hingegen neu oder allenfalls im Zusammenhang mit Ansätzen des Forschenden Lernens zu verorten (Huber/ Hellmer/Schneider 2009 oder Huber/Kröger/Schelhowe 2013). Lenkt der semiotische Blick eines Roland Barthes (1988) das Augenmerk auf die Zeichenhaftigkeit von Stadt und damit auch von Straße, so finden Studierende, die sich anschließend mit der Kamera auf eine Straßenkreuzung stellen, eine theoretische Begründung etwa für ihr Interesse an einzelnen Details, an Bordsteinen oder Straßenlaternen, für eine Untersuchung der Bedeutungen, die die Ansiedelung bestimmter Läden in Straßen erzeugen, die Hausformen oder Architektur darin haben. Eine semiotisch fundierte Untersuchung von Straße stellt die Frage nach der Formierung eines „Gewebes“ (Barthes 1988: 202) und den prozesshaft sich wandelnden Bedeutungen dieses Zeichenensembles genannt Straße. Diese Beispiele mögen genügen, um die Verzahnung von Theorie und Praxis zu illustrieren, die von den Studierenden, aber auch den Lehrenden als komplementär, lebendig und bereichernd erfahren wird.4 Für ethnologische oder medienwissenschaftliche Studiengänge sind Arbeitsformen, die an forscherisches Handeln im „Feld“ gebunden sind, an der Tagesordnung, für literaturwissenschaftliche Ausbildung, zumal auf Master-Niveau, jedoch keineswegs. Dass in diesen Praxiskursen auch entsprechende Formen der Kommunikation zwischen den Studierenden, aber auch zwischen Lehrenden und Studierenden entstehen, die Forschendes Lernen bzw. Studieren ermöglichen (Huber/Kröger/ Schelhowe 2013), ist mehr als nur ein Nebeneffekt, nämlich wesentlicher Bestandteil eines performativ angelegten Modus des Lehrens bzw. Studierens. S. 120 In besonderem Maße betrifft dies den Schwerpunkt „Theater“, der, wie bereits erwähnt, auf der Basis des Dialogs mit dem ZPS ausdifferenziert werden konnte. Ein Beispiel: In der Erstsemesterveranstaltung „Einführung in die Transnationale Literaturwissenschaft“ (Grundmodul, 6 CP) bildet in diesem Bereich eine Lehreinheit zu der in der Literaturwissenschaft verankerten Dramenanalyse die Basis, auf der dann eine Beschäftigung mit theaterwissenschaftlichen Fragen und zuletzt mit Positionen und Zugängen der Performance Studies aufbaut. Die in der Theatergeschichtsschreibung entwickelte Kategorie des „offenen Dramas“ kann über das Merkmal der Offenheit auch zu einem methodologischen Postulat werden. Im engeren Sinne performative Methoden ergänzen dabei dramen- und theaterwissenschaftliche Verfahren. Zunächst eröffnet die Lektüre eines Dramas im Seminar die Lehreinheit. Die Lektüre wird anschließend durch den gemeinsamen Besuch einer
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4 | Vgl. dazu die studentischen Erfahrungsberichte in Arend/Schenker 2017: 23–26.
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Inszenierung im Bremer Theater erweitert und daraufhin wieder im universitären Raum durch ein analytisches Seminargespräch ergänzt. Dabei kommen insbesondere theaterwissenschaftliche Fragen zur Sprache – der analytische Modus dieser Einheiten ist den Studierenden vertraut. Im nächsten Schritt setzen sie sich dann allerdings mit der Aufführung in einem für die meisten ungewohnten Setting auseinander: Jeweils drei Studierende nehmen auf einer Art Bühne auf bereitgestellten Stühlen Platz, während die anderen im Halbrund auf ihren Plätzen bleiben. S. 202 Damit ist für die drei Akteure das Moment des Ausstellens ihres Verhaltens gegeben. Ungewohnt ist ebenfalls die Aufgabe, die auf sie wartet, wenn sie sich mit geschlossenen Augen von verbliebenen Sinneseindrücken, von Details der Aufführung, die sich in ihrem Kopf-Kino nach und nach fragmentarisch einstellen, überraschen lassen und diese dann den Zuschauenden mitteilen sollen. Auch für die auf ihren Plätzen verbliebenen Studierenden ist die Aufgabenstellung unvertraut. Insbesondere hier können Situationen der Emergenz entstehen, weil die Beschreibungen der Erinnernden in der Regel ansteckend wirken und bei anderen ebenfalls unvermutete Bilder auftauchen lassen, die bis dahin von vielerlei Alltagsdingen, aber auch durch den sehr vertrauten analytischen Filter in den Hintergrund gerückt waren. Das gesamte Setting zielt auf die Auseinandersetzung mit dem Transformationspotenzial von Theater, einem der zentralen Merkmale dieses Mediums. Um es noch einmal zu betonen: Würde die gleiche Fragestellung anhand eines Textes mit Studierenden erarbeitet, würde sie, da das Lernumfeld vertraut und textzentriert ist, in ein gewohntes Aufmerksamkeitsgewebe fallen und dort möglicherweise „absacken“. Aufgrund der nicht vertrauten Anordnung im Unterrichtsraum, der Ausstellung des Vorgangs des Erinnerns, des plötzlichen Auftauchens von unerwarteten Bildern während dieses Erinnerungsprozesses, um die es bei der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise in der Regel erst mal gar nicht geht, aufgrund eines Spielfelds, auf dem das Verhältnis von Bestimmen und Bestimmt-Werden in der Nachbetrachtung eines Theaterbesuchs deutlich zu Tage tritt, kommt dieser Intervention eine besondere Bedeutung zu. In sehr grundsätzlicher Weise kommen Handlungen, Veränderungen und Dynamiken, die kulturelle Ereignisse wie Literatur ausmachen, auch in anderen Zusammenhängen in den Blick. Wenig ausdifferenziert ist gemeinhin, abgesehen von Kursen zu creative writing, eine auf Literatur fokussierte Praxis-Lehre, die der TnL entwickelt hat. So steht auf Lektürelisten in Erstsemesterkursen und im Forschungsmodul für fortgeschrittene Master-Studierende die Lektüre eines der Titel des Bremer Literaturfestivals globale° – Festival für grenzüberschreitende Literatur auf dem Programm, ebenso wie der Besuch einer Lesung. Weitergehend lautet die Aufgabenstellung, den Text mit Blick auf transnationale Aspekte in einem Essay wissenschaftlich zu bearbeiten bzw., im Falle der Fortgeschrittenen, von Themen oder Form des Textes bzw. von im Zuge der Lesung aufgeworfenen Fragen eine Forschungsfrage abzuleiten und dazu einen Forschungsbericht zu verfassen. Der Anspruch, Theorie und Praxis als ineinander verschränkt zu vermitteln, kann
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Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft
dergestalt eingelöst und durch die Anbindung an das Festivalgeschehen weiterhin in Aufführungszusammenhänge gestellt werden. Teils mit Erstaunen bemerken Studierende, dass Literatur mehr ist als zwischen Buchdeckel gepresster Text und dass Autor*in, Moderator*in sowie Publikum in lebendigem Austausch stehen. Nicht nur die Produktion von Literatur wird damit aus performativer Sicht als kulturelle Handlung verstanden, sondern auch alle Formen der Rezeption, von der Lesung bis hin zur wissenschaftlichen Abhandlung. Nochmals anders akzentuiert wird der Praxisbezug der literaturwissenschaftlichen Lehre in einem eigens für die Kooperation mit dem Literaturfestival geschaffenen Seminarformat. Im Vorfeld des Festivals wird eine Auswahl von Texten, deren Autor*innen eingeladen werden, in einem Seminar aus transnationaler Theorieperspektive und mit literaturwissenschaftlicher Methodik analysiert, bevor die Praxis ins Spiel kommt. Das ist einmal die Anleitung zum Verfassen von Rezensionen durch die Studierenden, die auf der Webseite des Bremer virtuellen Literaturhauses zugänglich gemacht und zum Teil auch in einer Bremer Tageszeitung publiziert werden. Die Aufgabenstellung ist hier auch, die wissenschaftliche Perspektive mit Blick auf den intendierten nicht-universitären Rezipientenkreis zu übersetzen. Dieses Einbinden der eigenen literaturwissenschaftlichen Analyse in dergestalt konkrete Verwendungszusammenhänge ist qualitativ unterschieden von einer Hausarbeit, die im geschützten Raum der Academia verbleibt, und stellt für die Studierenden eine Herausforderung dar. Im nächsten Schritt steht für die Studierenden der Besuch der Lesung an, womit eine direkte Einbindung in performative Zusammenhänge verbunden ist: Die Inszenierungen eines Textes durch Autor*in und Moderator*in greifen in den Prozess der Bedeutungserzeugung ein. So können emergente Prozesse ausgelöst werden und in produktiver Weise die vorgängige, allein auf den Text und wissenschaftliche Zusammenhänge fokussierte Lektüre „stören“. Auf dieser erweiterten Basis wird dann im letzten Schritt die wissenschaftliche Reflexion wieder aufgenommen, idealiter mit einer modifizierten eigenen Perspektive. Das letzte Instrument dieser Literaturpraxis besteht in der Möglichkeit, Praktika bei dem Organisationsteam des Festivals zu machen. Diese werden mit 3 CP über das Modul Schlüsselqualifikationen angerechnet und eröffnen die Chance, das Feld des Kulturmanagements kennenzulernen und so insgesamt einen höchst lebendigen Einblick in Literatur in wissenschaftlichen wie praktischen Vollzügen zu erhalten. In der literaturwissenschaftlichen Ausbildung im engeren Sinne wird, dies ist deutlich geworden, der Alleinvertretungsanspruch einer textzentrierten Befassung relativiert, dabei jedoch keineswegs aufgegeben, denn konventionelle Formen und Methoden rahmen die praxisbezogenen Lehrzusammenhänge. Die performativen Ansätze und das Beachten emergenter Prozesse machen die Lebendigkeit der Lehre in diesem Masterprogramm aus und sicherlich auch ein Stück weit sein innovatives Potenzial.
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Elisabeth Arend
Q uellen Arend, Elisabeth (2017): „Transnationale frankophone Literaturen“. In: Bischof, Dörte/Komfort-Hein, Susanne (Hg.): Handbuch Transnationalität und Literatur. [im Druck, erscheint 2018] Arend, Elisabeth/Schenker, Ina (2017): „Theorie und Praxis. Zur Lehre im Master Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film (TnL)“. In: Resonanz – Magazin für Lehre und Studium an der Universität Bremen, Sommersemester 2017. Bremen, S. 21–26. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Barthes, Roland (1988): „Semiologie und Stadtplanung“. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt: Suhrkamp, S. 199–209. Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hg.) (2002): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Roland Vouillé. Berlin: Merve. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (2012): Performativität. Eine Einführung. Bielefeld: transcript. Holkenbrink, Jörg/Seitz, Anna (2017): „Die subversive Kraft der Verletzlichkeit. Ein Dialog über Wissenskulturen und ihre Aufführungen“. In: Wissenskulturen im Dialog. Bielefeld: transcript, S. 97–109. Huber, Ludwig/Kröger, Margot/Schelhowe, Heidi (Hg.) (2013): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen. Bielefeld: UVW. Huber, Ludwig/Hellmer, Julia/Schneider, Friederike (Hg.) (2009): Forschendes Lernen im Studium. Bielefeld: Universitätsverlag Webler.
Vom Potenzial des Performativen für die Transnationale Literaturwissenschaft
Hühn, Melanie/Lerp, Dörte/Petzold, Knut/Stock, Miriam (Hg.) (2010): Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität. Münster: Lit Verlag. Iser, Wolfgang: Mimesis und Performanz. In: Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp, S. 243–262. Jay, Paul (2010): Global Matters. The Transnational Turn in Literary Studies. Cornell UP. Kaus, Rainer C./Liebrand, Claudia (Hg.) (2014): Interpretieren nach den „turns“. Literaturtheoretische Revisionen. Bielefeld: transcript. Resonanz (2016): „Forschendes Studieren. Vom Profil zur Best Practice.“ In Resonanz – Magazin für Lehre und Studium an der Universität Bremen, Sommersemester 2016, Bremen. Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt: Suhrkamp.
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Pas de trois Ein Sich-Bewegen im Möglichkeitsraum1 Doris Ingrisch & Katharina Weinhuber
I. Wissenschaft und Kunst werden heute häufig als wesentlich verschiedene Weisen menschlicher Aktivität begriffen, doch die Geschichte zeigt, dass dem nicht immer so war. Kunst und Wissenschaft als zwei grundsätzlich verschiedene Sphären zu betrachten, ist eine Entwicklung des 18. Jahrhunderts im sogenannten Abendland. Der Trenn-Zwang, wie Dieter Wuttke dieses Phänomen charakterisierte, 2 steht für ein neues, sich damals und dadurch etablierendes Weltbild. Darin wurden auch die Geschlechter als gänzlich unterschiedlich voneinander konstituiert. Wesentlich ist zudem, dass die Wissens- und die Geschlechterordnung eng miteinander verknüpft wurden. Werden wir uns dieser historischen Gewordenheit, in der sowohl innerhalb des Wissens wie innerhalb der Geschlechter strenge Hierarchien gesetzt wurden – durch die Ratio gewonnenes Wissen stand weit über dem durch Intuition generierten, das männlich Konnotierte weit über dem weiblich Konnotierten –, bewusst, so wird das an vielen Stellen nicht mehr zu übersehende Bedürfnis, diese Bereiche im 21. Jahrhundert wieder miteinander in Kontakt zu bringen, mehr als nachvollziehbar. Es wird darüber hinaus als movens verständlich, das Potenzial des sich zwischen den Polen Befindlichen – das Inter, das Trans, das Hybride – zu erforschen. Sich damit auseinanderzusetzen, wird dann als Arbeit an den Denkverhältnissen und der Beziehung der Wissensformen zueinander begreifbar. S. 196
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1 | Das Layout ist konzeptioneller Bestandteil des Beitrags und wurde von den Autorinnen designed. 2 | Dieter Wuttke, Über den Zusammenhang der Wissenschaften und Künste, Wiesbaden 2003.
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Doris Ingrisch & Katharina Weinhuber
II. Eine Wissenschaftlerin lädt eine Choreografin und Tänzerin zu einem Projekt ein. „Kunst und Wissenschaft im Dialog. Theoretische Reflexion und experimentelle Versuchsanordnungen“3 ist der Übertitel dieses Vorhabens, das sich aus der Beschäftigung mit den Verbindungslinien von Wissenschaft, Kunst und Gender4 entwickelte. Dementsprechend ist das Projekt als Raum der Begegnung konzipiert, in dem ein gegenseitiges Kennenlernen, ein Blick auf die Diversität und darüber hinaus ein Erforschen von möglichem Gemeinsamen initiiert wird. Im Folgenden erlauben verschiedene Perspektiven Einblicke – den tendenziell theoretischen Reflexionen dieser Zusammenarbeit stehen Gedankenskizzen von Katharina Weinhuber und Passagen aus dem Forschungstagebuch von Doris Ingrisch zur Seite. In der ersten Phase, im Erforschen unserer jeweiligen Wirkungsräume, waren wir zunächst viel im Gespräch – im Fragen, im Antworten, im Erzählen. Dann jedoch ging es in den Proberaum und in die körperliche Erfahrung. Wir kommen im Raum an. Das heißt, wir versuchen das gerade Erlebte auf dem Weg in den Proberaum für den Moment auszublenden. Wir versuchen die Konzentration auf den Körper zu lenken. Wir fokussieren uns. Wir nehmen Spürbares wahr, Wahrgenommenes machen wir uns bewusst. Diese Wahrnehmung liegt innerhalb des von uns definierten Körperraums. Als nächstes erweitern wir die imaginierte Grenze dieses Körperraums und nehmen die Präsenz hinzu. Die Labfactory, Praterstraße: Grenzen der Präsenz sind indiErstes Mal im Proberaum aufwärmen viduell, subjektiv. mit Anleitung von K. Dann ein AusMit unterschiedlichen Intensioprobieren von Bipolarem: klein machen, groß nen und mit machen. Mit der Frage: Wie geht es mir Hilfe unterschiedlicher Adjektida? Was ve wie z.B. klein, groß, weit und nah, kommt da? Klein – da kommt: geschützt, sowie mit groß – mich zeigen. Will ich das? Tut Hilfe imaginierter mir das gut? Etc. Dann Bilder und dem dadurch initider Versuch, mit der ierten Körpertonus versuchen wir Aufmerksamkeit diesen Präsenzraum zu dirigieren, zu im Dazwischen zu sein, nicht nur am kontrollieren. Anfangsund Endpunkt. Un/erwartetes Fazit: Das ist 3 | www.mdw.ac.at/ikm/kunst-und-wissenschaft-im-dialog 4 | Doris Ingrisch, Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung, Bielefeld 2012.
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„Zusammenziehen, ein Klein-Machen“ extrem schwierig. Das ist genau findet sowohl körperlich die Entsprechung des Denkens als auch in der Innenwahrnehmung statt. im Bipolaren. Auch, dass die Ist dies auch in der Außenwahrnehmung sichtbar? Qualität des Dazwischen so Was bewirkt die bewusste Intension schwer zu beschreiben ist. Meine auf diesen Präsenzraum bei Aufmerksamkeit immer wieder den Betrachtenden? abgleitet, ich (K.W.) sie kaum im Dazwischen halten kann. Wo bitte ist sie dann? (D.I.) III. Die Zusammenarbeit nach Abschluss der ersten Phase, die in eine Performance mit dem Titel Pas de deux5 mündete, fortzusetzen, folgte der inneren Logik der ungebrochenen Neugier. Eine Sensibilität für das Potenzielle war die Motivation, obwohl noch nicht greifbar und manifest, eine weitere Versuchsanordnung zu starten. S. 30 Nun wurde der Fokus auf ein über unsere jeweilige Disziplin Hinausreichendes, ein beyond gesetzt. Was passiert, so die Frage, wenn es nicht die eine Disziplin ist und nicht die andere, wenn die Disziplinen nicht mehr als Sicherheitsnetz fungieren können? Wenn sich beide Beteiligten auf unvertrautes Terrain begeben? Beibehalten wurde nur die Gleichwertigkeit. Sie war zentral. Es war eine Entscheidung für eine Arbeit im Möglichkeitsraum, für eine Arbeit mit dem Potenziellen.
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Mich überfallen Zweifel und Unsicherheit. Es wundert mich nicht, ist aber trotzdem nicht angenehm. Es liegt an uns, etwas aus dem Job zu machen, sagt K., als ich diese in einem Gespräch äußere. Die Gedanken des Gestaltens finde ich jetzt, im Nachsinnen darüber, noch einmal bedeutsam. Mir deutlich zu machen, dass es nicht nur um ein Erfüllen von professionellen Vorstellungen geht, sondern die immerwährende Möglichkeit des Gestaltens vorhanden ist. Es ist ein Anklang an die Iteration im doing gender, doing difference… dieses Erkennen der Freiräume, die eigentlich da sind... Vielleicht, nein ganz sicher, ist auch das Thema. Nütze bzw. wie nütze ich Gestaltungsräume? Welche Gefahren – ein Nicht-anerkannt-Werden z.B. – und welche Lust stecken da drinnen?
5 | www.mdw.ac.at/ikm/pas-de-deux
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IV. Von der Seite der primär mit Sprache Arbeitenden hatte immer wieder das Bedürfnis bestanden, verschiedene Wahrnehmungsebenen in die wissenschaftliche Forschung miteinzubeziehen. Dahinter stand der Gedanke, der Wirkmacht der Sprache in den Kultur- und Geisteswissenschaften weitere Dimensionen des Denkens, des Erkennens und des Ausdrucks zur Seite zu stellen. S. 98 Das würde bedeuten, dem Trenn-Zwang und den darin eingeschriebenen Hierarchien entgegenzuwirken. Es würde bedeuten, sich zu weiteren Dimensionen in Relation zu setzen, in die Erfahrung zu gehen. Auf die Denkverhältnisse bezogen, heißt das, mit dem Sowohl-alsauch, mit dem Und zu experimentieren.6
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Ja, so ist es möglich, diesen Raum auch zu sehen. Geht es hier vor allem um diese Perspektivenveränderung? D.h. auch ein anderes Raumverstehen, ein anderes Raumsehen? Ich lasse mich da in einen Prozess ein, zu dem ich bemerkenswerterweise auch Vertrauen habe. Wieso? Z.B. die Sprachebene vorübergehend zu verlassen, um anderen Formen des Denkens Platz zu lassen. Diese Phase entwickelte sich für die primär mit Sprache Arbeitende als ernsthafter Versuch, andere Modi des Denkens nicht allein zu beschreiben, sondern selbst zu erfahren. Nicht um der Sprache ganz zu entkommen, sondern um ihr, der Komplexität der Welt entsprechend, weitere Wissensdimensionen zur Seite zu stellen, andere Erkenntnismöglichkeiten in die Wissenschaften hereinzuholen. Was letztes Mal bei unserem Treffen auftauchte, waren Assoziationen zu für uns bedeutsamen Begriffen. Mut war einer davon. Und dann, später, Unmut, und die Frage, was das Gegenteil von Mut ist. Was ist mit Angst? Und wie passt Demut dazu? Ist das das Stadium, wo der Mut nichts mehr nützt und wir das einsehen? Außerdem bin ich beim Recherchieren darauf gestoßen, dass Mut etymologisch mhd. mit Seele, Geist zu tun hatte und mit Sinn in Verbindung gebracht wurde. 6 | Vgl. Doris Ingrisch, Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. Künstlerische Lebensund Arbeitsformen als Inspiration für ein neues Denken, Bielefeld 2012 sowie Doris Ingrisch & Andrea Sodomka, Versuche im Und – www.im-und.at
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V. Mit Bildern und Klang zu arbeiten, heißt, den Sinnen einen speziellen Platz in der Forschung zu bieten. S. 56 Diese Ebene erlaubte es bzw. forderte es vielmehr heraus, im Tun ihr Erkenntnispotenzial weiter und weiter auszuloten. In der Versuchsanordnung der zweiten Phase wählte jede einen über ihren professionellen Rahmen hinausgehenden Zugang. Medien kamen ins Spiel und ein Sich-Einlassen auf all das, was die Arbeit mit Medien mit sich bringt. In diesem Überschreiten der Grenzen der Professionalität stand nun das Einander-professionell-Abholen nicht mehr zur Verfügung, der Zugang bestand vielmehr in einem Hinein-Begeben in Erfahrungen, allerdings vor dem Hintergrund eines gesammelten professionellen wie in anderen Kontexten erworbenen Wissens und bei enorm hoher Sensibilität für das eigene Tun.
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Das Handwerk des Choreografierens gibt mir eine gewisse Sicherheit. Anordnung von Geschehnissen und Dinge in einem bestimmten Raum in Beziehung zu setzen und sie in einem Kontext etwas erzählen zu lassen, ist für mich der gemeinsame Nenner. Allerdings verunsichern mich die technischen Heraus forderungen des Fotografierens. Es tut sich ein riesiges Forschungsgebiet auf. Die professionelle Praxis, das Handwerk fehlt in diesem Gebiet. Allein die Frage nach der Ästhetik ist ein großes Feld. Wie frei darf ich mit der Nachbearbeitung der Bilder umgehen? Wann verfälsche ich den eingefangenen Moment des Fotos zu sehr? Und ab wann beginnt es, etwas Neues zu bedeuten oder einen neuen Raum sichtbar zu machen, indem ich Konturen schärfe, die Farbe verändere oder die Belichtung beeinflusse. Das Erforschen des für mich neuen Mediums Fotografie lässt mich viele grundsätzliche, allgemeine Fragen wie Ästhetik, professionelle Haltung und Sinngebung des eigenen künstlerischen Tuns wieder neu betrachten. Dieses neue Betrachten und Hinterfragen macht mich neugierig, spielerisch und füttert meine Kreativität. Ich gestatte mir, meine künstlerischen und kreativen Spielräume zu erweitern. Auch merke ich, dass ich zuvor diese Spielräume zwar nicht eng, aber
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doch sehr klar definiert und abgesteckt hatte. Der Freiraum, der sich auftut, so dass neue Räume betreten werden können, tut ungemein gut. Dieses Mir-etwas-Erlauben ist durch die regelmäßige und klare Reflexion und das gegenseitige Austauschen über das eigene Tun möglich. Allerdings, oder übrigens, betrachte ich mich nie als Fotografin, sondern als fotografierende Choreografin. VI. Medium bezeichnet etwas sich in der Mitte Befindliches, ein Vermittelndes, ein in-between, sei es mit Mitteln, die dem Magischen zugeordnet werden, oder/und auf technischer Basis. Im Mittelpunkt steht eine Energie- und Informationsübertragung. In Marshall McLuhans Betrachtung entspricht es einer Verlängerung der Sinnesorgane.7 Ebenso fand die enge Verbindung von Medium und Kommunikation, die darin eingeschrieben ist, eine Entsprechung mit den Vorstellungen vom Hereinholen eines Dritten. Das Medium fordert auf seiner Ebene Beziehung heraus. In einer solchen Konstellation werden Gedanken zur Situiertheit des Wissens, wie sie von Donna Haraway8 wissenschaftskritisch beschrieben wurden, erneut angeregt und mit Fragen nach der Agentialität der Medien erweitert.9 Damit kam eine neue Dynamik in die neue Versuchsanordnung. Ein Pas de trois begann. Körper ist und war mein Thema. Mit der Fotografie kann ich ihn neu und anders erforschen. Ein Heranzoomen ist möglich. Ich kann z.B. die Härchen des Körpers in den Vordergrund rücken. Details können „Hauptrollen“ einnehmen. Und auf der anderen Seite kann ich mit der Fotografie ganz neue „Bühnenräume“ betreten. Es interessieren mich große Distanzen, große Räume. So verwende ich das Nahe, Bekannte und Erforschte – den Körper in Bezug auf das Weite, Entfernte und nicht Greifbare, den Himmel, die Lufthülle. Diese Distanz aufzunehmen und in Verbindung zu setzen, kommt mir sehr logisch vor. 7 | Marshall McLuhan, Understanding Media, Cambridge 1964 sowie zum Konzept der Kulturwissenschaft: Helmut Schanze (Hg.), Metzler-Lexikon Medientheorie Medienwissenschaft, Stuttgart/Weimar 2002, 199–201. 8 | Donna Haraway, Situated Knowledge. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14, 1988, 575–599. 9 | Vgl. dazu auch die Jahrestagung des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ mit dem Titel „Wessen Wissen? Künste. Situiertheit. Materialität. 21.–23.7.2016 Universität der Künste Berlin.
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Es kommt mir fast wie eine Begründung vor, warum ich das Medium Fotografie wählte. Ich weiß nicht, ob ich dieses Thema wähle, um für mich das Medium zu begründen, oder das Medium wähle, um das Thema bearbeiten zu können. Fotografie und Video als audio-visuelle Medien bieten spezielle Bezüge. Bewegt das eine, einen Moment fixierend das andere. Ein den Weg Betonendes das eine, ein Innehalten und ungestörtes Hinsehen vermittelnd das andere. Das Voranschreiten da, die Ruhe dort. Video hat mich schon lange als Möglichkeit fasziniert, etwas auf andere Art und Weise „zur Sprache zu bringen“. Einmal sagt K.: „Wenn Du es nicht ausdrückst, wird es nicht ausgedrückt.“ Es folgt einem Zitat von Martha Graham: „There is a vitality, a life force, an energy, a quickening that is translated through you into action, and because there is only one of you in all of time, this expression is unique. And if you block it, it will never exist through any other medium and it will be lost.“10 Ich notiere es mir. VII. Im Bewusstsein um die Veränderung der Weltwahrnehmung und des Denkens durch Medien wurde dem Video in seinen Anfängen ein wesentliches utopisches Potenzial zugeschrieben. „Video is political in the deepest personal sense“, so die Hoffnung der 1970er Jahre, die darin die Möglichkeit sahen, die Trennung von Produzierenden und Konsumierenden aufzuheben und dadurch das Machtgefälle der Weltherstellung zu beeinflussen. Dieses Medium sollte imstande sein, die Herrschaft der Dokumentation von hegemonialen Wirklichkeiten zu revidieren, neue Blickwinkel hervorzubringen und dementsprechend die Schaffung eines neuen Bewusstseins anzustoßen. Partizipation lautete einer der zentralen Begriffe, um den herum die Generierung von alternative spaces in etablierten Strukturen erfolgen sollte. Video erschien als das Medium zur „Erforschung des Alltäglichen“ und zur „Erprobung neuer Sehgewohnheiten.“11 Wie in den Anfängen des Mediums und gerade auch den feministischen Herangehensweisen ist das Ausloten und Erweitern der Wahrnehmung ein wesentliches Faszinosum dieses Mediums geblieben. 10 | Agnes de Mille, Martha: The Life and Work of Martha Graham, New York 1991, 264. 11 | Vgl. Nicolette Torcelli, Video Kunst Zeit. Von Acconci bis Viola, Weimar 1996, 26.
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Noch einmal zurück. Wie hat es begonnen? Unsere Anfangsintention war das Aufbrechen des Bipolaren – hier Wissenschaft, da Kunst, die Suche nach Begegnung und die Frage, was aus einem sol chen Dialog entstehen kann. Und einmal sagt K., am Ende ist es dann ein Muster wie wenn Hände sich ineinander verschränken und mir gibt dieses Muster zu denken. Ich glaube, ich würde mir wünschen, dass es so klar nicht abgegrenzt ist, sondern sich verwischt. Doch dann folgt gleich die Frage, ob ich, so empfindSkizze Katharina Weinhuber „Raumanordnung 1“ end, etwas vereinnahmen möchte. Das will ich nicht. Ich will nicht etwas zu meinem machen, was jemand anderem gehört. Das ist es absolut nicht. Jetzt kommen wir auf „meines“ und „deines“ und Überlegungen dazu, dass dann vielleicht gar nicht mehr zu sehen sein müsste, wo meines und wo deines ist. VIII. Fotografie beinhaltet ebenfalls das Potenzial, das Spielen und Experimentieren mit den Wirklichkeiten weiter zu treiben. Die künstlerische Fotografie zielt zunehmend in die Richtung, Wirklichkeiten zu erforschen, wobei das Erforschen dezidiert als ein Schaffen verstanden wurde. Fotografie, so Roland Barthes, bietet vor allem durch das punctum, ein Wirken, das auf ein unbeschreibbares Element verweist, eine besondere Ebene der Erkenntnis.12 Es beschreibt ein Element, das uns irritiert, uns berührt und auf die Möglichkeit verweist, weit über das Assoziative hinauszu12 | Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989.
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gehen. Im Konzept des punctum, das er dem Studium, der Information, die ein Foto analytisch wahrnehmbar vermittelt, zur Seite stellt, tritt das Atopische zutage, die Ortlosigkeit, das Ungewöhnliche, das eine Art Positionierung außerhalb hegemonialer Denkverhältnisse signalisiert. Wenn mich etwas begeistert, was begeistert mich daran? D. gibt mir Feedback und stellt Fragen. Diese Rücksprache hilft mir, beim Spielen und Experimentieren den Bezug zu ihr und dem „Gesamten“ nicht zu verlieren. Was ist das „Gesamte“ in dieser Arbeit? Mit Vilém Flusser und seinen Überlegungen zum Gegensatz von Bild und Text, von Magie und Begriff, ist eine weitere wesentliche Ebene der Arbeit mit dem Dritten angesprochen. Für ihn sind technische Bilder und Videos „Erfindungen zum Vorstellbarmachen von Texten“13, die der Textolatrie, dem Leben in der Funktion der Texte, entgegenwirken. Im Scanning, wie er das Schweifen über die Bildoberfläche nennt, im Betrachten eines Bildes, erschließen sich konnotative und damit mehrdeutige Symbolkomplexe. Anders als beim Erfassen eines Textes folgt der Blick auf das Bild einem beziehungsreichen Weg, der Verbindungen zwischen der Bildstruktur und den Intentionen der Betrachtenden herstellt. Einem Weg, der Bedeutungszusammenhänge entstehen lässt. Diesen Überlegungen entsprechend, spricht Flusser vom magischen Charakter der Bilder, der sich massiv von der historischen Linearität unterscheidet und seit der Erfindung der linearen Schrift im Kampf mit dieser steht.14 In wiederkehrenden Gesprächen fand eine Reflexion des praktischen Tuns wie der entstehenden Dynamiken, die sich mit Gedanken aus der Literatur, aus theoretischen Abhandlungen verknüpften, statt. Irgendwann beginne ich, unterschiedliche Wege aufzunehmen. Das Spiel von Licht und Schatten. Richtungswechsel. Das entsteht nicht aus einer Überlegung. Ich lasse es geschehen. IX. Sich fortbewegen, mit durchschnittlich 1,4 m/s und in permanentem Kontakt zum Boden. Das ist gehen. Dieses Gehen verbindet uns mit der Erfahrung von 5 Millionen Jahren aufrechtem Gang, und dies nicht nur in Form einer Metapher. Der 13 | Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Mannheim 1993, 77. 14 | Vilém Flusser, Das Bild, Linz 1989, http://www.servus.at/ILIAS/flusser.htm
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Körperschwerpunkt wird durch Raum und Zeit vorangetrieben, das Außen und das Innen werden wahrnehmbar, das, was wir Identität zu nennen gewohnt sind, durch das bewusste Wahrnehmen des eigenen Körpers im Gehen spürbar. In der Philosophie wurde das Gehen bereits seit der Antike mit dem Denken in Verbindung gebracht. Herumzuwandeln wurde als Methode betrachtet, Gedanken in Fluss zu bringen. Gehbewegungen wurden und werden als Instrument eingesetzt, um Gedanken anzustoßen. Im Schreiten entstehen Räume, die Körper und Geist gemeinsam sind. Oder, so Thomas Bernhard, eine Manifestation des „ununterbrochenen Vertrauensverhältnisses von Gehen und Denken“.15 „Gehen und Denken“, so Wilhelm Berger, „teilen nicht ein vorausgesetztes Territorium, Gehen und Denken entsprechen sich vielmehr in ihrer Bewegung.“16 Hier entstehe ein Raum der Relationen, ein gemeinsamer Raum von Gehen und Denken. Die Videoaufnahmen von D. lassen den Blick auf den Boden richten und durch das Fortbewegen nehmen sie einen mit auf eine Reise… Durch das Filmen entstehen Geräuschkulissen, durch die angeregt wir in die verschiedensten Räume eintauchen. Banales und Überraschendes auf der Straße, Muster von Böden, Schmutz oder Gemaltes, von anderen in den öffentlichen Raum Gesetztes verbindet sich durch die Bewegung des Gehens zu einem Tanz. Gehen bewegt das Denken. Es verlässt durch das Sich-Bewegen den einen DenkOrt. Die Eindeutigkeit, das Denken im Entweder-Oder, im klar voneinander Getrennten, muss von einem einzelnen Denk-Ort ausgehen. Auf der aristotelischen Logik der Axiome – verkürzt zu vergegenwärtigen als A ist A, A ist nicht Nicht-A und ein Drittes gibt es nicht – basierte die sogenannte abendländische Welt der neuzeitlichen Wissenschaft ebenso wie die des Denkens über die Geschlechter. Doch in der Bewegung werden auch die Axiome einer Dynamisierung ausgesetzt. Dies sind nur einige der Gedanken, die im und durch das Tun emergierten. Ein Kaleidoskop an Konnotationen begann sich zu öffnen, die zu immer weiteren Kontexten führten. Wege des Wissens, Wege zum Wissen, Wege der Begegnung, Gehen in der Bedeutung von Entwicklungen, Ansätzen, Konzepten, Wege im Sinne von Irrwegen, von Grenzen, von Sich-Bewegen. Tanzen. Welche Wege gehe ich? 15 | Vgl. Thomas Bernhard, Gehen, Frankfurt a.M. 1993, 86. 16 | Wilhelm Berger, Was ist Philosophieren? Wien/Köln/Weimar 2014, 78.
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Was begegnet mir auf diesen Wegen? Wie setze ich in diesen Begegnungen den Fokus meiner Wahrnehmung? Welche Wege wähle ich aus den vielen Möglichkeiten, die es gibt? X. Kulturwissenschaftlich beziehungsweise im Bereich der Gender Studies zu forschen bedeutet, herkömmliche Pfade zu verlassen und originelle Wege zu beschreiten. Es heißt, Themen in die Forschung zu holen, die bisher nicht als solche gesehen wurden, und es heißt, Methoden – Ansätze und Vorgehensweisen –, also Wege zu entwickeln, die es erlauben, Antworten auf gestellte Fragen oder, das vielleicht sogar vor allem, neue Fragen zu finden. S. 86 Gehen also als Thema. Literatur eröffnet auch hier weitere Assoziationsbögen. „Am Schreiben gehen“, so nannte Paul Nizon die Frankfurter Vorlesungen, zu denen er als Gastdozent für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt eingeladen war, um der engen Verbindung von Leben und Schreiben Ausdruck zu verleihen. „Was ist die Suche, die mir schon lange die Richtung aufzwingt? Welcher Sache laufe ich hinterher“, fragt er und umreißt damit den Kosmos von Sinnfragen zum Thema Bewegung. Um es dann wieder anders zu wenden: „Das Schreiben ist Hilfe des Gehenden wie Steigerung und Vervielfachung des Sehenden.“17 Paul Nizon macht, stellvertretend für viele andere, das Unterwegssein als wesentliches Movens im Welt- und Wirklichkeitsbezug aus. Das Vorbeistationieren, wie er es formuliert, entspräche einem vorübergehenden Ansässigsein. „Kaum dass ich spazieren gehe, beginnen die Gedanken wieder zu laufen, weil sich über die Augenwege der innere Kreislauf aktiviert. Die Früchte der Augenweide erwecken die Sprachlust, das Formulieren aktiviert die Gedankensprünge, die Gedanken entwerfen oder schraffieren meine Welt mitsamt deren Hoffnung und Ohnmacht, Weite und Grenzen.“18 In Tomas Espedals Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen19 dominiert der Transformationsaspekt der Geh-Bewegung ebenfalls, der auch in den Beschreibungen der Reisenden oder der Figur der Flanierenden eine so wesentliche Rolle spielt. In den performativen Künsten öffnet sich nun das Spannungsfeld zwischen Tanz, experimentellem Theater, Conceptual Art und Kulturwissenschaften. Künstlerische Geh-Experimente der Walking Artists20 – „every-
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17 | Paul Nizon, Am Schreiben gehen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, 7. 18 | Ebd, 123. 19 | Tomas Espedal, Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen, Berlin 2011 oder auch Henry David Thoreau, Walking (1862), in: Charles W. Eliot (Hg.), The Harvard Classics. The Shelf of Fiction, vol. 28, New York, 1909–1914. 20 | Vgl. u.a. Francesco Careri, Walkscapes. Walking as an aesthetic practice, Barcelona 2002; Frederic Gros, A Philosophy of Walking, London 2014; Jennifer Wallace, It Can be Solved by Walking, Baltimore 2012; Deidre Heddon/Cathy Turner, Walking Women, in: Performance Research, 15/4/2010, 14–22.
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one who is interested in walking as a mode of art practice, as well as related fields including, but not limited to, architecture, archaeology, anthropology, cultural geography, history, spatial design, urban design and planning“21 –, Be- und Entschleunigungen wie ihre Korrespondenzen oder die Wirkungsweisen performativer Räume, all das nimmt nun erneut die Qualitäten und das Potenzial des Gehens und der Bewegung in den Blick.22 Die kleine alte Kamera ist jetzt immer mit dabei. Wie viel ich mich eigentlich bewege, erstaunt mich. Meine Wahrnehmung verändert sich. Bewertungen treten in den Hintergrund. Streifen auf dem Asphalt, jeder Grashalm, jeder Fleck ist jetzt interessant und nicht hässlich oder schön. Ich ärgere mich nicht, weil…, sondern gehe weiter, will wissen, was da kommt und was es mit mir tut. Ich bemerke, dass sich nicht allein mein Körper bewegt. XI. Die Verbindung zwischen dem Gehen, dem Sich-Bewegen, dem Schreiben, dem Forschen klingt auch in Assia Djebars „Écrire est une route“ an: „Écrire est une route à ouvrir/… n’est-ce pas d’abord une pulsion d’écriture portée par un corps de femme qui se meut au-dehors qui veut voir au dehors,/… Écrire est une route à ouvrir/ écrire est un long silence qui écoute/ un silence de toute une vie.“23 Dann aber wechselte sie in ihrem Œuvre zum Medium Film, um im Nexus von Schreiben und Sehen auszudrücken, was sie bewegte.24 Verbindungslinien zwischen Bedeutungsspektren des Gehens entstehen. Manchmal einfach durch Innehalten. Mein Denken bemerkt, wie es sich beWEGt. Sensitivität für die Rhythmen im Gehen, im Begegnen, im Reflektieren zu entwickeln, für die Schritte, für den Klang unserer Schritte, bringt eine neue Facette in das Erkennen, das Verstehen von Welt ein. Wo befinden, wo stehen, wo kreisen wir als Künstler_innen, als Wissenschaftler_innen in unserem jeweiligen Denken? Wo in den Berührungszonen unseres Denkens mit einem anderen Denken? Welche Rolle wird hier der Sprache zugestanden? Fragen wie diese steigern die Sensitivität für den zu beschreitenden Weg. 21 | http://www.walkingartistsnetwork.org 22 | Vgl. Ralph Fischer, Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten, Bielefeld 2011. 23 | Assia Djebar, Ces voix qui m’assiègent, Montreal 1999, 11–13. 24 | Claudia Kronemann, Mediensimulation und -reflexion. Oralität, Schrift und Film in transmedialen Strategien der Maghrebliteratur, in: Jochen Mecke (Hg.), Medien der Literatur. Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, 103–118, hier 112.
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XII. In Trin T. Minh Has Ausführungen über die Figur des walkers kommen analoge Denkbewegungen zum Ausdruck. Zentral für ein Denken im Und erscheint der Moment der Gleichzeitigkeit der in einem Begriff enthaltenen changierenden Bedeutungen.25 „It’s many things at the same time. You can see it as a physical activity, as a mode of receptivity, because when you walk you receive things differently […] it is something that allows me to link up with the whole tradition of independent walkers.“26 Die Betrachtung im Modus der Gleichzeitigkeit, die es erlaubt, all diese Kontexte zu vergegenwärtigen, steht für das Zulassen von Vieldeutigkeit und Komplexität. Es ist ein Modus, der, im Gegensatz zum Trennenden, den Fokus über die Phänomene auf die Beziehungsebenen setzt. Das Veränderungspotenzial, das im Gehen, in der Bewegung enthalten ist, wird bei Trin T. Minh Ha in eine weitere Dimension eingelassen. „So“, fährt sie fort, „the walking is a form of transformation. Spiritual transformation.“ Gehen erscheint hier erneut als Medium, als Methode der Transformation. „And that is why you have the whole tradition of leaving a place, putting themselves in a state of instability, and also in a space of movement where they are walking in order to open up their receptivity and their relation to the world. So I think the walker in that sense.“ Parallel existieren weitere andere Ebenen, in denen Wandel angestrebt wird. „And of course you have the political sense, the social sense of marching. Of walking in order to protest, in order to defy, in order to ask for transformation in the social.“ Die von Trin T. Minh Ha adressierten Implikationen öffnen darüber hinaus noch den Horizont für eine weitere Gleichzeitigkeit, das Zusammenspiel diverser Wissensformen: „… all of that bring together something that is very important in writing. You cannot simply write with your mind, with your head, you also write with your fingers, you write with your toes. It is that kind of movement that you also incorporate in the writing itself.“ XIII. Dass die Wege, das Gehen, die Bewegung sich im Kontext einer Arbeit an den Berührungszonen von Kunst und Wissenschaft als Thema manifestierte, führte mit bemerkenswerter Exaktheit zu grundlegenden Fragen und Aushandlungssphären dieses Feldes. Welchen Weg darf/kann/soll eine Forschung nehmen, die unterschiedliche Erkenntnismethoden und Wissensformen zur Beteiligung einlädt? Wenn Kunst und Wissenschaft über historisch konstruierte Grenzen hinweg miteinander kooperieren, welche Wege können sie heute im Spannungsfeld von Traditionen und Innovationen gehen? Oder, um die Akteur_innen und ihr Tun stärker zu be-
25 | Doris Ingrisch, Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. 26 | Die Zitate sind Transkriptionen aus dem Video https://www.youtube.com/watch?v=ADtmeCFcBFk, das im Rahmen des Vortrags „Miles of Strangeness“ von Trin T. Minh Ha am 14.10.2011 am Center for Teaching and Learning/CTL der Universität Wien entstand.
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tonen, welche Wege können die in diesen Feldern Agierenden beschreiten? Präziser formuliert, welche können sie in diesem Miteinander finden, indem sie diese gehen? Gehen/Bewegen als Methode. Warum tun wir aus den verschiedenen Kontexten kommenden Forschende, was wir tun? Und – wie taten wir es? Die Merkmale des Tuns manifestieren sich im Begriff der Methode, methodos. Es gibt das Gehen und es gibt das Nachgehen des gegangenen Weges, die Reflexion des Vorgehens, des Weges, auf dem wir Erkenntnisse generierten. Wird meta, einer der Wortteile des Begriffs Methode, neben hodós, dem Weg, nicht nur im Sinne von „von da nach dort“, sondern als „dazwischen“ übersetzt, bietet sich erneut der Konnex zum Gehen als einer Bewegung im Dazwischen, die „eine Spannung, eine Differenz zu dem, was ist“ erzeugt.27 XIV. In diesen Kontexten kommen die Raumkonzepte immer stärker ins Spiel, wie das des absoluten Raumes, wie es von Isaac Newton bereits im 17./18. Jahrhundert formuliert wurde. Er ging nicht von sich in Ruhe befindlichen Dingen aus, die erst in Bewegung versetzt werden müssen, sondern im Gegenteil, von einem bewegten Raum, in dem Ruhe einen Sonderfall darstellt.28 Diese Überlegungen knüpfen an das Thema der Veränderung, und zwar der permanenten Veränderung, an. Dementsprechend fragt Philosophie heute nicht danach, was Bewegung anregt, sondern danach, was Bewegung ver- oder behindert.29 Konzepte verändern sich. In den Worten von Erin Manning: „Whereas in the active-passive commonsense model, time and space are located as stable signifiers into which the body enters, within a relational space and time are qualitatively transformed by the movement of the body. The body does not move into space and time, it creates space and time: there is no space and time before movement.“30 Durch Bewegung nehmen wir Raum wahr und gestalten ihn gleichzeitig. Im Gehen, im Denken. Indem wir uns durch sie hindurchbewegen, so Michel de Certeau, erschaffen wir Räume. Im Reflektieren über das Sprechen der verhallenden Schritte stellt er das Spiel der Schritte als Gestaltung von Räumen vor.31 Sie webten die Grundstruktur von Orten. Zudem betont auch er die Analogien des Gehens mit 27 | Berger, Was ist Philosophieren?, 19. 28 | Stephan Günzel, Philosophie, in: Fabian Kessl et al. (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden 2005, 89–110. 29 | Vgl. dazu auch Rudolf zur Lippe, Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung, 2. Aufl., München 2011. 30 | Erin Manning, Politics of Touch, Sense, Movement, Sovereignty, Minneapolis/London 2007, xiii. 31 | Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, 188.
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dem Sprechakt32 – als „Raum der Äußerung“33. Michel de Certeau entwirft dementsprechend Vorstellungen von Rhetoriken des Gehens, indem er das Gehverhalten, das Drehen und Wenden in Analogie mit den Redewendungen setzt und Stile in der Bewegung ebenso ausmacht wie in der Sprache. In ihnen manifestiere sich eine spezielle Art des In-der-Welt-Seins, eine Einzigartigkeit in der Kunst des Handelns. Das Tun sich entfalten lassen. Einem ungewohnten Vorgehen Raum und Zeit einräumen. Es nicht als Zeitverschwendung betrachten, sondern neugierig bleiben, wenn hier ein anderer Rhythmus des Generierens sich entfaltet. Das braucht ein Mich-Einlassen, das braucht Konzentration und Geduld. Michel Foucault charakterisierte in den 1990er Jahren die Gegenwart als Epoche des Raums, die sich von einer durch Zeit bestimmten Epoche deutlich unterscheide. Die teleologische Fortschrittskonzeption, die das Denken in der Zeit präferiert, stehe dem Konzept der Simultaneität, der Juxtaposition, des Nebeneinanders, wo sich das Leben als Netz erfährt, gegenüber.34 Damit wird die jeweilige Positioniertheit im Raum, wenn sie auch nur vorübergehend ist, bedeutsam. Mit Franz Xaver Baier können wir eine Architektur des gelebten Raumes imaginieren. Dieser ist nicht als einziger Raum vorzustellen, sondern als Vielfalt unterschiedlich konstruierter Räume, die sich jeweils in enger Verbindung zu unserer Existenz befindet.35 Dieses Verständnis steht in Analogie zum Ende der großen Erzählungen.36 Es ist nicht mehr von einem für alle verbindlichen Raum auszugehen, sondern von verschiedenen kleineren Räumen, die immer wieder erschlossen werden. S. 221 Auch ihnen, diesen Lebensräumen, ist Bewegung eingeschrieben. Sie können „wandern, wachsen, groß werden, sich legen und auf ihre Weise wieder verschwinden, […] tragen, angreifen, zärtlich werden.“37 Und sie bringen etwas hervor, sie erzeugen Angst, Freude, Erleichterung oder Glück.38
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XV. Die Fotoarbeiten regen das Be_weg_ungs/Raum-Thema an, sie führen in den weiten Raum. Und dann sind da die Körper-Räume. Ein ganz bewusstes Nicht-Entscheiden nur für das eine oder das andere. Ein Nicht-entscheiden-Können zu Beginn, ein Nicht-entscheiden-Wollen in der Folge. Indem beides bestehen bleiben darf, öffnet 32 | In den Dimensionen von Aneignung (des topografischen Systems wie der Sprache), der Realisierung wie der Beziehung (der Bewegungen wie der Mitredenden). 33 | De Certeau, Kunst des Handelns, 189. 34 | Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, 34–46. 35 | Franz Xaver Baier, Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 2000, 7. 36 | Vgl. Jean-François Lyotard, Das moderne Wissen, Wien 1999. 37 | Baier, Der Raum, 7. 38 | Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, London 1922, § 6.43.
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sich ein ungewohntes Spannungsfeld. Was passiert, wenn die beiden Sphären, die kaum etwas miteinander zu tun zu haben scheinen, zueinander in Beziehung gesetzt werden? Wenn das Bild so komponiert ist, dass das Grobstoffliche unmittelbar neben dem Feinstofflichen sichtbar wird, der Körperraum das Universum trifft? Eine greifbare Nähe vermittelnd das eine, das andere die ungreifbare Ferne vor Augen führend. Und doch: Raum das eine und Raum das andere. Die sogenannte abendländische Kultur ist gewohnt, sie als Gegensätze wahrzunehmen. Sie getrennt zu denken. Welche Assoziationen, Stimmungen, Gefühle oder Gedanken evozieren sie, wenn sie in enger Beziehung zueinander wahrgenommen werden können? Das Immanente und das Transzendente. Das Transzendente, von transcendere abgeleitet, ist der Hinweis auf den seit der Antike bekannten Begriff des Überschreitens, der, wie bereits damals, auch als eine Bewegung im Erkenntnisprozess gelesen werden kann.39 Das Immanente verweist auf das Verbleiben innerhalb gesetzter Grenzen. Beide Begriffe finden sich mit einer Reihe von historischen Einschreibungen von Über- und Unterordnungen behaftet, mit Konnotationen der Wissensordnung und Geschlechterordnung – allen voran Immanenz, mit dem Körper und weiblich konnotiert, Transzendenz mit dem Geist und männlicher Konnotation.40 Ein Forschen, in dem zunächst etwas anderes als Sprache wirken darf, bietet eine sehr ungewohnte Erfahrung für mich. Ich hole damit bewusst Qualitäten in das eigene professionelle Feld, die sonst nicht zugänglich sind. K. tut das in ihrer Art und Weise auch. XVI. Die mit der Zeit aus der Versuchsanordnung emergierenden Themen von Be_weg_ en und Raum brachten die innere Logik unserer Zusammenarbeit immer deutlicher zum Ausdruck. Obgleich in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Bewegung, außer als Denkbewegung und bis vor kurzem auch als Thema, keine große Rolle zuteil kam, verdichteten sich exakt diese Themen in unserem Tun. Für die Wissenschaftlerin mit ihrem Anfangspunkt der Reflexion über diese Leerstelle in der Wissenschaft strich Bewegung als Thema dieses Desiderat heraus, für die Choreografin und Tänzerin, die primär mit und in Bewegung arbeitet, für die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit zu den Rahmenbedingungen ihrer Praxis gehören, öffnete die Fotografie die Möglichkeit zur Distanz und zur Reduktion.
39 | Abraham P. Bos, Immanenz und Transzendenz, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, Stuttgart 1996, Sp. 1041–1092, hier: 1043 f. 40 | U.a. dazu Stephan Günzel, Immanenz. Zum Philosophiebegriff bei Gilles Deleuze, Essen 1998 sowie Simone de Beauvoir, Le Deuxième Sexe, Paris 1949.
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Wir befinden uns in einem Dazwischen. Unsere gefundenen Antworten, aber auch die Fragen stehen für sich, eigenständig im Raum.D. fasst es zusammen – verschriftlicht, zitiert und stellt dadurch Beziehung zu bereits Gedachtem und Erlebtem in unterschiedlichen Epochen her. Der Film nimmt in die Fortbewegung mit. Die Fotos zeigen Distanzen zwischen dem Körper und der Weite. Dies alles setzen wir dann in einen Raum und erzeugen weitere. In diese Räume laden wir KünstlerInnen ein. Tanz. Musik. Text. Publikum bewegt sich in den Räumen, betrachtet, fokussiert, stellt sich in Beziehung. Inszenierter Wahrnehmungsraum – Denkräume – Erlebnisräume. Es geht um das aktive Setzen von Fokus, die Herstellung von Beziehung, um das bewusste Dasein und Wahrnehmen. Dadurch konstruiert jede einzelne Person – einerlei, ob in der Position der Künstler_in, der Wissenschaftler_in oder des Publikums – ihren Raum im Raum. Das In-Distanz-treten-Können, ein Charakteristikum wissenschaftlicher Praxis, begegnet hier dem Wissen des In-Bewegung-Seins, der tänzerisch-performativen Praxis des Wissens in Bewegung. Umgekehrt kann die ursprünglich primär in der Sprache Verortete durch die Versuchsanordnung den Prozess der Emergenz durch künstlerische Praktiken erfahren. Das Bewegen findet sich in beiden Bereichen. Als Methode und zugleich Emergierendes dort, wo ihr sonst kaum Beachtung zukommt, im wissenschaftlichen Tun. Doch auch in der vermeintlichen Unbewegtheit des Bildes ist Bewegung vorhanden. Sie findet in der Foto-Gestaltung ihren Ausdruck, im Zusammenfassen, im Experimentieren mit Farbe und Format. Und nicht zuletzt in der Bewegtheit des eigenen Selbstverständnisses durch das SichErschließen neuer Praxen und Praktiken. In diesem Prozess sind wir, unserem Thema des Grenzenüberschreitens und Erkundens der Berührungszonen entsprechend, mit Nichtwissen konfrontiert, sowohl im Begehen dieser Räume als auch im Uns-in-diesenRäumen-Bewegen. Doch gerade im Betreten dieser unbekannten Räume entsteht für uns ein weiterer gemeinsamer Erfahrungsraum. Ein Raum des Umgangs mit Unbekannten, in dem zu agieren wir aufgefordert sind. Skizze Katharina Weinhuber „Raumanordnung 2“
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In diesem gemeinsamen Erfahrungsraum entstand ein Raum der Reflexion und der Unterstützung. Im Prozess begannen herkömmliche Denkkategorien peu à peu an Wirkmächtigkeit zu verlieren. Katharina Weinhuber: „Es ist Dialog. Aber es geht nicht mehr darum, dass es ein Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft ist.“ In dieser Form von Kooperation verlieren die Grenzen der Bereiche, von deren historischer Gewordenheit wir wissen, an Bedeutung. Es treten Akteur_innen hervor. Menschen. Und nein, um gleich einen zentralen Einwand zu antizipieren, nein, das ist nicht banal. Es treten differenzierte Dimensionen hervor, ein Mehr an Komplexität und ein Über-Grenzen-Hinaus.
Q uellen Franz Xaver Baier, Der Raum. Prolegomena zu einer Architektur des gelebten Raumes, Köln 2000. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989. Simone de Beauvoir, Le Deuxième Sexe, Paris 1949. Wilhelm Berger, Was ist Philosophieren? Wien/Köln/Weimar 2014. Thomas Bernhard, Gehen, Frankfurt a.M. 1993. Abraham P. Bos, Immanenz und Transzendenz, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Band 17, Stuttgart 1996, Sp. 1041–1092. Francesco Careri, Walkscapes. Walking as an aesthetic practice, Barcelona 2002. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988. Assia Djebar, Ces voix qui m’assiègent… en marge de ma francophonie, Montreal 1999. Tomas Espedal, Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen, Berlin 2011. Ralph Fischer, Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten, Bielefeld 2011.
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Vilém Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Mannheim 1993. Vilém Flusser, Das Bild, Linz 1989, http://www.servus.at/ILIAS/flusser.htm. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992. Frederic Gros, A Philosophy of Walking, London 2014. Stephan Günzel, Philosophie, in: Fabian Kessl et al. (Hg.), Handbuch Sozialraum, Wiesbaden 2005, 89–110. Stephan Günzel, Immanenz. Zum Philosophiebegriff bei Gilles Deleuze, Essen 1998. Donna Haraway, Situated Knowledge. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14, 1988, 575–599. Deidre Heddon/Cathy Turner, Walking Women, in: Performance Research, 15/4/2010, 14–22. Doris Ingrisch, Wissenschaft, Kunst und Gender. Denkräume in Bewegung, Bielefeld 2012. Doris Ingrisch, Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne. Künstlerische Lebensund Arbeitsformen als Inspiration für ein neues Denken, Bielefeld 2012. Claudia Kronemann, Mediensimulation und -reflexion. Oralität, Schrift und Film in transmedialen Strategien der Maghrebliteratur, in: Jochen Mecke (Hg.), Medien der Literatur. Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2011, 103–118. Rudolf zur Lippe, Das Denken zum Tanzen bringen. Philosophie des Wandels und der Bewegung, 2. Aufl., München 2011. Jean-François Lyotard, Das moderne Wissen, Wien 1999. Erin Manning, Politics of Touch, Sense, Movement, Sovereignty, Minneapolis/ London 2007. Marshall McLuhan, Understanding Media, Cambridge 1964.
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L inks Doris Ingrisch & Andrea Sodomka, Versuche im Und – www.im-und.at Doris Ingrisch & Katharina Weinhuber, „Pas de deux“ – www.mdw.ac.at/ikm/ pas-de-deux Doris Ingrisch & Katharina Weinhuber, „Pas de trois“ – www.mdw.ac.at/ikm/ pas-de-trois Tagungsdokumentationen „Kunst und Wissenschaft im Dialog“ – www.mdw. ac.at/ikm/kunst-und-wissenschaft-im-dialog http://www.walkingartistsnetwork.org https://www.youtube.com/watch?v=ADtmeCFcBFk, Video im Rahmen des Vortrags „Miles of Strangeness“ von Trin T. Minh Ha am 14.10.2011 am Center for Teaching and Learning/CTL der Universität Wien
AKT III
… zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst
Am seidenen Faden Inszenieren im Bestattungsinstitut1 Heidi Schelhowe im Dialog mit Jörg Holkenbrink „Wie entsteht ein Thema? Da gibt es keinen Königsweg. Ich kann mich danach auf die Suche machen, herum schnuppern, um herauszufinden, was in der Luft liegt, und wenn ich eine gute Nase habe, rieche ich den Braten eher als alle anderen und bin ihnen eine entscheidende Nasenlänge voraus, was für die Marktgängigkeit des Themas einen enormen Vorteil verspricht. Es mag aber auch sein, dass jemand, dem ich traue, eine geltende Selbstverständlichkeit in Zweifel zieht, oder dass jemand, dem ich dazu das Recht einräume, mir eine Aufgabe stellt, oder dass jemand, auf den ich neugierig bin, eine Frage in die Luft wirft. Dann kann ich mir nicht schmeicheln, mein Thema erfunden zu haben, dann habe ich mich dazu anstiften oder verlocken lassen. Schließlich kann mich ein Thema auch anfallen, mich gleichsam aus dem Hinterhalt übermächtigen. Dann habe ich gar keine Wahl mehr und bin in seinem Bann. Ein regelrechter Überfall. Ganz unvermutet und scheinbar ohne An1 | Erstmals erschienen unter dem Titel „Was hat das universitäre Leben mit dem Tod zu tun? Ein fächerübergreifendes Studienprojekt der Performance Studies untersucht das Leben als letzte Gelegenheit“, in: Resonanz. Magazin für Lehre und Studium an der Universität Bremen, 2016, verfügbar unter: https://blogs.uni-bremen.de/resonanz/2016/10/17/ performance-studies/, letztes Zugriffsdatum: 18.07.2017. Eine Aufnahme und Vertiefung der hier dokumentierten Schilderungen und Gedanken finden sich auch in: Holkenbrink, Jörg; Seitz, Anna: Die subversive Kraft der Verletzlichkeit. Ein Dialog über Wissenskulturen und ihre Aufführungen, in: Ingrisch, Doris; Mangelsdorf, Marion; Dressel, Gert (Hg.) (2017): Wissenskulturen im Dialog – Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst. Bielefeld: transcript, S. 97–110.
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Heidi Schelhowe im Dialog mit Jörg Holkenbrink
lass gerate ich in Verwunderung über etwas, das mir bislang des Wunderns nicht wert war. Aus heiterem Himmel geht ein Selbstverständliches zu Bruch, und ich stehe vor einem Scherbenhaufen von Ungereimtheiten. Und der ist dann ein Thema.“ 2 (Marianne Gronemeyer)
Die Parzen möchten ein Spiel mit uns spielen.
Heidi Schelhowe: Jörg, kannst du als künstlerischer Leiter des Bremer Zentrums für Performance Studies etwas zur neusten Inszenierung des Theaters der Versammlung sagen, deren Entwicklung 2015 als Work-in-Progress begonnen hat und seit dem Winter 2016 in regelmäßigen öffentlichen Aufführungen ihre Fortsetzung findet? Zu ihrer Entstehung, ihrem Hintergrund, zur Aufführung selbst? Jörg Holkenbrink: Bereits 2014 startete das ZPS unter der Leitung der Theaterwissenschaftlerin und Philosophin Anna Seitz ein Dramaturgie-Vorhaben zur vernetzten Generation, das über zahlreiche Einzelveranstaltungen in BA- und MA-Modulen sowie über die General Studies in die universitäre Lehre integriert war. 24 Studierende aus den Bereichen Biologie, Comparative and European Law, Digitale Medien, English-Speaking Cultures, Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Germanistik, Geschichte, Informatik, Kunstpädagogik, Kulturwissenschaften, Transnationale Literaturwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft und Psychologie gingen aus ihrer jeweiligen Fach-Perspektive der Frage nach, was es denn bedeuten könnte, wenn sie als „die vernetzte Generation“ bezeichnet werden. Es entstand der Plan, aus Literatur, Film, Games oder theoretischen Ab2 | Gronemeyer, Marianne (2000): Immer wieder neu oder ewig das Gleiche. Innovationsfieber und Wiederholungswahn. Darmstadt: Primus, S. 1–2.
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handlungen reale oder fiktive prominente „Netzfiguren“ zu wählen und mit diesen als imaginären Freund*innen gemeinsam Lehrveranstaltungen zu besuchen. Nach den Seminarbesuchen traten die Studierenden dann in einen kontinuierlichen Dialog mit ihren imaginären Freund*innen über die Inhalte der Seminare, den sie in schriftlicher Form ausarbeiteten. Ziel war es, auf diese Weise dem Begriff bzw. der Metapher des Netzes in verschiedenen Seminarzusammenhängen auf die Spur zu kommen. Die Auswertung der ungewöhnlichen Erkundungen führte zu einem überraschenden Ergebnis: In der Beschäftigung mit Sozialpolitik (die im Zusammenhang mit dem Netz von einem potenziellen „sozialen Tod“ spricht), der Mythologie (in der von drei Schicksalsgöttinnen, den Parzen, die Rede ist, von denen die erste unsere Lebensfäden spinnt, die zweite deren Länge bemisst und die dritte sie schließlich abschneidet) S. 180 oder mit aktuellen technologischen Utopien (Transhumanisten, eine einflussreiche Bewegung vor allem in den USA, streben an, mit Hilfe Künstlicher Intelligenz und deren weiterer Vernetzung unter anderem die Unvermeidbarkeit des Alterns zu überwinden), kristallisierte sich für die Projektteilnehmer*innen im großen Rahmen des Themas „Vernetzte Generation“ mehr und mehr die verbindende, fächerübergreifende Fragestellung heraus: „Was hat das vernetzte Leben mit dem Tod zu tun?“. In der Inszenierungs- und Aufführungsphase entwickelte das Theater der Versammlung jetzt auf Grundlage dieser dramaturgischen Vorarbeiten die Performance Am seidenen Faden. Als Kooperationspartner konnten u. a. der Komponist Joachim Heintz S. 209 sowie ein alternatives Bestattungsunternehmen, der trauerraum bremen, gewonnen werden. Der trauerraum wurde mit der Methode und den Mitteln der Teilnehmenden Beobachtung erforscht und ist auch der Aufführungsort der Inszenierung. Der Komponist Joachim Heintz hat vor dem Hintergrund Informatik und Digitale Medien im Projekt eine „Soundmaschine“ erfunden, die während der Aufführung in einen interaktiven Austausch mit den Performer*innen und dem Publikum tritt und deren Programm immer wieder zu unvorhersehbaren Unterbrechungen, Abbrüchen und Aufzeichnungen der poetischen Spielabläufe führt. Gibt es ein digitales Weiterleben? Und wären wir gerne so unsterblich wie unsere digitalen Spuren?
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HS: Ich habe eure Aufführung ja bereits gesehen und hatte – bevor ich hinging – ein leicht mulmiges Gefühl. Wie sollte sich das sensible Thema Tod in einer Performance behandeln lassen? Ist die sehr unterschiedliche Art, in der wir mit dem Tod umgehen, und wie stark wir davon selbst betroffen sind, so gestaltet, dass alle oder doch viele etwas mitnehmen können und sich nicht mit ihren je eigenen Gefühlen verletzt fühlen? Lassen sich interaktive Elemente, die eure Arbeit ja auch kennzeichnen, hier wirklich realisieren? Wird man als Zuschauerin nur mit einer zwanghaft ernsten und bedrückten Miene hier agieren können? Wie nah wird mir das Thema kommen, und wie weit werde ich gezwungen, es an mich heranzulassen? Jörg, kannst du etwas zu eurer Aufführungspraxis sagen, und wie ihr solche
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Fragen im Vorfeld diskutiert und welche Entscheidungen ihr schließlich für die und in der Umsetzung getroffen habt? JH: Zu Beginn der Inszenierungsphase hatten wir zwei Gefahren im Auge, die wir unbedingt vermeiden wollten: das Thema modisch, oberflächlich, rein sachlich zu behandeln oder aber das Publikum emotional zu überwältigen, zu deprimieren. Deshalb stellte sich uns die Aufgabe, wie wir eine Atmosphäre schaffen können, die es allen Beteiligten ermöglicht, durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit das Leben zu befragen und die Aufführung gestärkt zu verlassen. Dabei spielte zunächst die Wahl des Aufführungsorts eine wichtige Rolle. Der trauerraum bremen strahlt mitten im Viertel als lebensnaher Ort der Ruhe und der Besinnlichkeit selbst schon eine warme, angenehme und offene Atmosphäre aus, in der die Angehörigen von Verstorbenen Raum und Zeit finden, die Realität des Todes zu akzeptieren. In der Recherche- und Erkundungsphase wirkten die Darsteller*innen dann unter anderem als Bestattungshilfen an Trauerfeiern des trauerraums mit und konnten so weitere Erfahrungen in der Gestaltung und im Umgang mit Atmosphären sammeln. Diese Erfahrungen sind anschließend in den Probenprozess mit eingeflossen. Sie haben zum Beispiel Auswirkung auf die Art, wie wir das Publikum begrüßen, auf die Raumanordnung und die Zeitstrukturen, die Spielweise, auch auf die Eröffnung des Nachgesprächs in Form einer Erinnerungsbühne, auf der Zuschauer*innen, die das möchten, noch einmal spontan auftauchende Bilder der Aufführung vor ihrem inneren Auge vorüberziehen lassen und diese den anderen Zuschauer*innen mitteilen. S. 202 Die Inszenierung erzählt ja weniger eine durchgehende Geschichte; sie reiht vielmehr Assoziationsfelder aneinander, in denen das Publikum die äußeren Bilder der Inszenierung mit eigenen Imaginationen in Verbindung bringen kann. Da sich diese Assoziationen und ihre Kombination individuell sehr unterschiedlich gestalten, erleben die meisten Zuschauer*innen den anschließenden Austausch darüber erfahrungsgemäß als äußerst bereichernd. Innerhalb dieser offenen Grundatmosphäre verändern sich aber auch Atmosphären. Ernste, traurige, heitere, rätselhafte Phasen und Momente wechseln einander ab. Die drei Schicksalsgöttinnen, die ich bereits in der Beschreibung des Dramaturgie-Semesters erwähnt habe, steuern und verweben die vielfältigen Elemente des Abends. Sie spinnen als „beschwipste Schwestern“ (Thornton Wilder) unsere Lebensfäden zeitgemäß am Rechner. Sie programmieren den Zufall, indem sie immer wieder live die digitalen Codes ihrer WEB- bzw. Webmaschine einweben bzw. umprogrammieren. Einer Maschine, die unter anderem über Aufzeichnungen und deren Wiedergabe, klangliche Unterbrechungen und Einbrüche wesentlichen Einfluss auf den Fluss der Aufführung und die Untersuchung der darin thematisierten Lebensmuster nimmt. Die Inszenierung ist auch eine fragile Collage aus performativ aufbereiteten Gedichten, deren flüchtige Gegenwärtigkeit aufs Spiel gesetzt wird. Das Publikum steuert die Performance ebenfalls mit, indem es beispielsweise Momente der Stille und des Nicht-Tuns ent-
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Am seidenen Faden
stehen lassen kann. Außerdem gibt es die Möglichkeit, schon mal Probe zu liegen in einem Sarg. Aber wie hast denn du, Heidi, die Aufführung erlebt? HS: Mich hat die Aufführung sehr berührt, und sie hat mich und meinen Mann, der dabei war, zu vielen nachfolgenden Gesprächen auch mit unseren Freund*innen angeregt. Sehr gut gefallen hat mir, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und der Umgang mit dem Wissen darum (statt der Verdrängung, die wir ja doch oft pflegen) ganz unpathetisch stattfinden konnte. Es gab so viele und vielfältige Gedanken, die man selbst verwerfen oder akzeptieren und weiterspinnen konnte. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Aufführung auch für Menschen, die gerade den Tod naher Freund*innen oder Verwandter erfahren haben, berührend und anregend ist und sie dabei unterstützt, eine Haltung zum Unbegreiflichen zu finden. Inhalt und Form sind in keiner Weise dogmatisch oder vereinnahmend oder belastend. Was ich nicht erwartet hatte, was mir aber sehr gut getan hat, waren Passagen, in denen ich mit den anderen laut und herzlich lachen konnte, wo der Humor das Beängstigende, das mit dem Thema Tod verbunden ist, hinwegblies und Leichtigkeit aufkommen ließ. Wie immer beim TdV gab es keinen peinlichen Zwang, sondern Freiwilligkeit und Spontaneität bei der Möglichkeit zum Mitmachen. Ich kann den Besuch aber auch denen empfehlen, die sich gar nicht so sehr persönlich, sondern eher abstrakt „philosophisch“ mit dem Thema Tod auseinandersetzen wollen. Der Veranstaltungsort und die Anwesenheit des Bestatters waren übrigens toll. Nun noch eine abschließende Frage: In verschiedenen Zusammenhängen habt ihr bereits erläutert, dass und inwiefern euer Angebot, das eine künstlerische Orientierung in wissenschaftlichen Arbeitsfeldern ermöglicht, auch eine Rolle spielt für das Forschende Lernen, das ja ein Profilmerkmal der Universität Bremen darstellt (z. B. in Huber et al. 2013; Schelhowe et al. 2015). Könntest du zum Schluss noch mal erläutern, wo du am Beispiel eurer neuen Inszenierung den Bezug zum Forschenden Lernen und euren Beitrag zur Profilbildung dieser Universität in der Lehre siehst? JH: Ich habe in meinen Andeutungen zum Probenprozess über die Untersuchung von und den differenzierten Umgang mit Atmosphären gesprochen. Dies ist ein Beispiel dafür, warum es Sinn macht, wissenschaftliche und praktisch-ästhetische Arbeitsweisen und Darstellungsformen miteinander zu verknüpfen. Erleben und Erkennen verbinden sich im Forschungsprozess. Nach der Dramaturgie- und Inszenierungsphase befinden wir uns zurzeit in der Aufführungs- bzw. Veröffentlichungsphase des fächerübergreifenden Projekts. Kooperierende wissenschaftliche Seminare nehmen an der Performance teil, wobei wir darauf achten, dass sich universitäres und außeruniversitäres Publikum mischt. So findet in diesem Rahmen unter anderem eine Zusammenarbeit mit dem Bremer Klinikum Mitte statt. Die gewonnenen Erfahrungen fließen dann in die entsprechenden Arbeitszusammenhänge zurück. Forschendes Lernen vollzieht sich hier also erstens als Recherche,
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Heidi Schelhowe im Dialog mit Jörg Holkenbrink
Erkundung, Exkursion zu einem selbstgewählten Thema. Zweitens im Übergang zur Konzeption der Performance, bei der alternative Szenarien entwickelt, erprobt und geprüft werden. Drittens während der Performance, als neue Erfahrungen generierender Transformationsprozess, dem sich Performer*innen und Teilnehmer*innen im Zusammenspiel gemeinsam aussetzen. Und schließlich nach der Performance, als Auswertung von Fragestellungen, mit denen Performer*innen und Zuschauer*innen die Performance aufgesucht haben, oder von Fragestellungen, die sich während der bzw. durch die Performance neu ergeben und an denen dann anschließend in den jeweiligen Kontexten weitergearbeitet wird. Zusammenfassend lässt sich vielleicht sagen: Das hier vorgestellte Projekt eröffnet die Möglichkeit, Zusammenhänge herstellen zu lernen.
Q uellen Huber, Ludwig; Kröger, Margot; Schelhowe, Heidi (Hg.) (2013): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen. Bielefeld: UVW. Schelhowe, Heidi; Schaumburg, Melanie; Jasper, Judith (Hg.) (2015): Teaching is touching the future. Academic teaching within and across disciplines. Bielefeld: UVW.
Schwesteeeeeeeeeeeern! Ich habe hier einen runden, bunten, gewundenen Faden gefunden. Er führt in eine kleine Welt, in ein klitzekleines Land, zu einem winzigen Raum. Hier ist ein dicker Knoten, ein chaotischer Fadenhaufen entstanden. Und sie laden uns, Schwesteeeeeern, ein. Sie laden das Schicksal zu sich ein ...
Protzig!
Schnickschnack!
Ach neeee! was!
Wirklich?
Praktisch!
Jaaaaa!
Ach
Weeeeebmaschine!
Nochmaaaal!
Weeeeebmaschine!
Die Regeln! Die Reeeeegeln!
Klingt simpel, oder?
Hatten wir schon! Nochmal!
Nochmal?
Nochmal!
Also gut. Nochmal.
Klingt doch gut, oder?
Du bist ein Schatten
am Tage
enter hjklmnahhttqulmnauplkmnuhiauaakkl delete change probability. und in der Nacht ein Licht
Du lebst in meiner Klage und stirbst
im Herzen nicht
1 neue Nachricht: Nur Einen Sommer gönnt ihr Gewaltigen Und einen Herbst zu reifem Gesange mir Daß williger mein Herz vom süßen Spiele gesättigt dann mir sterbe Die Seele der im Leben ihr göttlich Recht Nicht ward sie ruht auch drunten im Orkus nicht Doch ist mir einst das Heil’ge das am Herzen mit liegt das Gedicht gelungen Willkommen dann o Stille der Schattenwelt Zufrieden bin ich wenn auch mein Saitenspiel Mich nicht hinab geleitet Einmal Lebt ich wie Götter und mehr bedarfs nicht
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Anmerkung der Herausgeberinnen: Nacktheit provoziert niemanden mehr. Oder doch? Im Winter 2013/14 beauftragten die Bremer Museen Böttcherstraße das Theater der Versammlung, im Rahmen der Sonderausstellung „Sie. Selbst. Nackt.“ Rituale und Aktionen zur Stereotypisierung von Körperlichkeit zu befragen, zu erfinden und durchzuführen. Einen besonderen Part in dieser Inszenierung spielte der Wissenschaftsjournalist und Soziologe Thomas Kleinspehn. Fünf Thesen zum Sehen, die er angesichts des Wechselspiels von Performance und Ausstellung formulierte, wurden live in die Aufführungen integriert. Im Folgenden stellt er, ausgehend von seinen damaligen Überlegungen, weitergehende Gedanken zur Thematik vor.
Performance, Rituale, Wissenschaft und Sinne Notizen zum Sehen anlässlich der Performance-Abende des Theaters der Versammlung im Rahmen der Sonderausstellung „Sie. Selbst. Nackt. – Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt“ Thomas Kleinspehn
Eingeladen war ich, gemeinsam eine Brücke zu bauen. Es war mir klar, dass es nur eine Annäherung sein könnte – über eine schwankende Hängebrücke im tropischen Amazonas: Thesen zum Sehen für eine Performance des Theaters der Versamm-
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lung im Rahmen der Ausstellung zu Paula Modersohn-Becker und der Nacktheit im Museum Böttcherstraße in Bremen. Allerdings waren für mich von vornherein noch im Verborgenen auch die Bilder von Leonore Mau und in ihrem Gefolge Autoren wie Hubert Fichte, Georges Devereux, Hans-Jürgen Heinrichs, Daniel Miller, Clifford Geertz oder Philippe Descola – sie für viele andere1: So wurde es ein Versuch, sie über das ursprüngliche Thesenpapier hinaus ins Gespräch zu bringen. Sie alle produzieren Bilder, die bei mir jetzt wieder wach geworden sind in einer bescheidenen, aber auf ihre Weise großartigen Ausstellung zum 100. Geburtstag der Fotografin Leonore Mau, der Lebensgefährtin des Poeten und Ethnologen Hubert Fichte. In einer herrschaftlichen Villa mit knarrendem Gebälk und besseren Zeiten in der Vergangenheit, oberhalb der Elbe gelegen im Jenisch Park in Hamburg, waren Bilder des Eigenen und des Anderen zu sehen, von Trance und Tanz, von Märkten und Friedhöfen, sowie immer wieder europäische Großstädte (nicht zuletzt Hamburg) – kurz: von Ritualen des alltäglichen Lebens. Bilder, die nicht zuletzt nach dem Sehen und der Wahrnehmung fragen und es dem Betrachter kaum erlauben, sich zu entziehen. Verstärkt wird das Ganze noch von den überall aufblitzenden Texten Hubert Fichtes. Trotz vieler nackter Körper stellt sich hier kaum die Frage nach dem „Sinn“ von Nacktheit. Weil – wie wir bei Paula vermutet hatten – die Zeit zur Abgeklärtheit geführt hat oder weil der Blick doch ein anderer ist. Und Leonore Mau sehr genau von den Ausmaßen und Effekten des Voyeurismus weiß. Der Kontrast zwischen ihren Fotografien und den Bildern aus dem frühen 20. Jahrhundert könnte zu neuen Übergängen und Annäherungen führen. Sie dürften aber die Brücke, nach der ich suchte, nicht unbedingt stabiler machen. *** „Ich … habe eine Riesenlust an meiner Arbeit“, schrieb Paula Modersohn-Becker im Mai 1906 an ihre Freundin Martha Vogeler, „ich male Lebensgroße Akte … mit Gottvertrauen und Selbstvertrauen.“2 Die Worpsweder Künstlerin hatte in der Tat einen revolutionären Schritt getan: Zum ersten Mal hatte 1906 eine Malerin sich selbst nackt gemalt – ein entscheidender Markstein in der Kunstgeschichte, wie Verena Borgmann im Katalog zur Ausstellung „Sie. Selbst. Nackt“ im Museum Böttcherstraße in Bremen hervorhebt.3 Doch das ist in der Zeit keineswegs so selbstverständlich, wie das Paula in ihrem Brief suggeriert, und auch ihr betontes „Selbstvertrauen“ ist brüchig. Denn die Künstlerin kämpft mit den Normen ihrer 1 | Devereux, Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München 1976; Heinrichs, Hans-Jürgen, Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft, Reinbek 1996; Miller, Daniel, Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, Berlin 2010; Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 1983. 2 | Zit. in: Borgmann, Verena / Laukötter, Frank (Hg.), Sie. Selbst. Nackt. Paula ModersohnBecker und andere Künstlerinnen im Selbstakt, Ostfildern 2013, S. 36. 3 | Ebd., S. 8.
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Zeit, die Frauen lediglich als passive Bildobjekte und nicht als aktive und kreative Künstlerinnen anerkannte, die sich offen mit ihrem Körper auseinandersetzen können. Und Paula rang gerade am Ende ihres Lebens mit ihrer Weiblichkeit, ihrer Körperlichkeit und schließlich auch mit ihrer Fruchtbarkeit. Kurze Zeit später sollte sie schwanger werden und letztlich an den Folgen der Geburt 1907 auch sterben. Die Selbstakte, die sie in dieser Zeit gemalt hat, thematisieren ihre Suche und ihre Konflikte. Die Bilder stellen in keiner Weise – wie viele männliche Akte – ideale Körper und makellose Schönheit dar, sondern sind brüchig, nicht zuletzt auch als schwangere Körper. In ihrer Brüchigkeit kann man die Bilder mit Verena Borgmann zu Recht als lauten Widerspruch zur Männerwelt und Kritik an der gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen begreifen – gleichzeitig als Verbindung von Leben und Kunst. Diese Selbstakte von Paula Modersohn-Becker waren Ausgangspunkt einer Ausstellung, die 2013 in Bremen gezeigt wurde. Ihnen wurden Aktdarstellungen von Frauen gegenübergestellt, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute entstanden sind – als Gemälde, Fotografien, Performances und Videos. Sie stammten von Zeitgenossinnen Paula Modersohn-Beckers wie Imogen Cunningham, Gwen John oder Anne Brigman, oder waren Werke aus jüngster Zeit, z. B. von Yoko Ono, Louise Bourgeois oder Marina Abramović. Die Bilder mit ihren Provokationen hingen eng zusammen in den expressionistischen Museumsräumen der 20er Jahre in Bremen und ließen so den ZuschauerInnen nur wenig Platz für distanziertes Zurücktreten. Mit Nähe und Distanz spielte auch an drei Abenden das Theater der Versammlung. Die PerformerInnen integrierten in ihre Rituale und Aktionen inmitten der Ausstellung Briefe von Paula Modersohn-Becker sowie weitere Texte aus ihrer Zeit und aus der Gegenwart, die mit Erotik, Sexualität und Körperlichkeit zu tun hatten. Sie improvisierten über Körperlichkeit, ihre eigene und die fremde. Ein Thesenpapier, das ich aufgrund des Wechselspiels von Performance und Ausstellung erstellt hatte, leitete die Gespräche zwischen AkteurInnen und ZuschauerInnen im Anschluss ein: Eine verkopfte Annäherung an Paula in 5 Thesen zur Ausstellung „Sie. Selbst. Nackt. – Paula Modersohn-Becker und andere Künstlerinnen im Selbstakt“ (Bremen, Winter 2013/14) 1. Nacktheit provoziert niemanden mehr. Wir sehen nackte Körper allüberall. Dadurch kommen sie uns aber gerade nicht näher, sondern wir halten sie über das Auge – den distanzierten Sinn – von uns fern. Dazu haben unter anderem so gewichtige Bücher wie das Handbuch der Sexualwissenschaften beigetragen, geschrieben parallel zu Paulas Selbstbildnis von 1907. 4
4 | Albert Moll, Handbuch der Sexualwissenschaften, Leipzig 1912.
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Es gibt seit dem 17. Jahrhundert eine enge Verbindung zwischen der geschlechtsspezifischen Sexualisierung des Blicks und der Angst vor der Täuschung, dem Unbekannten und Unheimlichen. Sie geraten in die Ambivalenz zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Beide Ebenen zielen auf das Öffentlichmachen bzw. Kontrollieren des Imaginären, der Phantasie, was Michel Foucault im Zusammenhang mit dem verstärkten „Sprechen“ über Sexualität ab dem Absolutismus als „Geständniszwang“ bezeichnet hat. Wir sprechen, tun’s aber nicht! Die Privatisierung und das Geheimnis von Sexualität wäre dann nur die Kehrseite der Sichtbarmachung, der Fixierung durch den Blick. Auf den Körper und seine Teilbereiche reduziert, kann deshalb der Mensch als neutralisiertes Sexualobjekt erscheinen, der im wesentlichen Reize aussendet, auf die beliebig über das Auge reagiert und ebenso beliebig verzichtet werden kann. Wissenschaft bannt diesen Blick, oder anders gesagt: Wissenschaft ist auch – nicht nur – Teil der Angstabwehr. So ist es kein Zufall, dass sich mit Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert gleichzeitig die Pornografie entwickelt und sich detaillierte „anatomische“ Abbildungen in sexualwissenschaftlichen Handbüchern ausbreiten, wie die von Albert Moll, Emil Lucka, Max von Boehn und vielen anderen. So sprachen jene durchaus für ihre Zeit, die beide Buch-Gattungen auf den Index setzen wollten – Pornografie und Sexualwissenschaften („Honi soit qui mal y pense“). 2. Im Zuge des Vergesellschaftungsprozesses wird der Mensch immer stärker von der Einstellung und den Erwartungen anderer abhängig. Dabei verändert sich der Affekthaushalt grundlegend. Triebe, Körper insgesamt werden zunehmend tabuiert, das Auge dagegen aufgewertet. Durch die stärkere Betonung des Auges und die Individuierungsprozesse entsteht ein Geflecht von imaginären Bildern und Gegenbildern, die gesellschaftlich und individuell geprägt sind. In dieser für die Moderne spezifischen Form der Vergesellschaftung des Imaginären entwickelt sich jedoch keine Verbindung zwischen den distanzierten Bildern von anderen und sich selbst, beide vermitteln sich nicht. Von Goethes Dichtung und Wahrheit, über E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann bis hin zu Thomas Pynchon wird in der Literatur immer wieder beschrieben, dass sich Identität über ein in der Phantasie vorgeprägtes Bild und die Suche nach sich selbst im Spiegel-Bild herstellt: Frauen als ideale Spiegelbilder, die sich ohne Männer scheinbar auflösen. In diesen wie in vielen anderen von Männern geschriebenen Romanen werden die sexualisierten Phantasiebilder in der Wirklichkeit gesucht, nicht umgekehrt, dadurch wird die/ der Andere selbst zum Bild und erscheint nicht als reales lebendiges Gegenüber. – Die Bremer Ausstellung „Sie. Selbst. Nackt“ thematisiert in der Umkehrung den Kampf der Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts um ihre eigene körperliche Identität: Von Paula Modersohn-Beckers Aktmodellen über Louise Bourgeois’ Suche nach sich selbst in der Bildhauerei bis hin zu den konfrontativen Performances von Yoko Ono, Hannah Wilkes oder Marina Abramović kann man die Werke weiblicher Künstlerinnen als Reklamation der eigenen Lebendigkeit begreifen.
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3. Die moderne Struktur des männlichen Blicks ist so ambivalent: Er kündigt Besitzanspruch und Herrschaft an, ist aber so angstbesetzt, dass er zwar Ersatz für fleischliche Lust sein kann, zugleich jedoch abgewehrt werden muss. Das gilt insbesondere für eine Zeit wie das späte 18. und 19. Jahrhundert, wo der weibliche Körper nicht nur aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen, sondern als ganzer sexualisiert ist. Als ästhetische, sexuelle „Kategorie“ erscheint der weibliche Körper nur noch als Ding, dessen Begehren und Bedrohung aber noch unter der Maske erkennbar bleibt. 4. In der Überflutung von Bildern der Moderne nehmen wir immer mehr nur diffus zusammengesetzte Bilder auf, die uns (Männern wie Frauen) weitgehend fremd und von uns distanziert bleiben. Das ruft eine Struktur hervor, die kein einheitliches Bild des Selbst produziert, das auch emotional nachvollziehbar ist. Das Körper-Ich stellt sich wesentlich über das Sehen und die Sprache her, die Ebene des Handelns dagegen nimmt an Bedeutung ab. Die hiermit verbundene Symbolzerstörung macht das Ich besonders anfällig für gesellschaftlich vorgegebene Bilder, die eher zu unhistorischen Momentaufnahmen, zu stillgestellten Bildern werden und damit eigenes – womöglich gegenkulturelles – Handeln erschweren. 5 Mit seiner Inszenierung vor den Selbstakten Paula Modersohn-Beckers versuchte das Theater der Versammlung die Brüche bloßzulegen und die dahinter verborgene Lebendigkeit innerhalb der Ausstellung aufzuspüren: ein Wechselspiel zwischen Sehen, Voyeurismus und Erkenntnis. 5. Man könnte aber auch die gesamte Ausstellung als Versuch verstehen, diesen gesellschaftlichen Zuschreibungen zu entrinnen. Dass das nur selten gelingt, zeigt jedoch Paulas Biographie, ihr Scheitern und ihr Ende. Paula ModersohnBeckers künstlerisches Leben bestand – pointiert gesagt – im Wesentlichen in der Suche nach einem eigenständigen ästhetischen Ausdruck. Anders als bei vielen männlichen Künstlern ihrer Zeit geriet sie dabei immer wieder in Konflikt mit den Erwartungen und Normen ihrer Zeit und schließlich auch mit ihrer Körperlichkeit und ihrer Mutterrolle. Die Trennung von ihrem Mann, Otto Modersohn, und ihr Tod kurz nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde hat durchaus auch symbolischen Charakter.
Wissenschaft, Alltag und Angstabwehr „Wissenschaftliche Texte“, hatte ich 1975 geschrieben, froh, damit mein Studium beenden zu können, „vermitteln zumeist die Illusion, als stehe der betreffende Autor über dem Text, als können ‚objektiv‘ selbst noch so ‚subjektive‘ Situationen und 5 | Ich habe das vor mehr als 25 Jahren zu erfassen versucht: Kleinspehn, Thomas, Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek 1989.
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Strukturen analysiert werden. Kann es jedoch überhaupt solchermaßen ‚unpersönliche‘ Texte geben, kann man persönliche Erfahrungen aus der ‚Wissenschaft’ ausklammern und so tun, als sei nur das Instrumentarium, die Begriffe, die Methode entscheidend? S. 151 So sehr wissenschaftliche Erkenntnis zu einem kollektiven, vergesellschafteten Prozess geworden ist […], so sehr greift der Einzelne in diesem Prozess auf Erfahrungen zurück – bewusst oder unbewusst: In der Auswahl der Informationen, in der Selektion der Meinungen und vor allem in der Auswahl der Thematik selbst, die er behandelt.“6 Eine Fragestellung, die die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst oder Ästhetik erweitert, heute aber zugleich fraglich macht. Denn in einem Zeitalter des Postfaktischen und der Unsicherheit scheint das Spiel mit einer rationalen Theorie nur vermeintlich einen Ausweg zu ermöglichen. Solchermaßen in die Fänge versprachlichter Theorie geraten, reduziert sich Wirklichkeit auf Bilder, Schlaglichter mehr, die in den jeweiligen Moden nur irrlichtern. Alltägliche Wahrnehmung lässt deshalb kaum noch erahnen, was Marx vor über 150 Jahren in seinen „Thesen über Feuerbach“7 betont hatte: Wahrnehmung sei nicht eindimensional – in meinen Worten kein „flüchtiger Blick“ –, sondern nur als sinnlich vermittelte Praxis verstehbar. Erst so kann gesellschaftliche Entfremdung in den Blick geraten, jenseits von „richtig“ oder „falsch“, „ja“ oder „nein“ oder dem 0/1 des Computers: Entfremdung nicht mehr nur von einer Sache, sondern auch des Blickes auf die Sache selbst. Ein solcher Ansatz sprengt die herkömmliche Trennung von verdinglichter Gegenständlichkeit und der reinen Subjektivität. Interessant werden so jene Trennungen, die den Alltag bestimmen, und die Bedürfnis- und Triebstruktur des Einzelnen. Bedürfnisse werden in dieser Sichtweise gerade nicht substanziell gefasst, sie sind keine anthropologischen Konstanten, sondern historisch wandelbar. Das bedeutet aber zweierlei: Es können Widersprüche durch die Nichtbefriedigung von Bedürfnissen entstehen, andererseits können auch bewusst neue Bedürfnisse geschaffen werden (im Kapitalismus klassisch etwa durch Werbung). Die dialektische Bewegung zwischen Bedürfnis – Arbeit – Genuss, deren Bruch und deren Trennung, ist für den Kapitalismus konstitutiv. Die Arbeitsteilung der Moderne bedingt die Aufhebung der Einheit von Poiesis und Mimesis. Am sinnfälligsten wird diese Spaltung in der Trennung von Arbeit und Freizeit. Die Arbeit wird zur Mühsal, zur Qual, ihre mimetischen Seiten werden verdrängt. Andererseits werden Genuss, Ruhe, Muße, Ästhetik der freien Zeit zugeschrieben. Letztere wird aber von der Arbeit geprägt, da sie letztlich der Reproduktion der Arbeitskraft dient: ein Verhältnis, das von Kompensation und Brüchen bestimmt wird. Kunst, die sich mit diesen Brüchen auseinandersetzt, versteht sich als Kritik von Alltag und Entfremdung. Sie ist allerdings ambivalent, denn sie kann die Kompensation des Banalen sein, aber zugleich auch dessen Kritik. S. 113 Bei diesem
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6 | Kleinspehn, Thomas, Der verdrängte Alltag. Henri Lefèbvres Marxistische Kritik des Alltagslebens, Gießen 1975, S. 17. 7 | Marx, Karl, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW-Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1973.
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Eindringen von Kunst und Ästhetik in den Alltag begegnen wir dann wieder Paula Modersohn-Becker, Leonore Mau, Hubert Fichte und sicher auch dem Theater der Versammlung8. So ist – um aus der Vielfalt ein Beispiel herauszugreifen – Hubert Fichtes groß angelegte, aber unvollendet gebliebene Geschichte der Empfindlichkeit ein Versuch, gerade die Brüche, Trennungen und Spaltungen des Alltags zu beschreiben, sie schließlich mit dem Fremden, dem Anderen zu konfrontieren, um das Eigene besser zu begreifen. Schon Jäcki in der Palette ist ein sich ständig verwandelndes Ich, das sich gegen den Konformismus und die alltägliche Anpassung wehrt und dabei, wie Andreas Erb und Bernd Künzig betonen, den „gesellschaftlichen Kontext“ nicht „ausblendet“.9 „Was er trinkt, schmeckt er währenddessen. Er riecht: Gerüche in Gerüchen, Bier in Korn in Petra in Schnee in Unterhosen in Samen in Teer in Rauch, schmeckt er Bier in Rauch, hört er Wörter in Wörtern, deutsche Wörter in der französischen Bitte um Fric in der deutschen Bitte um ein Bier in der deutschen Bitte um eine Miese, um einen Zwoling, hört er deutsche Geschichten in deutschen Geschichten, die Geschichte von der Bierflasche, die eine Schulter auftrennt in der Geschichte: Ich bin ein kleiner Vagabund! Vor der Sitte …“.10 In der Palette trägt Fichte sein Material zusammen, seine Beobachtungen und Wahrnehmungen, die alle Sinne betreffen. Er collagiert und konfrontiert und legt damit Widersprüche offen, ohne eine explizite Theorie zu formulieren. Diese Methode, die er später noch ausweiten sollte, ist dem Dadaismus ebenso verpflichtet wie kulturrevolutionären Alltagstheorien.
Lesarten des Wirklichen „Das erste Bild von dem er mir erzählte, ist das von drei Kindern in einer Straße in Island 1965. Er sagte mir, das sei für ihn ein Bild von Glück und auch dass er es mehrmals versucht hätte, mit anderen Bildern zu assoziieren. Aber das sei nie gelungen. Er schrieb mir: Ich muss es eines Tages ganz an den Anfang eines Films setzen und danach Schwarzfilm. Wenn man das Glück im Bild nicht gesehen hat, wird man wenigstens das Schwarz sehen. Er liebte die Zerbrechlichkeit dieser flüchtigen Momente, die zu nichts anderem gedient hatten, als eben Erinnerung zu hinterlassen.“11 So beginnt der 1982 entstandene Film Ohne Sonne des französischen Dokumentarfilmers Chris Marker. Bilder tauchen auf und verschwinden. 8 | Holkenbrink, Jörg, Performance Studies: Alles eine Frage der Zeit. Forschendes Lernen mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst, in: Ludwig Huber, Margot Kröger, Heidi Schelhowe (Hg.): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen, Bielefeld 2013, S. 105–121. 9 | Erb, Andreas / Künzig, Bernd, „Ein Hymnus des Materials“. Pop und Pop-Art der Armen in Hubert Fichtes Roman Die Palette, in: Text + Kritik, Sonderband X/03, S. 121. 10 | Fichte, Hubert, Die Palette, Reinbek 1968, S. 10. 11 | Chris Marker, Sans Soleil – Ohne Sonne, Frankreich 1982.
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Aber die Stimme aus dem Off erklingt weiter. Man sieht Menschen auf den Straßen, bei rituellen Festen, in der Kneipe und in ihren Häusern, Bilder von Autos und Maschinen, Bilder von Zerstörung, Elend oder von Glück. Sie erscheinen und mischen sich mit Bildern des Betrachters, werden zu seinem eigenen Film. Für den Frankfurter Ethnologen und Schriftsteller Hans-Jürgen Heinrichs steht Chris Markers Film an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher und literarisch-filmischer Betrachtung der Wirklichkeit. Deshalb behandelt er dieses gelungene Beispiel eines ethnologischen Films an zentraler Stelle in seinem Buch Erzählte Welt – ein gutes Beispiel zugleich für das Verhältnis von Wahrnehmung, Wissenschaft und Ästhetik.12 Denn in unendlichen Bildern erzählt Ohne Sonne kurze Geschichten, hält Eindrücke fest, wirft Blitzlichter. Aber der Film bildet keine Wirklichkeit ab. Vielmehr schafft er mit seiner Ästhetik, mit seinem Anknüpfen an Erinnerungen und Assoziationen eine eigene Realität. Um dieses Erinnern und Erzählen geht es Hans-Jürgen Heinrichs. Er fragt danach, wie in Literatur, Film und Wissenschaft Wirklichkeit verarbeitet wird. Gibt es tatsächlich nur jeweils eine Lesart des Wirklichen oder doch nur eine des jeweiligen Autors oder Wissenschaftlers? Und gibt es umgekehrt diesen Autor als fest umrissenen Block wirklich, wie man sich seit der Aufklärung gewöhnt hat, vom autonomen geschlossenen Ich zu sprechen? Das Ich des Beobachters ist für Heinrichs vielmehr etwas Provisorisches, ein „Echowort“, das sich im Prozess von Erkenntnis selbst erst herstellt, wie es im Film die Wirklichkeit des Filmemachers Chris Marker und die Wirklichkeiten des Filmzuschauers gibt.
Bilder und genaue Beschreibung Eine Vielfalt von unterschiedlichen Beispielen und doch erkennbare Verbindungslinien, Brücken eben, die ausprobiert werden können. Entscheidend ist bei Paula, Leonore Mau, Hubert Fichte, Hans-Jürgen Heinrichs, Chris Marker oder dem Theater der Versammlung, die hier nur exemplarisch angeführt werden, das genaue Beobachten, sei es in einem Ausschnitt, dem vermutlich Ganzen, der Collage. So wie sich die Bilder der Schamanen in Haiti ganz anders ausnehmen als im Jenisch-Park in Hamburg, verwandeln sich Bilder in Zeit und Raum – ein immerwährender Lernprozess und dichte Beschreibung zugleich. Das gilt für Rituale gleichermaßen wie für viele Performances. Die Subjektivität des Forschers einzubringen, ist hier eher die Stärke des Ansatzes als seine Schwäche. Erst wenn BeobachterInnen sich selbst im Spiegel sehen, wenn sie es zulassen, dass ihnen von fremden Kulturen etwas zurückgespiegelt wird, erst dann können sie Störungen und Irritationen im Forschungsprozess 12 | Heinrichs, Hans-Jürgen, Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft, Reinbek 1996.
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zumindest mit einbeziehen, im günstigsten Fall produktiv umsetzen. Je subjektiver ich schreibe, sagt der Dichter und Ethnologe Michel Leiris, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ich eine von mir unabhängige Wahrheit treffe. Ein solcher subjektiver Ansatz nimmt über die kritische Ethnologie hinaus Anleihen bei der Psychoanalyse, der Ethnopoesie eines Hubert Fichte oder dem Film. Besonders Filme wie die von Chris Marker haben es vergleichsweise einfacher als wissenschaftliche Arbeiten. Denn sie können verschiedene Ebenen der Wirklichkeit collagieren, Bilder ineinander schieben oder mit dem Ton kontrastieren und dabei die Heterogenität sichtbar werden lassen. Aber auch der Wissenschaftler kann die von ihm selbst erzeugte Fremdheit und Irritation vermitteln, indem er seine Emotionalität stets mit thematisiert, im Schreibprozess die Zersplitterung des eigenen Ichs zulässt und einbezieht. Ein Schreiben, das sich des Endes der Repräsentation bewusst ist und sich zwischen Ethnologie, Poesie und Film bewegt. Vielleicht hatte der multiple Künstler E.T.A. Hoffmann schon vor 200 Jahren (20 Jahre vor Marx’ Feuerbach-Thesen) eine Ahnung von diesen Zusammenhängen, wenn er seinen Vetter, mit dem er in Berlin voyeuristisch von seinem Balkon auf das muntere Treiben der Straße blickte, direkt, ohne Fotoapparat oder Smartphone, versuchte zu instruieren: „Auf Vetter! Ich will sehen, ob ich dir nicht wenigstens die Primizien der Kunst zu schauen beibringen kann.“13
Q uellen Borgmann, Verena/Laukötter, Frank (Hg.): Sie. Selbst. Nackt. Paula ModersohnBecker und andere Künstlerinnen im Selbstakt. Ostfildern 2013. Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München 1976. Diers, Michael: Vor aller Augen. Studien zu Kunst, Bild und Politik. Paderborn 2016. Erb, Andreas/Künzig, Bernd: „Ein Hymnus des Materials“. Pop und Pop-Art der Armen in Hubert Fichtes Roman „Die Palette“, in Arnold, Heinz-Ludwig (Hg.): Text+Kritik, Sonderband Pop-Literatur. Münschen 2003. Fichte, Hubert: Die Palette. Reinbek 1968.
13 | Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus, Letzte Erzählungen, Berlin/Weimar 1983. Genau auf dieses Zitat greift auch Michael Diers zurück in seiner bemerkenswerten Studie: Diers, Michael, Vor aller Augen. Studien zu Kunst, Bild und Politik, Paderborn 2016, um sein Buch mit einem programmatischen Abschnitt zu beenden: „Beschreiben als Methode“, S. 301 ff.
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Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1983. Holkenbrink, Jörg, Performance Studies: Alles eine Frage der Zeit. Forschendes Lernen mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst, in: Ludwig Huber, Margot Kröger, Heidi Schelhowe (Hg.): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen. Bielefeld 2013, S. 105–121. Heinrichs, Hans-Jürgen: Erzählte Welt. Lesarten der Wirklichkeit in Geschichte, Kunst und Wissenschaft. Reinbek 1996. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Letzte Erzählungen. Berlin/Weimar 1983. Kleinspehn, Thomas: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek 1989. Kleinspehn, Thomas: Der verdrängte Alltag. Henri Lefèbvres Marxistische Kritik des Alltagslebens. Gießen 1975. Marker, Chris: Sans Soleil – Ohne Sonne. Argos Films, Frankreich 1982. Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW-Ergänzungsband, Erster Teil. Berlin 1973. Miller, Daniel: Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute. Berlin 2010. Moll, Albert: Handbuch der Sexualwissenschaften. Leipzig 1912.
Anmerkung der Herausgeberinnen: Unter dem Titel „Kopfsprünge“ erforscht das TdV-Ensemble neue Gesprächsund Verständigungsformen über Performances mit den Mitteln von Performances. Ziel solcher Nach(t)gespräche ist es, im Anschluss an Vorstellungen eine neue Gesprächskultur zu initiieren, die das sinnlich Erlebte in den Mittelpunkt eines wechselseitigen Resonanzraums zwischen Künstlern und ihrem Publikum stellt. Über steptext: steptext dance project produziert und präsentiert zeitgenössischen Tanz in Bremen und in weltumspannenden Kooperationen. Unter der Leitung des Choreografen Helge Letonja wächst seit über 20 Jahren ein Netz lebendiger Verbindungen in die internationale Tanzlandschaft sowie die lokale Gesellschaft mit dem Fokus, relevante künstlerische Positionen zu entwickeln und die Tanzkunst in vielfältigen Interaktionen zu stärken. Helge Letonjas international produzierten und präsentierten Tanzstücke sind inspiriert vom Austausch zwischen Akteuren, Künsten und Kulturen und vermessen Räume zwischen gesellschaftlichen Realitäten und künstlerischer Vision.
Tanz der Erinnerung Performative Nach(t)gespräche des Theaters der Versammlung als Schlüssel zum leiblichen Verstehen im Tanz Anke Euler & Helge Letonja
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Anke Euler & Helge Letonja
Anke Euler: Nachgespräche zu Tanzstücken sind oft eine Herausforderung. Wenn ein Tanzstück auf abstrahierten Bewegungen und physischen Narrationen basiert, keine konkrete Handlung verfolgt, fehlen Begriffe und eine gemeinsame Sprache. Die Nach(t)gespräche des Theaters der Versammlung sollen an diesem Punkt eine Brücke schlagen, um mit dem Publikum in einen Dialog über die Aufführung zu treten. Was ist dir in Erinnerung geblieben von dem ersten performativen Nach(t)gespräch mit dem Theater der Versammlung nach dem Stück THE DESERT1 2013? Welche Bilder hast du noch im Kopf, wenn du die Augen schließt? Helge Letonja: Ich erinnere mich sehr gut daran. Ich sehe einen großen Kreis, viele Zuschauer_innen sitzen auf Stühlen im Bühnenraum, einige haben die Augen geschlossen und erinnern sich. S. 176/187/209 Als Künstler interessiert mich, welche Eindrücke sich in die Erinnerung der Zuschauer einschreiben. Wie erreicht die Arbeit das Publikum und was bleibt davon im Gedächtnis? Welche Eindrücke, Gefühle, Bilder sind nahe an unseren Vorstellungen, und wo lassen die Zuschauer_innen ihren persönlichen Interpretationen Lauf und finden ihre eigenen Bilder. Mich hat überrascht, wie kreativ Bilder und Vorgänge beschrieben wurden. Das Besondere daran: Die geschilderten Eindrücke sind ungefilterte Beschreibungen der Zuschauer_innen, die auf ihre persönliche Wahrnehmung und ihr eigenes Empfinden verweisen. Es gibt keine Deutungshoheit der Künstler_innen. Es wird ein wertfreier Raum für Interpretation geschaffen – eine offene und kreative Ausgangsposition zum Diskurs. Man kann einfach erst einmal nur zuhören und fragen: Was habe ich gesehen, was habe ich mitgenommen, welche Bilder sind in mir, welches Bild hat sich eingeprägt? Diese Form des Beschreibens eröffnet Zugänge zur Wahrnehmungswelt der Rezipienten, und die dabei entstehenden Gedankensprünge beruhen auf Interaktion. Alle erinnern persönlich, jeder für sich, aber eben auch alle gleichzeitig und miteinander. S. 146 Verstärkt wird das Erinnern dadurch, dass das Gespräch im Aufführungsraum stattfindet, im besten Fall, wie nach THE DESERT, auf der Bühne, wo gerade noch die Tänzer_innen getanzt haben. Der Raum ist noch erfüllt von der Atmosphäre der Ereignisse. Die Energie der Aufführung wirkt im Raum nach. Ich denke, das Erinnern steht deshalb stark in Resonanz zum gerade Erlebten. Die Eindrücke werden vertieft, indem sie ausgesprochen werden.
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1 | THE DESERT ist der dritte und abschließende Teil von Helge Letonjas Trilogie DisPlacing Future, die das Thema der Migrationsbewegungen und des gesellschaftlichen Wandels aufgreift. Nach dem Aufbruch in THE BOG FOREST und dem Unterwegssein in THE DRIFT blickt THE DESERT in die Spielräume des Ungewissen nach der Ankunft am neuen Ort. In der sinnbildlichen Wüste zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht fügen die fünf Tänzer_innen Fragmente und Impulse zu beweglichen Skizzen, entdecken, verlieren, versuchen Verbindungen. Kurze Phrasen, Eruptionen schleudernder Gelenke, ein Atmen oder Lächeln mäandern durch sinneswache Körper. Jede Figur, Konstellation, Interpretation zerfällt in die nächste. Aus dem Spiel der Aneignungen im Babylon kommunikativer Codes erwächst ein surrealer Kosmos.
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AE: Ich finde dieses Format der Reflexion gerade für die Tanzkunst sehr hilfreich. Der visuelle Kanal des Gegenwärtigen wird – Augen zu – ausgeknipst, um sich auf den eigenen Körper und seine Erinnerung zu konzentrieren. Denn Erinnerung ist leiblich – nicht nur, wenn man gerade Tanz angeschaut hat. Dieser Zugang über die sinnliche Erinnerung wirkt, wie du sagst, der Zensur der eigenen Gedanken entgegen. Das sinnliche, physische Erinnern ist fragmentarisch, man muss es geschehen lassen. Oft verhindert womöglich das Sprechen über die Bilder der Künstler_innen in herkömmlichen Nachgesprächen genau dieses Entstehen von Erinnerungsbildern der Zuschauer_innen aus dem eigenen Körper heraus. Und ein weiteres Prinzip, das du beschreibst: Erinnerung ist ansteckend. Die verbalisierten Erinnerungen der fünf exponierten Zuschauer_innen lösen untereinander und auch bei den Zuhörenden Erinnerungen aus: Ein Prozess des Sammelns, Ergänzens, Abgleichens beginnt. Ich denke, das ist der Prozess, der bereits mit den Künstler_innen im Probenraum begonnen hat und nun hier fortdauert oder fortgeführt wird mit weiteren Teilnehmer_innen. Einsichtig wird, dass ein Kunstwerk nie zu Ende ist, nie fertig, sondern immer noch über die Aufführung hinaus ein stetiger Prozess aller Beteiligten bleibt. Und das Erinnern wird hier zum performativen Akt, der darauf verweist, dass die Zuschauer_innen und ihre Aufmerksamkeit ein Teil der Performance sind. Die Situation dieses Nachgesprächs macht eine gewisse Mitgestaltung des Aufführungsaktes durch die Zuschauer_innen deutlich, eine gewisse Art des aktiven Beobachtens, die Theater herstellt. Denkst du, es bleibt vom Tanzerlebnis mehr in Erinnerung, wenn man diesen Prozess des performativen Nachgesprächs durchlebt? HL: Das Publikum verinnerlicht die Eindrücke erneut, verknüpft sie und besitzt sie somit noch auf eine andere Art. Genau wie in der künstlerischen Arbeit – durch Wiederholung, Ergänzung und Reflexion – verfestigen sich Eindrücke oder führen zu neuen Erkenntnissen. Verbunden mit Gefühlen werden diese zu Positionen und Haltungen. In den Kopfsprüngen entstehen im besten Fall aus der eigenen Wahrnehmung und den beschriebenen Bildern der Reflektierenden neue sinnliche Eindrücke. Eigen- und Fremdwahrnehmung setzen sich in ein kreatives Verhältnis. Wichtiger Aspekt dabei ist, dass die Beteiligten ihre Bilder ungefiltert mitteilen. Im aktiven Prozess finden die Zuschauer heraus, ob sie dasselbe gesehen haben wie die performativ Erinnernden. Eindrücke werden verglichen und ergänzt. Es gibt viele Lesarten eines Kunstwerkes und die Zuschauer haben immer die Freiheit zu eigenen Interpretationen. AE: Deutlich wird auch, dass Wahrnehmung immer gefiltert wird und selektiv ist, da der Einzelne immer nur Teile des Ganzen beschreiben kann, durchaus auch mal andere Dinge gesehen haben mag, als für die Tänzer_innen stattgefunden haben, manche Aspekte gar nicht wahrgenommen hat oder neue Perspektiven einbringt, die uns als Produzenten so nicht bewusst waren.
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HL: Beim Nachgespräch zu THE DESERT gab es viele deckungsgleiche Eindrücke. Erstaunt war ich über die Bilder, die diese Arbeit bei den Zuschauer_innen auslöste, und wie emotional aufgeladen diese waren. Die Choreografie von THE DESERT fußt auf unserer physischen Recherche zu Emotionen, ihrem Ursprung und ihrer Unterdrückung. Insbesondere, wie sich diese in einem gesellschaftlichen Zwischenraum – dem Ankommen von Geflüchteten in einem neuen Kulturkreis – geprägt von Nicht-mehr und Noch-nicht verändern und manifestieren. Im Probenprozess haben wir intensiv geforscht, wie Emotionen zum Ursprung von Bewegung und Choreografie werden. Daher, denke ich, spricht das Stück die Zuschauer auf emotionaler Ebene an. Sie beschrieben Gefühle und Beziehungen der Figuren zueinander, erinnerten sich an Gesten, Klänge, Berührungen. Ihrer Erinnerung fügten sie eigene Gefühle und Perspektiven hinzu. Das Bild, in dem den Gestrandeten auf der Bühne der Boden unter den Füßen weggezogen wird, hatte sich bei vielen nachhaltig eingeprägt und Empathie für die instabile Situation von Geflüchteten erzeugt. AE: Wir haben das Format dann 2016 zu ZWEI GIRAFFEN TANZEN TANGO – BREMER SCHRITTE2 wieder eingeladen. Was erinnerst du von dem zweiten Gespräch? HL: Im Theater Bremen war die räumliche Situation eine andere. Einige Zuschauer_innen saßen mit uns auf der Bühne, andere blieben auf den Stühlen im Zuschauerraum. Dadurch wurde der Reflexionsraum geteilt. Spürbar war, dass diese Teilung unterschiedliche Ebenen des Mitteilens bewirkte. Einzelne Redebeiträge der im Zuschauerraum verbliebenen Teilnehmer_innen entsprangen der Haltung eines Beobachters/einer Beobachterin, der/die den performativen Akt kommentiert. Erstaunlich, wie in diesem Fall die räumliche Anordnung die Ebenen der Beteiligung sowie Perspektive auf den performativen Akt prägte. Interessanterweise haben die Zuschauer beim Nach(t)gespräch zu ZWEI GIRAFFEN TANZEN TANGO – BREMER SCHRITTE detailgenau Figuren und ihre freie Assoziation dazu beschrieben. Die besonders markanten Kostüme gaben in ihrer Form und Abstraktion Spielraum für Fantasie und Anreiz zur Interpretati2 | ZWEI GIRAFFEN TANZEN TANGO – BREMER SCHRITTE. Ein TANZFONDS ERBE Projekt: Der erste Teil des Titels stammt von Gerhard Bohner aus dem Jahr 1980 und weist ins Absurde, seine Ergänzung beschreibt Helge Letonjas eigenes 20-jähriges Wirken in der Tanzstadt Bremen: Mit ZWEI GIRAFFEN TANZEN TANGO – BREMER SCHRITTE unternimmt der Choreograf 2016 die künstlerische Befragung von Gerhard Bohners Ensemblestück als schöpferischen Dialog mit der Tanzgeschichte. 36 Jahre liegen zwischen dem Werk des einen und dem des anderen [oder: zwischen beiden Werken]. Die „Schritte“ der aktuellen Produktion entwerfen ihr Vorwärts im Hier und Jetzt. Die historische Bremer Pionierphase des deutschen Tanztheaters ebenso wie das Morgen im Blick, sucht Letonja nach Fortentwicklungen: Bohners Sujets, das Absurde, die Verhältnisse zwischen Individuen und Stereotypen, Lebendigem und Totem, Kunstfigur und Mensch – wie tanzen sie heute?
Tanz der Erinnerung
on. Zum Beispiel waren die weiß gekleideten kopflosen Wesen für einen Zuschauer Imker, für andere Grenzbeamte. AE: Ich erinnere, es gab sehr detailgenaue Beobachtungen. Zum Beispiel: Am Rand der Bühne stehen zwei Schuhe. HL: Die Unterschiedlichkeit der beiden Stücke wurde eben auch in den jeweils dazu geführten Nachgesprächen deutlich. Die Bilder von ZWEI GIRAFFEN … beschrieben die Teilnehmer_innen mit erstaunlichen Erinnerungen an Details: der Wechsel von Musik, die räumliche Konstellation der Choreografie, von welcher Seite die Tänzer_innen auftraten, wie das Licht den Raum veränderte. Sehr oft wurden Linien und das Bild von Sinuskurven, die durch von den Tänzer_innen geschwungene Kabel entstanden, genannt. Es gab aber auch Anmerkungen wie: „Auf einmal tauchte da ein großer Hut auf. Ich war ganz überrascht.“ oder „Ich war so auf die Szene konzentriert und habe nicht gesehen, wann der/die Tänzer_in aufgetreten ist. Auf einmal war er/sie da.“ AE: Wir haben uns im Probenprozess mehr mit der Frage nach der Form, nach den bewegten Linien der Bewegung im Raum beschäftigt, und so wurde vermutlich auch die Wahrnehmung der Zuschauer_innen auf die Form gelenkt und für Details geschärft. HL: Auch die Autorenschaft ist eine andere. So gesehen handelt es sich bei ZWEI GIRAFFEN… um zwei Choreografen. Das rekonstruierte Original ist von Gerhard Bohner, dazu kommt eine von mir choreografierte künstlerische Antwort. Die Zuschauer treffen auf zwei choreografische Sprachen, wobei ich auf Bohner Bezug nehme, seine Arbeit weiterdenke und in die Gegenwart überführe. Das Stück spielt in einem weißen Bühnenraum. Wie in einem Ausstellungsraum wird der Blick für das Werk und die Formen darin geschärft. Bohners Gespür für Geometrie und die Präzision seiner Formensprache führen zu einem intensiven Raumempfinden. Die dadaistischen Figuren, wie die mit dem überdimensionierten Hut, brechen und verzerren diese Formensprache und öffnen skurrile Interpretationsfelder. Kontraste, Widersprüche und Divergenzen sind Teil der Dramaturgie. Von einem anfangs in schwarzen Kleidern tanzendem Ensemble fächert sich das Kostümbild auf, wird farbig und einzelne Figuren kommen zum Vorschein. Anubis mit Goldmaske tanzt mit einer Ballerina im knallroten Tutu. Das Geschehen wird begleitet und inspiriert von einer Muse, gekleidet in einem fuchsia-schimmernden Kleid aus tausend Schlaufen, die ebenso farbige Linien aus ihrem Mund gebiert. THE DESERT entfaltet sich in vielschichtigen transkulturellen Räumen und Bildern. Unterschiedliche Kulturen, Körper und kulturelle Codes treffen aufeinander. Hybride Wesen bevölkern die Bühne. Sie tragen Hasenmasken und sind in
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Zebrakostüme gekleidet. Die Uniformierung verstärkt die Körperlichkeit der Einzelnen und hebt paradoxerweise den persönlichen Bewegungsduktus hervor. So schreiben sich die Stücke in ihrer Unterschiedlichkeit in den Erinnerungen der Zuschauer_innen fort: Mit welchen Mitteln wurde künstlerisch gearbeitet? Ist die Umsetzung abstrakt oder konkret? Handelt es sich um ein Tanzstück, das auf Narration baut, oder um eine choreografische Arbeit, die Bewegung und sinnliche Eindrücke in den Vordergrund stellt? Was wird verhandelt, und worauf lenkt die Inszenierung ihren Fokus? AE: Und jeder der anwesenden Körper wird sowieso andere Aspekte erinnern und aufrufen. Die eine fokussiert die Körpersprache, der andere das Kostüm, eine erfasst den Raum, der nächste hat vielleicht ein scheinbar nebensächliches Detail im Kopf, manche erinnern das emotionale Geschehen, andere die Form. So scheinen während des performativen Erinnerns die verschiedenen Ebenen der Inszenierung auf. Gleichzeitig bemerkt man, an wie viele Details man sich selbst erinnern kann, sobald sie jemand anders ausspricht. So entsteht wohl auch Geschichtsschreibung. Erinnerung, Reflexion gestaltet sich als sozialer, kollektiver Aushandlungsprozess. Diskurs (von discursus) bedeutet im ursprünglichen Wortsinn etwa „umherlaufen“: Gemeinsam wandelt man in den kollektiven Erinnerungssprüngen, die von einem zum anderen wandern, eines durch das andere ausgelöst, eben nicht chronologisch, sondern wie ein Tanz der Erinnerungen, der immer neue Anknüpfungspunkte findet. Ein Puzzle der Erinnerungsfragmente, genau so, wie im Probenraum aus Einzelteilen das Tanzstück entwickelt wird. Im Gestaltungsraum der Proben sollte man ebenfalls nicht alles kontrollieren wollen, denn die dichtesten Momente entstehen immer dann, wenn man nicht kognitiv analytisch erfasst, sondern die Tänzerkörper gemeinsam assoziieren. Ich sehe da Parallelen zu unserer Arbeit. Die Körper der Tänzer_innen und des Choreografen erforschen ein Themenfeld, entwickeln Material, wiederholen es, variieren es, etwas findet Form, eine Geste, eine Bewegung, eine Sequenz. Erst danach gibt man dem Bewegungsmaterial Worte, gibt ihm Namen, um es am nächsten Tag wieder aufrufen und weiter bearbeiten zu können. So entstehen als eine gemeinsame Erinnerung, Sammlung, Ordnung und Annäherung an die spontanen Probenmomente nach und nach die Bausteine für das Tanzstück. Füttern muss man die Körper im Probenraum dazu selbstverständlich mit Bildern, Gedanken, Texten, damit sie verdauen können und transformieren, umwandeln und kreieren. Danach gilt es, dem gemeinsamen intuitiven künstlerischen Prozess Raum zu lassen. HL: Es geht in beiden Prozessen um das Physische und Sinnliche und um das gemeinsame Denken und Erleben darin: Es wird ein künstlerischer Reflexionsraum geschaffen – im Probenraum mit den Künstler_innen und im Theater mit dem Publikum. Essentiell ist die Interaktion mit dem Gegenüber.
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Die Tanzkünstler_innen kommunizieren auf der Bühne mit und durch ihre Körper. Die Zuschauer_innen drücken sich in den „performativen Nach(t)gesprächen“ durch ihre Körpererinnerung und ihre Bilder aus. Der Körper verbindet – in der Reflexion wie in der Aufführung. Der Aufführungsraum wird zum Reflexionsraum, in dem dieser Prozess noch einmal stattfindet. Beides sind Verständigungsprozesse. S. 85 Ich schätze sehr daran, dass die Zuschauer_innen bei diesem Nachgesprächsformat nicht bewerten, genauso wie wir Künstler_innen die Beiträge des Publikums nicht bewerten. Wir bewegen uns in einem assoziativen Verständigungsgespräch aufeinander zu. Dabei kulturell geprägte Sichtweisen zu erkennen und zu überwinden, und vielfältige transkulturelle Begegnungen zu ermöglichen, ist mir ein großes Anliegen.
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AE: Und das ist etwas, das der Körper einem beibringen kann: Der Körper ist universell. Und er ist Ursprung der Kreativität. Die kann dann entstehen oder sich ereignen, wenn man den Körper forschen, assoziieren, Gedankensprünge vollziehen lässt – wie beim performativen Erinnern. Eine Bewegung wird ebenfalls tiefer erfasst, indem man sie wiederholt und dann den Impulsen folgt, die sich ergeben. Wie eine Erinnerung der anderen folgt. Ähnlich kreativ ist der Körper im Traum, ähnlich assoziativ denkt er im Tanz, ähnlich von der Intelligenz seiner Physis geleitet entwickelt er im Idealfall im Probenraum. Ich glaube, das Theater der Versammlung schlägt ganz gut diese Brücke zwischen den Prozessen bei uns und den wahrnehmenden Körpern. HL: Es geht um Austausch und Mitteilung, etwas miteinander zu teilen in einem kreativen oder künstlerischen Prozess. Die Formate des Theaters der Versammlung verbinden Theater, Wissenschaft und Gesellschaft und öffnen in zahlreichen Interaktionen verschiedenste Wirkungsfelder. Die Akteure erfinden Formen, um unmittelbar auf Menschen zuzugehen. Sie laden uns ein zum Querdenken, zum Hinterfragen. Und: Das gemeinsame Reflektieren und Kommunizieren in diesem Format begeistert und vermittelt, was Theater bewirken kann. Deutlich wird, die Theater- und Tanzkunst schafft einen gemeinschaftlichen Reflexions- und Mitteilungsraum für die Fragen unserer Zeit. Menschen unterschiedlichster Kulturen treffen aufeinander, aus verschiedenen Bildungsschichten und mit diversen Zugängen zur Kunst. In ihrer primären Wahrnehmung sind sie sich ähnlich, es gibt Grundlagen, Grundspiegelungen des Körpers, die alle haben. AE: Im Grunde ist ja erst der Schritt nach der Wahrnehmung der analytisch trennende, die Interpretationen der Wahrnehmungen sind individuell oder kulturell geprägt, subjektiv oder kollektiv. Aber die Körper haben das gleiche biologische System. Die Körper der Zuschauer_innen eines Tanzstückes waren Beobachter_innen, Beiwohner_innen und Zeug_innen, die das Erlebte neuronal gespiegelt haben und im Anschluss verdauen möchten. Da ihre Körper nicht mitgetanzt haben, sind
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sie voll von physischen Energien und Erinnerungsbildern, die sie dann in Sprache fassen. Dabei kann man entdecken, wie kreativ man auch mit der Sprache sein kann und wie das Erinnern, das Denken in uns tanzt.
Anmerkung der Herausgeberinnen:
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Der Komponist Joachim Heintz S. 175/184 ist auch Titelheld beim SPEISEN MIT DEM MENSCHENFEIND. Unter diesem Lockruf präsentiert das Theater der Versammlung eine Neubetrachtung des Misanthrope von Molière. In ausgewählten Restaurants nimmt das Publikum an kulinarischen Club-Partys teil. Inszeniert werden die feinen Unterschiede1, es geht um High-Potentials, Low-Potentials, Ethik und EssThetik – und natürlich um die Frage nach der eigenen Gesellschaftsfähigkeit.
speisen mit dem menschenfeind erinnerung an eine produktion ‣ S. 202 joachim heintz
wechselspiel, stühlerücken, manni in hochform, der hut, lachen, probieren, können wir hier denn dies, es ist ja alles anders, hier ist ja alles anders. setz du dich doch mal hier hin, und hier, nein, warte, einen tisch weiter, wie sieht das aus, wie ist die verteilung, als ganzes. das al dente, das früher ich weiss nicht mehr wie hieß, jörgs stammlokal eigentlich, er wollte schon immer mal eine aufführung hier machen, zusammen essen, und bei dem essen entwickelt sich die aktion, unmerklich, keine feste grenze zwischen spielern und publikum, sagt er. speisen mit dem menschenfeind, wer ist der menschenfeind, frage ich, mit musik übrigens, sagt er, willst du nicht die musik machen. damen wechseln die positionen, damen drehen die mühle, gut gezielte stiche, treffsichere herabsetzungen, lächelnd, der tanz als kampf, der
1 | Vgl. Pierre Bourdieu (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt: Suhrkamp.
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kampf als tanz, bis in großem schwung der kreis aufbricht, und, ich wollte lange schon, sagt arsinoé. anna findet für jeden bei der begrüßung einen passenden spruch, ausstellen und bloßstellen, immer dezent, der hat sein fett, aber mit einem lacher, es ist zu schnell vorbei, als dass sich einer daran festhalten könnte. nur simon scheint anders, simons breites warmes lächeln, simons geschenk, sollte das doch noch eine gelungene party werden. das publikum ist drin, wir sind im publikum, das salzfass fällt, lachen, pause, pause, kein lachen mehr, es schlägt um, die stimmung kippt, eben noch ausgelassen, jetzt peinlich, fast schon bedrohlich. kannibalen. das sind wir, die kannibalen, das sind wir, aber wir wissen es nicht, reg dich nicht auf, sagt jörg, sei überheblich, das ist stärker. wege kreuzen sich, wege werden ausgemessen, wege werden geübt, nein warte, kein reim manni, und hier an dieser stelle, aufpassen, nicht weiterreden, hör mir doch zu. es muss schnell gehen, sofort, ja doch, wir machen ja schon, und hier warten, der rhythmus, pausen. unser experte für pausen und stille, und der politiker oronte, breit, feist, selbstsicher im umgang mit dem publikum, er kommt gerade aus dem kulturausschuss, vom hofe des königs, aus der bremer bürgerschaft, und ich darf ihnen sagen, der antrag unseres komponisten hier, sehr positiv, sehr positiv. zustimmendes raunen, neue musik in neuen räumen, das publikum lacht, und speist, und amüsiert sich, mit musik von rameau, das essen ist gut, das buffet ist endlich eröffnet. im aquarium später, wenn das molièrespiel begonnen hat, im aquarium ist alles anders. da kommen die worte von selbst, und die gesten, lasst euch von der musik tragen, von diesen gläsernen klängen, die jedesmal anders beginnen, anders enden, achtet auf die musik, wartet auf das ende, im aquarium. ich merke gerade, sagt der hut, je karpfiger desto besser, plopp, lachen. es baut sich auf, ja, es baut sich auf, es wird unerträglich, diese folge der tischreden, beginnend beim feinen genuss der sauce hollandaise, endend beim rohen fleisch, ich schaue ihnen dabei zu, ich könnte auch beifall klatschen, der men-
speisen mit dem menschenfeind
schenfeind, die kannibalen, das passt. die musik spielt immer weiter, danke, katrin hat in den proben ein alkoholproblem entwickelt, lieber nicht, andrea lässt sich nicht beirren, gibt es also doch noch die vernunft des herzens in dem raubtierkäfig hier. ich bleibe allein, ich bin mit euch zusammen, die liebe scheitert, die besitznahme scheitert, menschenleere zonen, menschenleere zonen, du lässt mich gerade jetzt im stich, wo ich dich brauche. nature morte, stillleben, tableau, die gefrierende musik zieht uns nach oben, sehr langsam, diese ecke, ich muss weinen, und dort wollen wir wohnen.
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Das Theater ist nicht marginal. Es ist zentral, weil sich alle Bestrebungen von Kunst in ihm zentralisieren. Es konstituiert sich durch die Auseinandersetzung mit der Zusammenwirkung von:
SCHAUSPIEL narrativ
assoziativ situativ
Malerei ARCHITEKTUR
Text
Skulptur Imago Mundi Körper im Raum
LITERATUR
CHOREOGRAPHIE Sprache
Rhythmus MUSIK
Melodie
Körper
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Ich komme aus der Bildenden Kunst. Beide Eltern waren Bildhauer und hatten ihre Ateliers zu Hause, wo die Ideen Joseph Beuys’ heiß diskutiert wurden. Mit dem „erweiterten Kunstbegriff“ erklärte man soziale Bewegungen zu Kunst, initiierte und reflektierte damit für die BRD damals neue Formen politischer Bürgerbeteiligung. Joseph Beuys, damals Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, war einer der Köpfe und Vordenker dieses Aufbruchs. Mit dem Begriff der „Sozialen Plastik“ schuf er eine neue Qualität der Verbindung von Kunst und Lebenswirklichkeit (Deckungsgleiche von Kunst und Leben). Ein Beispiel hierfür war die Aufnahme aller abgelehnten Studienbewerber in seine Klasse 1971. Nachdem er daraufhin entlassen wurde, gründete er mit ihnen die Freie Internationale Universität. Ein weiteres Beispiel war sein Beitrag zur Documenta 1982, „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung – 7000 Eichen“: 7000 Basaltsäulen mit der Aufforderung an die Bürger verbunden, im Stadtgebiet 7000 Eichen zu pflanzen. Die Suche nach neuen Gesellschaftsformen: Die sogenannten Aussteiger und Kommunarden der 1970er und 1980er Jahre, zu denen ich mich zählte, initiierten vor diesem Hintergrund eine Unzahl sozialer Experimente. Es waren praktische Versuche, die das Zusammenleben und -arbeiten als Neudefinition von Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft behaupteten. Man zog aufs Land, wo Immobilien – entgegen der Entwicklung in den Städten – nur einen Bruchteil kosteten. Die Aussteiger gründeten Betriebe, Schulen und Wohngemeinschaften mit dem Ziel, sich vom „System“ zu lösen, autonom zu werden. Zeitgleich erschütterten die Aktivitäten der RAF sowie die Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluss und den massiven Ausbau der Atomkraft die gesamte Republik. Die Vielzahl der Bürgerinitiativen, ob Anti-Atom, friedensbewegt oder jene aus der Studentenbewegung, die den „Marsch durch die Institutionen“ fortsetzen wollten, führte schließlich zur Gründung der „Grünen“. Eine Welt in Bewegung, die vielen Bürgern die Chance gab, aktiv am politischen Willensbildungsprozess teilzunehmen. Auch über Formen von Demokratie wurde heftig gestritten (eine der Vorläuferorganisationen der Grünen – ebenfalls gegründet von Joseph Beuys – hieß „Direkte Demokratie durch Volksabstimmung“). Innerhalb der Grünen Partei bildeten sich zwei Fraktionen, die „Fundis“ und die „Realos“. Von der Frage des Wahlkampfs (entpersonalisiert, auf Inhalte konzentriert) bis zur paritätischen Besetzung der Parteispitze, stritt man um neue Formen der Politik, eine neue politische Kultur, die sich Emanzipation und Partizipation auf die Fahnen geschrieben hatte. Mit einer Gruppe junger Künstler – angehende Architekten, Maler, Schauspieler, Sänger, Bühnenbildner, Schreiner und Steinmetze – lebten und arbeiteten wir in dieser Zeit auf einem heruntergekommenen Bauernhof in der Nähe von Wiesbaden, um diese Ideen wirklich werden zu lassen. Unser Ziel war, alle Aspekte gesellschaftlichen Lebens zu überdenken, in die eigene Hand zu nehmen; unsere Lebensweise, unseren Lebensraum als Gesellschaftsmodell zu gestalten. Zielsetzung war also eine Art Polis, eine in sich funktionierende Gesellschaft.
Theater-Produktion als modellhafte Konstitution von Gesellschaft
Als ich 1984 entdeckte, dass diese Zielsetzung seit mehreren hundert Jahren Voraussetzung von Theater ist, wurde ich über Nacht zum Theatermenschen.
Das Betriebssystem Theater Wie aber entwickelte das Theater sich zu diesem eigendynamischen Generator von Gesellschaftsmodellen? Was sich für mich aus meiner Biographie ergab, war ja das Ergebnis einer Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende dauernden Entwicklung. Wie also sah ein Urtheater aus? Es könnte so ähnlich gewesen sein wie das Stereo-Theater der Kalahari-Bewohner, die für ihre mit Klick- und Schnalzlauten durchsetzte Sprache bekannt sind: Zwei alte Männer hocken, umringt von Kindern, einander gegenüber auf dem „Dorfplatz“. Gemeinsam ahmen sie Bewegungen und Stimmen der Tiere ihrer Heimat nach. Von Ameise bis Giraffe, von Löwe bis Pavian. Kein Wort, keine Erklärung, nur Nachahmung. Auch für uns Mitteleuropäer sind die Tiere sofort zu erkennen. Die beiden Männer sind Autoren, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kostümbildner, Regisseure, Choreographen und Darsteller in Personalunion. Die Auflösung dieser Personalunion führt zu der Aufgabenteilung, die mit der Zeit gängige Praxis von Theater wurde. Beginnend mit der Teilung von Schauspiel, Regie und Autorenschaft, folgten die Vereinnahmung von Musik, Tanz, Architektur und mit ihr die weiteren Bereiche der Bildenden Kunst, Malerei und Plastik. Wirft man nun einen genaueren Blick auf die Arbeits- oder Aufgaben-Teilungen des Theaters mit ihren voneinander unabhängigen Entwicklungen, zeigt sich das Bild eines komplexen künstlerischen Organismus. Dieser Organismus begründet sich in der dramatischen Idee, einer philosophischen Haltung, der Durchdringung eines konkreten Raums (oder der Konkretisierung eines Vorstellungsraums) und einer Spezifizierung von Zeit (als vorgestellte, übersprungene, verdichtete oder gedehnte Zeit oder als strukturierte Zeit [Rhythmus], Raumzeit und Echtzeit). Er ist weder alleine ein Gebäude (Monument) noch eine Versammlung (Agora), noch Text (Sprache), noch performative Handlung (Darstellung) oder Musik (direkter Zugriff auf die Gefühlswelt), noch Bewegung im Raum (Choreographie), sondern die Synergie all dessen. Zentral in diesen Organismus eingebettet liegt die Schauspielkunst (das schließt Tanz und Bühnen-Gesang mit ein). Sie bringt ihre eigene Sichtweise auf Welt in den Organismus ein und bewegt sich in der durch Architektur, Musik, Literatur und Choreographie erzeugten Wirklichkeit. Ihre Qualitäten, Anwesenheit und Verkörperung, sind Kernprozesse von Theater. Obwohl „Betriebssystem“ begrifflich auf die Arbeitsstrukturen eines Computers zurückgreift, ist das, was ich damit bezeichne, Momentaufnahme einer Jahrhunderte andauernden Entwicklung, an der nahezu alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligt waren und sind. Vieles davon ist schwer zu identifizieren, weil für das künstlerische Ergebnis einer Inszenierung/Aufführung in erster Linie Autor, Inten-
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danz, Regie und Schauspieler verantwortlich gemacht werden, obwohl viele andere Faktoren entscheidenden Einfluss nehmen. Das „Betriebssystem“ ist Regelwerk der Abläufe und gleichzeitig Sensorium für die Dynamik innerhalb des Organismus der „Sozialen Skulptur Theater“ (und das umfasst nicht nur das „Human-Material“) im Hinblick auf das künstlerische Ziel. Letztendlich ist sie die Kraft, die der „Sozialen Skulptur“ Theater Gestalt gibt. S. 227 Hier ein nur scheinbar abwegiges Beispiel: Im Neubau des Staatstheaters Darmstadt gibt es keine traditionellen Garderoben mehr, sondern Schließfächer. Man reicht seinen Mantel also nicht mehr über einen Tresen, bekommt keine Marke mehr ausgehändigt und drängt sich zum Ende der Vorstellung nicht mehr mit den anderen Gästen, um die Garderobe wieder zurückzubekommen. Dem Ritus des Garderobe-Abgebens und Wieder-in-Empfang-Nehmens wird also kein Wert mehr beigemessen. Damit wird der Zuschauer zur wirtschaftlichen Masse. Wer dies entschieden hat, betrachtet den Zuschauer nicht mehr als Gast, sondern als Kunden. Damit wird eine ökonomische Sichtweise auf Theater konkret erfahrbar – für Zuschauer und Theaterschaffende. Über die Auswirkung auf die unausgesprochene Vereinbarung zwischen Publikum und Bühne kann man nur spekulieren. Man kann diesen Umstand, die Haltung, die zu dieser Entscheidung geführt hat, mit Recht kritisieren. Idealerweise würde das Theater, so es denn kein Erfüllungsgehilfe des Staates ist, genau solchen Situationen mit performativen und theatralen Mitteln begegnen, den Zuschauer in den eigenen emanzipatorischen Prozess einbeziehen. Es geht an dieser Stelle nicht darum, politische Forderungen zu formulieren, sondern die ökonomischen Bedingungen innerhalb des Betriebssystems Theater als gestalterische Kraft wahr- und ernst zu nehmen. Theater findet auf unterschiedlichste Weise statt, um jedoch zu verdeutlichen, wie es sich gegenüber und als Teil von Gesellschaft verhält, sind die Betriebsstrukturen eines Stadttheaters ein gutes Beispiel. Unterschieden wird hier zwischen Vorstellungsbetrieb, Produktionsbetrieb und Administration. Eine Teilung, die auf komplexe Weise Hierarchien und damit künstlerische und betriebliche Entscheidungsfindung generiert und deren Gestaltung, so sie denn durchgesetzt werden kann, Teil des künstlerischen Konzepts des jeweiligen Intendanten oder Leitungsteams ist. Der Vorstellungsbetrieb, das sind zunächst die Kassierer, Logenschließer, Kartenabreißer, Garderobieren. Sie sieht das Publikum zuerst, wenn es das Theater betritt. Meist in Uniform stehen sie an Türen, hinter Tresen, im Foyer mit Programmheften in der Hand. Ihre Präsenz trägt wesentlich dazu bei, den vom Alltag geschützten Erwartungsraum zu öffnen, in dem das Unerwartete Platz, Raum bekommt. Die zweite Gruppe sind die Bühnenarbeiter und Putzleute. In dem für Mittel- und Nordeuropa üblichen Repertoire-Betrieb arbeiten sie in Schichten bei den vormittäglichen Proben und den abendlichen Vorstellungen. Bühne, Licht, Ton – alles muss für die jeweils anstehende Nutzung vorbereitet werden. Hinzu kommen die Aufgaben während der Vorstellung, auch der Umbau zwischen den Szenen. Stellwerker, Licht, Ton, Bühne, Inspizienz – diesen unsichtbaren Mitspielern wird
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Theater-Produktion als modellhafte Konstitution von Gesellschaft
nicht umsonst ein Teil des Applauses zugewiesen. Die Maske und die Einkleider tragen wesentlich zu dem bei, was der Schauspieler mit Verkörperung leistet. Und als zentraler Protagonist gehört zum Vorstellungsbetrieb der Schauspieler, der sowohl für den Menschen als auch für das Theater steht. Der Produktionsbetrieb (hier nur angerissen, weil ihm das letzte Kapitel gewidmet ist), das sind die Werkstätten, Bühnenbau, Schreiner und Schlosser, Bühnenmaler, Plastiker, Rüstmeister, Requisiteure, Schuhmacher, Herren- und Damenschneider, Ton-, Video- und Lichttechniker, die den künstlerisch verantwortlichen Abteilungen Dramaturgie, Bühnenbild, Kostümbild, Musik und Regie/Choreographie zugeordnet sind. Natürlich ist der Autor auch künstlerisch verantwortlich, meist aber nicht direkt an der Inszenierungsarbeit beteiligt (Ausnahmen sind Auftragsarbeiten und Uraufführungen). Die Administration, dazu zählt nicht nur die künstlerische und wirtschaftliche Theaterleitung (die letztendlich gegenüber den politischen Entscheidern verantwortlich ist), sondern auch das künstlerische Betriebsbüro, jene Koordinierungsstelle, die das künstlerische Personal zwischen Produktion (Proben) und Vorstellungen organisiert. Wie auch immer Theater gemacht wird, die gleichen Aufgaben, ob administrativ, handwerklich, organisatorisch oder künstlerisch, müssen erfüllt werden. Das gilt sowohl für Ein-Personen-Betriebe als auch für alle anderen Formen freier oder öffentlicher Theater. Wie sie erfüllt werden, von welchen Personen innerhalb des Betriebes und welchen Status diese Personen innehaben, hat entscheidenden Einfluss auf die Qualität – oder sagen wir besser die Gestalt – einer Inszenierung. Arbeiten mehr als zwei Personen zusammen, ergibt sich die Frage einer „Arbeitsphilosophie“ oder einer Konstitution (ob ausgesprochen oder unausgesprochen, ob als Manifest oder pragmatischer Gesellschaftsvertrag). Diese Vereinbarungen lassen sich meinen Beobachtungen nach idealtypisch in drei Gesellschaftsmodelle einteilen: Feudalismus, Demokratie und Anarchie. Und es gibt für alle drei Grundmodelle funktionierende Beispiele. Claus Peymanns Inszenierungsstil kann man sicher als feudalistisch, den seines Kollegen Frank Castorf sogar als despotisch bezeichnen. Die Inszenierungsarbeit bei Katie Mitchell hingegen ist geradezu vorbildlich demokratisch organisiert. Die Probenarbeit mit Christoph Marthaler ist fast anarchisch, also sich selbst organisierend. Idealerweise ist ein Theater aus einer politischen Situation heraus geboren. Das Marburger „Theater Gegenstand“ konstituierte sich zum Beispiel während der Startbahn-West-Proteste in Frankfurt. „The Forsythe Company“ entstand mit der umstrittenen Auflösung des Ballett Frankfurt, die „Schaubühne“ in Berlin begann 1962 als Studentenbühne mit explizit politischen und sozialen Inhalten. Aus der jeweiligen politischen Situation heraus konstituierten sich Betriebssysteme, die sich als künstlerisch-politische Antworten auf konkrete gesellschaftliche Fragestellungen verstanden. Es ist also aus der politischen Situation heraus geborener politischer Wille, der den Rahmen bildet, innerhalb dessen sich so etwas wie „künstle-
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rischer Freiraum“ entwickeln kann. Wie auch immer sich diese Theater verändern – und das tun sie zwangsläufig –, sie sind damit gesellschaftlich, kulturpolitisch und urban verankert und verortet. Obwohl viele der so entstandenen Theater ihre Betriebssysteme inzwischen den standardisierten Strukturen eines Wirtschaftsbetriebs angeglichen haben, leben sie immer noch aus ihrem ursprünglichen Impuls. Man kann am „Maxim Gorki Theater“ in Berlin sogar beobachten, wie sich eine bestehende Betriebsstruktur – von einer politischen Situation beeinflusst – umbaut. Was hier für das Theater als öffentliche und damit als kulturpolitische Institution gilt, müsste folglich auch für die einzelne Inszenierung gelten.
Die Inszenierung als soziale Skulptur Alle im Schaubild aufgeführten künstlerischen Gewerke sind immanenter Teil einer Theatervorstellung. Je vielgestaltiger und komplexer ihre Beziehungen, desto reicher, desto bereichernder der „Klang“ einer Inszenierung/Aufführung. Die Idee dieses Vielklangs lässt sich am besten mit den Begriffen Kontrapunkt und Polyphonie umschreiben und mit Bachs Matthäus-Passion erspüren. Gegenläufige Melodien, gegenläufige Rhythmen, Überlagerungen unterschiedlicher musikalischer und textlicher Vorträge als Modell einer vielgestaltigen Welt. Der Beginn der Inszenierungsarbeit, die Zusammenkunft des neuen Ensembles, ist vergleichbar mit der Erschaffung einer neuen Gesellschaft. Man tastet einander ab, (er)findet eine gemeinsame Sprache und sucht nach Regeln, die die Gemeinschaft so stabil machen, dass sie die lange und schwere Zeit der Inszenierung übersteht. Dieser Prozess ist, neben der Produktionsstruktur, maßgeblich für das Wesen des Stücks verantwortlich. Ich will das an ein paar Beispielen beschreiben. S. 69 1993 „inszenierte“ ich ein zehntägiges Kunstfest in und um die alte Lahnbrücke in Limburg. Wir beschäftigten uns in dieser Zeit mit dem Begriff „Kulturlandschaft“ und wollten das Verhältnis Landschaft–Stadtschaft künstlerisch untersuchen. Die ursprünglich mittelalterliche Situation mit der Brücke schien uns der ideale Ort dazu. So organisierten wir innerhalb dieser zehn Tage einen Krammarkt auf der zu diesem Zweck gesperrten Brücke, bauten entlang des Lahnufers eine Skulpturenausstellung unter dem Titel „Kunststau“, eröffneten ein temporäres Restaurant mit einem einzigen, über die gesamte Brücke reichenden Tisch, an dem ausschließlich Ente und Lahnfisch (Kultur kommt von Agrikultur: aus der Landschaft leben) serviert wurden, und inszenierten zum Abschluss eine mit zehn Schlagzeugern besetzte Symphonie auf und um die Lahn als Dialog zwischen Landschaft und Stadtschaft. Komponist, Musiker, Schauspieler, Architekten und Bildende Künstler (sowohl jene, die ihre Skulpturen zur Verfügung stellten, als auch jene, die die Ausstellung kuratierten) arbeiteten unabhängig ihre eigenen Ideen aus. Basis waren ein von mir geschriebenes Konzept mit dem Titel „Stadt Land Fluss / Stadtskulptur-Skulpturenstadt“ und die Willensbekundung des örtlichen Kulturamts, das
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Projekt zu tragen. Viele der Beteiligten wohnten zu dieser Zeit in einer Kommune oder in erreichbarer Nähe. Man traf sich zum Essen und diskutierte die anstehenden Entscheidungen. So entstand eine Inszenierung, die im Laufe ihrer Produktion viele örtliche Betriebe und Freiwillige einbezog, unterschiedliche Besuchergruppen ansprach und 2400 Zuschauer zu den beiden Abschlusskonzerten zählen konnte. Vom Zusammenleben in der dörflichen Kommune beeinflusst, entwickelte sich die Produktion wie ein Musterbeispiel einer anarchistisch-sozialistischen Gesellschaft. Die Einbeziehung der Handwerker – es mussten z. B. Pontons für die Schlagzeuger geschweißt und im Fluss verankert werden – hatte wesentliche Einflüsse auf alle künstlerischen und gestalterischen Prozesse der gesamten Inszenierung. Man lud die Handwerker zu den gemeinsamen Essen ein, besprach mit ihnen die Probleme und bekam Lösungen vorgeschlagen. Wir fuhren in die Werkstätten, beteiligten uns am Bau der Pontons und der anderen notwendigen Bauten und hatten so wiederum unmittelbaren Einfluss auf deren Gestalt. Gemeinsam experimentierte man mit der Verteilung der Pontons auf der Lahn und den Schwierigkeiten des Schallwegs auf einer über 200 Meter breiten „Wasserspielfläche“. Dadurch inspiriert, verschoben wir das Metronom der einzelnen Schlagzeuger (jeder hatte einen Kopfhörer mit einem eigens für ihn eingemessenen Takt). Wir konnten also die Musiker so dirigieren, dass jeweils eine bestimmte Gruppe der das gesamte Gelände umstehenden Besucher ein synchrones musikalisches Erlebnis hatte. Das ist nur ein Beispiel der Ergebnisse dieser auf gemeinsamen Essen basierenden und alle in alles einbeziehenden Arbeitsweise. Die zweite Produktion, von der ich erzählen möchte, ist die Johannes-Passion von J. S. Bach aus dem Jahr 2001. Ich hatte dieses Oratorium als Zwölfjähriger in einem Knabenchor meiner Heimatstadt gesungen und war von dieser Musik noch immer sehr beeindruckt. Noch jede Note, jeden Ton im Ohr, wollte ich mich befreien, indem ich sie inhaltlich und formal dekonstruierte, sie auf das Eigentliche ihrer Aussage hin überprüfte. Es gab zunächst nur ein kleines Ensemble von drei Darstellern, daneben mich und meine Dramaturgin Anna Seitz. Wir begannen zunächst die Motive des Autors zu analysieren (eine plädoyerhafte Beweisführung der Gottessohnschaft Jesu). Wir kamen darüber auf die Idee, öffentliche Orte (wie Gericht, Markthalle, Theater, Kirche) unseren dramatischen Bearbeitungen der Bachschen Musik aussetzen zu wollen. Wir organisierten also eine Reihe von öffentlichen Proben in diesen Räumen. Dabei überprüften wir nicht nur, wie unsere Arbeit auf die Räume wirkt, sondern ließen auch den Einfluss der Räume und zufällig vorbeischlendernder Besucher auf unsere Probenarbeit zu, bezogen also in einem frühen Stadium Publikum in die Inszenierung ein. Gegen Ende der Probenzeit – wir waren inzwischen auf fünf Darsteller und einen bühnenpräsenten Techniker angewachsen – arbeiteten wir wieder in Theaterräumen. Wir spielten unsere Dramatisierung der Johannes-Passion (die durchaus keinen religiösen Impetus hatte) in ganz Deutschland, unter anderem auch im Bauhaus in Dessau.
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Die Tatsache, dass ich diese Arbeit aus persönlichen, biographischen Motiven begann und (dass) ich nach etwas suchte, das ich ohne genau diese Arbeit gar nicht vermitteln konnte, machte mich zu einer Art Prophet, dem man folgt – oder nicht folgt. Eine Auseinandersetzung über das Ziel der Arbeit war nicht möglich, eben weil ich es nur durch/in/mit der Arbeit selbst vermitteln konnte. Man musste mir also trauen, ohne zu wissen, wohin das Ganze führt. Obwohl es eine beinahe Gleichsetzung von Techniker und Darstellern gab (der Techniker hatte sogar ein Pas de deux mit einem der Darsteller), gab es doch eine ganz klare hierarchische Trennung zwischen dem Bühnenpersonal und der künstlerischen Leitung (Regie/Choreographie und Dramaturgie). Eine Art Mini-Feudalsystem könnte man es nennen. Ein weiteres Beispiel ist die Inszenierung Song of Songs von 2010. Sie basiert auf jener mythischen, Salomon zugeschriebenen Gedichtsammlung, die in Wahrheit eine wesentlich ältere Collage noch viel älterer Gedichte aus Babylon und Ägypten ist. Die Wirkgeschichte dieser hocherotischen Gedichte, die, ohne Gott auch nur in einem Wort zu thematisieren, Teil des Alten Testaments wurden, reicht seit über 1000 Jahren weit nach Europa hinein. Meine Idee war es, das orientalische Gedicht (die ältesten erhaltenen Fragmente stammen aus Ugarit, einer nordsyrischen Hafenstadt, zerstört 1200 v. Chr.) wieder in den Orient zu bringen und es gemeinsam mit Musikern, Tänzern und Schauspielern aus der Türkei und Deutschland für heute zu entschlüsseln. Dazu nutzten wir eine hebräische, eine türkische, eine englische und eine deutsche Version. Einzelne Worte und Passagen übersetzten wir in mehr als 40 Sprachen und erschufen damit „Wortkaskaden“ (die Worte stürzten und rauschten ein mehrstöckiges Treppenhaus hinab). Zur gleichen Zeit entwickelten wir die Ideen eines Echtraum- und Echtzeittheaters weiter. Wie in einer Art Dogma wollten wir, dass Darsteller und Zuschauer sich dieselbe Zeit und denselben Raum teilen. Weiter beschäftigte uns die Frage, warum – wenn das Theater von der Präsenz der Künstler wie des Publikums abhängt – Letzteres nicht auch an dem Schaffensprozess beteiligt sein sollte. Wir suchten also Publikum nicht nur für unsere Vorstellungen, sondern schon für die Entwicklung des Stücks. Deshalb verlegten wir die Recherche- und inhaltliche Vorarbeit in Workshops, in denen die beteiligten Künstler mit interessierten Zuschauern zum Stück forschten und arbeiteten. Für Song of Songs wurden mehrere solcher Workshops durchgeführt. Themen waren unter anderem die Textgrundlage des „Lieds der Lieder“ und ihre Übertragungen. Dabei ging es speziell um die vier Sprachen, die im Stück Verwendung finden sollten. Die englischen, deutschen, türkischen und hebräischen Übertragungsversionen wurden sowohl auf ihre Genese und Rezeptionsgeschichte als auch auf ihre phonetische und inhaltliche Qualität hin untersucht. Einer dieser Workshops fand im Oktober 2009 in Istanbul statt. Gemeinsam mit Studenten des Fachbereichs Modern Dance der Mimar-Sinan-Universität sowie mit Meisterschülern der Theaterschule im Kalkwerk (ein Kulturzentrum in Limburg an der Lahn) arbeiteten wir an einer Performance mit dem Titel „wordcascades“. Die Ergebnisse dieses Workshops wurden beim 5. Visibility Projekt, einem Kulturfestival
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der Gruppe Galataperform, am 10. Oktober 2009 im Treppenhaus der Deutschen Schule Teutonia in Begyolu/Istanbul präsentiert. Workshop-Ergebnisse in eigens dafür vorgesehenen Vorstellungen zu veröffentlichen, machte den gesamten Schaffensprozess öffentlich zugänglich, ohne dabei das Endergebnis vorwegzunehmen. Das erarbeitete Material war schließlich der Fundus, aus dem Dramaturgie und Regie schöpften. Neben dem Produktionsprozess nahmen aber auch die Produktionsbedingungen einen wesentlichen Einfluss auf die Gestalt der Inszenierung. S. 165 Da es bei dieser türkisch-deutschen Produktion unmöglich war, alle Beteiligten über den gesamten Produktionszeitraum an einem Ort zu versammeln, musste eine modulare Arbeitsweise an den jeweiligen Heimatorten entwickelt werden. Um der Gefahr zu entgehen, mit der Aneinanderreihung von Modulen nur eine Art Nummern-Show zu produzieren, inszenierten wir das gesamte Stück zweimal. Es ergab sich, dass die türkischen Ensemblemitglieder Tänzer und Sänger, die deutschen Schauspieler waren. Das half uns, zwei ganz unterschiedliche Blickwinkel auf den Text zu realisieren. Die beiden Ergebnisse wurden dann in den Endproben in Istanbul miteinander verschränkt, die Elemente gegeneinander getauscht, so dass sich ein organisch-dramatischer Körper ergab. Eine weitere Besonderheit dieses Stücks war die Arena-Anordnung. Das Publikum saß in zwei Reihen um eine kreisförmige Bühne herum. Es gab also kein Off, die Darsteller waren die ganze Zeit der Vorstellung anwesend. Wenn nicht direkt auf der Bühne, dann auf Stühlen, die direkt vor den Zuschauern in einem separaten Kreis standen. Viele Elemente der Inszenierung gingen von diesen Stühlen aus. Diese Anordnung war sowohl für die Zuschauer als auch für die Inszenierung eine große Herausforderung. Jede Bewegung auf der Bühne stellte sich für die einen Zuschauer als Entfernen und für die gegenübersitzenden als Entgegenkommen dar. Das veränderte die Raumsprache radikal. S. 127 Das Publikum als einheitlicher Körper war aufgelöst oder zumindest wesentlich verändert. Daraus ergab sich eine Vereinzelung, eine durchaus kritische Publikumssituation. (In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich noch einmal mit der Raumdramaturgie einer Zirkusvorstellung zu beschäftigen.) Die Aufführungen von Song of Songs fanden im Alten Zollamt (MMK) in Frankfurt/Main und in Tophane/Amire (MSgSU), einer alten osmanischen Kanonengießerei in Istanbul, statt. Zum Stab gehörten neben mir als Regisseur und Choreograph Anna Seitz (Dramaturgie), Jürgen Beuth (Komposition), Serin Ulusman (Produktionsleitung Istanbul), Suzan Elif Selcuk (Assistenz Istanbul), Sarah De Castro (Produktionsassistenz und Tonmeisterin) und Chris Wiedemann (Beleuchtung und Videoprojektion). Während der Workshop-, Proben- und Aufführungszeit wohnten der Stab und das achtköpfige Ensemble privat. Freunde und Bekannte stellten neben den eigenen ihre Gästezimmer zur Verfügung. So entstand eine enge persönliche, in die jeweils andere Stadt reichende Beziehung. Damit bildete diese Produktion eine Art Multikulti-Patchwork-Gesellschaft, innerhalb der – und
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das war nicht unproblematisch – ein Rückzug ins Private nahezu unmöglich war. Trotzdem setzte sie 2010, in dem Jahr, in dem Istanbul Kulturhauptstadt Europas war, Zeichen, war Teil der erstaunlichen und leider viel zu kurzlebigen AvantgardeBewegung dieser Stadt. Mein letztes Beispiel ist eine Performance aus dem Jahr 2014 mit dem Titel 19 Tage Gezi-Park. Die Istanbuler Tänzerin Gizem Akman (sie war auch an Song of Songs beteiligt) hatte sich, wie viele Künstler, als Aktivistin nicht nur während der Gezi-Park-Proteste politisch engagiert. Es war das erste Mal, dass die Aktivierung einer großen Masse von Menschen über die sozialen Netzwerke organisiert wurde. Den Strategien des Widerstands folgend, sammelte Gizem Akman alle Dokumente und Beweismittel, derer sie während der Auseinandersetzung um die Besetzung des Gezi-Parks im Juni 2013 in Istanbul habhaft werden konnte. Auch alle diesbezüglichen Posts auf Twitter und Facebook. Mithilfe dieser gespeicherten Nachrichten, die ein nahezu minutiöses Bild der Geschehnisse lieferten, entwickelten wir 2014 besagte Performance. Neben Gizem Akman als Autorin und Performerin waren Anna Seitz als Dramaturgin und ich als Regisseur/Choreograph sowie ein bühnenpräsenter Techniker beteiligt. Diese Produktion bot mehrere interessante Aspekte, die sich künstlerisch zu untersuchen lohnten. So war der „Wissensvorsprung“, der sonst bei Dramaturgie/Regie liegt, auf die Performerin verschoben. Hinzu kam, dass es sich bei diesem Wissen nicht einfach um Informationen handelte, sondern dass dieses Wissen stets in enger Verbindung stand mit dramatischen, teils traumatisierenden Erlebnissen (insbesondere Auseinandersetzungen mit der Polizei). In Verbindung damit interessierte uns auch die Trennlinie zwischen medial vermittelter und unmittelbarer Wahrnehmung. Die Vorarbeiten zu 19 Tage Gezi-Park fanden größtenteils in Istanbul statt. Gemeinsam mit Gizem Akman sammelte, sichtete und ordnete ich die Texte und Materialien (Videos, Fotos und O-Töne, Beweisstücke/Artefakte wie Gaskartuschen, Gasmasken, Bauhelme, Kleidung usw.). Für die dramaturgische Arbeit mit Anna Seitz fuhr ich nach Bremen, den Film schnitt ich in meinem Studio in Frankfurt (die Performance war nahezu in ihrer gesamten Länge mit dokumentarischem Originalmaterial hinterlegt). Ich reiste also sehr viel, wurde ein Bote zwischen den Welten. Bis auf die Endproben arbeiteten wir ausschließlich zu zweit. Aus den bekannten politischen Gründen war an eine Produktion in Istanbul nicht zu denken. Die eigentlichen Proben fanden deshalb in Limburg im alten Kalkwerk, Uraufführung und Vorstellungen in Frankfurt in der Naxoshalle statt. Obwohl die Performance von einem konkreten Ort erzählte, war sie unverortet. Die Erinnerungsarbeit (weil traumatisch) verlagerte sich über große Strecken auf die medialen Bilder. Die heimatlos Gewordene(n) flüchtete(n) sich an einen unkonkreten Bild-Ort. Bedingungen, Gestalt und Inhalt dieser Produktion waren gleichsam existenzielle Fragen der Protagonistin an sich selbst. Der Gezi-Park-Protest als alle Schichten umfassende Volksbewegung gebar die Hoffnung einer wirklichen Demokratisierung und endete
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in Zerschlagung und Exil (innerem oder realem). Inzwischen hat die Geschichte uns eingeholt, und viele türkische Künstler haben ihr Land verlassen, um nicht des Terrorismus verdächtigt im Gefängnis zu landen. Für die, die nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben in die Türkei zurückkehren können, verschiebt sich das, was für sie Heimat ist, von Landschaft (oder Stadtschaft) zu einem Substitut, einem individuellen Katalysator eines lebensnotwendigen Zugehörigkeitsgefühls. Was immer dieser Katalysator auch ist – ein Buch, ein Lied, ein Bild oder ein Essen –, an ihn lagern sich die Heimatgefühle an. Der Raum von 19 Tage Gezi-Park war ein solcher Katalysator. Ich hatte das Originalfilmmaterial so arrangiert, dass es die gesamte Seiten- und Rückwand der Bühne füllte und die 19 Tage der Besetzung chronologisch nachzeichnete. Heimat als konkretisierter Medienraum. Wir forderten die Zuschauer auf, ihre Mobiltelefone einzuschalten und während der Vorstellung Freunde und Bekannte über das Bühnengeschehen zu informieren. Diese individualisierte Form des Berichtens erweiterte – analog zum Gezi-Park-Geschehen – den Medien-Bühnen-Raum auf unkontrollierbare Weise. Zu den vier bereits genannten an der Produktion Beteiligten kamen ein Kameramann und ein Spezialist für die Projektionstechnik hinzu. Obwohl die Gruppe nur sehr klein war, gab es keine Zusammenarbeit, die alle Beteiligten einband. Erst zu den Hauptproben wurde der bühnenpräsente Techniker einbezogen. An Vorproduktion und Inszenierung waren immer nur jeweils zwei Personen beteiligt. Diese Arbeitsweise erinnerte an einen Staat, der aus Inseln besteht. Ein Netz bilateraler Verbindungen ohne wirkungsvolle künstlerische Gesamtleitung. Die Produktionsbedingungen spiegelten die Lebenssituation der Protagonistin stellvertretend für viele türkische Künstler nach den Gezi-Park-Protesten: im inneren Exil, vereinzelt, ohne Aussicht auf Arbeit und der Gefahr ausgesetzt, festgenommen und angeklagt zu werden. Es wäre gelogen, würde ich sagen, wir hatten das so geplant. Aber die Bereitschaft, die Produktionsbedingungen mit den Lebensbedingungen in Verbindung zu bringen, macht das zu bearbeitende Thema für alle Beteiligten zu einer existenziellen Frage. Mit der Neukonstitution von Arbeitszusammenhängen, ob sie bewusst herbeigeführt oder den Umständen geschuldet sind, finden sich auch immer wieder neue Sichtweisen auf die eigene Arbeit. So kraftraubend das auch ist – und eingestandenermaßen bremst es auch den kreativen Output, ich bekomme maximal zwei Inszenierungen pro Jahr hin –, es bleibt die beste Methode, sich nicht zu kopieren, der Arbeit ein Eigenleben zu ermöglichen. S. 85 Und die Chance, neue Konstitutionen, neue Arbeitsweisen, neue „Sitten“ (im klassisch griechischen Sinn) zu generieren, ist groß. Wie immer man über Relevanz von Kunst denkt, es ist nicht zuletzt dieser soziale Prozess, diese soziale Plastik, die Theater (immer wieder) gesellschaftlich relevant macht. Der Choreograph William Forsythe bezog an einem bestimmten
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Punkt seiner Entwicklung das Ensemble in die choreographische Arbeit offiziell mit ein, machte es künstlerisch mitverantwortlich. Diese Entscheidung setzte eine Dynamik in Gang, die nicht nur einen wesentlichen Einfluss auf die Gestalt, sondern auch auf den Vortrag seiner Werke hatte. Das zwang in der Folge nicht nur die Tanzwelt, über den künstlerischen Status aller an einer Theaterproduktion Beteiligten neu nachzudenken. Ich wünsche mir dieses Nachdenken und die dazugehörigen Entscheidungen als obligatorischen Teil dramaturgischer Arbeit.
Blockflötenorchester und Nagelstudios Die Theater der Versammlung von Mobile Albania und Quast & Knoblich Florian Ackermann, Mobile Albania, Quast & Knoblich
„Die Leute, die man auf oder abseits der Straße trifft, im Gefängnis oder in der Peripherie, auf dem Weg, der noch keine Straße ist, oder in welchem Keller auch immer diejenigen stecken mögen, mit denen eine Koalition derzeit möglich wäre: Es sind nicht unbedingt die, die man sich ausgesucht hätte. Ich meine, wenn wir ankommen, wissen wir meist nicht, wer noch kommt, das heißt, wir akzeptieren bei unserer Solidarität mit anderen ein gewisses Maß an Ungewähltheit. Man könnte vielleicht sagen, dass der Körper immer Menschen und Eindrücken ausgesetzt ist, über die er nicht bestimmen, die er nicht vorhersehen und nicht ganz kontrollieren kann, und dass dies die Bedingungen der sozialen Verkörperung sind, die wir nicht vollständig selbst ausgehandelt haben. Daraus entsteht nach meiner Auffassung eher Solidarität als aus absichtlichen, wohlüberlegten Vereinbarungen.“1 (Judith Butler)
1 | Butler, Judith (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. Berlin: Suhrkamp, S. 199.
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Florian Ackermann, Mobile Albania, Quast & Knoblich
Die Performancegruppen Mobile Albania2 und Quast & Knoblich3 arbeiten auf sehr unterschiedliche Weise an den Rändern oder außerhalb des Theaters an Theatern der Versammlung: Mobile Albania, gegründet 2008 in Gießen, sind mit einem Holzesel auf Rollen wochenlang über die Landstraßen des hessischen Hinterlands gezogen. Auf den Plätzen und Hinterhöfen von Budapest, Leipzig, Tirana, Wien und Gießen, auf Verkehrsinseln und in Dörfern gründeten sie Blockflötenorchester und mobile Universitäten, veranstalteten Umzüge mit erfundenen lokalen Sagengestalten und Mythen und ergänzten den öffentlichen Nahverkehr ungefragt um alternative Buslinien. Den Verführungen und Ausschlüssen der Konsumgesellschaft setzten Mobile Albania künstlerische Strategien zur alternativen Alltagserfahrung entgegen, und auf gesellschaftliche Spaltungen reagieren sie mit kollektiver Zeitumwidmung. Mit ihren selbstgebastelten Medien, analogem Eselstreetview und der Besetzung von Plätzen mit dem Paplament4, einer Versammlung in der Jurte aus zusammengeklaubten Wahlplakaten, fragen die Künstler*innen nach dem Umgang der Gesellschaft mit den oder dem Fremden. Wem gehört der öffentliche Raum und wer darf sich in ihm äußern? Quast & Knoblich eignen sich Techniken an, die zunächst sehr theaterfremd erscheinen: Sie lernen die Taxidermie – das Präparieren von Tieren –, das Nageldesign oder die Trauerfloristik. Ihre oft mehrstündigen Events binden regionale Gemeinschaften wie Vereine und Laienensembles, die über ländliche Rituale des gemeinsamen Tätigseins zusammenfinden, in ihre Arbeit mit ein. Im Rahmen des Ur-Forst wird eine erkrankte Eiche im Mülheimer Wald gefällt und auf einer Openairbühne unter Mitwirkung von Kinderchören und Holzkünstler*innen in einem sechsstündigen Event wiedererrichtet. Die Nagelbar eröffnet als temporärer Pop-up-Store in einem Bremer Ladengeschäft und bietet zwei Tage gleichzeitig für Passant*innen und gezieltes Publikum Nailartbehandlungen an. Als Teil von Frankfurt Evakuieren erarbeiteten Quast & Knoblich auf und mit den Mitgliedern eines Hundesportvereins eine ortsspezifische Arbeit, die sich mit einer Chemiekatastrophe auseinandersetzt, Hundedressur inklusive. Den Arbeiten von Quast & Knoblich gelingt es durch die Einbeziehung von theaterfernem Wissen und Akteuren, sehr heterogene Versammlungen am Rande oder jenseits des Theaters, aber strukturiert durch theatrale Probleme, herzustellen. Quast & Knoblich und Mobile Albania arbeiten regelmäßig in der Schwankhalle Bremen. Katharina Stephan von Mobile Albania und Maika Knoblich von Quast & Knoblich haben sich mit Florian Ackermann, Dramaturg an der Schwankhalle, in einer Emailkonversation über die Idee eines Theaters der Versammlung ausgetauscht.
2 | Vgl. www.mobilealbania.de 3 | Vgl. www.quastknoblich.de 4 | Mobile Albania und Pneuma Szöv: Das Paplament. 3. Bilder der 20-Forint-Operette. Budapest, Leipzig, Hamburg, Bremen 2015–2016.
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Florian Ackermann (Schwankhalle): In Selbstbeschreibungen und Anträgen von Theaterprojekten der Gegenwart lese ich sehr häufig, dass in den jeweiligen Arbeiten temporäre Gemeinschaften erzeugt werden. Die Theatersituation stellt sich dabei als das zur Verfügung, was man teilt und so konstituierendes Moment der Gemeinschaft sein soll. Oftmals habe ich aber den Eindruck, dass die Gefahr besteht, dass es mehr um ein romantisches Sehnsuchtsmoment einer imaginären Gemeinschaft geht als um das Herstellen tatsächlicher Bezüge zwischen den Beteiligten. Zudem ist die Gemeinschaft immer auch ein schwieriger und belasteter Begriff, weil sie nicht getrennt von Ausschlüssen zu denken ist. Mir gefällt deshalb die von diesem Band vorgeschlagene Terminologie und Praxis eines „Theaters der Versammlung“ sehr gut, weil es sich erst einmal auf das Zusammenkommen als Aktion konzentriert. S. 216
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Katharina Stephan (Mobile Albania): Versammeln ist unvollständig, kann flüchtig sein, kann hartnäckig sein und sehr lange dauern. Ein Ansammeln, ein langsames Mehrwerden. Beim Paplament sitzen wir zum Beispiel erst nur auf einer Decke auf einem Platz. Am nächsten Tag sind wir schon ein paar mehr Menschen und ein Hocker ist dabei. Plötzlich steht eine erste Architektur entlang der Mülleimer. Dann eine Jurte aus von den Straßenlaternen gesammelten Wahlplakaten, die plötzlich zu einem Radiostudio wird, in der sich unterschiedliche Leute versammeln. Wenn wir mit unserem Holzrollesel durch die Lande wandern, sammeln sich im Verlauf des Weges die unterschiedlichsten Begegnungen, die bei den abschließenden Festen in größeren Bewegungen und Versammlungen münden können. Je nach Situation können Details bei uns riesig werden. Die Begegnung mit der Blockflöte5, bei der 300 Leute auf dem Gießener Kirchenplatz zur größten Blockflötenbewegung Mittelhessens zusammenkamen, entstand aus dem Gespräch mit einem Passanten auf einer Busfahrt darüber, dass das Blockflötenspiel das Einzige sei, was alle Hessen miteinander verbinde. Die Versammlung wurde größer als unsere kühnsten Erwartungen und mutierte unter den Augen der Oberbürgermeisterin plötzlich zu einem nicht angemeldeten Umzug durch die Stadt. Es kann aber auch brenzliger werden, wenn zum Beispiel Neonazis unser Radiostudio abfackeln wollen und sich spontane Verteidigungswälle darum bilden. Zwischen Politik und Theater entstehen leise Parodien, wenn der Weimarer Oberbürgermeister sich eine Stunde lang zur Eröffnung eines Festivals auf unserem Esel durch die Straßen schieben lässt.6 Bei uns geht es immer wieder um unwahrscheinliche Versammlungen, darum, etablierte Versammlungsorte wie etwa das Theater zu durchqueren und andere Orte zu potentiellen Versammlungsorten zu machen. S. 83 Wer kommt in diese
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5 | Mobile Albania: Die Begegnung mit der Blockflöte. 2. Teil der mittelhessischen Straßentrilogie. Gießen 2012. 6 | Mobile Albania: Die Verfassung von Weimar. Weimar 2013.
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schwarzen Boxen, die sich Theater nennen? Und wie kann man außer mit verkaufsoffenen Sonntagen Leute an einem Ort zusammenbringen, die erst mal eigentlich nichts miteinander zu tun haben oder gar zu tun haben wollen? Oder kann man den verkaufsoffenen Sonntag als trojanischen Esel benutzen? Wir arbeiten oftmals an Versammlungen ohne eindeutigen Zweck, die ihre Bestimmung erst nach und nach erfinden und herausfinden und dadurch auch Menschen anders versammeln, die bei einem klareren Ziel einander eher nicht begegnen würden. Maika Knoblich (Quast & Knoblich): In unserer Arbeit versuchen wir den Begriff der Gemeinschaft auch eher zu vermeiden. Die temporären Versammlungsorte, die wir schaffen, funktionieren demnach auch eher dadurch, dass sie uns stets fremd bleiben. Für eine begrenzte Zeit finden sich hier Leute zusammen, die zum Beispiel ein Interesse oder ein Hobby teilen, zum Beispiel Nailart oder Floristik. Dieses sehr spezifische geteilte Interesse gibt uns die Möglichkeit zum Gespräch, und genau dieser Dialog ermöglicht eine Begegnung auf Augenhöhe. FA: „Theater der Versammlung“ kann beides meinen: Theater als Anlass einer wie auch immer gearteten Versammlung von Besucher*innen und gleichzeitig den Aspekt der Theatralität von gesellschaftlichen Versammlungen außerhalb des Theaters. Die theatralen Mittel und Strategien, die ihr in euren Arbeiten anwendet, liegen irgendwo zwischendrin: Sie stellen einerseits die Zusammenkunft erst her, indem sie ein Nagelstudio7 oder ein Ur-Forst8 kreieren oder, bei der längsten menschlichen Telefonleitung der Welt9, einen Rekordversuch behaupten, andererseits fügen sie kleine Risse, Differenzen und Sichtachsen in die hergestellte Versammlung ein. Wie würdet ihr euer Verhältnis zum Theater bzw. zum Theatralen für euch beschreiben? MK: Die theatralen Mittel spielen für uns hierbei tatsächlich eine ganz zentrale Rolle. Sie sind das Handwerkszeug, mit dem wir uns ausstatten, um die Künstlichkeit einer bestimmten Fachsprache oder eines Ortes wie des Nagelstudios noch zu verstärken, damit eine neue, theatrale Situation entstehen kann. In der Recherche versuchen wir, die Theatralität der jeweiligen Situation und Sichtanordnung (zum Beispiel bei einer Baumfällung) zu verstehen und diese dann in der Performance für den Zuschauerblick nachzubauen. KS: Das Theatrale spielt auch für uns eine sehr große Rolle – aber es ist eine unvollständige Theatralität, sie ist im Prozess, im Werden, sie ist fragil, sie ist er7 | Quast & Knoblich: Nagelneu – Nagelbar. Berlin 2016 und Bremen 2017. 8 | Quast & Knoblich: Der Ur-Forst. 6-stündige Performance-Aktion. Berlin 2014 und Mülheim 2015. 9 | Mobile Albania: Grenzgänge Limes. Im Rahmen von „Transit bewegt Rhein-Main“. Obergermanischer Limes 2016.
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kämpft, sie ist vergänglich, sie ist eine Behauptung – und sie vervollständigt sich erst im Vollzug. Wenn wir sagen, „das ist unser Holzrollesel, mit dem wandern wir hier durch die Gegend“ oder „wir machen hier den längsten analogen Telefonanruf der Welt“, dann sind das abwegige, aber auch fantastische Setzungen, die meistens Erklärungen von den Leuten selbst provozieren. Die Geschichte vervollständigt sich durch die Begegnungen, aber nicht durch unser Wissen. Wir trennen dabei aber auch selten zwischen Probe und Aufführung, sondern würden unser Arbeiten eher als performative Praxis beschreiben, die kleinere und größere Behauptungen in den Raum stellt. Mobile Albania ist ein innerstädtischer Wanderverein, Mobile Albania ist eine Telekommunikationsfirma, Mobile Albania ist eine wandernde Straßenuniversität … Manche Behauptungen beginnen als Scherz, der aber plötzlich so lange dauert, bis es keiner mehr ist. Die Brüchigkeit unserer Ästhetik interessiert uns, um in ihrer Unfertigkeit Vorstellungen erst entstehen zu lassen, durch ihre Naivität Potenziale von Räumen und Begegnungen neu auszuloten und unmögliche Setzungen zu vollziehen – und Situationen entstehen zu lassen, die wir letztlich niemals gänzlich unter Kontrolle haben. FA: In einigen von euren Arbeiten stellt ihr Beziehungen her zwischen existierenden sozialen Zusammenhängen – Nachbarschaften, Vereinen, Berufsgruppen – und Publikum, das über die Theater und Kunstinstitutionen kommt. Daraus entstehen zwei mögliche Kippmomente: einerseits in eine gewisse Form des Sozialkitsches, der eine unmittelbare Begegnung aller Beteiligten behauptet, andererseits in Sozialvoyeurismus, der Blick des vom Theater adressierten Publikums auf die „theaterfernen“ Beteiligten. S. 47 Ich würde behaupten: Ihr konfrontiert diese Kippmomente durch eine von allen, einschließlich euch, geteilte Abwegigkeit. Wenn Quast & Knoblich im Rahmen von Frankfurt Evakuieren10 in einem erdbeerförmigen Verkaufsstand auf einem Hundeplatz steht und in einer Art Kochshow mittels Vanilleschleim das Chemieunglück in Höchst nachvollzieht, während die Vereinsmitglieder dazu selbstgebackenen Kuchen verkaufen und versuchen, ihre Hunde zum Sprung über den Schleim zu trainieren. Oder wenn Mobile Albania mit einem ärmlichen Holzrollesel durch die Bremer Neustadt zieht und vor dem Supermarkt versucht, in fremde Küchen zu gelangen und dort mit den fremden Bewohner*innen ein Abendessen zu kochen.
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MK: Diese Kippmomente sind extrem wichtig für die Arbeit. Es sind die Momente, die wir ständig befragen müssen. Ganz wichtig ist hierbei, dass wir den Expert*innen aus dem Feld der Floristik oder Taxidermie beispielsweise als Theatermacher*innen mit einer Expertise für Performance begegnen. Das heißt, im Prozess ist transparent, was unser Interesse ist und was wir von den beteiligten Berufsgrup10 | Quast & Knoblich: Schwanheimer Schleim im Rahmen von EVAKUIEREN/ Akira Takayama. Frankfurt 2014.
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pen und Vereinen lernen wollen. So entsteht erst einmal eine Anerkennung für die jeweilige Arbeit und ein harter Prozess, diese auch selbst zu erlernen und dann durchführen zu können. Das heißt, eigentlich stellen wir uns am Ende in der Blickanordnung des Theaters zwischen das Publikum und die „theaterfernen“ Beteiligten. Die gegenseitige Anerkennung im Prozess bildet die Basis, um mit dem gewonnenen Wissen im weiteren Probenverlauf frei umgehen und um irgendwann dem Material an sich ein Eigenleben geben zu können. Der gekochte Schleim entwickelt dabei ein solches Eigenleben, dient gleichzeitig aber auch nur als ein Vehikel, um über Höchst sprechen zu können. Denn Höchster kommen vorbei und sehen den Schleim und sagen: „So hat er aber nicht ausgesehen“, oder „Ja, genau so hat er ausgesehen“. Und dann entsteht die Debatte am Erdbeerhaus, die wir uns erhofft haben. Genauso dient das Floristikarrangement bei Trauer Tragen11 auch als ein Vehikel, um über Tod und Verlust nachzudenken. KA: Diese Kippmomente sind auch für uns zentral, denn sie verunsichern die Beziehungen, an die wir uns untereinander gewöhnt haben. Uns interessiert keine Benetton-Darstellung von Diversität. Uns interessiert ihr Vollzug und die Konfrontation mit all ihren Konsequenzen. Wenn wir ein nettes Gespräch mit Leuten führen und die alles wahnsinnig interessant finden, was wir so zu erzählen haben, und wir sie dann irgendwann fragen: „Übrigens, wir haben heute Abend noch gar keinen Schlafplatz – könnten wir vielleicht bei Ihnen eine Unterkunft für fünf Leute bekommen?“, dann entsteht erst mal eine seltsame Situation von Zweifel, Neugier, Überraschung, Grenzübertritt. Kann ich diesen fremden Leuten trauen? Will ich mich wirklich auf mehr einlassen als auf eine unverbindliche Unterhaltung? Und dieser Kippmoment betrifft auch uns selbst: Wollen wir uns jetzt wirklich in diese Situation mit diesen Menschen begeben?12 Kippmomente entstehen auch, wenn beim analogen Telefonanruf plötzlich ein Reporterteam von SAT1 vor uns steht und ein großes Spektakel einfangen will und dann wiederum mit unserer sehr langsamen, kruden Veranstaltung konfrontiert ist, die sie versuchen, in ihr 1-Minuten-Intensivformat zu bringen, und wie sie bei diesem Versuch unter den Augen aller plötzlich das eigentliche Theater produzieren. Das erzeugt Verschiebungen, die so nicht vorgesehen sind. Kippmomente entstehen, wenn sich während einer Aufführung eine Horde von Menschen ungefragt auf die Fahrbahn begibt, rote Ampeln ignoriert und den Verkehr blockiert. Wer garantiert jetzt noch für die Sicherheit? Wer ist verantwortlich? Das Theater? Wir? Die Besucher? Oder was passiert, wenn unser Bus auf einer Hauptverkehrsstraße bei Rot hält und nicht mehr anfährt? Wenn die Straße zusätzlich von unserem Holzrollesel blockiert wird und die Verkehrsinseln zu Zu11 | Quast & Knoblich: Trauer Tragen. Gießen, Frankfurt, Mannheim 2012, Bremen 2016. 12 | Mobile Albania: Mobile Albania im Hinterland. 3. Teil der mittelhessischen Straßentrilogie. Diskurs Festival Gießen 2010.
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schauerrängen werden, wenn alle aus den Autos steigen, verweilen und dann wieder weiterfahren?13 FA: Ihr (Quast & Knoblich) eignet euch für eure Arbeiten unterschiedlichste Praktiken an: Nageldesign, Taxidermie (also das Ausstopfen von Tieren14), Tierdressur, aber auch Formate wie das Youtube-Tutorial oder eine spezifische Sprechhaltung, die eher aus der Frühstückssendung oder dem Shopping-TV zu kommen scheint. Die Praktiken sind mit Menschen verbunden, die sich nicht mit den üblichen „Zielgruppen“ des Theaters decken und so im besten Fall ein sehr heterogenes Publikum herstellen. Welche Haltung entwickelt ihr zu eurer Praxis im Moment der „Aufführung“? Während ihr den Besucherinnen der Nagelbar im Bremer Viertel die Nägel gestaltet, werdet ihr und eure Perücken, die ihr tragt, ja nicht einfach zu Nageldesigner*innen. Gleichzeitig stellt sich nicht einfach ein parodistisches Verhältnis zu den von euch entwickelten Figuren her … MK: Während der Recherche, in diesem Fall der Ausbildung zum Nageldesigner, eignen wir uns Technik und Fachsprache an, um diese dann im Probenprozess noch mal neu zu befragen bzw. wieder zu verlernen. Deshalb treten wir auch nicht als Nageldesigner*innen, sondern als Nagelkünstler*innen auf, das heißt, wir sind immer gleichzeitig auch das Performance-Duo, das im besten Fall die eigene Praxis als Kunst/künstlich mitreflektiert, während sie passiert. Gleichzeitig geht es hierbei auch ganz stark darum, die Maxime unserer Nagelausbildung „Die/der Kunde hat immer Recht bzw. ist König“ immer wieder zu unterlaufen, um so die Frage zu stellen, was eigentlich Dienstleistung oder Service ist und wie dieser strukturiert ist. FA: Theaterhäuser sehen sich oftmals mit der Forderung nach Niedrigschwelligkeit und Partizipation konfrontiert, um dem Theater als scheinbar elitärer Veranstaltung das Bild eines Theaters für alle entgegenzusetzen. Diese Forderung wird dann gerne an freie Gruppen weitergegeben. Mobile Albania arbeitet sowohl gefragt für Theaterhäuser in Deutschland als auch ungefragt in Ungarn oder Albanien. Wie geht ihr mit dem „Imperativ der Niedrigschwelligkeit“ um? KS: Segregation spielt in unserer Gesellschaft eine unglaublich große Rolle. Aber in dem Moment, wo man sagt, „muss niedrigschwellig sein“, stellt man sich ein Bein und denkt utilitaristisch und schmalgespurt. Gleichzeitig gibt es viele Ausschlüsse, und für die kann man sich sensibilisieren. Wir haben das Gefühl, dass oftmals die Menschen die feinsinnigsten und philosophischsten Gedanken und Energien haben, die garantiert nicht Gäste der Institutionen sind, in denen wir meis13 | Mobile Albania: Rot. 1. Teil der mittelhessischen Straßentrilogie. Diskurs Festival Gießen 2010. 14 | Quast & Knoblich: Mohrle. Eine Fabel. Berlin, Frankfurt, Wien, Düsseldorf 2014, Bremen 2015.
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tens Theater machen. Uns interessiert es, mit denen zusammenzukommen. Und dafür erfinden wir gerne immer wieder neue Rahmen. Unsere Projekte bewegen sich immer wieder zwischen den Institutionen – Stadttheatern, Galerien, Häusern der freien Szene, dem Stadt- und Straßenraum mit Aktivist*innen, Künstler*innen, Lai*innen, Passant*innen. Mobile Albania entstand aus dem Unwohlsein, einstündige Stücke zu produzieren für freie Häuser, die diese Stücke zeigen, in die Leute kommen, die sich diese Stücke anschauen. Mobile Albania entstand aus der Lust, aus einer anderen Perspektive in diese Häuser mit den schwarzen Boxen zu kommen. Mobile Albania entstand aus dem Interesse, weg von einer rasanten und sauber getakteten Projektarbeit zu einer performativen Praxis zu kommen, in der Aufführung und Proben nicht immer voneinander zu unterscheiden sind. Wie können wir jenseits von Thementheater recherchieren, ohne unser Wissen über Internet und Bücher zu beziehen? Uns anderem Wissen aussetzen, ohne es in Form von Expert*innen zu kolonialisieren und auszustellen? Wie kann sich das Verhältnis von Welt und Institution, von Theater und Interaktion jenseits patronisierend partizipativer Vereinnahmung gestalten? Wie kann ein dummes Theater funktionieren, das noch nicht alles weiß? Wie können wir Momente entstehen lassen, die dann außerhalb unserer Kontrolle liegen? Mobile Albania produziert Pausen und sucht seine Inhalte auf der Straße. Uns interessiert ganz grundsätzlich, unter welchen Rahmenbedingungen Versammlungen entstehen können – und dafür können Theater großartige Häuser sein, aber auch für vieles andere. Und vielleicht wird das Theater bei uns auch kurz ein Schwimmbad oder ein Callcenter. An erster Stelle steht nicht, möglichst viele Menschen ins Theater zu bekommen, sondern eine Situation zu schaffen, die für alle Beteiligten aufweckend, inspirierend, seltsam, provozierend, irritierend sein kann.
Epilog
Jörg Holkenbrink berichtet:
Das MO(B)BILE1 „Da ist zunächst und vor allem das, was ich für die Grundbedingung jeder geisteswissenschaftlichen Hermeneutik halte: dass nämlich die Rechte und die Dimension des Nicht-Verstehens, die Blockade und das Zögern, das Aussetzen und das Unterbrechen der verstehenden Aneignung des Gegenstandes respektiert werden, ihren Platz und die Ruhe haben, praktiziert und nicht nur behauptet zu werden. Zu dieser Ruhe gehört eine Dimension der Zeit, auch der vergeudeten Zeit, die Teil solcher Erfahrung ist und nicht verrechenbar mit der Ökonomie und Logik einer möglichst unumwegigen Aneignung.“ 2 (Hans-Thies Lehmann)
Bereits Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, also noch vor der flächendeckenden Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen, fiel einer forschenden Performance-Gruppe an der Universität Bremen ein eklatanter Widerspruch im Umgang mit dem Thema Zeit ins Auge: Die Dozentin eines Seminars in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften, das in kritischer Absicht unter anderem Fragmentierungs- und Beschleunigungsprozesse in der Wissensvermittlung 1 | Überarbeitete Fassung eines Abschnitts aus: Holkenbrink, Jörg (2013): Alles eine Frage der Zeit. Performance Studies: Forschendes Lernen mit dem Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst. In: Huber, Ludwig; Kröger, Margot; Schelhowe, Heidi (Hg.): Forschendes Lernen als Profilmerkmal einer Universität. Beispiele aus der Universität Bremen. Bielefeld: UVW, S. 105–121. 2 | Lehmann, Hans-Thies (2009): Über eine Universität, die an der Zeit ist. In: Haß, Ulrike; Müller-Schöll, Nikolaus (Hg.): Was ist eine Universität? Schlaglichter auf eine ruinierte Institution. Bielefeld: transcript, S. 96.
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Jörg Holkenbrink
diskutierte, war selbst in Zeitnot geraten und hatte deshalb zwei thematisch unterschiedliche studentische Referate an einem Termin zusammengezogen. Das erste Referat behandelte das Thema Bildung und Zeit, das zweite das Thema Mobbing. In einem dritten Teil sollten vier Ensemble-Mitglieder des Theaters der Versammlung mit performativen Mitteln einen Kommentar zu dieser Sitzung leisten. Die vier Performer*innen besuchten mehrmals die Vorbereitungsgruppen für die beiden Referate und informierten sich über geplante Vorgehensweisen und Lektüre-Ergebnisse. Parallel dazu suchten sie nach Anzeichen bzw. körperlichen Ausdrucksformen von Mobbing bzw. Ausgrenzung in universitären Veranstaltungen und Gremien. Auf der Grundlage ihrer Recherchen entwickelten die EnsembleMitglieder dann eine Versuchsanordnung, die sie MO(B)BILE nannten und an dem Seminartermin, zu dem sie eingeladen waren, durchführten. Die Aktionen des MO(B)BILE bestanden in der ständigen Wiederholung choreografierter Bewegungsabläufe und Positionswechsel, mit denen die Performer*innen die kleinen, fiesen, ausgrenzenden Gesten und Mienenspiele zur Schau stellten, die sie zuvor in den Lehrveranstaltungen und Gremien der Universität beobachtet und studiert hatten. Zur Inszenierung des MO(B)BILE gehörten außerdem drei Regeln, mit denen es in die Seminarsitzung eingebettet wurde: 1) Nach den Referaten und genau 15 Minuten vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung nehmen die Performer*innen in der Mitte des Raumes ihre Ausgangsposition ein. 2) Sobald Seminarteilnehmer*innen Performer*innen körperlich berühren, wird das MO(B)BILE in Bewegung gesetzt. 3) Das MO(B)BILE bleibt so lange in Bewegung, bis auch die letzten Seminar teilnehmer*innen einschließlich der Dozentin den Raum verlassen haben. Da das Seminar am Spätnachmittag stattfand und der Raum anschließend frei war, gab es von dieser Seite her keine zeitliche Begrenzung. Alle drei Regeln waren dem Publikum bekannt. Was passierte während der Aufführung dieser Inszenierung? 15 Minuten vor dem offiziellen Ende der Veranstaltung nahmen die Performer*innen in der Mitte des Raumes ihre Ausgangsposition ein. Die Seminarteilnehmer*innen betrachteten zunächst aufmerksam das Standbild, das bereits eine Sammlung abschätziger und ausgrenzender Gestik und Mimik zum Ausdruck brachte. Nach ungefähr einer Minute stand eine Studentin auf, berührte eine der Performer*innen leicht am Arm, das MO(B)BILE setzte sich in Bewegung. Die Seminarteilnehmer*innen betrachteten eine Zeitlang interessiert die sich ständig wiederholenden Aktionsabläufe. Pünktlich zum Ende der offiziellen Seminarzeit verließ etwa die Hälfte der 60 Studierenden den Raum. Diejenigen, die blieben, warteten ab, was passiert. Das MO(B)BILE wiederholte weiterhin die inzwischen vertrauten Aktionsabläufe. Einige Beobachter*innen lehnten sich entspannt zurück
Das MO(B)BILE
und schienen in einen fast meditativen Zustand zu verfallen. Anderen war deutlich anzumerken, dass sie mit der Frage beschäftigt waren, ob sie wirklich noch bleiben sollen – sei es aus Höflichkeit oder weil ja vielleicht doch noch etwas Unerwartetes passieren könnte. Sie tauschten untereinander fragende Blicke. Nach und nach verließen weitere Seminarteilnehmer*innen den Raum, darunter die Dozentin. 40 Minuten nach dem offiziellen Seminarende betrachteten noch immer elf Seminarteilnehmer*innen vier Performer*innen, die wohltrainiert ihre gleichbleibenden Aktionsabläufe aufführten. Einige der noch anwesenden Betrachter*innen begründeten ihr Bleiben später damit, dass sie es spannend fanden zu erraten, wer als nächstes mit welchem Körperausdruck aufstehen und gehen würde. So beobachteten sie beispielsweise, dass einige der Ausdrücke von Gehenden den Ausdrücken, die das MO(B)BILE zur Schau stellte, gar nicht so unähnlich waren. Wurde das MO(B)BILE gemobbt? Am Ende dieser Phase änderte sich noch einmal langsam aber deutlich die Atmosphäre im Raum. Die verbliebenen elf Zuschauer*innen nahmen sichtbar eine immer herausforderndere Haltung ein. Es wurde deutlich, dass sie sich wortlos darauf verständigt hatten, von nun an mit den Performer*innen in einen Wettstreit zu treten: „Wir bleiben hier so lange sitzen, bis ihr nicht mehr in der Lage seid, eure Bewegungsfolgen konzentriert durchzuführen, was dann den Bruch mit Regel Nummer 3 bedeuten würde“. Die Performer*innen berichteten später, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt diese Herausforderung deutlich gespürt hätten. Da sie aber wohltrainiert waren, erstreckte sich der anschließende Kampf mit dem Publikum noch über einen längeren Zeitraum. Als ein letzter Seminarteilnehmer dem MO(B)BILE allein und hämisch grinsend gegenüber saß, waren fast noch einmal so viele Minuten Extrazeit vergangen, wie das Seminar ursprünglich gedauert hatte, also ungefähr 90 Minuten. Schließlich ging auch dieser Teilnehmer. Später gab er an, er hätte leider noch einen dringenden Termin wahrnehmen müssen. Als jedoch die Tür des Seminarraums hinter ihm ins Schloss gefallen war, drehte er sich plötzlich wieder um und riss die Tür noch einmal auf. Das MO(B)BILE stand still.
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Herausgeberinnen, Jubilare, Autor*innen Zu den Herausgeberinnen Alice Lagaay ist Vertretungsprofessorin für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie der „negativen“ Performanz (Nicht-tun, Scheitern, Indifferenz) sowie die Beziehung zwischen Performance und Philosophie. Zuletzt vertrat sie die Professur für Kulturgeschichte und Medientheorie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Ebenso lehrte sie Philosophie an der Freien Universität Berlin (2002–2011: SFB Kulturen des Performativen) sowie der Universität Bremen (2012–2015), wo ihre Seminare regelmäßig vom Theater der Versammlung begleitet wurden. Sie ist Mitbegründerin des internationalen Forschungsnetzwerks Performance Philosophy (performancephilosophy.org) und Mitherausgeberin der gleichnamigen Buchreihe beim englischen Verlag Palgrave Macmillan. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. bei transcript: Nicht(s) Sagen, 2008 (Hg. mit Emmanuel Alloa), Ökonomien der Zurückhaltung, 2010 (Hg. mit Barbara Gronau). Anna Seitz ist Dramaturgin, Philosophin und Theater-, Film- und Medienwissenschaftlerin. Sie studierte in Frankfurt am Main und in Zürich. Als Dramaturgin realisierte sie zahlreiche Theater- und Tanzproduktionen im In- und Ausland. Seit 2013 lehrt sie am Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen. Aktuell arbeitet sie zudem als Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung an ihrer philosophischen Dissertation zur Performativen Forschung und Performanz in der Forschung. Letzte Aufsätze: [zus. mit Jörg Holkenbrink] Challenging Formats. Content and Form in Dialogue. In: Ahmad, Aisha-Nusrat; Fielitz, Maik; Leinus, Johanna; Schlichte, Gianna Magdalena (Hg.) (2018): Knowledge, Normativity and Power in Academia – Critical Interventions, Frankfurt/New York: Campus (S. 137–149); [zus. mit Jörg Holkenbrink]: Die subversive Kraft der Verletzlichkeit. Ein Dialog über Wissenskulturen und ihre Aufführungen. In: Ingrisch, Doris; Mangelsdorf, Marion; Dressel, Gert (Hg.) (2017): Wissenskulturen im Dialog. Bielefeld: transcript (S. 97–109).
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Zu den Jubilaren Jörg Holkenbrink leitet das Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen und das Theater der Versammlung. Als Regisseur inszeniert er vorwiegend an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Kunst. Zu seinen weiteren Arbeitsschwerpunkten zählen Performative Forschung und Lehre, Wissenskulturen im Dialog, Entwicklung von produktionsorientierten Methoden im Umgang mit literarischen, dokumentarischen und theoretischen Texten (Inszenierungstypen, Dramaturgie), Leitung der Aus- und Weiterbildung in Performance Studies an der Universität Bremen, regelmäßige Veröffentlichungen zu Wissenskulturen und ihren Aufführungen. Das Theater der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst (TdV) wurde 1992 unter der Leitung von Jörg Holkenbrink im Rahmen eines gleichnamigen Modellversuchs der Bund-Länder-Kommission für Bildungsfragen erfunden, erhielt 1993 den Berninghausen-Preis für ausgezeichnete Lehre und ihre Innovation im Hochschulbereich und wirkt seit 2004 als Herzstück des Zentrums für Performance Studies der Universität Bremen. Zu den Aufgaben des Zentrums zählen die inter- und transdisziplinäre Vernetzung unterschiedlicher Wissenskulturen, insbesondere der Bereiche Wissenschaft und Kunst, und die entsprechende Entwicklung neuer Veranstaltungsdramaturgien und Veranstaltungsformate. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des TdV steht die Zusammenarbeit professioneller Aufführungskünstler*innen verschiedener Sparten mit Hochschulangehörigen unterschiedlicher wissenschaftlicher Fachrichtung. Das Ensemble wandert durch die unterschiedlichen Fachbereiche und untersucht dort Themen und Fragestellungen, die in den Seminaren theoretisch behandelt werden, mit den Mitteln der Performance. Die entstehenden Inszenierungen werden regional, überregional und international aufgeführt und diskutiert. Die gewonnenen Erfahrungen fließen wieder in universitäre Arbeitszusammenhänge zurück. Die Bremer Performance Studies bilden für diese untersuchende und intervenierende Form der Theaterarbeit aus.
Zu den Autor*innen Florian Ackermann studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Er war Koordinator des Ausbildungsnetzwerks Hessische Theaterakademie, Projektleiter des Frankfurter LAB und arbeitete als freischaffender Dramaturg. Mit der freien Szene in Frankfurt entwickelte er Festivals und ein Probenzentrum. Seit 2015 arbeitet er als Dramaturg an der Schwankhalle Bremen.
Herausgeberinnen, Jubilare, Autor*innen
Elisabeth Arend ist seit 2000 Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Nach frankoromanistischer Promotion (RWTH Aachen) und italianistischer Habilitation (Universität Göttingen) lehrt und forscht sie im Feld des Maghreb, der frankophonen Literaturen sowie der Transnationalität und ist verantwortlich für den interdisziplinären Master „Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film“. Ausgewählte Aufsätze: Italienische Literatur. In: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel; Dürbeck, Gabriele (Hg.) (2017): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: Metzler (S. 386–389); Grenzdiskurse in literarischen und filmischen Mittelmeerdiskursen. In: Dabag, Mirha; Haller, Dieter; Jaspert, Nicola; Lichtenberger, Achim (Hg.) (2016): New Horizons. Mediterranean Research in the 21st Century. Paderborn: Schöningh (S. 21–44); Männlichkeit in frankophonen algerischen Texten weiblicher Autorschaft. In: Möhrmann, Renate (Hg.) (2014): Frauenphantasien. Der imaginierte Mann im Werk von Film- und Buchautorinnen. Stuttgart: Kröner (S. 483–511). Carolin Bebek ist Performerin und Erziehungswissenschaftlerin; seit 2008 Ensemblemitglied im Theater der Versammlung. Sie studierte Erziehungswissenschaften, Performance Studies, Geographie und Germanistik und war während/ nach ihrem Studium u.a. als Lehrerin, Sprecherin und Lehrbeauftragte tätig. Seit 2015 ist sie Universitätslektorin im Bereich Allgemeine Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Bildungstheorie an der Universität Bremen und erprobt dort im Rahmen der Lehrer*innenbildung die Verknüpfung von wissenschaftlichen und performativen Forschungs-, Lehr- und Lernweisen. Seit 2016 ist sie außerdem Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Jenseits des Unterrichts: Ethnografische Studien zu Lernkulturen an den Rändern von Schule“ (JenUs). In ihrer Promotion erforscht sie pädagogische Wirklichkeit(en) als Berührungsgeschehen und fragt nach der Rolle von Berührung(en) in Bildungs- und Subjektivationsprozessen. Guido Becke ist Arbeits- und Sozialwissenschaftler. Promotion in Soziologie an der Universität Dortmund 2001, Habilitation in Arbeitswissenschaften an der Universität Bremen 2007. Langjährige wissenschaftliche Tätigkeit am Landesinstitut Sozialforschungsstelle Dortmund (sfs). Senior Researcher und Koordinator des Forschungsfelds „Arbeit und Gesundheit“ am artec-Forschungszentrum Nachhaltigkeit (Universität Bremen) 2002–2014, seither Forschungsleiter am Institut Arbeit und Wirtschaft (Universität Bremen und Arbeitnehmerkammer Bremen). Forschungsschwerpunkte: Arbeit und Gesundheit, Arbeit und Nachhaltigkeit, Arbeit und organisatorischer Wandel, Arbeit und soziale Beziehungen, Dienstleistungsarbeit. Privatdozent für Arbeitswissenschaft im Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. Ausgewählte Publikationen: Soziale Erwartungsstrukturen in Unternehmen. Zur psychosozialen Dynamik von Gegenseitigkeit im Organisationswandel. Berlin: Edition Sigma, 2008; Mindful Change
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in Times of Permanent Reorganization. Organizational, Institutional, and Sustainability Perspectives (Hg.), Springer: Dordrecht et al., 2015. Marion Bönnighausen ist Professorin für Literatur- und Mediendidaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ästhetische Bildung, Leseförderung, Theater- und Filmdidaktik. Ausgewählte Aufsätze: Zwischen Sinn-Stiftung und Wahr-Nehmung. Theatralität als Dispositiv im literaturdidaktischen Kontext. In: Baum, Michael; Bönnighausen, Marion (Hg.) (2010): Kulturtheoretische Kontexte für die Literaturdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider (S. 125–143); Medialisierte Theaterformen – theatralisierte Mediengeflechte. Theaterdidaktik in der Netzwerkgesellschaft. In: Bönnighausen, Marion; Paule, Gabriela (Hg.) (2011): Wege ins Theater: Spielen, Zuschauen, Urteilen. Berlin: LIT Verlag (S. 113–132); Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht. In: Hochkirchen, Britta; Koller, Elke (Hg.) (2015): Zwischen Materialität und Ereignis. Literaturvermittlung in Ausstellungen, Museen und Archiven. Bielefeld: transcript (S. 175–188). Anke Euler ist seit 2010 Tanzdramaturgin für steptext dance project. In dieser Funktion hat sie u.a. die Tanztrilogie DisPLACING Future, die Festivals Baila España und Africtions, Produktionen aller steptext-Choreograf*innen sowie zahlreiche internationale Veranstaltungsreihen betreut, mitkonzipiert und ihnen diskursive Reflexionsräume geschaffen. Sie schloss 2009 ihr Studium der Dramaturgie, Französischen Philologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie der Bayerischen Theaterakademie August Everding ab. Seit 2005 arbeitete sie als Dramaturgin und Produktionsleitung für Micha Purucker, TravelLight München, co>labs tanz/theater/produktionen Nürnberg, das Theater Lüneburg und das Münchner Festival RODEO. Sie veröffentlichte Essays in der Zeitschrift tanz und hospitierte 2011–2013 in der Forschungsgruppe Dance Engaging Science des Projekts Motion Bank der Forsythe Company. Zuletzt lag ihr Schwerpunkt gemeinsam mit Helge Letonja / steptext auf afrikanisch-europäischen Kooperationsformaten und Tanzproduktionen wie Out of Joint, 2017, und The Choreonauts – Afro-European Navigations, 2018. Malina Günzel studierte 2009–2012 Literatur, Kultur, Medien sowie Sozialwissenschaften an der Universität Siegen. Paralleles Engagement im TollMut-Theater. Anschließend nahm sie ihr Studium der Transnationalen Literaturwissenschaft und der Performance Studies an der Universität Bremen auf. Sie schrieb unter anderem für die taz und setzt zurzeit Ihre Arbeitskraft beim Berliner Projekt Mein Grundeinkommen ein. Als Ensemblemitglied des Theaters der Versammlung ist sie an Projekten im In- und Ausland beteiligt.
Herausgeberinnen, Jubilare, Autor*innen
Joachim Heintz studierte zunächst Literatur- und Kunstgeschichte in Braunschweig und Hamburg, dann Komposition in Bremen bei Younghi Pagh-Paan und Günter Steinke. Als Komponist arbeitet er für Instrumente und für Elektronik, für Konzerte oder Installationen. Seine Werke werden in verschiedenen Ländern Europas, Asiens und Amerikas aufgeführt. Er unterrichtet an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover Komposition und leitet das Elektronische Studio FMSBW im Institut für neue Musik Incontri. Auf dem Gebiet der Software ist er als Mitentwickler in den Open-Source-Projekten Csound und CsoundQt aktiv. Daneben schreibt er literarische Texte, oft zu historischem Material, von denen die meisten auf seiner Website www.joachimheintz.de zu lesen sind. Seit 2006 als Komponist und Performer Ensemblemitglied im Theater der Versammlung. Doris Ingrisch studierte Geschichte, Germanistik und Soziologie an der Universität Wien und ist als Universitätsprofessorin für Gender Studies am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien tätig. Ihre Forschungsprojekte und Publikationen umfassen neben dem Bereich Gender auch Cultural Studies mit den derzeitigen Schwerpunkten Wissenschaft, Kunst und Gender, Wissenschaftsgeschichte, Exil-/Emigrationsforschung sowie Experimentelle und Qualitative Methoden. Letzte Publikationen: Ingrisch, Doris; Hofecker, Franz-Otto; Flath, Beate (Hg.) (2017): Gender-KulturManagement. Relatedness in und zwischen Wissenschaft und Kunst. Transdisziplinäre Erkundungen, Bielefeld: transcript; Ingrisch, Doris; Mangelsdorf, Marion; Dressel, Gert (Hg.) (2017): Wissenskulturen im Dialog. Experimentalräume zwischen Wissenschaft und Kunst, Bielefeld: transcript. Philipp Kamps ist Wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promoviert dort in den Fächern Deutsche Philologie und Theologie. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Theaterdidaktik und Ästhetische Bildung. Der Titel seiner Dissertation lautet: Wahrnehmung – Ereignis – Materialität. Modellierung eines phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik. Letzte Veröffentlichungen: „Kunst, also das kommt, wenn du dich inspirieren lässt.“ Perspektiven einer phänomenologisch akzentuierten Theaterdidaktik. In: Wrobel, Dieter; von Brand, Tilman; Engelns, Markus (Hg.) (2017): Gestaltungsraum Deutschunterricht. Literatur–Kultur–Sprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren (S. 67–76); [zus. mit Marion Bönnighausen]: Aufführungsrezeption im Kontext einer interdisziplinären Theaterdidaktik. In: Steiner, Anne; Radvan, Florian (Hg.) (2016): Grenzspiele. Theaterdidaktische Perspektiven auf Normen und Normbrüche im Drama und auf der Bühne. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren (S. 177–194). Thomas Kleinspehn, Dr. phil., apl. Prof., ist Kulturwissenschaftler und Publizist. Lehrtätigkeiten und Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten (Kassel, Göt-
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tingen, Oldenburg, Bremen, Lüneburg, HUB Berlin, Innsbruck). Bis 2014 freier Redakteur in der Kulturabteilung von Radio Bremen/NordwestRadio und Autor bei anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowie überregionalen Zeitungen. Buchhändler und Übersetzer. Arbeitsschwerpunkte: Kultursoziologie und historische Soziologie, Wandel von Subjektstrukturen und Identität, Geschichte des Körpers und von Mentalitäten, Technik und Kultur, Psyche und Gesellschaft. Ausgewählte Publikationen: Der verdrängte Alltag. Henri Lefèbvres marxistische Kritik des Alltagslebens, Gießen: Focus Verlag, 1975; Warum sind wir so unersättlich? Über den Bedeutungswandel des Essens, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987; Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Reinbek: Rowohlt, 1989; Lewis Carroll. Eine Biographie, Reinbek: Rowohlt, 1997. Alice Koubová, PhD, ist Senior Researcher am Institut für Philosophie der Tschechischen Akademie der Wissenschaft in Prag und lehrt ebenso an der Akademie für Darstellende Kunst in Prag. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Performance Philosophy, Expressivität, Post-Phänomenologie und Ethik. Sie leitet das internationale Forschungsprojekt Philosophy in Experiment und gehört zu den Gründungsmitgliedern von Performance Philosophy, Soundcheck Philosophie und der internationalen Plattform für Performer Training. Sie realisierte zahlreiche Performance-Formate an der Schnittstelle von Philosophie und Theater, 2008 erhielt sie den Libellus Primus Price und 2014 den Otto Wichterle Award. Ausgewählte Publikationen: Self-Identity and Powerlessness (Studies in Contemporary Phenomenology), Brill 2013; The Ethics of the Rejected and the Victim’s Morality: On Human and Inhuman in Adorno, Butler and Améry. In: FILOZOFIA 69, 2014, Nr. 7 (S. 549–557). Helge Letonja ist Choreograf, Tänzer, Festivalkurator und Projektentwickler. Er studierte Ballett und zeitgenössischen Tanz in Amsterdam und New York und tanzte u.a. an der Oper Graz, bei Jan Fabre, Montréal Danse und am Tanztheater Bremen. 1996 gründete er steptext dance project, das seit 2003 seinen festen Sitz in der von ihm mitkonzipierten Schwankhalle Bremen hat, dessen Künstlerischer Leiter er bis heute ist (http://www.steptext.de). Zu seinen jüngsten Aktivitäten und über 40 (teils weltweit tourenden) Tanzstücken gehören das vier Länder einbindende EU-Projekt KoresponDance Europe 2009–2011, das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte europäisch-afrikanische Projekt HOME 52° 30’ N 13° 23’ E ELEV 37 m 2011/12, die mit der Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste 2011–2013 realisierte Tanztrilogie DisPLACING Future und das im Rahmen des Festivals Africtions 2014 entstandene Boxom. Im selben Jahr wurde er mit steptext vom Fonds Darstellende Künste für den George Tabori Preis nominiert. Im Juni 2016 hatte er mit Zwei Giraffen tanzen Tango – Bremer Schritte am Theater Bremen Premiere, ein Tanzfonds Erbe Projekt, welches 2017 u.a. zur euro-scene Leipzig eingeladen wurde. Mit Gregory Maqoma zusammen choreogra-
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fierte er 2017 Out of joint und setzte damit seine Kollaborationen mit afrikanischen Künstler*innen fort. Simon Makhali ist Dramaturg am Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen, Performer und seit 1992 Ensemblemitglied des Theaters der Versammlung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Entwicklung neuer Veranstaltungsdramaturgien – z. B. von Tagungen – und performative Aspekte des Lehrens und Lernens. Zudem führt er Regie für Lehrfilme, arbeitet als Sprecher und bietet als Pilzsachverständiger Touren in die Wälder rund um Bremen an. Mobile Albania bereist seit 2009 mit verschiedensten Vehikeln Straßen, Städte und Landstriche in Deutschland und Europa. Ihre Arbeitsformen haben sich aus dem Unterwegssein entwickelt: analog, improvisiert und einladend. Mobile Albania produziert spontane Versammlungen und die dazugehörigen Verfassungen. Es entsteht ein wandelndes Theater, das seine Inhalte auf der Straße und aus der Begegnung mit Durchkreuzenden und Bewohnern entwickelt. Katharina Stephan ist Präsidentin, Gärtnerin und Chauffeurin des nomadischen Theaternachstaats „Mobile Albania“. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitet an prozessorientierten Theaterformen zwischen öffentlichem Raum und Institutionen der Stadtgesellschaft. 2011 schloss sie ihr Diplom mit der praktisch-theoretischen Arbeit Mobile Albania: Die Ordnung der fliehenden Dinge – Orientierung und Wunderkammer ab. Seit 2013 ist sie Mitarbeiterin für Projektdramaturgie und künstlerische Praxis am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft. Daneben arbeitet sie in verschiedenen Kollektiven als Dramaturgin, Performerin, Licht- und Sounddesignerin und realisiert eigene Klangarbeiten und Hörstücke. Frieder Nake ist ein mathematisch ausgebildeter Informatiker und in seinen jungen Jahren in die Computergrafik eingestiegen, als es die Informatik noch nicht gab, wodurch er dann zum Pionier der Computerkunst wurde. 1970 war er bereits in der Sonderausstellung Vorschlag für eine experimentelle Ausstellung auf der Biennale Venedig vertreten. Inzwischen hat er als Professor für Datenverarbeitung und interaktive Systeme an der Universität Bremen und als Gastprofessor für Digitale Medien an der Hochschule für Künste Bremen Hunderte von Studierenden zu Diplom-, Master-, Bachelor-, Magister- oder auch Doktor-Titeln geführt. Darüber hinaus lehrte Nake an den Universitäten Aarhus, Oslo, Basel, Tongji in Shanghai, Costa Rica und an der International School for New Media Lübeck. 2004–2005 war seine Ausstellung Die präzisen Vergnügen in der Kunsthalle Bremen und am ZKM Karlsruhe zu sehen. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zur Ästhetik als Informationsverarbeitung und zur Semiotik. Performanceduo Quast & Knoblich: In ihrer Zusammenarbeit stellen Hendrik Quast und Maika Knoblich „theatrale Probleme“ her und folgen einem gemein-
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samen Interesse an der Theatralisierung des Alltäglichen, Banalen, Grotesken und Nebensächlichen. Auf diese Weise bearbeiten sie theaterferne Milieus, darstellerische und handwerkliche Techniken sowie nichtdramatische Texte und Rhetoriken. Je nach Thema, Beteiligten und Expertisen entwickeln sie daraus originäre performative Formate, die aus einer stark visuell geleiteten Arbeitsweise groteskkomische Welten kreieren. Dazu gehören vor allem situations- und ortsspezifische Happenings und Aktionen, deren Dramaturgien sich durch Echtzeitlichkeit auszeichnen und oft als mehrstündige Durational-Formate nur einmalig stattfinden. Beide begannen ihre Zusammenarbeit 2009 während des Studiums am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Maria Peters ist seit 1998 Professorin für Kunstpädagogik/Ästhetische Bildung an der Universität Bremen. Sie studierte Kunst, Kunstpädagogik, Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und der HfbK Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Sprechen und Schreiben in Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, Performative Verfahren in der Kunstpädagogik, Kompetenzorientierung im Kunstunterricht, Radiokunst. 2009–2014 wissenschaftliche Begleitung für das Fach Kunst im Schulversuch alles»könner in Kooperation mit komdif/IPN-Kiel sowie der Schulbehörde Hamburg. Aktuelle Forschung seit 2014 u.a. Creative Unit Universität Bremen, Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation (FaBiT): Reflexive Prozessvisualisierungen/Artistic Research (www.uni-bremen.de/de/cu-fabit. html); seit 2016 Forschungs- und Entwicklungsprojekte zum Forschenden Studieren in der Lehrerbildung und in der Kunstpädagogik. Ausgewählte Publikationen: „Performative Prozesse sind ein Kern des Lernens überhaupt“ G.O. 1998/1999. In: Kirschenmann, Johannes; Seydel, Fritz (Hg.): Gunter Otto – was war, was bleibt?, München: kopaed 2017 (S. 81–94); Peters, Maria; Inthoff, Christina: Performance, Competence and Diversity: Visual Knowledge Productions in Art Education. Perspectives from the Research Project Creative Unit FaBiT. In: Rodriguez Sieweke, Lara (Hg.) (2017): Learning Scenarios for Social and Cultural Change: Bildung Through Academic Teaching, Hamburg: Peter Lang; Das künstlerische Portfolio zwischen Kompetenz und Performanz. In: Rieder, Christine (Hg.): Fachdidaktik in Kunst & Design: Forschendes Lehren und Lernen mit Portfolios. Bern: Haupt Verlag 2017 (S. 37–49); Peters, Maria; Inthoff, Christina (2015): Wahrnehmung und Sprache in performativen Versuchsanordnungen. In: Engel, Birgit; Böhme, Katja (Hg.): Didaktische Logiken des Unbestimmten. Immanente Qualitäten in erfahrungsoffenen Bildungsprozessen. Bd. 2. München: kopaed 2015 (S. 132–148). Sie ist Mitglied im Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen und Wissenschaftliche Sprecherin des Theaters der Versammlung. Annika Port erwarb in Leipzig einen BA in Theaterwissenschaft und hat an diversen Theaterprojekten mitgewirkt – unter anderem beim Schultheaterfestival
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der Länder in Nürnberg 2010, am Staatstheater Kassel und im Leipziger Kollektiv Moving Polygraph. Sie studiert derzeit an der Universität Bremen Transnationale Literaturwissenschaft: Literatur, Theater, Film sowie Performance Studies. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Performanz von Kategorien wie Gender und Race sowie feministische Theater- und Texttheorie. Sie arbeitet seit 2016 beim Theater der Versammlung und war als Performerin u.a. an dessen Projekt Chekhov – Fieldwork as Performance / Performance as Fieldwork für die 3rd biennial Performance Philosophy Conference 2017 in Prag beteiligt. Frank Pusch studierte in London und Bremen Grafik/Design und Fotografie und arbeitet seit 1990 als freier Fotojournalist für Zeitschriften, Zeitungen, Institutionen und Unternehmen sowie für kulturelle Projekte und Initiativen. Darüber hinaus bearbeitet und veröffentlicht er eigene Projekte und ist Mitbegründer des Fotografennetzwerks nordaufnahme. Heidi Schelhowe ist seit 2001 Professorin für Digitale Medien in der Bildung am Fachbereich Mathematik/Informatik der Universität Bremen. 2011–2014 war sie Konrektorin für Lehre und Studium. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Software- und Hardwareentwicklung für Bildungskontexte und Interaktionsdesign, Gestaltung von Lernumgebungen aus pädagogisch-didaktischer Sicht und Medienbildung. Sie ist Mitglied im ZDF-Fernsehrat. Ausgewählte Publikationen: Digital Realities, Physical Action and Deep Learning. FabLabs as Educational Environments? In: Büching, Corinne; Walter-Herrmann, Julia (Hg.) (2013): FabLabs. Shape your World. Bielefeld: transcript; Technologie, Imagination und Lernen. Grundlagen für Bildungsprozesse mit Digitalen Medien. Münster: Waxmann 2007; Das Medium aus der Maschine. Zur Metamorphose des Computers. Frankfurt: Campus 1997. Johanna Maj Schmidt arbeitet international in Kunst- und Kulturprojekten. Sie studierte Politikwissenschaften, English-Speaking Cultures und Performance Studies an der Universität Bremen und an der Jagiellonen Universität in Krakau. 2015 schloss sie einen MA in Art and Politics an der Goldsmiths University of London ab. Als Intercollegiate Student nahm sie am MSc Comparative Political Thought an der School of Oriental and African Studies (SOAS) teil. Zurzeit studiert sie Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Peter Sinapius ist seit 2012 Professor für Intermediale Kunsttherapie an der Medical School Hamburg (MSH) und dort Leiter des Studiengangs Expressive Arts in Social Transformation. Er studierte Malerei an der HbK Kassel und am San Francisco Art Institute, anschließend Kunsttherapie an der heilpädagogischen Fakultät der Universität Köln. 1992–2003 hatte er eine kunsttherapeutische Praxis
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Wissen Formen
in Wiesbaden. Promotion an der European Graduate School (EGS), Schweiz, zum Thema „Ästhetik therapeutischer Beziehungen – Therapie als ästhetische Praxis“. 2003–2012 Professor für Kunsttherapie und Malerei sowie Leiter des Instituts für Kunsttherapie und Forschung an der Fachhochschule Ottersberg. Autor zahlreicher Schriften zur Gesundheitsförderung und Kunsttherapie. Anne Storm war vor Beginn ihres Studiums Ensemblemitglied des Rostocker Theaterkollektivs Freigeister und beteiligte sich an verschiedenen Produktionen u.a. als Darstellerin und Co-Autorin. Seit 2014 studiert sie an der Universität Bremen Kunst-Medien-Ästhetische Bildung, Religionswissenschaft und Performance Studies. Seit Herbst 2016 arbeitet sie als Performerin beim Theater der Versammlung, u.a. in den Produktionen Am seidenen Faden – Was hat das Leben mit dem Tod zu tun und Chekhov – Fieldwork as Performance / Performance as Fieldwork für die 3rd biennial Performance Philosophy Conference 2017 in Prag. Katharina Weinhuber studierte Tanzpädagogik und Bühnentanz am Bruckner Konservatorium in Linz. Seit 2001 ist sie international als Performerin, Tänzerin und Choreografin tätig. Sie unterrichtet u.a. in Tanzstudios, im Rahmen von Kunstvermittlungsprojekten an Schulen und in der Erwachsenenbildung. Ihre Unterrichtstätigkeit ist in der Regel projektbezogen und interdisziplinär ausgerichtet: www. katharina-weinhuber.com. Tobias Winter ist freier Regisseur und Choreograf in Berlin. In seinen Inszenierungen sucht er immer wieder nach Heimat als soziale Skulptur. Aus der bildenden Kunst kommend, wandte er sich 1984 von Joseph Beuys beeinflusst dem Theater zu. Nach Studienaufenthalten in Paris bei Philippe Gaultier und Monika Pagneux arbeitete er als Darsteller, Regieassistent und Produktionsleiter beim Theater Willy Praml. In den 90er Jahren begann er mit der Inszenierung eigener Tanz- und Musikperformances, dramatisierte die Johannes-Passion von J. S. Bach und schrieb eigene Stücke. Er beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Shakespeare und in den Operninszenierungen mit Henry Purcell. Mit dem Theater- und Performance-Ensemble nodancerscompany inszenierte er unter anderem Song of Songs, eine multilinguale Dramatisierung des Hohelieds Salomos für die Kulturhauptstadt Europa, Istanbul 2010, wo er am Institut für Modern Dance der Mimar Sinan Universität auch angewandte Tanzdramaturgie unterrichtete. 2014 gründete er theswarmcompany, schrieb und inszenierte 19 Tage Gezi-Park. Mit der politischen Entwicklung in der Türkei und der sogenannten Flüchtlingskrise entstanden Inszenierungen wie Romeos und Julias und 7 Artikel aus dem Grundgesetz, die er gemeinsam mit seinen Studierenden der theaterschule im kalkwerk und Geflüchteten realisierte.
Bildnachweise
S. 22–23 Mann mit Hut: Jörg Holkenbrink, 2000. © Frank Pusch/ Theater der Versammlung. S. 27
Nietzsche on Stage: Das Theater der Versammlung im Tanz- quartier Wien, 2015. © FWF PEEK-Projekt „Artist-Philoso- phers. Philosophy AS Arts-based research“ [AR 275-G21], Be- arbeitung Filmstill: Frank Pusch/Theater der Versammlung.
S. 79 Zwei Folien aus „Angesichts des dritten“, 2004. © Frieder Nake. S. 109–111
Bilder aus der TdV-Inszenierung „TSCHECHOW – Eine Landpartie“, 2013. © Frank Pusch/Theater der Versammlung.
S. 158 Skizze „Raumanordnung 1“, 2017. © Doris Ingrisch, Katharina Weinhuber. S. 167 Skizze „Raumanordnung 2“, 2017. © Doris Ingrisch, Katharina Weinhuber. S. 174
Einladungskarte der TdV-Inszenierung „Am seidenen Faden/ Was hat das Leben mit dem Tod zu tun?“, 2016. © Frank Pusch/Carolin Bebek/Theater der Versammlung.
Bild aus der TdV-Inszenierung „Speisen mit dem Menschen- S. 210 feind–Buffet-Performance nach Molière in ausgewählten Restaurants“, 2008. © Frank Pusch/Theater der Versammlung S. 213 Diagramm „Alle Bestrebungen von Kunst zentralisieren sich im Theater“, 2017. © Tobias Winter.
Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)
Choreografischer Baukasten. Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3
Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)
Partizipation als Programm Wege ins Theater für Kinder und Jugendliche Oktober 2017, 270 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3940-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3940-1
Sabine Karoß, Stephanie Schroedter (Hg.)
Klänge in Bewegung Spurensuchen in Choreografie und Performance. Jahrbuch TanzForschung 2017 Bd. 27 Oktober 2017, 234 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3991-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3991-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)
Re/produktionsmaschine Kunst Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten August 2017, 408 S., kart., Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3684-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3684-4
Katharina Rost
Sounds that matter – Dynamiken des Hörens in Theater und Performance April 2017, 412 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3250-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3250-1
Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)
Tanzpraxis in der Forschung – Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016, Bd. 26 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de