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German Pages 436 [432] Year 2022
Wirtschaft und Staat in Deutschland Band 2
INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR
Wirtschaft und Staat in Deutschland Eine Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vom Ende des 19. Jh. bis 1945 in drei Bänden Herausgegeben von Helga Nussbaum und Lotte Zumpe
Band 2 Manfred Nussbaum Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik
Manfred Nussbaum
mttfM & Staat in Deutschland während der Weimarer Republik
Akademie - Verlag Berlin 1978
Redaktionsschluß: Januar 1977
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1978 Lizenznummer: 202 • 100/81/78 Herstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 5159 Einband und Schutzumschlag: Anke Baltzer Bestellnummer: 7531853(6403/2) • LSV 0265 Printed in GDR DDR 2 7 , - M
Inhalt
Einleitung
1
ABSCHNITT I Wirtschaft und Staat in der Nachkriegskrise des deutschen Kapitalismus 1919 bis 1923
9
KAPITEL 1 Die Deformation des Reproduktionsprozesses durch die Kriegsfolgen
11
KAPITEL 2 Die Inflation als Instrument staatsmonopolistischer Manipulierung
18
1. 2. 3. 4.
18 20 23 25
Die Die Die Die
Kriegsfinanzierung — Wurzel der Inflation Geldentwertung als ökonomische Nachkriegspolitik Ausnutzung und Verschärfung der Inflation durch Teile der Monopolbourgeoisie . . . Kreditpolitik der Reichsbank 1922/23
KAPITEL 3 Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
28
1. Der Friedensvertrag. Die Bewegung der Produktion 2. Die Strategie der verstärkten Konzentration
28 37
KAPITEL 4 Neue staatsmonopolistische Formen und Institutionen
48
1. Regulierungsversuche in den Grundstoffindustrien a) Rückgriff auf das „gemeinwirtschaftliche" Konzept b) Der Reichskohlearat und der Reichskohlenverband c) Der Eisenwirtschaftsbund 2. Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat
48 48 53 64 73
KAPITEL 5 Der Kampf der Hauptgruppen des Monopolkapitals um die ökonomische Nachkriegspolitik. Die Reparationsfrage
87
KAPITEL 6 Die Liquidierung der Inflation als Voraussetzung für weitere kapitalistische Reproduktion. . . .
103
VI
Inhalt
ABSCHNITT II Wirtschaft und Staat in der Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus 1924 bis 1928 . . . .
111
KAPITEL 7 Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
113
KAPITEL 8 Die Wirtschaftspolitik des Staates im Interesse der Monopole
127
1. 2. 3. 4. 5.
127 129 138 156 167
Der Abbau der direkten Staatseingriffe Die Steuerpolitik — Förderung der großkapitalistischen Akkumulation Die Entschädigungen und Subventionen — eine neue Qualität Die öffentlichen Finanzen und der kapitalistische Konjunkturzyklus Die staatsmonopolistische Rationalisierung
KAPITEL 9 Die öffentliche Hand als Unternehmer
181
1. 2. 3. 4.
Die Unternehmertätigkeit des Reiches 181 Die Unternehmertätigkeit der Einzelstaaten 188 Kommunale Unternehmungen 193 Zur Rolle der Betriebe und Unternehmungen der öffentlichen Hand in der monopolkapitalistischen Wirtschaft der Weimarer Republik 195 5. Widerstand gegen Unternehmertätigkeit der öffentlichen Hand 202 KAPITEL 10 Reichsbank und Staatsbanken als Instrumente zentraler Wirtschaftslenkung
206
KAPITEL 11 Landwirtschaft und staatliche Agrarpolitik
221
1. Staatliche Förderungsmaßnahmen in den frühen zwanziger Jahren 2. Chronische Agrarkrise und staatliche Getreidemarktpolitik
221 233
KAPITEL 12 Staatliche Regulierung auf dem Arbeitsmarkt
242
ABSCHNITT III Wirtschaft und Staat in den Jahren der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932/33
255
KAPITEL 13 Der Reproduktionsprozeß in der Krise
257
KAPITEL 14 Die Reaktion des Staates auf die Wirtschaftskrise
272
1. Die Rolle staatlicher Finanz- und Währungspolitik in der Krise a) Der Kampf um den Übergang zur Deflationspolitik (Die Phase der Müller-Regierung). . b) Die entfaltete Deflationspolitik (Die Phase der Brüning-Kabinette) 2. Monopole und Staat — Partner der „Krisenregulierung" a) monopolistisches Krisenverhalten b) Staatliche Regulierung von Löhnen und Preisen
272 272 283 295 295 304
Inhalt
VII
3. Kredit- und Währungskrise und der Staat a) Die Labilität des Kreditsystems b) Die Kreditkrise bricht aus c) Staatseingriffe 4. Staatliche Industriesanierung
307 307 314 317 324
KAPITEL 15 Zur Entwicklung des Verhältnisses von Monopolkapital und Staat unter dem Aspekt der Deflationspolitik
330
KAPITEL 16 Staatliche Regulierung im Zeichen der Agrarkrise
336
1. 2. 3. 4.
Der Umschlag in die akute Agrarkrise Die neue landwirtschaftliche Außenhandels- und Zollpolitik Neue Stützungsmaßnahmen für Agrarerzeugnisse auf dem Binnenmarkt Staatliche landwirtschaftliche Kredite, Umschuldung und Siedlungspolitik a) Kredit- und Umschuldungswesen. „Ostpreußenhilfe" b) Die „Osthilfe** c) Siedlungspolitik 5. Ergebnisse staatlicher Agrarregulierung während der akuten Agrarkrise
336 342 348 355 355 362 367 370
KAPITEL 17 Das Ende der Deflationspolitik (Die Phase der Regierungen Papen und Schleicher)
373
KAPITEL 18 Die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der Weimarer Republik (Zusammenfassung)
386
Anhang
389
1. Verzeichnis der Tabellen
391
2. Verzeichnis der Abbildungen
395
3. Namenregister
397
4. Sachregister
411
5. Abkürzungsverzeichnis
417
6. Inhaltsverzeichnis der Bände 1 und 3
419
Einleitung
Ausgehend von den im Band 1 von „Wirtschaft und Staat in Deutschland" dargestellten theoretischen Grundpositionen und der bis 1919 vollzogenen Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland soll in dem vorliegenden Band 2 der Prozeß der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus als Grundzug der monopolkapitalistischen Gesellschaft in der Zeit der Weimarer Republik untersucht werden. Wie Lenin erklärte, bedeutet staatsmonopolistischer Kapitalismus die „Vereinigung der Riesenmacht des Kapitalismus mit der Riesenmacht des Staates zu einem einzigen Mechanismus". 1 Auch in der Epoche der Weimarer Republik zeigt sich, „daß die Entfaltung des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Produktionsweise — des Widerspruchs zwischen dem wachsenden gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen — die grundlegende Triebkraft der Entwicklung zum staatsmonopolistischen Kapitalismus darstellt; daß die Verschärfung des Grundwiderspruchs sich in der Verschärfung einer ganzen Reihe anderer Widersprüche äußert, die ihrerseits zu Triebkräften der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus werden; daß die monopolkapitalistische Gesellschaft nicht existieren kann, ohne daß — früher oder später — staatsmonopolistische Formen entwickelt werden, daß also staatsmonopolistischer Kapitalismus eine gesetzmäßige Erscheinung des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus ist" .2 In dem hier behandelten Zeitraum wird wiederum deutlich, daß der staatsmonopolistische Kapitalismus sich in Deutschland sprunghaft und ungleichmäßig entwickelte, daß auch die Schwerpunkte der Entwicklung sich häufig verlagerten, daß Weiterentwicklungen und Rückschritte auf unterschiedlichen Gebieten gleichzeitig vonstatten gehen konnten. Die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus ist „ein Prozeß von fortwährenden Konflikten, ihrer teilweisen Überwindung und ständigen Neuerzeugung". 3 Diese Feststellung stimmt mit der Marxschen Auffassung überein: „Die kapitalistische Produktion strebt beständig, die ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen." 4 Die vorliegende Untersuchung grenzt sich bewußt ab von den Versuchen bürger1 Lenin, W. I., Krieg und Revolution. Lektion am 14. (27.) Mai 1917, in: Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 401. Bd. 1 dieser Arbeit: Baudis, DieterlNussbaum, Helga, Wirtschaft und Staat in Deutschland. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19, Berlin 1978, S. 18. 3 Ebenda, S. 19. « Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1964, S. 260. 2
2
Einleitung
licher Historiker und Wirtschaftshistöriker besonders in der BRD, die einerseits zahlreiche Fakten der gegenseitigen Beziehungen von Wirtschaft und Staat in der Weimarer Republik nicht abstreiten können und sogar gelegentlich Nützliches zu ihrer Darstellung beitragen, aber doch versuchen, einer marxistischen Analyse dieser Beziehungen eine sogenannte Theorie vom „organisierten Kapitalismus" oder vom „kooperativen Pluralismus" entgegenzustellen, die letztlich den Klassencharakter der staatsmonopolistischen Entwicklung leugnen oder ignorieren soll. Diese Versuche, in jüngerer Zeit besonders auf dem Bochumer Symposium im Juni 1973 deutlich geworden, veranlaßten dort sogar den bürgerlichen amerikanischen Wirtschaftshistoriker Feldman zu der Feststellung: „Ich habe ständig das Gefühl, um ganz offen zu sprechen, daß der organisierte Kapitalismus... als sozialgeschichtliches Modell in jüngster Zeit entwickelt wurde, um der Theorie des .staatsmonopolistischen Kapitalismus' entgegengestellt zu werden." 5 Die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus gestaltete sich in der Weimarer Republik unter Bedingungen, die gegenüber der Vorkriegs- und Kriegszeit stark verändert waren, was fast alle Ebenen und Sphären von Wirtschaft und Gesellschaft betraf. Worin bestanden diese Veränderungen? Vor 1914 war es für den deutschen monopolistischen Kapitalismus charakteristisch gewesen, daß er über einen längeren Zeitraum hinweg, lediglich durch zyklische Krisen unterbrochen, expandiert und erweitert reproduziert hatte. Die gesamtvolkswirtschaftlichen Produktions- und Außenhandelsziffern hatten auf dem Höhepunkt jedes neuen Konjunkturzyklus über denen des vorherigen Höhepunktes gelegen, ebenso wie die Kapitalanlagen im Ausland und andere wichtige Kennziffern.6 Nach dem hauptsächlich von den deutschen Imperialisten ausgelösten und von ihnen verlorenen Weltkrieg war eine völlig neue Lage entstanden, die in der Periode unmittelbar danach zunächst keine Expansion und erweiterte Reproduktion zuließ und selbst die einfache Reproduktion in Frage stellt. Zeitweise fand nur eine geschrumpfte Reproduktion statt. Der deutsche Monopolkapitalismus befand sich in außerordentlichen Schwierigkeiten; die allgemeine Krise, in die der Kapitalismus eingetreten war, zeigte sich auch hier besonders deutlich. Soziale, politische und ideologische Tatbestände verflochten sich, wirkten auf den Reproduktionsprozeß zurück und ballten sich zu einer für den deutschen Monopolkapitalismus äußerst gefährlichen Situation zusammen. Das aber machte eine vielfache Verstärkung der Rolle des Staates in der Wirtschaft notwendig, die nicht auf die Zeitspanne der ersten Nachkriegsschwierigkeiten beschränkt blieb, sondern auf Grund vielfältiger innerer Triebkräfte des monopolistischen Kapitalismus sich weiter ausbildete und differenzierte. So traten nach dem Ende der auf den ersten Weltkrieg und die Novemberrevolution folgenden Phase der Übergangswirtschaft die Beziehungen von Staat und Wirtschaft in 5
6
Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verbandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12. bis 17. Juni 1973, hg. v. Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bemd Weisbrod, Düsseldorf 1974, S. 963. Deutlicher können wohl der „Sinn" der genannten bürgerlichen Konzepte und zugleich ihre Hilflosigkeit nicht enthüllt werden. Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 4: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18, Berlin 1967, S. 17 u. 59ff., sowie Mottek, Hansl Becker, WalterjScbröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. III: Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1975, S. 61 ff., sowie Bd. 1 dieser Arbeit.
Einleitung
3
Deutschland in eine neue Entwicklungsstufe ein. Nicht nur war die ökonomische Situation unter dem Einfluß der Kriegsfolgen und der dem deutschen Imperialismus von seinen Gegnern auferlegten Lasten sowie der gestörten volkswirtschaftlichen Beziehungen gewandelt, auch der politische Überbau des deutschen Imperialismus, insbesondere der Staat selbst, hatte sich stark verändert. Die Novemberrevolution führte zu neuen Machtkonstellationen und zu einer Formwandlung des Staates. Zwar beseitigte sie nicht die Ausbeuterherrschaft, zerschlug nicht die alten Herrschaftsmethoden wirklich und verschaffte den arbeitenden Klassen nicht den Besitz der Staatsmaschinerie7; dennoch erfolgten wichtige Wandlungen. Die vorher so machtbewußten Junker wurden weitgehend von ihrer bis dahin so unverhältnismäßig großen Teilhabe an direkter politischer Macht ausgeschaltet, allerdings ohne ihnen weder die ökonomische Basis, den Großgrundbesitz, noch die Möglichkeit zu nehmen, doch wieder einen gewissen Einfluß als Klasse auf die Staatsgeschäfte zu gewinnen. Dies sollte später noch eine Rolle spielen. In bestimmten Teilen des Staatsapparats, vor allem im auswärtigen Dienst sowie im neuen Hunderttausend-Mann-Heer der Reichswehr, besaßen sie auch weiterhin starke Positionen.8 Aber der Staatsapparat als Ganzes, vor der Revolution mehr oder weniger deutlich klassenmäßig das Herrschaftsinstrument von Junkern und Monopolkapital, diente jetzt vor allem den Interessen der Monopolbourgeoisie. Verändert hatte sich nicht nur der Klasseninhalt des Staates. Auch seine Formen waren andere geworden. An die Stelle der halbabsolutistischen Monarchie war die Republik, war die bürgerlich-parlamentarische Demokratie getreten. Zweifellos stellte das einen Fortschritt gegenüber dem vorhergehenden Zustand dar. Die parlamentarische Republik brachte den Volksmassen größeren Spielraum für die politische Willensbildung. Sie erweiterte die Möglichkeit der Arbeiterklasse, sich zu formieren und den Kampf für die Verbesserung ihrer Lage und für ihre Befreiung zu führen. Sie zwang andererseits die Herrschenden dazu, mehr als früher gewisse Zugeständnisse an Klassen und Schichten außerhalb des Monopolkapitals zu machen, um Mißstimmungen, Unzufriedenheiten, einen von unten ausgehenden Druck aufzufangen oder zu kanalisieren. Bedingt durch die Niederlage der revolutionären Arbeiterklasse, „blieb die Novemberrevolution 1918/19 ihrem Charakter nach eine bürgerlich-demokratische Revolution, die in der politischen Herrschaft des deutschen Imperialismus einen Wechsel von der Monarchie zur bürgerlich-parlamentarischen Staatsmacht erzwang." 9 Die bürgerlich-parlamentarische Demokratie war einerseits ein Zugeständnis an die Volksmassen, andererseits eine den Intentionen der Bourgeoisie entgegenkommende flexiblere und variablere Form der Staatsmacht. Den verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft war es in diesem System möglich, ihre Interessen und Wünsche in gewissem Maße geltend zu machen — soweit sie nicht das Gesamtsystem, die kapitalistische Gesellschaftsordnung gefährdeten. Der Staat mußte auf solche Interessen und Absichten reagieren und sie berücksichtigen — je nachdem wie nachdrücklich sie vor7
8 9
„Die Revolution hatte die Monarchie und die Fürstenherrschaft gestürzt und die schnelle Beendigung des Krieges erzwungen. Doch Großbourgeoisie und Militaristen konnten das Kräfteverhältnis Schritt für Schritt wieder zu ihren Gunsten verändern und die Grundlagen der ökonomischen und politischen Macht des deutschen Imperialismus und Militarismus in Gestalt einer bürgerlich-parlamentarischen Republik erhalten." (Klassenkampf — Tradition — Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, Berlin 1974, S. 389. Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Kapitel VII: Von Januar 1919 bis Ende 1923, Berlin 1967, S. 42. Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, a. a. O., S. 389.
4
Hinleitung
gebracht wurden. Dabei spielte auch mit, daß ein solches Eingehen auf außermonopolistische Belange dazu beitrug und beitragen sollte, gewisse Illusionen über den Klassencharakter dieses Staates zu fördern bzw. aufrechtzuerhalten, was selbst wiederum ein Moment im Funktionieren des ganzen komplizierter gewordenen Herrschaftsmechanismus bildete. Die Hauptaufgabe, die der Staat der Weimarer Republik im Innern zu lösen hatte, bestand darin, die Bedingungen dafür zu erhalten und zu sichern, unter denen das Monopolkapital existieren konnte, d. h. die kapitalistisch-imperialistische Gesellschaftsordnung. Das bedeutete, daß die Dämpfung der dem monopolkapitalistischen System immanenten und nunmehr erheblich verschärften Widersprüche als Ziel der staatsmonopolistischen Verschmelzung und Regulierung sich in folgenden drei bereits in der Vorkriegszeit in gewissem Maße wirksamen, nunmehr aber dringlicher gewordenen Funktionen äußern mußte: 1. Die Regulierung der materiellen erweiterten Reproduktion des Kapitals unter den Bedingungen des imperialistischen Stadiums bzw. der besonderen Situation, in welcher der deutsche Imperialismus sich nach dem verlorenen ersten Weltkriege befand; 2. Sicherung der erweiterten Reproduktion der Kapitalverhältnisse unter Bedingungen, die die Kapitalhülle der gesellschaftlichen Produktionsmittel fortwährend zu sprengen drohten; Festigung des privatkapitalistischen Eigentums und Regulierung der Klassenbeziehungen; 3. Aufrechterhaltung der politischen Macht der kapitalistischen Oligarchien unter dem revolutionären Druck der Periode, die der Oktoberrevolution unmittelbar folgte und in der das Beispiel des siegreichen russischen Proletariats eine immer stärkere Anziehungskraft auf die Massen der Werktätigen in Deutschland ausübte. Nach außen sollten möglichst die Stellung des im Weltkrieg geschlagenen deutschen Imperialismus verbessert und allmählich die Folgen der Niederlage revidiert werden. Diese auch auf wirtschaftlichem Gebiet schwerwiegenden Folgen umfaßten vor allem neben ökonomisch ins Gewicht fallenden territorialen Verlusten den Verlust der deutschen Auslandsguthaben, eine Einschränkung der Außenhandelsfreiheit für die auf den Abschluß des Friedensvertrages folgenden fünf Jahre sowie vor allem die Leistung von Reparationen, deren Höhe und Zahlungsmodus zunächst noch nicht bestimmt war und später mehrfach festgelegt und wieder geändert wurde. Hinzu kamen die Zahlung von Besatzungskosten, der Verlust der Handelsflotte und anderes. 10 Das alles stellte den Staat vor neue, schwierige Aufgaben, gerade auf ökonomischem Gebiet. Um diese Aufgaben wahrzunehmen, insbesondere aber die Herrschaft von Monopolund Finanzkapital zu. gewährleisten, war es unter den gegebenen Umständen nicht nur geboten, oftmals weitgehend flexibel zu sein, bestimmten Forderungen und Interessen anderer Klassen und Schichten nachzugehen, sondern auch übertriebenen, der Gesamtlage nicht entsprechenden, also unrealistischen Forderungen und Intentionen einzelner Teile des Monopolkapitals entgegenzutreten. Die nicht nur in der Weimarer Republik bestehende relative Selbständigkeit des Staatsapparates gegenüber den Klassenkräften, denen er diente, schloß ein, daß er insgesamt, einzelne seiner Glieder oder seiner Vertreter auch in Konflikte mit Forderungen oder Absichten aus dem Monopolkapital gerieten, das ja im übrigen selbst nicht einheitlich war. 10
Zu Recht stellt Wolfgang Ruge fest, daß der „in Versailles diktierte (und am 28. Juni 1919 unterschriebene) Friedensvertrag hart" ausfiel, jedoch „das Unglück des Friedensvertrages nicht in der Einengung der Raub- und Expansionsmöglichkeiten des deutschen Monopolkapitals bestand, sondern — im Gegenteil — in der Konservierung seiner Machtgrundlagen." (Ruge, Wolfgang, Weimar — Republik auf Zeit, Berlin 1969, S. 39,40.)
Einleitung
5
Um die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft richtig und in ihrer Differenziertheit zu verstehen, muß man erkennen, daß die Staatsmacht auch in der Weimarer Republik nicht schlechthin willenloses Exekutivorgan der Monopole war, sondern auch, wie wohl immer in der Geschichte der Ausbeutergesellschaft, ihr Eigengewicht und damit ein gewisses eigenes Bewußtsein von ihrer Aufgabe hatte. Dieses Bewußtsein blieb nicht immer völlig gleich. Es zeigte, auf dem Grunde einer gewissen, sich in personeller Kontinuität ausdrückenden und von ihr gewährleisteten Konstanz, doch bestimmte Variationen, hervorgerufen von den sich verändernden politischen Konstellationen der Klassenkräfte und Parteien und den darauf basierenden Regierungsmehrheiten. Andererseits suchten die verschiedenen Interessengruppen und Gruppierungen der kapitalistischen Gesellschaft, den Staat und seine Entscheidungen in vielfacher Hinsicht und über diverse Kanäle zu beeinflussen. Dies Bestreben verstärkte sich mit zunehmender ökonomischer Bedeutung des Staates. Gerade die wachsende ökonomische Tätigkeit des Staates, seine von ihm nunmehr übernommenen Regulierungsfunktionen im Reproduktionsprozeß forderten die betroffenen Teile der Gesellschaft — und das waren letztlich alle ohne Ausnahme — dazu heraus, nun ihrerseits auf diese Tätigkeit, ihre Richtung und Intensität einzuwirken. Diese Beeinflussungsbemühungen blieben nicht wirkungslos. Es liegt aber auf der Hand, daß der ökonomisch stärkste Teil der Gesellschaft auf diesem Felde am erfolgreichsten agierte: Das Monopolkapital, dessen Aufkommen und Erstarken die eigentliche Ursache der wachsenden ökonomischen Staatstätigkeit war, welche die auf Grund der imperialistischen Entwicklung versagenden spontanen Regelmechanismen ersetzen sollte, hatte wiederum die stärksten und wirksamsten Methoden und Verbindungen, um die Staatstätigkeit in seinem Sinne „fernzulenken", was manchmal auch ganz aus der Nähe geschah. „Je mehr die Monopole zu beherrschenden Mächten der Ökonomik und Politik werden, desto mehr werden sie es im allgemeinen verstehen, die ökonomische Staatstätigkeit in die Richtung zu lenken, die ihnen genehm ist (in Deutschland vor 1914 war das nicht immer der Fall). Das ist aber nur als allgemeine Tendenz zu verstehen. Die Geschichte zeigt ja, daß das Monopolkapital Versuchen zur staatlichen Regulierung des Reproduktionsprozesses immer erneut — und zwar bis heute — Widerstand entgegensetzte: Bedeutet doch Produktionsregulierung durch den Staat immer auch Profitregulierung und dies steht eben im Widerspruch zum Prinzip der Profitmaximierung, das dem Kapital innewohnt. Bestrebungen zur Produktionsregulierung von Seiten des Staates fördern daher im allgemeinen Bestrebungen des Monopolkapitals, Einfluß auf den Staatsapparat zu gewinnen, und zwar auch um Regulierungen zu verhindern, oder nur solche Regulierungen zuzulassen, die für das Monopolkapital im ganzen oder für einzelne seiner Gruppen günstig sind." (Band 1, S. 118) Die Feststellungen treffen voll und ganz auch für die Epoche nach dem ersten Weltkrieg zu — wobei es auch nach 1918 den Monopolen nicht immer gelang, „die ökonomische Staatstätigkeit in die Richtung zu lenken, die ihnen genehm" war. Wenn also der Staat der Weimarer Republik auch dann und wann die Belange nicht zum Monopolkapital gehörender Klassen und Schichten berücksichtigen mußte und auch nicht selten eng verstandenen oder kurzfristigen Interessen des Monopolkapitals entgegenhandelte, so war doch der Staat von Weimar ein Klassenstaat, d. h. ein Staat, der letztlich dazu diente, die Herrschaft der ökonomisch Mächtigsten, eben der Monopole, aufrechtzuerhalten und die Bedingungen für ihre Expansion zu sichern. Er erfüllte diese, seine vordringlichste Aufgabe dadurch, daß er über das Gesamtsystem, gewissermaßen als Medium, in dem die Monopole schwammen, wachte und dessen Funktionieren zu sichern suchte. Auch unter den Bedingungen der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie blieb der
6
Einleitung
Staat ein Staat des Monopolkapitalismus, und zwar noch stärker als im Kaiserreich, wo manche junkerlichen Interessen und bestimmte antikapitalistische Traditionen des preußisch-deutschen Staatsapparats dieser Funktion entgegengewirkt hatten. Zu dem Problem des Verhältnisses von politischer Demokratie und Herrschaft des Finanzkapitals erklärte Lenin: „Die Herrschaft des Finanzkapitals, wie des Kapitals überhaupt, ist durch keinerlei Umgestaltungen auf dem Gebiet der politischen Demokratie zu beseitigen . . . Aber diese Herrschaft des Finanzkapitals hebt nicht im mindesten die Bedeutung der politischen Demokratie als einer freieren, weiteren und klareren Form der Klassenunterdrückung und der Klassenkämpfe auf." 11 Die bürgerliche parlamentarische Demokratie bildete nicht nur kein Hindernis dafür, daß der Staat ein Machtinstrument des Monopolkapitals war, was sich in der Kooperation von Staat und Monopolen niederschlug, sondern in gewisser Beziehung wurde die Zusammenarbeit und Verflechtung enger als im Kaiserreich. Dafür mag symptomatisch sein, daß, während vor dem Weltkrieg die politische Macht, die Staatsmacht, personell fast durchweg von der ökonomischen Macht getrennt war, nunmehr es keine Ausnahme bildete, wenn Monopolvertreter direkt in der Regierung saßen. Und nicht zufällig wurden gerade die wirtschaftlich entscheidenden Ministerien auf diese Weise zu Knotenpunkten der Verflechtung von Monopolmacht und Staatsmacht. Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik bildete also keinen Widerspruch zur Herrschaft des Monopolkapitals. „Überhaupt ist die politische Demokratie nur eine der möglichen Formen (wenn auch theoretisch für den ,reinen' Kapitalismus die normale Form) des Überbaus über den Kapitalismus. Wie die Tatsachen zeigen, entwickeln sich sowohl der Kapitalismus als auch der Imperialismus bei jeder politischen Form und ordnen sich alle Formen unter", erklärte Lenin.12 Für die Beurteilung des komplizierten Komplexes der Beziehungen von Staat und Wirtschaft muß man noch folgendes berücksichtigen: Der Staat bzw. der Staatsapparat war auch in jener Etappe der Entwicklung des deutschen Imperialismus durchaus kein Gebilde aus einem Guß. Trotz starker Zentralisierungstendenzen blieb die Gliederung in Reich und Länder, d. h. in Einzelstaaten, erhalten. Zwar entstanden zahlreiche Institutionen auf Reichsebene, die vorher nur als Ländereinrichtungen existiert hatten. Aber die Tatsache, daß der zentrale Staatsapparat stärker ausgebaut wurde, daß man neue Instanzen und Ministerien schuf, bewirkte auf der Reichsebene selbst eine größere Differenziertheit. Das wiederum führte nicht nur zu Ressortschwierigkeiten, sondern zu grundsätzlich verschiedenen, ja sogar gegnerischen Auffassungen bei Aufgabenstellungen innerhalb des Staatsapparats. Auf die wichtigsten Entwicklungen, die gerade für die zu behandelnde Problematik von Bedeutung sind, soll hier kurz eingegangen werden. Sicherlich nicht zufällig wurde der zentrale Staatsapparat gerade auf dem ökonomischen Sektor ausgebaut, vielmehr ergab sich dies aus der Notwendigkeit einer verstärkten Staatstätigkeit auf diesem Gebiet. So wurde im März 1919 das während des Krieges geschaffene Reichswirtschaftsamt aus der Bindung an die Reichskanzlei gelöst und in ein Reichswirtschaftsministerium umgewandelt.13 Allerdings umfaßte die Kompetenz des
Lenin, W. I., Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht det Nationen (Thesen), in: Werke, Bd. 22, Berlin i960, S. 146. 12 Lenin, W. L, Ergebnisse der Diskussionen über die Selbstbestimmung, in: Werke, Bd. 22, a. a. O., S. 332. 13 Im folgenden als RWM bezeichnet. Eine ausführliche Darstellung der organisatorischen Geschichte des RWM gibt Facius, Friedrieb, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, Boppard am Rhein 1959, S. 116ff. 11
Einleitung
7
Ministeriums nicht die gesamte Wirtschaft im Reich. Neben entsprechenden Einrichtungen auf Länderebene wurden auch auf der zentralen Ebene für einige Teilgebiete der Wirtschaft Ministerien geschaffen. Aus dem während des Krieges eingerichteten Kriegsernährungsamt bzw. dem Reichsernährungsamt entstand das Reichsernährungsministerium, welches mit dem 1. April 1920 in das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft umgebildet wurde. In dieses neue Ministerium gingen die land-, forst- und fischereiwirtschaftlichen Kompetenzen des Reiches über. Das im Juni 1919 aus dem Reichseisenbahnamt hervorgegangene Reichsverkehrsministerium übernahm verschiedene Ressorts aus dem RWM, wie die Schiffahrtsabteilung, und dann 1926, im Widerspruch zu der Auffassung an der Spitze des RWM, auch das Seeschiffahrtswesen.14 Außerdem fielen im April 1923 dem neugebildeten Reichsfinanzministerium auch die Hauptaufgaben des ehemaligen Reichsschatzministeriums zu. Gerade zwischen dem RWM und dem Reichsfinanzministerium kam es in der Folgezeit des öfteren zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten über die einzuschlagende Wirtschaftspolitik, die ihre Ursache in verschiedenartigen Konzeptionen und teilweise auch in den unterschiedlichen politischen und Klassenkräften hatten, welche die Linie des jeweiligen Ministeriums beeinflußten. Neben den genannten Ministerien bestand als ökonomisch relevantes Ministerium vom November 1919 bis Mai 1924 das Reichsministerium für Wiederaufbau, zu dessen Zuständigkeiten vor allem die Reparationsangelegenheiten gehörten. Hierunter fielen die umfangreichen Sachlieferungen für den materiellen Wiederaufbau in den kriegszerstörten Gebieten Westeuropas sowie die sogenannten Entschädigungen für deutsche Reichsangehörige, für die Schiffahrt und Fischerei sowie Restangelegenheiten des ehemaligen Kolonialkomplexes. Nach der Auflösung dieses Ministeriums wurden die noch verbliebenen Aufgaben vom Finanzministerium übernommen.15 Mit wirtschaftlichen Fragen, vor allem auf dem Gebiet des Außenhandels, befaßte sich auch das Auswärtige Amt, dessen schon seit dem 19. Jahrhundert bestehende handelspolitische Abteilung zwar wegfiel, aber an der Zuständigkeit nichts änderte. Nachdem 1919 das RWM seine Wirtschaftsnachrichtenstelle an das Auswärtige Amt abgegeben hatte, wurde dort eine neue Außenhandelsstelle eingerichtet, die man bis 1923 zu einem System von Reichsnachrichtenstellen in 20 deutschen Städten ausbaute. Konflikte mit dem sich auch auf dem Binnenhandelsgebiet verdrängt fühlenden RWM führten zur Errichtung einer Zentralstelle für den wirtschaftlichen Auslandsnachrichtendienst, die dem RWM und dem Auswärtigen Amt gemeinsam unterstand. Schließlich sei auch noch das Reichsarbeitsministerium erwähnt, über dessen Gründung und Tätigkeit an anderer Stelle Einzelheiten folgen. 16 Die hier nur angedeutete Aufgabenzersplitterung auf verschiedene Ressorts löste mehrfach Versuche aus, die gesamte Wirtschaftspolitik des Reiches einer umfassenden Instanz zu unterstellen. So plante 1921 der Reichsinnenminister Koch-Weser, das RWM mit dem Finanzministerium zusammenzufassen.17 Dieser Plan scheiterte, ebenso wie der ein Jahr später entwickelte, die Ressorts Wirtschaft, Arbeit, Ernährung und Landwirtschaft, Post, Verkehr und Wiederaufbau zu vereinigen. 1926 trat Wirtschaftsminister Curtius erneut mit Vereinheitlichungsplänen für die Wirtschaftsressorts hervor, aber auch sie blieben ebenfalls ergebnislos. Es gingen daher regulierende Wirkungen auf den Reproduktions- und Zirkulationsprozeß von zahlreichen Instanzen aus, zu denen noch weitere hinzukamen, die ebenfalls in 1« Ebenda, S. 106. 15 Ebenda, S. 109. 1 6 Kapitel 12 dieser Arbeit.
« Facius, Friedrich, a. a. O., S. 112.
8
Einleitung
dieser Richtung aktiv waren, an hervorragender Stelle die Reichsbank. Da in dem komplizierten Geflecht der ökonomischen und politischen Interessen die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte auf die diversen Instanzen Einfluß zu nehmen suchten und deren Politik davon nicht unberührt blieb, zumal diese interessenbeeinflußte Politik auf der Grundlage verschiedenartiger, in der genannten sachlichen Ausgangsstellung beruhender Gesichtspunkte zustande kommen mußte, so konnte hier von einer einheitlich formierten Wirtschaftsregulierung in der zu behandelnden Epoche kaum die Rede sein. Dazu kam, daß, abgesehen von den beschränkten Erfahrungen aus der Vorkriegszeit und den zwar umfassenderen, aber in der neuen Situation nur bedingt verwertbaren aus der Regulierungstätigkeit während des Weltkrieges, kaum Erkenntnisse über die Wirkung staatlicher Eingriffe in den ökonomischen Bereich vorlagen. Im übrigen haben solche Wirkungen im Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung immer einen hohen Grad von Unberechenbarkeit. So trat denn zwar die staatliche Einwirkung auf den Reproduktionsprozeß mit der Epoche der Weimarer Republik zweifellos in eine neue Etappe, doch war sie zugleich in ihrem neuen, gegenüber der Vorkriegszeit unvergleichlich gewachsenen Umfang weitaus widersprüchlicher. Im folgenden sollen die Hauptlinien des Prozesses und seine Entwicklungsphasen aufgezeigt werden.
ABSCHNITT I
Wirtschaft und Staat in der Nachkriegskrise des deutschen Kapitalismus 1919 bis 1923
KAPITEL 1
Die Deformation des Reproduktionsprozesses durch die Kriegsfolgen
Bereits während des Krieges waren der Produktionsapparat und die übrigen Teile des wirtschaftlichen Mechanismus stark deformiert worden, war die Produktion allgemein zurückgegangen. Im Jahre 1918 betrüg die deutsche Industrieproduktion schließlich nur noch 55 bis 60 Prozent der von 1913 * (Tab. 1). Tabelle 1 Produktion wichtiger Industriezweige Bergbau Eisen und Stahl NE-Metalle Wohnungsbau Baustoffe Textilien Genußmittel
1918 (in Prozent von 1913)
83 53 234 4 35 17 63
Quelle: Wagenführ, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 23.
Selbst so kriegswichtige Industrien, wie der Bergbau und die Eisen- und Stahlindustrie waren geschrumpft, obwohl in diesen Zweigen auch während des Krieges, bei gleichzeitiger völliger Vernachlässigung anderer Zweige, Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen vorgenommen wurden. Ihr Produktionsrückgang erklärt sich teils aus dem Mangel an Arbeitskräften, teils, wie in der Eisen- und Stahlindustrie, aus der Rohstoffknappheit. Die Zunahme bei NE-Metallen findet vor allem in der erst während des Krieges in größerem Umfange aufgenommenen Produktion von Leichtmetallen ihre Erklärung. Der Wohnungsbau war faktisch eingestellt worden, während Baustoffe vorwiegend für die Front erzeugt wurden. Die Textilindustrie hatte ebenfalls weitgehend für das Heer produziert und hauptsächlich Ersatzstoffe verwendet. Auch die Genußmittelindustrie diente zum Teil der Herstellung von Tabakerzeugnissen und alkoholischen Getränken für die Armee. Insgesamt hatten sich der jahrelange Krieg und die damit verbundene Blockade als verheerende Wirkung für die industrielle Produktion erwiesen: Die Rohstoffe verknappten, die Lei1
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Wagenführ, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860—1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 22.
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Die Deformation des Reproduktionsprozesses
stungsfähigkeit der Arbeiter sank, der Produktionsapparat wurde, abgesehen von einigen Großbetrieben, nicht erneuert, das Verkehrswesen war überbeansprucht und abgenutzt. Mehr und mehr kleine und mittlere Betriebe waren, soweit sie nicht unmittelbar für den Kriegsbedarf produzierten, geschlossen worden. Die Relationen zwischen den einzelnen Industriezweigen waren schwer gestört. Der Weltkrieg, von dem sich die deutschen Monopolherren und Großkapitalisten mindestens die Vorherrschaft in Europa und die Eroberung wichtiger industrieller und landwirtschaftlicher Gebiete anderer Staaten erhofft hatten, war anders ausgegangen. Sie hatten ihn verloren. Nicht sie diktierten einen imperialistischen Raubfrieden, sondern die Gegner. Schon die Waffenstillstandsbedingungen, die Deutschland von seinen imperialistischen Konkurrenten in der bewußten Absicht auferlegt wurden, sein ökonomisches Potential zu schädigen, trafen die deutsche Wirtschaftskraft empfindlich. Alliierte Truppen besetzten das gesamte linksrheinische Gebiet. Die Blockade wurde in vollem Umfange aufrechterhalten, ja praktisch sogar verschärft. 2 Die englische Flotte unterbrach den Seeweg nach Skandinavien, was unter anderem bedeutete, daß die Zufuhr von Schweden-Erzen eine Zeitlang ganz aufhörte. Die ohnehin schwierige Verkehrslage verschlimmerte sich noch durch das Verbot der Küstenschiffahrt in Nord- und Ostsee; eine Ausnahme bestand bezeichnenderweise nur in bezug auf die Verbindung mit dem baltischen Kriegsschauplatz. Der Ring der Blockade war also noch enger gezogen. Erst im April 1919 erfolgte eine gewisse Lockerung, bis die Blockade am 12. Juli 1919 nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages endete. Der Staatssekretär im Reichsernährungsamt, Emanuel Wurm, hatte schon im November 1918 die erschreckende Ernährungslage skizziert, als er erklärte, daß bis Mai/Juni 1919 die letzten deutschen Nahrungsvorräte aufgebraucht seien. Wurm verlangte als notwendigsten Mindestimport monatlich 6700 t Fett, 180000 t Fleisch oder Fleischwaren und 420000 t Getreide, Mehl oder Reis. Er wies darauf hin, daß täglich 800 Menschen mehr als vor dem Kriege stürben. 3 Doch es dauerte noch monatelang, ehe die Alliierten schließlich die Einfuhr von Nahrungsmitteln in das hungernde Deutschland gestatteten. 4 Zwar hatte sich, noch vor Abschluß des Waffenstillstandes, der Staatssekretär des Auswärtigen, Solf, an den amerikanischen Präsidenten wegen Lieferung von Lebensmitteln gewandt. Im Auftrage der deutschen Regierung hatte er Wilson gebeten, den deutschen Kanzler Ebert telegraphisch wissen zu lassen, ob die Vereinigten Staaten bereit seien, ohne Verzögerung Lebensmittel zu senden, „wenn die öffentliche Ordnung in Deutschland aufrechterhalten wird und eine gleichmäßige Verteilung der Nahrungsmittel garantiert wird". Wilson erklärte sich am 12. November bereit, „die Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln wohlwollend zu erwägen und sich wegen dieser Angelegenheit sofort mit den Verbündeten „Die Franzosen und Briten sind bemüht, die Blockade aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, daß Deutschland Rohmaterial erhält und auf den Weltmärkten mit seinen Industrieerzeugnissen gegen sie konkurriert ...", schrieb der Leiter der amerikanischen Wirtschaftsabteilung bei den Pariser Verhandlungen McCormick am 14.1.1919 in sein Tagebuch. (Tie Blockade of Germany (documents), S. 24/25). 3 VB Protokolle III, E 627451 f., S. l f . Kabinettsitzung 15. 1. 1919 u. Reichskonferenz vom 25. Januar 1918, in: Elben, Wolfgang, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution, Düsseldorf 1965, S. 97. 4 Dazu ausführlich: Pucbert, Bertbold, Regulierung des deutschen Außenhandels nach dem ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 188ff. = Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 9.
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Die Deformation des Reproduktionsprozesses
in Verbindung zu setzen, vorausgesetzt, er könne sicher sein, daß die öffentliche Ordnung in Deutschland aufrechterhalten wird und daß eine gleichmäßige Verteilung der Nahrungsmittel einwandfrei garantiert werden kann". 5 Tatsächlich gelangten jedoch vor April 1919 nur sehr wenige Lieferungen nach Deutschland. Ein Angebot der Sowjetregierung, Lebensmittel zu liefern, wurde vom Rat der Volksbeauftragten hingegen abgelehnt. Die wirtschaftlichen Verluste infolge der bereits jetzt eingetretenen Gebietseinbußen waren ebenfalls schwerwiegend. Allein mit Elsaß-Lothringen gingen 75 Prozent der deutschen Eisenerzproduktion verloren. Auch die Kohleproduktion ging infolge Gebietsverlustes zurück. So nachteilig sich diese Abtretungen auch auswirkten, so muß doch andererseits festgestellt werden, daß ihre Bedeutung von der zeitgenössischen revanchistischen Propaganda stark übertrieben wurde. Sie hätten von einer sonst funktionierenden deutschen Volkswirtschaft immerhin verkraftet werden können. Unter den gegebenen allgemeinen Nachkriegsbedingungen fielen sie allerdings als zusätzlich erschwerendes Moment ins Gewicht und verschärften die Aggressivität des deutschen Imperialismus. Eine erhebliche wirtschaftliche Belastung bildeten die unmittelbar mit dem Waffenstillstand einsetzenden Ablieferungen und Reparationen. So mußten laut Artikel 7 den alliierten und assoziierten Mächten innerhalb von 31 Tagen 5000 gebrauchsfertige Lokomotiven und 150000 Eisenbahnwagen mit allen Ersatzteilen übergeben werden. Das war ein Sechstel bzw. ein Fünftel des vorhandenen Bestandes. 6 Offenbar die später im Friedensvertrag verlangte Ablieferung der deutschen Handelsflotte einleitend, verbot Artikel 33 Deutschland, Handelsschiffe jeglicher Art unter eine neutrale Flagge zu überführen. Der Kassenbestand der belgischen Nationalbank mußte zurückerstattet und das russische und rumänische Gold übergeben werden. Den Unterhalt der Besatzungstruppen auf dem Reichsgebiet außer Elsaß-Lothringen mußte Deutschland übernehmen, und es war zu verhindern, daß öffentliche Werte beseitigt wurden, die den Alliierten als Sicherheit für die Deckung der Kriegsschäden dienen konnten. 7 Im Jahre 1919 sank die Produktion in allen Industriezweigen noch weiter ab (Tab. 2). Tabelle 2 Produktion nichtiger Industriezweige
1913,1918 und 19191 1913
Steinkohle
in 1000 t
Eisenerz
in 1000 t
Hochofenproduktion in 1000 t
190109,4 186313,5 28607,9 7439,0 16763,8 11528,9 |
1918
1919
158254,1
116707,2
7914,9 7890,9 9208,3 8387,4
6153,8 5654,2
Die Übersichten enthalten die Zahlen für den jeweiligen Gebietsumfang des Reiches in den einzelnen Jahren bzw. für 1913 und 1918, die umgerechneten Zahlen für den Gebietsumfang von 1919 umrandet.
1
Zusammengestellt nach •. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1921/22. Unke, Horst Günther, Deutsch-sowjetische Beziehungen bis Rapallo, Köln 1970, S. 30. « Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 112,1919, S.538. ? Der Waffenstillstand 1918-1919 (.Dokumentenmaterial), Bd. 1, S. 23-57. 5
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Die Defotmation des Reproduktionsprozesses
Im Vergleich zum letzten Vorkriegs- und Konjunkturjahr 1913 betrug die Produktion im Jahre 1919 (Tab. 3). Tabelle 3 Produktion wichtiger Erzeugnisse Steinkohle Eisenetz Kalisalz Zement Roheisen
61,4% 21,5% 66,0% 30,2% 32,5%
1919 im Vergleich Zu 1913
Stahl Walzerzeugnisse Schiffsbau Zuckerfabriken
39,9% 41,8% 56,2% 49,1%
Quelle: Hoff mann, WaltberG., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965.
Während des Waffenstillstandes dauerte die wirtschaftliche Ausnahmesituation an. Der Rohstoffmangel machte sich noch stärker fühlbar. So wuchs die Bedeutung des Kohlebergbaus als Rohstoffbasis für das Funktionieren der Gesamtwirtschaft. Die Produktivität im Kohlebergbau erlangte entscheidende Bedeutung für die Existenz ganzer Industriezweige. Die schlecht ernährten Bergarbeiter waren jedoch nicht in der Lage, ihre Leistung zu erhöhen, während die Regierung vorgab, aus Gründen des bürgerlichen Gleichheitsideals ihre Rationen nicht erhöhen zu können. Der Abzug der im Bergbau beschäftigt gewesenen Kriegsgefangenen wirkte sich ebenfalls negativ auf die Förderung aus. 8 So war es von Oktober 1918 bis November bereits zu einem Förderrückgang von 27 Prozent gekommen. Von Oktober 1918 bis Januar 1919 fiel die Schichtleistung des Arbeiters von 0,73 t auf 0,563 t. 9 Die in der ersten Hälfte des Jahres 1919 von der Arbeiterschaft geführten Streikkämpfe hatten natürlich ebenfalls Produktionsrückgänge zur Folge. Leistungsmindernd wirkten auch der Rückgang der Arbeitszeit und das aus der antikapitalistischen Stimmung der Werktätigen zu erklärende Nachlassen der Arbeitsdisziplin. Eine ähnliche Situation entwickelte sich im Braunkohlenbergbau, wo zwar der Arbeitermangel schon im Januar 1919 weitgehend aufhörte, doch die Ernährungslage und die starke Abnutzung der Produktionsmittel produktivitätsmindernd wirkten. Wesentlich abhängig von der Zufuhr an Kohle war der Kalibergbau. Infolge des Kohlemangels und wegen der Schwierigkeiten beim Abtransport der Kalisalze mußte im Januar zur Kurzarbeit übergegangen werden. Obwohl Kali aus Exportgründen bevorzugt gefördert werden sollte, hemmte der Mangel an Kohle noch längere Zeit die Produktion. Die Wirkungen des Waffenstillstandes auf die Hüttenindustrie waren zunächst besonders fühlbar. Infolge der Abtretung Elsaß-Lothringens gingen 75% der Erzversorgung und infolge der verschärften Blockade und wegen der Unterbindung des öffentlichen Verkehrs mit Schweden weitere 8% verloren. Zwar hatte die Industrie noch Erz vorrätig, doch kam es schon ab November zu Produktionseinschränkungen. Im ersten Halbjahr 1919 ging daher die Produktion um 37,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Auch die Stahl- und Walzwerke mußten aus Kohlemangel eingeschränkt produzieren, obwohl es hier große staatliche Aufträge für die Eisenbahn gab. Die deutsche Stahlerzeugung fiel im ersten Halbjahr 1919 im Vergleich zum Vorjahr um rund 50 Prozent. Ebenso abhängig Von der Roh8
9
In Industrie und Bergbau waren rd. 320000 Gefangene-beschäftigt ( W i r t s c h a f t l i c h e s Demobilmacbungsblatt 1918, S. 126). Keichsarbeitsblatt 1919, S. 183.
Die Deformation des Reproduktionsprozesses
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stoffversorgung waren die Gießereien, bei denen zahlreiche Aufträge vorlagen. Dagegen fehlten dem Maschinenbau, ausgenommen die Erzeugung von Verkehrsmitteln und Landmaschinen, zunächst genügend Aufträge. Bis Februar 1919 herrschte auch ein empfindlicher Auftragsmangel in der Elektroindustrie, nur gemildert durch die Produktion elektrischer Lichtanlagen, die infolge der Petroleumknappheit in großem Maßstab hergestellt wurden. Hier machte sich der Kupfermangel jedoch stark bemerkbar. Einen starken Produktionsrückgang erfuhr die chemische Industrie als Folge der starken Auftragsbeschränkung und des Kohlemangels. Vor dem Kriege war insbesondere die pharmazeutische Industrie und die Farbenerzeugung stark exportorientiert gewesen. Jetzt, nachdem die kriegsbedingte Produktion ausfiel, wirkte sich hier die Blockade besonders aus. Daß sie im April gelockert wurde, brachte zwar sofort eine gebesserte Auftragslage, doch zwang der Kohlemangel im Mai und Juni dazu, Betriebe stillzulegen. Für die Textilindustrie, die schon während des Krieges besonders schwer unter der Materialknappheit gelitten und vorwiegend Ersatzstoffe verarbeitet hatte, blieben nichtstaatliche Aufträge jetzt fast ganz aus, da die Kunden vorsichtigerweise nicht in aus Ersatzstoffen gefertigter Ware disponieren wollten. Das Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung versuchte durch scharfe Produktionsvorschriften die Beschäftigung in der Papiergarnindustrie zu sichern; und das Reichswirtschaftsministerium, das die Faserstoffe weiterhin bewirtschaften ließ, teilte den Betrieben 15 Prozent des Friedensbedarfes zu. Im Februar 1919 kam es durch umfangreiche staatliche Aufträge zu einer gebesserten Situation in der Konfektionsindustrie, die durch einen leichten Auftragsanstieg infolge der Frühjahrssaison weiter anhielt. Allerdings brachte die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Blockade gleich wieder einen Auftragsabfall. Der Grund lag in der Abneigung gegen Ersatzstoffe und in dem erwarteten Import guter Textilien und Textilrohstoffe. Tatsächlich eroberten dann ausländische Konkurrenten einen Teil des Marktes, bevor sich die Aufhebung der Blockade im Sommer für die Industrie auswirken konnte. Weitaus besser war die Schuhindustrie dran, die aus reichlich vorhandenen Heeresbeständen Zuteilungen erhielt und erst im Sommer 1919 Rohstoffmangel zu spüren bekam. Der Wohnungsbau, schon während des Krieges so gut wie eingestellt, kam fast völlig zum Erliegen. In den deutschen Städten mit über 100000 Einwohnern wurden während des ersten Halbjahres 1919 durchschnittlich 27 Wohnungen errichtet. 10 Öffentliche Bauten entstanden nur da, wo es dringende Notstände zu beheben galt. Während der Blockade war der für die deutsche Wirtschaft überaus wichtige Außenhandel größtenteils abgeschnitten. Nach der zunächst teilweisen Aufhebung der Blockade im April und dann nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages änderte sich das Bild. Der Außenhandel kam wieder in Gang. Doch blieb er unter dem Vorkriegsniveau. Wenn auch für die unmittelbar auf das Kriegsende folgenden Jahre für Vergleiche brauchbare Außenhandelsstatistiken fehlen, so weist doch schon ein Blick auf Zahl und Tonnage der in deutschen Häfen einlaufenden Schiffe darauf hin, daß der Außenhandel gegenüber der Vorkriegszeit äußerst geschrumpft war (Tab. 4.). Vergleicht man die Tonnage und die Zahl der Schiffe, erkennt man, daß es sich bei den 1919 eingetroffenen Schiffen vorwiegend um kleinere Schiffe handelte. Die Gesamttonnage der 1919 aus europäischen in deutschen Häfen eingelaufenen Schiffe betrug rund ein Viertel der von 1913, obwohl die Anzahl der Schiffe nicht ganz so stark zurückging. 10 Ebenda, S. 699ff.
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Die Deformation des Reproduktionsprozesses
Tabelle 4 Dampfschiffe aus außerdeutscben europäischen Häfen %u Handelsvgvecken in deutseben Häfen angekommen (einschl. Hochseefischerei) Jahr
Zahl
Reg. Tonnen
1913 1919
30646 13206
16167990 4117248
Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1921/22, S. 130.
Noch eindrucksvoller sind die Zahlen für Schiffe aus äußereuropäischen Häfen (Tab. 5): Tabelle 5 Dampfschiffe
zu Handels^mcken aus außereuropäischen
Jahr
Zahl
Reg. Tonnen
1913 1919
2920 272
9626300 832519
Häfen
Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1921/22, S. 130.
War die aus europäischen Häfen eingelaufene Schiffstonnage schon stark zurückgegangen, so sank die Tonnage aus überseeischen Häfen sogar auf rund 8,7%. Dies deutet darauf hin, daß es sich bei den Schiffen aus europäischen Häfen zum Teil um Fischereifahrzeuge gehandelt haben kann. Auch die deutsche Nord- und Ostseefischerei war wieder möglich, nachdem die Blockade beendet war. Die Blockade wurde in mehreren Etappen gelockert. Da die zunächst gleich einem eisernen Reifen um Deutschland liegende Abschnürung die deutsche Wirtschaft und die Lebenslage der Massen aufs schwerste belastete, sah sich die Regierung gezwungen, energisch für eine Lockerung der Blockade einzutreten. Zwar hatten die Alliierten im Waffenstillstandsabkommen eine gewisse Versorgung Deutschlands mit Lebensmitteln in Aussicht gestellt, praktisch aber geschah bis Mitte Januar in dieser Hinsicht nichts. Nach Auseinandersetzungen innerhalb der Siegermächte und auf Drängen des neutralen Auslands zogen die Alliierten ab Mitte Januar bestimmte Lebensmittellieferungen an Deutschland in Erwägung. 1 1 Rohstoffe wurden aber nicht freigegeben, um ein Druckmittel in der Hand zu behalten, mit dem man die deutsche Seite zur Unterzeichnung des Friedensvertrages zwingen konnte. Als Bedingung für die Lieferung von 200000 t Brotgetreide und 70000 t Fett mußte jedoch die deutsche Handelsflotte an die Alliierten ausgeliefert werden, die wegen der ungeheuren Knappheit an Schiffsraum dringend benötigt wurde. Der Leiter der deutschen Waffenstillstandskommission stimmte unter der Voraussetzung zu, daß damit die Besitzverhältnisse an den Schiffen nicht berührt würden. 12 Die Verhandlungen und Auseinandersetzungen über die Finanzierung der Importe zogen sich hin, da die französische Seite nicht gestatten wollte, daß Deutschland die Lieferungen in bar bezahlen dürfe, wodurch es seine Fähigkeit zur Zahlung von Reparationsgeldern schwächen würde. Die Be« Hoover, Herbert, Die große Wirtschaftskrise 1929-1941, Mainz 1953, S. 390. 12 Der Waffenstillstand 1918-1919 {Dokumentenmaterial), Bd. 2, Berlin 1928, S. 37ff.
Die Deformation des Reproduktionsprozesses
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Zahlung mittels Exporten wurde ebenfalls nicht zugestanden, da dies bedeutet hätte, daß die Blockade weiter gelockert worden wäre. Auch innerhalb Deutschlands kam es zu Auseinandersetzungen über die Problematik. Auf deutscher Seite wurde ein Finanzausschuß bei der Waffenstillstandskommission gebildet, dem u. a. Carl Melchior, Direktor des Bankhauses M. Warburg, und Franz Urbig, Direktor der Diskontogesellschaft, angehörten. Mitte Februar griff der Stahlindustrielle Albert Vogler (DVP) in der Nationalversammlung den Vorsitzenden der Waffenstillstandskommission Erzberger wegen dessen angeblich zu großer Nachgiebigkeit gegen alliierte Forderungen heftig an. 13 Schließlich verpflichtete sich die deutsche Regierung im Brüsseler Abkommen vom 14. März 1919, alle Handelsschiffe über 2500 BRT und die Hälfte der Schiffe zwischen 1600 und 2500 BRT den Alliierten zu unterstellen, wofür ihr erlaubt wurde, monatlich 300000 t Brotgetreide und 70000 t Fett einzuführen. Dies sollte mit ausländischen Wertpapieren und ausländischem Besitz sowie durch Warenexporte bezahlt werden. Außerdem konnten deutscherseits Kredite neutraler Staaten in Anspruch genommen werden. Für die erste Lieferung wurde eine einmalige Goldzahlung gestattet. Teils im Zusammenhang mit der Aufgabe, die Lebensmittellieferungen zu bezahlen, teils um Mittel für Tribut- bzw. Reparationszahlungen zu beschaffen, wurde am 26. März eine Verordnung erlassen, derzufolge die inländischen Besitzer ausländischer Wertpapiere diese dem Reich zum Verkauf anzubieten hatten. 14 Vor allem jedoch mußte Deutschland mit industriellen Exporten bezahlen. Dies bedeutete, daß die Alliierten einen beschränkten Warenexport erlaubten. Bis zur Ratifizierung des Versailler Vertrages war der deutsche Außenhandel kontingentiert, und es bestand die Pflicht, eine Genehmigung durch alliierte Kontrollbehörden einzuholen. Im ganzen bot die deutsche Volkswirtschaft im ersten Halbjahr 1919 das Bild eines strukturell schwer gestörten Reproduktionsprozesses, der sich nur mühsam und unter Anwendung staatlicher Zwangsregulierungen vollzog. 15 Von einer erweiterten Reproduktion konnte keine Rede sein, vielmehr vollzog sich die Reproduktion als geschrumpfte Reproduktion. Die industrielle Erzeugung war geringer als selbst im letzten Kriegsjahr 1918. Der Sommer brachte zwar eine gewisse Wende mit der Aufhebung der Blockade. Der Außenhandel und die Produktionstätigkeit belebten sich. Das konnte jedoch nichts mehr daran ändern, daß während des ganzen Jahres die Produktionsziffern des Vorjahres nicht einmal erreicht wurden. Besonders deutlich aber zeigte sich die Deformation und Zerrüttung der volkswirtschaftlichen Reproduktion an der deutschen Währung. Die deutsche Nationalversammlung im Jabre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, Bd. 1, Berlin 1919, S. 307ff. 14 Benfe, Hermann, Die deutsche Währungspolitik von 1914—1924, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 23, H. 1/1926, S. 161. 15 Dazu auch: Bd. 1 — dieser Arbeit. 13
KAPITEL 2
Die Inflation als Instrument staatsmonopolistischer Manipulierung
1. Die Kriegsfinanzierung — Wurzel der Inflation „Kriege, wenigstens moderne, können nur mit Steuern und Papiergeld geführt werden, nicht mit Anleihen", hatte am 22. Juni 1911 der Direktor der Deutschen Bank, v. Gwinner, im preußischen Herrenhaus erklärt. 1 Im Kriegsfalle den Notenumlauf durch alle Mittel, selbst mit Unterdrückung der Reichsbankausweise, zu vermehren, hatte ein Direktor der bayerischen Notenbank empfohlen. 2 Die Machthaber Deutschlands waren darauf vorbereitet, im Falle des Krieges die Reichsbank als Kreditquelle auszunutzen. Als es soweit war, wurde diese Theorie sofort praktiziert, allerdings nicht ohne Verschleierungsversuch. Tabelle 6 Geldumlauf 1913-1918
(in Mrd.
Jahresende
Reichsbanknoten
1913 19141 1915 1916 1917 19182
2,59 2,91 6,92 8,05 11,47 16,66
1 Ende Juli
2
Mark)
Darlehnskassenscheine —
-
0,97 2,87 6,26 9,37
Reichskassenscheine
Privatbanknoten
Münzen
Gesamtsumme Papiermark
0,15 0,17 0,33 0,35 0,35 0,35
0,16 0,16 0,14 0,16 0,16 0,17
3,73 3,24 1,69 0,88 0,21 0,14
6,63 6,97 10,05 12,32 18,46 26,70
Ende Oktober
Quelle: Zahlen \ur Geldentwertung in Deutschland 1914—1923, in: Sonderhefte zu Wirtschaft und Statistik, 5. Jg., Berlin 1925, S. 45ff.
Da im Laufe des Krieges die Warenproduktion in Deutschland sehr vermindert wurde, wären, selbst bei gleichbleibender Geldmenge, nach dem Gesetz des Geldumlaufs inflationistische Tendenzen unvermeidlich gewesen. Tatsächlich jedoch wurde alles getan, um die in den Zirkulationskanälen befindliche Geldmenge noch zu vermehren. Unmittelbar bei Kriegsausbruch wurde die Goldeinlösungspflicht der Reichsbank aufgehoben, die zusammen mit der Vorschrift der Dritteldeckung den Geldumlauf bis dahin begrenzt hatte. Da man aus optischen Gründen die Bestimmung der Dritteldeckung nicht aufgeben wollte, wurde die Bevölkerung aufgefordert, ihre Goldbestände an die Reichs1 Büscher, Gustav, Die Inflation und ihre Lehren, Zürich 1926, S. 14. 2 Ebenda, S. 14/15.
Die Kriegsfinanzierung
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bank abzuliefern. Man verbreitete die Illusion, daß eine Geldvermehrung ungefährlich sei, solange die Währung zu einem Drittel gedeckt wäre. In Wirklichkeit trug aber jede abgelieferte Mark in Gold zur inflationären Geldvermehrung bei. Um den bei Kriegsbeginn erwarteten hohen Kreditbedarf der kapitalistischen Wirtschaft zu befriedigen, wurden zur Vergabe zunächst pfandgesicherter Kredite sogenannte Darlehenskassen gegründet. D a die „finanzielle Mobilmachung" bereits vorbereitet war, eröffneten schon am 5. August, einen Tag nach der Annahme der entsprechenden Gesetze im Reichstag, 99 Darlehenskassen und 96 Hilfsstellen ihre Pforten. 3 Hier wurden vor allem Unternehmern, die infolge der Kriegsumstellung Finanzbedarf nachweisen konnten, sowie Gemeinden und anderen Institutionen Kredite gewährt. Aufgrund dieser Darlehen gab man Darlehenskassenscheine aus, die zwar nicht zu gesetzlichen Zahlungsmitteln erklärt wurden, aber im übrigen den Reichsbanknoten völlig gleichgestellt waren. Um den Notenumlauf zu verschleiern wurden diese Darlehenskassenscheine nicht in die Zahlen des offiziellen Notenumlaufs mit eingerechnet. 4 Die Darlehenskassenscheine waren außerdem auch den Reichskassenscheinen gleichgestellt, die in den Kassen der Reichsbank zur Golddeckung hinzugezählt wurden. Da die Reichsbank mit dem Prinzip der Dritteldeckung arbeitete, konnte sie neben der dreifachen Summe der Reichskassenscheine nun auch die dreifache Summe der Darlehenskassenscheine an Noten ausgeben. V o r dem Kriege konnte sich der Mechanismus der Reichskassenscheine nicht inflationär auswirken, da ihre Summe auf höchstens 120 Millionen Mark, das heißt etwa 2 bis 3 % des deutschen Geldumlaufs, festgelegt war. D o c h am 4. August 1914 wurde bereits die Ausgabe von 1500 Millionen Mark Darlehenskassenscheinen beschlossen, am 11. November desselben Jahres auf 3000 Millionen Mark erhöht. Immer mehr wuchs der Papiergeldumlauf in Deutschland. Betrug die jährliche Geldzirkulation vor dem Kriege 5 bis 6 Milliarden Mark Papiergeld, so war sie 1915 auf 10,05 Milliarden Papiermark gestiegen. Außerdem hatte sich die Umlaufgeschwindigkeit der Geldzirkulation erhöht. Der Keim zur Inflation war damit schon zu Beginn des Krieges gelegt. Eine Hauptquelle der Inflation aber waren die Schatzanweisungen des Reiches und die neugeschaffenen Schatzwechsel. Schon vor dem Kriege ließ sich das Deutsche Reich seine Schatzanweisungen von der Reichsbank diskontieren und verschaffte sich auf diese Art billige Kredite, doch war hier in der Reichsschuldenordnung eine Höchstgrenze vorgeschrieben, nämlich 475 Millionen Mark. Mit Kriegsausbruch wurde auch diese Vorschrift außer Kraft gesetzt. Zunächst versuchte man, die kurzfristigen Schatzanweisungen in langfristige Kriegsanleihe umzuwandeln, was in der ersten Kriegszeit auch gelang. Aber bei der fünften Kriegsanleihe blieb das Ergebnis bereits um 2,1 Milliarden hinter der in den Schatzanweisungen verkörperten schwebenden Schuld zurück, bei der neunten Kriegsanleihe betrug schließlich das aufgelaufene Gesamtdefizit sogar 39 Milliarden. Die Schatzanweisungen wurden in Noten verwandelt, so daß Ende Oktober 1918 der Notenumlauf 3
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Benfe, Hermann, Die deutsche Währungspolitik von 1914—1924, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 23, H. 1/1926, S. 120. Andernfalls hätte die Reichsbank den hohen Geldumlauf allein ausweisen müssen. „Dies jedoch widersprach dem überwiegenden Postulat, den Reichsbankstatus unter allen Umständen zu verschönern. Man entsprach diesem dadurch, daß man die Lombardforderungen und den entsprechenden Umlauf an Geldzeichen aus der Reichsbankbilanz herausnahm und daraus eine neue Bilanz, eben die der Darlehenskassen machte." (Roesler, Konrai, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, Berlin 1967, S. 42).
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Inflation und staatsmonopolistische Manipulierung
mit 26,7 Milliarden bereits das Fünffache des Vorkriegsumlaufes ausmachte. Die Inflation war Tatsache, bevor der Krieg beendet war, wenn sie infolge der Preisvorschriften zunächst auch als „gestaute Inflation" wirksam wurde. Sie hatte ihre Wurzel in der Verpulverung des Volksvermögens auf den Schlachtfeldern, was die Herrscher Deutschlands allerdings zu verbergen suchten. „Alle diese Summen, die das Reich für den Krieg verausgabt hat, sind bis auf verhältnismäßig unbedeutende Beträge im Lande verblieben. Sie sind unseren Soldaten, unserer Landwirtschaft und Industrie, Unternehmern und Arbeitern zugeflossen. Sie haben als Einzahlung auf die letzte Kriegsanleihe gedient und sich darüber hinaus zu neuem Sparkapital verdichtet", erklärte Helfferich im Reichstag am 20. August 1915.5 Und der Reichsbankbericht für 1915 versicherte: „Wenn unsere auswärtigen Wechselkurse im Jahre 1915 im großen und ganzen eine ungünstige Bewegung zeigten, so hing dies ausschließlich mit den durch den Krieg verursachten Änderungen und Erschwerungen des internationalen Zahlungsausgleichs zusammen." 6 Die Finanzierung der Kriegsführung mittels Diskontierung von Reichsschatzanweisungen und deren nachfolgender, allerdings immer weniger erfolgreichen Konsolidierung durch Kriegsanleihen waren die Hauptmethoden, deren sich die Machthaber Deutschlands bedienten. Es wurde bis 1916 ganz darauf verzichtet, besondere Kriegssteuern zu erheben, die vor allem die Besitzenden hätten treffen müssen. Als dann eine besondere Kriegsabgabe erhoben wurde, brachte sie in den Jahren 1916 und 1917 zusammen 4888 Millionen Mark. Das waren aber nicht einmal 5 % der bis dahin angefallenen Kriegskosten, die 1917 schon über 100 Milliarden betrugen. 7 Die Gesamtkosten des Krieges bis Ende 1918 wurden dann auf über 151 Milliarden beziffert. Davon waren durch Anleihen ca. 93 Milliarden aufgebracht worden, durch unverzinsliche Schatzanweisungen und Reichswechsel über 58 Milliarden. 8
2. Die Geldentwertung als ökonomische Nachkriegspolitik Nachdem der Rat der Volksbeauftragten am 9. November 1918 die Regierungsgewalt übernommen hatte, wurde die Währungspolitik keineswegs geändert. Die Ausgaben des Reiches waren mit dem Waffenstillstand nicht geringer geworden. Die flexible und hinhaltende Politik gegenüber den Massen war relativ kostenaufwendig. Um von der Forderung nach echten sozialistischen Maßnahmen abzulenken bzw. die über das Ausbleiben solcher Schritte Enttäuschten und Verbitterten hinzuhalten und zu beruhigen, wurde eine Reihe sozialer Maßnahmen durchgeführt. Teuerungszulagen, Familienunterstützungen, Erwerbslosenunterstützungen wurden ausgezahlt. Einen viel größeren Posten machten jedoch die Kriegsausgaben aus, die auch nach dem Waffenstillstand nicht aufhörten, da nach wie vor Teile des Heeres unter Waffen gehalten und Kämpfe gegen die deutsche Arbeiterklasse, aber auch im Osten geführt wurden. Sie erforderten den Löwenanteil der außerordentlichen Ausgaben des Reichshaushalts (Tab. 7). Weitere Zahlungen des Reiches waren: Entschädigungen an die Industrieunternehmen in den abgetretenen oder besetzten Gebieten, Entschädigungen an die Reedereien von etwa 5 Verhandlungen des Deutschen Reichstages, 13/11, Stenographische Berichte, Bd. 306, S. 224. 6 Reicbshankbericbt 1915, S. 4. 7 Büscber, Gustav, a. a. O., S. 38. 8 Schiffer, Eugen, Deutschlands Finanzlage nach dem Krieg, Berlin 1919, S. 6f.
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Die Geldentwertung
l 4 /2 Milliarden 9 , der Zinsendienst für die Kriegsanleihe, Zahlungen für die Inanspruchnahme von Grundstücken auf Grund des Kriegsleistungsgesetzes von einer halben Milliarde und nicht zum wenigsten die sich aus den Reparationslieferungen ergebenen Zahlungen. Tabelle 1 Monatlicher Bedarf an außerordentlichen Deckungsmitteln August 1918 — März i9Z9 (auf Grund der täglichen Kassenzettel der Reicbsbauptkasse) (in Mill. Mark) August September Oktober November Dezember Januar Februar März
1918 1918 1918 1918 1918 1919 1919 1919
4583 4403 4846 4143 3816 3551 2719 2005
Quelle: Roesler, Konrad, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches im Etsten Weltkrieg, Berlin 1967, S. 202.
Da es mit dem Waffenstillstand unmöglich geworden war, die Ausgaben wenigstens teilweise mittels Kriegsanleihe zu finanzieren, wurde seitdem nur noch die Notenpresse in Bewegung gesetzt. Jeder ernsthafte Vcrsuch, die besitzenden Schichten über Steuerzahlungen stärker heranzuziehen, konnte von den bürgerlichen Ministern im Einvernehmen mit den SPD-Führern vereitelt werden, eine Politik, die sich nach den Wahlen zur Nationalversammlung und der Bildung des Kabinetts Scheidemann fortsetzte. Auch diese Regierung legte trotz der bei den Massen für die Heranziehung der Kriegsgewinne und großen Vermögen zur Sicherung der Reichsfinanzen verbreiteten Stimmung keine entsprechenden Gesetzentwürfe vor. Es wurde weiter ohne finanzielle Deckung gewirtschaftet und Notetats beantragt und bewilligt. Während des Waffenstillstandes vergrößerte sich die schwebende Reichsschuld um 6 1 % . Die Preisentwicklung, selbst weitgehend Folge der Inflation, trieb die Ausgaben des Reiches immer wieder weit über die Voranschläge hinaus. Im Sommer 1919 bestand schon wieder eine Haushaltslücke, für die keine Deckung vorhanden war. Zwar versuchte 1919/20 unter dem Druck der Massenstimmung der Finanzminister der Regierung Bauer, Matthias Erzberger, mit Hilfe einer Steuerreform auch die besitzenden Schichten über stärkere Steuerprogression, die bei der Einkommenssteuer bis zu 6 0 % betrug, einmalige Steuern, wie die Erbschaftssteuer und ein sogen. Reichsnotopfer an den Lasten zu beteiligen, jedoch der Widerstand der Bourgeoisie und die weiterschreitende Inflation machten diese Absicht zunichte. 10 Das Reichsnotopfer z. B. konnte von den Besitzern großer Vermögen in Raten gezahlt werden, die mit fortschreitender Geldent9
Die Zahlungen an die Reedereien erfolgten auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung der Handelsflotte vom 7. Nov. 1917. Auf Grund dieses Gesetzes wurden für jedes durch Kriegsereignisse verloren gegangene Handelsschiff aus Reichsmitteln nicht nur der Wert des Schiffes vom 25. August 1914 erstattet, sondern darüber hinaus Zuschläge gegeben, falls innerhalb von 9 Jahren nach Friedensschluß ein Ersatzschiff in Dienst gestellt wurde. Diese Zuschläge betrugen bei Indienststellung binnen 4 Jahren bis zu 7 0 % des Unterschieds zwischen den Kosten der Ersatzbeschaffung und den Kosten, die diese am
10
25. August 1914 verursacht haben würde. (Mayer, Steen, Ersatz für private Kriegsverluste, in: Handbuch der Politik, Bd. 4 : Der wirtschaftliche Wiederaufbau, Berlin/Leipzig 1921, S. 17.) Die Erzbergersche Steuerreform brachte daneben starke Belastungen der werktätigen Bevölkerung, so durch die Einführung der Lohnsteuer und starke Anspannung der indirekten Steuern. Wichtiger Be-
22
Inflation und staatsmonopolistische Manipulierung
wertung immer wertloser wurden. Auch die anderen Steuern entwerteten sich ständig. Als endlich Ende 1923 die Steuern auf Goldbasis berechnet werden sollten — nachdem seit dem Sommer 1922 die Inflation zur Hyperinflation geworden war, war es schon zu spät. So wurde dann während der ganzen Zeit der Inflation nur ein Bruchteil der Haushaltsausgaben mit Hilfe des Steueraufkommens gedeckt. Im August 1923 betrugen z. B. die Gesamtausgaben des Reiches 1425,2 Billionen Mark, die Einnahmen dagegen 286,9 Billionen. Die Differenz wurde durch die Vergrößerung der schwebenden Schuld, d. h. letztlich durch Notendruck beglichen. 11 Der Verfall der Mark war die natürliche Folge und konnte auch durch gelegentliche sog. Markstützungsaktionen, d. h. durch Aufkauf von Markbeträgen für einen Teil der Goldbestände der Reichsbank nicht für längere Zeit aufgehalten werden. So funktionierte der Mechanismus: Haushaltsdefizit — Deckung durch erhöhte Notenausgaben — vermehrter Geldumlauf — inflationär erhöhte Preise — erneutes Haushaltsdefizit. Natürlich wirkten eine Reihe anderer Faktoren ebenfalls in die gleiche Richtung; die passive Zahlungsbilanz des Reiches etwa, zunächst teilweise eine Folge stockender Ausfuhr und gleichzeitiger Überschwemmung des Binnenmarktes mit ausländischen Waren nach der Aufhebung der Blockade. Eine Ursache dafür war das sogenannte Loch im Westen, das entstanden war, weil die Alliierten an den Westgrenzen der besetzten Gebiete die deutschen Zollbehörden lahm legten. Aber alle Faktoren, welche die Inflation beeinflußten und weitertrieben, standen doch in Wechselwirkung und Abhängigkeit zu dem beschriebenen Mechanismus, dessen Ablauf sich mehr und mehr beschleunigte (Tab. 8). Tabelle 8 Jeweilige Ver^ebnfacbung des Dollarkurses seit
Kriegsausbruch
1 Goldmark= Papiermark
Datum
Dollarkurs in Marl;
Zeitraum
1 10 100 1000 10000 100000 1000000 10000000 100000000 1000000000 10000000000 100000000000 1000000000000
Juli 1914 Januar 1920 3. Juli 1922 21. Okt. 1922 31. Jan. 1923 24. Juli 1923 8. Aug. 1923 7. Sept. 1923 3. Okt. 1923 11. Okt. 1923 22. Okt. 1923 3. Nov. 1923 20. Nov. 1923
4,198 41,98 420,00 4430,00 49000,00 414000,00 4860000,00 53000000,00 440000000,00 5060000000,00 40000000000,00 420000000000,00 4200000000000,00
572 272 108 101 174 13 30 26 8 11 11 17
Jahre Jahre Tage Tage Tage Tage Tage Tage Tage Tage Tage Tage
Quelle: Benfe, Hermann, Die deutsche Währungspolitik von 1914—1924, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 23, H. 1/1926, S. 134.
11
standteil der Reform war der Übergang der Gesetzgebung für direkte Steuern auf das Reich und die Abschaffung der „Matrikularbeiträge". Die Länder „wurden jetzt zu Kostgängern des Reiches. Sie waren auf Überweisungen aus dem Aufkommen an Reichssteuern angewiesen und wurden in erster Linie an der Einkommens- und Körperschaftssteuer sowie der Umsatzsteuer zu einem bestimmten Prozentsatz beteiligt." (Dieckmann, Hildemarie, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1960, S. 20). Beuscb, Paul, Währungzerfall und Währungsstabilisierung, Berlin 1928, S. 11.
Verschärfung der Inflation
23
3. Die Ausnutzung und Verschärfung der Inflation durch Teile der Monopolbourgeoisie In der Phase der „gemäßigten" Inflation, die etwa von 1919 bis 1922 währte, entwickelte sich die Geldentwertung bzw. der Geldumlauf mit gewissen Schwankungen, jedoch noch nicht in dem rasenden Tempo, das zu den astronomischen Ziffern des Jahres 1923 führte. In der öffentlichen Diskussion und der Regierungsargumentation über Ursachen der Inflation wie über Wege zu ihrer Behebung oder mindestens Bremsung, wurden viele Gründe angeführt, so die Außenhandelssituation, die Politik der Alliierten gegenüber Deutschland, insbesondere die Reparationszahlungen 12 , und auch last not least die Lohnforderungen der Arbeiter. So erklärte Finanzminister Dernburg vor der Berliner Handelskammer: „Hohe Löhne bewirken — unterstützt von Rohstoffmangel und Arbeitsunlust — hohe Preise; diese ziehen neue Lohnforderungen nach sich, die Preise folgen: ein circulus vitiosus." 13 Abgesehen davon, daß in dieser Darstellung, die ja auch heute noch von der Unternehmerseite angewandt wird, Ursache und Wirkung vertauscht sind, wird die Wirkung von Lohnerhöhungen auf die Preise stark übertrieben dargestellt. Die Arbeitslöhne machen immer nur einen Teil der Selbstkosten eines Unternehmens aus; und der Preis eines Erzeugnisses setzt sich aus vielen Faktoren zusammen, nicht zuletzt bezieht er auch den Profit des Unternehmers mit ein. Aber in der Praxis werden Erhöhungen der Preise, die der Profitvermehrung dienen, unberechtigterweise mit von der Arbeiterklasse erkämpften Lohnerhöhungen begründet. So verhielt sich auch die deutsche Schwerindustrie nach dem ersten Weltkrieg bzw. in der Inflationszeit. Schon Ende November bzw. Anfang Dezember 1918 war vom Demobilmachungsamt die Höchstpreisgesetzgebung für Nichteisenmetalle und am 2. Januar 1919 für Roheisen, Rohstahl, Halbzeug- und Walzwerksprodukte aufgehoben worden. 14 Der deutsche Stahlbund erhöhte daraufhin sofort die Preise für Halbzeug um 50%, einen Monat später erfolgte noch einmal eine Erhöhung um 50°/0, obwohl die Löhne der Hüttenarbeiter um kaum 10% gestiegen waren. 15 Diese Preistreiberei dauerte auch in der Folgezeit an. Schlaghecke schreibt dazu: „Diese fortdauernden Steigerungen dauerten an bis zum Mai 1920, als Rohblöcke auf 2650 Mark, vorgewalzte Blöcke auf 2950 Mark, Knüppel auf 3125 Mark und Platinen auf 3200 Mark angelangt waren. Somit. hatte seit Aufhebung der Zwangswirtschaft (Januar 1919) der Halbzeugpreis durchschnittlich eine Erhöhung von 891% erfahren, während die zur Fabrikation verwandten Rohstoffe sowie die Löhne und Frachten folgende Steigerung durchmachten: Koks um 653%, deutsches Erz um 908%, Minette um 1382%, Schwedisches Erz um 349%, die Hüttenarbeiterlöhne um 399%, die Eisenbahnfrachten für Koks um 640%, für Eisenstein um 500%, desgleichen für Roheisen um 375%, ferner die Seefrachten für Schwedenerze um 809%. Obwohl die Minette, die das Haupteinsatzmaterial bei der Herstellung des ThomasHalbzeugs darstellt, noch um 490% mehr im Preise gestiegen war als das Fabrikat (die Werke halfen sich durch größeren Verbrauch von Schwedenerzen), so muß man doch Die Behauptung, die Reparationen seien an allem schuld gewesen, wird von bürgerlichen Autoren immer wieder kolportiert: „Die Reparationen machten die deutsche Lage für die nächsten Jahre hoffnungslos." (Stolper, Gustav, Deutsche Wirtschaft seit 1830, Tübingen 1964, S. 90). 13 Dernburg, Bernhard, Die deutsche Finanzkraft, Berlin 1919, S. 4. « Reichsgeset^blatt (im folgenden RGBl.) 1918, S. 1388 bzw. Reichsanzeiger v. 9. 12. u. 12. 12. 1918 u. 6. 1. 1919. 15 Schlagbecke, Alfons, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914—1920, Giessen 1922, S. 23-25. 12
24
Inflation und staatsmonopolistische Manipulierung
sagen, daß die Preisforderungen der Werke im Mai 1920 entschieden zu hoch bemessen waren, selbst wenn sie einen angemessenen Betrag für die während des Krieges nicht vorgenommenen Reparaturen und Erneuerungen in sich bergen sollten." 1 6 Für die Monate vorher gibt Schlaghecke eine Kostenrechnung, die in Tabelle 9 ersichtlich ist. Tabelle 9 Kostenfür Tbomas-Vorblöcke 1,75 t Minette a 19,15 Frs. 0,75 t Schwedenerz (einschl. Seefracht) a 294,70 M 1 1 Koks
= 185,34 M =221,00 M =253,20 M
Ersatzkosten + 9 0 - 1 1 0 % der Ersatzkosten für Generalia
=659,54 M = 593,50-725,45 M
1 1 Thomas-Roheisen kostete demnach Die Umwandlungskosten betrugen ab April ca.
= 1253,04-1384,99 M 420,00— 510,00 M
1 t Thomas-Vorblöcke kostete die Werke also demnach
1673,04-1894,99 M
Quelle: Scblagbecke, Alfons, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914-1920, Giessen 1922, S. 49.
Dem Gestehungspreis stand ein Verkaufspreis von 2442 Mark gegenüber. Apologetisch meint Schlaghecke dann: „Daß der EWB (Eisenwirtschaftsbund — d. V.) trotzdem die Preise im nächsten Monat noch mal um ein Beträchtliches heraufsetzte, ist dem Umstände zuzuschreiben, daß er sich im Anfange seines Bestehens noch nicht die nötigen Unterlagen zur Prüfung der Selbstkosten beschaffen konnte und somit den Wünschen der Werke in etwa stattgeben mußte." 1 7 Wenn man Wirkungen solcher Preistreiberei der Schwerindustrie einschätzt, darf keinesfalls außer acht gelassen werden, daß diese Erhöhungen, die faktisch bereits Wucherpreise darstellten, in eine Periode fielen, wo diese Industrie zu einem erheblichen Teil an Lieferungen für den Staat arbeitete, die sich sowohl aus den Reparationsverpflichtungen des Reiches ergaben, als auch daraus, daß die stark abgenutzten Verkehrsanlagen, insbesondere der Eisenbahn, wiederhergestellt werden mußten. Das heißt aber, daß diese Preiserhöhungen erstens allgemein durch den Druck auf die weiterverarbeitende Industrie die allgemeine inflationistische Preisbewegung verstärkten und zweitens das Haushaltsdefizit vergrößern halfen, das dann durch vermehrte Notenausgabe gedeckt wurde. So trug schon auf diese Weise das deutsche schwerindustrielle Monopolkapital ein gut Teil dazu bei, die inflationäre Entwicklung zu verschärfen. Die deutsche Schwerindustrie gehörte zu den Hauptnutznießern der Inflation. Sie benutzte die Inflation und die besondere ökonomische Situation dieser Periode dazu, sich ungeheuer zu bereichern und zu einer bis dahin noch nicht dagewesenen Machtentfaltung. „Ganz deutlich zeichnete sich während des Krieges und der Inflation jener typische Prozeß im staatsmonopolistischen System ab, der in der Einschaltung des bürgerlichen Staates in den volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß bestand, wobei es Monopolgruppen gelang, das entscheidende Steuerungsinstrument, die Reichsbank, direkt unter ihre Kontrolle zu b r i n g e n . . . Wenn wir die ökonomischen Resultate der Nachkriegsentwicklung *> Ebenda, S. 49. 17 Ebenda.
Die Kreditpolitik der R,eichsbank: 1922/23
25
Deutschlands von 1919 bis 1923 überblicken, so können wir zunächst feststellen, daß es den deutschen Monopolgruppen gelang, eine weitgehende interne Entschuldung mit Hilfe des Umverteilens des Nationalvermögens vorzunehmen. Auf diesem Gebiet hatte sich das deutsche Monopolkapital Vorzugsbedingungen geschaffen. Bedeutende Investitionen, besonders in der Schwerindustrie, der Elektrotechnik, der Chemie und in gewissem Umfange auch im allgemeinen Maschinenbau, fanden statt, die teilweise eine katastrophale Fehlleitung von Kapital bedeuteten. Diese Fehlleitungen wurden hervorgerufen durch die Außerkraftsetzung der Wirkung des Zinses, des Kredits und weitgehend auch der Produktionskosten sowie der Tatsache, daß die Ware Arbeitskraft faktisch kostenlos zur Verfügung stand." 18 Im Verlauf der Inflation fand vor allem in der Schwerindustrie ein gewaltiger Konzentrationsprozeß statt, der zum großen Teil von der Reichsbank finanziert wurde. 4. Die Kreditpolitik der Reichsbank 1922/23 Im Laufe des Jahres 1922 gingen die „vom Inflationskurs besessenen deutschen Monopolgruppen" 19 daran, die Entwertung der Mark zu beschleunigen, was sie mit der monopolistischen Preistreiberei auf dem Binnenmarkt verbanden. Dabei wurden sie von der Reichsbank unterstützt. „Ein Markstein dafür war die Übernahme der Leitung der Reichsbank, die zum eigentlichen Zentrum der staatsmonopolistischen Wirtschaftspolitik geworden war, durch das Direktorium der Reichsbank. Die entscheidenden Monopolgruppen kontrollierten nunmehr die Reichsbank direkt unter Ausschluß der bürgerlichen Regierung und des Parlaments." 20 Zu Beginn des Jahres 1922 betrug der Bestand an Handelswechseln etwa eine Milliarde Mark. Dann aber begann die Reichsbank eine stärkere Verwendung von Handelswechseln zu propagieren, mit dem Erfolg, daß am Ende des Jahres sich ihr Bestand an Wechseln um das Vierhundertfache auf 422 Milliarden erhöhte. Bei Einbeziehung der Markentwertung gemessen am Dollar b'etrug sie 1000%. Am 9. Dezember 1923 erreichte der Bestand an Handelswechseln die Summe von 394,7 Trillionen. Die wirkliche Zunahme, das heißt unter Berücksichtigung der Entwertung, betrug 200%. In der gleichen Zeit waren auch die Darlehenskassen, die seit Kriegsausbruch bestanden, außerordentlich freigiebig mit Krediten (Tab. 10 u. 11). Zwar läßt sich für das Jahr 1923 keine Aufgliederung auf die Gruppen der Darlehnsnehmer vornehmen, doch ist der Trend ziemlich deutlich, der dahin ging, daß der Anteil der öffentlichen Körperschaften abnahm und der des privatkapitalistischen Sektors zunahm. Diese Kredite ebenso wie die Reichsbankkredite, die über die Wechseldiskontierung gegeben wurden, waren mit außerordentlich günstigen Bedingungen verbunden. Der Diskontsatz war niedrig, verglichen mit der Rate der fortlaufenden Entwertung des Geldes. Während der Satz für tägliches Geld im Privatverkehr bis zu 360% betrug, blieb die Reichsbank bei einem Satz von 10%. Becker, Walter, Ökonomische Entwicklungstendenzen des deutschen Imperialismus und ihre Widersprüche von der Inflation bis zur Weltwirtschaftskrise. (Ein Beitrag zum Lehrbuch „Deutsche Wirtschaftsgeschichte", Bd. 3: 1871-1945.) Habil.-Schr. Berlin 1967, S. 79/80. 19 Mottek, Hans/Becker, Walterl Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3: Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1975, S. 244. 20 Ebenda, S. 245. 18
3 Nusbaum, Bd. 2
26
Inflation und staatsmonopolistische Manipulierung
Tabelle 10 Kredite der Reichstank (in Mrd. Handelswechsel
1,5 2,8 0,5 0,7 0,4 0,3 0,5 3,0 1,0 4,8 8,1 21,7 50,2 101,2 246,9 422,2 697,0 1829,0 2372,0 2986,0 4015,0 6914,0 18314,0 164644,0 3660000,0 1058000000,0 39530000000,0
Mark)
Diskontierte Schatzwechsel
1,9 5,2 8,8 14,2 27,2 41,3 57,6 123,3 186,1 207,9 249,8 349,8 477,2 672,2 1184,5 1609,0 2947,0 4552,0 6225,0 8022,0 18338,0 53752,0 978219,0 45216000,0 6579000000,0 189801000000,0
Monatsende
Dezember August Dezember Dezember Dezember Dezember Dezember Dezember Dezember Juni Juli August September Oktober November Dezember Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober 15. November
1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1922 1922 1922 1922 1922 1922 1923 1923 1923 1923 1923 1923 1923 1923 1923 1923 1923
Quelle: Zahlen zur Geldentwertung in Deutschland 1914—1923, in: Sonderhefte zu Wirtschaft und Statistik, 5. Jg., Berlin 1925, S. 50.
Erst Mitte August 1923 wurde von ihr die sogenannte Entwertungsklausel eingeführt. Bis dahin aber bildeten die Reichsbankkredite faktisch Geschenke an die Kreditnehmer, da am Fälligkeitstermin die Entwertung des Geldes zumeist soweit fortgeschritten war, daß die zur Einlösung zu zahlende Summe nur einen Bruchteil des ursprünglichen Wertes darstellte. In einem Gutachten der neuen Reichsbankleitung nach der Währungsumstellung wurde zugegeben, daß die Reichsbank bei Wechseldiskontierungen in der betreffenden Periode etwa 578 Millionen Goldmark verloren hätte. Diese Kreditpolitik trug dazu bei, die inflationäre Geldentwertung zu beschleunigen. Gleichzeitig ging von diesen Krediten ein starker Anreiz aus, die so verfügbaren Mittel soweit wie möglich in Anspruch zu nehmen und auch ohne genaue Kalkulation oder Kostenrechnung für die Unternehmensexpansion, sei es in Form der Errichtung von Neuanlagen, sei es durch Einverleibung anderer Unternehmen zu verwenden. Dies geschah dann auch in reichem Maße, und so „gingen viele Unternehmen dazu über, ihre Produk-
Die Kreditpolitik der Reichsbank 1922/23
27
tionsmittel, Fabrikanlagen usw. zu vergrößern, lediglich um die verfügbaren Geldmittel in vermeintlich wertbeständiger Weise unterzubringen". 21 Tabelle 11 Die Inanspruchnahme der Darlebnskassen in den Jahren 1914—1924 Jahr
Absolute Summe in Milliarden Mark
Gruppierung der Darlehnsnehmer (in %) Bundesreg. u. Komm.Verbände
Banken u. sonst. Kreditanstalten
Wirtschaft
Kriegsgesellschaften
Sonstige
1914 1915 1916 1917 1918
3,06 8,94 19,98 36,41 49,81
14,7 26,8 25,0 74,9 84,5
44,9 29,0 28,2 7,7 2,2
23,3 19,5 15,7 6,0 2,7
_ 5,7 10,5 3,4 4,6
17,1 19,0 20,6 8,0 6,0
1919 1920 1921 1922 1923 1924
111,74 291,59 370,82 1568,17 97,891 193,54
84,4 65,3 56,9 13,7
1,5 9,7 29,5 19,1
1,3 1,2 1,1 15,8
11.4 23,0 11.5 50,9
1,4 0,8 1,0 0,5
1,4
47,5
40,7
1
in Trillionen
Quelle: Die Darlehenskassen des Reiches. Berichte über die Jahre 1914—1914, Berlin 1925. 21
Stolper, Gustav, Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tübingen 1964, S. 101 f.
10,4
KAPITEL 3
Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
1. Der Friedensvertrag. Die Bewegung der Produktion Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrages von Versailles trugen dazu bei, die wirtschaftliche Situation des deutschen Imperialismus zu verschärfen. „Der Versailler Vertrag beschränkte . . . die Souveränität des imperialistischen Weimarer Staates. Er engte die wirtschaftliche, politische und militärische Bewegungsfreiheit des deutschen Imperialismus beträchtlich ein." 1 Das Territorium des Deutschen Reiches wurde um ein Achtel verringert. Es wurde nicht nur der Verlust des 1871 annektierten ElsaßLothringen besiegelt, sondern auch früher geraubte Gebiete im Osten abgetreten, das Saarland für 15 Jahre unter französische Verwaltung gestellt und die Besetzung des linksrheinischen Gebiets durch alliierte Truppen aufrechterhalten. Allein ein Viertel der deutschen Kohleförderung ging für Deutschland verloren. Dazu kam die entschädigungslose Ablieferung der Handelsflotte und der Verlust des deutschen Auslandsvermögens. Besonders schwerwiegend waren die Reparationsforderungen der Siegermächte. Nachdem diese Forderungen sich zunächst um Größenordnungen von 300 Milliarden Mark bewegt hatten, einigte man sich auf eine Reparationsschuld von 132 Milliarden Mark. 2 Diese sollten jährlich mit 6 % verzinst und getilgt werden. Einerseits zwang die Verpflichtung zu Reparationen, die zum erheblichen Teil in ausländischen Werten geleistet werden mußten, dazu, Devisen zu beschaffen, indem man den Export deutscher Waren forcierte. Andererseits waren dem deutschen Außenhandel im Versailler Vertrag erhebliche Fesseln angelegt worden, was den Intentionen der imperialistischen Siegermächte entsprach, die deutsche Konkurrenz möglichst niederzuhalten. Die deutschen Souveränitätsrechte im Gebiet des deutschen Außenhandels wurden in genau festgelegter Weise beschränkt. Vor allem drückte sich die Diskriminierung des deutschen Außenhandels neben mehreren anderen Bestimmungen darin aus, daß die allgemeine einseitige Meistbegünstigung sämtlicher alliierter und assoziierter Mächte bei der deutschen Einfuhr, Ausfuhr und Durchfuhr von Waren festgelegt war. Diese Bestimmungen galten bis zum 10. Januar 1925, das heißt bis 5 Jahre nachdem der Vertrag von Versailles in Kraft getreten war. Der deutsche Imperialismus reagierte auf diese Bestimmungen, die er in dieser Periode nicht ändern konnte, in verschiedener Weise. Zunächst war man wegen der einseitigen 1 2
Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, a. a. O., S. 391. Es sei hier daran erinnert, daß die deutschen Imperialisten, falls sie den Krieg gewonnen hätten, nicht minder hart mit ihren Gegnern umzugehen beabsichtigten. Sie hegten nicht nur die bekannten umfangreichen Annexionspläne, sondern wollten sich auch erhebliche Zahlungen leisten lassen. „Das Bleigewicht der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient, nicht wir", rief 1915 Helfferich, zu dieser Zeit Staatssekretär des Reichsschatzamtes, im Reichstag aus. (Protokolle des Deutschen Reichstages, Bd. 306. S. 224).
D e r Friedensvertrag. D i e B e w e g u n g der Produktion
29
Meistbegünstigungsklausel nicht daran interessiert, irgendwelche Handelsverträge abzuschließen, in denen gegenseitige Begünstigungen festgelegt waren. Es wurden nur einige vorläufige Handelsverträge geschlossen, die keinerlei Formulierungen enthielten, die von den Siegermächten hätten ausgenutzt werden können. Der Außenhandel wurde vielmehr durch die Außenhandelskontrolle gelenkt, die durch Verordnung des Reichswirtschaftsministers vom 20. Dezember 1919 geschaffen wurde. Diese Kontrolle wurde mit Hilfe der sogenannten Außenhandelsstellen vorgenommen, in denen Vertreter der wichtigsten Firmen der jeweiligen Wirtschaftszweige saßen. Puchert stellt fest: „Die Außenhandelsstellen waren staatsmonopolistische Gremien, in denen Vertreter der stärksten Firmen der jeweiligen Wirtschaftszweige, also in der Regel Monopolvertreter, den Ton angaben. Zugleich wurde die Institution der staatsmonopolistischen Außenhandelskontrolle angesichts der damaligen politischen Situation in Deutschland mit einer sozialen und demokratischen Drapierung versehen, indem in die Aufsichtsgremien der Außenhandelsstellen auch einige Arbeitervertreter aufgenommen . . . und für die Ausfertigung der Bewilligungen Gebühren und Abgaben erhoben wurden, die — la'ut der bereits genannten Verordnung vom 20. Dezember 1919 — nicht nur die Verwaltungskosten decken (§ 4), sondern auch für soziale Zwecke verwendet werden sollten (§ 6)." 3 Insgesamt war die deutsche industrielle Produktion im Jahre 1919 auf ihrem tiefsten Punkt. Sie war auf 37% des Vorkriegsstandes gefallen, was bedeutete, daß etwa ebensoviel Industriewaren erzeugt wurden wie um 1888. Dabei war die Erzeugung von Produktionsmitteln stärker zurückgegangen als die Konsumgüterproduktion, die allerdings schon in den Kriegsjahren stark eingeschränkt worden war. Auch die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft war schwer beeinträchtigt. Abgesehen davon, daß wichtige'landwirtschaftliche Anbaugebiete verlorengegangen waren, hatte eine ganze Reihe durch den Krieg bedingter Faktoren bewirkt, daß weniger Agrarprodukte erzeugt wurden. Solche Faktoren waren — das Defizit an Düngemitteln, — die Unterversorgung der Landwirtschaft mit Maschinen und Antriebskraft, insbesondere der Verlust an Pferden, — die Einbeziehung großer Teile der männlichen landwirtschaftlichen Bevölkerung zum Heeresdienst. Zwar wurde die Wirkung dieses letzten Faktors während des Krieges durch den Einsatz von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft gemildert; und nach dem Ende des Krieges strömten die eingezogenen Männer schnell wieder in die landwirtschaftliche Produktion zurück. Doch die anderen Wirkungen des Krieges blieben noch weiterhin spürbar. So konnte die Erzeugung der deutschen Landwirtschaft, die bereits vor dem Kriege durch Importe ergänzt werden mußte, während des Krieges und des Waffenstillstandes, der faktisch die ganze Zeit vor der neuen Ernte umfaßte, nicht genügen, um die Masse der Bevölkerung ausreichend zu ernähren. Der Hunger regierte in Deutschland. Die Ernteergebnisse geben ein anschauliches Bild des gestörten Reproduktionsprozesses (Tab. 12). 3
Pudert,
Bertbold, Regulierung des deutschen Außenhandels nach dem ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft
und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 199/200. =
Forschungen zur Wirtschaftsge-
schichte, h g . v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, B d . 9. Puchert gibt auch eine ausführliche Darstellung der den Außenhandel betreffenden Bestimmungen des Versailler Vertrages. (Ebenda, S. 1 9 6 f f . )
Det Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
30 Tabelle 12
Ernteergebnisse der wichtigsten Feldfrücbte 1913 bz">. 1919—1923 (in 1000 t auf jeweiligem Territorium ) Jahr
Roggen
Weizen
Kartoffeln
1913 1919 1920 1921 1922 1923
12222 6100 4972 6797 5234 6681
4656 2169 2255 2434 1958 2897
54121 21479 28249 26151 40665 32580
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 286. D i e Erträge waren 1919 auf w e n i g e r als die Hälfte der Ergebnisse v o n 1913 zurückgegangen. D i e s ist nicht nur auf die verringerte Anbaufläche zurückzuführen, sondern in starkem Maße auf die verminderten Erträge pro ha. D i e Hektarerträge der Vorkriegszeit wurden während der ganzen Periode nicht wieder erreicht (Tab. 13 u. 14). Tabelle 13 Anbaufläche der wichtigsten Feldfrücbte 1913 b^w. 1919—1923 (in 1000 ha auf jeweiligem Territorium) Jahr
Roggen
Weizen
Kartoffeln
1913 1919 1920 1921 1922 1923
6414 4403 4325 4265 4143 4366
1974 1299 1381 1441 1374 1478
3412 2181 2450 2647 2722 2727
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 274. Tabelle 14 Hektarerträge der wichtigsten Feldfrücbte 1913 b^w. 1919—1923 (ind%) Jahr
Roggen
Weizen
Kartoffeln
1913 1919 1920 1921 1922 1923
19,3 13,9 11,5 15,9 12,6 15,3
24,1 16,8 16,3 20,4 14,2 19,6
157,1 98,8 115,1 98,8 149,4 119,5
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 280/81 bzw. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1923 und 1924/25. Z w a r hatte auch die Bevölkerungszahl des Reiches i n f o l g e des Krieges u n d der Gebietsverluste a b g e n o m m e n u n d war v o n 66,811 Millionen 1918 auf 62,797 Millionen 1919 gesunken, jedoch stand die Bevölkerungsverminderung in einem ungleichen Verhältnis z u m
Det Friedensvertrag. Die Bewegung der Produktion
31
Absinken der landwirtschaftlichen Produktion. 4 Diese stieg auch in den nächsten Jahren nur langsam an. Die Kartoffelernte von 1920 brachte jedoch bedeutend höhere Ergebnisse als im Vorjahr, sowohl wegen der vergrößerten Anbaufläche, wie auch wegen besserer Hektarerträge. Auch die Weizenerzeugung nahm wieder zu, während 1920 noch weniger Roggen produziert wurde als im Vorjahr. Starken Schwankungen unterlag die industrielle Erzeugung. Innerhalb der durch die bereits erwähnten Kriegsfolgen gezogenen Grenzen kam es in der zweiten Hälfte des Jahres zu einer gewissen Belebung, und während der ersten Monate des folgenden Jahres sogar zu einer Konjunktur. Dazu trug der wachsende Außenhandel im Gefolge der niedrigen deutschen Valuta bei. Auch auf dem Inlandsmarkt führte der Warenhunger zu wachsender Nachfrage sowohl bei Konsumgütern wie bei Produktionsmitteln. Diese Nachfrage wirkte sich umso stärker für die einheimische Produktion aus, als die Einfuhr aus den gleichen Gründen nachließ, die zu verstärktem Export führten. Die Konjunktur läßt sich auch an der zurückgehenden Arbeitslosigkeit nachweisen (Tab. 15). Tabelle 15 Unterstützte Erwerbslose April 1919 Juni 1919 829758 620000 Quelle: Statistisches
(Hauptunterstüt^ungsempfänger) März 1920 370296
Jabrtucb für das Deutsche Reich 1921/22, S. 446.
Diese Zahlen widerspiegeln allerdings nicht die gesamte Arbeitslosigkeit. Sowohl die versteckte Arbeitslosigkeit, die dadurch entstand, daß die Frauen aus dem Produktionsprozeß ausscheiden mußten, wie auch die Kurzarbeit sind hier nicht erfaßt. Einzelne Zweige profitierten ganz besonders von dem erwähnten Warenhunger, so z. B. die Fahrradindustrie, die ihren Umsatz und die Produktion von Jahr zu Jahr erhöhen konnte, wozu sowohl neue Käuferschichten, besonders unter der bäuerlichen Bevölkerung, wie auch der wachsende Export beitrugen. 5 Im April 1920 setzte allerdings eine allgemeine Depression ein, die im Sommer krisenhaften Charakter annahm. Sie war einerseits der Wirkung der Weltkrise und der damit zusammenfallenden Höherbewertung der Mark zuzuschreiben, die den Export behinderten. Im Innern führten die ansteigenden Warenpreise dazu, daß die Massenkaufkraft zurückging. Diese Folgen verstärkten sich, da Handel und Verbraucher sich spekulativ zurückhielten, weil allgemein damit gerechnet wurde, daß die Preise zurückgehen würden. Die Kohleindustrie wurde jedoch von der veränderten Wirtschaftslage nicht betroffen, während die Roheisen- und Stahlindustrie ab Juni Abbestellungen zu verzeichnen hatte. Auf der anderen Seite behinderten Rohstoff- und Brennstoffknappheit die Leistung solcher Produktionszweige, die noch nicht unter Auftragsmangel litten. Dies traf zu bei der Gummierzeugung, der Glühlampen- und pharmazeutischen Industrie, der Glas- und Keramiksowie der Spinn- und Webstofferzeugung. Trotz bestehender Nachfrage konnten diese Zweige nicht voll produzieren. Besonders die Textilindustrie war zu Betriebseinschränkungen und Kurzarbeit gezwungen. 4
5
Dazu auch: Berthold, Rudolf, Die Entwicklung der deutschen Agrarproduktion und der Ernährungswirtschaft zwischen 1907 und 1925, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 4, S. 83ff. sowie: Areboe, Friedrieb, Der Einfluß des Krieges auf die landwirtschaftliche Produktion Deutschlands, Stuttgart/Berlin/ Leipzig 1927. Kublo, Martin, Die Hochkonjunktur der Deutschen Fahrradindustrie in den Jahren 1919—1925, Diss. Gießen 1926.
32
Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
Aber auch die direkt von der Absatzkrise betroffenen Zweige litten unter den hohen Rohstoffpreisen, da diese eine Preissenkung erschwerten. Die Zahl der Arbeitslosen stieg ab Mai bis Juli deutlich an. 6 Erst im August und weiter im September kam es im Zusammenhang mit dem erneuten Fall der Mark zu einer Belebung. Das Exportgeschäft verstärkte sich. In den Wintermonaten trat wiederum eine Abschwächung ein, die bis etwa April 1921 währte. Sie ist auf das Mißverhältnis von Kaufkraft und Preisen, die unsicheren Geldverhältnisse sowie auf die verstärkte Kohlenknappheit zurückzuführen, die sich bemerkbar machte, als das Abkommen von Spa wirksam wurde. 7 Doch lag die Produktion des Jahres 1920 über der von 1919. Aber hatte sich deutlich fühlbar gemacht, daß die innere Kaufkraft erlahmte, weil die Einkommen der Geldentwertung nicht genügend folgten. Die Mehrheit der Bevölkerung verdiente 1920 weniger als das Existenzminimum, dessen Kosten etwa elfmal so hoch lagen wie vor dem Kriege. Das durchschnittliche Nominaleinkommen war aber nur um das Vierfache gestiegen. 8 Das Sinken der Reallöhne setzte sich ziemlich stetig während der ganzen Periode der Nachkriegskrise von 1919 bis 1923 fort (Tab. 16). Tabelle 16 Wöchentliche Reallöhne für einzelne Arbeitergruppen 1919-1923 Jahr u. Monat
Jan. Dez. Jan. Dez. Jan. Dez. Jan. Dez.
1919 1920 1920 1921 1921 1922 1922 1923 1923
(1913-100)
Reichsbahnarbeiter Gelernte Ungelernte
UntertageBergarbeiter
Setzer
92 67 66 72 72 69 55 44 58
82 80 85 84 91 83 62 48 73
72 61 67 66 77 72 53 43 68
120 90 88 96 96 94 76 61 66
Quelle: Zahlen xur Geldentwertung in Deutschland 1914—1923, in: Sonderhefte zu Wirtschaft und Statistik, 5. Jg., Berlin 1925, S. 40. Siehe Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1921/22, Anhang, S. 78. Das Abkommen von Spa im Juli 1920 verpflichtete Deutschland, unter Androhung der Besetzung des Ruhrgebietes monatlich 2 Mill. t Kohle zu liefern. Dies war 1 Mill. t weniger als in Versailles festgelegt worden war. In Spa hatte Stinnes, der als „ Kohlen-Sachverständiger" der deutschen Delegation angehörte, durch sein provokatorisches Auftreten gegenüber den Alliierten Aufsehen erregt. Es sei auch darauf hingewiesen, daß Kohlenknappheit nicht nur in Deutschland herrschte, sondern auch in anderen Ländern. Nach einer Untersuchung der Reparationskommission betrug der Koeffizient der Befriedigung des Kohlenbedarfs in Frankreich, Italien und Belgien 1920 (im Verhältnis zu 1913) 80,9 Prozent, 55 Prozent bzw. 77,3 Prozent. In Deutschland sei er dagegen nie unter 83% gesunken. Selbst wenn diese Angaben kritisch betrachtet werden müssen, da sie dem Nachweis dienten, daß Deutschland zu größeren Lieferungen gezwungen werden könne, so bleibt doch die Tatsache, daß a) Kohlenmangel auch bei den Alliierten herrschte und b) daß Deutschland im allgemeinen den Lieferungsverpflichtungen nicht voll nachkam. (Weil-Raynal, Etienne, Les reparations allemandes et la France, Bd. 1, Paris 1947, S. 439/440). 8 Ebenda, S. 34.
6 7
Der Friedensvertrag. Die Bewegung der Produktion
33
Kuczynski meint dazu: „Natürlich sind die Reallöhne für 1919 viel zu hoch angegeben. Natürlich sind die Bewegungen im einzelnen nicht genau berechnet. Sicherlich ist die Reallohnsenkung in einzelnen Gruppen stärker gewesen." 9 Die schlechte Wirtschaftslage im Winter 1920/21 drückte sich in der steigenden Zahl der Konkurse, die von 212 im Januar auf 300 im Mai anwuchsen 10 , sowie in der relativ hohen Arbeitslosigkeit aus, die am 1. Februar 1921 423164 betrug (Zahl der Hauptunterstützungsempfänger) n. Im Mai 1921 verbesserte sich die Lage zunächst in einzelnen Zweigen, dann ab August in breitem Umfang. Verarbeitende Industrien, Handel und Verbraucher gingen, da die Meinung vorherrschte, ein weiterer Preisrückgang sei nicht mehr möglich, zu Eindeckungsund Spekulationskäufen über. Diese Käufe nahmen in den letzten Monaten des Jahres und im ersten Quartal 1922 stürmische Formen an und hatten den Charakter weitgehender Vorversorgung. So meldete das Bekleidungsgewerbe im August 1921 bereits Käufe für den Sommer 1922. In der Eisen- und Metallindustrie führte die stürmische Nachfrage im Oktober 1921 und im Maschinenbau im Januar 1922 dazu, daß man sich gegenüber Neuaufträgen zurückhielt. Ab August 1921 verstärkte sich erneut der Export. Wagenführ stellt fest, daß „die fortschreitende Inflation der Gütererzeugung günstig zu sein" schien und „vorübergehend (besonders im Jahre 1920) . . . geradezu eine Gegenbewegung zwischen der Arbeitslosigkeit der Industriearbeiter und dem Ausmaß der Geldentwertung" 12 zu erkennen war. Diese industrielle Konjunktur muß jedoch als Scheinkonjunktur bezeichnet werden, da sie ausschließlich von der Valuta abhing. Die Konjunkturbewegung war immer von der Gefahr bedroht, daß die Mark sich auch nur geringfügig erholen könnte. Daher existierte ständig ein Moment der Unsicherheit und Spekulation. Während die Produktion auf vollen Touren lief, sank gleichzeitig die Lebenshaltung der Massen. Der Charakter der Konjunktur als „Antizipationskonjunktur" wurde durch die „Flucht in die Sachwerte" unterstrichen, die mit dem weitergehenden Zerfall der Mark einsetzte. Dies wiederum bewirkte, daß die flüssigen Gelder immobilisiert und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes gesteigert wurde. In gewissem Umfange kann festgestellt werden, daß die Entwicklung der deutschen industriellen Produktion in den Jahren 1920/21 deutlich unterschieden von derjenigen der übrigen kapitalistischen Welt verlief. „Während die industrielle Weltproduktion unter den Einwirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1920 auf 1921 um mehr als 15 v. H. zurückging — ein für damalige Vorstellungen ganz ungewöhnlich scharfer Rückgang — blieb Deutschland von der Krisis verschont; hier war von 1920 bis 1921 sogar eine Produktionszunahme von 20 v. H. zu verzeichnen" 13 (Tab. 17). Die Ausschaltung Deutschlands aus dem weltwirtschaftlichen Konjunkturverlauf ist großenteils auf die Wirkung der Inflation zurückzuführen, die den Export stimulierte. Die Exportquote der deutschen Industrie lag 1921/22 sogar höher als 1913. Betrug sie im letzten Vorkriegsjahr 26,5%, so war sie 1921 etwa 30% und 1922 27%. 14 Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Ed. 5: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917/18 bis 1932/33, Berlin 1966, S. 165. Wirtschaft und Statistik 1921, S. 195,333. 11 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1923, S. 428. 12 Wagenführ, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860—1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 25. " Ebenda, S. 27/28. « Ebenda, S. 26. 9
34
Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
Tabelle 17 Die deutsche mdinternationale
Industrieproduktion
Jahr
Welt
Deutschland!
1919 1920 1921 1922 1923
65 71 60 73 79
37 54 65 70 46
1
1919—1923 (1928= 100)
jeweiliges Reichsgebiet
Quelle: Wagenführ, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 28.
„Im allgemeinen entsprach die deutsche Industrieproduktion der Jahre 1919 und 1920 im wesentlichen der Entwicklung in den anderen imperialistischen Ländern. Ab Ende 1920 entstand eine besondere Lage, indem die neuen Exportmöglichkeiten bei gleichzeitig sinkenden Rohstoffpreisen zur Erstarkung des deutschen Monopolkapitals beitrugen und ihm halfen, einen Teil der verlorengegangenen Positionen wiederzuerlangen." 15 Im zweiten Halbjahr 1920 ging das Monopolkapital gegen die ohnehin schon auf ein Minimum gesunkene Lebenslage der Werktätigen vor. „Unter der Regierung des Reichskanzlers Konstantin Fehrenbach, der im Juli ein Kabinett ohne Sozialdemokraten gebildet hatte, verschärfte sich die inflationistische Entwicklung. Die Unternehmer forderten den Abbau des achtstündigen Arbeitstages. Löhne und Gehälter blieben weit hinter den wachsenden Lebenshaltungskosten zurück." 1 6 Die fortschreitende Inflation hatte jedoch auch negative Wirkungen auf die weitere Produktionsentwicklung. Mit der Markentwertung stiegen trotz sinkender RohstoffWeltmarktpreise die Kosten für Rohstoffimporte seitens der deutschen Kapitalisten. Gerade wegen der niedrigen Reallöhne und deren sinkendem Anteil nahm die Gefahr zu, daß die von der inneren Kaufkraft gesetzte Grenze überschritten würde. Außerdem führte gerade bei kleineren und mittleren Unternehmen die Inflation dazu, daß Kapital verknappte bzw. das Betriebskapital schwand. Die resultierende Überspannung des Kredits zwang die kapitalschwächeren Betriebe zu Einschränkungen bzw. nährte die Fusionsbestrebungen und die Tendenz, daß sie durch größere bzw. kapitalstarke Unternehmungen aufgesaugt wurden. Der drückende Mangel an Roh- und Brennstoffen behinderte nicht nur, daß Inlandsaufträge ausgeführt wurden, sondern hemmte auch das Exportgeschäft, da lange Lieferfristen verlangt, die Lieferfristen überschritten und die Aufträge unbefriedigend erfüllt wurden. So begann im zweiten Halbjahr 1922 der Boom abzuebben. Bestellungskäufe hörten fast gänzlich auf. Schon ab Dezember 1921 hatte trotz sinkender Mark die ausländische Konkurrenz auf den Exportmärkten sich stärker bemerkbar gemacht. Der Kostenvorsprung gegenüber dem Ausland ging allmählich verloren, und die Spanne zwischen den deutschen und ausländischen Preisen für Industrieerzeugnisse verringerte sich laufend. Ab März/ 15
10
Mottek, Hans/Becker, Walterj Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd.3. a. a. O. S. 239. Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, a. a. O., S. 401.
Der Friedensvertrag. Die Bewegung der Produktion
35
April 1922 erfolgte sogar ein Vordringen ausländischer Importe auf den deutschen Märkten, das z. T. durch günstigere Zahlungsbedingungen, z. B. im Lokomotiv- und Waggonbau, unterstützt wurde. Die Nachteile der Inflation machten sich immer deutlicher geltend. Gleichzeitig verschärfte sich die politische Situation. Die ökonomische Offensive der Monopole gegen die Arbeiterklasse und die anderen Werktätigen, die Angriffe auf ihre demokratischen Rechte, die Ermordung des Außenministers des zweiten Kabinettes, Wirth, Walter Rathenau, und die Bildung der rechtsbürgerlichen Regierung unter dem HapagDirektor Wilhelm Cuno im November 1922 fielen mit der sich verschlechternden internationalen ökonomischen Lage des deutschen Imperialismus zusammen. 17 War bis zum Sommer 1922 die Ausfuhr, verglichen mit den entsprechenden Zeiträumen der Vorjahre, weiter gestiegen, so begann sie ab August zurückzugehen. Auch der innere Markt schrumpfte, da die Inflation zu weiteren Lohnverlusten und damit zur Abnahme der Kaufkraft führte. Doch blieb die Zahl der Konkurse noch niedrig (Tab. 18). Tabelle 18 Konkurse August—Dezember 1922 August 59
September 45
Oktober 43
November 34
Dezember 39
Quelle: Wirtschaft und Statistik 1923, S. 33.
Im ganzen erfolgten 1922 1008 Konkurse gegenüber 3100 im Jahre vorher. 18 1923 folgte ein schneller wirtschaftlicher Abstieg, wozu die Besetzung des Ruhrgebietes durch den französischen Imperialismus und der darauffolgende Absturz der Mark entscheidend beitrugen. Doch zeigten sich die negativen Wirkungen noch nicht sofort. Zunächst kam es sogar im Zusammenhang mit der weiteren Geldentwertung zu einer Belebung. Da die Kohlezwangslieferungen eingestellt wurden und man zusätzlich Kohle importierte, konnte die Industrie besser versorgt werden. Die Stabilisierungsaktion der Reichsbank, die Geld- und Devisenreserven einsetzte und den Dollarstand auf etwa 20000 Mark zurückschrauben und bis 18. April halten konnte, wirkte sich allerdings ungünstig aus. So sank die Ausfuhr leicht ab. Doch in den folgenden Monaten, als die Katastrophe der Mark einsetzte, sanken Arbeitslosen- und Kurzarbeiterziffern. Die Konkurse gingen zurück (Tab. 19). Wieder wurde der enge Zusammenhang zwischen Valutakurve und Konjunkturbewegung deutlich. Tabelle 19 Konkurse April-Juli April 45
Mai 32
1923 Juni 35
Juli 18
Quelle: Wirtschaft und Statistik 1923, S. 521.
Doch ab August wurde die Lage immer unhaltbarer. Mit der Ruhrindustrie war ein wichtiger Teil der deutschen Produktion in großem Umfange lahmgelegt und die Versorgung des übrigen Deutschland mit lebenswichtigen industriellen Grundstoffen beeinträchtigt. Andererseits war das Ruhrgebiet als Abnehmer für wichtige Waren, wie Bau« Ebenda, S. 390ff. « Wirtschaft und Statistik 1923, S. 30.
36
Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
Stoffe, Holz, Konsumgüter, ausgefallen, wodurch zusätzliche Absatzschwierigkeiten entstanden. Der Inlandsmarkt schrumpfte infolge sinkender Massenkaufkraft rapide. Der Reallohn in den Großstädten war z. B. auf 30% des Vorkriegsstandes gefallen. Entsprechend weniger Konsumgüter wurden abgesetzt (Tab. 20). Tabelle 20 Pro-Kopf-Verbrauch Ware
wichtiger Konsumgüter Einheit.
Baumwolle Gewürze Kaffee Kakao Reis Südfrüchte Tee Heringe Fleisch Bier Branntwein Zucker Salz
kg kg kg kg kg kg kg kg kg 1 kg kg kg
1913,1922/23
Verbrauch je Kopf 1913
1922
1923
7,23 0,16 2,44 0,77 2,49 4,44 0,06 2,89 43,1 102,1 2,8 19,0 23,8
4,25 0,11 0,59 1,36 1,64 0,85 0,05 1,73 26,2 51,2 1,9 20,7 27,5
2,99 0,09 0,61 0,80 1,71 0,70 0,04 2,64 23,2 46,7 1,1 19,5 19,8
Quelle: Wagenfähr, Rolf, Die Industriewirtschaft, Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 27.
Während der Verbrauch von Fleisch, Südfrüchten, Reis, Baumwolle und anderen Waren deutlich abnahm, stieg der Verbrauch von Heringen, was darauf hinweist, wie die Bevölkerung weiter verarmte. Der Gesamt-Außenhandel schrumpfte gegenüber dem Vorjahr, wenn auch bei bestimmten Positionen gegenläufige Entwicklungen zu verzeichnen waren. So nahm die Einfuhr der — im Inland nur noch um fast die Hälfte vermindert geförderten — Steinkohle um mehr als 100% zu, aber auch die Ausfuhr z. B. von Roheisen, Kalisalzen u. a. stieg an, ja einige Artikel wurden stärker exportiert als 1913 19 (Tab. 21). Tabelle 21 Außenhandel Deutschlands 1913,1922 und 1923 (auf Grund der'Einheitswerte von 1913 in Mill. Mark) (Speayalhandel) Jahr
Einfuhr
Ausfuhr
1913 1922 1923
11206,1 6299,1 4819,0
10198,6 6204,7 5154,0
Quelle:
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/25, S. 141.
29 Puchert, berthold, a. a. O., S. 207.
Die Strategie der verstärkten Konzentration
37
Die industrielle Produktion ging 1923 gegenüber 1922 um rund ein Drittel zurück und lag unter dem Stand von 1920. 20 Die Erzeugung von Produktionsmitteln fiel teilweise auf die Hälfte, während die Konsumgütererzeugung um 27% schrumpfte. Die Zahl der unterstützten Vollerwerbslosen entwickelte sich von 185982 im Juli über 139016 im August und 239192 im September zu der Höhe von 534360 im Oktober und stieg im Dezember auf 1,5 Millionen an. 21 „Die Inflationskonjunktur war in eine Krise umgeschlagen." 22 (Siehe Abbildung 1). Abb. 1: Industrielle Produktion Deutschlands 1918 bis 1924 (1913=100) Quelle: Wagenfähr, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 27. Berichtigung: statt 1929, richtig 1920
2. Die Strategie der verstärkten Konzentration Das Interesse großer Teile des deutschen Monopolkapitals an der Inflation entsprang wesentlich der Tatsache, daß sie die Inflationsperiode dazu ausnutzen konnten, einen Prozeß bedeutend zu verstärken, der bereits vor und während des Krieges angelaufen war. Die Zeit der Inflation erwies sich in vielfacher Hinsicht als außerordentlich günstig für die Ausstattung eines Teils der Industrie mit Investmitteln. Zunächst befreite die Geldentwertung, die bis 1921 noch relativ langsam vorangeschritten war, dann immer heftigere Formen annahm, bis sie 1923 den Höhepunkt erreichte, von Zinsbelastungen und Amortisationsverpflichtungen. Weiterhin sanken die Steuerleistungen der Industrie, denn „die Verwirrung ist so groß, die Neuerungen sind so einschneidend, daß die Finanzbeamten sich nicht mehr durchfinden. Ohne irgendeinen Betrug zu begehen, brauchen die Industriellen nur zu warten, bis sie eine Aufforderung erhalten, die aber nicht eingeht." 23 Dazu kamen die Einsparungen von Lohnkosten, da die Löhne mit der Geldentwertung nicht Schritt hielten. Es wird angenommen, daß allein die Summe, die sich die Unternehmer aus nichtgezahlten Löhnen aneigneten, 24 bis 28 Milliarden Goldmark betrug. 2 ' 1 Die Inflation bewirkte an den Effektenbörsen eine stärkere Nachfrage nach Industrieaktien, so daß viele Unternehmen sich durch Neuemissionen zusätzlich Kapital verschafften. 25 Eine große Rolle spielte auch die Umwandlung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und anderen Unternehmensformen in Aktiengesellschaften bzw. die Neugründung von solchen. 20 Wagenführ, Rolf, a. a. O., S. 27. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/25, S. 299. 22 Wagenführ, Rolf, a. a. O., S. 27. 23 Raphael, Gaston, Hugo Stinnes. Der Mensch. Sein Werk. Sein Wirken, Berlin 1925, S. l l l f . „Vom Unternehmereinkommen war daher ein ständig sinkender Teil für Steuerleistungen abzuzweigen, auch die .nichtbezahlten Steuern' wurden für Investitionszwecke frei." ( W a g e n f ü b r , Rolf, a. a. O., S. 25). 24 Lederer, Emil, Strukturwandlungen der deutschen Volkswirtschaft, Berlin 1928, S. 51 f. 25 Westpbal, Emil, Das reguläre Bankgeschäft der deutschen Kreditbanken seit der Marktstabilisierung, Berlin 1932, S. 3. 21
38
Der Reproduktionsprozeß von Mitte 1919 bis Ende 1923
Welchen ungewöhnlichen Umfang diese Tätigkeit zur Kapitalbeschaffung in der Inflationszeit annahm, wird durch Tabelle 22 deutlich. Tabelle 22 Neugründung von Aktiengesellschaften
1900—1923
Jahr
Gesellschaften
Jahr
Gesellschaften
Jahr
Gesellschaften
1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907
274 162 93 112 124 205 250 210
1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915
159 160 195 162 177 165 127 60
1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923
101 126 160 268 581 1688 2856 7999
Quelle: Handbuch der Deutseben Aktiengesellschaften
1913/14; 1924/25.
Während in den angeführten Jahren der Vorinflationszeit die höchste Zahl von Neugründungen im Jahre 1900 bei 274 lag, erreichte sie im Höhepunkt- und Abschlußjahr der Inflation fast 8000. Eine sehr wichtige Quelle der Mittelausstattung war die bereits geschilderte Kreditpolitik der Reichsbank seit 1922. Daß es sich bei diesen Krediten faktisch um Schenkungen an die deutsche Großindustrie handelte, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß die Reichsbank stur an ihrer Politik „Mark gleich Mark" festhielt, während selbst das Reichsgericht diese Formel nicht mehr aufrechterhielt und zum Beispiel gestattete, daß vor der Mark-Entwertung geschlossene Verträge über Sachlieferungen zu festen Preisen annulliert werden konnten bzw. durch neue Verträge zu erhöhten Preisen ersetzbar waren. 26 Von der Möglichkeit, die Kreditpumpe der Reichsbank mittels des Hebels der Wechseldiskontierung in Anspruch zu nehmen, machten Teile des deutschen Monopolkapitals in so großem Umfang Gebrauch, daß wir hier nicht nur eine Folge und zugleich Quelle der Inflation erkennen, da sich ja mit jeder Diskontierung der Geldumlauf weiter erhöhte, sondern auch eine direkte Ursache für die enorm forcierte Strategie der Konzentration. Die Inflation erwies sich als ein staatsmonopolistisches Instrument der Umverteilung des Volksvermögens, dessen Resultate am hypertrophischen Wachstum von kapitalistischen Konzernen einerseits, an der maßlosen Verarmung der Massen andererseits deutlich ablesbar sind. Übermäßig entwickelten sich diejenigen Zweige, die als die eigentlichen Domänen des Monopolkapitals in jener Periode gelten können. Diese Industrien, vor allem die Gußeisenindustrie und die chemische Industrie, hatten bereits während des Krieges übermäßige Gewinne gemacht. 27 26
27
Nussbaum, Arthur, Money in the Law, Brooklyn 1950, S. 202 f. "Diskonterhöhungen hatten für die Reichsbank lediglich den Charakter von Warnungssignalen, dementsprechend folgte sie der Entwertung nur äußerst zögernd. Während der Satz für tägliches Geld im Privatverkehr bis zu 360% betrug, blieb sie bei einem Satz von 10% und erst Mitte August 1923, als sich bereits der größte Teil des Wirtschaftslebens auf die Goldrechnung umgestellt hatte, folgte die Reichsbank dem Zwange der Verhältnisse und führte die Entwertungsklausel ein." (Benfe, Hermann, Die deutsche Währungspolitik von 1914-1924, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 23, H. 1/1926, S. 142f.). Wagenfähr, Rolf, a. a. O., S. 23.
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Die inflationistische Entwicklung kam nun erneut den monopolisierten Zweigen zugute. Während die Verbrauchsgüterindustrien, die zum Teil viel stärker vom Inlandsmarkt abhängig waren, ihre Produktion vom Tiefstand des Jahres 1919 bis 1923 um 69% steigern konnten, erhöhte sich die Produktion der Produktionsmittelindustrie um 100%. 28 Dies ist auch auf die relativ günstige Situation auf den äußeren Märkten zurückzuführen, wo infolge der Inflation die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Produzenten gewachsen war — zu Lasten allerdings der deutschen Arbeiter, ihres Verbrauchs an Konsumgütern und damit auch der entsprechenden Industriezweige. Insgesamt ist also in den Inflationswirkungen und dem inflationistischen Kreditgebaren bereits die erste Quelle jener Mittel zu sehen, die die finanzielle Basis der Konzentrationsvorgänge bildeten. Zugleich aber lag es im Wesen der inflationären Geldentwertung, daß kein momentaner Anreiz vorlag, diese Mittel für kostensenkende Maßnahmen, Rationalisierung, die Einführung neuer Produktionsmethoden zu verwenden. Zwar war eine solche langfristig orientierte Strategie nicht ausgeschlossen und wurde tatsächlich auch teilweise verfolgt, doch wurde die Hauptrichtung der Investitionen durch andere Überlegungen bestimmt. Dabei spielte eine große Rolle, daß in dieser Periode vor allem die Produktionsmittelindustrie über Absatzschwierigkeiten, besonders auf dem Auslandsmarkt, nicht zu klagen hatte. Sie war infolge der Inflation in der Lage, im Ausland ihre Konkurrenten zu unterbieten, und die Exportquote lag teilweise über dem Vorkriegsstand. 29 Aus der Inflationssituation ergeben sich also nicht nur die Mittel für die Investitionen, sondern in engem Zusammenhang damit stand auch die Richtung, in der die Anlagen getätigt wurden, eine Richtung, die man als extensive Erweiterung der produktionsmittelproduzierenden Zweige bezeichnen kann. Eine zweite wichtige Quelle der Expansionsfinanzierung lag in den Entschädigungen, die das Reich an jene Unternehmen zahlte, die infolge von Gebietsabtretungen nach dem verlorenen Krieg Teile ihrer Produktionsanlagen eingebüßt hatten. Das betraf vor allem schwerindustrielle Konzerne, die an der Saar und in Lothringen Verluste erlitten hatten. Da es sich zum großen Teil um sogenannte gemischte Unternehmungen handelte, aus deren Produktionskette nunmehr bestimmte Teile, Produktionsstätten oder Rohstoffquellen (Minette), herausgebrochen waren, schien es nur natürlich, daß Neuinvestitionen wiederum in Ergänzungsanlagen vorgenommen wurden, so daß sich hier die Bestrebung zur vertikalen Konzentration relativ selbstverständlich ergab, zumal die Entschädigungszahlungen mit der Verpflichtung verbunden waren, sie in Ersatzinvestitionen anzulegen. Diese Entschädigungszahlungen bildeten zusammen mit den Erlösen aus freiwilligen Verkäufen von Anlagen und Werken an französische Unternehmen eine weitere wichtige Finanzquelle zur Verwirklichung der Konzentrationspolitik. 30 ® Ebenda, S. 26. 29 Ebenda. 30 Zu den verkauften Werken gehörten auch die Anlagen der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG und der Gelsenkirchener Bergwerks-AG in Luxemburg. Dieser Kleinstaat war Ende 1918 aus dem deutschen Zollverein ausgetreten, und schon Anfang 1919 wurden Verhandlungen mit französisch-belgischen Firmen zwecks Verkauf eingeleitet. Vgl. Berkenkopf, Paul, Die Entwicklung und die Lage der lothringisch-luxemburgischen Gußeisenindustrie seit dem Weltkrieg, Jena 1925, S. 56f. — Allein für die Hüttenwerke in Esch und Belval, der Hütte Rote Erde bei Aachen und dem Nebenwerk in Eschweiler, erhielt Gelsenkirchen 55 Millionen französische Francs in bar und 40 Millionen in 5%igen Obligationen, rückzahlbar in 40 Jahren, ferner 3 Jahre lang eine jährliche Rente von 2 Millionen Francs zu 5% kapitalisiert, also 30770000 Francs, zusammen 125740000 Francs. Dies war in der Zeit deutscher Geld-
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Eine zusätzliche Möglichkeit, staatliche Mittel zu erlangen, ergab sich schließlich aus den noch nicht bezahlten Lieferungen der Rüstungsindustrie aus der Kriegszeit. Insbesondere dort, wo es geschickten Vertretern des Monopolkapitals gelang, entsprechende Summen zu erhalten, bevor die Hyperinflation einsetzte, konnten sie damit in andere, an zeitweiligen Liquiditätsschwierigkeiten leidende Unternehmen eindringen. So wird zum Beispiel berichtet, daß auf Betreiben von Paul Reusch der Gutehoffnungshütte-Konzern sich mehrere Millionen Mark von während des Krieges verausgabten Löhnen vom Reich erstatten ließ, um damit systematisch andere Unternehmen zu unterwerfen. 31 Die Ausweitung des Gutehoffnungshütte-Konzerns in den unmittelbar auf das Kriegsende folgenden Jahren bildet ein lehrreiches Beispiel für die Strategie, die führende Vertreter des deutschen Monopolkapitals als Antwort auf die militärische Niederlage des deutschen Imperialismus entwickelten bzw. noch während des Krieges in Erwartung kommender Dinge ausgearbeitet hatten. Reuschs Biograph schreibt dazu: „Auch wer nicht pessimistisch wie Ballin mit einer Niederlage Deutschlands rechnete, mußte von der Frage bedrängt werden, was nach dem Kriege werden würde. In dieser Lage gab Paul Reusch das Stichwort, das den ganzen weiteren Aufbau des GHH-Konzerns bestimmen sollte — Übergang in die Weiterverarbeitung." 32 Und: „Erhöhte Konjunkturunabhängigkeit und Krisenfestigkeit für das Stammunternehmen durch Lieferung seiner Halbfabrikate an Verfeinerungswerke, welche innerhalb des Konzerns über ein vielfältiges Produktionsprogramm verfügten, waren ein gewichtiger Vorteil für die GHH."33
Diese sich hier zeigende Strategie vertikaler Kombination war nicht völlig neuartig. Schon vor dem Kriege war ein derartiger Trend erkennbar. Der Thyssen-Konzern zum Beispiel hatte sich sowohl in Richtung der Grundstoffbasis wie auch in der Weiterverarbeitung kombiniert. Nach dem Krieg jedoch nahm dieser Prozeß gewaltige Ausmaße an. So wurden der Gutehoffnungshütte durch Aufkauf der Aktienmehrheit und InteressenGemeinschafts-(IG)-Verträge in schneller Folge angegliedert: das Osnabrücker Kupferund Drahtwerk 1919, die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) und die Maschinenfabrik Esslingen 1920, die Eisengießerei und Maschinenfabrik Briegleb, Hansen u. Co., GmbH, Gotha usw. 34 Man muß die Frage stellen, was die angegliederten Unternehmen bewog, ihre Selbständigkeit aufzugeben. Für sie gab es hauptsächlich zwei wichtige Gründe: Erstens befanden sich viele von ihnen in der Nachkriegszeit in einer ungünstigen finanziellen Situation. Da die mittleren weiterverarbeitenden Industrien nicht über gewaltige Materialreserven verfügten oder ihre Rohmaterialien selbst gewannen, wie es bei den Rohmaterialproduzenten der Fall war, konnten sie auch die finanziellen Möglichkeiten der Inflation kaum zu ihren Gunsten fruchtbar machen. Steuer- und Lohneinsparungen konnten vorhandene Defizite zwar verringern, setzten aber unter diesen Umständen noch kein Kapital frei. entwertung natürlich kein geringes Kapital, und von Stinnes, dessen Konzern die Gelsenkirchener Bergwerks-AG bald darauf beitrat, wird mitgeteilt: „Man begreift also, daß Hugo Stinnes in zwangsloser Unterhaltung lächelnd zu verstehen gibt, er verdanke es unmittelbar oder mittelbar dem französischen Gelde, daß er seine riesigen Erwerbungen habe machen können." (Raphael, Gaston, a. a. O., S. 111). 31 Mascbke, Ericb, Es entsteht ein Konzern, Tübingen 1969. 32 Ebenda, S. 110. 33 Ebenda, S.61. 3'< Embacber, Georg, Periodische Wandlungen im Zusammenschluß der deutschen Industrie, Dessau 1928, S. 95.
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Zweitens waren infolge der Verknappung der schwerindustriellen Materialien der ersten Produktionsstufe die großen Produzenten in der Lage, Druck auf die nachfolgenden Stufen auszuüben, deren ökonomische Kraft aufgrund geringerer Konzentration ohnehin schwächer war. Diesem Druck hofften die weiterverarbeitenden Unternehmen zu entgehen, indem sie sich der Bindung an eines der großen Monopole unterwarfen. Hieran zeigt sich, daß gerade diese Seite der Kriegsfolgen die Stellung der ohnehin schon übermächtigen rohmaterialproduzierenden Riesenunternehmen gegenüber den kleineren weiterverarbeitenden Betrieben noch erheblich gestärkt hatte — so weit, daß diese teilweise keine Möglichkeit mehr sahen, selbständig weiterzuexistieren. Doch nicht nur kleinere Firmen gerieten in den Sog der großen Konzerne der Grundstoffindustrie. Auch bedeutende Unternehmen wurden davon erfaßt. Das zeigt ein Bericht über den Anschluß der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg an den GutehoffnungshütteKonzern: „Die MAN als eine der führenden deutschen Maschinenfabriken war mit ihrem südlich des Main gelegenen Standort ihrer Hauptwerke in Augsburg und Nürnberg nach dem Zusammenbruch von 1918 in ganz besonderer Weise dem Druck der Materialknappheit ausgesetzt, die sich in Kohle, Eisen und Stahl während der inflationären Phase der damaligen Währung für die weiterverarbeitende Metallindustrie so unangenehm bemerkbar machte, wobei die Kapazitätsausweitung infolge der nach 1916 so erheblich angestiegenen Rüstungsproduktion noch ein besonders gravierendes Moment abgab . . . In der in materieller und finanzieller Hinsicht zweifelsohne schwierigen Produktionssituation nach 1918 setzte sich unter dem lastenden psychischen Druck des Zusammenbruchs bei den leitenden Herren der MAN die Überzeugung durch, nur ein Anschluß an eine größere Gruppe industrieller Unternehmen oder möglichst sogar ein kapitalmäßiges Aufgehen in einen Konzern der Schwerindustrie garantiere dem Unternehmen ein weiteres erfolgreiches Existieren." 35 Nach teilweise erbitterten Auseinandersetzungen mit anderen schwerindustriellen Monopolen siegte im Kampf um die MAN schließlich der Gutehoffnungshütte-Konzern. Er erwarb die Mehrheit der Aktien von MAN, ebenso wie die Aktienmehrheit anderer Unternehmen der weiterverarbeitenden Metallindustrie. Während bei den Unternehmen der weiterverarbeitenden Industrien als Grund für ihren Anschluß bei den Hüttenwerken und Stahlkonzernen ziemlich übereinstimmend die finanzielle Lage und Schwierigkeiten in der Rohmaterialversorgung angegeben werden, muß andererseits die Frage entstehen, was die Eisen- und Stahlerzeuger bewog, in die Weiterverarbeitung zu gehen. Es handelte sich teilweise um die Fortsetzung eines Trends, der sich schon in der Vorkriegszeit abgezeichnet hatte und der mit der Konkurrenzsituation auf dem Inlandsmarkt zusammenhing. Während des Krieges war dann die Kapazität der deutschen Schwerindustrie gewaltig ausgeweitet worden und gewaltige Überkapazitäten entstanden. 36 In einer auf den Krieg und die Inflationskonjunktur folgenden Situation „normaler" Bedingungen mußten die Überkapazitäten zur Verschärfung des Konkurrenzkampfes beitragen. Dieser nach der Inflation zu erwartenden verschärften Marktlage suchten die Eisen- und Stahlerzeuger eben durch den Erwerb bzw. die Angliederung von weiterverarbeitenden Betrieben zu begegnen. Es zeigt sich an dieser Entwicklung besonders deutlich, daß unter den Bedingungen der 36
Mauersberg, Hans, Deutsche Industrien im Zeitgeschehen eines Jahrhunderts, Stuttgart 1966, S. 356f. Nussbaum, Manfred, Unternehmenskonzentration und Investstrategie nach dem ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 2, S. 60/61.
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Inflation die deutsche Schwerindustrie nicht etwa daran ging, vorhandene Überkapazitäten zugunsten anderer volkswirtschaftlicher Zweige, zum Beispiel der Konsumgüterindustrien, abzubauen, sondern vielmehr den Ausweg in der vertikalen Kombinierung suchte und damit das Problem nicht löste, sondern nur verschob. Volkswirtschaftliche Fehlinvestitionen wurden durch die auf Profitmaximierung gerichtete Strategie nicht korrigiert, sondern führten zu neuen Fehlinvestitionen und verlagerten das Marktproblem auf die nachfolgenden Produktionsstufen. Die wohl bekannteste Bildung dieser Periode war die Siemens-Rhein-Elbe-SchuckertUnion, die eng mit dem Namen von Stinnes verknüpft war. 37 Den Kern dieses Gebildes, das zu einem der größten der Welt werden sollte, stellte die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG. Sie gliederte, nachdem infolge der Gebietsabtretungen einige weiterverarbeitende Anlagen verlorengegangen waren, 1919/20 mehrere Stahlwerke und Weiterverarbeitungswerke an. Ebenfalls 1920 wurde ein Interessengemeinschaftsvertrag mit der Gelsenkirchener Bergwerks-AG geschlossen, die ihrerseits fast alle Eisen- und Stahlwerke verloren hatte und fast nur noch Kohlenförderung betrieb. Der weitere vertikale Ausbau erfolgte dann durch Erwerb von Aktien des Bochumer Gußstahlverein, 38 und vor allem über einen IG-Vertrag mit dem Elektrokonzern Siemens-Schuckert. So kam ein enormes Unternehmen der Montan-, Schwer- und Elektroindustrie zustande. Auch bei dieser Konzernbildung war die Sicherung des Absatzes für den eisen- und stahlproduzierenden Teil einerseits und die Lösung des Problems der Materialbeschaffung, insbesondere des hervorragenden Bochumer Stahls für die Elektrogruppe, andererseits ein entscheidender Gesichtspunkt. Ein starker Impuls zur vertikalen Konzentration ergab sich aus der Kohlenknappheit, die durch die Kriegsfolgen, vor allem die Lieferungen an die Entente, die durch die Inflation vermehrten Importschwierigkeiten und den Verlust der saarländischen und später der ostoberschlesischen Kohlengruben eingetreten war. Diejenigen Unternehmen, die über eigene Kohlenquellen verfügten, waren daher außerordentlich begünstigt. „Da die Werke, die über eigene Zechen verfügten, ein Recht auf Werkselbstverbrauch haben, muß sich unter den gegebenen Verhältnissen die vertikale Tendenz in Richtung einer Angliederung einer Kohlenbasis verstärken . . ." 39 , hieß es in einem zeitgenössischen Vortrag. Der gleiche Autor wies darauf hin, daß „der Brennstoffmangel nicht nur die Konzentration in der Montanindustrie gefördert, sondern auch andere Industrien in die Bewegung hineingezogen" habe, „z. B. die Unternehmen der Zellstoff- und Papierindustrie durch Angliederung von Kohlenzechen oder Anschluß an Montankonzerne." 40 Die Bestrebungen der Eisen- und Stahlerzeuger, sich in den Besitz von Kohlengruben zu setzen, waren, wie gesagt, nicht erst in der Inflationszeit entstanden, und während des Krieges wurde die Möglichkeit genutzt, in alliiertem Besitz befindliche Gruben in deutsche „Hugo Stinnes nimmt unter den Königen der Inflation ungefähr den Rang ein, den früher der deutsche Kaiser unter den deutschen Landesfürsten einnahm." (U/ermann, Paul, Könige der Inflation, Berlin 1925. S. 20). 38 Der Bochumer Verein galt als ein hervorragendes Qualitätsstahlwerk, doch erfolgte nach Ansicht zeitgenössischer Autoren die Eingliederung in den Konzern nicht auf Grund produktionstechnischer Überlegungen, sondern infolge „eines von der Spekulation zusammengehäuften Aktienpaketes". (SchmittScbowalter, Die Organisationsform der modernen Wirtschaft, T. 2: Die Zweckwirtschaftsverbände, Esslingen 1926, S. 115). 39 Hoff mann, Alexander, Die Konzentrationsbewegung in der deutschen Industrie, Leipzig 1922, S. 13. « Ebenda. 37
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Konzerne einzugliedern. 41 Doch während der Inflation erreichte dieser Prozeß eine neue Qualität. Zu den großen stahlerzeugenden und stahlverarbeitenden Unternehmen, die in den ersten Nachkriegsjahren Bergwerke erwarben oder sich deren Kontrolle sicherten, gehörten Krupp, die Gebr. Stumm, Hoesch, Henschel u. Sohn in Kassel und andere. Diese vertikale Konzentration führte dazu, daß ein erheblicher Teil der Kohlenerzeugung des Ruhrgebietes direkt den Stahlkonzernen angegliedert wurde. 42 Teilweise erfolgte die Anschaffung der Kohlenbergwerke sogar erst im Hinblick auf den Verbrauch später zu errichtender Anlagen. Über die Angliederung derBergwerks-AGConsolidation an die Mannesmanngesellschaft im Jahre 1922 erfährt man zum Beispiel: „Diese Angliederung erweiterte die Kohlengrundlage für das geplante Hochofen werk". 43 Tatsächlich wurde das Hochofenwerk, dessen Bau 1927 begonnen wurde, 1929 fertiggestellt. 44 Mannesmann führte überhaupt ein umfangreiches Programm der Zusammenführung von Kohlen- und Erzgruben, ja selbst von Kalksteinlagerstätten für das Hochofenwerk, aber auch von anderen Röhrenwerken durch. Sogar ein Wassergasschweißwerk in Worms wurde in den Konzern eingegliedert. Daß die Tendenz zur vertikalen Kombination besonders auf Erfahrungen des Krieges zurückging, wird in der Firmengeschichte speziell betont: „Die Erfahrungen des Krieges zeigten aber bald, welche Bedeutung der Erzversorgung aus deutschen Gruben bei politischen Verwicklungen zukam, da die Erzzufuhr aus dem Ausland von Monat zu Monat schwieriger wurde." 4 5 In der Weiterführung dieser Strategie gelangte Mannesmann schließlich durch die Übernahme der Firma Hansen, Neuerburg u. Co. sogar in den Bereich des Kohlenhandels und Kohlentransports. 46 In der Braunkohlengewinnung gingen entsprechende Prozesse vor sich. Im Juni 1923 drang Hugo Stinnes in die Riebeckschen Montanwerke AG in Halle ein und erwarb eine Sperrminorität unter gleichzeitiger Umwandlung der Firma in HugoStinnes-Riebeck-Montan- und Ölwerke. Die Gesellschaft wurde darauf zum Mittelpunkt der Stinnesschen Ölinteressen gemacht und erhielt den Besitz der Hugo-Stinnes-GmbH, Berlin, an Aktien der Oleawerke AG für Mineralölindustrie, Frankfurt a. M., der AG für Petroleum-Industrie, Berlin, und der Roth- und Patschkis-AG, Stuttgart. Zweck dieser Maßnahmen war die Sicherung von Rohstoffen für die chemische Ausnutzung. Wie sehr diese Strategie von der Bemühung um selbständige Versorgung mit Rohstoffen bestimmt war und wie wenig andererseits die Problematik der Kostensenkung zu dieser Zeit eine Rolle spielte, geht direkt aus einem Geschäftsbericht der Ilseder Hütte hervor, wo es zum Erwerb der Kohlenzeche „Friedrich der Große" heißt: „Eine Verbilligung der Brennstoffe und damit eine Verringerung der Selbstkosten erwarten wir dagegen von dem Erwerb der Zeche nicht." 47 50 Jahre Steinkohlenbergwerk Friedrich-Heinrich-Aktiengesellschaft 1906—1956, o. O. o. J., S. 42. Jene Autoren, die das als Ergebnis der 1924 einsetzenden großen Rationalisierungsbewegung auffassen, übersehen wesentliche Unterschiede der beiden Prozesse. Tatsächlich ging die Angliederung der Kohlengruben durch die oben genannten schwerindustriellen Unternehmen vor allem in den Jahren 1919—1923 vor sich. 43 Koch, Heinrieb, 75 Jahre Mannesmann, Düsseldorf 1965, S. 109. 4 4 Ebenda, S. 113 « Ebenda, S. 105. 4« Ebenda, S. 109. 47 Treue, Wilhelm, Die Geschichte der Ilseder Hütte, Peine 1960, S. 473. — Der gleiche Verfasser berichtet allerdings auch: „Auf jeden Fall mußte die Selbstversorgung mit Kohle billiger werden als der bisherige Einkauf über das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, denn der Syndikatspreis berücksichtigte auch
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Es ist erklärlich, daß die Bestrebungen zur Vereinigung von Eisen- und Kohlenproduktion vor allem von der kohleverbrauchenden Seite kamen, während die Zechen, soweit sie als „reine Zechen" bis dahin existiert hatten, in der Zeit der Kohlenknappheit kaum ein unmittelbares Interesse daran haben konnten. In einem Brief an den Monopolisten Paul Silverberg schrieb Eugen Kleine von der Harpener Bergbau AG im Jahre 1921: „Wie Sie wissen, bin ich nicht so überzeugt von der Überlegenheit vertikal aufgebauter Trusts wie Herr Stinnes, Herr Vogler und wie auch Sie es mittlerweile geworden zu sein scheinen. Ich meine, diese Riesenunternehmungen müssen zunächst noch praktisch den Beweis für ihre wirtschaftliche Überlegenheit erbringen. Ich halte den reinen Bergbau für noch nicht so überlebt, wie man aus manchen Ausführungen des Herrn Stinnes annehmen könnte." 48 In diesem Mißtrauen drückt sich auch die Furcht der schwächeren Unternehmen aus, der Strategie der Riesenkonzerne zum Opfer zu fallen. Die von Kleine vertretene Gesellschaft vermied es jedenfalls, sich einer vertikalen Kombination anzuschließen. Finanzielle Erwägungen ebenso wie Überlegungen zum zukünftigen Absatz bewogen aber doch viele Zechen, sich trotz der Inflationskonjunktur der Bewegung zu unterwerfen. Waren nun die Impulse der vertikalen Expansion zunächst weitgehend von der akuten Rohstofflage und den langfristigen Absatzsorgen bestimmt, so gewann der Prozeß unter dem Einfluß der Anstöße und Möglichkeiten der inflationären Entwicklung einen solchen Umfang und eine Eigenbewegung, die weit über die erwähnten Aspekte hinausgingen. Die auf der Ausnutzung der Inflationssituation basierende Strategie unbedingter Machtausdehnung verlor schließlich gänzlich den Zusammenhang mit produktionstechnischen und produktionsorganisatorischen Erwägungen und führte zur Zusammenballung von Unternehmen, die außer der gemeinsamen Eigentumsbildung keinerlei inneren Zusammenhang besaßen. Die bekannteste derartige Inflationskonzentration erfolgte durch Hugo Stinnes, der schon in der Vorkriegszeit und vor allem während des Krieges mit seiner Konzernexpansion Aufsehen erregt hatte. Die Anzahl der Unternehmen, die Stinnes schließlich unter seine Herrschaft brachte, wird mit etwa 4600 angegeben. 49 Obwohl Stinnes selbst die vertikale Strategie mit produktionstechnischen Argumenten zu rechtfertigen suchte und im wirtschaftspolitischen Ausschuß des vorläufigen Reichswirtschaftsrates erklärt hatte: „Horizontale Organisationen sind Kinder ihrer Zeit, und ve'rtikale Organisationen sind auch Kinder ihrer Zeit. Wenn sie kein Geld und keine Waren haben, dann werden sie vertikal organisieren, damit sie Geld und Rohmaterial sparen, indem sie die Produktion aufeinander einstellen, um mit möglichst wenig Mitteln und Geld auszukommen", konnten seine Konzerne keinen Anspruch auf produktionsorganisatorische Berechtigung mehr erheben. 50 die leistungsschwächeren Zechen, die dem Verband angehörten. Zu diesen zählte aber Friedrich der Große nach überwiegendem Urteil nicht." (Ebenda, S. 473). 48 Mariaux, VranGedenkwort zum hundertjährigen Bestehen der Harpener Bergbau-Aktien-Gesellschaft, Dortmund 1956, S. 291. Embacber, Georg, a. a. O., S. 97. 60 Bei der handelsgerichtlichen Eintragung in das Hamburger Handelsregister anläßlich der Gründung der Aktiengesellschaft Hugo Stinnes für Seeschiffahrt und Überseehandel wurde der Zweck der Gesellschaft folgendermaßen gekennzeichnet: „Seeschiffahrt jeder Art, einschließlich der Herstellung aller der dazu dienenden Betriebsmittel im In- und Auslande, Handel mit allen Erzeugnissen des Bergbaus, der Hüttenindustrie, der chemischen und elektrischen Industrie, der Landwirtschaft sowie Handel mit Waren, Fertigfabrikaten, Halbfabrikaten und Rohprodukten aller Art, insbesondere mit Lebens- und Futtermitteln, mineralischen, tierischen und pflanzlichen Olen, Baumwolle und sonstigen Textilrohstoffen,
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Andere, auf Grund von Inflationsgewinnen entstandene Konzerne waren der OttoWolff-Konzern, der Sichel-Konzern, der mehr als 100 Unternehmen umfaßte, und der Minoux-Konzern. 51 Wie Liefmann feststellt, wurden die vielfachen Unternehmungen „nur durch einheitliche finanzielle Leitung zusammengehalten, hatten technisch und kommerziell oft gar keine Beziehungen." 52 Jedoch trifft dies nicht für alle Konzerne zu. Die in der Literatur häufig anzutreffende Verwendung des Begriffs der vertikalen Konzentration für die beschriebenen Konzentrationsvorgänge läßt allerdings entscheidende Unterschiede außer acht. Tatsächlich erscheint bei genauer Betrachtung die Verwendung des Begriffs nur bei einem Teil der Prozesse gerechtfertigt. Dort, wo es sich um die Zusammenführung von Unternehmen oder Betrieben handelt, die verschiedene Stufen eines einheitlichen Produktionsprozesses verkörpern, zum Beispiel von Bergwerk und Hochofen oder Stahlwerk, liegt eine echte vertikale Konzentration vor. Werden jedoch Betriebe in einer Hand vereinigt, die keine produktionstechnische Beziehung zueinander haben, dann ist es irreführend, von vertikaler Konzentration zu sprechen. Hier sollte besser der heute übliche Begriff der Konglomeratbildung verwendet werden. 53 Wir müssen also zwischen echter vertikaler Konzentration und Konglomeratbildung während der Inflationsperiode unterscheiden. Dazu muß gesagt werden, daß die vertikale Konzentration keine Besonderheit der Inflationspcriode in dem Sinne war, daß sie ausschließlich in dieser Periode vor sich gegangen wäre. Schon vor und während des ersten Weltkrieges waren sogenannte gemischte Unternehmen gebildet worden. Dieser Trend ergab sich aus dem Bestreben zur Sicherung der erweiterten Reproduktion in der Schwerindustrie, und er erfuhr zusätzliche Impulse durch die Nachkriegsschwierigkeiten, wie den Kohlenmangel und das Zerbrechen bereits bestehender vertikaler Kombinationen im Zuge der Gebietsabtretungen. Die besonderen Bedingungen der Inflation aber erleichterten und ermöglichten die Konzentrationsstrategie in sehr großem Umfange und stachelten sie geradezu an. Jetzt vereinigten sich gewissermaßen zwei mächtige Triebkräfte des Prozesses: die aus dem Produktions- bzw. Reproduktionsprozeß selbst erwachsende Triebkraft und jene, die aus der ungewöhnlichen Finanzierungssituation entstand. So kam es während der Inflation zu dem gewaltigen Höhepunkt der vertikalen Konzentration, was wiederum nicht ausschloß, daß auch horizontale Konzentrationen stattfanden bzw. sich beide Prozesse vereinigten. Die typische Strategie der Inflationsperiode war jedoch die vertikale Konzentration und die Konglomeratbildung. Die Zusammenschlüsse erfolgten fast immer in der Form von Konzernen oder Interessengemeinschaften. Vertikale Fusionen
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Häuten, Jute, Holz, Zellulose, Papier und allen Erzeugnissen der weiterverarbeitenden Industrie, ferner der Umschlag und die Lagerung solcher Erzeugnisse, insbesondere soweit sie aus dem Ausland kommen oder ins Ausland gehen. Die Gesellschaft ist auch berechtigt, die Herstellung, Gewinnung und Verarbeitung von Waren, Fertigfabrikaten, Halbfabrikaten und Rohprodukten aller Art in eigenen Betrieben vorzunehmen." ( U f e r m a n n , Paul/Hiiglin, Carl, Stinnes und seine Konzerne, Berlin 1924, S. 10). Ufermann berichtete, daß von Otto Wolff folgender Ausspruch kursierte: „Ganz so groß wie Stinnes bin ich noch nicht, aber einige Milliarden Schulden habe ich auch schon." ( U f e r m a n n , Paul, Könige der Inflation, a. a. O., S. 41). Liefmann, 'Robert, Kartelle, Konzerne und Trusts, Stuttgart 1927, S. 291. „Konglomerat-Gesellschaften sind das Ergebnis von Fusionen, wobei die fusionierten Gesellschaften als Abteilungen fungieren, die ihre eigenen Produktionsrichtungen verfolgen und nur die allgemeine Zielstellung und die breite Politik vom Zentralbüro empfangen." (Berg, Norman, Strategie Planning and Conglomerate Companies, in: Harvard Business Review, Bd. 43, Mai/]uni 1965, S. 91).
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dagegen kamen nur in Ausnahmefällen zustande. Zum Teil spielten Erwägungen eine Rolle, daß die erwähnten Formen des Zusammenschlusses eine spätere Wiederauflösung gegenüber der Fusion erleichtern würden. Diese Überlegung war bei der Konglomerierung natürlich noch wesentlicher. Zum anderen war aber auch die Umgehung der Fusionssteuer ein wichtiger Grund. Über den Zusammenschluß des Hoesch-Konzcrns mit dem KölnNcuessener Bergwerksverein wird berichtet: „1921 kam es zunächst — die sofortige Überführung der Vermögenswerte beider Gesellschaften in eine dritte verbot sich wegen der hohen Kosten, die dies verursachte, wie auch aus steuerlichen Gründen — zum Abschluß eines auf 80 Jahre bemessenen Interessengemeinschaftsvertrages; 1930 wurden dann beide Gesellschaften doch miteinander verschmolzen." 54 Was die Konglomeratbildungen der Inflationszeit betrifft, so darf man sie nicht mit solchen Konglomeratbildungen auf eine Stufe stellen, die wir in der gegenwärtigen Wirtschaft einiger kapitalistischer Länder beobachten. Derzeit beruhen diese Konglomerate vielfach auf bestimmten Erscheinungen, die in engem Zusammenhang mit der gegenwärtigen Periode der wissenschaftlich-technischen Revolution stehen, dem außerordentlich hohen moralischen Verschleiß, dem universalen Charakter der Forschungsarbeiten, der Notwendigkeit des Kleinserienausstoßes, woraus sich ergibt, daß es vielfach zweckmäßig ist, viele kleine Forschungszentren und Produktionseinheiten zu erwerben. Diese Problematik war jedoch in der Inflationszeit nicht akut. Was den Hauptimpuls zur Konglomeratbildung betrifft, der auf der Finanzierungsebene zu sehen ist, so ergeben sich, oberflächlich gesehen, gewisse Gemeinsamkeiten. Die derzeitige Konglomerierung erfolgt vor allem zur profitablen Unterbringung und Verwendung von Mitteln, die aus der Überakkumulation der Monopole stammen. Insofern die Überakkumulation zur Konglomeratbildung führt, kann festgestellt werden, daß die „innere Dynamik", daß innere Ursachen der Unternehmen diesen Prozeß bewirken. Die im Unternehmen gewonnenen Monopolprofite drängen zur Neuanlage, was unter anderem auch dadurch sichtbar wird, daß bei eventueller Verhinderung von Fusionen und Konglomerierungen die Monopolprofite andere Auswege suchen und unter Umständen sogar die Aktien des eigenen Unternehmens aufgekauft werden, der Weg des „Selbstverzehrs" beschritten wird. Hiervon unterschied sich die Situation in dem von uns behandelten Zeitraum grundsätzlich. Die finanziellen Mittel zur Konglomeratbildung stammten nicht aus den Unternehmen selbst, sondern wurden ihnen als Kredite zur Verfügung gestellt. Sie ergaben sich aus den besonderen Bedingungen der Inflationszeit. Das heißt, nicht innere, sondern äußere Ursachen, Faktoren, die außerhalb des Unternehmens lagen, gaben den Anstoß und die Möglichkeit zur Strategie der Konglomeratbildung, die in dieser Epoche kaum eine Basis im Entwicklungsstand der Produktivkräfte hatte. Auffallend ist, daß die Welle der vertikalen Konzentration und Konglomeratbildungen Ende 1923 ein abruptes Ende fand. Das heißt, das Ende der Inflation bedeutete auch das Ende dieser Strategie. Zwar kam es auch in den folgenden Jahren noch zu vertikalen Kombinationen, jedoch in weit geringerem Umfang. Die Konglomeratbildungen hörten ganz auf; die meisten der Inflationskonglomerate fielen sogar wieder auseinander. Allgemein muß festgestellt werden, daß die Konzentrationsbewegung mit dem Ende der Inflation verebbte, was noch einmal, in negativer Weise, den engen Zusammenhang zwischen den speziell in der Inflationszeit wirkenden Faktoren und der geschilderten Strategie erhellt. Vor allem verschwand mit dem Versiegen der inflationistischen Finanzierungsmöglichkeiten der Stimulus zur hektischen Expansion, aber darüber hinaus stellte sich mit Mönnicb, Horst, Aufbruch ins Revier. Aufbruch nach Europa. Hoesch 1871—1971, München 1971, S. 212.
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der Währungsstabilisierung eine solche Kapitalknappheit ein, daß ein Teil der neuen Konzerne, die durch einen Überfluß von Mitteln zustande gekommen waren, nun nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Auch die Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union und die Stinnesschen Privatkonzerne waren darunter. 55 Ihre Existenz war an die inflationären Methoden gebunden; mit ihrer Beseitigung verschwanden auch sie. Doch es blieb eine als Ergebnis dieser Periode ungleich höher konzentrierte Industrie, besonders auf dem Produktionsmittelsektor, eine weiter gewachsene Macht der Monopole. Dies mußte die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise verschärfen, und es war einer der Faktoren, die zu staatlichen Reaktionen herausforderten. 55
Ein dem Stinneskonzern durchaus wohlwollender Zeitgenosse berichtete über die Situation nach dem Tode von Hugo Stinnes sen., der fast gleichzeitig mit dem Ende der Inflation erfolgte: „So setzte man nicht das .Evangelium' des Vaters, wohl aber sein auf einen bestimmten Zeitabschnitt, auf einen bestimmten volkswirtschaftlichen Vorgang, den Währungsverfall, fußendes Handeln im Privatkonzern weiterhin in die Tat um. Schiffbrüchige Unternehmungen wurden gestützt und weiter ausgebaut, kleinere und kleinste Werke der verschiedenen Branchen angegliedert und verschmolzen, der Einfluß bei dem durch unglückliche Spekulationen stützungsbedürftigen Barmer Bankverein bis zur beherrschenden Stellung verstärkt. Als ob sich unsere wirtschaftliche Lage nicht geändert hätte und die Geld- und Kreditnot nirgends zutage träte, so mutet es an." (Albacb, Karl, Die Tragödie des Hauses Stinnes, Essen 1925, S. 38).
KAPITEL 4
Neue staatsmonopolistische Formen und Institutionen
1. Regulierungsversuche in den Grundstoffindustrien
a) Rückgriff auf das „gemeinwirtschaftliche" Konzept Die katastrophale Lage, in welche die deutsche Wirtschaft infolge des verlorenen imperialistischen Krieges geraten war, und die gesamte objektive Situation des deutschen Kapitalismus schlössen es aus, daß zu den Bedingungen der Vorkriegszeit zurückgekehrt werden konnte, in der der Staat in bezug auf direkte Regulierung immer noch relativ enthaltsam gewesen war. Die Existenz des monopolkapitalistischen Systems war in Frage gestellt, und dies bedeutete, daß die im System noch vorhandenen Möglichkeiten zur Anpassung an eine neue Situation herausgefordert waren. Wie sich zeigte, waren diese Möglichkeiten noch nicht erschöpft. Die Dialektik der Erhaltung des monopolkapitalistischen Systems bestand nun gerade darin, daß es nur dann erhalten bleiben konnte, wenn es nicht mehr in der alten Weise weiterwirtschaftete, sondern sich selbst veränderte, weiterentwickelte und „vervollkommnete". Diese Veränderung und Weiterentwicklung bedeutet aber nicht etwa eine Veränderung des Wesens des Monopolkapitalismus, seines ausbeuterischen und aggressiven Charakters. Dieser sollte ja eben bleiben. Die Veränderungen und „Vervollkommnungen" beschränkten sich vielmehr darauf, daß neue Organe und Mechanismen entstanden, mit deren Hilfe der Reproduktionsprozeß reguliert und die unmittelbaren Produzenten manipuliert werden sollten. Derartige Organe und Mechanismen mußten nach Lage der Dinge hauptsächlich staatlichen Charakter tragen. Der in den Händen der Bourgeoisie gebliebene Staat wurde zu einem wesentlichen Faktor bei der Rettung des Monopolkapitalismus nicht nur durch die unmittelbare bewaffnete Repression, sondern auch dadurch, daß er zunehmend ökonomische sowie Manipulationsfunktionen übernahm. Die Beziehungen zwischen der kapitalistischen Wirtschaft und dem staatlichen, scheinbar über der gesamten Gesellschaft thronenden Organismus verstärkten sich. Oder anders ausgedrückt: es verwischten sich die Grenzen zwischen der nur mit dem Produktionsprozeß und der Aneignung von Profit befaßten „Wirtschaftsgesellschaft" und dem wächterartig darüber gesetzten Staat, der nur die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktion zu garantieren hatte. Dieser Vorgang des zunehmenden ökonomischen Engagements des bürgerlichen Staates war nicht völlig neu. Schon vor dem ersten Weltkrieg hatte sich im Zusammenhang und Gefolge des sich durchsetzenden Monopolisierungsprozesses die Tendenz gezeigt, daß der Staat sich immer mehr in wirtschaftliche Abläufe einschaltete, hatten sich engere Beziehungen zwischen Staatsapparat und den großen Kapitalgruppen bzw. dem Monopolkapital herausgebildet. Je mehr die regulierende Wirkung des im Kapitalismus herrschenden Wert-
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gesetzes mit der auf immer weitere Sektoren der Wirtschaft übergreifenden Monopolbildung an Kraft verlor, desto stärker machte sich objektiv ein an seine Stelle tretender Regulierungsfaktor notwendig. Die mit dem Monopol und den verschärften Widersprüchen sich notwendig machende Staatseinmischung hatte sich weder gradlinig noch gleichmäßig entwickelt. Sie war der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft auch nicht als Gesetzmäßigkeit, ja kaum als Erscheinung bewußt, sondern weitgehend als durchaus „spontane" Reaktion auf praktische Erfordernisse des Tages entstanden. Als vereinzelter Vertreter des Monopolkapitals hatte Walter Rathenau in einer wachsenden Einschaltung des Staates in die Sphäre der Ökonomik mehr gesehen und dem Staat eine größere Rolle zugedacht als die gelegentliche Remedur aufgetretener Schwierigkeiten. Mit der Voraussage der Klassiker des Marxismus über den Zusammenhang von Monopol und Staatseinmischung in die Wirtschaft konnte allerdings auch er nicht konkurrieren. Der Weltkrieg hatte dann die ökonomische Rolle des Staates vervielfacht, hatte die Staatseinmischung in die Wirtschaft, verbunden mit engster Kooperation von Monopolen und Staat, fast allgegenwärtig werden lassen, und sie damit auch jedermann — zumindest was die gewachsene Rolle des Staates selbst betraf — bewußt gemacht. 1 Diese umfassende Regulierungstätigkeit des Staates in ihrer konkreten Form war aus den Erfordernissen des imperialistischen Krieges entstanden und konnte leicht auf diese Erfordernisse zurückgeführt und daher als ein vorübergehender Zustand begriffen werden. Doch hatte sich schon während des Krieges die Erkenntnis herausgebildet, daß das Ende des Krieges nicht auch die Beendigung weitgehender Staatseinmischung in die Wirtschaft bedeuten müsse. Diese Erkenntnis hatte u. a. Emil Lederer ausgedrückt, als er meinte, daß „vor Wiederkehr des Friedenszustandes eine Epoche staatlicher Regelungen eingeschoben werden müsse, wenn man allzu heftige Erschütterungen vermeiden wollte." 2 Und Rathenau selbst hatte gemeint: „Die Rohstoffabteilung wird auch im Frieden nicht zu bestehen aufhören, sie wird den Kern eines wirtschaftlichen Generalstabs bilden." 3 Der Begriff der Übergangswirtschaft spielte nicht nur in der abstrakten Diskussion eine Rolle, sondern es kam schon 1916 zur Gründung eines Reichskommissariats für Übergangswirtschaft. In der Praxis erwies es sich dann, daß die etwa bis zum Sommer 1919 währende Übergangsperiode zur Friedenswirtschaft intensive und breite staatliche Aktivität im ökonomischen Bereich mit sich brachte. Doch auch dann, als diese Phase im wesentlichen abgeschlossen und die ökonomische Abschnürung des deutschen Wirtschaftskörpers durch die Blockade der Alliierten aufgehoben worden war, stellte sich heraus, daß es nicht möglich war, die ökonomische Staatsaktivität auf das Vorkriegsniveau zurückzuschrauben. Die dem imperialistischen System immanenten Gesetze hatten weitergewirkt. Die relative Macht der Monopole war gewachsen, die ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche hatten sich verschärft. Dies alles fand seinen konkreten Ausdruck in der deutschen Nachkriegssituation auch nachdem die Weimarer Republik gegründet bzw. die Verfassung durch die Nationalversammlung angenommen war. Die Lage des deutschen Monopolkapitalismus blieb labil, und eine selbsttätige Regulierung des gesellschaftlichen 1
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Die staatsmonopolistische Entwicklung während des ersten Weltkrieges ist ausführlich geschildert in Band 1 dieser Arbeit. Lederer, Emil, Die ökonomische Umschichtung im Kriege, in: Krieg und Wirtschaft, Tübingen 1918/19, S. 2— Kriegshefte des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 3. Rathenau, Walther, Deutschlands Rohstoffversorgung, Berlin 1916, S. 44.
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Reproduktionsprozesses durch die spontan wirkenden inneren Kräfte des Kapitalismus war nicht mehr möglich. Will man die Entwicklung des Verhältnisses von Staatsapparat und Wirtschaft in dieser Periode beurteilen, dann muß man außerdem im Auge behalten, daß der deutsche Imperialismus als Ganzes sich immer noch in einer Notstandssituation befand. Alle Maßnahmen, die getroffen wurden, waren mehr oder weniger Reaktionen auf dringende Bedürfnisse, auf die Forderung des Tages. An eine langfristig vorausschauende Planung der Entwicklung konnte unter diesen Umständen nicht ernstlich gedacht werden, auch wenn es sich gelegentlich günstig machte, bestimmte Maßnahmen als in die fernere Zukunft gerichtet auszugeben. So lassen die getroffenen Maßnahmen und geschaffenen Institutionen zwei hauptsächliche Zielrichtungen erkennen, welche zwei hauptsächliche, im Grunde völlig verschiedene Funktionen zu erfüllen hatten, die aber aufeinander wirkten und mindestens teilweise Gestaltung und Funktionieren der Maßnahmen und Institutionen wechselseitig beeinflußten. Der erste Aspekt war gewissermaßen materieller Art: Er betraf die Sicherung des Reproduktionsprozesses unter den Bedingungen der Deformation durch Krieg und Niederlage und des Druckes und der materiellen Anforderungen von Seiten der Siegermächte sowie der enorm gewachsenen Monopolmacht im Innern. Die wirtschaftliche Situation war weiterhin entscheidend dadurch geprägt, daß Grundstoffe, vor allem Eisen und Kohle, äußerst knapp waren. So hatten die Monopole gerade dieser Zweige besondere Macht. Diese Lage ausnutzend, hatten die Eisen- und Kohlenkonzerne die Preise derartig hoch getrieben, daß die Nachfolgeindustrien erheblich darunter litten. Besonders die nichtmonopolisierten verarbeitenden Industriezweige, aber auch solche Zweige, wie der Schiffbau, der mit Volldampf arbeitete, um die abgelieferten Schiffe zu ersetzen, sahen ihre Profite von den Eisen- und Kohlenmonopolen angeeignet und litten zudem unter Versorgungsschwierigkeiten. Der nach dem Kriege verstärkte und während der Inflation ungeheuer forcierte Konzentrationsprozeß der Schwerindustrie verschob das Gewicht der Kräfte immer mehr zu ihren Gunsten und ermöglichte ihnen Preisdiktate, die von den verbrauchenden Industrien als ruinös angesehen wurden. Dazu kam die Politik der betreffenden Monopole, den Inlandsmarkt zugunsten devisenbringender Exportgeschäfte zu vernachlässigen — eine Methode, die während der sich verschärfenden Inflation besonders verfolgt wurde. Die unter dem Druck der Kohle- und Eisenmonopole stehenden Industrien drängten daher auf eine staatliche Regelung, denn sie selbst fühlten sich zu schwach, ihre Forderungen und Interessen ohne Einschaltung des Staates genügend nachdrücklich zu vertreten.4 Aber auch die Monopole anderer Zweige, wie die der Elektro- und Chemieindustrie, mußten an einer Mäßigung der Grundstoffpreise interessiert sein. Hier standen also die Interessen der gesamten kapitalistischen und monopolistischen Wirtschaft gegen eine Monopolgruppe. Der zweite Aspekt betraf die ideologische Funktion der Einrichtungen, die Manipulierung der noch nicht beschwichtigten Volksmassen. Wie schon in der Übergangszeit unmittelbar nach dem Waffenstillstand die 'Erste Sozialisierungskommission diesem Zwecke diente — ganz unabhängig vom subjektiven Wollen dieses oder jenes ihrer Mitglieder —, so waren auch bestimmte Organe der späteren Phase vor allem Mittel, um die Massen zu manipulieren und irrezuführen. Der Unterschied zur Sozialisierungskommission betraf aber eben die Doppelfunktion der Institutionen. Die Sozialisierungskommission hatte eine solche Dop4
Über die Lage der metallverarbeitenden Industrien und Hilferufe an die Regierung siehe: Nussbaum, Unternehmenskonzentration und Investstrategie nach dem ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 2., S. 59f.
Manfred,
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pelfunktion kaum. Sie war vor allem der Irreführung, der Beruhigung der Massen gewidmet. In der gleichen Richtung wirkte auch die Zweite Sozialisierungskommission, die im Mai 1920, nach dem Kapp-Putsch ins Leben gerufen wurde. Dies schloß nicht aus, daß innerhalb der Kommission langwierig erörtert wurde, wie man jene staatsmonopolistischen Organisationen und Maßnahmen verwirklichen könne, die angeblich nur einen Übergang zur Realisierung des Sozialismuszieles darstellen sollten. Es schloß, wie bei ihrer Vorgängerin, auch nicht aus, daß subjektiv ehrliche Menschen in der Kommission tätig waren, die glaubten, mit ihrer Teilnahme zur Suche nach geeigneten Schritten auf dem Wege zum Sozialismus beitragen zu können. Sie wurden jedoch überspielt und mißbraucht. 5 , 6 Bei anderen Organen jedoch ergab sich die Manipulierungsfunktion mehr oder weniger als eine Nebenaufgabe. Die Behauptung, daß diese Institutionen oder Maßnahmen dazu dienten, den Sozialismus zu verwirklichen, geschah gewissermaßen nur, um ihre hauptsächliche Funktion zu tarnen — den Versuch, die Reproduktion in bestimmten wichtigen Teilbereichen der Wirtschaft unter Beibehaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu regulieren. Die Tarnung mit dem Sozialisierungsgedanken, die vor allem die rechten Führer der Sozialdemokraten besorgten, war die notwendige Konzession an die Massenstimmung. Im Sommer 1919 waren zwar die Wissel-Moellendorffschen Pläne, eine sogenannte Gemeinwirtschaft zu schaffen, vom Reichskabinett verworfen worden, und Wissel war als Reichswirtschaftsminister zurückgetreten. Auch Moellendorff schied aus dem Amt. Bezeichnenderweise war die offizielle Begründung der SPD-Führung dafür, daß sie die „gemeinwirtschaftliche" Organisation der Industrie ablehne, die Behauptung, diese stehe dem zu errichtenden Sozialismus im Wege. Der als Nachfolger Wissels ernannte Sozialdemokrat Robert Schmidt jedoch trat vor allem für eine von Staatseingriffen möglichst bewahrte kapitalistische Wirtschaft ein, obwohl auch er sich platonisch für die Sozialisierung bestimmter Wirtschaftszweige in ferner Zukunft aussprach. Am 17. Juni 1919 äußerte er vor Der Autor einer ganz im Sinne der reaktionären Eisen- und Stahlmonopolisten gehaltenen Schrift über den Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen erklärte 1932 ganz offen: „Der Langnamverein beteiligt sich kräftig an der Bekämpfung und Verwässerung der Sozialisierungspläne. Wie Stinnes und Silverberg befolgt auch er die Strategie, von Anfang an die Erörterung von der politischen Ebene in den Raum wirtschaftlicher und bergtechnischer Würdigung zu drängen. Die Sozialisten fangen sich in ihrer eigenen Schlinge." (Winscbub, Josef, Der Verein mit dem langen Namen, Berlin 1932, S. 136/137). 11 Auffallend ist die historische Parallele zu jener Kommission, die von der französischen Regierung unter dem Druck der Arbeiter nach der Februarrevolution von 1848 ernannt worden war und von der Marx berichtete: „Widerstrebend und nach langen Debatten ernannte die provisorische Regierung eine permanente Spezialkommission, beauftragt, die Mittel zur Verbesserung der arbeitenden Klasse auszufinden! Diese Kommission wurde gebildet aus Delegierten der Pariser Handwerkskorporationen und präsidiert von Louis Blanc und Albert. Das Luxembourg wurde ihr als Sitzungssaal angewiesen. So waren die Vertreter der Arbeiterklasse von dem Sitze der provisorischen Regierung verbannt, der bürgerliche Teil derselben behielt die wirkliche Staatsmacht und die Zügel der Verwaltung ausschließlich in den Händen, und neben den Ministerien der Finanzen, des Handels, der öffentlichen Arbeiten, neben der Bank und der Börse erhob sich eine sozialistische Synagoge, deren Hohepriester, Louis Blanc und Albert, die Aufgabe hatten, das gelobte Land zu entdecken, das neue Evangelium zu verkünden und das Pariser Proletariat zu beschäftigen. Zum Unterschiede von jeder profanen Staatsmacht standen ihnen kein Budget, keine exekutive Gewalt zur Verfügung. Mit dem Kopf sollten sie die Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft einrennen. Während das Luxembourg den Stein des Weisen suchte, schlug man im Hotel de Ville die kurshabende Münze." {Marx, Karl, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1840 bis 1850, Berlin 1951, S. 38/39). 5
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der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung: „Wir müssen natürlich langsam dazu kommen, vorsichtig wieder in das Getriebe der freien Wirtschaft, der freien Bewegung überzugehen." 7 Er bewegte sich damit im Grunde in einer Linie mit dem Präsidium des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RD1), dessen Präsidialmitglied Kraemer schon im Februar erklärt hatte: „Die Unternehmer lehnen es ab, sich weiter von amtswegen regieren zu lassen." 8 Doch war das zwar die Forderung der schwerindustriellen Monopole, aber noch konnten diese sich damit nicht voll durchsetzen. Das R W M selbst war in der obwaltenden Situation gezwungen, den allzu brutalen Bestrebungen der Schwerund Grundstoffindustrie entgegenzutreten. Die Auseinandersetzungen drehten sich dabei vor allem um die Preispolitik. Während die Kohlen- und Eisenkonzerne danach strebten, die Lage auszunutzen, um rasch zu expandieren, und sie hohe Gewinne in ihre Preisstrategie einkalkulierten, suchte das R W M im Interesse der übrigen Industrien, die es zusammenfassend als „Allgemeininteressen" definierte, die Grundstoffpreise nicht zu hoch steigen zu lassen. Es billigte den Monopolen zwar Profite zu, wehrte sich aber gegen Forderungen, die es als übertrieben und schädlich für das Funktionieren der Gesamtwirtschaft ansah, wie z. B. die Absicht der Kohlenproduzenten, daß in die Preise neben den Profiten auch die Kosten für neue Schachtabteufungen einbegriffen sein sollten. Es liegt eine gewisse Konsequenz der Situation darin, daß das R W M unter Robert Schmidt doch wieder auf die Formen und Methoden der abgelehnten Gemeinwirtschaftskonzeption zurückgriff, um damit zu versuchen, sich der Kohle-Eisenmonopole zu erwehren. Die Gemeinwirtschaftspläne waren ja von ihren Verfechtern keineswegs als Sozialisierung gedacht. Der Begriff war bewußt unklar gehalten und war auch im sogenannten Sozialisierungsgesetz vom 23. März 1919 verwendet worden 8 2 , das im Paragraph 2 die Befugnis des Reichs deklariert hatte, die für eine Vergesellschaftung geeigneten wirtschaftlichen Untersuchungen „in Gemeinwirtschaften überzuführen und im Falle dringenden Bedürfnisses die Herstellung und Verteilung wirtschaftlicher Güter gemeinwirtschaftlich zu regeln." Paragraph 3 besagte: „Die Aufgaben der durch Reichsgesetz geregelten Gemeinwirtschaft können vom Reich, den Gliedstaaten . . . oder wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern beaufsichtigt werden." Wissel, der das Gesetz unterzeichnet hatte, hatte erklärt: „Die Gemeinwirtschaft bedeutet die organische Eingliederung und Einordnung der einzelnen wirtschaftlichen Unternehmungen in die Gesamtheit des Reiches, die Unterordnung der privatwirtschaftlichen Interessen unter die Interessen der Gesamtheit." 9 Deutlicher hatte sich der Abgeordnete Sinzheimer ausgedrückt, als er in der 35. Sitzung des verfassunggebenden Ausschusses der Nationalversammlung sagte: „Wir kennen zwei Systeme einer organisierten Zusammenfassung aller wirtschaftlichen Kräfte. Das eine ist das sozialistische System, das andere das gemeinwirtschaftliche. Sozialismus und Gemeinwirtschaft sind zwei qualitativ verschiedene Begriffe . . . Der Sozialismus ist die Verneinung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Gemeinwirtschaft ist die Bejahung. Die Gemeinwirtschaft hält an sich das Privateigentum an den Produktionsmitteln, den Privatbetrieben aufrecht. Sie faßt sie nur organisatorisch zusammen und nimmt sie unter Kontrolle nach sozialen Gesichtspunkten." 10 7 Sitzungsberichte der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung, Tagung 1919/21, Bd. 2, Spalte 2389. 8 Vossische Zeitung v.l.2.1919. «a Reichsgesetzblatt 1919, Nr. 68. 9 Verbandlungen der NationalversammlungBd. 326, S. 544. ,0 Drucksachen der Verfassunggebenden Nationalversammlung, Nr. 886. In der Weimarer Verfassung fanden
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Trotzdem die Gemeinwirtschaftspläne als Gesamtkonzeption im Juni 1919 fallengelassen worden waren, griff man im R W M im Zuge der Auseinandersetzungen mit den Grundstoffmonopolen auf diese Konzeption zurück und versuchte, sie im Interesse der von den Monopolen sich bedroht fühlenden übrigen Industrie zu verwenden. So entstanden als neue Instrumente der Teilregulierung der Reichskohlenrat bzw. der Reichskohlenverband, der Eisenwirtschaftsbund, der Reichskalirat, der Wirtschaftsverband für Rohteer und Teererzeugnisse und der Schwefelsäureausschuß. Hier soll hauptsächlich auf die Versuche eingegangen werden, die Kohlenwirtschaft und Eisenwirtschaft zu regulieren, die unter den staatsmonopolistischen Entwicklungen dieser Phase wegen ihrer Bedeutung herausragen. Die Notwendigkeit einer Regulierung dieser Zweige ergab sich einerseits aus ihrem Gewicht für die gesamte Volkswirtschaft sowie daraus, daß die Kriegsfolgen Kohle und Eisen erheblich verknappt hatten. Beide Zweige waren besonders stark durchmonopolisiert und die betreffenden Monopole suchten die prekäre Nachkriegssituation rücksichtslos auszunutzen, womit sie fraglich machten, daß die Gesamtwirtschaft weiter funktionierte, zumindest aber die sowieso schon vorhandenen Schwierigkeiten noch vergrößerten.
b) Der Keicbskoblenrat und der Reicbskohlenverband Worin bestanden die objektiven Grundlagen der Schwierigkeiten auf dem Sektor der Kohlenwirtschaft? Im Jahre 1913 hatte die Förderung von Steinkohlen 190,1 Millionen t und die von Braunkohlen 87,2 Millionen t betragen. 11 1922 wurden dagegen 130 Millionen t Steinkohlen und 137 Millionen t Braunkohlen gefördert. 12 Davon wurden 1922 9,6 Millionen t Steinkohlen, 6,5 Millionen t Koks und 0,7 Millionen t Braunkohlen als Reparationen abgeliefert. 13 Der Ausfall von rund 70 Millionen t Steinkohlen war um so schwerwiegender, als der Kohlenbedarf der deutschen Wirtschaft noch gewachsen war. Dies lag hauptsächlich daran, daß die vorhandene Kohle von geringerer Qualität war, so daß sich schon daraus ein größerer Mengenverbrauch ergab. Der Ausfall an Steinkohlen hatte im Jahre 1919 sogar 95 Millionen t betragen. Die dann einsetzende Produktionssteigerung, hauptsächlich mit Hilfe vermehrten Einsatzes von Arbeitskräften, konnte den Fehlbetrag zwar verringern, aber nicht beseitigen. Daß verstärkt Braunkohle eingesetzt wurde, deren Heizwert nur ein Bruchteil derjenigen der Steinkohle beträgt, brachte ebenfalls nur eine teilweise Entlastung. Infolge der Kohlenknappheit mußten einige Industriezweige trotz reichlich vorhandener Aufträge eingeschränkt produzieren. Dies betraf u. a. die Baustofferzeugung. Die Kohleproduzenten reagierten auf diese Lage mit starken Preiserhöhungen und suchten ihre Position in einer Weise auszunutzen, die von den kohleverbrauchenden Industrien nicht nur äußerst unangenehm empfunden werden mußte, sondern die auch drohte, das diese Vorstellungen entsprechenden Niederschlag, insbesondere im Art. 156, Absatz 2, im Passus, der besagte, das Reich könne „im Falle dringender Bedürfnisse zum Zwecke der Gemeinwirtschaft durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenschließen" u. a. mit dem Ziel, „Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein- und Ausfuhr der Wirtschaftsgüter nach gemeinwirtschaftlichen Grundsätzen zu regeln". 11 Handbuch der Koblenwirtscbaft, Berlin 1926, S. 802. 12 Ebenda. « Ebenda, S. 822/823.
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Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft in Frage zu stellen. Von den Kohlenpreisen hingen weitgehend die Produktionskosten und das Niveau der Lebenshaltungskosten ab. Während die Kohleproduzenten die Preise möglichst hoch zu treiben suchten, waren die übrigen Industrien daher äußerst stark an niedrigen Kohlenpreisen interessiert. Der Widerspruch zwischen den Profitinteressen einer Monopolgruppe mitsamt ihren außergewöhnlichen Möglichkeiten, diese Interessen geltend zu machen einerseits und dem Interesse der kapitalistischen Gesellschaft andererseits, die das Interesse anderer Monopolgruppen ebenso wie der nichtmonopolistischen Bourgeoisie einschloß, hatte sich ungewöhnlich zugespitzt. Der durch die Existenz der Monopole bereits weitgehend deformierte Marktmechanismus drohte nunmehr völlig zu versagen. Der Staat mußte sich jetzt als Wahrer des übergeordneten gesamtkapitalistischen Interesses beweisen, des Interesses der Erhaltung des kapitalistischen Systems, das mit dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft identisch ist. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, daß es gerade diese Seite der staatlichen Tätigkeit war, die ein Eingreifen des R W M gegen das Sonderinteresse eines Monopols oder einer Monopolgruppe, in diesem Falle der Kohlenmonopole, bewirkte. Eine Darstellung, die die Betonung darauf legt, daß der Staat oder der Staatsapparat als Ganzes sich in Händen einer anderen, konkurrierenden Monopolgruppe, wie der Elektroindustrie 14 , befand, die ihn in ihrem Interesse ausnutzte, übersieht eben diese wichtige Seite des bürgerlichen Staates, nämlich daß er zunächst und vor allem das bestehende System als Ganzes zu verteidigen und zu erhalten hat, was die Sorge für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft mit einschließt, sofern diese nicht mehr aus sich selbst heraus mit ihren Schwierigkeiten fertig werden kann. Die erwähnte Auffassung übersieht auch, daß der Staat selbst durchaus nicht als eine ständig von einem einheitlichen Willen erfüllte bzw. von einheitlichen Absichten beseelte Institution aufgefaßt werden kann und dies in der fraglichen Entwicklungsphase auch keineswegs war. Es lassen sich innerhalb des Staatsapparates durchaus verschiedene, voneinander divergierende und miteinander konkurrierende Auffassungen feststellen, so daß man den Begriff „der Staat" in dieser Beziehung nicht undifferenziert gebrauchen sollte. Das R W M bildete nur einen Teil des Staatsapparates, und es war in der hier behandelten historischen Situation jedenfalls nicht einfach der geschäftsführende Ausschuß irgendeiner Monopolgruppe, sondern agierte in der Summe seiner Aktionen als Hüter des Gesamtsystems. Dies schloß keineswegs aus, daß in Fragen, die keine Existenzfragen für den Bestand des Kapitalismus waren, der Staat oder Teile des Staatsapparates Sonderinteressen einer einzelnen Monopolgruppe, also etwa der Elektro-Chemiegruppe, vertraten, sofern diese genügend starken Einfluß ausüben konnte. Im vorliegenden Falle aber, bei dem Versuch, die Willkür der Kohlenmonopole etwas zu beschränken, fungierte aber „der Staat" nicht als Instrument der Elektro-Chemie-Gruppe allein, sondern als relativ selbständige Institution, die über das Einzelinteresse einer Monopolgruppe das Gesamtinteresse der Klasse setzte. Dabei wurde er von anderen Monopolgruppen, wie der Elektroindustrie, unterstützt, aber auch von der nichtmonopolistischen kapitalistischen Gesellschaft. Ihrer aller Interessen waren in dieser Frage identisch. Dies eben machte das verhältnismäßig energische Vorgehen gegen die übermäßigen, den Bestand des Systems gefährdenden Ansprüche der Kohlenmonopole begreiflich und möglich. Noch im März 1919 war unter dem Druck der Entwicklung gleichzeitig mit dem soge14
Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 16: Studien zur Geschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin 1963, S. 53 bzw. 73.
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nannten Sozialisierungsgesetz ein Rahmengesetz zur Regelung der Kohlenwirtschaft erlassen worden. Danach sollte ein zu bildender Reichskohlenrat die Aufsicht über die gesamte Kohlenwirtschaft übernehmen. Dem war bereits am 18. Januar 1919 eine Verordnung betreffend den Bergbau vorausgegangen, die „gesetzliche Regelung einer umfassenden Beeinflussung des gesamten Kohlenbergbaus durch das Reich und die Beteiligung der Volksgesamtheit an seinen Erträgen" 1 5 in Aussicht gestellt hatte. Für die einzelnen Bergbaugebiete waren Reichsbevollmächtigte „zur fortdauernden Überwachung aller wirtschaftlichen Vorgänge auf dem Gebiet der Kohlenförderung, des Absatzes, der Kohlenverteilung und der Preisbemessung" zuständig. Doch sollte dieser Schritt wohl mehr dazu dienen, die die Sozialisierung fordernde Massenstimmung zu beschwichtigen als einer wirklichen Regelung. Das nun im März erlassene Kohlenwirtschaftsgesetz, das in bestimmtem Maße auch unter dem Aspekt der jahrzehntealten Auseinandersetzungen und der Zusammenarbeit zwischen den privaten Monopolen im Kohlenbergbau und dem Staatsapparat zu sehen ist 1 6 , besagte im Paragraph 2 u. a.: „Die Reichsregierung schließt die Kohlenerzeuger für bestimmte Bezirke zu Verbänden und diese zu einem Gesamtverband zusammen. An der Verwaltung der Verbände sind die Arbeitsnehmer zu beteiligen . . . Den Verbänden liegt die Regelung von Förderung, Selbstverbrauch und Absatz unter Aufsicht des Reichskohlenrats ob. Die Reichsregierung führt die Oberaufsicht und regelt die Feststellung der Preise." 1 7 Paragraph 5 wies insbesondere das parlamentarische Aufsichtsrecht über die Kohlenwirtschaft aus. E s hieß dort: „Die Reichsregierung hat der Nationalversammlung bei der Vorlegung des Haushaltsplanes für die durch dieses Gesetz geregelte Kohlenwirtschaft insbesondere über Förderung, Absatz und Preisgestaltung der Kohle sowie über die Lohn- und sonstigen Arbeitsverhältnisse einen besonderen Bericht zu erstatten. Auch zu anderer Zeit ist der Nationalversammlung auf deren Erfordern Aufschluß zu erteilen." 1 8 Der Reichskohlenrat und die Verbände sollten bis 30. Juni gebildet sein. Tatsächlich jedoch verzögerte sich wegen der Unterzeichnung des Versailler Vertrages und dem Rücktritt der Regierung Scheidemann sowie der Ablehnung der Gcmeinwirtschaftskonzeption mit dem darauffolgenden Rücktritt Wissels und Moellendorffs der Erlaß der notwendigen Ausführungsbestimmungen. Erst als sich zeigte, daß die Problematik auch unter der nachfolgenden Regierung Bauer weiterbestand, und die Eisen- und Kohlenmonopole ihre Politik fortsetzten, die das Gefüge der kapitalistischen Wirtschaft durcheinanderzubringen drohte, ging man daran, das Kohlenwirtschaftsgesetz zu verwirklichen. Am 21. August wurden die Ausführungsbestimmungen erlassen, die zum 1. September rechtskräftig wurden. Danach zeigte die Organisation der Kohlewirtschaft folgenden Aufbau: 1. Alle kohleproduzierenden Unternehmungen wurden unter voller Beibehaltung ihres kapitalistischen Charakters in Bezirkssyndikaten und einem Gaskokssyndikat zusammen15 RGB/. 1919, Nr. 64. 1 6 Vgl. dazu Bd. 1, S. 154 ff. dieser Arbeit. Das Neue bestand jetzt u. a. darin, daß nun ein Zusammenschluß auf Reichsebene erfolgte, während der Zwangszusammenschluß 1915 auf Staatsebene (Preußen) erfolgt war. Außerdem wurde damit das parlamentarische Aufsichtsrecht verwirklicht, das die Interessenten immer zu verhindern gesucht hatten. 17 RGB/. 1919. 1 8 Ebenda.
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geschlossen. In gewisser Weise wurde damit an eine bereits während des Krieges erlassene Zwangssyndikatbildung angeknüpft, die seinerzeit hauptsächlich dazu diente, das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat weiterbestehen zu lassen. 19 Nunmehr wurde die Zwangssyndikatbildung verallgemeinert. Außenseiter konnte es nicht mehr geben. Dies bedeutete natürlich, daß die Syndikate gestärkt wurden. 2. Die Kohlensyndikate und das Gaskokssyndikat schlössen sich zu einem Gesamtverband zusammen, dem Reichskohlenverband (RKV). Den geschäftsführenden Organen aller Verbände sollten auch Personen angehören, die von den sogenannten Arbeitervertretern des Reichskohlenrates vorgeschlagen wurden. Dies traf auch für die Aufsichtsräte zu. Allerdings waren diese „Arbeitervertreter" absolut in der Minderzahl. Auf ihre Rolle wird noch einzugehen sein. Ferner gehörten zum Aufsichtsrat des RKV je eine Persönlichkeit, die von den Angestellten- und den Verbrauchervertretern des Reichskohlenrates (RKR) vorgeschlagen wurde. 3. Das oberste Organ dieses Systems schließlich bildete der Reichskohlenrat, der aus 60 Mitgliedern bestand. 20 Die Mitglieder dieses sogenannten Kohlenparlaments wurden zum großen Teil vom Reich bzw. seinen Organen ernannt. 30 Mitglieder wurden von der „Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands (Zentralarbeitsgemeinschaft)", 6 vom „Deutschen Industrie- und Handelstag" gewählt, 3 Ländervertreter vom Reichsrat, 2 Bergbauunternehmer vom Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe und 19 Mitglieder, darunter 3 Sachverständige, durch den Reichswirtschaftsminister ernannt, nach „Anhörung der beteiligten Körperschaften und Interessenvertretung". Das Schwergewicht dieses Regulierungssystems lag zweifellos beim RKV. Neben der Beaufsichtigung der Produktions- und Absatzpolitik der Syndikate oblag ihm vor allem, die Kohlenpreise festzulegen. Dabei galt die Bestimmung, daß der Verkaufspreis an den Verbraucher den Syndikatspreis nur um 3 % übersteigen durfte, wodurch garantiert war, daß der Löwenanteil des Profits den Bergbaumonopolen selbst zufiel, und der Handel einen relativ beschränkten Anteil erhielt. Diese Klausel bewirkte aber auch eine gewisse Solidarität von Produzenten und Händlern, da die Händler somit eher an hohen als an niedrigen Syndikatspreisen interessiert waren. Der RKV, der als Zentralsyndikat nach den Richtlinien des Reichskohlenrates die Untersyndikate kontrollieren sollte, erwies sich de facto als Interessenvertretung dieser Syndikate. Die drei im Aufsichtsrat sitzenden „Arbeitervertreter" konnten daran nichts ändern. Im Gegenteil, es gelang den Unternehmern, diese Arbeitervertreter in fast allen Fragen für ihre Position zu gewinnen, so daß sie ebenfalls für hohe Kohlenpreise eintraten. Das dabei gebrauchte Argument war, daß hohe Löhne im Kohlenbergbau von hohen Kohlenpreisen abhängig seien. Die Unternehmer übten damit erpresserischen Druck auf die Vertreter der Arbeiterschaft aus, sie bei Preisforderungen zu unterstützen. 24 19
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Bundestatsverordnung vom 12. 6. 1915. Dazu: Tboenes, Walter, Die Zwangssyndikate im Kohlenbergbau und ihre Vorgeschichte, Jena 1921, S. 38ff. Der preußische Fiskus war bereits seit 1915 Mitglied des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats sowie seit 1905 der Oberschlesischen Kohlenkonvention, so daß er auch hier von dieser Ebene her als Partner der Monopole auftrat (Bd. 1, S. 175 dieser Arbeit). Zunächst waren 50 Mitglieder vorgesehen, doch wurde diese Zahl auf 60 erhöht. Krebs, Paul, Die deutschen Kohlenpreise seit Beginn des Weltktieges, München 1924, S. 43. Schon am 6. Juni 1919 war es zwischen dem Bergarbeiterverband des Ruhrgebietes und dem Zechenverband Essen zu folgender Vereinbarung gekommen: „Die Vertreter des Bergarbeiterverbandes ver-
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V o r allem erwies sich der R K V als ein Instrument, mit dessen Hilfe die mächtigsten K o h l e n m o n o p o l e auf die weniger mächtigen einwirken konnten. Dies ergab sich allein schon aus der Verteilung der Stimmen, die entsprechend der Verkaufsbeteiligung geregelt war ( T a b . 2 3 . ) . Tabelle 23 Verkaufsbeteiligung und Stimmen^ahlim Keicbskoblenverband 1920/21
1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
8.
9. 10.
1
Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat Niederschlesisches Steinkohlensyndikat Sächsisches Steinkohlensyndikat Aachener Steinkohlensyndikat Niedersächsisches Steinkohlensyndikat Mitteldeutsches Braunkohlensyndikat a) Rohkohle b) Briketts Rheinisches Braunkohlensyndikat a) Rohkohle b) Briketts Osteibisches Braunkohlensyndikat a) Rohkohle b) Briketts Kohlensyndikat für das rechtsrheinische Bayern 1 Gaskokssyndikat Land Preußen ohne Oberschlesien Land Sachsen
Verkaufsbeteiligung Kohlen t
Stimmenzahl im Reichskohlenverband
117612164 4285000 3758860 2343000 592280
84 5 4 3 1
14426000 11856000
19 11
9364501 8091000 10 6978700 8787500 2 7 9 1
keine Beteiligungsziffern festgesetzt
Quelle: Hecht, Wendelin, Organisationsformen der deutschen Rohstoffindustrien. Die Kohle, München 1924, S. 236. E i n zeitgenössischer A u t o r berichtet dazu: „ D i e G r ü n d u n g des Zentralsyndikats hat sich demnach durchaus zugunsten des mächtigsten Industriezweiges, des Steinkohlenbergbaus, und des mächtigsten Bergbaugebietes, des rheinischen Bergbaureviers, vollzogen. N a c h der Zusammenstellung entfielen auf den Steinkohlenbergbau E n d e 1921 o h n e die Länder Preußen und Sachsen nicht weniger als 6 2 , 3 Prozent der Stimmenzahl des Reichskohlenverbandes. D e r rheinische Bergbaubezirk besaß mit 5 3 , 8 Prozent der Stimmenzahl (ohne L a n d Preußen) allein die absolute Majorität innerhalb des Reichskohlenverbandes. D a s an sich schon starke natürliche Ü b e r g e w i c h t des rheinischen Reviers erfuhr damit eine beträchtliche Verstärkung, und zwar v o r allem deshalb, weil das Kohlenwirtschaftsgesetz pflichten sich, entsprechend den am 8. 5. getroffenen Vereinbarungen mit allem Nachdruck dafür einzutreten, daß die Kohlenpreiserhöhung in der schon damals für erforderlich gehaltenen Höhe in vollem Umfange genehmigt wird. Unter dieser Votaussetzung erklären sich die Vertreter des Zechenverbandes bereit, den Verbandsmitgliedern zu empfehlen, vom Tage der Kohlenpreiserhöhung ab eine Zulage von durchschnittlich Mk 2.— je Mann und je Schicht zu gewähren." {Fürer, Adalbert, Die gemeinwirtschaftliche Selbstverwaltung in der deutschen Industrie, Diss. Berlin 1924, S. 133f.). 5
Nussbaum. Bd. 2
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den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf in eine Verwaltungsangelegenheit umbog und die widerstrebenden Interessen durch Majoritätsbeschlüsse festlegte. Bei der engen Wechselwirkung zwischen Produktion und Absatz war das Rheinland theoretisch durchaus in der Lage, die gesamte Kohlenindustrie in eine einseitige Richtung zu drängen und durch Schematisierung der Produktionsbedingungen die Erzeugungsmöglichkeiten der übrigen Reviere zu regulieren und zu beschneiden. An Versuchen der rheinischen Kohlenindustriellen, die Wettbewerbsverhältnisse der einzelnen Reviere in diesem Sinne zu beeinflussen, hat es nicht gefehlt. Es sei nur erinnert an den Widerstand des Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlensyndikats während der Depressionsperiode im ersten Halbjahr 1921 gegen die Festsetzung von Absatzgrenzen und die Bevorzugung der Kohlengebiete mit minderwertigen Kohlevorkommen bei der Veredlung der Kohlensteuer." 22 Der RKV erwies sich also durchaus nicht als Vertretung bzw. Sicherung der „Interessen der Allgemeinheit", sondern „funktionierte von Anfang an als zentrale Geschäftsstelle der Bezirkssyndikate". 23 Er vertrat die von den Syndikaten verlangten Kohlenpreise gegenüber dem Reichskohlenrat und der Regierung, wobei die von den Zechen vorgelegten Selbstkostenrechnungen mehr oder weniger fiktiv waren. Dies gab der Monopolist Silverberg im Reichskohlenrat schließlich offen zu, als er, nachdem diese Fälschungen ans Licht gekommen waren, erklärte: „Das Reich selbst drängt die Industriellen auf den Weg unsolider Buchung." 24 Das hieß vor allem, daß die Kosten für Neubauten unter den Betriebskosten erschienen. Eine weitere Manipulation bestand darin, daß die erheblichen Profite aus der Nebenproduktgewinnung in den vorgelegten Berechnungen nicht enthalten waren. Die Kohlenindustriellen wehrten sich energisch und erfolgreich dagegen, daß diese Profite bei der Gesamtrechnung mit berücksichtigt wurden. 25 Die Kohlenmonopole hatten es verstanden, die „gemeinwirtschaftliche" Organisation des Kohlebergbaus zu einer jetzt sogar gewissermaßen staatlich legitimierten Stärkung ihrer Position und zu erheblichen Profiterhöhungen zu benutzen. In der 2. Sozialisierungskommission wurde diese Problematik ausführlich diskutiert, und Rathenau erklärte: „De facto liegt die Sache so, daß in den Aufsichtsratssitzungen der großen Werke, wo wirklich Rechenschaft gegeben wird — viele geben auch in ihren internsten Kreisen keine Rechenschaft — das Entsetzen über die Gewinne ein allgemeines ist." 26 Offensichtlich trat Rathenau hier im Interesse des Funktionierens der gesamten kapitalistischen Reproduktion gegen die Sonderinteressen der Monopole eines Industriezweiges, d. h. des Kohlenbergbaus auf. In den Beratungen des Kohlenausschusses der Sozialisierungskommission, in denen es um die „Durchsichtigmachung" der Produzenten ging, stießen jedoch verschiedene Konzeptionen aufeinander. Da die Organisation der Kohlewirtschaft sich in der bis dahin bestehenden Form als alles andere denn als Instrument für eine im gesamtkapitalistischen Interesse liegenden Regulierung der Kohlenindustrie erwiesen hatte, sondern eindeutig von den Kohlenmonopolen manipuliert wurde, entschloß man sich im RWM, das Kohlenwirtschaftsgesetz, obwohl es erst relativ kurze Zeit bestand, schon im Mai 1920 zu revidieren. Es wurde — allerdings nicht dem RKR — ein neuer Gesetzentwurf vorgelegt, der eine Neuorganisation bringen Hecbt, Wendelin, Organisationsformen der deutschen Rohstoffindustrien. Die Kohle, München 1924» S. 236f. 23 Ebenda, S. 237.ff 24 Krebs, Paul, a. a. O., S. 43. 25 Hecbt, Wendelin, a. a. O., S. 243. 26 Kuczjcnski, Jürgen, Die Geschichte . . .,Bd. 16: a. a. O., S. 31. 22
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sollte. Nach dem Entwurf des R W M sollte der R K V völlig abgeschafft werden, und seine Rechte auf den R K R übergehen. Außerdem sollte der R K R weitere Rechte erhalten, wie das Recht zur bergbaulichen Flurbereinigung und dazu, unwirtschaftliche Betriebe stillzulegen oder die Wiederinbetriebnahme stilliegender Bergwerke anzuordnen. Durch Aufnahme zusätzlicher Vertreter der Kohlenverbraucher, deren Zahl von 2 auf 10 erhöht werden sollte, und weiterer Vertreter der Länder und der Genossenschaften sowie von zwei Sachverständigen sollte die Zahl der Mitglieder von 60 auf 75 erhöht werden. Damit wäre das Übergewicht der Kohlenproduzenten im R K R beseitigt worden. Dieser Plan ging aber Rathenau zu weit. Seine Gegenvorschläge, die im sogenannten Minderheitsgutachten der Sozialisierungskommission vom 31. Juli 1920 enthalten sind, sahen vielmehr vor, den R K V zu erhalten. Mit ihm sollten die Produzenten zu Selbstkosten abrechnen, d. h. theoretisch sollten sie keine Gewinne machen. Die Gewinne sollten bei den Syndikaten, die ja den Vertrieb der Kohle in der Hand hatten, entstehen und nach einem Schlüssel an die Lieferer verteilt werden. Der Plan Rathenaus ging dabei davon aus, daß die vorgelegten Selbstkostenrechnungen der Produzenten, die auf Grund bilanzmäßiger Berechnungen erfolgen sollten, wirklich zuverlässig sein würden. Er berücksichtigte z. B. nicht, daß es den Kohlcnmonopolen über gemeinsame Manipulationen möglich war, Gewinne dadurch zu verschleiern, daß sie überhöhte Selbstkosten auswiesen — ein Verfahren, das den Kohlenproduzenten in dieser Periode oft zur Last gelegt wurde. 27 Stattdessen vertrat er die Ansicht, daß der industrielle Ehrgeiz zu einem Wettkampf um die niedrigsten Selbstkosten führen würde. Dies war offensichtlich eine idealisierende Anschauung von Unternehmermotiven, die nur aus einer Klassensolidarität Rathenaus mit den Monopolisten des betreffenden Zweiges erklärt werden kann. Das heißt, Rathenau, der als Exponent der „neuen" Industrien und Verfechter bestimmter staatsmonopolistischer Vorstellungen vielfach in Fehde mit den Monopolisten des Kohle/Eisenflügels des Monopolkapitals lag, vergaß dabei nicht die gemeinsame Interessenbasis und dachte nicht daran, über eine begrenzte, mehr oder weniger durch sie selbst ausgeübte Kontrolle seiner Kohle/ Eisenkontrahenten hinauszugehen. Die Intentionen des RWM, das, ohne die Grundlagen des monopolkapitalistischen Eigentums anzutasten, die Interessen des Gesamtkapitals stärker berücksichtigt haben wollte, gingen ihm, der selbst aus dem Monopolkapital kam, bereits zu weit. Dabei war er sicher auch von seinen bereits ziemlich ausgeformten eigenen Vorstellungen über die künftige Organisierung der kapitalistischen Wirtschaft beeinflußt. Zwar wurde schließlich weder die eine noch die andere Konzeption verwirklicht; weder die Vorschläge des sogenannten Minoritäts- noch das Majoritätsgutachten der zweiten Sozialisierungskommission, die auch Wege zur Vergesellschaftung der Industrie und der Entschädigung der Eigentümer beinhalteten, nahmen reale Gestalt an — ebensowenig wie die Vorschläge der ersten Sozialisierungskommission. Im Mai 1920 erfolgte vielmehr eine Änderung in der Weise, daß im R K R ein sogenannter Großer Ausschuß gebildet wurde, der als Mitlied im R K V fungierte. Zwar wehrten sich die Unternehmer des Kohlenbergbaus selbst gegen diese an sich sowieso schwächliche Kompromißlösung, und auf der Tagung des R K R ließen sie erklären, daß die Kohlenpreise nach „bestem Wissen und Gewissen" festgesetzt seien 28 , doch stellte sich bald heraus, daß diese organisatorische Veränderung 27
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5»
Libeaux, Karl, Die Ruhrkohlenpreisbewegung nach dem Kriege bis zum Ende der Inflationszeit, Diss. Köln 1928, S. 32. Rbode, Herbert, Verstaatlichungs- und Vergesellschaftungsprobleme im deutschen Steinkohlenbergbau unter besonderer Berücksichtigung der mit der Vergasung von Kohle verbundenen Aufgaben sowie der Kohlensteuer, Diss. Berlin 1922, S. 134.
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in keiner Weise geeignet war, eine wirkliche Kontrolle im Sinne einer gesellschaftlichen Regulierung über die Syndikate zu ermöglichen. Auch der als oberstes Gremium der Kohlengemeinwirtschaft funktionierende Reichskohlenrat selbst erfüllte nur unzulänglich die Aufgabe einer wirklichen Vertretung der auf die Kohle angewiesenen Industrien und damit eines gesamtwirtschaftlichen Regulierungsorgans. Dem sechzigköpfigen RKR gehörten Vertreter der Länder, der Verbraucher, der Angestellten und Arbeiter der Kohlenproduktion, der Kohlenhändler und Kohlenverbraucher, der Genossenschaften sowie des Eisenbahn- und Schiffahrtswesens an. Der RKR war berechtigt, allgemeine Richtlinien für die Kohlenwirtschaft aufzustellen, insbesondere zur Ausschaltung unwirtschaftlichen Wettbewerbs und zum Schutz der Verbraucher. Er konnte von den Erzeugern ebenso wie von Kohlenhändlern und Verbrauchern Auskunft über brennstoffwirtschaftliche Verhältnisse verlangen. Der RKR nutzte seine Befugnisse aber nicht dazu, die Preisforderungen der Syndikate bzw. des RKV einzudämmen, im Gegenteil, er unterstützte diese Forderungen weitgehend. Ein zeitgenössischer Autor teilt mit: „Vielfach kamen aber auch bei den Verhandlungen des Reichskohlenrats die gemeinwirtschaftlichen bzw. die Verbraucherinteressen zu kurz. Infolge innerer Reibungen und Spannungen konnte auch der Reichskohlenrat die zentrale Aufgabe der Gemeinwirtschaft — die Preisfrage — nicht lösen." 29 Daß der RKR im obenerwähnten Sinne unwirksam blieb, ergab sich schon aus seiner Zusammensetzung. Tatsächlich hatte die Gruppe der Produzenten die Majorität, da es den Unternehmern gelang, die „Arbeitnehmervertreter" des Bergbaus, die „vorwiegend aus den Gewerkschaftsbüros" 30 stammten, gerade bei Verhandlungen über Preisfragen so zu beeinflussen, daß sie zusammen mit ihnen stimmten. Die daraus folgende prozentuale Zusammensetzung des RKR (unter Weglassung der drei Sachverständigen) ist in Tabelle 24 ersichtlich. Tabelle 24 Zusammensetzung des Keicbshoblenrates Erzeuger-Gruppe
Händlet-Gruppe
weiterverarb. EndverbraucherGruppe
61,4
10,5
7
21,1
2fÜ Quelle: Fürer, Adalbert, Die gemeinwirtschaftliche Selbstverwaltung in der deutschen Industrie, Diss. Berlin 1924, S. 139.
Über die „Arbeitnehmervertreter" wird berichtet: „Ihnen fehlt aber . . . gerade das, was für eine sachliche, objektive Beurteilung, besonders der wichtigen Preisfragen, notwendig wäre, die Einsicht in die Betriebe selbst und die in jetziger Zeit mit dem raschen Wechsel der Wirtschaftslage erforderliche dauernde Verbindung mit den Vorgängen in der Unternehmung; aber nicht nur das, auch die Marktlage, die Absatzmöglichkeiten usw. ist den Gewerkschaftsbeamten nicht unmittelbar aus eigener Anschauung oder Erfahrung bekannt." 31 29 Hecht, Wendetin, a. a. O., S. 239. 30 Für er, Adalbert, a. a. O., S. 138. 3' Ebenda, S. 135.
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Daß die Unternehmer die Politik verfolgten, die Vertreter der Arbeiter und Angestellten in den „gemeinwirtschaftlichen" Organen systematisch in Unkenntnis der ökonomischen Vorgänge in den Unternehmen und Syndikaten zu lassen, geht u. a. aus einer Beschwerde des zweiten Vorsitzenden des Kalisyndikats vor der Sozialisierungskommission am 12. November 1920 hervor, in der er erklärte, daß er, obwohl der Reichskalirat auf dem Gedanken aufgebaut sei, daß die Arbeiterschaft mitverwalten solle, und er deshalb als Arbeitnehmervertreter auch ins Kalisyndikat gekommen sei, von der eigentlichen Organisation doch Monate lang geflissentlich fern gehalten wurde. Er sei zu den Sitzungen nicht zugelassen und sei bis zum heutigen Tage noch nicht zum Verkaufsgeschäft zugezogen worden. Ähnlich sei es den Arbeitnehmern im Aufsichtsrat ergangen. 32 Es kam schließlich dazu, daß der Konflikt zwischen der Kohlenorganisation und dem R W M sich zuspitzte. Nach den Ausführungsbestimmungen war das R W M berechtigt, die Beschlüsse der Bezirkssyndikate, des RKV und des RKR in bestimmten Fällen außer Kraft zu setzen. Davon machte das R W M immer mehr Gebrauch und versuchte, von sich aus die Kohlenpreise festzulegen. Doch ließ diese Linie sich auf die Dauer nicht durchführen. Es zeigte sich, daß unter den Bedingungen der Monopolherrschaft eine nur gegen einzelne Folgen dieser Herrschaft gerichtete Politik von Teilen des Regierungsapparates, die nicht willens und nicht fähig war, echte Konsequenzen zur Beschränkung oder Eindämmung der Monopolmacht zu ziehen, in sich zusammenfallen mußte. Die Monopole besaßen genügend Möglichkeiten, die Politik des R W M zu unterlaufen bzw. rasch unwirksam zu machen. „Aber auch das R W M konnte nicht dauernd gegen die Phalanx der in sich einigen Industrie angehen. Seine diktatorischen Preisbestimmungen, meist in kleineren Etappen durchgeführt, brachten eine große Unruhe in das gesamte Wirtschaftsleben hinein und stellten wiederholt die gesamte Kohlenförderung in Frage. Allmählich verlor aber das staatliche Vetorecht seine durchgreifende Bedeutung. Die beabsichtigte Basierung der Kohlenpreise auf den Selbstkosten ließ sich auf die Dauer bei der Kohlenindustrie mit einer komplizierten vertikalen Gliederung nicht durchführen. Das zunächst scharfe Schwert der staatlichen Preisfestsetzung stumpfte sich sehr rasch ab. Auch das R W M konnte trotz wiederholter Festlegung der Kohlenpreise durch Kabinettsbeschlüsse die wachsende Annäherung der Kohlenpreise an die Weltmarktpreise nicht verhindern." 33 Wie relativ gering die versuchte Regulierung in bezug auf die Preise wirkte, zeigt eine Übersicht über die Kohlenpreise von Januar 1919 bis Dezember 1923 (Tab. 25). Kuczynski charakterisiert: „Während die Massen auf das räuberischste ausgeplündert wurden, Löhne und Gehälter, Einkommen jeder Art von Arbeitern und Bauern, dem kleinen und mittleren Bürgertum um die Hälfte und zwei Drittel, noch mehr bei Rentnern, absanken, lagen die Kohlenpreise im allgemeinen über dem Niveau des Jahres 1913!" 34 Weder konnten die starken Schwankungen der Kohlenpreise verhindert werden, deren 32 33
34
Verbandlungen der Sozialisierungskommission über die Kaliwirtscbaft, Bd. 2, Berlin 1921, S. 273. Hecht, Wendelin, a. a. O., S. 240f. Als zu einem späteren Zeitpunkt die Weltmarktpreise niedriger lagen, dachten die Zechen nicht daran, nun die Inlandspreise von sich aus anzupassen. So wurde auf einer Tagung des Eisen- und StahlwarenIndustriebundes in Elberfeldt am 19. 11. 1925 über die Preispolitik des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats geklagt, das große Teile seiner Haldenbestände ins Ausland zu Preisen verkauft hatte, die 40% unter dem Inlandspreis lagen. „Dieses Vorgehen hätte unter der verarbeitenden Industrie verbitternd gewirkt." ( T r a n s f e l d t , "Theodor, Die Preisentwicklung der Ruhrkohle 1893—1925 unter der Preispolitik des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats und des „Reichskohlenverbandes", Diss. Leipzig 1926, S. 171). Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte . . . , Bd. 16, a. a. O., S. 29.
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Tabelle 25 „Goldmarkpreise"
von rheinisch-westfälischer
Fettförderkobleje
t ab Zecbe, 1919—1923 (1913= 100)
Monat
1919
1920
1921
1922
1923
Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember Insgesamt
176,3 158,3 139,1 114,7 166,9 160,7 156,4 125,3 98,1 101,6 71,2 65,0 127,8
57,8 52,8 70,1 112,9 149,4 177,4 175,9 145,4 119,8 101,8 89,9 95,1 112,4
107,0 113,3 111,2 125,3 127,8 114,8 103,8 94,4 84,7 59,2 33,8 73,8 95,8
73,9 78,8 74,1 94,3 109,4 100,0 86,8 51,8 98,5 60,5 54,3 105,8 82,4
76,6 150,5 204,1 167,1 97,3 103,3 131,0 233,3 203,3 258,6 207,7 192,6 168,8
Quelle: Zahlen %ur Geldentwertung in Deutschland 1914—1923, in: Sonderhefte zu Wirtschaft und Statistik, 5. Jg., Berlin 1925, S. 26.
zeitweiliges Absinken vor allem durch konjunkturelle Abschwünge und inflationäre Wirkungen bestimmt war, während die unverhältnismäßigen Erhöhungen auf der rücksichtslosen Ausnutzung der Mangelsituation durch die Monopole beruhten, noch wurde erreicht, daß die Kohlenpreise sich auf dem durchschnittlichen Niveau der übrigen Großhandelspreise bewegten (Tab. 26). Tabelle 26 Gold-Großhandelspreise
1919-1923 (1913= 100)
Jahr
Allgemein
Kohle
Kohle in Prozent von Allgemein
1919 1920 1921 1922 1923
96,9 105,8 82,7 82,0 95,1
127,8 112,4 95,8 82,4 168,8
132 106 116 101 177
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 16: Studien zur Geschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin 1963, S. 29.
Dafür, daß die geschaffene Organisation nicht imstande war, die Monopole wirksam zu zügeln, ist bezeichnend, daß die Kohlenpreise zwar im August 1919 und nach der Bildung von RKV und RKR im September zunächst tatsächlich sanken — eine Entwicklung, die sich allerdings in den entsprechenden Monaten der folgenden Jahre fast regelmäßig wiederholte, und die teilweise auf saisonale Schwankungen zurückgeführt werden muß, daß aber die Kohlenpreise im Durchschnitt des angegebenen Zeitraumes um rund ein Viertel über dem durchschnittlichen Niveau der anderen Preise lagen. Dabei machten die Löhne im Dezember 1922 nur 33% und noch weniger des Durchschnittspreises der Ruhrkohle aus, gegenüber 60% der Vorkriegszeit. 35 Das niedrige Lohnniveau ermöglichte es den Kohle35
Baumont, M., La grosse industrie allemande et la charbon, Paris 1928, S. 602.
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monopolen, einerseits die Preise für deutsche Kohle unter den Weltmarktpreisen zu halten, andererseits über die vergleichsweise hohen Inlandspreise enorme Profite zu akkumulieren. Insbesondere gelang es ihnen, in der besonderen Situation des Jahres 1923, dem Jahr der Ruhrbesetzung, die Preise weit über das übrige Preisniveau, ja sogar über die Weltmarktpreise zu treiben. Daß das Versagen der Preisregulierung dann, während der Ruhrbesetzung so besonders deutlich wurde, ist allerdings auch damit in Zusammenhang zu bringen, daß mit der Ablösung der Regierung Wirth durch das Kabinett Cuno im November 1922 das R W M neu besetzt wurde — und zwar durch einen Mann aus der Schwerindustrie. Der Wirtschaftsminister des „Kabinetts der diskontfähigen Unterschriften", der wie Stinnes und Vogler zum rechten Flügel der DVP gehörende ehemalige Generaldirektor des Thyssenkonzerns, Johann Becker, selbst Stahlwerksunternehmer und Zechenbesitzer, war nicht der geeignete Mann, eine Politik zu betreiben, die den Monopolen Schranken auferlegte — war doch die Stahlwerke Becker AG Mitglied des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats. 36 Zweifellos wurde die gesamte Problematik der „gemeinwirtschaftlichen" Preisregulierung durch die rasch fortschreitende Geldentwertung noch komplizierter. Doch darf dabei nicht übersehen werden, daß die Inflation gerade durch die Preispolitik der Monopole mitverschärft wurde und daß diese selbst die eigentlichen Nutznießer der Inflation waren. Darauf wird noch einzugehen sein. Auf der anderen Seite kann den Regulierungsbemühungen in dieser Phase der Nachkriegsentwicklung eine gewisse Wirkung nicht abgesprochen werden. Sie lag darin, daß die Vertikalkonzerne in der Zeit des Kohlenmangels und stürmischer Nachfrage gezwungen wurden, einen Teil der geförderten Kohle der übrigen Industrie zur Verfügung zu stellen. Ohne diesen Eingriff bestand die Gefahr, daß sie die Kohlen für sich allein verbraucht hätten. 37 Mit Hilfe der Regulierung konnten die übrigen Industrien einigermaßen versorgt und damit der Reproduktionsprozeß in seiner Gesamtheit relativ intakt gehalten werden. Andererseits führte die Einrichtung der Zwangssyndikate und des Supersyndikats in Form des RKV dazu, daß der Konzentrationsprozeß noch weiter verstärkt wurde. Welchen konzentrierenden Einfluß die Zwangssyndizierung in der Kohlenindustrie hatte, geht allein schon daraus hervor, daß die Zahl der Syndikatsmitglieder zwischen dem 1. April 1919 und dem 1. April 1920 von 88 auf 106 anstieg. 38 Die mächtigsten Verbände und Konzerne konnten nun ihr Übergewicht voll geltend machen, während die Stellung der Außenseiter und der mittleren Unternehmungen aussichtslos wurde. Ihnen blieb nur noch die bedingungslose Unterwerfung unter das Diktat der Mächtigsten. Es ist bezeichnend, daß Mitte 1923 auf dem Gebiet der Rohstoffindustrien selbst die kleinsten Reste der freien Konkurrenz beseitigt waren. Um die Außenseiter und mittleren Unternehmen sowie den Handel zu unterwerfen, hatten sich die Monopole nicht nur ihrer ökonomischen Überlegenheit, sondern auch der staatlichen Macht bedienen können. Als daher ab Mitte November 1923 die Preisfestsetzung durch den RKV eingestellt wurde und den Syndikaten gestattet wurde, regional abweichende Preise festzulegen, war ihre Macht größer als je zuvor. Uitbgen, Helmut, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit und seine Hauptprobleme, Diss. Würzburg 1926, S. 63. 3 7 Darauf weist auch Hecbt, Wendelin, hin, a. a. O., S. 245. 3« Frankfurter Zeitung v. 12.6.1919. 36
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c) Der Eisenwirtschaftsbund Während noch vor dem Rücktritt Wissels als Reichswirtschaftsminister am 24. April 1919 ein „Gesetz über die Regelung der Kaliwirtschaft" erlassen wurde, das der Kaliindustrie eine der Organisation der Kohlewirtschaft analoge Verfassung mit einem Reichskalirat an der Spitze gab und die Organisationsformen weiterentwickelte, die durch das Reichsgesetz über den Absatz von Kalisalzen vom 25. Mai 1910 geschaffen worden waren 39 , wurde ein Jahr später ein Regulierungsorgan für die Eisenindustrie gebildet — der Eisenwirtschaftsbund, nachdem vorher vergeblich eine freiwillige Bindung der Werke und eine Regelung durch den im April 1919 neuformierten deutschen Stahlbund unter Reichsaufsicht versucht worden war. Auch hier veranlaßte der Regulierungsversuch, daß die Produkte stark verknappt und die Preise gleichzeitig enorm gestiegen waren. Auf dem Gebiet der Eisenerzversorgung hatten sich die Gebietsabtretungen besonders fühlbar ausgewirkt. Wurden 1913 auf dem gesamten damaligen Gebiet des Deutschen Reiches einschließlich Luxemburg 35,9 Millionen t Eisenerz gefördert, so waren es auf dem nach dem Kriege verbliebenen deutschen Gebiet nur 7,5 Millionen t. An Roheisen erzeugte Deutschland 1913 19,3 Millionen t. Die Gebietsabtretungen ließen 1922 nur noch zu, daß 12 Millionen t Roheisen produziert werden konnten — vorausgesetzt die Erzeugungskapazität wurde voll ausgenutzt. 40 Trotzdem aber die Zahl der Arbeitskräfte in den Hüttenwerken noch erhöht worden war, konnten die vorhandenen Kapazitäten nicht ausgeschöpft werden. Dies lag hauptsächlich an dem Mangel an Kohle und gebranntem Kalk, an den unzureichenden Transportverhältnissen und der gesunkenen Arbeitsproduktivität. Die Lage auf dem Eisen- und Stahlsektor wurde andererseits davon bestimmt, daß hier der Konzentrationsprozeß besonders weit fortgeschritten war. Die erreichte Stufe der Monopolisierung war schließlich dadurch gekennzeichnet, daß die wichtigsten Produzenten im Roheisenverband und im Deutschen Stahlverband zusammengeschlossen waren, deren Preispolitik ganz eindeutig auf ihrer Marktmacht beruhte. Die schwerindustriellen Monopole nutzten die Marktlage zu erheblichen und fortgesetzten Preiserhöhungen, die durch erhöhte Kosten und die inflationäre Entwicklung nicht gerechtfertigt waren. So entwickelten sich die Preise für Träger (Formeisen) von Januar 1919 bis Mai 1929 wie folgt in Tabelle 27 ersichtlich. Die Preise, die seit 1. August 1918 auf 220,— Mark festgesetzt waren, wurden sofort nach dem Waffenstillstand und der Aufhebung der staatlichen Preisbindung erhöht. Die starke Nachfrage, insbesondere wegen des Neubaus von Eisenbahnwagen, begünstigte diese Steigerungen und ermöglichte entsprechende Profite. Im April 1920 stand den Selbstkosten für Formeisen in Höhe von 2255,— bis 2493,— Mark ein offizieller Verkaufspreis
Nussbaum, Helga, Die Investitionsstrategie staatlicher und privater Unternehmen unter den Bedingungen eines gesetzlichen Zwangssyndikats (Deutsche Kaliindustrie bis 1914), in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 53ff.=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 9. 40 Gamhke, Erdmann, Die Reparationslieferungen des Friedensvertrages von Versailles, ihre Einwirkungen auf die deutsche Finanz- und Wirtschaftslage. Die Möglichkeit ihrer Erfüllung und das Sachverständigengutachten, Diss. Berlin 1924, S. 131. 39
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Tabelle 21 Trägerpreise 1918 — Mai 1920 (ab Fracbtgrundlage Diedenbofen) 1. 14. 1. 1. 1. im
Januar Februar Mai August Oktober Januar Februar März April Mai
220,320,420,520,715,965,1735,2620,2685,2715,3620,-
Quelle: Scblagbeche, Alfons, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914-1920, Giessen 1922, S. 50/51. v o n 2715,— Mark gegenüber. 4 1 I m Mai w u r d e n die Preise dann n o c h einmal gewaltig erh ö h t , o h n e daß die Selbstkosten gestiegen waren. 4 2 Ä h n l i c h war die E n t w i c k l u n g bei Eisenbahnoberbaumaterial (Tab. 28). Tabelle 28 Preisefür Eisenbabnoberbaumaterial 1918—1920 Zeitabschnitt
Bahnschwellen Mark
Weichenschwellen Mark
Schienen Mark
Ende 1918 J a n - M ä r z 1919 April Mai—Juni Juli—August Sept.—Okt. Nov. D e z - J a n . 1920 Febr.—März 1920 April Mai
243,20 300,450,550,620,750,1100,1850,2750,2902,3862,-
247,20 305,453,553,623,753,1103,1853,2753,2905,3862,-
253,20 310,450,550,620,750,1100,1850,2750,2902,3752,-
Quelle: Scblagbeche, Alfons, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914-1920, Giessen 1922, S. 53. D a Bahnschwellen i m Mai 1914 104,50 u n d Schienen 114,— Mark gekostet hatten, bedeutete die Preiserhöhung i m Mai, daß nunmehr Schwellen das 36fache u n d Schienen das 33fache des Preises v o n v o r Kriegsbeginn kosteten. 41
42
Scblagbeche, Alfons, Die Preissteigerung, Absatzorganisation und Bewirtschaftung des Eisens 1914—1920, Giessen 1922, S. 53. Schlaghecke schreibt dazu: „Der letzte Aufschlag im Mai (Mk 905,—) war um so ungerechtfertigter, als in diesem Monat sämtliches Rohmaterial und auch die Löhne entweder niedrigere oder höchstens die gleichen Notierungen als im April aufwiesen . . . " (Ebenda).
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Während die Preissteigerungen für Eisenbahnmaterial vor allem von den Staatshaushalten getragen werden mußten — für Bahnmaterial trat der Staat als Käufer auf — trafen die Preise für das übrige Eisen besonders die nachfolgenden Produktionsstufen. Sie bewirkten, daß die .Preise für Fabrikate der Maschinenindustrie erhöht wurden. Teilweise ergab sich sogar die eigenartige Lage, daß Hüttenwerke ihre Anlagen nicht erneuerten, weil die neuen Maschinen infolge der hohen Eisenpreise ebenfalls ein Mehrfaches des früheren Preises kosteten. 43 Die Preispolitik der schwerindustriellen Monopole, die auch nach der Inflation fortwirkte, drückte sich deutlich darin aus, daß die Selbstkostenanteile sich verschoben. Nach Berechnungen des Verbandes Deutscher Maschinenbau-Anstalten veränderte sich die Zusammensetzung der Selbstkosten im Maschinenbau von 1914 bis 1924 wie in Tabelle 29 angegeben. Tabelle 29 Selbsthostenanteileim
Materialanteil Lohnanteil Unkostenanteil
Maschinenbau 1914 und 1924 1914
1924
46,5% 40 % 13,5% 100 %
49,3% 32,7% 18 % 100 %
Quelle: Hempel, Eduard Heinrich, Deutsche WerkstoffWirtschaft der Nachkriegszeit im einzelnen Betriebe und im Staate, Diss. Berlin 1925, S. 27.
Während der Lohnanteil an den Selbstkosten 1924 gegenüber 1914 im Maschinenbau um fast ein Fünftel gesunken war, war im gleichen Zeitraum der Anteil des Materials an den Kosten von 46,5% auf fast die Hälfte der Gesamtkosten gestiegen! Das zeigt klar, wie der Monopolprofit der Eisen- und Stahlunternehmen auf Kosten der nichtmonopolisierten Zweige zustande kam. „Angesichts der heutigen Sachlage, wo es sich um die Existenz unserer gesamten Industrie handelt, muß eingegriffen werden und der Reichsregierung die sich ergebenden Konsequenzen vorgetragen werden", hieß es in einem Hilferuf aus der Blechindustrie. 44 Das R W M griff aber auf dem Gebiet der Eisen- und Stahlindustrie erst mehrere Monate, nachdem die „gemeinwirtschaftlichen" Organe auf dem Kohlensektor geschaffen worden waren, ein. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit den Eisenproduzenten wurde im Frühjahr 1920 der Eisenwirtschaftsbund (EWB) gegründet. 45 Nur widerstrebend stimmten die Monopole der Eisen- und Stahlerzeugung zu, ein Organ zu schaffen, von dem sie befürchteten, daß von dort aus in ihre Preis- und Absatzpolitik eingesehen werden könnte, die unverhältnismäßig hohe Profite ermöglichte. Erst nachdem das RWM mehrfach auf die Preisfestlegung gedrückt 46 und gedroht hatte, die Eisenwirtschaft einseitig zu regeln, entschlossen sich die « Kölnische Zeitung v. 9.5.1920. « Die Lubeca- Werke, Lübeck o. J., S. 55. 45 § 1 der entsprechenden Verordnung lautete: „Zur Regelung der Eisen Wirtschaft wird ein Selbstverwaltungskörper gebildet, dem die Rechtsfähigkeit verliehen wird und der die Bezeichnung .Eisenwirtschaftsbund' erhält. Sein Sitz ist Düsseldorf." (Verordnung über die Eisenairtschaft v. 1. 4. 1920). Die Eisen- und Stahlwerke hatten die Mangellage ausgenutzt, Preisfestsetzungen dadurch zu umgehen, daß sie von ihren Kunden zusätzliche Leistungen, vor allem Zahlungen in Auslandsvaluten und billige
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Regulierungsversuche in den Grundstoffindustrien
Unternehmer, ihren Widerstand aufzugeben. Die entsprechende Verordnung wurde am 1. April 1920 erlassen. Zum Unterschied vom RKR wurden die Mitglieder der Vollversammlung des EWB nicht auf Grund von Vorschlägen der Unternehmer bzw. der Beschäftigten vom R W M ernannt, sondern direkt gewählt. Die dem EWB zugewiesenen Aufgaben waren: Sicherstellung des dringenden Eisenbedarfs, Festsetzung und Regelung der Inlandspreise, Regelung der Ein- und Ausfuhr von Eisen und Stahl, Regelung des Schrotthandels. Die Werke sollten verpflichtet sein, einen Teil ihrer Produktion dem EWB zur Verfügung zu stellen, um den dringlichsten Inlandbedarf, vor allem der Eisenbahn, des Schiffbaus usw. zu decken. Der EWB stellte neben der Organisation der Kohlenwirtschaft den wichtigsten Versuch dar, einen Industriezweig zu regulieren und die sich aus der schrankenlosen Willkür der Monopole der Grundstoffindustrie ergebenden negativen Folgen für die Industrien der nachfolgenden Produktionsstufen einzudämmen. Aus den Erfahrungen mit der Kohlenindustrie hatte man versucht, bestimmte Lehren zu ziehen. Dies drückte sich erstens in der Zusammensetzung der Vollversammlung aus, in der die Erzeuger zwar mit 34 Mitgliedern von 70 immer noch die stärkste Fraktion bildeten, sofern Unternehmer und Beschäftigte einheitlich auftreten sollten, wie es ja im RKV oft genug vorkam, aber doch gegen 12 Vertreter des Handels und 24 der Verbraucher bewußt in der Minderheit gehalten waren (Tab. 30). Tabelle 30 Zusammensetzung
Erzeuger Händler Verbraucher Summe
der Vollversammlung des
Eisenwirtscbaftsbundes
Unternehmer
Beschäftigte
Summe
17 6 12 35
17 6 12 35
34 12 24 70
Quelle: Fürer, Adalbert, Berlin 1924, S. 99.
Die gemeinwirtschaftliche Selbstverwaltung in der deutschen Industrie, Diss.
Zweitens hatte sich das R W M umfängliche Rechte und Befugnisse gesichert, darunter ein weitgehendes Einspruchsrecht. Der Reichswirtschaftsminister hatte die Geschäftsordnung des EWB zu genehmigen. Außerdem gehörte es zu seinen Rechten, den Zuständigkeitsbereich des EWB hinsichtlich der erfaßten Erzeugnisse abzugrenzen, das Ablieferungssoll festzusetzen und unter Umständen sogar zur Sicherstellung dringenden Inlandbedarfs gegen Entschädigung Vorräte an Erzeugnissen zu enteignen, Bestandsaufnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen vorzunehmen, Ausfuhrkontingente festzusetzen, von allen Beteiligten weitgehende Auskünfte zu verlangen. Er konnte an allen Beratungen durch Bevollmächtigte teilnehmen und Beschlüsse beanstanden, wenn öffentliche Interessen gefährdet erschienen. In bezug auf die Preise war der Reichswirtschaftsminister berechtigt zu bestimmen, daß die Inlandspreise einheitlich für das ganze Reichsgebiet festgesetzt wurden. Die vom EWB festgesetzten Preise sollten als Höchstpreise gelten. Bei Zuwiderhandlungen gegen vom Reichswirtschaftsminister erlassene Vorschriften Schrottlieferungen verlangten. Dies führte zu einem gewaltigen Ansteigen der Schrottpreise. Der Preis für Maschinenschrott z. B. stieg von 178.— Mk im Januar 1919 auf 2500,— Mk im Februar 1920; (Schlaghecke, Alfons, a. a. O., S. 91).
68
Neue staatsmonopolistische Formen und Institutionen
war dieser in gewissen Fällen berechtigt, im Einvernehmen mit der Justiz zu bestimmen, daß Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr oder Geldstrafen bis zu 500000,— Mark verhängt wurden. Er hatte auch das Recht, wenn die von ihm gestellten Aufgaben vom E W B oder dessen Organen nicht innerhalb gestellter Frist erfüllt wurden, eine andere Stelle mit der Durchführung zu beauftragen. Im Falle eine Einigung nicht zustande käme, konnte der Reichswirtschaftsminister, nach Anhören des Reichswirtschaftsrates, selbst die endgültige Entscheidung fällen. Die Stellung des R W M innerhalb dieses Regulierungsorgans war also viel stärker als im R K V . Da die Vollversammlung paritätisch aus Vertretern der Unternehmer und der Arbeiter und Angestellten der betreffenden Gruppen zusammengesetzt war, konnten sich die Vertreter des R W M bei bestimmten Fragen der Dämpfung der monopolistischen Preispolitik auch auf die Arbeiter- und Angestelltenvertreter stützen. Im Unterschied zu ihren Kollegen in der Kohlenorganisation waren die Beschäftigtenvertreter im E W B bereit, bei einer Begrenzung der Preise mitzuwirken. Die Metallarbeiterzeitung schrieb in bezug auf den E W B : „Die Arbeiterschaft ist ebenfalls in Erzeuger, Händler und Verbraucher eingeteilt. Vielleicht sollte ein Gegeneinanderausspielen dadurch erreicht werden. Bei Leuten mit bürgerlicher Gesinnung mag dies noch gelingen, wohingegen unsere Vertreter mit aller Deutlichkeit darauf hinwiesen, daß der Arbeiter in der Industrie nur Lohnempfänger ist, als Mensch ist er nur Verbraucher, aber nicht im industriellen Sinne, sondern letzter Konsument. Davon sich leiten lassend, können Arbeitervertreter nur für möglichst niedrige Preise eintreten. Wenn wir dafür rücksichtslos kämpfen, so wird uns der Vorwurf gemacht, daß die Lebensfähigkeit der Industrie herabgemindert wird. Damit ist natürlich die kapitalistische Industrie gemeint, an deren Beseitigung wir mit aller Macht arbeiten." 47 Das entwickelte Klassenbewußtsein der Vertreter der Metallarbeiterschaft war ein wesentlicher Faktor, der dazu beitrug, daß die Regulierungsmaßnahmen in dieser Industrie relativ wirksam werden konnten. So unterstützten die Beschäftigtenvertreter im E W B am 20. Oktober 1920 geschlossen einen Antrag des RWM, die Preise und Händlerzuschläge herabzusetzen, und ermöglichten damit, daß er durchgedrückt wurde. Wenn die Beschäftigten- und Verbrauchervertreter in den Gemeinwirtschaftsorganen zusammengezählt werden, so ergibt sich, daß sie stets eine Mehrheit bilden konnten (Tab. 31). Tabelle 31 Zusammensetzung der Gemeinwirtscbaftsorgane BeschäftigtenVertreter
VerbraucherVertreter
Summe
von insges.
Reichskohlenrat
22
14
36
60
Reichskalirat Eisenwirtschaftsbund
11 35
5 12
16
30
47
70
Teerwirtschaftsverband
19
11
30
45
Zusammengestellt aus: Fürer, Adalbert, Die gemeinwirtschaftliche Selbstverwaltung in der deutschen Industrie, Diss. Berlin 1924, S. 90 bzw. 99. m, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 362.
Dagegen stagnierten im allgemeinen die klassischen Zweige der Verbrauchsgütererzeugung, wie die Textilindustrie. Die Automobilproduktion war in Deutschland noch relativ gering. Außerdem litt die deutsche Personenautomobilindustric nach der Inflation an einer permanenten Krise, die sich darin ausdrückte, daß z.B. 1929 den durch deutsche Erzeuger hergestellten 50200 Pkws 81100 importierte oder in von ausländischem Kapital betriebenen Firmen (Opel) hergestellte Pkws gegenüberstanden.12 Besonders die amerikanische Konkurrenz erwies sich dem zeitweise technisch zurückgebliebenen und in eine Vielzahl von Unternehmen zersplitterten deutschen Automobilbau überlegen. Durch Konzentration verrringerte sich immerhin die Zahl der Werke dieses Zweiges von 86 im Jahre 1924 innerhalb von zwei Jahren auf ca. 30.13 10 Ebenda. " Ebenda, S. 5. 12 Adelt, Richard, Die Krise in der deutschen Automobilindustrie, Diss. München 1930, S. 35 f. Derselbe Autor berichtet, daß, da man sich während des Krieges auf die Konstruktion von Tanks und fahrbaren Kanonen konzentriert habe, „sich in der technischen Konstruktion der Personenautomobile in der Zeit von 1914 bis Anfang 1925 äußerst wenig geändert" hat. „Zwischen einem 1914 und 1923 gebauten Automobil besteht kein wesentlicher konstruktiver Unterschied." (Ebenda, S. 50.) Dies zeigt ein übriges Mal, daß gerade der angeblich den technischen Fortschritt fördernde Krieg in Wirklichkeit den Fortschritt überall da hemmt, wo et nicht unmittelbar den militärischen Bedürfnissen dient. 13 Geyl, Dieter, Probleme der neuzeitlichen Konzentration unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Deutschland seit 1918, Diss. Frankfurt (Main) 1931, S. 29.
118
Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
Der Flugzeugbau hatte ebenfalls kein großes Gewicht, so daß seine hohen Wachstumsraten das Gesamtbild wenig beeinflußten. Daß diese beiden Zweige in der behandelten Periode relativ unbedeutend waren, drückt sich in den Zahlen für den Anteil der Verkehrsträger Omnibusverkehr und Flugzeugverkehr aus (Tab. 48). Tabelle 48 Personenverkehr nach Verkehrsträgern 1924—1929 (Mio. Versonenkilometer) Jahr
Eisenbahnen
Straßen- u. Omnibus Schnellbahnen
Flugzeug
Gesamt
1924 1925 1926 1927 1928 1929
44,6 50,1 44,0 46,6 48,8 48,1
12,1
0,5
57,2
15,1 17,4 18,2 18,5
0,9 1,4 2,4 3,4
0,00 0,01 0,01 0,03 0,03 0,02
60,0 65,4 69,4 70,0
Quelle: Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 400.
In der ganzen Periode wurde der weit überwiegende Teil des Verkehrs immer noch von der Eisenbahn bewältigt. Trotzdem befand sich gerade der deutsche Lokomotivbau faktisch während des ganzen Zeitraumes in einer Dauerkrise. Das wurde vor allem dadurch verursacht, daß der wichtigste Abnehmer, die Reichsbahn, ihren Lokomotivpark während der Inflation erneuert hatte und sich danach nicht in der Lage sah, größere Aufträge an Lokomotiven zu vergeben. 14 Auch der Export von Lokomotiven erreichte nicht mehr den Vorkriegsstand. Ähnlich war die Lage der Waggonbauindustrie, die sich schon vor dem Kriege in Schwierigkeiten befunden hatte, dann im und nach dem Kriege ihre Kapazitäten stark erweiterte und bei der nach 1924 das Mißverhältnis zwischen Kapazität und deren Ausnutzung dazu führte, daß der ganze Industriezweig notleidend wurde. 15 Es fand in der Periode der relativen Stabilisierung eine erweiterte kapitalistische Reproduktion statt, wobei einige traditionelle Zweige hinter dem Stand von 1913 zurückblieben, während andere Zweige wie die chemische Industrie, die Elektroindustrie, also die sogenannten neuen Industrien, aber auch die Metallverarbeitung vorpreschten. Es wäre jedoch irrtümlich anzunehmen, daß dieses zwischen 1925 und 1929 sichtbare industrielle Wachstum kontinuierlich erfolgt sei. Vielmehr entwickelte sich die Produktion entsprechend den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise in Auf- und Abschwüngen. Die Zwischenkrise von 1925/26 drückt sich in den Ergebnissen des Jahres 1926 deutlich aus. Fast alle Zweige, ausgenommen die Nahrungs- und Genußmittelerzeugung sowie Gas, Wasser und Elektrizität, zeigen hier einen Rückgang. Insbesondere die metallverarbeitende Industrie ging gegenüber 1925 um fast 30 Punkte zurück. Die Gesamtindexzahl beträgt für 1926 93,7 (1913=100, 1925= 103,4) wie in Tabelle 49 ersichtlich. 14
15 16
„Von den inzwischen in der Deutschen Reichsbahn vereinigten sämtlichen deutschen Staatsbahnverwaltungen wurden in den Jahren 1924/28 im Durchschnitt noch nicht 120 Maschinen jährlich gegenüber 1660 im Mittel der letzten Vorkriegsjahre bestellt". (Penker, Josef W., Krisis im Lokomotivbau in Deutschland, Diss. München 1929, S. 41). Zahn, Gustav, Kapitalfehlleitungen in der deutschen Waggonbau-Industrie, Diss. Köln 1930. Hoffmann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965.
Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
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Trotzdem muß aber im ganzen die Periode von 1924 bis 1928 als eine Periode wirtschaftlichen Aufschwungs angesehen werden. Es kam zu bedeutenden Neuanlagcn von Kapital, wenn auch die industriellen Investitionen im Durchschnitt von 1924 bis 1928 nur 70% derjenigen der Vorkriegsjahre ausmachten. Doch stiegen die Anlageinvestitionen immerhin von 7425 Millionen Mark 1924 auf 13758 Millionen im Jahre 1928, d. h. sie verdoppelten sich.17 Dazu trug die ausländische Kapitaleinfuhr erheblich bei. Während jedoch der Anteil der Industrie an den Gesamtinvestitionen im gleichen Zeitraum stieg, fiel derjenige der Landwirtschaft. Daß die Landwirtschaft zurückblieb, wurde zu einer Quelle sozialer Spannungen (Tab. 50). Berechtigterweise wird also das Jahr 1924 als der Beginn einer neuen Periode der kapitalistischen Nachkriegsentwicklung in Deutschland betrachtet. Am Jahresende 1923 war es gelungen, die Inflation zu beenden und somit eine entscheidende Voraussetzung dafür herzustellen, daß der kapitalistische Wirkungsmechanismus wieder normal funktionierte. Mit der Niederschlagung revolutionärer Erhebungen in verschiedenen Teilen Deutschlands hatte die Monopolbourgeoisie gesichert, daß die alten Machtverhältnisse und damit der politische Rahmen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses gewahrt blieben.18 Schließlich wurde dann 1925 mit dem Dawes-Plan, der damit verbundenen Anleihe und dem einsetzenden Strom ausländischer, vor allem amerikanischer Gelder die wichtige Reparationsfrage zeitweilig geregelt und eine den deutschen Kapitalismus belebende Finanzhilfe erreicht. „Mit dem Inkrafttreten des Dawes-Planes verstärkten sich insgesamt die Kräfte, die auf den neuen Aufschwung iiinwirkten; denn die politischen und ökonomischen Grundlagen des deutschen Imperialismus, durch das Schuldenmoratorium und die anderen Dawesplan.
4 ^ in o s co on TH QN rjN NONCN 3 • s CM » © a
18
Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte..., Bd. 15: Studien zur Geschichte der zyklischen Überproduktionskrisen in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin 1963, S. 59. Klassenkampf —Tradition — Sozialismus, a. a. O., S.407.
120
Der Reproduktionsprozeß 1924 bi» 1928
Tabelle 50 Anlagen in Industrie, Landwirtschaft, (in Prozent der Gesamtanlagen)
Industrie Land-und Forstwirtschaft Verkehr
Verkehr 1924 und 1928 1924
1928
18,7 10,1 20,2
19,1 6,9 14,2
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 15: Studien zur Geschichte der zyklischen Überproduktionskrisen in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin 1963, S. 61.
ergebnisse gestärkt, erhöhten die Investitionsneigung der deutschen Monopolbourgeoisie." 19 Zahlreiche ausländische Anleihen flössen nach Deutschland, dienten teilweise dazu, die Rationalisierungswelle in der Industrie zu finanzieren, wurden aber auch für kommunale Zwecke, städtische Bauten u. a. verwendet. Die langfristige Vergabe kurzfristiger Auslandsanleihen durch deutsche Banken sollte später schwerwiegende Folgen haben. In der ganzen Periode spielte das Problem der Reparationszahlungen eine Rolle in der Finanzproblematik des Reiches wie auch in der öffentlichen Diskussion. Nach dem Ende des Ruhrkampfes brachte der Dawes-Plan eine zeitweilige Regelung insofern, als nach einer Anlaufzeit die jährlichen Zahlungen auf 2,5 Milliarden RM festgelegt wurden. Wichtig war dabei der sogenannte Transferschutz, der bedeutete, daß der alliierte Reparationsagent in Berlin die in deutscher Mark geleisteten Zahlungen nur dann in ausländischer Valuta transferieren durfte, wenn damit die Stabilität der deutschen Währung nicht gefährdet wurde. Eine Einschränkung der Hoheitsrechte des Reichs bezüglich der Kontrolle der Reichsbahn, der Reichsbank und die staatliche Finanzpolitik sollten sichern, daß der Plan funktionierte. Später, 1929, wurden die deutschen Gesamtzahlungen durch den Young-Plan festgelegt, der jedoch mit der einsetzenden Weltwirtschaftskrise hinfällig wurde. Der deutsche Kapitalismus trat in die neue Periode mit einer gewaltig veränderten Besitzstruktur ein. Gegenüber der Vorkriegszeit war der Konzentrationsprozeß weitergegangen (Tab. 51). Tabelle 51 Allgemeine Konzentration von Beschäftigten Handel und Verkehr
1907 und 1925 in Industrie,
Jahr
Zahl der Betriebe
Zahl der Beschäftigten
Beschäftigte pro Betrieb
1907 1925
4051000 3442000
14420000 18555000
3,6 5,4
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 16: Studien zur Geschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1918 bis 1945, Berlin 1963, S. 3.
Während die Zahl der Betriebe zwischen den Zählungen von 1907 und 1925 um über 600000 abgenommen hatte, war die Zahl derjenigen, die gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt als Lohn- oder Gehaltsempfänger zu verdienen, um mehr als 4 Millionen gestiegen. 19
Mottek, Hans/Becker, WalterjSchröter,
Alfred, a. a. O., S. 260.
121
Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
Von den Arbeitern waren 1925 8,2% in Betrieben mit über 1000 Beschäftigten tätig gegenüber 6,6% im Jahre 1907. Das Volksvermögen war radikal zugunsten der großen Kapitale umverteilt worden. Während der Inflation hatten 53% des Aktienkapitals für nur 21% des Geldwertes den Besitzer gewechselt.20 Riesige Konzerne waren entstanden, während die Mittelschichten weitgehend enteignet worden waren. Die durch die Inflation beschleunigte Konzentration hatte dazu geführt, daß 0,4% aller Industriebetriebe 30% des gesamten Industrievermögens besaßen. Dies geht aus der Tabelle 52 hervor. Tabelle 52 Verteilung des Industrievermögens über 50000 KM 1925 Vermögensgruppe
Zahl der Betriebe
Betriebsvermögen (Mill. RM)
Anteil in % der Zahl am Wert
50000-100000 100000-200000 200000-500000 5 0 0 0 0 0 - 1 Mill. 1 Mill.—3 Mill. 3 Mill.—10 Mill. 30 Mill.—60 Mill. über 60 Mill.
24136 15147 10732 3751 2668 966 121 206
1724 2148 3359 2617 4464 4911 1553 8714
41,8 26,2 18,6 6,5 4,6 1,7 0,2 0,4
5,8 7,3 11,4 8,9 15,1 16,6 5,3 29,6
Quelle: Krohn, Claus-Dieter, Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923-1927, Düsseldorf 1974, S. 140.
Während gegenüber der Vorkriegszeit der Anteil des Privatvermögens von Einzelpersonen zurückgegangen war, stieg das Vermögen der Aktiengesellschaften von 4,5 Milliarden M auf 23 Milliarden im Jahre 1924. Andererseits konnte sich die Landwirtschaft ihrer Schulden entledigen. Aus den Goldmarkeröffnungsbilanzen zu Anfang des Jahres 1924 ging die Substanzvermehrung der Industrie hervor. Die Sachwerte der deutschen Wirtschaft auf identischem Territorium hatten von 1913 bis 1924 um 26% zugenommen. 21 In den verschiedenen Zweigen war das Verhältnis des Nominalkapitals der Vorkriegszeit zum neuen Reichsmarkkapital wie in Tabelle 53 dargestellt. Tabelle 53 Verhältnis des Vorkriegskapitels %um KM-Kapital 100 : 30
im Bankwesen und Handel
100 100 100 100 100 100
im Versicherungswesen im Maschinenbau in der Eisen- und Stahlindustrie im Bergbau bei Gas, Wasser und Elektrizität in der chemischen Industrie
: 81 : 130 : 134 : 136 : 178 : 227
Quelle: Wirtschaft und Statistik, Nr. 5 (1925), S. 769. 20 Wittkowski, Margarete, Großbanken und Industrie in Deutschland 1924-1931, Tampere 1937, S. 10. 21 Ebenda, S. 12. 9
Nussbaum, Bd. 2
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Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
Diese Zahlen zeigen, daß die am meisten monopolisierten Zweige, abgesehen vom Bankwesen, auch am besten abschnitten bzw. die höchsten Inflationsgewinne erzielt hatten. Die schwerindustriellen und Chemiemonopole hatten sich nicht nur reproduziert, sondern dazu einen beträchtlichen ökonomischen Machtzuwachs erreicht. Dieser wurde weiter ausgebaut, als etwa ab Mitte 1925 eine Konzentrationswelle einsetzte, die sich zum großen Teil aus den nach Deutschland einfließenden ausländischen Geldern speiste. Während die in der Inflationszeit entstandenen unrationellen Konglomerate, wie der Stinnes-Konzern und die Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union in der Deflationskrise wieder auseinandergefallen: waren, wurde nun unter dem Gesichtspunkt, die gegen Ende der Inflation verlorengegangene Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen, die deutsche Industrie gründlich reorganisiert und modernisiert. Auf die spezielle, in Europa einzig dastehende Förderung der eng damit verknüpften Rationalisierungsbewegung durch den imperialistischen deutschen Staat wird noch besonders einzugehen sein. Die unter dem Banner der Rationalisierung vorgenommenen Zusammenschlüsse unterschieden sich von denen der Inflationszeit zunächst vor allem darin, daß es sich jetzt vorwiegend um horizontale Konzentration handelte. Ein typisches Beispiel für den Prozeß in der Eisen- und Stahlindustrie ist die Gründung der Vereinigten Stahlwerke AG im Frühjahr 1926. Dieser größte Montankonzern Europas und, nach dem Morgan-Trust in den USA, das zweitgrößte Unternehmen seiner Art in der Welt überhaupt, wurde gewissermaßen auf den Trümmern des bankrotten Stinnes-Konzerns und der Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union geschaffen. Die Vereinigten Stahlwerke wurden von den schwerindustriellen Unternehmen Rheinische Stahlwerke, Phönix AG, Rhein-Elbe-Union (aus der Vereinigung der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, der Stinnesschen Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG und des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation hervorgegangen) und dem Thyssen-Konzern gebildet. Die treibenden Kräfte, die hinter dieser Konzernbildung standen, waren die Disconto-Gesellschaft, die Deutsche Bank, die Danat- und die Dresdner Bank. Bei der Gründung des Konzerns kam es zu erheblichen Kämpfen unter den verschiedenen Großbanken. 22 Der schließlich zustandegekommene Riesenkonzern verkörperte eine nach Hunderten von Millionen zählende Kapitalmenge. In der Eröffnungsbilanz vom 1. April wurde allein der Wert der eingebrachten Werksanlagen mit 1077704228,47 RM beziffert.^ Die Zahl der von den Vereinigten Stahlwerken beschäftigten Arbeiter wird für 1927 auf 172767 angegeben, wozu noch 15801 Angestellte kamen. 24 Schon bald nach der Gründung wurden die Vereinigten Stahlwerke noch erweitert durch Übernahme weiterer Unternehmen, zunächst der AG Charlottenhütte. Dann folgte ein erheblicher Teil des Stumm-Konzerns und die Rombacher Hüttenwerke. Damit stieg die Macht der Vereinigten Stahlwerke in den bestehenden Verbänden bzw. Kartellen der Eisenindustrie stark an und näherte sich der Majorität. Tatsächlich wuchs infolge der Übernahme einer Anzahl eisenverarbeitender Werke durch die Vereinigten Stahlwerke unter den Unternehmern des betreffenden Industriezweiges die Furcht vor einem neuen riesigen vertikalen Gebilde, ähnlich denen der Inflationszeit. Zur Beschwichtigung des nichtmonopolistischen Kapitals gaben die Stahlwerke daher eine Erklärung heraus, in der es Gossweiler, Kurt, Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1965, T. 4, S. 22. 23 Ufermann, Paul, Der Stahltrust, Berlin 1927, S. 60. 2« Handbuch der Deutseben Aktiengesellschaften 1927, Bd. 1, S. 401. 22
Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
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hieß, daß „die Aufgaben der eisenschaffenden bzw. der eisenverarbeitenden Industrie auf ihre eigenen Produktionsgebiete beschränkt bleiben sollen und daß ein Übergreifen einer der beiden Industrien auf das Gebiet der anderen grundsätzlich vermieden werden s o l l . . . Ebensosehr wie die Ausnutzung aller wirtschaftlichen Möglichkeiten im Rahmen dieses Zusammenschlusses und etwaiger künftiger Zusammenschlüsse mit industriellen Unternehmungen von wesensgleicher Struktur liegt im Sinne dieses Grundgedankens auf der anderen Seite die Ablehnung eines planmäßigen Eindringens in die. Zweige der eisenverarbeitenden Industrie (vertikale Trustbildung)". 25 Die Produktionsmacht der Vereinigten Stahlwerke kommt unter anderem in der Zahl der in ihrem Besitz befindlichen Betriebe zum Ausdruck. So besaßen sie 1927 48 Schachtanlagen mit 153 Kohlenschächten, 14 Hochofenwerke mit 63 Hochöfen und einer Jahreskapazität von mehr als 9 Millionen Tonnen Roheisen, Stahlwerke mit 33 Thomasbirnen und 116 Siemensöfen sowie Bessemer- und Elektro-Ofenanlagen für Qualitätsmaterial und einer Jahreskapazität von 7,4 Millionen Tonnen Stahl. 26 Daß bestimmte Befürchtungen hinsichtlich dieser ungeheuren Konzentration wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht und des Strebens nach noch mehr davon nicht unbegründet waren, bemerkten auch zeitgenössische bürgerliche Autoren. Dies erhellt auch die Bemerkung Tschierschkys, der über die Bildung der Vereinigten Stahlwerke meinte, der vorausgegangene Kartellbildungsprozeß habe hier als treibende Kraft gewirkt, und dann schrieb: „Ebenso haben aber auch Umstellungsnotwendigkeiten, vor allem Rationalisierungsbedürfnisse als Folge wirtschaftlicher Schwierigkeiten seit dem Weltkriege, endlich
aber auch ein gerade in unserer rheinisch-westfälischen Schwerindustrie stark entwickelter Hang zu
wirtschaftlicher Großmachtstellung mitgewirkt." 2 7 Auf jeden Fall hatten die Vereinigten Stahlwerke eine beherrschende Stellung in der deutschen Montanindustrie und besaßen in einer Reihe von Syndikaten die Mehrheit. Schon 1927 gehörten sie im ganzen 105 Kartellen, Syndikaten und Unternehmervereinigungen an und beherrschten mit einem Kapital von 1532528000 RM mehr oder weniger 406 Gesellschaften mit einem Kapital von 3018542000 RM. Dazu besaßen sie zahlreiche Unternehmungen im Ausland, so in Polen, Österreich, Schweden, Spanien, über Beteiligungen und Holdinggesellschaften Verbindungen in die CSR, nach Holland und anderen und spielten eine entscheidende Rolle in internationalen Kartellen, vor allem in der Europäischen Rohstahlgemeinschaft. Die Eisenindustrie anderer Gebiete wurde ebenfalls stark konzentriert. Als Resultat entstanden die Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerke und die reorganisierten Mitteldeutschen Stahlwerke AG, die wiederum von den Vereinigten Stahlwerken kontrolliert wurden. 28 25 Ufermann, Paul, a. a. O., S. 85f. Handbuch der Deutseben Aktiengesellschaften 1927, a. a. O. 2' Tschierscbky, S., Kartell und Trust, Berlin 1932, S. 121. 28 Di e Wirkung der in der gesamten Eisenindustrie vorgenommenen Rationalisierung und Konzentrierung im Zusammenhang mit der steigenden Konjunktur auf die Profite kommt in einer Stellungnahme des mit den Vereinigten Stahlwerken vielfach verbundenen Industriellen Peter Klöckner zum Ausdruck, der schon im Winter 1926/27 gegenüber dem damaligen Reichswirtschaftsminister Curtius, einem Manne übrigens, der von der IG Farben kam, äußerte: „Herr Curtius, es regnet Reisbrei". {Curtius, Julius, Sechs Jahre Minister der deutschen Republik, Heidelberg 1948, S. 43). Unter monopolistischen Bedingungen wurde hier offensichtlich der Widerspruch überspielt, der darin bestand, daß, obwohl die Konzentration weitgehend unter der Losung der Rationalisierung betrieben 26
9*
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Das Ausmaß der erreichten Konzentration wird daran deutlich, daß im Jahre 1929 die drei größten Konzerne, Vereinigte Stahlwerke, Krupp und Gutehoffnungshütte, 68,8 Prozent der Roheisenproduktion Deutschlands lieferten. Die Vereinigten Stahlwerke allein erzeugten ungefähr 50 Prozent der Gesamtproduktion. 29 Die Strategie der horizontalen Konzentration blieb nicht auf die Schwerindustrie beschränkt, sondern ergriff faktisch alle Industriezweige und führte zu Hunderten von Fusionen. In der chemischen Industrie entstand ein anderes Riesenmonopol bereits im Dezember 1925 mit der Bildung der IG-Farbenindustrie-Aktiengesellschaft. Der Gründung dieses Giganten waren als Vorstufen die Bildung von Kartellen und Interessengemeinschaften in den Jahren 1904, 1916 und 1919 vorausgegangen. 30 Jetzt kam es zur abschließenden Verschmelzung zu einem Riesenkonzern. Auch diese Gründung stand unter dem Zeichen der Rationalisierung und der Ausschaltung profitmindernder Faktoren. 31 Es ist zu fragen, wie sich das verstärkte und sich laufend verstärkende Gewicht der Monopole auf deren Rolle in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat, auf die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus auswirkte. In dem vielfältigen und komplizierten Bezugssystem des staatsmonopolistischen Kapitalismus lassen sich doch Staatsapparat und Monopole gewissermaßen als zwei Pole eines Kraftfeldes erkennen, deren gegenseitige Beziehung, Beeinflussung und Durchdringungstendenzen keine festen Größen darstellen, sondern deren Stärke und Richtung sowohl von der Entwicklung der beiden Pole und ihrer relativen Stärke abhängig sind, wie auch von dem Medium, in dem sich das ganze System befindet, d. h. den ökonomischen, politischen und sozialen Kräften und Faktoren der Gesellschaft, die es zu beherrschen sucht, die aber ihrerseits nicht absolut wurde und die Schließung technisch überaltertet Anlagen erfolgte, die zeitgenössische Untersuchung doch zu dem Schluß kam, daß „die deutsche Stahlindustrie überbesetzt" sei, wenn auch keine Zahlen für die Bestimmung des genauen Ausmaßes der Überinvestierung und der Überkapazität zur Verfügung stünden. „Die Industrie war nicht fähig, ihre Produktion oder ihre Märkte zu stabilisieren, obgleich sie durch die Kartellorganisation einen gewissen Grad von Preis-Stabilität für gewisse spezielle Waren erzielt hat. Noch hat sie die persönliche Sicherheit weder der Arbeiter noch der Angestellten um ein Jota verbessert. Ganz im Gegenteil." (Brady, R., The Rationalisation Movement in German Industty, Berkeley 1933, S. 138). 2» Ebenda, S. 108. 30 Über diese Entwicklung, die Bedeutung frühzeitiger Rationalisierungspläne dabei und die Rolle des Vorsitzenden des Verwaltungsrats und des Aufsichtsrats der IG Farben siehe: (Sonnemann, Rolf, Über die Duisberg-Denkschrift aus dem Jahre 1919, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, T. 3, S. 119ff.; sowie: Etzold, Heike, Carl Duisberg — vom stellungssuchenden Chemiker an die Spitze der IG Farbenindustrie AG, in: Ebenda, S. 196 ff.; sowie: Die Duisberg-Denkscbrift zur Vereinigung der deutschen Farbenfabrikjen aus dem fahre 1915. Mit einer Vorbemerkung von Hermann Roth, in: Ebenda, S. 236ff.; sowie Bd. 1, S. 82 ff. dieser Arbeit). 31 „Ganze Produktionsgruppen wurden aus dem einen oder anderen Werk herausgenommen und in einzelnen Betrieben konzentriert. So gab Elberfeld seine Schwefelfarben ab, die mit den Küperfarbstoffen zusammen bei Casella vereinigt wurden. Elberfeld spezialisierte sich dafür ganz auf die Herstellung von Pharmazeutika und vor allem auf die pharmazeutische Forschung. Offenbach wurde auf Naphtanol-AS-Produkte spezialisiert, Uerdingen mußte fast alle Farbstoffe abgeben, erhielt dafür aber die Produktion von Anilinöl und substituierten Anilinen. Auch Halle verlor seine sämtlichen Farbstoffe und spezialisierte sich auf Zelluloseveredlung, vor allem auf .Cellophan', daneben u. a. auf Ozalid, ein Lichtpauspapier." — (Bayer 1863—1963. Beiträge zur hundertjährigen Firmengeschichte, o. O., 1963, S. 49. Hier handelte es sich offenbar um eine lange vorher konzipierte Strategie, die jetzt verwirklicht werden konnte.)
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passiv bleiben, sondern ebenfalls aktive und reaktive Einflüsse nicht nur aufeinander, sondern auch auf die beiden Pole wie auf das ganze Bezugssystem ausüben. Die neue Situation, die dadurch gekennzeichnet war, daß die ökonomische und politische Stellung der Monopolbourgeoisie sich gefestigt hatte, wirkte dahin, daß bestimmte Institutionen, in denen die Labilität des Systems in der vorangegangenen Periode ausgedrückt war bzw. die dazu gedient hatten, über diese Periode hinwegzukommen und das System als Ganzes zu erhalten und zu stabilisieren, nunmehr abgebaut werden konnten. Sie waren überflüssig oder störend geworden und machten neuen Methoden Platz. Staat und Monopole wirkten aufeinander und auf die übrige Gesellschaft und Wirtschaft mehr und mehr auf anderen Wegen. Es liegt auf der Hand, daß ein dermaßen kompliziertes Verhältnis sich nicht mit der einfachen Formel von der Zunahme oder Abnahme des staatsmonopolistischen Kapitalismus fassen läßt. Dies gilt auch für die hier zu untersuchende Periode. Eine solche Frage zu beantworten, erscheint um so schwieriger, als zwar über einen der beiden genannten Pole mit Sicherheit ausgesagt werden kann, d. h. wir können zahlenmäßig belegen, daß die konzentrierte und monopolisierte Industrie gewichtiger geworden ist, jedoch die Frage nach dem anderen Pol weitaus vager beantwortet werden muß. Zwar kann auch hier ganz allgemein gesagt werden, daß der Staat, seine Macht und sein Apparat, in der Zeit der relativen Stabilisierung gefestigter als in der vorhergehenden Periode sind, daß staatliche Existenz und Autorität weniger in Frage gestellt sind, jedoch können Quantifizierungen hier nur angedeutet werden. 32 Im großen und ganzen läßt sich immerhin feststellen, daß die gewachsene Macht der Kartelle und Konzerne einerseits, die Stärkung des Staatsapparates andererseits in der Periode der relativen Stabilisierung zusammen mit einer gewissen Konsolidierung der anderen oben genannten Faktoren auf die Entwicklung und die Methoden des staatsmonopolistischen Kapitalismus wirken mußten. Es muß aber noch eine weitere Veränderung berücksichtigt werden, die für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in der neuen Periode bedeutend war. Während in der Zeit unmittelbar nach dem Kriegsende der Staatsapparat in seinen verschiedenen Teilen mindestens in den jeweiligen Spitzen zu erheblich unterschiedlichen Auffassungen darüber neigte, wie und mit welchen Methoden die kapitalistische Reproduktion gesichert werden sollte, änderte sich das jetzt. Während vorher ein Teil des Staatsapparates eine Konzeption mehr oder weniger direkter Eingriffe des Staates in den ökonomischen Ablauf und einen gewissen „Dirigismus" vertrat und durchzusetzen versuchte, war nunmehr, auch wenn es weiterhin zahlreiche unterschiedliche Auffassungen und widersprechende Meinungen zu Einzelfragen gab, die herrschende Grundauffassung die, daß die „Privatwirtschaft nicht bevormundet" werden und ihrer Eigengesetzlichkeit überlassen bleiben sollte. Allerdings war diese theoretische Haltung, die im Grunde noch in der liberalen Anschauung vom wirtschaftlichen Geschehen wurzelte, eigentlich schon überholt und konnte in ihrer reinen Form auch gar nicht mehr praktiziert werden. Andererseits war sie aber auch ein Ausdruck der nach wie vor existierenden Grundlage des Kapitalismus — des Privateigentums an Produktionsmitteln. Sie bleibt unter diesen Bedingungen wohl immer eine spontane Grundtendenz, die zum jeweiligen Zeitpunkt in dem Maße beschränkt wird, wie das im Interesse der Erhaltung des Systems und auf Grund des Kräfteverhältnisses der führenden Monopolgruppierungen, deren konkreten Interessen und Vorstellungen sowie 32 Siehe Tabellen 38 und 39 (S. 93 und 94) dieser Arbeit.
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Der Reproduktionsprozeß 1924 bis 1928
des Eigengewichts des Staatsapparates bzw. der ihn beherrschenden Gruppierungen durchgesetzt wird. 33 Dabei ist nicht zu übersehen, daß unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus der Widerstreit zwischen „dirigistischen" und „liberalisierenden" oder „antietatistischen" ökonomischen Auffassungen das Spannungsverhältnis von staatsmonopolistischer und privatmonopolistischer Regulierung, die auch im hier behandelten Zeitraum die freie Konkurrenz immer mehr zurückdrängte, ausdrückt. Doch führte dies zusammen mit dem von den „antietatistischen" Kräften innerhalb der Bourgeoisie ausgeübten Druck dazu, daß die staatlichen Methoden in der Wirtschaft geändert bzw. Institutionen abgebaut wurden, die in der Nachkriegszeit zu Regulierungszwecken geschaffen worden waren. Ein neues Instrumentarium wurde entwickelt. Dies bedeutete aber keineswegs, daß der Staat darauf verzichtete, in die wirtschaftlichen Abläufe einzugreifen. Es war andererseits aber auch mehr als nur eine Änderung der Methoden. Immerhin hatte man in der vorhergehenden Periode wenigstens zeitweise und streckenweise versucht, allzu drastischen Praktiken bestimmter monopolistischer Industrien, die sie in einem grob und kurzsichtig verstandenen Eigeninteresse übten, zugunsten einer etwas weitsichtiger begriffenen Politik der Erhaltung des Gesamtsystems entgegenzutreten oder sie wenigstens zu mildern. Das Unterfangen, die Preispolitik für wichtige Grunderzeugnisse mittels des Eisenwirtschaftsbundes oder des Reichskohlenrats zu regeln, hatte, so unzulänglich es auch gewesen war, doch wenigstens die Tendenz gezeigt, die Interessen anderer, nichtmonopolistischer Unternehmerschichten zu verteidigen, was eben dazu beitragen sollte, die ökonomischen Grundverhältnisse zu sichern und damit letztlich ebenso den Monopolen selbst diente. Objektiv hatte die besonders labile Lage des deutschen Monopolkapitalismus nach dem Kriege eine solche Politik hervorgebracht, und ihre subjektiven Repräsentanten waren vor allem in den Wirtschafts- und Finanzministerien einiger Nachkriegskabinette zu finden gewesen. Obschon diese Konzeptionen bereits in der alten Periode sukzessive abgelöst wurden und z. B. die Regierung Cuno frei von derartigen Tendenzen agierte, Stresemann seinen Finanzminister Hilferding ausgebootet hatte, der die Beendigung der Inflation damit verbinden wollte, die Zahlungen an die Ruhr-Monopole einzustellen und Steuererhöhungen vorzunehmen, kann doch gesagt werden, daß der eigentliche Wechsel mit dem Übergang zur relativen Stabilisierung endgültig deutlich wurde. Mit der Bildung des Kabinetts Marx waren selbst diejenigen Versuche vorbei, die rheinisch-westfälische Schwerindustrie irgendwie oder irgendwo staatlicherseits etwas zu mäßigen oder sie stärker heranzuziehen, um die finanziellen Probleme des Staates zu lösen. Die Rücksicht auf die Interessen der nichtmonopolistischen Bourgeoisie ließ nach, wenn sie natürlich auch nie ganz aufhören konnte. 33
Im übrigen weist Mottek darauf hin, „daß auch in der Blüte des .liberalen' Kapitalismus in allen Ländern einschließlich Großbritannien die ökonomische Rolle des Klassenstaates keineswegs jenem theoretischen Modell des Liberalismus entsprach, das diese Rolle auf das äußerste beschränkte und bei der Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nur den Markt der freien Konkurrenz als Regulator auf der Grundlage des Wertgesetzes sah." (Mottek, Hans, Zur historischen Entwicklung der ökonomischen Rolle des bürgerlichen Staates bis zum ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 3, S. 67/68.)
KAPITEL 8
Die Wirtschaftspolitik des Staates im Interesse der Monopole
1. Der Abbau der direkten Staatseingriffe Nachdem die Inflation beendet war, setzten sich diejenigen monopolkapitalistischen Kräfte durch, die mit den stabilen Geldverhältnissen verbinden wollten, staatliche Maßnahmen und Aufsichten zu beseitigen, welche sie als schädlich für den kapitalistischen Verwertungsprozeß erachteten. „Dem Versuche der öffentlichen Gewalt, die Volkswirtschaft zu meistern, verdanken wir eine Wirtschaftspolitik, die in den Jahren 1918 bis 1923 dem deutschen Volke lind der deutschen Wirtschaft fast mehr Schaden zugefügt hat als das Diktat von Versailles", schrieb Max Weber und drückte damit im Grunde die Konzeption derjenigen Kreise aus, die ihre ökonomische Macht erweitert reproduzieren und ihr Kapital konzentrieren und zentralisieren wollten, ohne staatlicherseits beschränkt und beaufsichtigt zu werden, ganz gleich zu welchen Zwecken. Die staatliche Politik der nachinflationären Zeit hatte dafür volles Verständnis und ging daran, die sogenannte wirtschaftliche Notgesetzgebung zu beseitigen. Dazu gehörte, daß die Devisenzwangswirtschaft und die Preisüberwachungspolitik abgebaut, die Geschäftsaufsicht und die Außenhandelsbeschränkungen beseitigt wurden. 1 Allein in den Jahren 1922 und 1923 waren 44 Gesetze, Verordnungen und Anordnungen erlassen worden, welche die Devisenwirtschaft betrafen und die Kapitalflucht verhindern sollten. Noch im September 1923 waren durch eine Verordnung des Reichspräsidenten sogar Grundrechte der Verfassung aufgehoben und ein mit weitestgehenden Befugnissen ausgestatteter Kommissar für Devisenerfassung ernannt worden. Später hatte man verboten, Rentenmark auszuführen. Diese Devisenzwangswirtschaft wurde im November 1924 beseitigt. Das Verbot, Reichsmark ins Ausland zu verkaufen, die wichtigsten Beschränkungen beim Erwerb von Devisen, die zwangsweise Exportdevisenablieferung und das Verbot, ausländische Effekten zu erwerben, wurden aufgehoben. Hier bestand ein enger Zusammenhang mit der Beseitigung der Außenhandelsbeschränkungen. Auch die gegen die Kapitalflucht gerichteten Maßnahmen fielen im Dezember. Einige Restbestimmungen beseitigte man in der darauffolgenden Zeit. Auf dem Gebiet der Preisüberwachung, die teilweise noch im Juli 1923 neu gefaßt und verschärft worden war, wurde die volle kapitalistische Freiheit wiederhergestellt. Allerdings blieb die sogenannte Preistreibereiverordnung noch in Kraft, die vor allem den Kleinhandel belastete, da sie ihn zwang, den Verkaufspreisen seiner Waren nicht die Wiedererwerbspreise, sondern die Gestehungspreise zugrunde zu legen. Offensichtlich war diese 1
Pucbert, Bertbold, Regulierung des deutschen Außenhandels nach dem ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 212ff.=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, h. g. v. Jürgen Kuczynski und Hans Mottek, Bd. 9.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Gruppe der Kleinbourgeoisie nicht fähig, ihre Interessen gegenüber den herrschenden Mächten durchzusetzen bzw. wurde von ihnen nicht als genügend wichtig erachtet. 2 Erst durch ein Gesetz vom 19. Juli 1926 wurden auch die Preistreibereiverordnung und die Preisprüfungsstcllen aufgehoben. Zu den Einrichtungen, die nach der Stabilisierung beseitigt wurden, gehörte die Geschäftsaufsicht zur Abwendung des Konkurses. Die am 8. August mittels Verordnung eingeführte Geschäftsaufsicht sollte dazu dienen, zum Kriegsdienst eingezogene Unternehmer, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkamen, vor Konkurs und Zwangsvollstreckung zu bewahren. Nach Kriegsende wurde die Institution beibehalten und konnte von jedem Schuldner beansprucht werden, der nachwies, daß seine Notlage durch die Folgen des Krieges verursacht war. Mit der Kreditknappheit nach der Stabilisierung stieg die Zahl der Geschäftsaufsichten rapide (Tab. 54). Tabelle 54 Gescbäftsaufsiebten 1914/15 1916 1917 1918 1919 1209
3865 1029 463 235 172 231
1914/15-1926 1921 1922 1923 1924 1925 1926
516 132 163 7111 6052 7454
Quelle: Wirtschaft und Statistik 1926, S. 940; 1927, S. 558.
Zu den Kräften, die gegen die Geschäftsaufsicht Sturm liefen, gehörte vor allem die Reichsbankleitung, da die Geschäftsaufsicht den Intentionen der Monopole, die sich in dem Konzept Schachts für eine stärkere Konzentration und Zentralisation in der kapitalistischen Wirtschaft ausdrückten, offensichtlich entgegenstand. Man argumentierte, daß die Geschäftsaufsicht den Reinigungs- und Ausmerzungsprozeß aufhalte und daran hindere, normale Kreditverhältnisse wieder aufzubauen. 3 Im Sommer 1924 wurden so zunächst die Bedingungen für die Geschäftsaufsicht verschärft, ihre Gültigkeit auf drei Monate beschränkt und die Veröffentlichung der betroffenen Firmen eingeführt. 1927 löste der Vergleich zur Abwendung des Konkurses die Geschäftsaufsicht endgültig ab. Für eine so stark mit dem Weltmarkt verflochtene Wirtschaft wie die deutsche waren staatliche Außenhandelsbeschränkungen natürlich sehr gewichtig. Das umfangreiche System der Aus- und Einfuhrverbote, das während der Kriegs- und Inflationszeit und zum großen Teil bedingt durch die Beschränkungen des Versailler Vertrages für den deutschen Außenhandel gültig war, wurde daher nach der Stabilisierung bzw. nachdem die auf fünf Jahre befristeten Beschränkungen erloschen waren, ebenfalls abgebaut. 4 So fiel der größere Teil der Einfuhrverbote, die immerhin 340 Waren oder Warengruppen betroffen hatten, am 1. Oktober 1925, als der neue Zolltarif eingeführt wurde. Im Juli 1924 hatte man schon einmal die Getreideausfuhr freigegeben, doch als dann, zusammenhängend mit der schlechten Ernte dieses Jahres, die Getreidepreise so stark anHopp, Die den Handel noch immer einengenden Zwangsvorschriften, in: Deutsche Wirtschaftszeitung, Nr. 9/1925, S.209f. 3 Frankfurter Zeitung v. 31.3.1924, Kommunique des Zentralausschusses der Reichsbank. < Pucbert, Bertbold, a. a. O., S. 199ff. 2
129
Die Steuerpolitik
2ogen, daß der Roggenpreis von Ende Juni 1924 bis Anfang Oktober sich fast verdoppelte 5 , wurde Mitte September die Getreideausfuhr erneut gesperrt. Bald darauf gingen die Getreidepreise wieder zurück. Endgültig fielen dann die Getreideausfuhrverbote im August 1925, nachdem schon im März des gleichen Jahres das Ausfuhrverbot für Vieh beseitigt worden war.
2. D i e Steuerpolitik — F ö r d e r u n g der großkapitalistischen A k k u m u l a t i o n Mit der Reform der Reichsfinanzen in den Jahren 1919/20, die mit dem Namen des Finanzministers der Regierung Bauer, Erzberger, verknüpft ist, war die Finanzhoheit von den Einzelstaaten auf das Reich übertragen worden. Mit der Reichsfinanzverwaltung wurde eine gewaltige Organisation aufgebaut, die um 1929, obwohl auch dann noch nicht endgültig fertig, nach den Angaben des damaligen Reichsfinanzministers einen Apparat von rund 88000 Beamten, Angestellten und Arbeitern beschäftigte. 6 D a ß man die zentrale Finanzverwaltung schuf, war der entscheidende Schritt dazu, das Steuersystem zu vereinheitlichen und die großen regionalen Unterschiede in der Steuererhebung zu überwinden. Diese Unterschiede waren in den deutschen Staaten erheblich geworden. Zum Beispiel waren von der Einkommensteuer befreit gewesen die Bezieher von Einkommen bis bis bis bis bis
zu 400 M jährlich zu 900 M jährlich zu 1000 M jährlich zu 1200 M jährlich zu 1500 M jährlich
in in in in in
Oldenburg Preußen Hamburg Anhalt Mecklenburg-Strelitz. 7
Dazu kamen unterschiedliche Höchsttarife zwischen 4 und 9 % sowie schwankende kommunale Zuschläge, so daß die Einkommen innerhalb des Reichsgebietes außerordentlich verschieden besteuert worden waren. E s war daher eine längst fällige Frage des einheitlichen nationalen Marktes, das Steuersystem zu vereinheitlichen und damit die Verwertungsbedingungen des Kapitals im ganzen Lande anzugleichen. Gleichzeitig sollte sich der Anteil der öffentlichen Hand am Sozialprodukt erhöhen, was man durch höhere Tarife bei der ursprünglich während des Krieges als „vorübergehende" Steuer eingeführten Umsatz- und der Einkommensteuer zu erreichen suchte. Mittels E r b schaftssteuer, die bereits 1909 zur Debatte gestanden hatte, damals jedoch zu Fall gebracht worden war, und durch ein sogenanntes Reichsnotopfer sollte der Besitz stärker herangezogen werden — Steuermaßnahmen, die unter dem Eindruck der noch nicht völlig überwundenen revolutionären Massenstimmung zustandegekommen waren. 8 Daneben belastete die Erzbergersche Reform auch schon die Werktätigen erheblich, indem die Lohnsteuer eingeführt und die indirekten Steuern angespannt wurden. 9 5 Wirtschaftsdienst 1924, Nr. 4, S. 1381. Köhler, Heinrich, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878—1949, Stuttgart 1964, S. 194. ' Fit^au, Jennie, Der soziale Gedanke in der deutschen Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung der Reichsbesteuerung, Diss. Hamburg 1928, S. 20. 8 Die höhere Besteuerung des Besitzes in dieser Phase sollte auch die Sozialisierungsdemagogie der herrschenden Kreise unterstützen. So erklärte Finanzminister Erzberger: „Gerechte Steuern stellen eine rasch wirkende vorzügliche Sozialisierung dar." (Erzberger, Matthias, Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens, Berlin 1919, S. 5.) 9 Die vor allem von den breiten Massen aufzubringenden indirekten Steuern hatten in Deutschland eine 6
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Tatsächlich jedoch machte teils die fortschreitende Inflation, teils der Widerstand der Bourgeoisie die Absicht zunichte, die staatlichen Einnahmen zu vergrößern. Der reale Wert des Steueraufkommens sank schneller, als die nominelle Erhöhung ausmachte. Das „Reichsnotopfer" z. B. konnte in Raten gezahlt werden, die immer wertloser wurden. Diese Möglichkeit machten sich gerade die Besitzer großer Vermögen zunutze, während die Besitzer kleiner und mittlerer Vermögen oft sofort den ganzen Betrag zahlten.10 Zwar versuchte die Regierung Stresemann noch kurz vor dem Ende der Inflation über eine Steueraufwertungsverordnung die Steuern wertbeständig zu gestalten. Dazu wurden gleitende Goldumrechnungssätze eingeführt. Doch die Mark verfiel so rasch, daß auch dies nichts mehr half. In der Schlußphase der Inflation machte das Steueraufkommen weniger als 3% der Ausgaben des Reiches aus.11 Nach der Stabilisierung ging man unverzüglich daran, die leere Staatskasse wieder zu füllen. Dies geschah unter dem deutlichen Zeichen restaurierter und gestärkter monopolkapitalistischer Macht und einer gewachsenen Umverteilungsfunktion des Staates. Während 1913 die Steuern 10,9% des Volkseinkommens ausgemacht hatten, war ihr Anteil 1924 auf mindestens 27,7% angewachsen.12 Dies bedeutete, daß die Steuern ungleich wichtiger für den Reproduktionsprozeß wurden. Die gewachsene Rolle der Steuern ergab sich daraus, daß mit der Zunahme der nominellen Belastung das Interesse des Kapitals wuchs, die höhere Belastung durch ein steuerliches Vergünstigungssystem zu kompensieren, einen möglichst großen Teil des Profits vor dem staatlichen Umverteilungsprozeß zu bewahren, um darüber individuell verfügen zu können. Gleichzeitig machte die neue Quantität der Steuern sie auch zu einer neuen Qualität, insofern als es möglich und notwendig wurde, ihren Einfluß auf die Reproduktion zu berücksichtigen und bewußt auszunutzen.13 Dies geschah jedoch vor allem unter dem Gesichtspunkt schnellen kapitalistischen Wachstums. Die Steuerpolitik wurde nunmehr zu einem Instrument, das die Akkumulation der Kapitale, insbesondere des Großkapitals, unterstützen und fördern sollte. Dabei kam sie einem objektiven Bedürfnis der an Kapitalknappheit leidenden und im scharfen Konkurrenzkampf mit den ausländischen Produzenten stehenden deutschen Unternehmer entgegen. Soziale Gesichtspunkte, die in der ersten Zeit nach der Revolution eine gewisse Rolle in der Steuergesetzgebung gespielt hatten, wurden nun außer Kurs gesetzt, doch konnte nicht völlig verhindert werden, daß die Maßstäbe der Erzbergerschen Reform noch nachwirkten. Die wiedererstarkte Großbourgeoisie sah sich aber nicht mehr veranlaßt, die sozial schwachen Schichten des Volkes zu berücksichtigen, sondern setzte eine Steuergesetzgebung durch, die eindeutig den Besitz begünstigte. alte Tradition. Schon 1422 war in Brandenburg eine Auflage auf das Bier eingeführt worden, die allerdings noch eine Transportsteuer war. Ihr waren andere Abgaben, wie die von der Kirche erhobenen „Bierpfennige" vorausgegangen. 1488 führte Kurfürst Johann die Bierakzise ein, was allerdings in manchen Gegenden zum Aufruhr führte (z. B. in Salzwedel). (¡Sellstedt, Christoph, Die Steuer als Instrument der Politik, Berlin 1966, S.31f.) 10 Dieckmann, Hildemarie, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin i960, S. 24. « Luther, Hans, Politiker ohne Partei, Stuttgart 1960, S. 218. 12 Ebenda, S. 244. 13 „Überschreiten die Steuern wie überhaupt die staatlichen Finanzen im Verhältnis zu den privaten Finanzen eine bestimmte Größe, so nehmen sie im Wirtschaftsablauf keine neutrale Stellung mehr ein." ( P r o f i t besteuerung und Regulierung der Kapitalakkumulation, Grundlagen, Funktionen und Auswirkungen der Kapitalbesteuerung, eines wichtigen Elements des staatsmonopolistischen Regulierungssystems, in: DWIForschungshefte, Nr. 3/1968, S. 16.)
Die Steuerpolitik
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Bereits die ersten Maßnahmen der Regierung des Zentrumsvorsitzenden Marx, die ihr Amt im November 1923 antrat, zielten darauf ab, die großen Kapitale zu bevorzugen. Hier zeigte sich eine Tendenz, die vor dem Kriege infolge des starken Einflusses der Junker, die auf eine höhere Besteuerung des Kapitals drängten und dabei durch ähnliche Auffassungen in der staatlichen Bürokratie unterstützt wurden, sich so deutlich nicht hatte durchsetzen können. Während einerseits die Ausgaben des Staates rigoros eingeschränkt wurden und z. B. die Bautätigkeit der Reichsverwaltung fast völlig eingestellt wurde, man trotz steigender Arbeitslosigkeit die Mittel für die Erwerbslosenfürsorge nicht über die im provisorischen Haushalt vorgesehene Summe von 340 Millionen RM erhöhte, sondern die Unterstützungssätze drastisch kürzte, wurde das Großkapital stark begünstigt. Die Regierung vertrat die Ansicht, „daß die durch die Inflation weitgehend verlorengegangene Rationalität und Rentabilität des Wirtschafts-, insbesondere aber des Produktionsapparates von den Wirtschaftlern wiederhergestellt werden müßte und der Staat diesen Vorgang nicht hemmen sollte".14 Indem man den Reichstag ausschaltete und sich auf den Artikel 48 der Reichsverfassung berief, wurden wichtige Steuerregelungen mit Hilfe von Notverordnungen vorgenommen und der Besitz außerordentlich niedrig veranlagt. Ausdrücklich wandte sich Finanzminister Luther dagegen, daß der Vermögenstarif progressiv gestaltet würde. 15 Während ein Millionär nach dem alten Steuergesetz von 1922 maximal 3% Vermögenssteuer zu zahlen hatte, waren es nun nur noch 0,75%. Jedoch waren die kleinen und mittleren Vermögen jetzt stärker belastet. Um den Konzentrationsprozeß zu beschleunigen und die Rentabilität größerer Unternehmen zu begünstigen, wurde die Gesellschaftssteuer von 7,5 auf 4% erheblich gesenkt. Die Umsatzsteuer, durch welche die Kaufkraft der Mehrheit der Bevölkerung getroffen wurde, erhöhte man dagegen von 2 auf 21/2% ab 1. Januar 1924. Damit war der höchste Satz dieser, im allgemeinen mehr oder weniger über den Preis auf die Konsumenten abgewälzten Steuer erreicht, der je in der Weimarer Republik festgelegt wurde. Sie war für jene Unternehmen vorteilhaft, die mehrere Produktions- und Zirkulationsstufen in sich vereinigten, da diese die entsprechenden Umsatzphasen und die darauf entfallenden Umsatzsteuern einsparen konnten. Dies betraf vor allem die vertikalen Monopole. Außerdem wurden die Verbrauchssteuern für Zucker, Salz und Zündwaren usw. hochgeschraubt. Die sogenannten Verbrauchssteuerfonds, die bisher Mittel für soziale Zwecke abgaben, wurden vom Finanzminister gesperrt. Daß die Steuerquellen deutlich zuungunsten der besitzlosen Massen verlagert wurden, ergibt sich aus der Aufstellung der Tabelle 55. Die Vermögensbesteuerung war 1924 verglichen mit 1920 ganz entschieden geringer, vor allem, weil die einmaligen Steuern fortgefallen waren. Aber auch die Einkommenssteuer mußte, was aus der Tabelle nicht hervorgeht, 1924 in viel höherem Maße von den Lohn- und Gehaltsempfängern getragen werden als in der Zeit vorher. Nachdem man 1920 die Einkommensteuer erheblich erhöht hatte, war es der Bourgeoisie bereits gelungen, eine Aufspaltung der Profitsteuern zu erreichen, indem sie für das Gesellschaftskapital eine von der Einkommensteuer abgezweigte Körperschaftssteuer durchsetzte. Dies ermöglichte den H Baumgarten, Dietrich, Deutsche Finanzpolitik 1924/28, Diss. Freiburg/Brsg. 1965, S. 8. 15 Krobn, Claus-Dieter, Stabilisierung und ökonomische Interessen. Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches 1923/1927, Düsseldorf 1974, S. 42.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Tabelle 55 Anteile der Steuergruppen am Steueraufkommen Haushalt 1920 Vermögensbesteuerung Einkommensbesteuerung Verbrauchsbesteuerung Kohlensteuer Verkeh rsbesteuerung
Steueraufkommen 1924 27,4% 35,7%
11.8% ».4% 4.6%
Vermögensbesteuerung Einkommensbesteuerung Verbrauchsbesteuerung Umsatzsteuer Verkehrsbesteuerung
8.2% 34,5% 21.3% 26.2% 9.8%
Zusammengestellt nach: Fit^au, Jennie, Der soziale Gedanke in der deutschen Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung der Reichsbesteuerung, Diss. Hamburg 1928, S. 26 bzw. 34.
Erwerbsgesellschaften, ihre Profite erheblich geringer zu versteuern. Während noch zu Beginn des Jahres 1924 die Lohnsteuer 1 3 , 6 % des Gesamtsteuerertrags brachte, waren es im neuen Haushaltsjahr 18,2%. Das Verhältnis von Lohnsteuer zu veranlagter Einkommenssteuer, das vorher 3 : 3 betragen hatte, betrug nunmehr 3 : 2 . Dabei muß berücksichtigt werden, daß bereits 1922 eine zweite große Steuerreform nach dem Kriege stattgefunden hatte, der sogenannte Steuerkompromiß vom April 1922, bei dem die Bourgeoisie die gegenüber 1919 geänderte Situation schon zu unsozialen Verschiebungen in der Steueraufbringung genutzt hatte. 1 6 V o m gesamten Steueraufkommen des Rechnungsjahres 1924 1 7 kamen mehr als zwei Drittel aus solchen Steuern, die von der Mehrheit der Bevölkerung getragen werden mußten. Die genaue Verteilung der Ist-Einnahmen in Höhe von 7 3 0 4 1 3 1 , 5 Mill. R M ist der Tabelle 56 zu entnehmen. Aus dieser Aufstellung geht hervor, daß allein die Lohnsteuer fast ebensoviel wie Einkommenssteuer, Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer zusammen erbrachte. 18 Die Steuerpolitik wurde in den nächsten Jahren zu einem wichtigen Instrument staatsmonopolistischer Aktivität. 1 9 „Pauschal erleichterte Steuerabschlagszahlungen für die Wirtschaft, minimale Aufwertung und eine völlig unzulängliche Inflationsgewinnbesteuerung als besonderes Geschenk an den Sachwert auf Kosten des Mittelstandes und der kleinen Sparer, das war der Inhalt der „Steuersymphonien", mit denen das Kabinett Marx die Stabilisierung über den Haushalt abzusichern suchte." 2 0 Während man die Umsatz- und Verbrauchssteuern erhöhte, wurde gleichzeitig die Erwerbslosenfürsorge unter das Existenzminimum gedrückt und wurden andere soziale Ausgaben völlig gestrichen. Die Politik, das Großkapital steuerlich zu begünstigen, wurde auch in den nächsten Jahren fortgesetzt. 16 17 18
19
Fitzau, Jensie, a. a. O., S. 26ff. Das Haushaltsjahr begann in diesen Jahren am 1. April und endete mit dem März des folgenden Jahres. Charakteristisch dafür, wie die Erbschaftssteuer gehandhabt wurde, war, daß von der Gattin und Universalerbin des im April 1924 verstorbenen reichsten Mannes Deutschlands, Hugo Stinnes, kein Pfennig Erbschaftssteuer gezahlt zu werden brauchte. Laut Steuergesetz von 1922 und 2. Steuernotverordnung waren nämlich Ehegatten nur steuerpflichtig, wenn eine Ehe weniger als 5 Jahre bestanden hatte und der Altersunterschied 20 Jahre betrug. „Trotz des weit höheren Ausmaßes der Steuern gegenüber der Vorkriegszeit blieb es noch hinter dem der englischen und amerikanischen Steuern zurück." (Mottek, Hans/Becker, Walter)Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3: a. a. O., S. 258.)
» Krobn, Claus-Dieter, a. a. O. S. 52.)
Die Steuerpolitik
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Tabelle 56 Verteilung der Steuereinnahmen im Haushaltsjahr 1924 A. Belastung des Besitzes
Steuersumme in Mill. RM
Vermögenssteuer nebst Zuschlag Erbschaftssteuer Einmalige Steuern Veranlagte Einkommenssteuer Abzüge von Kapitalerträgen Körperschaftssteuer Verkehrssteuern Erhöhte Umsatzsteuer B. Belastung der Gesamtheit Lohnsteuer Allgemeine Umsatzsteuer Zölle Tabaksteuer Getränkesteuer Zuckersteuer Sonstige Verbrauchsabgaben
499,0 26,0 78,8 862,4 19,1 313,8 715,6 119,1 2633,8 1329,1 1794,5 356,4 513,1 431,1 217,6 28,5 4670,3
Anteil am Gesamtsteuerertrag 6,8% 0,3% 1.1% ".7% 0,3 4.3% 9.8% 1.6% 35,9«/, 18,2% 24,6% 4,9% 7 % 6 % 3 % 0.4% 64,1%
Quelle: Fit%au, Jennie, Der soziale Gedanke in der deutschen Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung der Reichsbesteuerung, Diss. Hamburg 1928, S. 33.
Bei der Körperschaftssteuerermittlung 1924 konnten die Gesellschaften selbst wählen, ob auf der Grundlage der Betriebseinnahmen oder des Vermögens berechnet werden sollte. Die Vermögenssteuerermittlung erfolgte während einer Baisse auf Grund der Aktienkurse, und zudem wurde es den Börsenvorständen überlassen, die sogenannten Steuerkurswerte festzulegen. Das hieß, die Steuerpflichtigen konnten selbst die Besteuerungsgrundlagen bestimmen. So brauchte die Hamburger Werft Blohm und Voss ihren Abgaben nur ein steuerpflichtiges Vermögen von 5 Millionen RM zugrundezulegen, obgleich ihr nominelles Aktienkapital mehr als das neunfache dieser Summe betrug. Bei einem Vermögenssteuersatz von 0,75% ergab sich hier ein Steuerbetrag von 37000 RM, d. h. nuf 0,08% des Nominalkapitals. Daß die Betriebsvermögen so niedrig veranlagt wurden, hing teilweise mit der Reparationspolitik des deutschen Monopolkapitals zusammen. Die Alliierten forderten, daß die deutsche Industrie zu den Jahresleistungen herangezogen werden sollte. Monopolbourgeoisie und Regierungsbürokratie waren gemeinsam daran interessiert, die geforderten Leistungen als unzumutbar hinzustellen. So gelang es, das deutsche Industrievermögen durch das Reichswirtschaftsministerium über die Steuerkurse so zu berechnen, daß man „beweisen" konnte, daß dieses Vermögen von 42 Milliarden Mark in der Vorkriegszeit auf 26 Milliarden zurückgegangen sei. Zahlreiche weitere Vergünstigungen, vor allem zugunsten der Landwirtschaft und der großen Kapitale, führten sogar dazu, daß die Landesfinanzämter sich beim Reichsfinanzministerium über die zu niedrigen Zahlungen beklagten. Die nach dem Vermögen Körperschaftssteuer zahlenden Kapitalgesellschaften brauchten nur ein Drittel bis ein Zehntel der Beträge zu entrichten, die von vergleichbaren Betrieben gezahlt wurden, die auf Grund der Roheinnahmen besteuert wurden.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Daß das Großkapital so auffällig bevorzugt wurde, genügte den industriellen Interessenverbänden offenbar noch immer nicht, und sie drängten darauf, die Steuern weiter zu mindern. Allein von April bis Anfang Juni 1924 reichten sie 63 Eingaben ein, in denen verlangt wurde, die Steuern stärker herabzusetzen. Der RDI fand sogar, daß es unbillig wäre, von der notleidenden Industrie überhaupt Steuern zu fordern. 21 So wurden im September und November 1924 die Kapitalverkehrssteuern, die Gesellschaftssteuer und die Wertpapiersteuer stufenweise drastisch gesenkt. Dies geschah durch Notverordnungen, also wieder indem der Reichstag übergangen wurde. 22 Man ermäßigte auch die Umsatzsteuer von 2,5% auf 2 % und im November weiter auf 1,5%. Dies sollte preissenkend wirken, was jedoch nicht eintrat, ebensowenig wie bei den späteren Senkungen im Oktober 1925 auf 1% und ab April 1926 auf 0,75%. Die den Verbrauchern vorenthaltenen Vorteile der Umsatzsteuersenkungen wurden wahrscheinlich von den Unternehmen genutzt, um den Manipulationsspielraum zwischen Export- und Inlandspreisen zu vergrößern. Da Exportwaren ohnehin nicht umsatzsteuerpflichtig waren und die Exporteure dahin tendierten, zu Dumpingpreisen auszuführen, konnten die Exportpreise weiter gesenkt werden, während man sich an den Inlandspreisen schadlos hielt. Das heißt, die Offensive der deutschen Exportindustrien, die dazu führen sollte, die Auslandsmärkte zurückzugewinnen, wurde praktisch von den inländischen Konsumenten bezahlt. Nachdem im Januar 1925 ein neues, weiter nach rechts gerücktes Kabinett unter dem bisherigen Finanzminister Luther gebildet worden war, wurde die kapitalbegünstigende Steuerpolitik noch eindeutiger. In das Kabinett waren die Deutschnationalen eingetreten und hatten gerade die drei ökonomisch entscheidenden Ministerposten (Wirtschaft, Landwirtschaft und Finanzen) besetzt. Der von der DNVP vertretene reaktionärste Flügel des Monopolkapitals und die Großagrarier konnten jetzt neben den schon vorher wirkenden Einflüssen, besonders der dem Großkapital verbundenen DVP, die staatliche Macht noch besser für ihre Zwecke einsetzen. Dies zeigte sich deutlich in den Verhandlungen über die Aufwertungsproblematik, wo die Regierung vor allem Vorstellungen entwickelte, die das Großkapital begünstigten und die Interessen der kleinen Sparer und Gläubiger hintansetzten. Auch bei der Zollvorlage wurde deutlich, daß die kombinierten Forderungen der Agrarier mit denen der Großindustrie bestimmend waren. Besonders eng arbeitete die Regierung anläßlich der neuen Steuergesetzentwürfe mit den großen Interessenten zusammen. Ministerialdirektor Popitz, der eigentliche Kopf und wichtigste Mann im Reichsfinanzministerium, hatte bereits im Dezember einseitig mit den Unternehmerverbänden über den neuen Steuergesetzentwurf verhandelt. 23 Zwar hatten die Reparationsgläubiger bereits festgehalten, „daß die reicheren Klassen in Deutschland in den letzten Jahren von dem in Kraft befindlichen Steuersystem nicht in angemessener Weise erfaßt worden waren" 24 , doch wurden dessenungeachtet die Einkommensteuer stark ermäßigt, die Kapitalertragssteuer gänzlich beseitigt, die Kapitalverkehrssteuern herabgesetzt ebenso wie die Vermögenssteuer, und die neue Körperschaftssteuer so wenig belastend für das Kapital 21 Ebenda, S. 103. „Verordnung des Reichspräsidenten über wirtschaftlich notwendige Steuermilderungen" vom 14.9.1924. RGß/1,1924, S. 707ff., sowie „Zweite Verordnung ...", Reichsgesetzblatt 1,1924, S. 737ff. 2 3 In diesem Zusammenhang muß auf die besonders starke Stellung des Reichsfinanzministers im Kabinett hingewiesen werden, der nicht einfach „Gleicher unter Gleichen" war, sondern der nur dann von der Mehrheit des Kabinetts überstimmt werden konnte, wenn der Kanzlet mit dieser Mehrheit war. 2i Die Sachverständigengutachten vom 9.4.1924, Berlin 1924, S. 63. 22
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Die Steuerpolitik
gestaltet wie nur möglich. 25 Die gesamte unter dem deutsch-nationalen Finanzminister Schlieben erfolgende Steuerreform sollte, wie Popitz formulierte, „erreichen, daß die deutsche Wirtschaft sich wieder entwickeln kann, daß vor allem sich wieder Vermögen bilden, die in dieser deutschen Wirtschaft arbeiten können." 26 Die Konzeption, die Kapitalbildung zu erleichtern, die größeren Unternehmen vielseitig zu begünstigen und die Reparationskosten von den „kleinen Leuten" tragen zu lassen, war offensichtlich. Dazu erhöhte man u. a. die Bier- und Tabaksteuern 27 , deren Erträgnisse auf Grund des Dawesplans teilweise verpfändet waren. Gerade die billigsten Tabakwaren wurden am stärksten besteuert, während man andererseits die Steuer auf den von wohlhabenden Kreisen konsumierten Wein ermäßigte und dann ganz aufhob. Die Tabaksteuer, so wie sie gehandhabt wurde, wirkte konzentrationsfördernd, da die auf billige Sorten spezialisierten kleineren Unternehmen der Industrie schwerer getroffen wurden als die Konzerne, die eine breite Angebotspalette erzeugten und so in der Lage waren, die entstandenen Lasten besser zu verteilen. 28 Nach dem Reichshaushaltsplan für 1925 erfolgte die Verteilung auf die einzelnen Steuergruppen wie in den Tabellen 57 und 58 angegeben. Tabelle 57 Steuereinnahmen nach Steuergruppen Vermögensbesteuerung Einkommensbesteuerung Verbrauchsbesteuerung Umsatzsteuer Verkehrsbesteuerung
(in
Prozent) 6,6 33,9 29,1 19,5 9,8
Quelle: Fit^au, Jennie, Der soziale Gedanke in der deutschen Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit unter besonderer Berücksichtigung der Reichsbesteuerung, Diss. Hamburg 1928, S. 35/36.
Obwohl die erwähnten Steuerveränderungen sich in dieser Aufstellung noch nicht voll geltend machen, ist bereits deutlich, daß sich das Verhältnis noch mehr zugunsten des Besitzes verschoben hatte. 29 Kaum in einer anderen Sphäre und Periode drückte sich der Klassencharakter des Weimarer Staates deutlicher aus als in der Steuerpolitik des ersten Kabinetts Luther. Die sozialen Zugeständnisse, die während der revolutionären Nachkriegsjahre auf steuerlichem 25
26 27 28
29
Zwar wurden nun nicht mehr — wie bis dahin — einbehaltener und ausgeschütteter Gewinn unterschiedlich besteuert und der gesamte Gewinn mit einem Proportionalsatz von 20 Prozent steuerlich belastet, doch waren dies nur 50% des maximalen Satzes der Einkommenssteuer, der ab 80000 RM Einkommen angewandt wurde. (Profitbesteuerung und Regulierung der Kapitalakkumulation, a. a. O., S. 17.) Krobn, Claus-Dieter, a. a. O., S. 153. Die erhöhte Biersteuer trat erst am 1.1.1927 in Kraft. „Das Gesetz über Erhöhung der Tabaksteuer vom 10. August 1925 trifft diejenigen Fabriken am schwersten, welche den Massenkonsum befriedigen. Bei einer steuerlichen Belastung von 62y 2 % ist eine 3-Pfg. Zigarette im bisherigen Format nicht mehr herzustellen. Bei einer Heraufsetzung der Preise auf 4 Pfg. das Stück ist die Fabrikation nur rentabel, wenn gleichzeitig an Aufmachung, Gewicht und Qualität des Tabaks gespart wird." {Haue/, Wilhelm, Die Besteuerung des Tabaks in Deutschland, Diss. Hamburg 1926, S. 110/111.) Berücksichtigt man die Landes- und Gemeindesteuern, so verschieben sich, wie Fitzau meint, die Proportionen zwar etwas, doch sind dahingehende Berechnungen wenig aussagekräftig, da eine genaue Einteilung in Belastung des Besitzes und der Gesamtheit hier noch schwieriger ist als bei den Reichssteuern. Der deutliche Trend, den Besitz zu begünstigen, würde sich auch hierdurch nicht ändern.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Tabelle SS Verteilungder Steuereinnahmen im Haushaltsjahr 1925 Belastung des Besitzes
Vermögenssteuer Erbschaftssteuer Veranlagte Einkommenssteuer Abzüge von Kapitalerträgen Körperschaftssteuer Verkehrssteuern Erhöhte Umsatzsteuer Belastung der Gesamtheit Lohnsteuer Allgemeine Umsatzsteuer Zölle Tabaksteuer Getränkesteuer Zuckersteuer Sonstige Verbrauchsabgaben
in Mill. RM
270,4 27,3 803,3 82,4 186,5 679,2 77,2
Anteil am Gesamtsteueraufkommen 4,0% 0,4% 11.8% 1.2% 2.7% 10 % 1,2%
2186,8
31,3%
1367,2 1338,3 590,4 615,8 489,1 236,2 31,2
20,1%
4668,2
68,7%
19,7% 8,7% 9 % 7.2% 3,5% 0.5%
Quelle: Fitzau, Jennie, Der soziale Gedanke in der deutschen Steuergesetzgebung der Nachkriegszeit, unter besonderer Berücksichtigung der Reichsbesteuerung, Diss. Hamburg 1928, S. 36.
Gebiet in der Erzbergerschen Reform wenigstens andeutungsweise enthalten waren, allerdings von der Großbourgeoisie und den Monopolen mit Hilfe der Inflation völlig unwirksam gemacht werden konnten, verschwanden in der neuen Phase ganz. Vielmehr wurde eine umgekehrte Steuerpolitik wirksam, die denjenigen, die nichts oder wenig hatten, auch dies wenige noch zu nehmen suchte und es den Besitzenden gab. Das heißt, daß nicht nur die überkommenen Besitzverhältnisse restauriert, sondern auch die in der Inflationszeit ungeheuer verschärfte Ungleichheit durch die Steuerpolitik sanktioniert und gefördert wurde. Der Staat trat nicht als Anwalt der sozial Schwächeren auf, der um die Wohlfahrt aller Staatsbürger besorgt ist, sondern als Sachwalter der Mächtigen und Reichen, als aktiver Akkumulationshelfer. Gelegentliche kleinere soziale Zugeständnisse in Steuerfragen, wie etwa, daß man die Freibeträge bei der Lohnsteuer geringfügig heraufsetzte, waren unbedeutend. Die Regierung stemmte'sich vielmehr hartnäckig und erfolgreich dagegen, die Lebensmittel von der auf die Endverbraucher abgewälzten Umsatzsteuer zu befreien, wie es von den Gewerkschaften gefordert wurde. Sie lehnte auch ab, die von den Mietern als Teil des Mietbetrags zu entrichtende Hauszinssteuer zu beseitigen. Eindeutig verteidigte der Staat nicht nur die Privilegien der großen Kapitalbesitzer, sondern suchte den Akkumulations- und Konzentrationsprozeß des Kapitals zu fördern. Dieses Ziel konnte kaum jemand besser ausdrücken als der Reichsbankpräsident Schacht, der im Januar 1924 gegenüber dem englischen Botschafter erklärte: „Das alte System der unzähligen kleinen Firmen, die miteinander konkurrieren und Waren erzeugen, die kein Absatzgebiet finden, muß grundlegend geändert werden. Wir haben hier in Deutschland große Fortschritte zu verzeichnen. In den letzten Wochen hat eine Annäherung der Stahl-
Die Steuerpolitik
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interessen stattgefunden, und die chemischen Industrien haben sich bereits zusammengeschlossen. Die Kaliindustrie hat sich durch Fusion und Zusammenschluß gerettet, aber es muß noch viel geschehen. Was hat es für einen Sinn, achtunddreißig kleine Automobilfirmen bestehen zu lassen, die erbittert miteinander konkurrieren und mit ungeheuer hohen Herstellungskosten arbeiten?" 30 Bekanntlich hat Marx nachgewiesen, daß die kapitalistische Akkumulation und Konzentration sowie der Prozeß der Zentralisation der Kapitale das Monopol hervorbringen. Die Monopole entstehen aus dem kapitalistischen Konkurrenzkampf. Dies ist eine der kapitalistischen Produktionsweise immanente Gesetzmäßigkeit. Doch was die Herrschenden in Deutschland taten, war, daß sie diese objektive Gesetzmäßigkeit quasi zum Gesetz staatlichen Handelns erhoben und den Monopolisierungsprozeß künstlich forcierten. Während in vielen kapitalistischen Staaten unter dem Druck der mittleren Unternehmerschichten und anderer betroffener Volksteile es mindestens die offiziell erklärte Politik war, den Prozeß der Vertrustung und Kartellierung zu verhindern oder wenigstens zu erschweren, und auch in Deutschland eine erst im November 1923 beschlossene Kartellverordnung bestand 31 , handelte die Regierung genau entgegengesetzt und tat alles, um die Macht der Monopole zu stärken. Natürlich vermied man es, sich öffentlich so unverblümt zu äußern, wie es Schacht gegenüber dem britischen Botschafter getan hatte, öffentlich bediente man sich der Formel vom „Schutz des Mittelstandes" und ähnlicher verbaler Köder für die Mittelschichten. Man verschwieg oder vertuschte dort, was man unter Eingeweihten offen aussprach und in der wirtschafts- und steuerpolitischen Realität zu praktizieren suchte, sofern und soweit es gelang, den Widerstand der betroffenen Schichten zu überspielen. Derartige Doppelzüngigkeiten gehörten und gehören ebenso zur staatsmonopolistischen Manipulation wie jene begrenzten sachlichen Zugeständnisse, die je nach der Situation weiter oder enger gefaßt, gleichfalls das System erhalten oder stabilisieren sollen. Sie ergeben sich daraus, daß neben den Monopolen auch andere gesellschaftliche Kräfte existieren, mit denen die Herrschenden zu rechnen haben, und die teilweise sogar in die staatliche Spitze hineinreichen. Verbale Manipulation ebenso wie Zugeständnisse sollen die Monopolherrschaft verbrämen, nicht sie beeinträchtigen. Für den erreichten Fortschritt bei der Machtbefestigung des Monopolkapitals in der seinerzeitigen Phase aber zeugt es, daß man auf sachliche Zugeständnisse weitgehend zu verzichten können glaubte. 30 D'Atemos, Edgar Vincent, Ein Botschafter der Zeitenwende, Bd. 3, Berlin 1930, S. 257. Die „Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung" vom 2. November 1923", kurz „Kartellverordnung" genannt, enthielt zwar verschiedene Bestimmungen, die den Monopolisierungsprozeß behindern konnten, doch wurde die ohnehin nur als politisches Beruhigungsmittel erlassene Verordnung durch das Kartellgericht in kartellfreundlicher Weise gehandhabt. (Roth, Hermann, Die Kartellverordnung vom November 1923 und ihre Bonner Variante, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1962, T. 4, S. 11 ff.) Roth zitiert u. a. Äußerungen führender Persönlichkeiten, aus denen hervorgeht, daß die Kartellgesetzgebung tatsächlich nur ein formales Zugeständnis an Monopolgegner war und nicht wirklich durchgesetzt werden sollte. Dazu auch: Scbarnweber, Carsten, Deutsche Kartellpolitik 1926—1929, Diss. Tübingen 1970. Scharnweber führt an, daß die Liste von 200 Beisitzern für das Kartellgericht in „Zusammenarbeit" von RDI und RWM aufgestellt wurde. Er zitiert den Rechtsanwalt Isay, der vor dem 35. Juristentag erklärte: „Es ist mir in der Praxis vorgekommen, daß der Leitet des Kartells, das ich vertrat, schmunzelnd zu mir sagte: .Heute kann uns nichts passieren. Auf der einen Seite sitzt ein Mann unseres Kartells und auf der anderen sitzt ein Händler, mit dem haben wir einen Vertrag.'" (Ebenda, S. 97).
31
10 Nussbaum, Bd. 2
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Die Wittschaftspolitik des Staates
Letztlich aber tendierte die konsumbeschränkende Förderung von Akkumulation und Konzentration dazu, den systemimmanenten Widerspruch zwischen Produktionskapazität und Massenverbrauch zu jener Kluft zu weiten, die in der großen Krise sich dann erschrekkend öffnete, ohne daß die Machthaber daraus den Schluß zogen, die kapitalfreundliche Steuerpolitik zu korrigieren.
3. Die Entschädigungen und Subventionen — eine neue Qualität Zuwendungen des Staates an einzelne Unternehmen oder Unternehmergruppen waren vor dem Weltkrieg nicht absolut ausgeschlossen. Auch das Deutsche Reich und die Einzelstaaten hatten verschiedentlich die Privatwirtschaft subventioniert. Bekannt sind die Postdampfersubventionen, die im letzten Drittel des Jahrhunderts an Reedereien, aus Gründen des Konkurrenzkampfes mit England, gewährt wurden. Die Überseeschiffahrt bildete in Deutschland wie in anderen kapitalistischen Staaten ein bevorzugtes Objekt staatlicher Unterstützung. Doch nicht nur direkte Subventionen waren bereits üblich gewesen; auch indirekte Zuwendungen, z.B. in Form von Frachttarifermäßigungen, kannte man in den achtziger Jahren etwa für deutsche Exportkohle, der von der Eisenbahn Sondertarife nach den Häfen gewährt wurden. Die Landwirtschaft hingegen erhielt Exportprämien für bestimmte Erzeugnisse. Die beiden zuletzt genannten Formen der Subventionierung betrafen aber mehr ganze Wirtschaftszweige und zielten weniger auf ein einzelnes Unternehmen als solches. Während des Krieges waren dann erhebliche Subventionen an kriegswichtige Unternehmen gegeben worden. Nunmehr, nach dem Kriege, als die erschwerten Verwertungsbedingungen des Kapitals den Staat zu vergleichsweise stärkerer ökonomischer Aktivität als in der Vorkriegszeit veranlaßten, wurde staatliche Subventionierung, teils als direkte Zuwendungen, teils in Form von Krediten oder Kreditgarantien, zu einem wirtschaftspolitischen Mittel, welches umfänglich verwendet wurde. Die Subventionierung wurde ein besonders wichtiger Teil des staatsmonopolistischen Instrumentariums. Die ersten Zahlungen des Staates an die Industrie hingen mit den unmittelbaren Folgen des Krieges und der Besetzung der Ruhr zusammen. Die Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, aber auch andere Unternehmer kreise, die die „rote Republik" weitgehend ablehnten, fühlten sich nicht gehemmt, sich von diesem verachteten Staat für wirklich oder angeblich erlittene Verluste entschädigen zu lassen. Und der Staat öffnete bereitwillig seine Taschen und zahlte. Viele Millionen flössen aus dem Staatshaushalt auf die Konten der Industrie. Theoretisch muß dabei unterschieden werden zwischen direkten „Entschädigungen" 32 für Leistungen oder Verluste durch den Krieg oder im Rahmen der Reparationslieferungen und echten Subventionen. Jedoch in der Praxis, wie sie sich seinerzeit ergab, war es nicht immer möglich, dies zu trennen. Die Grenzen waren fließend, und es gab durchaus Fälle, wo z. B. sogenannte Entschädigungen weit über das hinausgingen, was sie offiziell sein sollten und bereits echte Subventionen darstellten. Dies traf besonders für die Zahlungen auf Grund der sogenannten Micum-Lasten bzw. die Ruhrentschädigung zu. Nachdem bereits in der unmittelbaren Nachkriegsperiode Entschädigungen vor allem 32
Der Begriff der Entschädigung, der zu dieser Zeit für die Zahlungen an die Industrie verwendet wurde,, ist im Grunde natürlich nicht akzeptabel. Es handelte sich um Zahlungen an die Kriegsschuldigen und Kriegsgewinnler, die eigentlich auch die Lasten, die sich aus der Niederlage ergaben, hätten tragen sollen.
Die Entschädigungen und Subventionen
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an die Schwerindustrie und die Reedereien gezahlt worden waren, kam es nach der Stabilisierung erneut dazu, daß große Summen gegeben wurden. Man deklarierte sie als E n t schädigungen für Reparationslieferungen und Ruhrkampfschäden. Noch bevor nämlich die Inflation endgültig liquidiert war, hatten schon die westdeutsche Schwerindustrie und die von den Alliierten an der Ruhr zur Eintreibung von Reparationen eingesetzte Behörde, die „Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines" (Micum), miteinander zu verhandeln begonnen. Das bedeutete, daß erneut direkt zwischen der Schwerindustrie und den Franzosen über Lieferungen gesprochen worden war, ohne daß die Regierung hinzugezogen wurde. Stinnes verlangte jedoch, daß die Reichsregierung versprechen sollte, die Lieferungen an Frankreich zu bezahlen. Die Regierung sah dies zwar nicht als möglich an, bevor die Inflation endgültig liquidiert worden war, und wollte zunächst nur die Kohlensteuern beseitigen. Als daraufhin jedoch Otto Wolff vom PhönixKonzern ein Abkommen mit den Franzosen schloß, ohne auch nur die Reichsregierung genauer zu informieren, tat man in Berlin zwar empört, wich aber zurück. Stresemann wollte in dem Abschluß eine Schädigung der Autorität des Reichs sehen und betonte gegenüber einem Vertreter der „Kölnischen Zeitung": „Ich muß den Abschluß derartiger Verhandlungen ohne Kenntnisgabe der Reichsregierung bedauern. So wenig wir in der Lage sind, unmittelbar auf die Verhandlungen einzuwirken, so selbstverständlich ist es — und man nimmt das auch auf französischer Seite an —, daß Verhandlungen von den örtlichen Behörden oder von Organisationen nur im Einvernehmen mit der Reichsregierung geführt werden." 3 3 Tatsächlich „gingen die Barone des Bergbaus so weit, ganz nach dem Beispiel der deutschen feudalen Teilfürsten die Regierung vollständig auszuschalten und selbständig mit den Franzosen zu verhandeln", die man „schamlos um Hilfe gegen die Ruhrarbeiter zwecks Verlängerung der Arbeitszeit anbettelte." 3 4 Ende November 1923 wurde das Abkommen mit der Micum unterzeichnet, das vorsah, alle deutschen Leistungen auf das Reparationskonto gutzuschreiben. Die Ruhrindustriellen verpflichteten sich, 2 1 % der geförderten Kohle abzuliefern bzw. ab Januar 1924, als auch Italien beliefert werden sollte, 2 7 % . Die Besatzungsarmeen und die sogenannten Regiebetriebe der Besatzungsbehörden sollten kostenlos bzw. zu verbilligten Preisen Kohlen erhalten. Gleichzeitig waren 15 Millionen Dollar für Rückstände der Kohlensteuer zu zahlen und für jede verkaufte Tonne Kohle 10 bzw. 8 Francs abzuführen. 35 Mit der chemischen Industrie, der Solinger Stahlwaren-, Papier- und Lederindustrie wurden ähnliche Verträge geschlossen. Diese Abkommen bedeuteten gesicherten Absatz für die betreffenden Industrien unter Ausschluß der Konkurrenz. Die Kohlenpreise wurden vom Kohlensyndikat festgesetzt, und dem Reich blieb die Aufgabe zu zahlen. Wenn die Regierung aber zögerte, suchten die Monopolisten von der Ruhr sie mit dem Argument zu nötigen, daß die von ihnen abgeschlossenen Verträge auch das Reich verpflichteten. So erklärte D r . Silverberg in einer Besprechung mit der Regierung am 27. März 1924: „Die Micumverträge seien keine Privatverträge, sondern mehr oder weniger eine Art Staatsverträge, und es ginge nicht an, daß demgegenüber jetzt die Reichsregierung sich abwartend verhalte." 3 6 Der Kanzler stimmte 33 Luther, Hans, Politiker ohne Partei, Stuttgart 1960, S. 188. 3^ Norden, Albert, Lehren deutscher Geschichte. Zur Politik des Finanzkapitals und der Junker, Berlin 1947, S. 72. 35 Krobn, Claus-Dieter, Stabilisierung und ökonomische Interessen, Düsseldorf 1974, a. a. O., S. 32. 36 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Marx I und II, Bd. 1. Boppard 1973, S. 499. Nr. 157. Besprechung mit Arbeitgebervertretern des Ruhrbergbaus. 10*
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Die Wittschaftspolitik des Staates
dem zu. Dabei suchten die Industriellen durch überhöhte Preisberechnungen die Verpflichtungen des Reiches so hoch wie möglich zu schrauben. Ende Mai 1924 veranlaßte Luther die ersten Zahlungen, die als Kredite zur Überwindung von Streikschäden getarnt wurden, um zu verschleiern, daß die Regierung schon Haushaltsmittel für die Micum-Zahlungen hergab.37 Die Summen wurden über Hilfsfisken geleitet. Reichspost, Reichsbahn und Reichsversicherungsanstalt gaben zunächst 32 Millionen RM an das Kohlensydikat. Weitere Zahlungen folgten ab Juli. Sie betrugen 143 Millionen RM in Schatzanweisungen. Die Finanzämter wurden angewiesen, bei den Steuererhebungen schonend vorzugehen, was die Industriellen sofort ausnutzten, um ihre Steuerzahlungen einzustellen. Thyssen behielt sogar die Lohnsteuer ein. Außerdem forderten die Ruhrmonopole, ihnen Ruhrkampfschäden, Beschlagnahmungen und Zinsen zu ersetzen, was unbesehen und außerordentlich eilig geschah. Dabei wurde ausgenutzt, daß der Reichstag im Oktober aufgelöst worden war und der neue Reichstag erst im kommenden Jahr zusammentreten konnte, also jede parlamentarische Kontrolle fehlte. Bis zum 31. März 1925 waren bereits 522 Millionen RM gezahlt (Tab. 59). Tabelle 59 Zahlungen des Reiches für Ruhr Schäden Ruhrkohlenbergbau Rheinisches Braunkohlensyndikat Aachener Zechen Braunkohlenregiebetriebe Chemische Industrie Rheinschiffahrt Wirtschaftsausschuß für das besetzte Gebiet
556,0 10,6 9,8 4,5 50,0 20,5
Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen Millionen
RM RM RM RM RM RM
55,0 Millionen RM 706,4 Millionen RM
Quelle: Netzband, Karl-BernbardIWidmaier, 1923-1925, Tübingen 1964, S. 260.
Hans
Peter,
Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther
Bei dieser Summe sind aber die Vorschüsse und vorläufigen Abgeltungen nicht berücksichtigt, die gezahlt wurden, bevor die Verhandlungen zwischen der Regierung und den Monopolen abgeschlossen worden waren. So war die gesamte Summe noch höher. Nachdem die Aktion öffentlich bekannt geworden war, trotzdem man sich bemüht hatte, sie zu verheimlichen, sah sich die Regierung veranlaßt, dem Reichstag eine Denkschrift vorzulegen, mit der die Zahlungen gerechtfertigt werden sollten.38 Die Denkschrift fiel wenig überzeugend aus, und das Parlament bestellte einen Untersuchungsausschuß, der die Frage zu prüfen hatte. Da die betroffenen Konzerne sich mit der Ministerialbürokratie verbündeten, um die Untersuchung zu sabotieren, kam dabei nicht viel heraus. Als nach über zwei Jahren der Ausschuß seinen Bericht erstattete, konnte er sich über die rechtliche Verpflichtung zur Ruhr-Entschädigung nicht verbindlich äußern. Zwar wurden Überzahlungen nachgewiesen, doch wie hoch diese gewesen waren, entzog sich seiner Kenntnis. Im Bericht hieß es, nachdem festgestellt worden war, daß keine Doppelzahlungen erfolgt seien: 37 Krobn, Claus -Dieter, a. a. O., S. 106/107. 38 Die Reparationslasten und Schäden der Privatwirtschaft des Ruhr- und Rheingebietes und ihre Erstattung durch das Reich, Reichs tagsdrucksacbe Nr. 568,1925.
Die Entschädigungen und Subventionen
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„Dagegen sind Überzahlungen in erheblichem Umfange aus der Abgeltung der Kohlenlieferungen, aus der Kohlensteuer, aus Zinsen usw. erfolgt. Diesen Überzahlungen stehen nach der Erklärung der Reichsregierung und nach dem Gutachten der Sachverständigen Mindereinnahmen des Ruhrbergbaus bei anderen Positionen gegenüber, die angeblich einen Ausgleich der Überzahlungen darstellen. Der Ausschuß kann sich dieser Auffassung nicht in vollem Maße anschließen, hält vielmehr daran fest, daß Überzahlungen stattgefunden haben, deren Höhe mangels genauer Unterlagen nicht mehr festgestellt werden kann." 39 Ein Kommentator meinte dazu: „Tatsächlich bedeuteten die Ruhrentschädigungen eine Bevorzugung gegenüber jenen Bevölkerungsschichten, die ebenfalls aus Inflations- und Ruhrbesetzungszeiten große Schäden und Nachteile erlitten hatten, aber keine Entschädigungszahlungen erhielten . . . Deshalb kann den Ruhrentschädigungen ein Subventionscharakter, der ihnen verschiedentlich zugesprochen wurde, nicht aberkannt werden." 4 0 Der seinerzeitige Finanzminister Luther aber stellt in seinen Memoiren befriedigt fest, daß die Untersuchung durch den Reichstagsausschuß auslief wie das „Hornberger Schießen"/*1 Die Ruhrmonopole benutzten die vom Reich gezahlten Millionen nicht nur, um aufgenommene Kredite zurückzuzahlen, mit deren Hilfe sie gewaltig expandiert hatten, sondern auch, um im Zuge der Rationalisierungsbewegung stark zu investieren und für weitere Konzentrationsvorgänge. Doch die Ruhrentschädigung war nicht alles, was an staatlichen Mitteln der westdeutschen Schwerindustrie zufloß. Der Röchling-Konzern im Saargebiet, der während der Inflationszeit ein Sammelsurium von Unternehmen und Betrieben an sich gerissen hatte, ließ sich von der Seehandlung einen Kredit von 17 Millionen geben, und nachdem dieser in kurzer Zeit verbraucht war, von der Reichsregierung noch einmal 20 Millionen. Zwar hatte die preußische Staatsbank gefordert, „daß der Umfang des Konzerns in rationeller Weise beschnitten"'' 2 werden sollte, doch wurde der neue Kredit mit der besonderen Lage im Saargebiet begründet. Auch der Stumm-Konzern, der ebenfalls an inflationärer Elefantiasis litt und schon 1924 mit 50 Millionen verschuldet war, erhielt eine Reichsgarantie für einen 25-Millionen-Stützungskredit. Dies wurde vor der Öffentlichkeit geheimgehalten, wobei man sich darüber klar war, daß die getroffenen Abmachungen „zwar nicht in der Form, wohl aber in der Sache eine gewisse Umgehung des Etatgesetzes darstellten". 43 Die Garantieerklärung wurde durch den Reichsfinanzminister damit begründet, daß die Reise Schachts nach Amerika und die Locarno-Verhandlungen Luthers nicht durch den „Zusammenbruch eines so großen Unternehmens und den dann möglichen Rückschluß auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands" 44 gefährdet werden sollten. Neben Krupp, der einen 50-Millionen-Kredit vom Reich verlangte, andernfalls er sein halbes Aktienkapital nach England verkaufen würde, verlangte auch der MannesmannKonzern einen Reichskredit. Zwar sollte dieser Kredit für die Automobilfabrik Mannesmann-Mulag verwendet werden, die unter Geschäftsaufsicht gestellt worden war, doch dem Reich gegenüber begründete man dies anders, wie man offenbar meinte, zugkräftiger. 3» Keicbstagsdrucksacbe Nr. 3615,1927, S. 263. 40 Hocbdörffer, Karl, Die staatlichen Subventionen der Nachkriegszeit in Deutschland, Diss. Köln 1930, S. 19. 41 Luther, Hans, a. a. O., S. 190. 42 Krobn, Claus-Dieter, a. a. O., S. 212. « Ebenda. 4 4 Siehe dazu und dem folgenden: Ebenda.
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Die Wittschaftspolitik des Staates
Nachdem die Großbanken es abgelehnt hatten, dem schon hoch verschuldeten Konzern zu helfen, dann auch das R W M einen geforderten 4-Millionen-Kredit ablehnte, wandten sich Mannesmann an das Auswärtige Amt. Sie gaben an, bereits mit einem englisch-französischen Konsortium zu verhandeln, das ihren Besitz in Marokko kaufen wolle. Zwar hatten sie nach dem Versailler Vertrag kaum noch Rechte daran, doch gelang es ihnen, Stresemann für ihr Anliegen einzuschalten. Trotzdem ein im Auftrag des R W M von der Deutschen Revisions- und Treuhand AG angefertigtes Gutachten vorlag, das feststellte, die eingereichten finanziellen Unterlagen seien frisiert, der Konzern völlig heruntergewirtschaftet und eine stille Liquidation empfehlenswert, setzte Stresemann gegen den Haushaltsausschuß und den Auswärtigen Ausschuß des Reichstages im Kabinett einen Kredit von 8,5 Millionen RM durch. Hier wurde das Etatrecht ebenfalts souverän beiseitegeschoben. Auch bei anderen Subventionierungsfällen führte man die nationalen bzw. militärischen Interessen ins Feld. So, als dem zu den großen Montankonzernen an der Ruhr gehörenden Erzbergbau an Sieg, Lahn und Dill geholfen wurde. Die Konzerne, die 82% des dort geförderten Erzes aufnahmen, waren nicht bereit, die höheren Kosten des einheimischen Erzes aus den betreffenden Gruben selbst zu tragen. Dazu wird berichtet: „Sicherlich hätte man bei nichterfolgter Subventionierung andere Möglichkeiten für die Erhaltung einer eigenen Erzbasis gefunden, die aus militärischen und devisenpolitischen Gründen von Bedeutung war . . . Die Möglichkeit, daß die Konzerne eine Verrechnung in sich vorgenommen hätten, schied aus." 45 Ab Juni 1925 wurden staatliche Beihilfen für jede zum Versand gebrachte und frisch geförderte Tonne Erz in Höhe von 1 RM und zusätzlich ab November 1926 in Form von Ausnahmetarifen der Reichsbahn für das Erz dieses Gebietes geleistet. Die Subvention war mit der Auflage einer Preissenkung des Erzes verbunden, wodurch der Absatz gesteigert werden sollte. Das bedeutete aber nichts anderes, als daß die Ruhrkonzerne das Erz ihrer eigenen Gruben jetzt billiger erhielten. Diese Gelegenheit nahmen sie wahr, und im Februar 1927 stellten amtliche Vertreter bei einer Kontrolle fest, daß die Lage des Erzbergbaus sich gebessert habe. Die Subventionen wurden bis Ende September 1927 stufenweise abgebaut und dann ganz eingestellt. Insgesamt waren an die betreffenden Erzbergbauunternehmungen rd. 7 Millionen RM gezahlt worden. Die Beschäftigung und Förderung des betreffenden Erzbergbaus entwickelte sich in diesem Zeitraum, wie in Tabelle 60 zu ersehen ist. Tabelle 60 Beschäftigung und Förderung in Labn-, Dill- und Oberbessischem Gebiet sowie im Siegerland September 1927 (in Prozent April 1926) Beschäftigung Förderung Lahn-, Dill- u. Oberhess. Gebiet Siegerland
162 182
197 266
Quelle: Hocbdörffer, Karl, Die staatlichen Subventionen der Nachkriegszeit in Deutschland, Diss. Köln 1930, S. 24 bzw. 25.
Die Subventionen wurden vorwiegend verwendet, um zu rationalisieren, was auch aus der gestiegenen Förderleistung pro Beschäftigten hervorgeht. Betrug zum Beispiel die Förderleistung pro Kopf im Sieg-Gebiet im April 1926 rd. 141, so stieg sie bis Dezember 1927 auf 45
Hoefer, Wolfgang, Die Industtiesubventionen in Deutschland seit 1924, Diss. Marburg 1937, S. 39.
Die Entschädigungen und Subventionen
143
über 20 t. 46 Die von der Subventionierung vor allem profitierenden Unternehmer machten anschließend an die staatliche Hilfe eine eigenartige Rechnung auf. Der Berg- und Hüttenmännische Verein zu Wetzlar erklärte, die Regierung habe dabei ein gutes Geschäft gemacht, da sie durch ersparte Erwerbslosenfürsorgezahlungen und höhere Steuererträge die Subvention nicht nur hätte ausgleichen können, sondern sogar einen Überschuß von über 2 Millionen erzielt habe. 47 Reichswirtschaftsminister Curtius pries bereits im März 1927 im Reichstag den Erfolg der Subventionierungen. Ob und wieweit der zeitweilige Aufschwung des Erzbergbaus an Sieg, Lahn und Dill tatsächlich auf die Subvention zurückzuführen war, muß jedoch zweifelhaft erscheinen. Der Aufschwung fiel weitgehend mit der allgemeinen Konjunkturentwicklung zusammen, die einsetzte, nachdem die Zwischenkrise von 1925/26 überwunden war. Er wurde zum Teil auch durch den englischen Bergarbeiterstreik von 1926 mitbewirkt. 48 Bereits im ersten Halbjahr 1928 machte sich eine Konjunkturabschwächung besonders in dem betreffenden Gebiet erneut bemerkbar und führte dazu, daß ein Teil der Betriebe eingeschränkt wurde, worauf prompt neue Subventionen gefordert wurden. Neben den genannten wurde noch eine ganze Reihe von industriellen Subventionen mit den Folgen des verlorenen Krieges bzw. der „Sicherung nationaler Interessen" begründet. Dies betraf besonders im Osten liegende Unternehmen. So erhielten die teilweise auf polnischem Staatsgebiet liegenden Unternehmen der oberschlesischen Eisenindustrie Kredite, angeblich, um zu verhindern, daß sie zusammenbrachen und eventuell vom polnischen Kapital übernommen würden. Die Unternehmer drohten nämlich, 40000 bis 50000 deutsche Arbeiter zu entlassen, wenn ihnen die Regierung nicht finanziell half. Die „Oberschlesische Eisenindustrie-AG", deren Aktienmehrheit sich seit den Inflarionsjahren in den Händen des ständig expandierenden Friedrich Flick befand, und die „Oberschlesische Eisenbedarfs-AG", deren beherrschender Großaktionär die gräfliche Familie Ballestrem war, erhielten einen Kredit von 46 Millionen RM, der geheimgehalten und über die Preußische Seehandlung ausgezahlt wurde. Ursprünglich sollte der Kredit mit der Auflage verbunden werden, die zersplitterten Eisenunternehmen zusammenschließen. „Doch die Magnaten verstanden es geschickt, ihre Notlage zu dramatisieren, so daß sie das Geld für ihr bloßes Versprechen erhielten, zu fusionieren. Dann konnten sie jede Fusionsmahnung aus Berlin damit beantworten, sie seien nur gewillt, sich zusammenzufinden, wenn ihnen erlassen würde, den Kredit zurückzuzahlen." 49 Flick, der sich von der Regierung mit der „Klärung" der oberschlesischen Verhältnisse hatte beauftragen lassen, sorgte schließlich dafür, daß 1926 die in Deutsch-Oberschlesien verbliebenen Unternehmensteile zugleich mit der ebenfalls Ballestrem gehörenden Donnersmarck-Hütte zu den „Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerken" vereinigt wurden 50 , in denen er durch diverse Manöver die Aktienmehrheit und den Vorsitz im Aufsichtsrat an sich gebracht hatte. Der Subventionskredit wurde daraufhin in ein langfristiges niedrig verzinsliches Darlehen umgewandelt, «6 Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 25. « Ebenda, S. 26. 4 8 Dieser Streik wirkte sowohl direkt auf die Preise des Eisenerzes, da die englische Produktion ausfiel, als auch indirekt, da sich die Kohle und damit die Frachtkosten für überseeisches Erz verteuerten. 49 Ogger, Gunter, Friedrich Flick der Große, Bern/München 1971, S. 86. 5 0 Im Nürnberger Prozeß erklärte Flick dazu: „Ich habe mich dann schließlich doch bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen, nachdem ich von der Regierung in einem Brief aufgefordert wurde mit der Begründung, daß an der Mitwirkung meiner Person ein ausgesprochen staatspolitisches Interesse bestand." Ebenda, S. 87.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
von dem das Reich und Preußen je 18 Millionen RM gaben. 51 Dieser Staatskredit, der in den ersten fünf Jahren überhaupt nicht verzinst zu werden brauchte, sollte über 35 Jahre laufen. Die in das neue Unternehmen eingehende Flicksche Oberschlesische Eisenindustrie AG setzte zudem noch verschiedene Vergünstigungen durch, die ihr rund 12 Millionen RM zusätzlich verschafften. 52 Zusammen mit den 36 Millionen RM des staatlichen Darlehens war dies allerdings immer noch ein geringerer Betrag als derjenige, den Flick einige Jahre später, während der großen Krise, sich vom Reich zahlen ließ, als er ihm die Aktien der Gelsenkirchener Bergwerks AG zu einem gewaltig überhöhten Preis verkaufte — eine Angelegenheit, die als GelsenbergAffäre bekannt wurde und von der noch die Rede sein wird. Ein anderes oberschlesisches Unternehmen, das sich Reichssubventionierung sichern konnte, war die Bergwerksgesellschaft „Georg von Giesches Erben", die vor allem große Zinkfelder besaß, die zweitgrößten nach den Vorkommen in den USA. Dieser Konzern, an dem u. a. der Kronprinz beteiligt war und der ein aus dem 17. Jahrhundert stammendes Privileg besaß, das ihn bis zum ersten Weltkrieg von jeglicher Steuerzahlung befreit hatte, verlor nach der Teilung Oberschlesiens fast sämtliche Zinkverhüttungsanlagen sowie zwei Drittel der Vorkommen an Polen. Infolgedessen war das Restunternehmen unprofitabel geworden. Daraufhin beteiligte es sich wahllos in den verschiedensten Industriezweigen, in der Seiden-, Phosphat- und Porzellanindustrie sowie im Bankwesen. Infolgedessen war der Konzern ein Jahr nachdem die Inflation geendet hatte mit 50 Millionen RM verschuldet und stand vor dem Bankrott. Im Mai 1925 beantragte er bei der preußischen Regierung einen 20-Millionen-Kredit. Der preußische Handelsminister setzte sich für den Kredit ein, der allerdings 15 Millionen nicht überschreiten sollte. Damit sollte vor allem eine Zinkelektrolyseanlage gebaut werden. Der Konzern verhandelte nämlich gleichzeitig mit dem amerikanischen Harriman-Konzern, der sich am polnischen Besitz Giesches beteiligen wollte. Die Mittel aus dem Verkauf der Aktien wollte man für Neuanlagen bei den Zinkvorkommen im deutschen Teil Oberschlesiens verwenden. Kaum hatte der Konzern die 15 Millionen von der Seehandlung geschluckt, wandte er sich über die Berliner Handelsgesellschaft an das RWM, das drei Millionen bewilligen sollte, um langfristige Wechselverbindlichkeiten abzulösen. Auch dies wurde gewährt, da die Regierung meinte, daß eine Geschäftsaufsicht über den Konzern die deutsche Wirtschaft schwer schädigen würde. 53 Als noch weitere Kredite verlangt wurden, sollte auf Initiative des preußischen Handelsministers die staatseigene Preussag in den Konzern miteinsteigen. Die Amerikaner, mit denen Giesche fortlaufend wegen der Teile des Konzernbesitzes verhandelte, die auf polnischem Gebiet lagen, forderten, daß die deutschen Zinkfelder in die polnische Beteiligung miteinbezogen werden sollten. Als darauf vorgeschlagen wurde, die Preussag mit 25 Millionen zu beteiligen, erklärte sich der Konzern einverstanden, schloß aber dann einen Vertrag mit Harriman ab, der für 25 Jahre die gesamte Förderung an Zink-, Blei- und sonstigen Erzen an die amerikanische Gesellschaft auslieferte. Außerdem sollten u. a. die Steuerschulden der polnischen Werke auf das deutsche Mutterunternehmen übernommen werden. Der preußische Staat, der sich hintergangen fühlte, setzte daraufhin einen Staatskommissar ein, der künftig allen wichtigen Geschäftsbeschlüssen zustimmen mußte. Trotzdem konnte 51 Hoefer, Wolfgang, a. a. O., S. 13. Krobn, Claus-Dieter, a. a. O., S. 220. 63 Ebenda, S. 215. 52
Die Entschädigungen und Subventionen
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Giesche jetzt die staatliche Seite erpressen, da der Optionsvertrag nur auf ein halbes Jahr befristet war. Eilig verhandelte Preußen mit Harriman, da die deutschen Erzfelder nicht in amerikanische Hände fallen sollten. Schließlich einigte man sich dahingehend, daß die Amerikaner ihre Ansprüche einer in Deutschland zu errichtenden Hütte überließen. Bedingung war, daß die von Giesche geförderten Erze der neuen Felder für amerikanische Rechnung an diese Hütte verkauft würden. So blieben die Besitzrechte formell deutsch, während die Gewinne an die neue Gesellschaft in Ost-Oberschlesien gingen, in der Giesche 49% besaß, während die Harriman/Anaconda-Gruppe die absolute Mehrheit hatte. Der skrupellos hintergangene preußische Staat und das Reich dagegen mußten auch noch die zu erbauende neue Zink-Elektrolyseanlage in Deutschland finanzieren, indem sie die dafür nötigen 25 Millionen dem Giesche-Konzern zinslos kreditierten. Ein besonders bevorzugtes Objekt staatlicher Subventionen waren seit Beginn der imperialistischen Epoche Seeschiffahrt und Schiffsbau. 54 Dies steht zweifellos in engem Zusammenhang mit der Expansionspolitik der Monopole, der verschäften internationalen Konkurrenz und der erhöhten militärischen Aggressionsbereitschaft der imperialistischen Staaten. Die Seeschiffahrt konnte als Mittel der wirtschaftlichen Expansion dienen und sollte durch besonders auf die Bedürfnisse des jeweiligen Exports zugeschnittene Schifffahrtsrouten und spezielle Tarife den Drang auf fremde Märkte unterstützen. Dazu kam, daß der Schiffahrt für den Kriegsfall besondere Aufgaben zugedacht waren. Daher waren die meisten imperialistischen Staaten daran interessiert, eine möglichst umfangreiche Handelsflotte neben ihrer Kriegsflotte zu unterhalten, selbst wo dies sich ökonomisch nicht rentierte. Die Folgen der imperialistischen Subventionspolitik waren ein relatives Überangebot an Schiffsraum und eine permanente Schiffahrtskrise bereits vor dem ersten Weltkrieg. Die Ursachen dafür lagen im imperialistischen Wirtschaftssystem „mit seiner immanenten Tendenz zur Überproduktion an Schiffsmaterial." 55 Die durch subventioniertes Überangebot an Schiffen entspringende Unrentabilität der Seeschiffahrt und des Schiffbaus veranlaßte aber wiederum neue Subventionen. Die Schiffahrt konnte in vielfältigen Formen subventioniert werden: durch finanzielle Beihilfe für Reedereien oder Werften, durch staatliche Leistungen für Postbeförderung, soweit sie über die wirklichen Beförderungskosten hinausgingen. Diese Form versteckter Subventionen war sehr verbreitet. Zur Subventionierung muß aber auch gerechnet werden, wenn der Staat Hafenanlagen errichtete, Hafengebühren niedrig hielt, niedrige Eisenbahntarife nach den Seehäfen gewährte, den einheimischen Schiffbau verschiedenartig begünstigte oder für den Bau von Kriegsschiffen erhöhte Zahlungen leistete. Als mit dem Beginn des Weltkrieges die deutsche Handelsflotte der Marineverwaltung unterstellt und direkt für den Kriegseinsatz verwendet wurde, war sie nicht nur einer Bestimmung zugeführt, die lange für sie vorgesehen war, sondern es war auch klar, daß sie Verluste erleiden würde. Am 7. November 1917 wurde daher ein Beihilfegesetz zur Wiederherstellung der deutschen Handelsflotte erlassen 56 , das vorsah, die Reedereien zu entschädigen. Seeschiffahrtssubventionen kannte man schon lange vorher. In der merkantilistischen Handelspolitik vieler Staaten spielten sie eine Rolle. So gaben Venedig und Spanien am Ende des 15. Jahrhunderts erhebliche Summen für die Förderung der Seeschiffahrt aus, desgleichen Frankreich unter dem Regime Colberts und England seit der Regierung Elisabeths. (Grrnt^el, Josef, Economic protectionism, London 1916, S. 237, und Meeker, Royal, History of shipping subsidies, New York 1905, S. 2.) 55 Heiander, Sven, Die internationale Schiffahrtskrise und ihre weltwirtschaftliche Bedeutung, Jenal928, S. 390. 56 RGBl. v. 13.11.1917. S. 1025. 54
146
Die Wirtschaftspolitik des Staates
Nach Kriegsende mußte dann, wie schon erwähnt, die gesamte Handelsflotte, ausgenommen einen Teil der kleineren Schiffe, abgeliefert werden. Das Enteignungsgesetz vom 31. August 1919 verfügte aber nicht nur, daß die Schiffe abgeliefert wurden, sondern legte fest, die Eigner schadlos zu halten. Eine neugegründete Reederei-Treuhand-Gesellschaft begann sofort, trotz Inflation, die Entschädigungen auszuzahlen. Die dann in die „Schiffbau-Treuhand-Bank" umgewandelte Gesellschaft zahlte bis Mai 1923 585,6 Millionen Goldmark an die Reeder.57 Damit blieb die gezahlte Gesamtsumme zwar unter den 1,8 Milliarden Goldmark, die der Vorkriegswert der abgelieferten Schiffe angeblich betragen hatte, doch wurde nicht ausgeschlossen, daß einzelne Reedereien Beihilfen erhielten, die über den Wert der von ihnen abgelieferten Schiffe hinausgingen. 58 Daß den Ansprüchen der Reedereien im großen und ganzen nachgekommen wurde, läßt sich indirekt aus der Mitteilung schließen, daß es der SchiffbauGesellschaft gelang, „alle rund 200 Köpfe so zu befriedigen, daß sich die ganze Arbeit ohne Streit abwickelte." 59 Dabei muß auf die enge Verflechtung von Reedereien und Werften mit den schwerindustriellen Monopolen an Rhein und Ruhr hingewiesen werden, die zum Teil schon während des Krieges, zum Teil danach ihre Riesengewinne aus Rüstungslieferungen und die staatlichen Entschädigungen dazu benutzt hatten, in das Schiffahrtsgeschäft und den Schiffbau einzusteigen. So bestanden enge Beziehungen zwischen der Haniel-Gruppe und der AEG zur Hamburg—Amerika-Linie. Bereits 1916 hatten sie gemeinsam die Hamburger Werft gegründet, die dann zu einer modernen Großwerft unter der Bezeichnung Deutsche Werft AG ausgebaut wurde. Die Friedrich Krupp AG besaß schon vor dem Kriege zusammen mit dem Norddeutschen Lloyd ein Kohlenbergwerk. Nach dem Kriege beteiligte sich der Otto-WolffKonzern, nachdem er bereits erheblichen Anteil an der G. Seebeck AG in Geestemünde und starke Beteiligungen an der Reiherstieg-Schiffswerft und Maschinenfabrik AG in Hamburg erworben hatte, an der Bremer Roland Linie, einer Tochtergesellschaft des Norddeutschen Lloyd, der Hamburg—Bremen—Afrika-Linie. Andere schwerindustrielle Monopole mit Reederei- und Werftbeteiligung waren die Henschel-Lothringen-Essener Steinkohlenvereinigung, der Thyssen-Konzern und in besonderem Maße die Stinnessche Siemens-Rhein-Elbe-Schuckert-Union.60 Derart wurden die staatlichen Schiffahrtsentschädigungen von den Riesenkonzernen auf mehrfache Weise genossen: als direkte staatliche Zuwendungen an die mit ihnen verbundenen Reedereien und als profitbringende Aufträge an die Werften, die ihrerseits wiederum von den Stahl- und Maschinenbauunternehmen zu beliefern waren. Die konstatierte „Befriedigung" war also verständlich, umsomehr als der Wiederaufbau der Handelsflotte die deutschen Werften zu einer Zeit beschäftigte, in der z. B. die englischen Werften vielfach stillgelegt werden mußten, da der internationale Schiffahrtsmarkt übersättigt war. Die in England aufgelegte, d. h. vorübergehend außer Dienst gestellte Tonnage, welche sich zeitweilig auf 10 Millionen t belief, betrug am 1. Januar 1925 immer noch 6 Millionen t. 6 1 Es blieb jedoch nicht bei dieser sogenannten Wiederaufbauhilfe für die Schiffahrt. Als, Pant/en, Hermann, Der Wiedereintritt Deutschlands in die Weltschiffahrt, Berlin/Leipzig 1927, S. 14. 58 Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 69 f. 59 Vantlen, Hermann, a. a. O., S. 16. 60 Ebenda, S. 17f. « E b e n d a , S.2.
57
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Die Entschädigungen und Subventionen
nachdem die Inflation geendet hatte, die internationale Schiffahrtskrise auch für die deutschen Reeder fühlbar wurde, stellten sie erneut Forderungen an das Reich, denen „wohlwollend" begegnet wurde. 62 Daß Schiffahrtssubventionen verstärkt gezahlt wurden, entsprach allerdings einem Trend, der international zu beobachten war. Wie sich die Subventionen zwischen 1913 und 1927 vermehrten, geht aus der Tabelle 61 hervor. 63 Tabelle 61 Subventionen einzelner Länder für die Seeschiffahrt (inMill. RM)
191iund 1927
Land
1913
1927
Australien Belgien Brasilien Frankreich Großbritannien u. Irland Holland Italien Japan Kanada Spanien USA
4,94 0,24 5,75 55,35 9,69 3,65 20,30 29,23 12,27 10,15 4,52
10,0 1,20 12,09 22,84 29,89 3,65 43,36 20,00 30,86 17,00 189,00
Quelle: Siegert, Friedrieb P., Die Subventionen der Weltschiffahrt und ihre sozialökonomischen Wirkungen, Berlin 1930, S. 4332.
In einigen Ländern (Frankreich und Japan) war zwar festzustellen, daß die Subventionen 1927 gegenüber 1913 geringer waren, doch für die meisten der angeführten Länder ist deutlich, daß die Schiffahrtssubventionen zunahmen, teilweise sogar beträchtlich. Dies gilt auch für Deutschland. Anfang 1925 stellte das RWM aus dem Fonds für Erwerbslosenfürsorge 50 Millionen RM als Schiffserneuerungsfonds zur Verfügung. Diese Summe sollte als Subventionsdarlehen für den Neubau von Schiffen verwendet werden. Diese Darlehen waren äußerst niedrig verzinsbar. Während der Bauzeit betrug der Zinssatz i/2% i m ersten Jahr, nachdem das Schiff abgeliefert war, 4% im zweiten und dritten Jahr 5% und stieg erst im vierten und fünften Jahr auf 6%. Ein solches Darlehen, das nach Ablauf des fünften Jahres rückzahlbar war, konnte nochmals verlängert werden. Der Subventionskredit wurde u. a. unter der Bedingung gewährt, daß mindestens die Hälfte der Kosten des Schiffneubaus von den Reedereien aufzubringen war. Diese Bedingung soll dazu geführt haben, daß der Kredit nicht sehr gern beansprucht wurde. Immerhin sind nach einer Mitteilung des RWM bis 1. April 1926 35 Millionen RM als langfristige Darlehen an Reeder bewilligt worden. 64 Damit waren ca. 240000 BRT Neubauten in Auftrag gegeben worden, deren Gesamtwert ca. 108 Millionen RM betrug. 65 Eine gewisse stimulierende Wirkung der Subventionen 62 Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 70. Der Verfasser betont, daß die Zusammenstellung einen Versuch darstellt, die Subventionen zu erfassen, und nicht beansprucht, absolut vollständig zu sein. 6« Reichstagsdrucksache Nr. 2455 v. 20.4.1926, S. 39. 65 Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 72.
63
148
Die Wirtschaftspolitik des Staates
wurde somit erzielt. Besonders- bis Mitte 1925 nahmen die Schiffsneubauten deutlich zu (Tab. 62). Tabelle 62 Im Bau befindliche Tonnage (in
1000Brulto-Kegister-Tonnen)
Jahr
1.1.
31.3.
30.6.
30.9.
1924 1925 1926
324 355 234
287 405 217
320 407 149
378 307 127
Quelle: Hansa. Deutsche Schiffahrtszeitung 1927, S. 46.
Es zeigte sich, daß schon ab Mitte 1925 die Aufträge für Schiffsneubauten wieder stark zurückgingen. Entsprechend sanken die Beschäftigtenzahlen auf den Werften (Tab. 63). Tabelle 63 Zahl der B eschäftigten auf den 26 größten deutschen 1923 1924 1925 1926
Werften
54336 Jahresdurchschnitt 47844 Jahresdurchschnitt 35000 Jahresdurchschnitt 25 570. Stichtag 1. Oktober 1926
Quelle: Scbiffabrtsjabrbucb
1928, S. 364.
Als Ende 1926 die Krise im Schiffsbau besonders akut wurde und eine Reihe von Werften stillgelegt werden mußte, griff die Regierung im Februar 1927 erneut mit Subventionen ein. Diesmal erfolgte die Beihilfe in Form von Zinszuschüssen analog der Subventionierung des englischen Schiffbaus nach dem ersten Weltkrieg durch den Trade Facilities Act. Für die Dauer von sechs Jahren wurden den Reedern jährlich 3 Millionen RM gewährt, zusammen also 18 Millionen. Diese waren zu drei Vierteln vom Reich und das restliche Viertel von den Ländern zu tragen, in denen die Bauten ausgeführt wurden. Nach einem Bericht des Reichsverkehrsministers wurden auf Grund dieser Zinsverbilligungsaktion 120 Bauaufträge an deutsche Werften erteilt, mit einem Gesamtwert von ca. 140 Millionen RM. 6 6 Doch ist diese Wirkung der Zinsverbilligungsaktion sicher mit auf die allgemein gebesserte Wirtschaftslage des Jahres 1927 zurückzuführen, die sich auch für die deutschen Reedereien günstig auswirkte. In einer Phase niedergehender Konjunktur hätte die relativ geringe Summe der staatlichen Beihilfe wohl kaum den Effekt gezeitigt, den sie in einer Aufschwungsphase hatte (Tab. 64). Tabelle 64 Im Bau befindliche Tonnage auf deutseben Werften am 1.1.1927 211000 BRT 31.3.1927 30. 6. 1927 30. 9. 1927
351000 BRT 408000 BRT 516000 BRT
Quelle: Hansa. Deutsche Schiffahrtszeitung 1928, S. 52. 66
Stenographische Berichte des Reichstags, 395. Sitzung, S. 13255.
Die Entschädigungen und Subventionen
149
Die Unterstützung des Reiches für die Schiffahrt beschränkte sich jedoch nicht auf Subventionen für die Reedereien, sondern die staatliche Hilfe erfaßte auch die Werften. Bezeichnenderweise war die erste große Werft, welche mit Subventionen bedacht wurde, die Vulkanwerke Hamburg-Stettin, die bis Kriegsende hauptsächlich Kriegsschiffe gebaut hatte. Ihr wurde 1925 ein Subventionskredit von 15 Millionen Mark zu gleichen Teilen vom Reich und von Preußen gewährt, von dem 10,31 Millionen in Anspruch genommen wurden. Nur mit großen Schwierigkeiten konnte dieser Kredit später getilgt werden, wobei das Reich 2,8 Millionen RM Aktien der Vulkan zu übernehmen hatte.67 Trotz der Subventionierung mußte das Unternehmen schließlich liquidiert werden. Ebenfalls vorwiegend aus militärischen Gründen wurde 1926 auch die Schichau-Werft in Danzig und Elbing mit einem Subventionskredit von 10 Millionen RM versehen, wovon das Reich 6,5 Millionen und die Seehandlung 3,5 Millionen gaben. Als der Vorgang, der geheimgehalten werden sollte, dennoch publik wurde, schwieg man sich amtlicherseits über die Gründe für die Subventionierung aus, bei deren Gewährung mit angeblich bedrohten „nationalen Interessen" operiert worden war. Um aber wenigstens die Motive der Subvention zu verbergen, gab man die 6,5 Millionen vom Reich nicht direkt an die Werft, sondern ließ verschiedene Deckfirmen Aufträge für Öltankschiffe an Schichau vergeben, wobei Vorauszahlungen geleistet wurden. Diese Schiffe wurden für die Marineleitung gebaut, die dabei war, die deutsche Kriegsflotte auf Ölfeuerung umzustellen. Trotzdem die Regierung noch weiterhin half und u. a. 30 Lokomotiven bei Schichau bestellte, änderte sich nichts an der wirtschaftlich schlechten Lage der Werft, welche ebenso wie die Vulkan auf die großen Kriegsschiffbauten der Vorkriegszeit eingestellt war und deren Anlagen für die neue Situation viel zu umfangreich waren. Schon nach weiteren zwei Jahren mußte daher darüber verhandelt werden, den Subventionskredit in eine Aktienbeteiligung des Staates umzuwandeln. Dadurch sollte dem Unternehmen die Rückz?hlung erspart werden. Die Subventionierung der auf den Vorkriegsbedarf an Schiffen zugeschnittenen Werftindustrie bedeutete erwiesenermaßen, daß volkswirtschaftliche Mittel vergeudet wurden. Da nach dem Weltkrieg die Schiffsgeschwindigkeiten erhöht worden waren, der Schiffsraum mittels neuer Ladetechniken besser ausgenutzt wurde und der Welthandel abgenommen hatte, war auch der Bedarf an Handelsschifftonnage wesentlich geringer als vor dem Kriege. Daß die deutsche Werftindustrie überbesetzt war, zeigte sich auch gerade darin, daß in diesem Zweig mehr subventioniert wurde als in jedem anderen Industriezweig, wobei die eine Subvention oft eine nächste nach sich zog, sollte das Unternehmen nicht zusammenbrechen und die staatlichen Gelder offensichtlich verloren sein. Die subventionierten Unternehmen wurden andererseits befähigt, im wegen der Überkapazitäten äußerst scharfen Konkurrenzkampf die Preise zu unterbieten bzw. zu Verlustpreisen zu verkaufen, da sie hoffen konnten, die Differenz zwischen normalem Verkaufserlös und Verlustpreis mit Hilfe der Subvention zu decken. Gerade die Schichau-Werft war dafür berüchtigt, daß sie so vorging. Sie benutzte die Subventionsmittel nicht nur, um Dumping auf ausländischen Märkten zu betreiben, sondern unterbot auch die Preise im Inland: „Bei den öffentlichen Ausschreibungen eines Hamburger behördlichen Auftraggebers machten 8 deutsche Werften, darunter solche von Weltruf, Angebote, deren Durchschnitt sich auf 355 bis 360000 RM belief. Die einzige Firma, die aus dem Rahmen herausfiel, war die Schichau-Werft mit einem Angebot von 266000 RM. Ihr Angebot lag also um 67
Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 74/75.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
9 0 0 0 0 R M unter dem mittleren Durchschnitt und um 7 0 0 0 0 R M unter dem billigsten Angebot der anderen Werften. In dem Bericht über den Vorfall wird nachgewiesen, daß das Angebot der Schichau-Werft 70—80000 R M unter den Selbstkosten liegen mußte und die Werft demnach von vornherein mit dem Verlust gerechnet hat. Wie hätte er anders gedeckt werden können als durch Subvention?" 6 8 D a insbesondere die nichtsubventionierten kleineren Werften mit diesen Methoden nicht mithalten konnten und die Überkapazität des Gesamtzweiges sich daher in Auftragsmangel speziell bei ihnen auswirken mußte, bedeutete die Subventionspolitik letztlich eine zusätzliche staatliche Unterstützung des Konzentrationsprozesses. Die Arbeitslosigkeit wurde daher so auch nicht echt vermindert, obwohl die Subventionen gerade damit oft begründet wurden, sondern das Problem wurde nur an andere Plätze bzw. in andere Unternehmen verschoben. Neben den erwähnten Zweigen wurden in der Periode der relativen Stabilisierung vor allem die Landwirtschaft, deren Unterstützung in einem speziellen Abschnitt behandelt wird, Luftfahrt und Flugzeugbau sowie der Warenexport subventioniert. Dazu diente die Exportkreditversicherung. Private Exportkreditversicherung hatte es schon in der vorimperialistischen Epoche gegeben. In Deutschland wurde 1857 von bremischen Kapitalisten ein „Creditversicherungsverein Bremen" gegründet, eine Gesellschaft, die „Garantie für den richtigen Eingang jeglicher gegen Bremische Staatsgenössen im Bremischen Staate fällig werdenden Forderungen" 6 9 übernahm. Daß man die Exportkredite durch den Staat versicherte, war jedoch erst im imperialistischen Stadium des Kapitalismus aufgekommen. Dabei war man in England vorangegangen, was sichtlich nicht zufällig geschah, denn hier spielte der Export eine besondere Rolle. Schon 1919 hatte, zunächst noch in verschleierter Form, der englische Staat begonnen, Exportrisiken durch ein System von Exportvorschüssen zu übernehmen. 1921 führte man dann eine staatliche Exportkreditversicherung ein. 7 0 Auch in Frankreich und Italien begann die Exportkreditversicherung eine Rolle zu spielen. Mit dieser neuen Form staatlicher Unterstützung reagierte der mit den Monopolen kooperierende Staat auf den verschärften Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt, wie er dem imperialistischen Stadium des Kapitalismus eigen ist. Der verschärfte Kampf der Monopole und der mit ihnen immer enger verbundenen imperialistischen Staaten hatte bereits zum ersten Weltkrieg geführt, nach dessen Ausgang die Probleme aber nicht gelöst waren. Sie hatten sich vielmehr, da die Märkte eingeengt, die Produktionskapazitäten weiterentwickelt waren, und durch andere Umstände, verschärft. Hinsichtlich der Exportfrage hieß dies, daß der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit zur Warenausfuhr und der Aufnahmefähigkeit der Außenmärkte, zwischen Exportzwang und Exportmöglichkeit sich zugespitzt hatte. E i n erbitterter internationaler Kampf um die Märkte tobte auch und gerade in der Zeit der Nachkriegskrise und der relativen Stabilisierung. In diesem Ringen wurden vielfältige Mittel eingesetzt. Dazu gehörte eben, daß der Export mittels der Exportkreditversicherung subventioniert wurde, die eine Art der sogenannten Eventualsubvention darstellt. 71 68 Hoefer, Wolfgang, a. a. O., S. 47/48. 69 70
71
Hertfelder, Emil, Das Problem der Kreditversicherung, Leipzig 1904, S. 71. Lutteaberger, Karl, Zur Frage einer deutschen Exportkreditversicherung. Festgabe für Otto Prange, Berlin 1926, S. 218. „Bei der Übernahme derartiger Garantien liegt zunächst keine direkte finanzielle Belastung des Subven-
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Die Entschädigungen und Subventionen
Die besondere Form der Exportsubventionierung ergab sich daraus, daß a) der eng mit den Monopolen verbundene deutsche Staatsapparat es als besonders dringliche Aufgabe betrachtete, den Export zu fördern bzw. verlorene Positionen des deutschen Imperialismus auf dem Weltmarkt wiederzuerobern; b) das imperialistische Stadium des Kapitalismus den Kampf um den Weltmarkt enorm verschärft hatte; c) innerhalb der Exportproblematik das Kreditrisiko infolge der Aggressionspolitik der imperialistischen Staaten und der daraus resultierenden Kriegsgefahren und politischen Wirren eine besondere Rolle spielte. In einer amerikanischen Untersuchung wurde festgestellt, daß ein erheblicher Teil der Ursachen für die Zahlungsunfähigkeit ausländischer Schuldner in Kriegen und Katastrophen zu sehen war. Das ist aus der Tabelle 65 zu entnehmen: Tabelle 65 Zahlungsunfähigkeit ausländischer Schuldner aus Kriegs- und Katastropbenursacben 1920—1923 (in Prozent) 1920
1921
1922
1923
14,4
23,2
20,9
16,3
Quelle: Ackermann, S. B./Neuner, S. S., Credit Insurance, New York 1924, S. 4.
Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich, daß die Zahlungsunfähigkeit aus Kriegs- und Katastrophenursachen zeitweilig fast ein Viertel aller Fälle von Zahlungsunfähigkeit ausmachte. Sie war auf jeden Fall bedeutend höher als die Zahlungsunfähigkeit aus Ursachen betrügerischer Manipulation mit Eigentum (Fraudulent disposition of property) oder wegen Unerfahrenheit (Tab. 66). Tabelle 66 Zahlungsunfähigkeit tvegen betrügerischer Manipulation (b. M.) mit Eigentum oder Unerfahrenheit (U.) (in Prozent) Jahr
1920
1921
1922
1923
b. M. U.
7 6,6
4,7 5,7
3,7 4,7
4,2 4,7
Quelle: Ackermann, S. B.¡Neuner, S. S., Credit Insurance, New York 1924, S. 4.
Das Kreditrisiko für Exporte gestaltete sich noch aus einem weiteren Grunde sehr schwerwiegend, und zwar wegen der Länge der Kreditgewährung. Ein erheblicher Teil des Kampfes um die Märkte spielte sich in überseeischen Gebieten ab. In diesen Gebieten, die großenteils industriell schwach entwickelt waren, hatte es sich historisch herausgebildet, daß der Zahlungstermin mit dem Zeitpunkt der Ernte bzw. des Verkaufs der Ernteergebnisse zusammenfiel. Bis dahin hatte der Exporteur die Waren zu kreditieren. Teilweise hing tionsgebers vor. Das hat dazu geführt, daß man sehr bereitwillig in der Übernahme von Bürgschaften gewesen ist. Sie sind wohl das beliebteste Mittel der Subventionierung der Nachkriegszeit gewesen. Es liegt aber in der Natur solcher Garantien, daß sie mehr oder minder große Verluste für den Garantierenden mit sich bringen." ( H o e f e r , Wolfgang, a. a. O., S. 31).
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Die Wittschaftspolitik des Staates
dies mit der relativen Schwerfälligkeit des Handelsapparates zusammen sowie damit, daß die importierten Waren nur langsam auf dem überseeischen Markt untergebracht und nur auf relativ langen Transportwegen dorthin geschafft werden konnten. Ferner hatte der imperialistische Konkurrenzkampf eine spezifische Form des Dumping herausgebildet: das Kreditdumping. Das heißt, es wurden besonders lange Kreditfristen bewilligt. Dies und andere günstige Kreditbedingungen spielten nach dem ersten Weltkrieg eine große Rolle im Kampf um die Märkte. Aus all dem ergab sich, daß die Exporteure immer dringender nach staatlicher Unterstützung in diesem Kampf verlangten. Von den Unternehmern wurde solche Hilfe auf dem Deutschen Bankiertag im September 1925 und dann auch durch den R D I gefordert. Im Februar 1926 kam es dann zu Verhandlungen mit den staatlichen Stellen, in denen genauer herausgearbeitet wurde, in welcher Form die Exportkreditversicherung vor sich gehen sollte. Dies ging nicht ohne heftige Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen regionalen Exporteurgruppen ab. Schließlich einigte man sich auf drei Arten staatlicher Unterstützung, die als Plan A, Plan B und Plan C gekennzeichnet waren. Nach Plan A, der hauptsächlich den Vorstellungen der Berliner Exportindustrie entsprach, wurden 10 Millionen RM aus Mitteln der Erwerbslosenfürsorge bereitgestellt. Diese Summe sollte dazu dienen, Verluste deutscher Exporteure zu decken, die bei der Gewährung von Auslandskrediten entstehen konnten. Das bei solchen Krediten entstehende Risiko wurde also mindestens teilweise vom Staat übernommen. Der Plan enthielt ferner die Bestimmung, daß nur solche Warenlieferungen versichert werden sollten, die sonst für den Export verloren gehen würden. So wurde die Entnahme der Mittel aus der Erwerbslosenfürsorge damit begründet, daß durch die Versicherung zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten geschaffen würden. Die von den Exporteuren zu zahlende Prämie war außerordentlich niedrig und entsprach keineswegs dem Risiko der Versicherungsübernahme. Vor allem von Hamburger Exporteuren wurde der Plan A stark kritisiert, da er angeblich unreelle Geschäfte und eine Schleuderausfuhr förderte. Nach dem von den Hamburger Firmen aufgestellten Plan B sollten nur „alte und solide Exportfirmen" 7 2 vom Reich unterstützt werden. Der Staat sollte hiernach nur den Kredit einer Bank versichern, den diese gegeben hatte, um einen Export zu ermöglichen. Hierbei wurde das Risiko des Reiches als wesentlich geringer angesehen, da die Kreditwürdigkeit eines inländischen Exporteurs als leichter überprüfbar eingeschätzt wurde als die ausländischer Importeure. Entsprechend war die Prämie noch niedriger angesetzt. Schließlich wurden Exportkreditversichcrungen auch nach einem weiteren Plan gewährt, dem Plan C. Dieser Plan galt ausschließlich für Exporte in die Sowjetunion, da solche Exporte von den Plänen A und B nicht erfaßt wurden. Nachdem der deutsch-sowjetische Vertrag vom 12. Oktober 1925 abgeschlossen war, erklärte sich die Reichsregierung im März 1926 bereit, Industriekredite für die UdSSR zu unterstützen. Durch die Übernahme einer Garantie von 33% sollten Lieferungen im Gesamtbetrage bis zu 300 Millionen RM ermöglicht werden. Bezeichnenderweise waren die Bedingungen für die Gewährung der Ausfallgarantie wesentlich schärfer als bei Kreditversicherungen in andere Staaten. Bei den sogenannten Rußlandgeschäften wurde nur die Hälfte des Fakturabetrages versichert, während der Versicherungsnehmer die anderen 50% selbst zu tragen hatte. Die Kreditgewährung an die Sowjetunion erfolgte durch ein von der Deutschen Bank geführtes « Hocbdörffer, Karl, a. a. O., S. 86.
Die Entschädigungen und Subventionen
153
Bankenkonsortium, dem 27 deutsche Banken angehörten. Sowohl die Zinsen für den Kredit waren hoch (jeweiliger Reichsbanksatz zuzüglich 1 % Zinsen und 1 , 9 % Provision) wie auch die Prämien, die sich für die ersten 3 Monate der Kreditdauer auf 3 % beliefen und sich für jedes weitere angefangene Vierteljahr um je 1V2% erhöhten. 73 Der auf dieser Basis zustandegekommene Kredit ermöglichte in der folgenden Zeit, daß die Ausfuhr in die Sowjetunion erheblich zunahm (Tab. 67). Tabelle 67 Deutsche Ausfuhr in die SU (in Uill.
1924-1928
RM)
1924
89
1925
250
1926
265,6
1927
329,6
1928
403,4
Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1924/1925, 1 9 2 6 , 1 9 2 9 .
Zwar erreichte der deutsche Export in die UdSSR auch 1928 nicht einmal die Hälfte dessen, was im Jahre 1913 nach Rußland ausgeführt wurde (978 Millionen Mark), doch haben Kuczynski/Wittkowski völlig recht, wenn sie feststellen: „ . . . erst der große Kredit im Jahre 1926 durchbrach wirklich das Eis der Kreditsabotage, das die kapitalistischen Länder um die Sowjetunion gelegt hatten, und die deutsche Wirtschaft profitierte ganz außerordentlich von diesem Schritt." 74 Das Mißtrauen der deutschen Exporteure und damit im Grunde auch die Exportkreditversicherung für Exporte in die UdSSR hatten sich im übrigen in der Beziehung als unnötig erwiesen, als die sowjetischen Außenhandelsorgane sich als die zuverlässigsten Schuldner erwiesen, was schließlich widerwillig zugegeben wurde. 75 Die übrigen, nicht in die Sowjetunion gehenden Exporte auf Grund von Kreditversicherungen erreichten nicht den erwarteten Umfang. Man hatte angenommen, damit einen zusätzlichen Export von 180 Millionen R M jährlich erreichen zu können. Bis Ende 1927 jedoch waren es nur 56,6 Millionen an Exporten, die in den Genuß der Exportkreditversicherung kamen. Zwar waren 6760 Anträge mit einem Gesamtbetrag von 92 Millionen R M eingereicht worden, doch wies man 2839 Anträge im Werte von 34,5 Millionen R M zurück, teils von einzelnen Versicherungsgesellschaften, teils vom wöchentlich tagenden, aus Unternehmern und Regierungsbeauftragten zusammengesetzten Ausschuß. 76 73
Weitete Einzelheiten siehe: Puchert, Bertbold, Die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen von 1918 bis 1939, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973, T. 4, S. 24.
74
Kuc^ynski, Jürgen/ Wittkowski, Grete, Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen in den letzten 150 Jahren, Berlin 1947, S.5775 „Wollte man auf die Erfahrungen der letzten Jahre gestützt das Exportkreditrisiko in Rußland beurteilen, man käme zu einem sehr günstigen Ergebnis. Die Sowjets sind bisher ihren laufenden Auslandsverpflichtungen stets nachgekommen, und es ist kein Fall bekannt geworden, in dem ein Wechsel nicht honoriert worden wäre. Danach müßte das russische Risiko als das geringste unter allen eingeschätzt werden; und dies um so mehr, als keine Veranlassung zu der Annahme besteht, daß der russische Staat in Zukunft von diesem Brauche abweicht." (Goldschmidt, Erich, Die Exportkteditversicherung, Berlin 1928, S. 90.)
76
Die Exportkreditversicberung mit Unterstützung des Reiches, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Nr. 43, Berlin 1929, S. 7.
11
Nussbaum, Bd. 2
Die Wirtschaftspolitik des Staates
154
Über den Erfolg der Versicherung äußerte sich der RDI folgendermaßen: „Wenn nach diesen Ergebnissen auch noch nicht davon gesprochen werden kann, daß der deutsche Gesamtexport durch die Exportkreditversicherung eine erhebliche Steigerung erfahren hat, so ist doch hervorzuheben, daß in den versicherten Verschiffungen ein guter Teil wirklich zusätzlichen Exports liegt, der ohne die Versicherung, allein auf das Risiko des Exporteurs nicht ausgeführt worden wäre." 77 Die prozentuale Verteilung auf die einzelnen Branchen, welche von dieser staatlichen Exportförderung profitierten, stellt Tabelle 68 dar. Tabelle 68 Anteil der Branchen an der staatlichen Exportkreditversicberung 1927/% . 1928/% Textilwaren Kleineisenwaren Spiel- und Galanteriewaren Stahl und Eisen Maschinen Chemikalien Papier Metallwaren Leder Instrumente und App arate Glas und Porzellan Elektromaterial Baumaterialien Lebensmittel Holz und Möbel Landwirtschaft
27 14 11,6 9 6,3 6 4,4 4 4 4 3,4 2,1 1,6 1,4 1 0,2 100
30 6,2 10,4 5 5,2 6,3 6,5 3,2 8 6,8 6 2,5 0,6 1 1,1 1,2 100
Quelle: Die 'Exportkreditversicherung mit Unterstützung des Reiches, in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Nr. 43, Berlin 1929, S. 8.
Es waren also in diesen Jahren die nichtmonopolistischen Industrien, die unmittelbar den Hauptanteil der Exportkreditversicherung genossen.78 Dies ändert aber nichts daran, daß diese Einrichtung aus den Bedingungen des imperialistischen Stadiums hervorging und ein Ausdruck des durch den Monopolkapitalismus verschärften Kampfes um die Exportmärkte war. Daß die Exportkreditversicherung mit staatlicher Ausfallgarantie hauptsächlich von kleineren und mittleren Unternehmen beansprucht wurde, mag auch damit zusammenhängen, daß die eigentlich großen Konzerne und Monopole sich erstens genügend kapitalkräftig fühlten, um ein eventuelles Exportrisiko auf den kapitalistischen Märkten selbst zu tragen, und zweitens über genügend Marktkenntnisse, Informationen und Sicherheiten verfügten, um dieses Risiko vergleichsweise viel niedriger halten zu können als andere Unternehmen. Mit diesem Verzicht der Monopole darauf, die Einrichtung zu beanspruchen, " Ebenda, S. 8. 78 Allerdings darf nicht übersehen werden, daß die Großbanken in Form von Zinsen und die beteiligten Versicherungsgesellschaften in Form von Provisionen ebenfalls profitierten.
155
Die Entschädigungen und Subventionen
hängt zweifellos auch zusammen, daß es sich im Grunde jeweils um nicht allzu große Summen handelte, die hier garantiert wurden.79 Aus der Struktur der Klienten der Versicherung geht noch einmal ganz deutlich hervor, daß nicht jede staatsmonopolistische Maßnahme oder Aktion immer und überall direkt den Monopolen zugute kommen muß bzw. darauf gerichtet ist, diesen unmittelbare Vorteile zuzuschanzen. Indem sie aber die Verwertungsbedingungen des Kapitals allgemein, also auch in nicht- oder noch nicht monopolisierten Zweigen zu verbessern und dadurch das ganze System funktionsfähig zu halten suchen, dient jede staatsmonopolistische Maßnahme oder Institution letztlich natürlich dem Monopolkapital, das sich ja nur innerhalb des Systems verwirklichen kann. Unter diesem Gesichtswinkel sind auch solche Subventionen zu begreifen, die nichtindustriellen Zwecken zugeführt werden und die hier nicht weiter behandelt werden können, wie Subventionen für den Wohnungsbau oder für Massenmedien, etwa die Reichswehrsubventionen für die Phöbus-Filmgesellschaft, oder Subventionen für die Landwirtschaft (Tab. 69). Tabelle 69 Öffentlich ausgewiesene staatliche Subventionen 1924—1928 (inMill.RM)
Bergbau und Industrie Landwirtschaft Wohnungsneubau u. Flugverkehr
Quelle: Hocbdörffer, 1930, S. 114.
Zuschüsse
Kredite
Garantien
47,377 101,5 162,77 311,647
128,895 1821,85 2679,05 4629,795
238,05 150,00 200.00 588,05
Karl, Die staatlichen Subventionen der Nachkriegszeit in Deutschland, Diss. Köln
Insgesamt betrugen danach die für staatliche Subventionen aufgewendeten Mittel ungefähr 5530 Millionen RM für den Zeitraum von 1924 bis 1928. Dies ergibt einen Jahresdurchschnitt von 1106 Millionen RM. Um eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Summe zu geben, seien hier die Zahlen für die Investitionen für öffentliche Gebäude und Tiefbau für die Jahre 1925 bis 1928 angeführt (Tab. 70).8° Tabelle 70 Investitionen für öffentliche Gebäude undTiefbau 1925—1928 (in Mill. RM) 1925
1926
1927
1928
zus.
830
1010
1460
1450
4750
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 260. 79
80
Späterhin nahmen allerdings auch Großunternehmen die Exportkreditversicherung in Anspruch und der Anteil der Produktionsmittelindustrie daran stieg besonders wegen der in den Krisenjahren stark anwachsenden Exporte von Maschinen und Ausrüstungen in die UdSSR. Für 1924 stehen keine Angaben zur Verfügung. — Hoffmann gibt an, daß diese Zahlen auf Schätzungen beruhen, die auf Grund von jährlichen Ziffern von Preußen und des Reichs, einiger Einzelwette für die übrigen Bundesstaaten sowie der Gemeinden vorgenommen wurden.
11*
156
Die Wittschaftspolitik des Staates
Die Gesamtsumme der Investitionen für öffentliche Gebäude und Tiefbau im Zeitraum von 1925 bis 1928 entspricht mit 4750 Millionen RM etwa der Summe der durchschnittlichen staatlichen Subventionen für vier Jahre, die 4424 Millionen RM beträgt. Diese Summe schließt jedoch die Kredite, von denen mindestens ein Teil wieder zurückfloß, sowie die Garantien mit ein. Eine andere Quelle gibt für diejenigen staatlichen Subventionen, welche als Zuschüsse gezahlt wurden, die Tabelle 71 an. Tabelle 71 Subventionen der öffentlichen Hand 1909-1913 und 1925-1929 (in Mill. KM) 1909 1910 1911 1912 1913
7 7 7 8 9
1925 1926 1927 1928 1929
114 103 160 216 189
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 803.
Zwar zeigt sich, daß auch vor dem ersten Weltkrieg die Subventionen eine Tendenz hatten zu steigen, doch ganz deutlich ist die gewaltige Steigerung der Subventionen der öffentlichen Hand nach dem ersten Weltkrieg bzw. in der Periode der relativen Stabilisierung. Im Jahre 1925 betrugen die staatlichen Subventionen in Form von Zuschüssen nicht weniger als 1267% derjenigen des letzten Vorkriegsjahres — eine Zahl, welche die enorm gewachsene ökonomische Rolle des Staates für die Sicherung der kapitalistischen Verwertungsbedingungen in nüchternen Ziffern zeigt. Tatsächlich entspricht die Summe der allein 1925 gezahlten Subventionen in Form von Zuschüssen derjenigen, die in den 19 Jahren von 1895 bis 1913 gegeben wurden. 81
4. Die öffentlichen Finanzen und der kapitalistische Konjunkturzyklus In der Periode der relativen Stabilisierung existierte noch kein umfassendes, auf reichen Erfahrungen beruhendes Konzept der Wirtschafts- und Finanzpolitik, welches dahin gezielt hätte, den kapitalistischen Reproduktionsprozeß und den zyklischen Ablauf als ganzen wirksam zu beeinflussen. Noch war die vor allem im Ergebnis der großen Krise von 1929/32 eintretende Neuorientierung der bürgerlichen Wirtschaftstheoretiker und Wirtschaftspolitiker nicht in das Bewußtsein der herrschenden Schichten getreten, ja hatte sich nicht einmal vollzogen, jene Neuorientierung, die sie den allerdings zweifelhaften Versuch unternehmen ließ, den kapitalistischen Reproduktionsprozeß und den zyklischen Ablauf durch eine Kombination verschiedenartiger Methoden in die Hand zu bekommen bzw. bewußt zu steuern. Dies schloß aber nicht aus, daß immer wieder sowohl bewußte finanzpolitische Maßnahmen getroffen wurden, um bestimmte volkswirtschaftliche Wirkungen zu erzielen, wie auch zahlreiche Impulse von der öffentlichen Finanzpolitik auf den kapitalistischen Repro81
Diese Summe belief sich auf 113 Millionen Mark. ( H o f f m a n n , Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965.)
Die öffentlichen Finanzen
157
duktionsprozeß ausgingen, ohne daß deren Effekte von vornherein beabsichtigt oder gar langfristig geplant waren. Doch das Gcwicht, das der Staat nunmehr als wirtschaftendes Organ und Teil der monopolkapitalistischen Produktionsweise erhalten hatte, und die Größenordnung der Staatsfinanzen machten es unausweichlich, daß jede ihrer Bewegungen auf den komplizierten und empfindlichen Gang der Gesamtwirtschaft zurückwirkte, ebenso wie natürlich die allgemeine Wirtschaftslage auf die finanzielle Situation des Staates bereits spontane Wirkungen hatte, bevor er bewußt darauf reagierte. So schwankten beispielsweise die Steuereinkünfte mit dem Auf und A b des Zyklus, während die Staatsausgaben diesen Zyklus wiederum beeinflussen, wenn auch nicht grundlegend verändern konnten. Die öffentliche Finanzgebarung war somit ein wichtiger Faktor staatlicher Wirtschaftseinflüsse. Im Mittelpunkt der staatlichen Finanzpolitik in der Periode der relativen Stabilisierung stand offiziell stets der Staatshaushalt bzw. das Bestreben, den sogenannten Haushaltsausgleich herbeizuführen. Es gelang zwar nie, Einnahmen und Ausgaben des Staates völlig in Einklang miteinander zu bringen, aber diese Zielstellung beeinflußte die gesamte Finanzpolitik bzw. wurde in der Argumentation von den verantwortlichen Finanzpolitikern hervorgehoben, etwa wenn es galt, den Machthabern nicht genehme Ausgaben abzulehnen oder von den Massen als drückend empfundene Lasten zu begründen. Andererseits wurden die Gefahren für den Haushaltsausgleich ziemlich bedenkenlos beiseitegeschoben, wenn es darum ging, die Verwertungsbedingungen des Kapitals mit Hilfe der Ausgabenpolitik zu sichern oder zu verbessern. Wenn die genannten Gesichtspunkte vorherrschten, bedeutete dies jedoch keineswegs, daß die Finanzpolitik in der Periode der relativen Stabilisierung stets in gleichmäßiger Bahn verlief. Sie war, wie andere Seiten staatlicher Tätigkeit, durchaus veränderlich und wurde beeinflußt, teils von der schwankenden allgemeinen Wirtschaftslage, teils von den wechselnden politischen Koalitionen, in denen verschiedene Gruppierungen der Bourgeoisie und der Monopolbourgeoisie unterschiedlich stark vertreten waren, teils von den subjektiven Vorstellungen und Absichten der verschiedenen Finanzminister und anderen Finanzfunktionäre, unter denen der Präsident der Reichsbank eine besondere Machtstellung innehatte. So kam es im Lager der herrschenden Klasse gerade über Fragen der Finanzpolitik nicht selten zu scharfen Auseinandersetzungen, da dieser oder jener Teil der Bourgeoisie sich nicht genügend begünstigt sah bzw. um noch günstigere Bedingungen kämpfte. 82 Es muß hier erwähnt werden, daß der Finanzminister in den Kabinetten der Weimarer Republik eine besonders starke Position besaß. Er benötigte für seine Vorschläge und Maßnahmen nicht die Zustimmung der Mehrheit seiner Regierungskollegen, sondern es genügte, wenn der Reichskanzler ihm zustimmte. In der ersten Zeit nach der Währungsstabilisierung war die Monopolbourgeoisie aus verschiedenen Gründen sehr daran interessiert, die neue Währung zu sichern. Dazu diente ein scharfer fiskalistischer Kurs, der mit Hilfe von Ermächtigungsgesetzen durchgesetzt werden konnte. Die Ausgaben, besonders auf sozialpolitischem Gebiet, wurden stark reduziert und neue Steuern ausgeschrieben. Einsparungen erzielte man zum großen Teil, indem man die Personalausgaben beschränkte. Die Zahl der Staatsbediensteten wurde vermindert und die Besoldungszuschüsse beseitigt. Die Beamten, Angestellten und Arbeiter in 82
Als augenfälliges Beispiel können die Auseinandersetzungen zwischen dem Finanzminister Reinhold und seinem Vorgänger bzw. Nachfolger gelten. (Keinhold, Peter, Deutsche Finanz- und Wirtschaftspolitik, Leipzig 1927, S. 7 ff.)
158
Die Wirtschaftspolitik des Staates
der Reichsverwaltung wurden von insgesamt 207416 am 1. Oktober 1923 auf 163377 am 1. April 1924 vermindert. 83 Besonders sparsam war die Regierung bei der Erwerbslosenfürsorge. Die im provisorischen Haushaltsplan vom 15. November bis 31. März vorgesehenen 340 Millionen RM für Erwerbslosenfürsorge wurden trotz steigender Arbeitslosigkeit nicht erhöht, sondern die Unterstützungssätze scharf gekürzt. Das Reich stellte die Bautätigkeit fast völlig ein. Außerdem wurde die 26%ige Reparationsabgabe, welche in England auf deutsche Importe erhoben wurde, den Exporteuren nicht mehr ersetzt. Doch schon während des Rechnungsjahres 1924 konnte diese Finanzpolitik nicht konsequent durchgehalten werden. Es zeigte sich auch eine Tendenz, die Ausgaben zu erhöhen. Neben bestimmten Besoldungserhöhungen erfolgten vor allem erhebliche Zahlungen an die Ruhrmonopole, die etwa 706 Millionen RM erhielten. Diese Zahlungen sollten angeblich dazu dienen, die Wirtschaftstätigkeit an der Ruhr anzukurbeln, während im übrigen die Finanzpolitik in diesem Zeitabschnitt von Abstinenzvorstellungen ausging. Das heißt, sie sollte bloß die wirtschaftliche Entwicklung nicht hemmen, aber nicht aktiv auf die Konjunktur einwirken. Zwar wurden bestimmte Steuersenkungen, die ab September 1924 erfolgten, wie die Herabsetzung der Umsatzsteuer, der Wertpapiersteuer sowie der Gesellschafts-, Körperschafts- und Einkommenssteuern so begründet, daß damit Preissenkungen ermöglicht werden sollten. Tatsächlich jedoch handelte es sich darum, die kapitalistische Akkumulation während eines Konjunkturaufschwungs zu erleichtern, was wegen des konjunkturell wachsenden Steueraufkommens ohne staatliche Mindereinnahmen möglich war (Tab. 72). Tabelle 72 Entwicklung der Zolleinnahmen des Reiches im Rechnungsjahr 1924 (April523,8 Mill. RM = 100, in Mi//. RM) April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Jan.
Febr.
März
100
99
90
111
113
116
131
128
121
146
124
115
Quelle: Net^band, Karl-BemhardjWidmaier, bis 1925, Tübingen 1964, S. 236 bzw. 267.
Hans Veter, Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther 1923
Der wichtigste Auftrag des Monopolkapitals an den Staat in finanzpolitischer Hinsicht blieb, die Währung stabil zu halten. Dazu wurde die Reichsschuld mit Hilfe des Rentenbankkredits von 300 Millionen getilgt und die Nebengeldsorten liquidiert, wozu auch gehörte, daß die Goldanleihe bis Juni 1924 abgelöst wurde. Der Übergangshaushalt unmittelbar nach der Stabilisierung wies zwar ein Defizit von 415 Millionen auf 84 , doch diese Summe lag innerhalb der Grenzen eines weiteren von der Rentenbank gewährten Kredits. Da andererseits das Haushaltsjahr 1924 mit einem Überschuß von 496 Millionen abschloß, wurde beide Male der Haushaltsausgleich nicht erzielt. 85 In beiden Fällen beeinflußte der Haushalt den Kapitalmarkt unterschiedlich. Vom 15. Nobaumgarten, Dietrich, Deutsche Finanzpolitik 1924—1928, Diss. Freiburg i. Br. 1965. Netzhand, Karl-BernbardIWidmaier, Hans Peter, Währungs- und Finanzpolitik der Ära Luther 1923 bis 1925, Tübingen 1964, S. 217. 8 5 Da für 1924 keine Angaben über die Länderhaushalte verfügbar sind, beschränken sich diese Angaben auf den Haushalt des Reiches, der ca. 35% des gesamten öffentlichen Haushalts ausmachte.
83 84
159
Die öffentlichen Finanzen
vember bis 31. Dezember, als die Konjunktur sich belebte, wirkte der Staatshaushalt expansiv. Aber schon von Januar bis Ende März überwogen die Entzugseffekte. Die vom Reichshaushalt und von Ländern und Gemeinden ausgehenden kontraktiven Tendenzen bestanden auch im Rechnungsjahr 1924. Die wirksamen Ausgaben blieben hinter den wirksamen Einnahmen zurück. Dies wurde dadurch nicht aufgehoben, daß in den Ausgaben die Reparationsleistungen enthalten waren, die teilweise als Sachlieferungen und Dienstleistungen entrichtet wurden und daher konjunkturfördernd wirkten. Die zurückhältende Ausgabenpolitik des Staates in diesem Zeitraum konnte allerdings nichts daran ändern, daß der Geldumlauf erheblich anstieg, was sich aus der Politik der Reichsbank ergab, auf die noch ausführlich eingegangen werden wird (Tab. 73). Tabelle 73 Geldumlauf am 31. 3.1924 und 31. 3.1925 (in Mrd. KM) 31. 3.1924 2,8
31. 3. 1925 4,5
Quelle-, Baumgarten, Dietrich, Deutsche Finanzpolitik 1924—1928, Diss. Freiburg i. Br. 1965, S. 35.
Es wäre in diesem Falle unrichtig, hinter den gegenläufigen Tendenzen die Interessen unterschiedlicher Gruppierungen der monopolkapitalistischen Gesellschaft zu suchen. Vielmehr lag hier eher eine Art von Arbeitsteilung vor, die sich aus der unterschiedlichen Aufgabenstellung von Staatsfinanzen und Reichsbank ergab. Diese Arbeitsteijung schloß andererseits allerdings nicht aus, daß unterschiedliche Auffassungen über diese oder jene Frage von den verschiedenen Institutionen vertreten wurden und es nicht selten zu Meinungsverschiedenheiten oder Reibungen kam. In der geringen öffentlichen Investitionstätigkeit wurde der enthaltsame Kurs deutlich. Im Jahre 1924 betrugen die öffentlichen Investitionen 497,7 Millionen RM, während die privaten Investitionen in der Industrie etwa 2495 Millionen RM ausmachten. 86 Darin sind sowohl Neuanlagen wie Vorratsvermehrung enthalten. Die öffentlichen Investitionen erreichten also nur ca 20% der Investitionen in der Privatindustrie. Bezieht man die öffentlichen Investitionen auf die Neuinvestitionen der Industrie in Anlagen alleine, dann betrugen die öffentlichen Investitionen allerdings ca. 140% (Tab. 74 und 75) Tabelle 74 Öffentliche Investitionen und Investitionen in der Industrie 1924—1928 (in MiII. KM)
Öffentliche Investitionen Neuinvestitionen in der Industrie davon Neuanlagen Vermehrung der Vorräte und stillet Lagerzuwachs
1924
1925
1926
1927
1928
458 2495 329 2166
756 2045 975 1070
1180 -498 484 -982
1429 2515 866 1650
1426 2293 1010 1283
Zusammengestellt nach: Kaiser, Günter/Henning, Bernhard, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft 1924—1928, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 22, Berlin 1931, S. 17,76 u. 154. 86
Kaiser, Günter/Benning, Bernhard, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft 1924-1928, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 22, Berlin 1931, S. 154 bzw. 76.
160
Die Wirtschaftspolitik des Staates
Tabelle 75 Verhältnis der öffentlichen Investitionen (in Prozent)
Neuinvestitionen in der Industrie 1924—1928
1924 A. zu Neuinvestitionen in der Industrie insgesamt B. zu Anlageninvestitionen
1925
1926
1927
1928
19,9
33,4
—
56,4
68,3
139,3
77,6
243,7
165,2
141,2
Quelle: Berechnet nach: Kaiser, Giinter\Benning,Bernhard, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft 1924—1928, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 22, Berlin 1931, S. 76 u. 154.
In den Jahren nach 1924 stiegen die öffentlichen Investitionen nicht nur absolut, sondern auch verhältnismäßig zu den Investitionen in der Privatindustrie, sowohl bezogen auf die Gesamtinvestitionen wie auf die Investitionen in Neuanlagen. Einen Sonderfall bildet dabei das Jahr 1926, in dem die Privatindustrie nicht nur relativ wenig Neuanlagen vornahm, sondern auch ihre Lagerhaltung so stark verringerte, daß insgesamt ein negativer Investitionseffekt erzielt wurde. An den Investitionen der öffentlichen Verwaltung war das Reich 1924 mit etwa 22% beteiligt. Den weit höheren Anteil investierten Länder und Gemeinden (Tab. 76). Tabelle 76 Neuinvestitionen der öffentlichen Verwaltungswirtschaft (ohne Ankaufe und Wohnungsbau) (in Prozent)
1924—1928
Investitionsträger
1924
1925
1926
1927
1928
1924-1928
Reich Länder Hansestädte Gemeinden Gemeindeverbände Gesamt
22,2 19,7 6,2 44,1 7,8 100
17,9 17,9 7,0 48,5 8,7 100
14,8 14,2 3,9 56,7 13,7 100
13,6 12,3 5,3 54,6 14,2 100
13,6 12,3 5,3 54,6 14,2 100
15,3 15,1 5,0 52,8 11,8 100
Quelle: Kaiser, Günter¡Benning, Bernhard, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswittschaft 1924-1928, in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 22, Berlin 1931, S. 155.
Diese Tabelle zeigt, daß nicht nur 1924 der Anteil des Reiches an den öffentlichen Investitionen relativ niedrig war, sondern daß dieser Anteil in den folgenden Jahren noch weiter sank. Der Anteil der Gemeinden und Gemeindeverbände zeigt eine deutlich zunehmende Tendenz. Der sinkende Anteil des Reiches an den Neuinvestitionen bedeutete jedoch keineswegs, daß die absolute Summe der Investitionen des Reiches abnahm. Diese nahmen vielmehr, wie die Summe der öffentlichen Investitionen überhaupt, fast ständig zu, doch stiegen die Investitionen auf anderen Ebenen, vor allem in den Gemeinden und Gemeindeverbänden, schneller (Tab. 77). Es ist bedeutsam, daß die Investitionen der Gemeinden, die 1924 noch rund doppelt soviel wie diejenigen des Reiches ausmachten, dann für den ganzen Zeitraum 1924—1928 auf 345% derjenigen des Reichs anstiegen. Auch bei den Investitionen der Gemeindever-
161
Die öffentlichen Finanzen rateile 77
Investitionen der öffentlicbenVerwaltungsmrtschaft
1924—1928 (inMill. KM)
Investitionsgebiete bzw.-träger
1924
1925
1926
1927
1928
1924-1928
A. Verwaltungswirtschaft i. e. S. I. Reich II. Länder III. Hansestädte IV. Gemeinden V. Gemeindeverbände
101,9 90,0 28,3 201,8 36,0
135,6 135,7 52,7 366,9 65,5
174,3 167,7 46,0 668,9 123,6
195,6 223,4 58,5 755,5 196,1
194,4 175,0 76,4 778,2 202,0
801,8 791,8 261,9 2771,3 623,2
A . Öffentliche Verwaltungswirtschaft i. e. S. B. Investitionen in noch nicht anderwärts erfaßten Betriebsverwaltungen (Schlacht- und Viehhöfe, Märkte und Ausstellungshallen, Häfen, Bäder u. a.) C. Ferner: Bauzuschüsse und Darlehen (z. B. Zuschüsse für Schulbauten, Verkehrsbauten, Reichsgrenzhilfe u. a. m.), deren Investitionen nicht erfaßt werden können
458,0
756,4
1180,5
1429,1
1426,0
5250,0
30,7
62,9
48,1
89,6
49,7
281,0
6,0
30,0
20,0
50,0
40,0
146,0
A - C : Öffentliche VerwaltungsWirtschaft insg.
494,7
849,3
1248,6
1568,7
1515,7
5677,0
Quelle: Kaiser, GünterjBenning, Bernhard, Kapitalbildung und Investitionen in der deutschen Volkswirtschaft 1 9 2 4 - 1 9 2 8 , in: Vierteljahrshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 22, Berlin 1931, S. 154.
bände ist festzustellen, daß sie bedeutend schneller wuchsen. Sie stiegen von ein wenig mehr als einem Drittel der Investitionen des Reichs 1924 auf mehr als sechsachtel der Reichsinvestitionen. Im allgemeinen zeigte sich, daß die Staatsausgaben mehr oder weniger parallel mit dem Konjunkturzyklus verliefen. Das heißt, in den Aufschwungsphasen herrschte die Tendenz zu erhöhten Ausgaben und zu Steuersenkungen, während man in der Depression die Staatsausgaben einzuschränken und die Steuern zu erhöhen suchte. Diese öffentliche, als zyklisch zu bezeichnende Finanzpolitik, die gleichzeitig darauf ausgerichtet war, die Vermögen möglichst zu schonen und die kapitalistische Akkumulation zu erleichtern, läßt sich sowohl für den Übergangshaushalt wie für 1924 und 1925 feststellen. Jedoch zwang die Knde 1925 ausbrechende Zwischenkrise, die den größten Teil des Jahres 1926 andauerte, die herrschenden Kreise dazu, das Konzept zu korrigieren. Zunächst versuchte man noch, den alten Kurs beizubehalten. Aber die Großindustrie drängte auf konjunkturfördernde Schritte der Regierung. In einer Denkschrift im Dezember 1925 wünschte der RDI verbilligte Kredite.87 Dies sollte dazu dienen, die Exportpreise herabzusetzen und so die Exportoffensive der 87Deutsche
Wirtschafts-
und Finanzpolitik,
Industrie, Heft 29, Dezember 1925, S. 50.
in: Veröffentlichungen des Reichsverbandes der Deutschen
162
Die Wirtschaftspolitik des Staates
Monopole zu unterstützen. Das gleiche war schon in einer Eingabe des Außenhandelsverbandes vom Oktober gefordert worden. 88 In der genannten Denkschrift des RDI wurden weiterhin günstige Tarife der Reichsbahn, niedrigere Steuern und Sozialausgaben, Beschränkung der ökonomischen Tätigkeit des Staates, Freiheit für kapitalistische Konzentration und Kartellbildung sowie niedrige Löhne verlangt. Die Unternehmer erklärten: „Wir können die Lohnhöhe von 1913 nicht als die Norm für die heutige Lohnpolitik ansehen, weil wir heute eine andere Wirtschaftsgrundlage haben, die nicht mit den Lebensund Produktionsverhältnissen des Jahres 1913 vergleichbar i s t . . . Maßgebend für die Bemessung und Bewertung unserer Lohnhöhe ist deshalb nicht die Frage, ob der Friedensreallohn erreicht ist oder nicht." 89 Auch der Reichstag wurde in die Kampagne eingeschaltet, durch welche die Regierung veranlaßt werden sollte, den Zins für Leihkapital zu senken. 90 Die Regierung folgte weitgehend den in der RDI-Denkschrift enthaltenen Forderungen. Sie führte den achtprozentigen Pfandbrief als Normaltyp mit dem Ziel ein, später auf 7% herabzugehen. 91 Der Reichsbankdiskontsatz wurde stufenweise gesenkt (Tab. 78). Tabelle 78 Entwicklung des Reichs bankdiskonts von Januar 1925—Juni 1926 Monat
Diskontsatz
Januar 1925 Juni 1925 Januar 1926 Februar 1926 April 1926 Juni 1926
10 % 9 % 9 % 8 % 7 % 6,5%
Quelle: Deutschlands wirtschaftliche 'Entwicklung im ersten Halbjahr 1926, Reichs-Kredit-Gesellschaft A. G., Berlin 1926, S. 23.
Man versuchte die Konjunktur durch Zinsverbilligungen und Steuerkürzungen günstig zu beeinflussen. Dabei wurden vor allem die direkten Steuern stark gekürzt, während die von den Massen getragenen Verbrauchssteuern nur geringfügig oder überhaupt nicht ermäßigt wurden. Der Versuch, die Investitionen anzuregen, wurde bereits Ende 1925 deutlich, als in einem Erlaß des Reichsfinanzministeriums vom 29. Dezember 1925 als Sonderregelung zum Einkommensteuergesetz eine „Besteuerung nach Verbrauch" eingeführt wurde. 92 „Übermäßiger Verbrauch finanzieller Mittel", d. h. Entzug von Akkumulationsmitteln für privaten Konsum der Bourgeoisie, sollte höher besteuert werden. Im Reichstag formulierte Reichskanzler Luther die Grundsätze der Finanzpolitik, als er am Zentrales Staatsarchiv (im folgenden: ZStA) Potsdam, Reichsarbeitsministerium (im folgenden: RAM), Nr. 10425, Bl. 86. 89 Deutsche Wirtschafts-und Finanzpolitik, a. a. O., S. 46. 9 0 Zu den fortgesetzten Bemühungen in dieser Richtung siehe auch: Hämo, Bernhard, Zu den Krisenbekämpfungsmaßnahmen der Reichsregierung 1925/26 (Kabinett Luther). Diplomarbeit Humboldt-Univ. Berlin, Sektion Wirtschaftswiss., Berlin 1974, S. 22 f. »1 ZStA Potsdam, RWM Nr. 15 476, Bl. 80. 9 2 ZStA Potsdam, Reichsarbeitsministerium, Nr. 10 426, Bl. 64.
88
Die öffentlichen Finanzen
163
26. Januar 1926 erklärte, daß ein Steuerübermaß vermieden werden müsse, und den „Abbau wirtschaftshemmender und damit preisverteuernder Steuern" 93 ankündigte. Doch die zunächst ergriffenen Maßnahmen wirkten nicht spürbar auf den Konjunkturverlauf — zumal, den Wünschen der Industriellen folgend, die Ausgaben eingeschränkt wurden. Schon Ende März mußte wegen der hohen Arbeitslosigkeit die vorgesehene Summe für Erwerbslosenfürsorge von 100 Millionen RM auf das Dreifache erhöht werden.^ Die Krise zwang die sich dazu nur zögernd entschließende Reichsregierung, die Ausgaben zu erhöhen. Die starke Arbeitslosigkeit drängte schließlich zu einer antizyklischen Wirtschaftspolitik, die durch die Lage auf dem Kapitalmarkt begünstigt wurde, welche dazu herausforderte, Darlehen aufzunehmen. Ein wesentlicher Faktor war dabei neben der ökonomischen Lage die labile innenpolitische Situation des zweiten Kabinetts Luther. Noch kurz bevor das Kabinett am 13. April gebildet wurde, hatte Luther kategorisch abgelehnt, die Kurzarbeiter zu unterstützen. Er gebrauchte das Argument, dies bedeute den „Ruin der Wirtschaft". 95 Unter dem Druck der Arbeitslosenziffern, die vom Reichsarbeitsministerium auf 1,4 Millionen Arbeitslose und 1,6 Millionen Kurzarbeiter angegeben wurden, und eines befürchteten Linksruckes der Massen — was auch dazu führte, daß die Herrschenden in dieser Situation eine Reichstagswahl zu vermeiden suchten und die Regierung lieber durch langwierige Koalitionsverhandlungen hinter verschlossenen Türen zustandebrachten — mußte Luther jedoch schon am 23. April der Vorlage des Reichsarbeitsministers zustimmen. Von der Volkspartei vertretene großbourgeoise Kreise konnten zwar einen förmlichen Kabinettsbeschuß noch hinauszögern, aber die wendigeren Kräfte in der Regierung setzten sich durch, und am 5. Februar traten die Maßnahmen auf dem Verordnungswege in Kraft. Damit wich man einer von der Regierung gefürchteten sozialpolitischen Debatte im Reichstag aus, obwohl Luther zunächst beabsichtigt hatte, die Unterstützungen vom Reichstag beschließen zu lassen.96 Zur antizyklischen Wirtschaftspolitik gehörten Notstandsarbeiten in größerem Umfange. Nachdem bereits 1919 die sogenannte Produktive Erwerbslosenfürsorge eingeführt worden war, deren Ausgaben jedoch die gesparte Erwerbslosenfürsorge nicht übersteigen durften, wurde dann etwas mehr finanzieller Spielraum geschaffen.97 Am 2. Juli 1926 billigte der Haushaltsausschuß den Beschluß der Regierung, die Ausgaben für produktive Erwerbslosenfürsorge von 100 auf 200 Mill. RM zu erhöhen.98 Zu den aufgenommenen Arbeiten gehörten Straßen- und Kanalbauten, Flußregulierungen, Bodenmeliorationen, Talsperrenbauten u. a. So wurde der DRBG im März 1926 ein Kredit über 100 Millionen RM vom Reich gewährt, dessen Wirkung allerdings erst nach der Überwindung der Krise fühlbar wurde. Bei der Reichsbahn lag ein dringender Bedarf an Arbeiten vor. So war der Gleisoberbau dringend erneuerungsbedürftig, da während des Krieges und in der Nachkriegszeit wenig 93 Verhandlungen des Deutseben Reichstags, III. Wahlperiode, 1924-1926, Berlin 1926, Bd. 388, S. 1456 ff. 94 Baumgarten, Dietrich, a. a. O., S. 48. «5 Tagebuch Stresemanns, 24.1.1926, VM II, S. 385. 96 Siehe Stürmer, Michael, Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924—1928, Düsseldorf 1967, S. 145. 97 „Die Bestimmungen über öffentliche Notstandsarbeiten" vom 30.4.1925 erlaubten, bei Arbeiten „von volkswirtschaftlichem Wert" und außergewöhnlich schlechter Arbeitslage über die Beträge der gesparten Erwerbslosenfürsorge hinauszugehen. Siehe RGBl. 1,1925, S. 53. 98 Baumgarten, Dietrich, a. a. O., S. 53.
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D i e Wirtschaftspolitik des Staates
dafür getan worden war. Daher wurde das Gleisumbauprogramm um 30 Mill. RM erweitert. 35 Millionen sollten ausgegeben werden, um Werkstoffe und Ersatzstücke zu beschaffen, und 15 Millionen R M sollten für Brückenbauten, Erweiterung von Bahnhöfen und Wohnungsbauten verwendet werden. 20 Millionen RM wurden als erste Teilsumme für die Elektrifizierung der Berliner Stadt- und Ringbahn zur Verfügung gestellt. Diese Aufträge führten zu einer wesentlichen Belebung vor allem der Metallindustrie und des Maschinenbaus, jedoch erst im Herbst 1926." Die erwähnten Maßnahmen zur Exportförderung mit Hilfe der Exportkreditversicherung fielen ebenfalls in diesen Rahmen. Hier drückt sich deutlich die systemsichernde Funktion staatlicher Wirtschaftspolitik aus. Der Stata übernahm während einer wirtschaftlichen Depression sogar gegen den Widerstand der konservativsten Fraktion der Monopolbourgeoisie einen erheblichen Teil der Aufgabe, die darin besteht, den produzierten und akkumulierten Mehrwert in produktives Kapital zu verwandeln; d. h. er entlastete die Bourgoisie vor dem mit Investitionen verbundenen Risiko. Da die vom Staat investierten Mittel mindestens partiell nicht in produktives, d. h. selbts wieder Mehrwert erzeugendes Kapital umgewandelt, sondern für sogenannte unproduktive Ausgaben, z. B. den Bau von Verwaltungsgebäuden verwendet wurden, entsprach diese Wirtschaftspolitik bestimmten Forderungen, die von bürgerlichen Ökonomen erst später formuliert und zum Range einer Theorie erhoben wurden. Aber ebensowenig wie in der Gegenwart konnte die staatliche Investitionspolitik, so „antizyklisch" sie auch sein mochte, die Krise von 1925/26 oder gar den zyklischen Verlauf der kapitalistischen Konjunktur überhaupt aus der Welt schaffen. Daß die staatlichen bzw. öffentlichen „Ankurbelungsinvestitionen" nur wenig wirksam wurden, ergab sich in der konkreten Situation vor allem daraus, daß ein großer Teil der staatlichen Investitionen erst realisiert wurde, als die Krise bereits überwunden war, also zu spät kam. Dies trifft z. B. auf die Investitionen der Reichsbahn, zum großen Teil auch auf den staatlich geförderten Wohnungsbau zu. 100 Die Folgen der staatlichen Antikrisenmaßnahmen von 1926 lassen sich nicht eindeutig nachweisen. Doch gibt es Untersuchungen, die sich damit befassen, wie sie auf bestimmte Sektoren der Wirtschaft wirkten, in denen mehr oder weniger das Schwergewicht der betreffenden staatlichen Aktivität lag. Dies war vor allem das Baugewerbe. Der Stand der beschäftigten Vollarbeiter entwickelte sich hier wie in Tabelle 79 ersichtlich. Aus der Tabelle ist zu erkennen, daß die Zahl der Vollarbeiter in der gesamten Bauindustrie von 1925 auf 1926 abnahm. Das gleiche trifft auch für die Zweige des Hochbaus und der Baustofferzeugung zu. Nur im Tiefbau nahm die Zahl etwas zu, ohne indessen ausgleichen zu können, daß die Bauwirtschaft im ganzen zurückging. Gerade im Tiefbau aber wurden die Arbeiten vorwiegend als Notstandsarbeiten durchgeführt, was bedeutete, daß die hier eingesetzten Erwerbslosen unter Tarif bezahlt wurden und damit als Konsumenten nur schwach auf dem Markt in Erscheinung treten konnten. Auffällig ist, daß die Zahl der 99 Robde, Ewald, Konjunkturpolitik durch öffentliche Aufträge, D i s s . Berlin 1930, S. 82. 100
Reichswirtschaftsminister Curtius mußte 1928 zugeben: „ I m Frühjahr 1927 erwuchs uns . . . die A u f g a b e , die V e r g e b u n g der öffentlichen Hand mit Rücksicht auf eine bereits stark ansteigende Konjunktur abzudrosseln. D i e Bestrebungen des Reichswirtschaftsministeriums und des Reichsarbeitsministeriums, die nach dieser Richtung hinzielten, hatten aber keinen durchschlagenden E r f o l g , weil sich herausstellte, daß sowohl unser gesamtes Verwaltungssystem wie auch unser Etatrecht nicht elastisch g e n u g sind, um bei den Vergebungen der öffentlichen Hand den Konjunkturschwankungen f o l g e n zu können." ( Verband-
langen des Deutseben Reichstages, B d . 395, S. 1 3 - 1 3 4 ) .
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Die öffentlichen Finanzen
Tabelle 79 Vollarbeiter beiden Berufsgenossenscbaften (in 1000) Jahr
1924 1925 1926
Hochbau
Tiefbau
H. u. T.bau
Baust.
1
2
3
4
724 940 875
128 147 163
852 1087 1037
421 503 445
Insg.
Gewerbl. B. g. ohne 1—4
1273 1590 1482
7145 7674 6745
Quelle: Neu, K., Die Arbeitslosigkeit in der deutschen Bauwirtschaft, in: Die Arbeitslosigkeit der Gegenwatt, München/Leipzig 1932, S. 89. Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 185, II.
Notstandsarbeiter für 1926 in etwa mit der Zahl der im Tiefbau Beschäftigten korrespondiert, was nicht unbedingt bedeuten muß, daß alle im Tiefbau Beschäftigten Notstandsarbeiter bzw. vice versa waren (Tab. 80). Tabelle 80 Zahl der Notslandsarbeiter im Deutschen Reich 1926 Stichtag
Zahl
15. 4. 1926 15.5.1926 15. 6. 1926 15. 7. 1926 15.8.1926 15.9.1926
163219 170105 154228 143695 130102 130113
Berechnet nach: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1927.
Stellen wir dazu fest, daß, selbst als die Zahl der Notstandsarbeiter am größten war, nämlich im Mai 1926 mit 170105 Notstandsarbeitern, sie doch nur 8,9% der Hauptunterstützungsempfänger betrug, so wird deutlich, daß die krisenlindernde Wirkung der staatsmonopolistischen Antikrisenmaßnahmen begrenzt war, ganz zu schweigen davon, daß die Krise durch diese Politik überwunden worden wäre. Dahin wirkten andere Faktoren weit stärker, wie die mit der neuen Stufe des Konzentrationsprozesses verbundenen Wirkungen, die neuen technologischen und produktionsorganisatorischen Effekte dieses Prozesses, die allgemeine Verbesserung der Exportbedingungen, die verstärkten Sachlieferungen im Rahmen der Reparationsleistungen sowie der englische Bergarbeiterstreik. 101 Auf der anderen Seite mußte die expansive Wirkung des öffentlichen Haushalts mit Budgetdefiziten und wachsender öffentlicher Verschuldung bezahlt werden. Im ganzen 101
Über die Folgen dieses Streiks wird z.B. berichtet: „Die Kohlenabfuhr zu Tal betrug auf dem Rhein 28,7 Mill. t = 6 7 % mehr als 1925 und 1 4 5 % mehr als 1913, die Eisenabfuhr 3,133 Mill. t gegen 1,22 Mill. 1925 = 1 5 7 % mehr als 1925 und 3 0 % mehr als 1913. Zeitweise war der Abtransport von Brennstoffen so stark, daß selbst die vorzüglichen Hafenanlagen Duisburg-Ruhrort den Verkehr nicht bewältigen konnten." ( H a g e m e i s t e r , Paul, Der Hinfluß des englischen Bergarbeiterstreiks im Jahre 1926 auf die mitteleuropäische Wirtschaft und den mitteleuropäischen Arbeitsmarkt, Diss. Münster 1932, S. 58).
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
war die komplexe antizyklische Wirtschaftspolitik des Staates 1926 ein Novum und ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Entwicklung des staatsmonopolistischen Instrumentariums der „Krisenbekämpfung", die tatsächlich bestenfalls bedeutet, daß Krisensymptome bekämpft werden können, die aber gerade deswegen ihren bleibenden Platz in der heutigen Praxis des staatsmonopolistischen Kapitalismus gefunden hat. Innerhalb der Periode der relativen Stabilisierung jedoch bildete die antizyklische Politik von 1926 eine Ausnahme, und in den übrigen Jahren zeigten stetig wachsende öffentliche Ausgaben, daß die staatliche Finanzpolitik zyklisch verlief. Daß in der hier behandelten Periode die antizyklische Wirtschaftspolitik des Staates noch weitgehend provisorisch war, läßt sich daran ermessen, daß, nachdem die Krise überwunden und man in die hochkonjunkturelle Phase eingetreten war, diese Politik schnell wieder abgebaut wurde. Das heißt, die Staatsausgaben wurden auch in der neuen Phase erhöht und die Steuern gesenkt. Unter anderem wurde die Besoldung der Beamten ab Tabelle 81 Staatliche Ausgaben im imperialistischen Deutschland 1913—1928
Jahr
1913 1925 1928
Staatliche Ausgaben (lfd. Preise)
Staatliche Ausgaben (Goldwert)
Gesamtausgaben
Gesamtausgaben
je Person
je Person
Mrd.
1913=100 RM
1913=100 Mrd.
1913=100 RM
7,2 14,5 20,8
100 201 288
100 214 302
100 141 190
107,2 229,3 324,1
7,2 10,2 13,7
107,2 161,7 213,6
1913=100 100 151 199
Quelle: Profitbesteuerung und Regulierung der Kapitalakkumulation. Grundlagen, Funktionen und Auswirkungen der Kapitalbesteuerung, eines wichtigen Elements des staatsmonopolistischen Regulierungssystems, in: DWI-Forschungshefte, Nr. 3/1968, S. 10. Tabelle 82 öffentliche Ausgaben 1925-1928 (in Mill. RM) Ausgabenbereich Allgemeine Verwaltung Finanz- und Steuerwesen Staats- und Rechtssicherheit Bildungswesen Wohlfahrtswesen davon Erwerbslosenfürsorge Wohnungswirtschaft Wirtschaft und Verkehr Gemeindt. Anst. u. ä. Schuldendienst u. -verw. Kriegslasten insg. Sonstiges öffentl. Ausgaben insgesamt
Rechnungsjahr 1925
1926
1927
1928
725 674 1909 2370 2454 481 1070 1454 484 194 3102 29 14465
724 716 1026 2529 3639 1272 1449 1750 541 508 3287 31 17200
909 721 2236 2885 3131 542 1628 2137 682 715 3689 39 18771
869 823 2399 3198 3586 793 1542 2224 739 903 4494 26 20803
Quelle: Baumgarten, Dietrich, Deutsche Finanzpolitik 1924-1928, Diss. Freiburg i.Br. 1965, S. 214.
167
Die staatsmonopolistische Rationalisierung
Herbst 1927 erhöht, wobei die Gehälter durchschnittlich um 16 bis 17% stiegen. Dazu verbesserte man zwar etwas die Rentenfürsorge, war aber gleichzeitig bestrebt, die durch die Konjunktur sowieso sinkenden Erwerbslosen- und Kurzarbeiterunterstützungen abzubauen. Die Konjunkturempfindlichkeit des Reichshaushaltes sollte dadurch vermindert werden, daß die „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" gegründet wurde, die am 1. Oktober 1927 ins Leben trat. Sie konnte jedoch nicht verhindern, daß schon 1928 die diesbezüglichen Ausgaben wieder anstiegen. Im ganzen tendierten die öffentlichen Ausgaben während der gesamten Periode dazu, zu wachsen. Ihr Anteil am Volkseinkommen war wesentlich höher als vor dem Kriege. Damit erhöhte sich das Gewicht des Staates in der Wirtschaft, und sein Einfluß auf das wirtschaftliche Geschehen wuchs (Tab. 81,82 und 83). Tabelle 83 Anteil der Staatsausgaben
am Nettosozialprodukt
1910/13 und 1925/29 (in l f d . Preisen)
Jahr
insgesamt
ohne Verteidigung
1910/13 1925/29
10,8 13,6
7,8 12,7
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 107.
Da die Haupteinnahmequelle des Staates die Steuerzahlungen der Bevölkerung bildeten, ergab sich, daß die steuerliche Belastung wachsen mußte. Tabelle 84 Steuerbelastung
1913 1925 1926 1927 1928
der Bevölkerung Steuern (alle Ebenen Bevölkerung d. öff. Hand) (in Mill. Einw.) (in Mill. M)
Steuern pro Kopf (in M)
4737 10578 11675 13546 14298
70,72 167,46 183,48 211,58 222,04
66,978 63,166 63,630 64,023 64,393
Quelle: "Lehmann, Karin, ökonomische Regulierungsfunktionen der Haushalte der öffentlichen Hand im Deutschen Reich in der Zeit der Weimarer Republik, unveröffentl. Manuskript, T. 2, S. 38.
5. Die staatsmonopolistische Rationalisierung Die hinsichtlich wirtschafdicher Probleme gegenüber der Vorkriegszeit gewandelte Rolle des Staates wird besonders deutlich an der aktiven Rationalisierungspolitik nach dem ersten Weltkrieg. Die in Deutschland einsetzende Welle der Rationalisierung wurde durch staadiche Maßnahmen und staatsmonopolistische Institutionen bewußt gefördert, wobei zwar die staatlicherseits aufgewendeten finanziellen Mittel in ziemlich engen Grenzen blieben, aber die staatliche Autorität und Organisation wichtige Funktionen hatten.
168
Die Wirtschaftspolitik des Staates
Während vor dem Kriege interessierte Kreise sich um Teilgebiete der Rationalisierung, wie Normung und Taylorisierung, zu bemühen begonnen hatten, ohne daß der Staat daran beteiligt gewesen war, begann dann das staatliche Engagement in der Rationalisierungsproblematik während des Krieges und bezog sich damals vor allem auf die Rüstungsproduktion. Im November 1916 hatte sich das Reichsmarineamt bemüht, eine „MarineNormalienkommission" zu bilden, welche die Normungsarbeiten im Schiffsbau regeln sollte. Hier sollten sowohl die Werften wie die Marinebehörden mitarbeiten. Etwas später entstand auf Initiative des Waffen- und Munitionsbeschaffungsamtes der „Normalienausschuß für den deutschen Maschinenbau", der ebenfalls den steigenden Anforderungen bei der Produktion von Kriegsmaterial entsprang, wo unterschiedliche Maße und Typen zu Verlusten geführt hatten. Zum Beispiel mußten „beim Rückzug 1918 . . . Millionenwerte an Kraftfahrzeugmaterial vernichtet werden, denn es war nicht möglich, die große Zahl der reparaturbedürftigen Fahrzeuge durch schnelle Auswechselung gleichartiger Ersatz- oder Zubehörteile rechtzeitig abfahrbereit zu machen." 102 Im „Normalienausschuß" arbeiteten Vertreter des Staates und der Privatindustrie eng zusammen. Doch sollte dies nicht auf die Maschinenindustrie beschränkt bleiben. Im Dezember 1917 wurde der „Normenausschuß der deutschen Industrie" gebildet, der mit Kriegsende seine Tätigkeit nicht einstellte, sondern vielmehr noch erweiterte und auf nichtindustrielle Gebiete ausdehnte. 1926 wurde er daher in „Deutscher Normenausschuß" umbenannt. Daß Vertreter des Staates und der Monopole auf diesem Gebiet eng zusammenwirkten, war offenbar für die Letzteren besonders vorteilhaft, da sie so die staatliche Autorität benutzen konnten, um ihre technischen und Normierungsvorstellungen gegenüber unwilligen oder widerspenstigen Konkurrenten durchzusetzen. Die Bedeutung dieser Institution wurde von den Interessenten erkannt, was sich u. a. darin zeigte, daß, während z. B. im Etatsjahr 1919 aus Reichsmitteln dafür 100000 Mark verfügbar waren, seitens der Industrie das Zehnfache dieser Summe aufgebracht wurde. 103 Doch waren die Normungsprobleme nur ein Teilgebiet der Rationalisierung. Für darüber hinausgehende Aufgaben setzte der Normenausschuß schon 1917 einen „Arbeitsausschuß für Herstellungsfragen" ein, den Anfang 1918 der „Ausschuß für wirtschaftliche Fertigung" ablöste. Nach Kriegsende hörte die Zusammenarbeit von Staat und Monopolen auch hier nicht auf, sondern wurde, nachdem einige Schwierigkeiten überwunden waren, sogar intensiviert. Wie ist das zu erklären ? Die Anforderungen des Krieges hatten das Bedürfnis nach bestimmten Rationalisierungsmaßnahmen auf einer Reihe von Gebieten der Rüstungsproduktion zwar besonders augenfällig und dringend gemacht und somit die staatliche Initiative herausgefordert, aber die eigentlichen und tiefsten Triebkräfte für die Rationalisierungsbewegung lagen woanders. Sie ergaben sich zunächst einmal aus der rapiden Entwicklung von Technik und Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Einführung zahlreicher neuer Produktionstechniken, neuer Arbeitswerkzeuge und der Verwendung der ersten halbautomatischen Maschinen.10* Die Antriebs- und Übertragungsmaschinerie veränderte sich grundlegend, als die Elektrizität in der Produktion immer mehr verwendet wurde, so daß manche Wissenschaftler von einer „elektrotechnischen Revolution" sprechen.105 Die 102 Die Technik im Weltkriege, hg. v. Max Schwarte, Berlin 1920, S. 243. «3 Garbotz, Georg, Vereinheitlichung in der Industrie, Berlin 1920, S. 103/104. 104 Geschichte der Technik. Von A. A. Sworykin(u. a.), Leipzig 1964, S.304f. 105 Kuczynski, Jürgen, Vier Revolutionen der Produktivkräfte. Theorie und Vergleich. Mit kritischen Ee-
Die staatsmonopolistische Rationalisierung
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Revolutionierung der Produktionstechnologie führte in der Metallurgie dazu, daß neben dem Thomas- und Bessemerverfahren erste Formen der Elektroschmelze und das Elektroschweißverfahren eingeführt wurden. Die Elektroindustrie, die ihrerseits mehr und mehr alle anderen Industriezweige belieferte, entwickelte sich sprunghaft. Außerdem entstand eine weitverzweigte chemische Industrie, die auf zahlreichen wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Chemie fußte. Das heißt also, daß der Produktionsprozeß sich zunehmend verwissenschaftlichte. Die Wissenschaft begann zu einer unmittelbaren Produktivkraft zu werden. Gleichzeitig aber bildeten die veränderte Struktur und Art der Produktivkräfte die materiell-technische Grundlage für die neue Stufe des Kapitalismus. Der Konzentrationsprozeß und die Zentralisation führten dazu, daß sich Großbetriebe und Monopole herausbildeten. Die neu entstehenden Großbetriebe, in denen Tausende von Arbeitern beschäftigt und Hunderte von Maschinen eingesetzt waren, konnten nicht mehr auf die alte empirische Weise geleitet werden. Auch die Fragen der Organisation der Produktion mußten jetzt wissenschaftlich gelöst werden. So ist „die kapitalistische Rationalisierung . . . der Beginn der Einführung wissenschaftlicher Methoden der Organisation der Produktion und der Ausnutzung der Arbeitskraft unter kapitalistischen Vorzeichen, d. h. eine Form der Verwissenschaftlichung der Organisation der Ausbeutung der Arbeitskraft in einem technisierten Produktionsprozeß." 100 Marx hatte bereits darauf hingewiesen, daß die Produktionsfortschritte des Kapitalismus mit verstärkter Ausbeutung der Arbeiter verbunden sind, indem er schrieb: „Das Kapital h a t . . . einen einzigen Lebenstrieb, den Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse Mehrarbeit einzusaugen." 107 Und Lenin erklärte: „Fortschritt von Technik und Wissenschaft bedeutet in der kapitalistischen Gesellschaft Fortschritt in der Kunst der Schweißauspressung." 108 Daß wissenschaftliche Methoden in die Produktion eingeführt wurden und man sich um wissenschaftlich begründete Organisation des Produktionsprozesses bemühte, vollzog sich Hand in Hand mit einer verstärkten Ausbeutung der Arbeitskräfte und war eng damit verwoben. Alle Verlustquellen sollten soweit wie möglich verstopft werden. Solche Verlustquellen aber bildeten jene Produktionsprozesse, die unwissenschaftlich organisiert waren. Eine starke Bewegung, solche Verlustquellen zu beseitigen, die vor allem zunächst in den USA entstand, suchte die Vorteile der wissenschaftlichen Organisation der Produktion im einzelnen Betrieb, aber auch in der ganzen Gesellschaft zu propagieren, wobei teilweise utopische Vorstellungen damit verbunden waren. Man glaubte oder gab vor, eine wissenschaftliche Organisation der gesamten Gesellschaft propagieren zu können, ohne das kapitalistische Eigentum zu beseitigen, und prägte dafür den Begriff der „funktionellen Gesellschaft". Interessant ist dabei, daß hierfür aber ein zentrales Planungsorgan gefordert wurde, das als ein „industrieller Generalstab" funktionieren sollte. merkungen und Ergänzungen von Wolfgang Jonas, Berlin 1975, S. 97 ff.=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 8, sowie Tjulpanow, S. I.jScbeinis, V. L., Aktuelle Probleme der politischen Ökonomie des heutigen Kapitalismus, Berlin 1975, S. 32. 106 Kubitscbek, Helmut, Zur kapitalistischen Rationalisierung und ihre Auswirkung auf die Qualifikationsstruktur der Arbeiterklasse in Deutschland (vom Übergang zum Imperialismus bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts), Habil.-Schrift Berlin 1965, S. 6. 107 Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1953, S. 241. 108Lenin, W. I., Ein „wissenschaftliches System" der Schweißauspressung, in: Werke, Bd. 18, Berlin 1962, S. 588. 12 Nusbaum, Bd. 2
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
Ein amerikanischer Autor schrieb: „Unsere Norm zur Messung von Verlusten muß sich schließlich fest auf eine funktionelle Auffassung der Industrie stützen . . . Der industrielle Generalstab i s t . . . vor allen Dingen an dem Besitz als Mittel, weniger an dem Besitz als Zweck interessiert. Er sieht ihn als eine Sache, nicht als Geldwert an, und wir müssen ihm hierin folgen und den Besitz mit seinen Augen betrachten. Auch unter dem jetzigen System einer nach Erwerb strebenden Gesellschaft wird es wieder Verluste geben, die beseitigt werden können und zum Teil auch beseitigt werden . . . Ob eine erwerbsstrebige Gesellschaft durch einen merklichen Übergang in eine funktionelle hineinwachsen kann, und zwar ohne irgendwelche wirtschaftliche Krise durchzumachen, ist eine Frage, die mit ebenso großer Überzeugung und Bestimmtheit sowohl nach der verneinenden als auch nach der bejahenden Seite hin beantwortet wird . . . Wir wissen, daß sich eine Ausmerzung der Verschwendung vor allen Dingen aufeine funktionelle Zusammenfassung stützen wird; wie aber eine solche Umgruppierung herbeigeführt werden kann, liegt außerhalb unserer Kenntnis und ist auch nicht Zweck der gegenwärtigen Untersuchung." 109 Hierin drückt sich bereits eine wichtige Seite der Rationalisierung aus, die darin besteht, daß sie eben nicht auf den einzelnen Betrieb oder das einzelne Unternehmen, ja nicht einmal auf ein einzelnes Monopol beschränkt bleiben konnte. Dies ergab sich daraus, daß im Gefolge des sprunghaften Wachstums der Produktivkräfte der gesellschaftliche Produktionsprozeß sich zunehmend verzahnte und verflocht, also sein gesellschaftlicher Charakter noch deutlicher wurde. Selbstverständlich waren die Vorstellungen von einer „funktionellen Gesellschaft", die eine gewisse Parallele zu den „gemeinwirtschaftlichen" Ideen bestimmter Kreise in Deutschland darstellten, unter den Bedingungen der Herrschaft der Monopole nicht zu verwirklichen. Sie waren utopisch und mußten dies bleiben — in den USA ebenso wie in Deutschland, wo das Monopolkapital alles tat, um jeden Versuch zu verhindern, sich in seine Belange einzumischen, und gerade deshalb einer Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen aus dem Wege ging, überall und immer, wenn es sich nicht sicher war, daß der Staatsapparat ausschließlich im Sinne der Monopolinteressen funktionierte. Da aber andererseits die Entwicklung der Produktivkräfte, welche die Rationalisierung notwendig machte, und von der diese selbst einen wichtigen Aspekt bildete, nicht auf den einzelnen Betrieb beschränkt bleiben konnte, sondern bestimmte Regulierungen des volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozesses herausforderte, entwickelte sich gleichzeitig eine Tendenz zu überbetrieblicher Institutionalisierung bzw. dazu, Einrichtungen zu schaffen und Maßnahmen zu treffen, die über den einzelnen Betrieb und das einzelne Unternehmen hinausreichten. Auf dem Gebiet der Rationalisierung führte dies schließlich doch dazu, daß Staat und Monopole hier zusammenarbeiteten. Bevor auf diese Entwicklung eingegangen wird, soll aber zunächst darauf hingewiesen werden, daß die kapitalistische Rationalisierung gemäß der erwähnten Einheit von Wissenschaft und Ausbeutung im wesentlichen zwei Bereiche umfaßt: erstens die rationellste Ausnutzung der Arbeitskraft, wobei insbesondere das Taylor-System, im kapitalistischen Deutschland die Refa-Methoden 110 , eine wichtige Rolle spielten und heute noch spielen; und zweitens die rationellste Anlage des Produktionsprozesses hinsichtlich der technischorganisatorischen Seite einschließlich der Leitungsstruktur. Im ganzen kann die kapitalistische Rationalisierung „als ein System von organisatorischen und technischen Maß109 Chase, Stuart, Tragödie der Verschwendung, München/Berlin 1927, S. 26/27. 110
Methoden, die vom 1924 gegründeten Reichsausschuß für Arbeitsstudien entwickelt wurden.
Die staatsmonopolistische Rationalisierung
171
nahmen" bezeichnet werden, „die auf einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung ergriffen werden mußten, um durch die Veränderung der Organisation und Leitungsstruktur des Produktionsprozesses sowie der konkreten Formen der Ausbeutung (Ausnutzung der Arbeitszeit) der Arbeitskraft die Profite zu erhöhen. Der Zeitpunkt, zu dem die Rationalisierung sich als notwendig erwies, war gegeben durch die Mechanisierung, die Chemisierung eines hocharbeitsteiligen Produktionsprozesses." 111 Wenn aber auch der erreichte Entwicklungsstand der Produktivkräfte gewissermaßen die Grundlage war, der die Rationalisierungsbewegung entsprang und auf der sie fußte, so bedurfte es doch noch anderer Anstöße, um sie in Deutschland in breitem Maße in Gang zu setzen. Ausschlaggebend hierfür war die Lage des deutschen Imperialismus nach der Niederlage im Weltkrieg. Da infolge des Krieges die deutschen Monopole jahrelang vom Weltmarkt abgeschnürt gewesen waren und der Produktionsapparat mindestens teilweise vernachlässigt worden war, war auch ihre Konkurrenzfähigkeit auf den Außenmärkten stark reduziert. Gleichzeitig waren, gefördert durch den Krieg, in den überseeischen Ländern neue Industrien entstanden, in den britischen Dominien, in China, Brasilien und anderen Ländern. Die Außenmärkte waren weitgehend durch industrielle Hochschutzzölle abgeschirmt. Für die deutschen Monopole war es daher nur möglich, ihre Stellung auf dem Weltmarkt zu verbessern, wenn sie die Produktionskosten senken konnten und billiger produzierten. Daß sie zur Rationalisierung in großem Maßstab übergingen, ergab sich unmittelbar aus dem Drang, die alten Märkte zurückzugewinnen bzw. neue Möglichkeiten auf dem Weltmarkt zu erschließen. Bereits am 8. Oktober 1919 forderte daher der Reichsverband der Deutschen Industrie „die Steigerung der Produktivität der deutschen Wirtschaft mit allen Mitteln." " 2 Zwar wurde die Notwendigkeit zu rationalisieren, zunächst durch die Wirkungen der Inflation überlagert, die es den kapitalistischen Unternehmen ermöglichte, die Arbeitskraft mit Hungerlöhnen zu bezahlen und den Monopolen erlaubte, den Export wesentlich zu steigern. Der Zwang, die Produktion zu verbilligen, fiel mit dem fortschreitenden Währungsverfall fort und damit ein wesentlicher Antrieb für die Rationalisierung. Innerhalb Deutschlands schied die ausländische Konkurrenz mehr und mehr aus, während umgekehrt die Ausfuhrmöglichkeiten für deutsche Waren trotz einer krisenhaften Wirtschaftslage in den imperialistischen Hauptländern günstig waren. So betrug die deutsche Maschineneinfuhr im Jahre 1922 15922 t und die Ausfuhr 539158 t. Vergleichsweise war die Maschineneinfuhr im Jahre 1913 99003 t und die Ausfuhr 666449 t. Wenn auch ein Gewichtsvergleich gerade bei Maschinen problematisch ist, so weisen die Zahlen doch darauf hin, daß die deutsche Maschinenausfuhr 1922 fast die Vorkriegsausfuhr erreicht hatte. 413 Die Inflationskonjunktur wirkte vielfach geradezu hemmend auf die rationelle Ge1« Kubitscbek, Helmut, a. a. O., S. 15/16. 112 Veröffentlichungen des Reichsverbands der Deutseben Industrie, H. 8, Oktober 1919, S. 28. 113 Geschäftsbericht des Vereins Deutscher Maschinenbauanstalten für 1924, S. 8 / 9 . Puchert gibt eine längere Aufzählung zahlreicher Waren, deren Export in dieser Zeit die Vorkriegsausfuhr überstieg. Andererseits stellt er eindeutig klar: „Die durch die Inflation der Mark begünstigte Exportexpansion darf nur als eine relative gewertet werden. Absolut war der deutsche Export in den Inflationsjahren bei weitem nicht mit dem vor dem Kriege vergleichbar." (Pucbert, Bertbold, Regulierung des deutschen Außenhandels nach dem ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 204 bzw. 206=Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 9). 12*
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Die Wittschaftspolitik des Staates
staltung des Produktionsprozesses und veranlaßte viele Unternehmen, diese Seite zu vernachlässigen bzw. Fehlinvestitionen vorzunehmen. Die dieser Tendenz gegenüberstehende Tendenz zur verstärkten Rationalisierung konnte sich so nur schwer durchsetzen. In den Mitteilungen des RDI wurde immer wieder darüber geklagt, daß Normen nur zögernd eingeführt würden. 114 Der Reichsverband der Automobilindustrie, der im Juni 1923 eine freiwillige Bindung für einen Teil der bereits aufgestellten Normen beschloß, bildete fast eine Ausnahme. 115 In dieser Lage erwies sich auch auf dem Gebiet der Rationalisierung, daß der bürgerliche Staat seine Aufgabe als Sachwalter der Gesamtinteressen des Monopolkapitals wahrnahm. Die von staatlicher Seite ausgehenden Initiativen knüpften an die während des Krieges getroffenen Maßnahmen an, obwohl das Motiv der verstärkten Rüstungsproduktion zunächst weggefallen war. Der Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt, v. Moellendorff, trat eifrig für Maßnahmen ein, welche die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie erhöhen sollten. Er erklärte: „Der Krieg mit seinen Folgeerscheinungen hat das Wirtschaftsleben Deutschlands an den Rand des Abgrundes gebracht. Die Arbeitskraft, die im deutschen Volke steckt, s t e l l t . . . einen der hauptsächlichsten Vermögenswerte Deutschlands dar. Mit ihrer Hilfe müssen über den Eigenbedarf hinaus die Werte geschaffen werden, die Kauf und Einführung der uns fehlenden Rohstoffe, Halb- und Fertigfabrikate ermöglichen." 1 ^ Die während des Krieges geschaffenen Institutionen sollten durch weitere Einrichtungen ergänzt werden, wie dem Ende September 1919 vom Reichwirtschaftsministerium geschaffenen „Ausschuß zur Förderung der wissenschaftlichen Betriebsführung" und einem 1920 gegründeten „Reichsausschuß zur Förderung der Arbeitswissenschaft". Beide Ausschüsse sollten sich vor allem damit befassen, das Taylor-System einzuführen. Es war bezeichnend für die Situation, daß die Monopole sich zunächst zwiespältig verhielten. Während einerseits größere Summen für den Normenausschuß der deutschen Industrie zur Verfügung gestellt wurden, verhielt man sich in bezug auf weitere Rationalisierungsorganisationen reserviert. Das zeigte sich darin, daß starke Kräfte innerhalb des Monopolkapitals einer Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen auswichen, während die rechten SPD-Führer die Rationalisierung unterstützten. 117 Die Neugründungen mußten unwirksam bleiben, umsomehr als das Reichsfinanzministerium sich weigerte, Mittel dafür bereitzustellen. Erst als die restaurative Entwicklung genügend weit fortgeschritten war und die Monopole die Staatsmacht als ausreichend loyal ansahen, änderte sich ihre Haltung zur Frage der Bildung von staatlichen bzw. halbstaatlichen Organen zu wirtschaftlichen Problemen. Im Seifert, Hans, Versuche einer Rationalisierung im deutschen Landmaschinenbau im Rahmen des allgemeinen Maschinenbaus, Diss. Rostock 1926, S. 30. 115 Normenausschuß der Deutseben Industrie, Berlin 1925, S. 25. «6 v. Moellendorff in einem Privatbrief an Rudolf Roesler, den Herausgeber der „Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung". 117 Scheidemann schrieb im „Vorwärts": „Wenn das deutsche Volk nicht wahre Herkulestaten der Arbeit vollbringt, wenn nicht die Organisation arbeitssparender Methoden auf das Höchste verfeinert, die Produktivität... zum Außerordentlichen gesteigert wird, dann sind wir nicht mehr zu retten." (Technik und Wirtschaft, 12. Jg., Berlin 1919, S. 354). Die Industrie und Handelszeitung, welche als Sptachrohr der Monopolinteressen funktionierte, meinte aber: „Der Träger der ganzen Arbeit sollte vor allem die Industrie sein, die ja auch an den Ergebnissen am meisten interessiert ist." (Industrie- und Handels^eitung Nr. 48, vom 26.2.1921). 114
173
Die staatsmonopolistische Rationalisierung
Sommet 1921 waren die Unternehmer immerhin bereit, einem Organ beizutreten, das, ausgerüstet mit staatlicher Autorität, die Rationalisierung vorantreiben sollte. So gründete man im Juni das „Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk". Die immer noch vorsichtige Haltung des Monopolkapitals gegenüber staatlichen Befugnissen und die antietatistische Position wurden dabei insofern berücksichtigt, als das neue Gebilde ausdrücklich als Selbstverwaltungskörper eingerichtet wurde und ohne gesetzliche Bestimmungen oder staatlichen Zwang arbeiten sollte. Erster Vorsitzender des RKW wurde C. F. von Siemens, stellvertretender Vorsitzender des RDI. Später übernahm sein engster Mitarbeiter C. Köttgen, Direktor des Vorstandes der Siemens-Schuckert-Werke den Vorsitz. Dem RKW gehörten daneben zahlreiche wichtige Vertreter des deutschen Monopolkapitals an, wie Duisberg und Thyssen. Über die bei der Gründung des RKW eingeschlagene Linie berichtete v. Siemens später: „ . . . dann hat das Reichswirtschaftsministerium richtig erkannt, daß Zwang, behördliche Bevormundung nicht zum Ziele führen können, sondern nur die Erkenntnis aller beteiligten Kreise, daß dieser Weg zu ihrem Vorteil führen wird, und daher hat es sich bemüht, diese Kreise zusammenzubringen, damit sie aus sich selbst heraus die Arbeit in Angriff nehmen." «8 In der auf der Gründungsversammlung des RKW angenommenen Satzung hieß es: „Das R K W . . . bezweckt, unter Ausschluß von politischen und Erwerbszwecken, die Förderung der Bestrebungen zur Hebung der industriellen und gewerblichen Fertigung." 119 Der aus Vertretern der Monopole, der kapitalistischen Privatindustrie und der Behörden zusammengesetzten Körperschaft wurden für 1921 und die folgenden Jahre jährlich 1,5 Millionen M aus Reichsmitteln bewilligt, die allein für die organisatorische Geschäftsleitung des Kuratoriums und als Zuschüsse für die ihm angeschlossenen Einzelausschüsse verwendet werden sollten. Für 1921 sah die Verteilung folgendermaßen aus (Tab. 85). Tabelle 85 Verteilung der Reichsmittelfür
das R KW
Geschäftsstelle des RKW Betriebstechnische Abteilung Normenausschuß der deutschen Industrie Ausschuß für wirtschaftliche Fertigung Arbeitsgemeinschaft deutscher Betriebsingenieute
M 130 0 0 0 , 554000,— 420000,— 90000,— 116 000, —
Quelle: Burkert, Hellmut, Die staatliche Förderung der Rationalisierung der Betriebe und der Arbeit, Diss. Breslau 1928, S. 27.
Ein Rest von 190000,— M blieb als Reserve, um andere, später angeschlossene Körperschaften finanziell zu unterstützen. Doch die finanziellen staatlichen Mittel waren in diesem Falle nicht so wichtig wie die Tatsache, daß Monopole und staatliche Organe hier eng zusammenarbeiteten. Die fortschreitende Inflation und die Finanzlage des Reiches führten dazu, daß schon Mitte 1922 die staatlichen Gelder gestrichen wurden. Den Monopolen war die Körperschaft jedoch so wichtig geworden, daß, nachdem die staatlichen Mittel fortí n Reicbskuratoriumfür Wirtschaftlichkeit E. V., Berlin 1926, S. 21. 119 Ehrlich, Willi, Das „Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit" (RKW) und das „Rationalisierungskuratorium der deutschen Wirtschaft" (RKW), eine Organisation der deutschen Monopole. Eine ideengeschichtliche Studie, Diss. Berlin 1964, S. 66.
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gefallen waren, die Tätigkeit des RKW zwar eingeschränkt, jedoch nicht eingestellt wurde. Dies wurde dadurch ermöglicht, daß einige große Industrieunternehmungen die Tätigkeit des RKW finanziell absichern halfen. Dabei spielte wohl nicht nur eine Rolle, daß das RWM inzwischen einen anderen Kurs steuerte als zu der Zeit, als man dort noch Gemeinwirtschaftspläne hegte, sondern es machten sich auch die Einflüsse des amerikanischen Beispiels geltend. In den USA hatte sich besonders im Gefolge der 1920/21 einsetzenden Wirtschaftskrise die Rationalisierungsbewegung sehr verstärkt. Ein von Herbert Hoover, dem Präsidenten des Verbandes amerikanischer Ingenieure, geleiteter Ausschuß, der die Produktionsorganisation in sechs Industriezweigen untersuchen sollte, hatte Ende 1921 unter dem Titel „Waste in Industry" einen aufsehenerregenden Bericht veröffentlicht 120 , von dem ein umfangreiches Rationalisierungsprogramm ausging. Nachdem Hoover zum Leiter des Department of Commerce ernannt worden war, begann er sein Programm zu propagieren und zu verwirklichen. Es umfaßte 11 Punkte: „1. Ausmerzung von Vergeudung beim Eisenbahntransport durch Schaffung ausreichender Möglichkeiten und besserer Methoden. 2. Energische Verbesserung der natürlichen Binnenwasserwege zwecks billigen Transports von Schwergütern. 3. Vermehrte Elektrifizierung des Landes zwecks Ersparnis von Heizmaterial und Arbeit. 4. Verringerung der periodischen Wellen von Anstieg und Niedergang des Geschäftskrcislaufes (Konjunktur). 5. Verbesserter statistischer Dienst über Herstellung, Verteilung, Vorräte und Preise von Waren, sowohl heimischer wie ausländischer, als Hilfe für die Ausmerzung des Zufalls und unrationeller Spekulation im Geschäft. 6. Verminderung der saisonalen Beschäftigung im Baugewerbe und in anderen Industrien und periodischer Arbeit in Industrien wie z. B. im Braunkohlenbau. 7. Ersparnis in Fabrikation und Verteilung durch Festsetzung von Graden, Qualitätsnormen, Größen und Ausführungen in nicht der Mode unterliegenden Handelsartikeln, durch Verminderung der Größenzahl vieler Industrieartikel und unnützer verschiedener Ausführungen, durch gleichförmigere Geschäftsdokumente wie Auftragsformularc, Konossemente, Lagerscheine usw. 8. Entwicklung wissenschaftlicher, industrieller und wirtschaftlicher Forschung als Grundlage wahrhaft Arbeit sparender Einrichtungen, besserer Herstellungsprozesse und gesünderer Arbeitsmethoden. 9. Entwicklung genossenschaftlichen Absatzes und Schaffung besserer Einrichtungen an den Ladestationen für landwirtschaftliche Produkte, um ihre Verteilung rationeller zu gestalten. 10. Förderung des Schiedswesens im Handel, um die Vergeudung durch Rechtsstreite auszumerzen. 11. Verringerung der Vergeudung, die aus industriellen Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entsteht." 121 Zweifellos gingen gewisse Punkte dieses Programms über Probleme hinaus, die im Waste in Industry, New York/London 1921. Bruno, Die Organisation der Rationalisierung in Amerika und Deutschland, Berlin 1927, S. 11/12.
121Birnbaum,
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eigentlichen Sinne als Rationalisierungsfragen gelten. Es zeigte sich hierin, daß die Rationalisierungsproblematik im Grunde eng mit Fragen der Regelung gesamtvolkswirtschaftlichen Charakters verknüpft ist, die teilweise sogar die Eigentumsstruktur berühren. Die kapitalistische Rationalisierung war im Grunde in die übergeordnete Tendenz zum staatsmonopolistischen Kapitalismus eingebettet. Daß sie in den USA schon relativ früh, teilweise schon vor dem Weltkrieg einsetzte, ist auf besondere, in diesem Lande wirkende Faktoren zurückzuführen, wie die Weite des amerikanischen Marktes, der die Massenfabrikation begünstigte, die frühe Entwicklung von Monopolen und die besondere Arbeitskräftesituation in den USA, wie die massenhafte Verwendung ungelernter Arbeitskräfte. Hoover arbeitete eng mit der amerikanischen Großindustrie zusammen, um sein Programm zu realisieren. Dafür wurden spezielle Organisationen geschaffen, wie die Division of Simplified Practice (Abteilung für vereinfachte Praxis) und die Plankommission beim Department of Commerce. Die von der amerikanischen Regierung aufgestellten Spezifikationen für Lieferungen an den Staat beeinflußten stark die Vereinheitlichungs- und Rationalisierungsbestrebungen, die außerdem vom schon seit 1902 bestehenden „Bureau of Standards" unterstützt wurden. Ein großer Teil der Bemühungen um Rationalisierung im engeren Sinne war erfolgreich, während allerdings andere Punkte des Programms, wie etwa die Ausgleichung des Konjunkturzyklus sich innerhalb des monopolkapitalistischen Systems als nicht durchführbar erwiesen. Gerade unter der späteren Präsidentschaft Hoovers sollten die USA bekanntlich die größte und schwerste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte erleben. Die amerikanischen Erfolge auf dem Gebiet der Rationalisierung einerseits und der Wegfall des Inflationsdumpings andererseits veranlaßten die deutschen Monopole, sich ebenfalls intensiver zu bemühen. Zahlreiche Kommissionen und Einzelpersönlichkeiten reisten in die USA, um die amerikanischen Einrichtungen an Ort und Stelle zu studieren, und eine zahlreiche Literatur erschien als Ergebnis dieser Reisen. Dabei wurden sowohl die von dem Automobilfabrikanten Ford und anderen Monopolisten angewandten Methoden wie auch diejenigen von Taylor, Gilbreth u. a. entwickelten Verfahren herausgestellt. Die Lage des deutschen Monopolkapitalismus nach der Niederlage im Kriege bewirkte, daß man in Deutschland besonders empfänglich für die amerikanischen Methoden war und sich anstrengte, den Rückstand gegenüber den USA aufzuholen. Nach der Währungsrefom bemühte man sich seitens des RKW sofort wieder um staatliche Mittel. Bereits in der ersten Vollversammlung nach der Inflation am 21. Juni 1924 wurde diese Forderung gestellt. Am 2. April des folgenden Jahres beschloß man auf einer Beratung unter dem Vorsitz von Siemens eine Resolution, in der 1,5 Millionen RM jährlich als staatliche Hilfe vorgeschlagen wurde. Diese Bemühungen führten dazu, daß aus dem Reichshaushalt 1925/26 1,2 Millionen RM und. im folgenden Jahr der gleiche Betrag zur Verfügung gestellt wurden. Für 1927/29 wurde die Summe auf 1,7 Millionen RM erhöht.^ 122
Burkert, Hellmut, Die staatliche Förderung der Rationalisierung der Betriebe und der Arbeit, Diss. Breslau 1928, S. 29. Als 1927 im Reichstag gefragt wurde, warum die große Industrie die Kosten des RKW nicht selbst trage, antwortete ein Abgeordneter der DVP, „daß die Wirtschaft für das RKW doch ein großes Interesse dadurch beweist, daß sie sich mit drei bis vier Millionen Mark an diesen Arbeiten beteiligt, daß sie darüber hinaus Leistungen vollbringt, indem sie ihre Erfahrungen kostenlos der mittleren und kleineren Industrie zur Verfügung stellt." Verbandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924, Bd. 392, S. 9528.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
In der programmatischen Hauptversammlung im April 1925 bezog sich Siemens auf das amerikanische Vorbild und erklärte: „Wir wollen das, was für uns geeignet i s t , . . . aus seinem Beispiel herausholen und unseren Bedürfnissen anpassen. Deswegen studieren wir seine Wege und finden, daß wir vieles . . . für uns anwenden und dadurch den Nutzeffekt unserer Arbeit steigern können." 123 Das RKW, dem neben den führenden Vertretern des Monopolkapitals zeitweise auch einige Vertreter der rechten Sozialdemokratie angehörten, bestätigte sich als Zentralstelle für die Rationalisierung in Deutschland. Laut Paragraph 1 seiner Satzung bezweckte es „die Hebung der Wirtschaftlichkeit auf allen Gebieten der gesamten Wirtschaft". Diesem Zweck dienende Arbeiten sollten von ihm eingeleitet, verfolgt und zusammengefaßt werden, während die angeschlossenen und nahestehenden Körperschaften die Aufgaben unmittelbar bearbeiteten. Mittels der dem R K W verfügbaren staatlichen Gelder konnte es eine latente Wirkung auf die an sich selbständigen Ausschüsse ausüben. Die Verwendung der Mittel des Kuratoriums erfolgte nicht durch staatliche Stellen, die dies auch nicht kontrollierten, sondern nur durch den Vorstand und den Finanzausschuß des RKW. Der Staat ließ also dem Monopolkapital völlig freie Hand. Die Vertreter des Staates hatten in den verschiedenen Gremien zwar das Mitspracherecht, waren jedoch stets in der Minderzahl, falls sich Meinungsverschiedenheiten ergaben. Dem Kuratorium waren zwei Gruppen von Körperschaften zugeordnet. Erstens solche, die sich ausschließlich mit Rationalisierungsarbeiten befaßten, wie der Ausschuß für wirtschaftliche Fertigung, der Ausschuß für wirtschaftliche Verwaltung und der Reichsausschuß für Lieferbedingungen. Dazu gehörten auch der Deutsche Normenausschuß, das Forschungsinstitut für rationale Betriebsführung im Handwerk, der Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung, die Hauptstelle für Wärmewirtschaft und die Hauptstelle zur Förderung der Altstoff- und Abfallverwertung. Eine zweite Gruppe von Körperschaften, welche technisch-wissenschaftliche Aufgaben erfüllte, befaßte sich ebenfalls mit zur Rationalisierung gehörenden Arbeiten. Dies waren die Arbeitsgemeinschaft deutscher Betriebsingenieure, der Deutsche Ausschuß für technisches Schulwesen u. a. Die umfangreiche und intensive Tätigkeit, um die Leistungsfähigkeit des deutschen Monopolkapitalismus mit Hilfe der verschiedenen Methoden und Arten der Rationalisierung zu stärken, führte dazu, daß der deutsche Imperialismus auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger wurde und die deutsche Industrie einen gewissen Vorsprung vor der Industrie anderer imperialistischer Mächte gewann, insbesondere derjenigen Englands, wo die Rationalisierung in größerem Maßstab erst in den dreißiger Jahren einsetzte. Die Rationalisierung führte zu einer erheblichen Produktivitätssteigerung. Damit war verbunden, daß sich das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital veränderte. Die Tagesprokopfleistung im Ruhrbergbau zeigt Tabelle 86. In den Stahlwerken erhöhte sich die Tagesprokopfleistung von 1441 kg im Januar 1925 auf 2026 kg im Mai 1927.124 Die Prokopfleistung an Versandgewicht in der Maschinenindustrie ist Tabelle 87 zu entnehmen. In der Kaliindustrie zeigen sich die Rationalisierungserfolge an den Zahlen der Tabelle 88. Allein von 1924 bis 1925 wurden zwei Drittel aller Schächte stillgelegt. Im Ergebnis der 123
124
Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit. Beriebt über die Sitzung am 2. Aptil 1925, Eröffnungsansprache, in: Maschinenbau, 8. Jg., H. 8/1925, S. 406. Stump, Franz, Rationalisierung und Lohnpolitik, Diss. Köln 1932, S. 67.
Die staatsmonopolistisch Rationalisierung
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Tabelle 86 Tagesprokopfleistung
Febr.
im Kubrbergbau
1913 1924 1927
943 kg 1114 kg 1147 kg
Quelle: Stump, Franz, Rationalisierung und Lohnpolitik, Diss. Köln 1932, S. 65. Tabelle 87 Prokopfleistung in der Mascbinenindustrie 1. 2. 3. 4.
Vierteljahr Vierteljahr Vierteljahr Vierteljahr
1925
1926
100 109 118 131
137 139 144 138
(1925= 100) 1927
145
Quelle: Stump, Franz, Rationalisierung und Lohnpolitik, Diss. Köln 1932, S. 67. Tabelle 88 Rationalisierung in ¿er
'Kaliindustrie
Jahr
Anzahl der Werke
Gesamtabsatz Reinkali dz
Durchschnittlicher Absatz je Werk
1910 1913 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927
62 138 206 206 206 211 218 221 85 63 60
8578286 11104000 8120024 9 236 435 9211468 12955443 8859423 8420000 12255117 10998773 12393772
138368 40461 39 417 46182 44 934 61400 40640 38000 114179 174548 206563
Zahl der durchschi Arbeiter
_ 29258 45 289 45 664 39 589 48 667 43829 24062 24908 20179 18454
Quelle: Hof er, K., Die sozialen Wirkungen der Rationalisierung in der Kaliindustrie, in: Die Arbeit, Jg. 1928, H. 7. Rationalisierung wurde um 2 5 6 % pro Werk mehr gefördert als 1913, die Belegschaft dagegen verminderte sich um 3 7 % . Obwohl 1927 nur wenig mehr als ein Viertel der Schächte von 1924 im Betrieb war, war die Gesamtproduktion von Kali doch fast 5 0 % höher. Im Kohlenbergbau vollzog sich eine ähnliche Entwicklung. Hier wurden ebenfalls zahlreiche Schächte stillgelegt. Auch in anderen Industrien wuchs mit der Rationalisierung die Produktionsleistung, während die Zahl der beschäftigten Arbeiter abnahm. So sank die Zahl der Beschäftigten in der Maschinen- und Apparateindustrie von 700000 im Jahre 1925 auf 625000 Mitte 1928.125 Die erhöhte Leistungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsapparates war mit zu125
Statistisches Handbuchfür die Deutsche Mascbinenindustrie 1928.
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Die Wirtschaftspolitik des Staates
nehmenden Arbeitslosenziffem bzw. einer chronischen Arbeitslosigkeit verbunden, da es keine Faktoren, wie neu entstehende Industrien, in großem Maßstabe gab, welche die freigewordenen Arbeitskräfte hätten aufnehmen können. Gleichzeitig weigerten sich die Unternehmer, die in Arbeit stehenden Werktätigen durch erhöhte Löhne an den Ergebnissen der Rationalisierung teilnehmen zu lassen. Der Reichsarbeitsminister mußte im Januar 1929 erklären: „Nun ist die Sache aber bisher so verlaufen, daß zwar die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch die Rationalisierung wesentlich gesteigert wurde, daß aber die Arbeiterschaft einen sichtbaren Nutzen davon noch nicht gehabt hat. Im Gegenteil; die Leistungssteigerung i s t . . . zum größten Teil auf Kosten der Arbeitnehmer erfolgt.. .120 Die geringen Lohnverbesserungen, welche die Arbeiterklasse in der Zeit der relativen Stabilisierung tatsächlich erreichten, konnten den Unternehmern nur in heftigen Arbeitskämpfen pfennigweise abgerungen werden. Sie konnten die stark gestiegene Intensität der Arbeit und die damit verbundenen Gefahren für Gesundheit und Lebenskraft der Arbeiter nicht kompensieren. Über den Bergbau wird beispielsweise berichtet: „Besondere Gefahren bringt die Arbeit mit Preßluftwerkzeugen mit sich. Sie ruft die sogenannte knarrende Sehnenscheidenentzündung hervor. Die Arbeiter können nie längere Zeit hintereinander mit Preßluft arbeiten. Nach den preußischen Bergbauunfallstatistiken hat sich die jährliche Zahl der Unfälle seit 1924 vermehrt. Daß dieses auf die erhöhte Mechanisierung zurückzuführen ist, wird auch von behördlicher Seite anerkannt..." 1 2 7 Die Arbeiter sahen aber offenbar die Ursachen der gewachsenen Unsicherheit weniger in der Mechanisierung selbst, als in ihrer kapitalistischen Anwendung. Dies geht aus dem gleichen Bericht hervor, wo es hieß: „Es wurde hier von Seiten der Arbeiterschaft die Schuld auch an den großen Grubenkatastrophen im Jahre 1925 weniger der Mechanisierung zugeschrieben als vielmehr den Änderungen im .System'. Die teilweise eingeführte .wissenschaftliche Betriebsführung' habe nur dazu gedient, aus dem Arbeiter die höchsten Leistungen herauszupressen."128 Und über die Hüttenindustrie heißt es: „Freilich mußte für das große Rationalisierungsjahr 1925 eine Erhöhung der Kranken- und Unfallziffer festgestellt werden, die auf die stärkere Beanspruchung der Arbeiter durch den ständigen Maschinenbetrieb zurückzuführen ist." 129 (Tab. 89). Tabelle 89 Unfälle in der
Hüttenindustrie
Zahl der Unfälle Zahl der Krankheitstage
1913
1921
1925
1926
1403 25510
263 7638
1384 31219
1639 45013
Quelle: Scballdacb, Elisabeth, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinflationszeit im Urteil der deutschen freien Gewerkschaften, Jena 1930, S. 127=Abhandlungen des wirtschaftswissenschaftlichen Seminars zu Jena, Bd. 21, H. 2. 126 Wissel, Rudolf, Löhne und Lohnkämpfe, in: Sozialistische Monatshefte, Januar 1929, S. 4f. 127 Scballdacb, Elisabeth, Rationalisierungsmaßnahmen der Nachinflationszeit im Urteil der deutschen freien Gewerkschaften, Jena 1930, S. 109= Abhandlungen des wirtschaftswissenschaftlichen Seminars zu Jena, Bd. 21, H. 2. 128 Ebenda. 1» Ebenda, S. 127.
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Und über die Zustände beim AEG-Konzern hieß es: „Mit Hilfe der Stoppuhr wurden die geschwindesten Bewegungen bei den geschicktesten und geschmeidigsten Kollegen auf den Bruchteil einer Sekunde genau gemessen. Danach stellte man das Tempo des Bandes ein. Die meisten kamen nicht mit: viele Stücke mußten unbearbeitet das Transportband wieder verlassen oder waren ungenau gearbeitet, vermurkst worden. Es gab Akkordlohn, und niemand erhielt den üblichen Lohn. Diejenigen, welche Forderungen zu stellen wagten, die verlangten, daß das Fließband sich ihrer Arbeitsfähigkeit, ihren abgearbeiteten Knochen anpassen müsse, nicht aber umgekehrt, sie wurden an andere Arbeitsstellen versetzt und waren bald .überflüssig* und arbeitslos." 129a Aufschlußreich für die Wirkung der Rationalisierung ist die Entwicklung der Betriebsunfälle in der gesamten Industrie (Tab. 90). Tabelle 90
Index der Betriebsunfälle in der deutseben Industrie 1924-1929 (1900= 100) 1924 1925 1926 1927 1928 1929
111 134 170 198 207 190
Quelle: Zumpe, Lotte, Zur Geschichte der Unfallverhältnisse in der deutschen Industrie von 1885—1932, Diss. Berlin 1961, S. 493.
Und über die Entwicklung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Arbeiter macht Kuczynski folgende Angaben (Tab. 91). Tabelle 91: Gesundbeitsverbältnisse 1924—1929 Jahr
Krankheitsfälle!
Krankheitstagel
1924 1925 1926 1927 1928 1929
0,42 0,52 0,45 0,54 0,55 0,58
10,7 12,9 12,0 12,6 13,3 13,7
1
Pro Mitglied der Krankenversicherung
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 5: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1917/18 bis 1932/33, Berlin 1966, S. 238.
Während im Zuge der Rationalisierung die Lohnkosten erheblich vermindert wurden, erhöhte sich der Anteil des konstanten Kapitals, insbesondere des fixen Kapitalteils, beträchtlich, da der Maschinenpark teilweise erneuert und erweitert wurde (Tab. 92). Die hauptsächlichen Investitionen für die Rationalisierung setzten aber erst später ein. «9» „Die Rote Fahne", Berlin 18.4.1926.
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Die Wittschaftspolitik des Staates
Tabelle 92 Mascbinenanlagen 5 großer Unternehmungen Anfang und Ende des Geschäftsjahres 1924/25 (in 1000 RM)
Bestand Anfang Geschäftsjahr 1924/25 Zugang Abschreibung Bestand Ende Geschäftsjahr 1924/25
Horch
HansaLloyd
Bing
Phönix
Satotti
590,0 589,3 100,0 1079,3
700,0 322,7 222,7 800,0
1417,0 1580,0 461,0 2535,0
195956,0 22940,0 16624,0 201821,0
2935,0 1019,0 982,0 2866,0
Quelle : Bik, F., Rationalisierung und Arbeitsmarkt, in : Die Arbeit, Jg. 1926, H. 9.
„Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß der Werkzeugmaschinenbau, der Kern der deutschen Maschinenbauindustrie, weder 1924 noch 1925 über ausreichende Aufträge verfügte. Daraus kann abgeleitet werden, daß die Neuausrüstung der Produktionsanlagen bis zur Krise 1925 kaum ins Gewicht fiel und die Hauptform der nun einsetzenden Rationalisierung in der Konzentration auf die vorhandenen modernen Produktionsanlagen mittels der Monopolisierung bestand." 1 3 0 Die Rationalisierung, bei der Staat und Monopole eng zusammenwirkten, trug dazu bei, daß das deutsche Monopolkapital seine Macht wieder festigen konnte. Sie war ein wesentlicher Faktor der relativen Stabilisierung. Dabei wurden jedoch auch erhebliche Überkapazitäten geschaffen. Es war nicht zu übersehen, daß die Konzerne sich vielfach in solche Überkapazitäten „hineinrationalisierten" 131 und damit volkswirtschaftliche Disproportionen schufen. 130 Mottek, Hans¡Becker, Walter, Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß. Bd. 3: a. a . O „ S. 263. 131
Scbmalenbacb, Engen, Selbstkostenrechnung, in : Zeitschrift für Handelswissenschaftliche Forschung, Bd. 13, Köln 1919, S. 323.
KAPITEL 9
Die öffentliche Hand als Unternehmet
„Die Entstehung und Ausweitung des staatlichen Eigentums in den industriell entwickelten kapitalistischen Ländern durch Nationalisierung und staatliche Investitionen ist eine der Erscheinungsformen des Konflikts zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und der Versuch, diesen Konflikt zu lösen." 1 Dieser Prozeß der „Entstehung und Ausweitung des staatlichen Eigentums", der in den einzelnen Ländern in unterschiedlicher Weise und verschiedener Stärke verläuft und dessen innere Gesetzmäßigkeit jedoch nicht vereinfachend mit den historisch konkreten Anstößen eben dieser Entwicklung verwechselt werden darf, war in Deutschland deutlich ausgeprägt. So formten die Betriebe und Unternehmungen der öffentlichen Hand im Produktionsbereich einen wichtigen Aspekt der staatsmonopolistischen Entwicklung nach dem Weltkrieg. Es handelt sich um Unternehmungen des Reichs, der Länder bzw. Einzelstaaten und der Kommunen. Da das Engagement dieser drei Ebenen des staatlichen bzw. kommunalen Apparates eine verschiedenartige Entstehungsgeschichte hat, erfordert es auch, daß dies getrennt dargestellt wird. Dabei soll vor allem das qualitativ Neue herausgestellt werden, das sich nach dem Kriege entwickelte. Traditionelle Tätigkeiten des Staates in Deutschland auf dem Transport- und Dienstleistungssektor, also vor allem Eisenbahn und Post, sind somit bewußt ausgespart, obwohl auch hier gewisse Veränderungen vor sich gingen, wie etwa die „Verreichlichung" der vorher im Besitz der Länder befindlichen Eisenbahn oder die mehrmalige mit den Reparationsabkommen zusammenhängende Reorganisation des Status der Bahn.
1. Die Unternehmertätigkeit des Reiches Vor dem Weltkriege besaß das Reich zwar mehrere Heereswerkstätten, jedoch keine marktproduzierenden Betriebe oder Unternehmen. Im,Laufe des Krieges waren dann Produktionsstätten entstanden bzw. erworben und teilweise ausgebaut worden, von denen einige zwar keine direkten Rüstungsgüter, aber doch Erzeugnisse herstellten, die den Kriegsbedürfnissen bzw. der Waffenproduktion dienten. Es handelte sich im wesentlichen um Produktionen auf drei verschiedenen Gebieten, die aber teilweise miteinander zusammenhingen: Stickstoffproduktion, Aluminiumerzeugung und Erzeugung von Elektroenergie. Dazu kamen neuerrichtete Waffen- und Munitionsbetriebe. Politische Ökonomie des beutigen Monopolkapitalismus, Betlin 1972, S. 416.
182
Die öffentliche Hand als Unternehmer
Als der Krieg vorüber war, verfügte das Reich, obwohl einige Rüstungsbetriebe auf Anordnung der Siegermächte geschleift werden mußten und andere verloren gingen, weil sie an Polen abgetreten wurden, immer noch über einen umfangreichen Komplex von Produktionsbetrieben. Man fragte sich, was mit diesen Betrieben geschehen solle. Dafür gab es rein theoretisch drei Möglichkeiten: Erstens, man übergab die Betriebe dem Privatkapital, d.h. der Staat verzichtete darauf, über einen Anteil an den Produktivkräften zu verfügen. Da die Betriebe oder Unternehmungen mindestens teilweise bereits gemeinsam mit privaten Unternehmern betrieben worden waren, lag hier eine gewisse Verlockung. Bestimmte Kreise des Monopolkapitals, die eine staatliche Produktionstätigkeit mit scheelen Blicken betrachteten, drängten zu dieser Lösung. Andererseits bildete die revolutionäre Stimmung im Lande ein ernstes Hindernis dafür, daß man die Staatsbetriebe privatisierte, hatte doch die ihrem Wesen nach bürgerliche Staatsmacht zu dem demagogischen Sozialisierungsversprechen greifen müssen. So hätte es sicher einen Sturm der Entrüstung unter den werktätigen Massen hervorgerufen und es unmöglich gemacht, die Sozialisierungslüge aufrechtzuerhalten, wenn man die Reichsbetriebe dem Monopolkapital übereignete. Zweitens, man schloß die Betriebe. Doch das schied aus verschiedenen Gründen aus. Es hätte bedeutet, daß die beschäftigten Arbeiter und Angestellten entlassen worden wären und damit das Heer der Arbeitslosen verstärkt hätten. Im Zusammenhang damit fürchtete man, daß die revolutionäre Stimmung unter den Volksmassen weiter wachsen könnte, was gerade verhindert werden sollte. Schloß man die Betriebe, hätte dies aber auch bedeutet, daß wichtige Produkte nicht hergestellt worden wären, an denen es der Volkswirtschaft mangelte. Die Landwirtschaft z. B. benötigte dringend den in den Reichsbetrieben erzeugten Stickstoff, ebenso wie der Kohlenmangel im Lande es absurd erscheinen ließ, etwa die Elektrizitätserzeugung zu verringern. Drittens, man entschloß sich, die Betriebe weiterhin in Reichsbesitz zu belassen. Diese Variante wurde gewählt, und man ging sogar daran, den Reichsbesitz auszudehnen bzw. das bisher beteiligte Privatkapital auszuzahlen. Mit diesen Maßnahmen hoffte man auch, den Sozialisierungserklärungen einen gewissen Wahrheitsgehalt unterlegen zu können. Andererseits gab der staatliche Anteil an Produktionsmitteln angesichts der infolge der Inflation immer geringer werdenden und immer unsicheren Steuereinkünfte des Staates die Aussicht auf gewisse feste Einnahmen des Reiches und eine zukünftige finanzielle Basis. Alle diese Überlegungen führten dazu, daß das Reich erstmalig in Friedenszeiten über einen verhältnismäßig großen Produktionssektor verfügte. Da die Produktion jedoch jetzt nicht mehr wie in der Kriegszeit Kosten und Verluste unberücksichtigt lassen, d. h. in einer Weise durchgeführt werden konnte, welche wirtschaftliche Gesichtspunkte unbeachtet ließ, war eine Reorganisation dringend erforderlich. Es lagen zunächst wenig praktische Erfahrungen dafür vor, wie das Reich ein Konglomerat von so unterschiedlichen Betrieben nach ökonomischen Gesichtspunkten leiten könnte. Es war daher nicht überraschend, daß eine Zeitlang herumexperimentiert und verschiedentlich reorganisiert werden mußte. Dies geschah unter der aggressiven Kritik des antietatistischen Flügels des Monopolkapitals, wo man gegen den staatlichen Produktionssektor heftig zu Felde zog bzw. zu behaupten suchte, daß der Staat unfähig sei, die Produktion rentabel zu organisieren, und eine Privatisierung daher unerläßlich sei. Doch waren diese Kräfte nicht stark genug, um ihre Forderung durchzusetzen. Die grundsätzliche Entscheidung über die Zukunft der staatlichen Betriebe des Reiches
Die Unternehmertätigkeit des Reiches
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kam in dem Beschluß der Nationalversammlung vom 22. Oktober 1919 zum Ausdruck, wo es hieß: „Alle gewerblichen Betriebe des Reiches sind ohne Verzug der Zivilverwaltung zu unterstellen. Einzelne Betriebe, die ausschließlich für den Bedarf des Heeres oder der Marine arbeiten, können der Heeres- bzw. der Marineverwaltung verbleiben. Die Leitung der Betriebe ist bewährten Fachleuten zu übertragen, ihnen ist ein Beirat beizugeben, der aus Vertretern der Arbeiter und Angestellten des Betriebes besteht. Die Betriebe sind so auszubauen, daß sie die Unkosten decken und eine angemessene Verzinsung und Tilgung des Anlage- und Betriebskapitals ermöglichen." 2 Hier wurde nicht nur festgelegt, daß die Betriebe weiterhin in Reichseigentum verbleiben sollten, sondern es wurde auch ausdrücklich ein Prinzip statuiert, das für alle staatlichen Unternehmen bedeutungsvoll werden sollte: Man ging von der bis dahin vorherrschenden kameralistischen Buchführung der Regiebetriebe zu einer den übrigen kapitalistischen Unternehmen angepaßten Gewinn- und Verlustrechnung über. Diese Umstellung war zweifellos vorteilhaft. Sie ermöglichte den staatlichen Betrieben, rentabel zu arbeiten, und war geeignet, dies nachzuweisen und damit der vielfach von gegen Staatsbetriebe eingestellten Unternehmern erhobenen Anklage, daß diese Betriebe unrentabel seien, den Boden zu entziehen. Andererseits trug der Umstand, daß die staatlichen Betriebe und Unternehmen faktisch nach den gleichen Prinzipien wie privatkapitalistische betrieben wurden, unter den gegebenen, d. h. wesentlich von der Herrschaft des Monopolkapitalismus bestimmten Bedingungen dazu bei, daß die staatlichen Betriebe bzw. ihre verantwortlichen Leiter sich mehr oder weniger mit der kapitalistischen Gesamtwirtschaft solidarisierten und sich ihren Gesetzen unterwarfen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Nachdem entschieden worden war, daß die Produktionsbetriebe und -unternehmen des Reiches in seinem Besitz verbleiben sollten, abgesehen von einer gewissen Anzahl, die aus Zweckmäßigkeitsgründen abgestoßen oder verpachtet wurden, entstand die Frage, wie sie zu organisieren seien. Man entschied sich in den meisten Fällen dafür, Aktiengesellschaften zu bilden, deren Aktien das Reich bzw. ein Reichsministerium, zunächst das Reichsschatzministerium, übernahm. So wurde z. B. mit dem aus der Gruppe der Stickstoffwerke beim Reich verbliebenen Werk Piesteritz verfahren, das in eine neugegründete Aktiengesellschaft eingebracht wurde. Auch die Anlagen der Bayerischen Stickstoffwerke, die während des Krieges mit Reichshilfe ausgebaut worden waren, übernahm das Reich. Die Produktion der dem Reich gehörenden Stickstoffgruppe betrug 1924 12% der gesamten Stickstofferzeugung.3 Während des Krieges waren einige Aluminiumwerke gebaut worden, die gemeinsam vom Reich und privaten Kapital als Vereinigte Aluminiumwerke AG betrieben worden waren. Nach Kriegsende wurden das beteiligte Privatkapital ausgezahlt und die Werke voll in Reichsbesitz übernommen. Unrentable Werke (Rummelsburg und Horrem) legte man still und konzentrierte die Produktion auf die leistungsfähigsten Produktionsstätten. Die Vereinigten Aluminiumwerke übernahmen auch die in Reichsbesitz befindlichen Aktien der Erftwerke AG und im Laufe der Jahre 1920 bis 1922 das gesamte Aktienkapital dieses Unternehmens. So befand sich fast die ganze deutsche Aluminiumerzeugung in der Hand des Reiches. 1925 wurden in den Werken Lauta, Bitterfeld, Innwerk und Erftwerk ca. 19400 t Aluminium produziert.4 Dazu gehörten nicht nur die unmittelbare Erzeugung, 2 Karplus, Egon, Die Deutschen Werke, Diss. Glessen 1927, S. 16. 3 Sogemeier, Martin, Die öffentliche Hand in der privaten Wirtschaft, Berlin 1926, S. 85. « Ebenda, S. 89.
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
sondern auch eine Beteiligung an einem Bauxitlager in Istrien und die Tongrube Guttau, womit die Rohstoffbasis gesichert werden sollte. Außerdem waren die VAW an zahlreichen Weiterverarbeitungsunternehmen beteiligt. Bin Produktionszweig, in dem die Notwendigkeiten des technischen Fortschritts und der rationalen Erzeugung in Deutschland besonders eng mit der Frage der Verstaatlichung verknüpft waren, stellte die Elektrizitätserzeugung dar, bei der es sich „um die Versorgung mit einem Erzeugnis von solcher technisch-physikalischen Eigenart handelt, die nicht nur die besten Voraussetzungen, sondern geradezu die Forderung nach einer einheitlichen zentralen Lenkung in sich trägt." 5 So gab es bereits vor dem Kriege Pläne zur „Verreichlichung" der Elektrizitätsindustrie, die jedoch auf starken Widerstand gestoßen waren. 6 Während des Krieges hatten dann vor allem die Bedürfnisse der neuerrichteten Stickstoff- und Aluminiumproduktion als besonders energieintensive Erzeugungsarten dazu geführt, eine reichseigene Elektrizitätserzeugung aufzubauen. Einige neuentstandene bzw. nach der Übernahme durch das Reich ausgebaute Kraftwerke auf der Braunkohle, wie Zschornewitz, das die Stickstofferzeugung in Piesteritz belieferte, sowie Trattendorf und Lauta, die die Aluminiumerzeugung belieferten, wurden nach Kriegsende auf die Fernversorgung, vor allem von Sachsen, Niederschlesien und Berlin, umgestellt. 1921 als reichseigene „Elektrowerke AG" zusammengefaßt, lieferten sie über eine Ringleitung, die im Norden über Berlin hinausging, im Westen bis Magdeburg und Harbke und im Osten nach Breslau reichte, einen beträchtlichen Teil des deutschen Stroms zu niedrigen Kosten und Preisen. Die Werke wurden weiter ausgebaut und beteiligten sich an einer Anzahl anderer Unternehmen bzw. erwarben Mehrheitsbeteiligungen in Bayern, Württemberg und Ostpreußen sowie an den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken. Mit einer Erzeugung von 1,37 Milliarden kWh im Geschäftsjahr 1922/23 standen die Elektrowerke AG an der Spitze der deutschen Großkraftunternehmen.7 Sie gaben Strom nur als Großverteilungsunternehmen ab. Das hieß, die von ihnen erzeugte Elektrizität wurde an Landversorgungsunternehmen, an die Deutsche Reichsbahngesellschaft und einige große chemische Werke geliefert. Mit diesen Unternehmen bestanden langfristige Verträge, die teilweise bis 1980 befristet waren.8 1923 erzeugten die Werke an 15% des deutschen Gesamtverbrauchs von 8,6 Milliarden kWh. 9 Damit hatte das Reich einen gewichtigen Anteil an der Erzeugung dieser modernen Energieform übernommen und entsprach weitgehend Forderungen, die bereits vor dem Kriege gestellt worden waren. Gerade in der Elektrizitätserzeugung wurden merkliche Anstrengungen unternommen, um den Anteil der reichseigenen, wie überhaupt der öffentlichen, Werke zu vergrößern. Zwar wurde das „Gesetz zur Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft" vom 31. Dezember 1919, wonach das Reich alle Leitungen von mehr als 50000 Volt und alle Kraftwerke mit mehr als 5000 kWh Maschinenleistung gegen Entschädigung enteignen durfte, praktisch nicht angewendet. Doch wendete man ansehnliche Mittel für Neubauten, den Ausbau vorhandener Anlagen und für Beteiligungen an bisher privatkapitalistisch betriebenen Werken 5 6
7 8 9
Hildebrand, Hans-Joacbim, Wirtschaftliche Energieversorgung, Bd. 1, Leipzig 1965, S. 53f. Nussbaum, Helga, Versuche zur reichsgesetzlichen Regelung der deutschen Elektrizitätswirtschaft und zu ihrer Überführung in Reichseigentum 1909—1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1968, T. 1/2, S. 117ff. Guggenheim, Felix, Der deutsche reichseigene Industriekonzern, Zürich 1925, S. 32. Heißmann, Ernst, Die Reichselektrowerke, Berlin 1931, S. 45. Berechnet nach Angaben der Elektrotechnischen Zeitschrift, H. 34/1924, S. 911.
Die Unternehmertätigkeit des Reiches
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auf. Trotzdem arbeitete die deutsche Elektrizitätswirtschaft noch relativ unrationell und mit hohen Belastungsspitzen. Etwa 90 bis 95% des gesamten Strombedarfs wurden mit 50% der Anlagekosten gedeckt, während die anderen 50% der Kapitalaufwendungen dazu dienten, den Spitzenstrom von 5—10% zu erzeugen.10 Beauftragt vom RWM erarbeitete Oskar von Miller, der schon vor dem Kriege mit Plänen zur Zentralisierung der Elektrizitätsversorgung befaßt gewesen war, ein Gutachten über die Reichselektrizitätsversorgung, das forderte, die Energiequellen weiter auszubauen und die bestehenden Netze zu einem einheitlichen, ganz Deutschland überspannenden Stromnetz zusammenzuschließen.11 Der Plan rechnete mit einem Stromverbrauch von 34 Milliarden kWh in Deutschland für eine Zeit nach 193512 und sah vor, daß der Durchschnittspreis pro kWh sich um 3 Pfennig bewegen sollte. Infolge starker Widerstände konnte der großzügige Plan jedoch nicht verwirklicht werden. Er erforderte nicht nur Investitionen, die sich auf etwa 3,7 Milliarden RM belaufen sollten, sondern setzte auch voraus, daß die privaten und staatlichen Sonderinteressen überwunden würden. Als erster Schritt, die deutsche Elektrizitätswirtschaft zu vereinheitlichen und zu rationalisieren, wurde 1928 eine Dachgesellschaft unter dem Namen „Aktiengesellschaft für deutsche Elektrizitätsversorgung" gegründet, in der die Reichselektrowerke und verschiedene Elektrizitätsgesellschaften der Einzelstaaten zusammengefaßt waren. Das als vorläufige Studiengesellschaft gegründete Unternehmen hatte die endgültige Vereinheitlichung dadurch vorzubereiten, daß die Anlagen und verwendeten Spannungen einander angeglichen werden sollten. Doch das eigentliche Ziel wurde nicht erreicht. Die unrationelle Vielfalt in der Stromerzeugung, die unterschiedlichen Spannungen usw. blieben noch über Jahrzehnte hinweg bestehen und bildeten einen Teil der Erbschaft, mit der sich die Industrie der DDR auseinanderzusetzen bzw. die sie zu überwinden hatte. Eine besondere Gruppe der reichseigenen Unternehmen bildeten die Rüstungsbetriebe, in denen bei Kriegsende ca. 165000 Menschen beschäftigt waren, deren Zahl dann innerhalb eines Jahres auf 62000 verringert wurde. 13 Die Verwaltung stand vor dem Dilemma, daß einerseits die Rüstungsproduktion im wesentlichen eingestellt werden mußte, andererseits die Massen der Arbeitslosen nicht noch vergrößert werden sollten, indem man die Beschäftigten entließ, da man fürchtete, die revolutionäre Stimmung unter den Arbeitern dadurch anwachsen zu lassen. Es gelang nur unter Schwierigkeiten, die Rüstungsbetriebe, die seit 1919 dem Reichsverwertungsamt, dann ab März des gleichen Jahres dem Reichsschatzministerium unterstellt waren, auf Friedensproduktion umzustellen. Manche Anlagen mußten auf Befehl der Siegermächte zerstört, die Produktion anderer Werke mehrmals umgestellt werden. Im Juni 1920 wurden dann die weitgehend selbständigen „Deutschen Werke Aktiengesellschaft" gegründet. Der Staat konnte jetzt nur über Aufsichtsrat und Generalversammlung Einfluß auf die Betriebe nehmen. Nach und nach wurden auch die bis dahin im Eigentum der Länder befindlichen staatlichen Heereswerkstätten an die Deutschen Werke übertragen bzw. teilweise stillgelegt. Die erwähnten Schwierigkeiten der friedensmäßigen Produktion ergaben sich aus verschiedenen Ursachen: „Die DW hatten eine Organisation Heißmann, Ernst, a. a. O., S. 41. Miller, Oskar von, Gutachten über die Reichselektrizitätsversorgung, Berlin 1930. « Tatsächlicher Verbrauch 1925 = 9 Milliarden kWh. 13 Neu, Kurt, Aufgaben und Organisationsformen der öffentlichen Unternehmung in der deutschen Industriewirtschaft, in: Moderne Organisationsformen der öffentlichen Unternehmung, 2. T.: Deutsches Reich, München/Leipzig 1931, S. 208.
10 11
13 Nussbaum, Bd. 2
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
übernommen, die früher, infolge des Ziels der ehemaligen Heereswerkstätten, Qualitätsund Quantitätsfabrikation bis zur höchsten Vollendung erreichen wollte, wirtschaftliche Momente waren dabei ohne Bedeutung. So wurden sie auch vernachlässigt, und als dann den Heeresbetrieben die Aufgabe gestellt war, für den Markt, ohne Ausschaltung der Konkurrenz zu arbeiten, versagten sie. Die Weiterarbeit der Heereswerkstätten nach dem Kriege, ohne längere Pause, zwang zu einer raschen Weiterentwicklung auf technischem und wirtschaftlichem Gebiet, zur Lösung der für die Gegenwart bestimmten Aufgaben, ohne die Möglichkeit zu geben, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren." 1 4 Da die Produktionsanlagen in diesen vorherigen Rüstungsbetrieben auf Grund der gleichen oder ähnlichen Aufgabenstellung keine große Variationsbreite für eine neue Produktion zuließen, es aber verhindert werden sollte, daß die Betriebe untereinander konkurrierten, sah man den Ausweg in straffer Zentralisation unter einer gemeinsamen Hauptverwaltung, die u. a. das Fabrikationsprogramm aufstellte und die Einrichtungen dafür schaffen sollte. Für die kaufmännische Organisation wurden die Hauptverkaufsverwaltung und die Hauptfinanzverwaltung gebildet. Die Zahl der Arbeiter und Angestellten war allerdings stark reduziert worden und betrug am 31. Januar 1920 nur noch 40751. Bis zum 1. Januar 1924 sank sie auf 33481.15 Die Produktion der DW wurde unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, möglichst wenig Angriffsflächen für Kritik seitens der privatkapitalistischen Gegner staatlicher Betriebe zu liefern, was aber nicht gelang. Daher produzierten die DW vor allem Erzeugnisse, die durch Patente geschützt oder teilweise geschützt waren, wie landwirtschaftliche Spezialmaschinen, Motorräder, Dieselmotoren, kompensierte Drehstrommotoren usw. Spinnereimaschinen, die bis dahin vorwiegend importiert worden waren, gehörten ebenfalls zum Produktionsprogramm. Die anfängliche Vielzahl der Erzeugnisse wurde allmählich eingeschränkt und die Produktion in einer begrenzten Zahl von Werken konzentriert. Obwohl die Erzeugung der Werke innerhalb der deutschen Gesamtproduktion nicht schwer wog 1 6 , wurden die DW vom antietatistischen Flügel der Monopolbourgeoisie heftig angegriffen, wobei es möglich wurde, kleinbürgerliche Kreise und Teile der nichtmonopolistischen Bourgeoisie mit gegen die Staatsbetriebe zu mobilisieren. Die Produktionspolitik der DW, die der kleinen und mittleren Bourgeoisie ins Gehege kam, erleichterte dem antietatistischen Monopolkapital seine Suche nach Verbündeten. Als z. B. im Juni 1920 erwogen wurde, Fleischereimaschinen in das Fabrikationsprogramm aufzunehmen, wurde von sächsischen Unternehmern eine Beschwerde an das noch bestehende Reichsschatzministerium lanciert. 17 Ärgerliche Stimmen in Fachorganen des Handwerks gab es, da die D W anläßlich einer Submission des Reichsvermögensamtes Schöneberg für Tischler- und Schlosserarbeiten an einem Barackenbau sich um diese Arbeiten bewarben. Der Kampf gegen die DW gipfelte in einer Kampagne zur Stillegung der Betriebe. 18 Karplus, Egon, a. a. O., S. 36/37. Guggenheim, Felix, a. a. O., S. 53. 16 Produktionszahlen wurden, wahrscheinlich auch wegen der Angriffe, zunächst nicht veröffentlicht, so daß darüber keine brauchbaren Angaben verfügbar sind. " Karplus, Egon, a. a. O., S. 57. 48 Unter den Presseorganen, die diese Kampagne führten, tat sich das schwerindustrielle „Deutsche Tageblatt" besonders hervor. Diese Zeitung brachte am 5. und 8. 7. 1925 unter der Überschrift „Barmatgeist und Deutsche Werke" bzw. „Die Henker der Deutschen Werke" längere Polemiken und schrieb am 25. 8. 14 15
Die Unternehmertätigkeit des Reiches
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Der bürgerliche Journalist Georg Bernhard schrieb dazu, nachdem er auf die „ideologischen" Gegner von Staatsbetrieben eingegangen war: „Neben solchen Idealisten von Gesinnung kämpfen aber auch viele, die die fetten Bissen aus dem Staatsbesitz billig schlucken wollen . . ."19 Die Leitung der DW reagierte mit Gegenmaßnahmen, ließ Vorträge über die Tätigkeit der Werke halten (u. a. in der Berliner Urania), veranstaltete Führungen durch die Produktionsstätten ctc. Die Polemik gegen die DW fand insofern einen Angriffspunkt, als die Werke nicht nur wegen ihrer unübersichtlichen Organisation schwer zu leiten und zu ökonomischen Ergebnissen zu bringen waren, sondern auch unter Kapitalknappheit litten. Größere Investitionen aber wären notwendig gewesen, um die Produktionsanlagen zu modernisieren und rentabel zu machen. Nachdem man jahrelang vergeblich versucht hatte, die nötigen Mittel über Aktienemissionen oder private oder staatliche Darlehen zu erhalten, mußte das Unternehmen „Deutsche Werke" im Jahre 1925 schließlich liquidiert werden. An seiner Stelle entstanden mehrere selbständige Unternehmen, während die Hauptverwaltung, in der im Februar 1925 noch 911 Angestellte tätig waren, ein Jahr darauf aufgelöst wurde. Die nunmehr sechs selbständigen Unternehmen wurden dann zum Teil in die reichseigene Vereinigte Industrieunternehmungen Aktiengesellschaft (Viag) eingebracht. Die Vereinigte Industrieunternehmungen AG wurde im März 1923 als Holding-Gesellschaft der Reichsunternehmungen und -beteiligungen gegründet. Ihre Entstehung ging der kurz darauffolgenden Auflösung des Reichsschatzministeriums voran bzw. stand damit im Zusammenhang. Alleinaktionär der neuen Holdinggesellschaft wurde nun das Reichsfinanzministerium. Dort lag jetzt die Funktion der Verwahrung des Vermögens und seine Verwaltung, während die davon getrennte Funktion der Konzernleitung der Viag übertragen wurde. Die Viag umschloß alle reichseigenen Industrieunternehmungen, also die Stickstoffgruppe, die Aluminiumgruppe, die Elektrowerke, die verbliebenen Fabrikationsstätten und Vermögensteile der Deutschen Werke sowie einige weitere Unternehmen bzw. Beteiligungen, unter denen vor allem die Reichsbeteiligung an der Ilseder Hütte hervorragte. Zur Viag gehörten die reichseigenen Finanz- und Versicherungsinstitute, wie die Reichskredit AG und die Deutsche Versicherungs AG. Die Reichskredit AG war ursprünglich als Bankinstitut der Viag geschaffen worden, erlangte jedoch zunehmende Bedeutung und ging immer mehr zu privatwirtschaftlichen Geschäften über. Ihre Bilanzsumme erhöhte sich zwischen 1924 und 1930 um rund 61%. 20 So bildete die Viag einen der größten deutschen Konzerne. Obwohl der Konzern nicht als Ergebnis eines systematischen Aufbaus eines staatlichen Industriekomplexes zustandekam, sondern das Sammelbecken der Unternehmen und Betriebe bildete, die im Gefolge der Kriegs- und Nachkriegspolitik sich in der Hand des Reiches befanden, hatte er eine ziemlich günstige, sich ergänzende Struktur: Als Kernstück auf der Grundlage der Elektrizitätserzeugung eine monopolistische Aluminium1925: „Wir wollen sehen, wer es länger aushält und ob es uns nicht doch gelingt, dies Konsortium von Händlern, Schiebern, Zionisten, sonstigen Juden und pflichtvergessenen Beamten zur Strecke zu bringen, wie sie es verdienen." 19 Magazin der Wirtschaft v. 26. 3.1925. 20 Bohret, Carl, Die Aktionen der privatwirtschaftlichen Spitzenverbände gegen die „kalte Sozialisierung" 1926—1930, Berlin 1966, S. 55. Dazu auch: Volkmann, Edeltraud, Die Entwicklung des staatlichen Bankwesens in Deutschland in der Zeit von 1924—1928 unter besonderer Berücksichtigung der ReichskreditGesellschaft AG, Diss. Berlin 1977. 13»
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
Produktion u n d die E r z e u g u n g des für die Landwirtschaft unentbehrlichen Stickstoffs, der außerdem auf dem Weltmarkt gute Absatzmöglichkeiten hatte. A l s weiterer Teil f u n k tionierte eine vertikal gegliederte G r u p p e v o n U n t e r n e h m e n der eisenverarbeitenden Industrie, die zwar keine M o n o p o l s t e l l u n g einnahmen, aber deren Erzeugnisse z u m Teil für ihre Qualität bekannt waren, w i e etwa die Triebwagenproduktion der D e u t s c h e n Werke (Tab. 93). Tabelle 93 Hauptbeteiligungen derViag 1926 (in RM) Firma A. Bank und Treuhandgesellschaft: 1. Reichskreditgesellschaft AG 2. Deutsche Revisions- und Treuhand AG B. Elektro wirtschaftliche Unternehmungen: 1. Elektro werke AG 2. Ostpreußenwerk AG 3. Württembergische Landes Elektrizitäts-Aktiengesellschaft C. Aluminiumindustrie: 1. Vereinigte Aluminium-Werke AG 2. Innwerk, Bayerische Aluminium AG D. Kalkstickstoffindustrie: 1. Mitteldeutsche Stickstoffwerke AG 2. Bayerische Kraftwerke AG 3. Alzwerke G.m.b.H. E. Deutsche Werke AG i. L. Stammaktien Vorzugsaktien F. Sonstige Beteiligungen: 1. Aktiengesellschaft Ilseder Hütte Stammaktien Vorzugsaktien 2. Telephon-Fabrik Aktiengesellschaft vormals J. Berliner Stammaktien Vorzugsaktien 3. Bayerischer Lloyd Schiffahrts AG Stammaktien Vorzugsaktien
Gesellschaftskapital
Beteiligung der Viag
30000000 30000000 1000000
30000000 30000000 1000000
60000000 9900000 4500000
60000000 3916000 1282500
24000000 13200000
20800000 12000000
20000000 15000000 3000000
20000000 15000000 1500000
28000000 1000000
23106520 920000
64000000 500000
16026400 125000
6900000 210000
1725000 52500
9720000 120000
748800 28000
Quelle: Die öffentliche Hand in der privaten Wirtschaft, bearb. v. Martin Sogemeier, Berlin 1926, S. 82/83.
2. D i e U n t e r n e h m e r t ä t i g k e i t d e r E i n z e l s t a a t e n I m Unterschied zur Produktionstätigkeit des Reiches hatte die der Einzelstaaten bereits eine alte Tradition, die bis in die Zeit des A b s o l u t i s m u s zurückreichte. V o r allem besaß Preußen umfangreiche U n t e r n e h m u n g e n in der Grundstoffindustrie, v o n denen einige s c h o n rund 200 Jahre i m Besitz des Staates waren. Zwar hatte der preußische Staat in der
D i e Unternehmertätigkeit der Einzelstaaten
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Zeit des vormonopolistischen Kapitalismus seine Produktionstätigkeit eingeschränkt und 1852 seinen Zechenbesitz an der Ruhr verkauft. Doch unter den Bedingungen des aufkommenden Monopolkapitalismus zeigte er sich erneut und wachsend am Bergwerksbesitz interessiert. So erwarb der preußische Staat 1902 die Schachtanlagen und -felder von August Thyssen im Bezirk Recklinghausen, kämpfte von 1904 bis 1917 um den Erwerb der 60-Millionen-Mark-Aktien der Hibernia 21 , kaufte das Kalibergwerk Herzynia und beteiligte sich an der Rheinschiffahrt. Schon vor dem Kriege kontrollierte der preußische Staat fast 100% der Kohlenförderung im Saarrevier, rund 15% in Oberschlesien und nach Erwerb der Hibernia rund 11% im Ruhrgebiet. Zwar hatte der Kriegsausgang dazu geführt, daß der preußische Bergwerksbesitz stark zurückging — mit der Abtretung der Gruben an der Saar und in Oberschlesien verlor der preußische Staat 63% seiner Steinkohlenförderung 22 , doch war der gesamte Besitz des Staates im Bergbau immer noch beträchtlich. Vor dem Kriege waren diese Betriebe kameralistisch verwaltet worden. 1923 wurde dann damit begonnen, die über 30 Betriebe auf eine Organisationsform umzustellen, die der wirtschaftlichen Aufgabe besser entsprach. Einflußreiche Vertreter der Ruhrindustrie, wie Voegler und Thyssen, forderten, da sie eine Privatisierung der Staatsbetriebe nicht erreichen konnten, daß die Betriebe in eine Vielzahl selbständiger Gesellschaften umgewandelt werden sollten, die nur lose in einer GmbH zusammenzufassen seien. 23 Offenbar rechneten sie, so am ehesten ihre eigene Macht auf ein solch relativ schwaches Gebilde ausüben zu können. In den Auseinandersetzungen um die zukünftige Gestaltung der Staatsbetriebe setzte sich jedoch die Konzeption der zentralisierten Aktiengesellschaft durch. 24 Die meisten Betriebe der staatlichen Grundstoffindustrie wurden in der am 13. Dezember 1923 gegründeten Preußischen Bergwerks- und Hütten A G , Berlin (Preussag) zusammengefaßt. Die staatlichen Zechen im Bezirk Recklinghausen organisierte man in der gesonderten Bergwerks A G Recklinghausen (Bergag), die mit dem dritten Unternehmen Preußens in der Grundstoffindustrie, der Hibernia, in Personalunion verwaltet wurde. 25 Alle die Unternehmungen des preußischen Staates in der Bergwerks- und Hüttenindustrie und das preußische Elektrizitätsunternehmen Preußen-Elektra (später auch als Preag bezeichnet) wurden im März 1929 einer Dachgesellschaft unterstellt, der Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerks A G (Veba). Diese Dachgesellschaft hielt den Aktienbesitz des Preußischen Staates an. der Preussag, der Bergag, der Hibernia und der Preag. Obwohl mangelnde Zusammenarbeit der Staatsunternehmen mit dazu geführt hatte, daß man die Veba gründete 26 , waren die Rechte der Veba gegenüber den Tochtergesellschaften weitaus 21
22
Bd. 1, 159 ff. dieser Arbeit. Winklet, Hans-Joachim, Preußen als Unternehmer, Berlin 1965, S. 3.
23 Ebenda, S . 13. Anteil an dieser Entscheidung hatte der Schwerindustrielle Peter Klöckner als Zentrumsvertreter im
24
Staatsrat. Winkler berichtet dazu: „Bei Eingeweihten bestand damals die Meinung, daß Klöckners fachlicher Rat auch von eigenen Interessen bestimmt war. Eine zentrale Gesellschaft konnte für seinen Konzern einen lohnenderen Geschäftspartner darstellen als mehrere Einzelgesellschaften, zumal als Generaldirektor der neuen A G der Mitbegründer des Stahlwerksverbandes und ehemalige HoeschDirektor L o b im Gespräch war." (Ebenda). 25
D a noch ca. 0 , 6 % der Stammaktien der Hibernia in Privathand waren, wurde aus Steuergründen von einer Fusion abgesehen.
26
„Tatsächlich war in Preußen eine freiwillige Konzernsolidarität kaum vorhanden. Zwar besichtigte der
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
beschränkter als die der reichseigcnen Viag gegenüber den in ihr zusammengefaßten Gesellschaften. Die Veba wurde keine echte Konzernspitze, da der Widerstand der Tochtergesellschaften zu stark war. Sie blieb eine reine Holding-Gesellschaft, deren Aufgaben ausschließlich die Finanzierung betrafen, die aber, trotzdem sie auf diesem Gebiet einiges leistete, ihre Möglichkeiten nicht voll nutzte. Tabelle 94 Produktionsanteil der preußischen Staatsunternebmen 1931/32 in der Koblenhokser^eugmg Steinkohle (1932) Hindenburg
2955850 t
Ibbenbüren
6565201|
Barsinghausen
174999 t !
Obernkirchen
3949041] 4182773 t
Preussag Bergag Hibernia Staatsunternehmen Koks Hindenburg Obernkirchen
=
= 89,06% der Förd. Niedersachsens =
4,11% der Förd. Preußens
=
3,99% der Förd. Deutschlands
3229261 t
=
8,96% der Förd. d. Ruhrgebiets
3275079 t
=
6,40% der Förd. Preußens
10686613 t
= 10,51% der Förd. Preußens = 10,20% der Förd. Deutschlands
241743 t
= 27,85% der Erzg. Oberschlesiens
195072 t
= 100,00% der Erzg. Niedersachsens
436815 t
= =
Bergag Hibernia Staatsunternehmen
19,35% der Förd. Oberschlesiens
2,31% der Erzg. Preußens 2,28% der Erzg. Deutschlands
799926 t
7,72% der Erzg. d. Ruhrgebiets
386012 t
6,40% der Erzg. Preußens
1622753 t
8,77% der Erzg. Preußens 8,48% der Erzg. Deutschlands
Quelle: Hälsen, F. C. von. Die Bergbaugesellschaften des Preußischen Berg-, Hütten- und Salinenwesen, Bd. 81 (1933), S. B161.
Staates, in: Zeitschrift für das
Neben den Unternehmen der Grundstoffindustrie besaß Preußen vor allem eine starke Position in der Elektrizitätswirtschaft. Die meisten Kraftwerke im Besitz des preußischen Staates wurden erst in der Nachkriegszeit erbaut und befanden sich bei Hannover, Borken bei Kassel und am Main. 1927 wurden sie in der Preußischen Elektrizitäts Aktiengesellschaft (Preußen-Elektra oder Preag) zusammengefaßt, in die sämtliche Beteiligungen des preußischen Staates an Elektrizitätsunternehmen eingebracht wurden. Die Preag beeinflußte sehr stark die gesamte Stromversorgungspolitik. Sie erwarb eine Reihe von Stromversorgungsunternehmen und suchte regionale Zusammenfassungen kommunaler Unternehmungen in Form von Stromversorgungsgesellschaften zu erreichen, von denen sie einen Aktienanteil übernahm. 1929 wurde ein Landtagsbeschluß gefaßt, laut dem die Preußen-Elektra bis zu 26% ihres Aktienkapitals an kommunale Körperschaften übertragen Generaldirektor der Hibernia, von Velsen, auf seinem Urlaub im Harz auch ein Werk der Preußag, zwar borgte die Preußag sich von der Hibernia gelegentlich einen Kokereifachmann aus, aber wirkliche Beispiele enger Zusammenarbeit haben sich bis auf den zeitweiligen gemeinsamen Kohlenverkauf 1926 nicht finden lassen." (Winkler, Hans-Joacbim, a. a. O., S. 128.)
Die Unternehmertätigkeit der Einzelstaaten
191
Tabelle95 Produktionsanteil der preußischen Staatsunternebmenin der Metallgewinnung 1931/32 Metalle (Hüttenproduktion, 1931) Blei Oberharz Unterharz
105871 86181 19205 t
= 18,90% der deutschen Hüttenproduktion von Blei = 14,10% des deutschen Bleiverbrauchs Dazu kommen noch 78001 Bleierze der Friedrichsgrube in Oberschlesien, die meist nicht in eigenen Hütten verarbeitet wurden. Kupfer Unterharz = 1601 t Elektrolytkupfer = r d . 2,9% der deutschen Hüttenproduktion = td. 5,9% der deutschen Bergwerksproduktion Außerdem Produktion von Zinkerz, Silber, Eisenerz, Beteiligungen am Kalisyndikat, Steinsalzsyndikat, Bromsyndikat, Chlormagnesiumsyndikat 5 % der deutschen Kalkproduktion (Rüdersdorf) 100 % der deutschen Rohbernsteinproduktion mit 32510 t etwa 7,5 °/ 0 der deutschen Reinstickstoffproduktion 14,39% der deutschen Rohölproduktion Quelle: Hälsen, F. C. von, Die Bergbaugesellschaften des Preußischen Staates, in: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, Bd. 81 (1933), S. B161.
durfte. Auf diese Weise wurden Verteilungsgruppen gebildet und eine weitgehende Rationalisierung der Elektrizitätswirtschaft ermöglicht. So umfaßte das Versorgungsgebiet der Preag den größten Teil der Provinzen Hannover und Hessen-Nassau. Von der dänischen Grenze über die Provinz Hannover und den Freistaat Braunschweig erstreckte sich ihr Einflußbereich nach Süden über ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet bis zum Main, und in Ost-Westrichtung im nördlichen Teil von der holländischen Grenze über Ostfriesland und Schleswig-Holstein nach Mecklenburg, im südlichen Teil von Oberhessen bis Thüringen. Dazu war die Preag in Ost- und Westpreußen, in der Provinz Sachsen und im Saargebiet an Unternehmungen der Stromversorgung beteiligt, die direkt an die Verbraucher lieferten. Um, wie es hieß, „im öffentlichen Interesse ausgleichend auf solche Stromversorgungsunternehmungen einzuwirken, an deren Kapital private Wirtschaftskreise mitbeteiligt sind" 27 , dehnte der preußische Staat, als der Stinneskonzern zusammenbrach, seinen Einfluß auf die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk AG aus. Auch an der 1931 zur Versorgung Berlins gebildeten Berliner Kraft- und Licht AG, in welche die bis dahin im Besitz der Stadt Berlin befindlichen Elektrizitätswerke unter Beteiligung deutscher und ausländischer Banken eingebracht wurden, beteiligte sich die Preag gemeinsam mit der reichseigenen Elektrowerke AG und der Stadt Berlin. Zusammen mit dem sächsischen Staatsunternehmen AG Sächsische Werke erwarb die Preag einen Anteil an der Thüringer Gas-Gesellschaft. Auch hier wurde „das Streben nach verstärkter Gemeinschaftsarbeit mit anderen Großversorgungsunternehmungen und der Wunsch, auftretende Widerstände gegen eine zweckmäßige Weiterbildung der elektrowirtschaftlichen Organisation Deutschlands zu beseitigen" als Grund angegeben.28 Die privatkapitalistischen Elektrizi27 Staudinger, Hans, Der Staat als Unternehmer, Berlin 1932, S. 50. 28 Ebenda.
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Die öffentliche Hand als Unternehmet
tätsinteressen nahmen das Vordringen des Staates in eine Sphäre, in der sie sich zunehmend eingeengt sahen, nicht kampflos hin und erhoben den Vorwurf, Preußen erstrebe für sein Staatsgebiet ein Elektrizitätsmonopol. Doch wurde seitens des preußischen Staates ausdrücklich dementiert, daß man beabsichtige, die Elektrizitätserzeugung zu monopolisieren. „Das Recht der Stromerzeugung wird weder der Privatwirtschaft noch den Kommunen bestritten. Die Absicht der Regierung läuft darauf hinaus, auf die Elektrizitätswirtschaft durch Vereinbarungen oder Beteiligungen soviel Einfluß zu gewinnen, um Schädigungen, die der Allgemeinheit erwachsen könnten, zu verhindern und die billige Stromversorgung des Landes in jeder Weise zu fördern." 29 Allerdings war die Tendenz, die staatliche Tätigkeit gerade auf dem Sektor der Elektrizitätswirtschaft auszudehnen, die in der Eigenart dieser modernen Produktivkraft begründet lag, durchaus nicht auf Preußen beschränkt. Sie war eng verknüpft mit der starken Konzentrationsbewegung in der Elektrizitätserzeugung, die mehr und mehr dazu führte, daß kleine Kraftwerke verdrängt wurden und neue Großkraftwerke meist direkt am Ort des Rohmaterials entstanden, welche ein großes Gebiet mit verschiedenartigen Abnehmern in Industrie, Landwirtschaft und Städten versorgten. Dadurch waren diese großen Werke wesentlich besser ausgelastet, wodurch sich die Betriebskosten stark reduzierten. Der sächsische Staat hatte sich im Laufe des Weltkrieges ebenfalls besonders in die Elektrizitätswirtschaft eingeschaltet, Braunkohlengruben und E-Werke erworben. Diese, teilweise von befürchteten Monopolisierungsbestrebungen der AEG und Siemens in Sachsen induzierte Politik 30 , setzte er nach dem Kriege mit dem Ziel fort, die Zersplitterung der Elektrizitätswirtschaft zu überwinden. 1924 gingen, ähnlich wie die Preussag, aus den staatlichen Braunkohlen-, Steinkohlenund Elektrizitätsunternehmungen die Sächsischen Werke AG hervor. Neben Kohlengruben in Zauckerode, Braunkohlenbergwerken in Hirschfelde, Böhlen und anderen besaßen die Sächsischen Werke 100% Beteiligung an der Handels- und Kohlenvertriebsgesellschaft m.b.H. und an zahlreichen Elektrizitätsunternehmungen. Neben Elektrizitätswerken auf der Braunkohle errichteten die Sächsischen Werke Wasserkraftwerke im Erzgebirge und schufen ein Hochspannungsverbundnetz quer durch ganz Sachsen, das mit der Hochspannungsleitung der Reichs-Elektrowerke verbunden wurde. So entstand ein einheitlicher Leitungsring Berlin, Zschornewitz, Leipzig, Chemnitz, Dresden, Trattendorf, Berlin. Schon Mitte der zwanziger Jahre war die gesamte Elektrizitätserzeugung Sachsens verstaatlicht. Auch die selbständigen Werke der Kommunen fielen bis auf sechs an den Staat. Die restlichen Elektrizitätswerke der Gemeinden wurden an das staatliche Netz angeschlossen, bezogen den Strom von den Großkraftwerken und erzeugten selbst elektrische Energie nur bei Spitzenbedarf. So wurde ein weitgehend den Bedingungen der Produktivkraft Elektroenergie gemäßes Produktions- und Verteilungssystem errichtet, für das in Sachsen infolge der ausgedehnten Braunkohlefelder, an denen der Staat großen Besitzanteil hatte, besonders günstige Voraussetzungen bestanden. Dieses moderne Energiesystem kam vor allem den Großabnehmern zugute. Während 1925 ihnen die kWh mit 6 Pfennigen berechnet wurde, zahlten die Kleinverbraucher 45 Pfennig. Diese Preisdifferenz wurde damit begründet, daß die Großkraftwerke vor allem auf die Großabnehmer mit ihrer gleichmäßigen und größeren Stromabnahme angeKnollmann, Brich, Det Staat als Unternehmer in der Nachkriegszeit, Diss. Gießen 1931, S. 82. 30 Weber, Erbard, Der staatseigene Industriekonzern in Sachsen, Leipzig 1928, S. 12. 29
Kommunale Unternehmungen
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wiesen seien, um die Werke aus2ulasten und rentabel zu gestalten. Andererseits bestünde die Gefahr, daß die Großabnehmer, würden die Strompreise erhöht, zur Eigenversorgung übergingen. Obwohl diese Argumentation nicht völlig von der Hand zu weisen ist, blieb doch die Tatsache, daß die elektrische Energie, deren Gestehungskosten bei einer auf Braunkohle erzeugten und 200 km weit transportierten kWh etwa 4,51 Pfennig betrugen, dem Großabnehmer fast zum Selbstkostenpreis und dem Kleinverbraucher zum zehnfachen des Selbstkostenpreises berechnet wurde. 31 Neben den genannten Industrien besaß der sächsische Staat ein Hüttenwerk bei Freiberg, Kalkwerke, ein Fernheizwerk, eine Porzellanmanufaktur, Steinbrüche und Sandgruben, Beteiligungen an Elbschiffahrtsunternehmungen und anderen Verkehrsbetrieben.32 An der „Kraftverkehr Freistaat Sachsen AG" war der sächsische Staat mit 54% beteiligt. Staatliche Unternehmungen in der Elektrizitätswirtschaft existierten außerdem in Bayern, Baden, Thüringen. Württemberg beteiligte sich an den beiden großen Verteilungsgesellschaften des Landes. Die zuletzt genannten Einzelstaaten besaßen teilweise ebenfalls industrielle Unternehmungen bzw. Beteiligungen daran meist in der Grundstofferzeugung. So war Thüringen vor allem im Kalibergbau engagiert.
3. Kommunale Unternehmungen Neben den eigentlichen Staatsbetrieben und Unternehmungen des Reiches und der Länder existierten viele Unternehmungen der Städte und Gemeinden, sowohl auf dem Energieund Versorgungssektor, im Verkehrswesen wie in der unmittelbaren Produktion und im Handel und Bankwesen. Vor allem die kommunalen Versorgungsunternehmen waren großenteils schon im 19. Jahrhundert entstanden.33 Nach dem Weltkrieg wurden die kommunalen Betriebe und Unternehmungen stark vermehrt. Allein in der Berliner Kommunalwirtschaft waren vor der großen Weltwirtschaftskrise 50000 bis 60000 Arbeiter und Angestellte tätig. 34 So war die Stadt Berlin einer der größten deutschen Wirtschaftsunternehmer. Der kommunale Wirtschaftssektor bot seine Leistungen im allgemeinen zu stabilen Preisen und Tarifen und brachte so ein gewisses Element der Sicherheit für die Kalkulation für jene privatkapitalistischen Betriebe, die auf die Leistungen der städtischen Unternehmungen angewiesen waren. Andererseits bildeten die Einnahmen aus der städtischen Wirtschaft und die daraus stammenden Abführungen an den städtischen Etat einen wichtigen Faktor der städtischen Finanzpolitik. Die Tendenz, den kommunalen Sektor auszuweiten, war den Gegnern von Unternehmungen der öffentlichen Hand ein besonderer Stein des Anstoßes und veranlaßte Schulde, H., Die wirtschaftliche Reichweite des elektrischen Energietransportes im Jahre 1925, in: Elektrotechnische Zeitschrift H. 10/1926, S. 296ff. 32 Weber, Eduard, a. a. O., S. 48 ff. 3 3 „Die Gründe für diese Entwicklung waren kurz zusammengefaßt: vielerorts ein Versagen der privilegierten privaten Betriebe gegenüber den neuen Bedürfnissen, die das Heranwachsen der Städte erzeugte, die Notwendigkeit für die Gemeinden, Herrinnen des öffentlichen Straßenraumes zu sein, schließlich aber auch vor allem der Zwang, für die rasch wachsenden Ausgaben der Städte, eine Folge ihrer kostspieligen Leistungen auf dem Gebiet der Hygiene, der Sozialpolitik, der Produktionspolitik die Mittel aufzubringen, also Gründe der kommunalen Finanzpolitik." {Lindemann, Hugo, Zukunftsaufgaben deutscher Städte, Berlin 1925, S. 900.) 34 Büsch, Otto, Geschichte der Berliner Kommunalwirtschaft in der Weimarer Epoche, Berlin 1960, S. 15. 31
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
scharfe Angriffe gegen die sogenannte kalte Sozialisierung. Ein illustratives Beispiel für Ursachen und Hintergründe der Kämpfe um den kommunalen Sektor bieten die Bestrebungen der Stadt Frankfurt am Main nach einem kommunalen Energieversorgungssystem. Im Oktober 1926 hatte das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat eine Aktiengesellschaft für Kohleverwertung gegründet, die später in Ruhrgas AG umbenannt wurde. Die Gesellschaft sollte die thermisch-chemische Steinkohlenveredlung und den Absatz des Gases und anderer Produkte monopolmäßig betreiben. Es war geplant, von der Ruhr her Deutschland mit einem Netz von Rohrfernleitungen zu überziehen. Um die Gasverbraucher zu zwingen, das Ruhrgas abzunehmen und die Machtstellung des Monopols unangreifbar zu machen, sollten die angeschlossenen Zechen des Ruhrreviers durch eine geheime Unterschrift verpflichtet werden, keine brennbaren Gase an Dritte zu liefern und keine Feinkohle an Gaskokereien zu liefern, die ihrerseits Dritte mit Gas belieferten. 35 Es war zu erkennen, daß das Projekt eine schwere Belastung für die Abnehmer bedeuten würde, insbesondere auch für die Städte, die auf eigene Gaswerke zu verzichten hatten, die Rohrleitungen selbst finanzieren sollten und eine über Jahre gehende Steigerung der Endverbraucherkosten in Kauf zu nehmen hatten. Die Stadt Frankfurt, dtren Oberbürgermeister von dem Projekt erfahren hatte 36 , reagierte darauf, indem er für die Frankfurter Gasgesellschaft eine eigene Kohlenbasis zu sichern suchte und aus dem Besitz der Rheinischen Stahlwerke die Rossenray-Kohlenfelder für 16 Millionen RM erwarb. Der für die Verwertung der dort lagernden Kohle geschätzte Investitionsaufwand wurde insgesamt auf ca. 90 Millionen RM geschätzt — ein Betrag, der die Möglichkeiten der Stadt, die bereits vorher eine Großmarkthalle und andere Bauten mit Auslandskrediten finanziert hatte, weit überstieg. Als kapitalkräftigen Partner hatte man das von Konrad Adenauer regierte Köln gefunden, mit dem ein Vertrag abgeschlossen wurde, der vorsah, daß Köln mit 50% an dem Unternehmen beteiligt sein sollte. Offenbar war auch vorgesehen, später die IG Farben an dem Projekt zu beteiligen. 37 Gleich nach dem Kauf der Kohlenfelder unternahm die Frankfurter Gasgesellschaft weitere Schritte, die als Fernziel hatten, den Ruhrmonopolen mit einer kommunalen süddeutschen Gasverbundwirtschaft entgegenzutreten. So wurden der Stadt Offenbach mittels Kapitalerhöhung neugeschaffene Aktien im Tausch für die Gasanlagen dieser Stadt überlassen, gemeinsam mit Mannheim eine Südwestdeutsche Gas AG gegründet, um die Gaswerke beider Städte durch Rohrleitungen zu verbinden und andere Gemeinden an die „Süwega" anzuschließen. Doch die großzügigen Pläne wurden durch „fast unlautere Verhandlungen der Stadt Köln mit der Ruhrgas AG" zunichte. Die Ruhrbarone hatten, die persönlichen Bindungen und Neigungen Adenauers zum Privatkapitalismus und die gaswirtschaftlich schwächere 35 Rebentisch, Dieter, Ludwig Landmann. Frankfurter Oberbürgermeister der Weimarer Republik, Wiesbaden 1975, S. 205. 36 Schon aufgrund der territorialen Situation bestanden bestimmte Beziehungen zwischen der Stadt Frankfurt bzw. ihrem Oberbürgermeister und der IG Farben. Die IG war aber mit 47% des Kapitals an den Rheinischen Stahlwerken beteiligt, die ihrerseits über ihre Zechen Mitglied des Kohlensyndikats waren. (Ebenda, S. 207.) 3 7 Bei der Vergasung der Steinkohle werden u. a. Teer, Benzol, Ammoniak und Azetylen, ein wichtiger Grundstoff für synthetischen Kautschuk und andere Kunststoffe, gewonnen. Rebentisch schreibt: „Bindende Absprachen mit dem Frankfurter Magistrat hat es ganz sicher nicht gegeben, aber es fällt auf, daß alle weiteren Schritte der ausgreifenden Frankfurter Gaspolitik nirgendwo auch nur entfernt eine Interessenkollision mit dem Farbentrust erkennen lassen." (Ebenda.)
Die Unternehmungen der öffentlichen Hand in der monopolkapitalistischen Wirtschaft
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Stellung Kölns ausnutzend, dieser Stadt großzügige Angebote gemacht, um die „kommunale Front" zu durchbrechen. Unter anderem wurde neben dem Angebot ununterbietbarer Gaspreise ihr ein Gasbehälter geschenkt. Adenauer entzog sich dem Vertrag mit Frankfurt, schloß mit der Ruhrgas AG ab und erklärte gegenüber Frankfurt: „Irgendeine Verpflichtung nach irgendeiner Richtung hin besteht für die Stadt Köln nicht und wird in keiner Weise von mir anerkannt." 38 Das Frankfurter Konzept, sich von den Ruhrmonopolen mit einer regional begrenzten Gruppenversorgung aus modern ausgebauten, frachtgünstig liegenden Einzelwerken unabhängig zu machen, für deren chemische Nebenprodukte aufnahmefähige Abnehmer bereitstanden, konnte so nur bruchstückweise verwirklicht werden, als nach einiger Zeit eine Main-GasWerke AG errichtet wurde. Doch blieb die in diesem Fall deutliche anti-monopolistische Frontstellung im wesentlichen auf die Kommunen beschränkt und ist im wichtigeren staatlichen Sektor nicht feststellbar.
4. Zur Rolle der Betriebe und Unternehmungen der öffentlichen Hand in der monopolkapitalistischen Wirtschaft der Weimarer Republik Die gewerbliche Betriebszählung vom 16. Juni 1925 ergab einen Gesamtbestand von 22200 öffentlich-rechtlich und privatwirtschaftlich organisierten Wirtschaftseinheiten der öffentlichen Hand. 39 Dies waren 0,73% aller gewerblichen Wirtschaftseinheiten. Rund 2 Millionen, d. h. rund 11% aller beschäftigten Personen, waren in den Betrieben und Unternehmungen der öffentlichen Hand tätig. Auf Wirtschaftseinheiten der öffentlichen Hand ^ntfielen rund 1,7 Millionen PS, d. h. rund 8,5% der im Gewerbe überhaupt erfaßten Leistung der zum Antrieb von Arbeitsmaschinen verwendeten Kraftmaschinen. Allerdings waren von den rund 22200 Wirtschaftseinheiten der öffentlichen Hand nur etwa 3 % privatrechtlich organisiert. Diese privatrechtlich organisierten Einheiten waren aber weitgehend identisch mit den industriellen Betrieben, die im eigentlichen Sinne als Element des staatsmonopolistischen Kapitalismus angesehen werden müssen, während es sich bei den öffentlich-rechtlich organisierten Betrieben zum meisten um Dienstleistungseinheiten für die Staats- und Verwaltungstätigkeit, Baubetriebe der Kommunen, Kulturinstitutionen, Krankenhäuser und Anstalten etc. handelte. Daß gerade die wirtschaftlich ins Gewicht fallenden größeren Betriebe die privatrechtlich organisierten waren, geht auch daraus hetvor, daß in ihnen fast 12% der Gesamtzahl der in öffentlichen Unternehmungen beschäftigten Personen tätig waren. Wenn auch die öffentlichen industriellen Produktionsbetriebe im allgemeinen nur einen kleinen Teil der deutschen Volkswirtschaft bzw. Industrie darstellten, so war ihr Gewicht in einigen wenigen Zweigen doch erheblich. In der Industrie der Grundstoffe waren fast 7% des Personals und im Steinkohlenbergbau fast 20% in öffentlichen Betrieben tätig. In der verarbeitenden Industrie dagegen bewegte sich die Zahl der in öffentlichen Unternehmungen Tätigen in fast allen Gewerbegruppen unter 1%, ausgenommen das Verviel38 Ebenda, S. 212. 39Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Bd. 413, Berlin 1930; Apfelstädt, Heinrich, Umfang und Formen der öffentlichen Unternehmertätigkeit im Rahmen der deutschen Gesamtwirtschaft, in: Moderne Organisationsformen der öffentlichen Unternehmung, München/Leipzig 1931, S. 393ff.
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Die öffentliche Hand als Unternehmer
fältigungsgewerbe und das photographische Gewerbe, wo sie rund 3%, und die chemische Industrie, wo sie rund 1,4% betrug. Die Konzentration der öffendichen Betriebe in wenigen Zweigen zeigen einige Produktionszahlen (Tab. 96). Tabelle 96 Beteiligung der öffentlichen Hand an wichtigen Art der Produktion
Kohle Koks Benzole Ammoniak Braunkohle Briketts Rohkali Roherz Aluminium Kalkstickstoff
in 1000 t in 1000 t in t in t in 1000 t in t in 1000 t in t int int
1913 Produktion insgesamt 140753 31688 175000 420000 88228 21498000 11687 1884800
Produktionszweigen 1925 durch %-Anteil Produktion öff. Hand d. öff. insgesamt Hand 9820 1511 7823 20836 387 12500 210000
6,93 4,29 4,47 4,92 0,43 0,05 10,6
132729 26810 247000 400000 139792 33631000 12030 1366000 26200
durch öff. Hand
%-Anteil d. öff. Hand
13389 2178 12438 27495 10289 1044222 783 257000 19400 60736
10,13 8,13 5,05 6,87 7,23 3,17 6,53 18,81 74,05
Quelle: Puttkammer, Gerbard, Die öffentlichen Nichtversorgungsbetriebe, Diss. Berlin 1930, S. 15.
So förderten die Unternehmungen der öffentlichen Hand in den Jahren 1926,1927,1928 mit geringen Schwankungen etwa 10% der Steinkohlen des Ruhrgebiets. Von dem in Gaswerken erzeugten Gas wurden 1927 84% in rein kommunalen Werken erzeugt. 1928 wurden von 14,479 Mrd. erzeugter kWh 56,6% in Werken der „öffentlichen Hand",28,8% in gemischtwirtschaftlichen Werken und nur 14,6% in privatkapitalistischen Werken erzeugt. 40 Es erhebt sich die Frage, in welcher Weise dieser staatsmonopolistische Produktionssektor, der in einigen Zweigen recht gewichtig war, auf die monopolkapitalistisch beherrschte Gesamtwirtschaft zurückwirkte. Wirkten die öffentlichen Betriebe und Unternehmungen als ein Korrektiv, um, wie es der preußische Handelsminister v. Berlepsch einmal formuliert hatte, „durch einen ausreichend großen Grubenbesitz im dortigen Bezirk gegenüber den Privatbesitzern einen ausreichend großen bestimmenden Einfluß auf die Arbeiterverhältnisse sowie die Preisgestaltung der Kohle zu gewinnen und nötigenfalls in der Lage zu sein, die für den Bedarf der Staatseisenbahnen, des Heeres und der Marine erforderlichen Kohlen aus eigenen Gruben zu decken." 41 Da das Problem der militärischen Selbstversorgung des Staates aus eigener Produktion in der hier behandelten Periode nur eine untergeordnete Rolle spielen konnte, interessiert hier vor allem die Problematik des Einflusses auf soziale und ökonomische Verhältnisse. Dabei muß im allgemeinen festgestellt werden, daß die staatlichen Betriebe und Unternehmungen sich mehr oder weniger nahtlos in die kapitalistische Gesamtwirtschaft ein«
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