Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie 9783050070155, 9783050025827


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German Pages 208 Year 1995

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Table of contents :
Inhalt
1. Krise
2. Konstitution
3. Revolution
4. Relativismus
5. Neuverteilung
Bibliographie
Index
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Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie
 9783050070155, 9783050025827

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Bruno Latour W i r sind nie modern gewesen

Fur Barbara und Bernward

Bruno Latour

Wir sind nie modern gewesen Versuch einer symmetrischen Anthropologie

Akademie Verlag

Originaltitel: Bruno Latour, Nous n'avons jamais été modernes. Essai d'anthropologie symétrique © Éditions La Découverte, Paris 1991 Ubersetzer: Gustav Roßler, Berlin Grundlage der Ubersetzung ist »Nous n'avons jamais été modernes«. Auf Wunsch des Autors sind die Änderungen, die er anläßlich der Übersetzung ins Amerikanische (1993) vorgenommen hat, berücksichtigt. Sie wurden aus dem Amerikanischen übersetzt und eingearbeitet. In Gesprächen zwischen dem Autor und dem Übersetzer wurde die deutsche Ausgabe an manchen Punkten überarbeitet. Titelbild: Aldo Rossi. Mailand, Croce-Rossa-Platz. Photo: Barbara Burg/Oliver Schuh: Palladium Fotodesign, Köln/Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen : Versuch einer symmetrischen Anthropologie / Bruno Latour. [Übers.: Gustav Rossler].Berlin : Akad. Verl., 1995 Einheitssacht.: Nous n'avons jamais été modernes ISBN 3-05-002582-4

©AkademieVerlag GmbH,Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen derVCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). N o part of this book may be reproduced in any form — by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Umschlag- und Innengestaltung, Satz: Hans Herschelmann Druck und Bindung: GAM Media GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

1 Krise 7 Die Hybriden breiten sich aus 7 Den gordischen Knoten neu knüpfen Die Krise der Kritik 13 1989: Ein Jahr der Wunder 16 Was heißt modern sein? 18

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2 Konstitution 22 Die Verfassung der Moderne 22 Boyle und seine Objekte 25 Hobbes und seine Subjekte 29 Die Vermittlung des Labors 31 Das Zeugnis nicht-menschlicher Wesen 34 Zwei Artefakte: Labor und Leviathan 37 Wissenschaftliche Repräsentation und politische Repräsentation Die konstitutionellen Garantien der Moderne 43 Die vierte Garantie: der gesperrte Gott 47 Die Macht der modernen Kritik 50 Die Unbesiegbarkeit der Modernen 53 Was die Verfassung erhellt und was sie verdunkelt 56 Das Ende der Denunziation 61 Wir sind nie modern gewesen 64

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Die Modernen — Opfer ihres Erfolgs 68 Was ist ein Quasi-Objekt? 71 Philosophien, die den Abgrund überbrücken sollen

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Inhalt

Das Ende der Enden 81 Semiotische Wenden 85 Wer hat das Sein vergessen? 89 Der Beginn der Vergangenheit 91 Das revolutionäre Wunder 95 Das Ende der überholten Vergangenheit 98 Sortieren, Auswahl und multiple Zeiten 101 Eine kopernikanische Gegenrevolution 104 Von den Zwischengliedern zu den Mittlern 108 Streitsache und Tatsache 111 Variable Ontologien 115 Die Verbindung der vier modernen Repertoires 119

4 Relativismus 123 Wie läßt sich die Asymmetrie beenden? 123 Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip 127 Import und Export der beiden Großen Trennungen 130 Die Anthropologie kehrt aus den Tropen zurück 134 Es gibt keine Kulturen 139 Unterschiede der Größenordnung 143 Der Punkt des Archimedes 146 Absoluter Relativismus und relativistischer Relativismus 149 Kleine Irrtümer über die Entzauberung der Welt 152 Auch ein großes Netz bleibt in allen Punkten lokal 156 Der Leviathan ist ein Geflecht von Netzen 160 Die Lust an der Marginalität 163 Die schon begangenen Verbrechen nicht durch weitere überbieten Transzendenzen im Uberfluß 170

5 Neuverteilung 174 Die unmögliche Modernisierung 174 Abschlußprüfungen 177 Der Humanismus neu verteilt 181 Die nichtmoderne Verfassung 185 Das Parlament der Dinge 189

Bibliographie 195 Index 205

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1 Krise

Die Hybriden breiten sich aus Auf Seite vier meiner Tageszeitung lese ich, daß die Meßergebnisse über der Antarktis dieses Jahr nicht besonders gut sind: Das Loch in der Ozonschicht vergrößert sich gefährlich. Beim Weiterlesen komme ich von den Chemikern der Stratosphäre zu den Generaldirektoren zweier großer Chemiefirmen. Diese wollen ihre Produktionsverfahren ändern, um die »harmlosen« Fluorchlorkohlenwasserstoffe zu ersetzen, die des Verbrechens gegen die Ökosphäre angeklagt sind. Einige Abschnitte weiter sind es die Staatschefs der großen Industrienationen, die sich mit Chemie, Kühlschränken, Spraydosen und Edelgasen beschäftigen. Am Ende des Artikels widersprechen die Meteorologen jedoch den Chemikern und sprechen von zyklischen Schwankungen, die unabhängig von menschlichen Einflüssen sind. Nun wissen die Industriellen nicht mehr, was zu tun ist. Auch die Staatsoberhäupter zögern. Soll man abwarten? Ist es schon zu spät? Zuletzt mischen sich noch die Länder der Dritten Welt und die Ökologiebewegung in die Debatte und sprechen von internationalen Abkommen, vom Recht der zukünftigen Generationen, von Moratorien und vom Recht auf Entwicklung. Ein und derselbe Artikel vermischt chemische und politische Reaktionen. Ein roter Faden verbindet die esoterische Wissenschaft mit den Niederungen der Politik, den Himmel über der Antarktis mit irgendeiner Fabrik am Rande von Lyon, die globale Gefahr mit der nächsten Wahl oder Aufsichtsratssitzung. Größenordnungen, zeitlicher Rahmen, Einsätze und Akteure sind nicht vergleichbar, und doch sind sie hier in die gleiche Geschichte verwickelt. Auf Seite sechs erfahre ich, daß der im Pasteur-Institut in Paris entdeckte Aidsvirus die Kulturen im Labor von Professor Gallo in Amerika

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Krise

kontaminiert hat. Dennoch hätten die Herren Chirac und Reagan feierlich versichert, die Chronologie der Entdeckung des Virus nicht zu revidieren. Weiterhin lese ich, daß die pharmazeutische Industrie zögert, Medikamente auf den Markt zu bringen, wie es von militanten Patientenorganisationen lautstark gefordert wird, und daß die Epidemie sich in Schwarzafrika ausbreitet. Wieder finden sich Staatsoberhäupter, Chemiker, Biologen, verzweifelte Patienten und Industrielle in ein und dieselbe ungewisse Geschichte verwickelt, in der sich Biologie und Gesellschaft vermischen. Auf Seite acht ist die R e d e von Computern und Mikrochips, die von den Japanern kontrolliert werden. Auf Seite neun geht es um das Recht, Embryos im Reagenzglas aufzubewahren; auf Seite zehn um einen Waldbrand, bei dem einige seltene Arten vernichtet werden, die irgendwelche Naturschützer erhalten wollen; auf Seite elf ist die R e d e von Walen, die Halsbänder mit Funksendern tragen. Weiter unten auf derselben Seite geht es um eine Industriehalde im Norden Frankreichs, einst ein Symbol für die Ausbeutung der Arbeiter und jetzt als ökologisches Schutzgebiet eingestuft, da sich eine seltene Pflanzenwelt dort entwickelt hat. Auf Seite zwölf bildet sich eine seltsame Heerschar aus Papst, Bischöfen, Chemiefirmen, Eileitern und texanischen Fundamentalisten um ein Verhütungsmittel. Auf Seite 14 bringt die Frage, wieviel Zeilen das hochauflösende Fernsehen haben soll, die unterschiedlichsten Leute und Institutionen miteinander in Verbindung: Delors, Thomson, die EG, die Standardisierungskommissionen, wieder einmal die Japaner und die Fernsehproduzenten. Man braucht nur den Standard des Fernsehbildes um ein paar Zeilen zu verändern, und schon geraten Milliarden Francs, Millionen Fernsehzuschauer, Tausende Fernsehfilme, Hunderte von Ingenieuren und Dutzende Generaldirektoren in Bewegung. Zum Glück gibt es noch einige erholsame Seiten in der Zeitung, auf denen von reiner Politik die Rede ist (eine Versammlung der radikalen Partei). Es gibt die Literaturbeilage, wo dieser oder jener Romancier sich an den Abenteuern einiger narzißtischer Egos erfreut (»je t'aime, moi non plus«). Ohne diese glatten Seiten könnte einem schwindlig werden. Denn es häufen sich die Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion,Technik und Fiktion. Wenn die Lektüre der Tageszeitung das Gebet des modernen Menschen ist, dann betet heute bei der Lektüre dieses Gemenges ein sehr seltsamer Mensch. Die

Den gordischen Knoten neu knüpfen

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ganze Kultur und die ganze Natur werden hier Tag fiir Tag neu zusammengebraut. Und dennoch scheint niemand sich daran zu stoßen. Die Seiten Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Literatur, Kultur, Religion, Vermischtes bilden nach wie vor die Rubriken, so als wäre nichts gewesen. Der winzigste Aidsvirus bringt uns vom Geschlecht zum Unbewußten, von dort nach Afrika, zu Zellkulturen, zur DNS, nach San Francisco. Aber Analytiker, Denker, Journalisten und Entscheidungsträger zerschneiden das feine Netz, das der Virus zeichnet. Übrig bleiben nur säuberlich getrennte Schubladen: Wissenschaft, Ökonomie, soziale Vorstellungen, vermischte Nachrichten, Mitleid, Sex. Man braucht bloß irgendeine harmlose Spraydose zu drücken, und schon ist man unterwegs zur Antarktis, von dort zur University of California in Irvine, zu den Fließbändern in Lyon, zur Chemie der Edelgase und dann vielleicht zur UNO. Doch dieser fragile Faden wird in ebenso viele Teile zerstückelt, wie es reine Fachgebiete gibt. Bringen wir bloß nicht Erkenntnis, Interesse, Justiz und Macht durcheinander! Vermengen wir bloß nicht Himmel und Erde, Globales und Lokales, Menschliches und nicht Menschliches! »Aber nicht wir vermengen«, kann man darauf nur antworten, »aus diesem Gemenge, aus diesen Verwicklungen besteht unsere Welt.« »Wir tun so, als gäbe es sie nicht«, antworten die Analytiker. Mit einem scharfen Schwert haben sie den gordischen Knoten zerschlagen. Die Deichsel ist entzweigebrochen: links die Erkenntnis der Dinge, rechts Interesse, Macht und Politik der Menschen.

Den gordischen Knoten neu knüpfen Seit ungefähr 20 Jahren untersuchen meine Freunde und ich diese seltsamen Situationen, die von der intellektuellen Kultur, in der wir leben, nicht eingeordnet werden können. In Ermangelung eines Besseren nennen wir uns Soziologen, Historiker, Ökonomen, Politologen, Philosophen, Anthropologen. Aber diese ehrwürdigen Disziplinen ergänzen wir jedesmal um den Genitiv: der Wissenschaften undTechniken. »Science studies« heißt es im Angelsächsischen, andere sprechen von »Wissenschafts- und Techniksoziologie«. Wie das Etikett auch lauten mag, immer geht es darum, den gordischen Knoten neu zu knüpfen, indem man so oft wie nötig die Grenze überschreitet, welche die exakten Wissenschaften von der Aus-

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Krise

Übung der Macht trennt, oder sagen wir: die N a t u r von der Kultur. W i r sind selbst Hybriden, denn wir liegen quer zu den wissenschaftlichen I n stitutionen, in denen wir arbeiten. Halb Ingenieure, halb Philosophen, »tiers instruits« (Serres 1991)*, ohne diese Rolle gesucht zu haben, haben wir uns dafür entschieden, den Verwicklungen zu folgen, w o h i n sie uns auch führen. Unser Transportmittel ist der Begriff der Übersetzung oder des Netzes. Geschmeidiger als der Begriff des Systems, historischer als die Struktur u n d empirischer als die Komplexität, ist das N e t z der Ariadnefaden in diesen vermischten Geschichten. D e n n o c h bleiben unsere Arbeiten unverständlich, weil die Kritiker sie nach ihren üblichen Kategorien dreiteilen. Für sie handelt es sich e n t w e der u m N a t u r oder u m Politik oder u m Diskurs. W e n n MacKenzie das Steuerungssystem der Interkontinentalraketen beschreibt (MacKenzie 1990), w e n n Callon die Elektroden der B r e n n stoffzellen untersucht (Callon 1989), oder Hughes den Faden der G l ü h lampe Edisons (Hughes 1983), w e n n ich die von Pasteur abgeschwächte Milzbrandbakterie darstelle (Latour 1984) oder die Peptidhormone Guillemins (Latour u n d Woolgar [1979]1986), stellen sich die Kritiker vor, daß wir von Wissenschaft und Technik reden. D a diese in ihren Augen marginal sind oder bestenfalls das rein instrumentelle und rechnende D e n k e n manifestieren, glauben sie, w e n n sie sich für die Politik oder die Seele interessieren, unsere Arbeiten ignorieren zu k ö n n e n . U n d doch handeln diese Forschungen nicht von der N a t u r oder der Erkenntnis, nicht von Dingen an sich, sondern davon, wie diese mit unseren Kollektiven u n d den Subjekten verwoben sind. W i r sprechen nicht v o m instrumentellen D e n k e n , sondern vom Stoff, aus d e m unsere Gesellschaften sind. M a k Kenzie zieht die ganze amerikanische Navy und sogar die Kongreßabgeordneten heran, u m vom Steuerungssystem seiner R a k e t e n zu sprechen. Callon mobilisiert die Französische Elektrizitätsgesellschaft, R e n a u l t u n d weite Teile der französischen Energiepolitik, u m die Ionenaustauschprozesse zu verstehen, die sich am Ende seiner Elektrode in der Tiefe eines Labors abspielen. U n d Hughes rekonstruiert ganz Amerika ausgehend v o m Glühfaden der Lampe Edisons. Es ist die ganze französische Gesellschaft

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Die Literaturangaben in Klammern verweisen auf die Bibliographie am Ende des Buches. Alle Anmerkungen sind Anmerkungen des Ubersetzers.

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des 19. Jahrhunderts, die zum Vorschein kommt, wenn man an die Bakterien Pasteurs rührt. Und es ist unmöglich, die Peptidhormone zu verstehen, wenn man keine Wissenschaftlergemeinschaft, keine Instrumente, keine Praktiken damit verbindet. Alle diese Widrigkeiten haben sehr wenig mit Fragen der Methode, Theorien und Neuronen zu tun. »Dann geht es also um Politik? Wissenschaftliche Wahrheit soll auf politische Interessen und technische Effizienz auf strategische Manöver reduziert werden?« Das ist das zweite Mißverständnis. Sobald die Fakten nicht den zugleich marginalen und geheiligten Platz einnehmen, den unsere Verehrung ihnen vorbehält, scheinen sie sofort auf rein lokale Kontingenzen oder dürftige Kunstgriffe reduziert zu sein. Und doch sprechen wir in unseren Untersuchungen nicht vom sozialen Kontext und von Machtinteressen, sondern von ihrer Verquickung mit Kollektiven und O b jekten. Die Organisation der Navy verändert sich grundlegend durch die Allianz, die zwischen ihren Büros und den Bomben entsteht. Die Französische Elektrizitätsgesellschaft und Renault sind nicht mehr wiederzuerkennen, wenn sie in die Brennstoffzelle investieren statt in den Verbrennungsmotor. Es ist nicht mehr dasselbe Amerika vor und nach der Elektrizität. Der soziale Kontext des 19. Jahrhunderts ist ein anderer, j e nachdem ob er sich aus armen Leuten zusammensetzt oder aus mit Mikroben infizierten armen Leuten. Und auch das unbewußte Subjekt auf der Couch ist ein anderes, j e nachdem ob sein trockenes Gehirn Neurotransmitter freisetzt oder sein feuchtes Gehirn Hormone absondert. Wenn es u m die exakten Wissenschaften geht, kann keine unserer Studien gebrauchen, was Soziologen, Psychologen oder Ökonomen uns vom sozialen Kontext oder vom Subjekt erzählen. Daher werde ich das Wort »Kollektiv« verwenden, um die Assoziierung von Menschen und nichtmenschlichen Wesen zu beschreiben; und »Gesellschaft«, um nur jenen Teil unserer Kollektive zu bezeichnen, der durch die von den Sozialwissenschaftlern gezogene Trennungslinie erfunden worden ist. Was Kontext und was technischer Inhalt ist, definiert sich immer wieder neu. Die Epistemologen dürften in den kollektivierten Dingen, die wir ihnen anbieten, die Ideen, Begriffe und Theorien ihrer Kindheit nicht mehr wiedererkennen. Aber auch die Humanwissenschaftler werden in diesen von Dingen gefüllten Kollektiven, die wir entfalten, die Machtspiele ihrer militanten Jugend nicht wiederfinden. Die feinen, von der schmalen Hand Ariadnes gezogenen Netze sind noch schwerer zu sehen als Spinnennetze.

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Krise

»Aber w e n n Sie weder von den Dingen an sich noch von den M e n schen unter sich sprechen, so zielen Sie gewiß auf den Diskurs ab, auf Repräsentation, Sprache,Text, Rhetorik.« Das ist das dritte Mißverständnis. Wer den äußeren Referenten — die N a t u r der Dinge — u n d den Sprecher — den pragmatischen oder sozialen Kontext — ausklammert, kann in der Tat nur n o c h BedeutungsefFekte und Sprachspiele sehen. Aber w e n n MacKenzie die Entwicklung des Raketensteuerungssystems unter die Lupe n i m m t , spricht er sehr wohl über Vorrichtungen, die uns alle töten k ö n nen; w e n n Callon der Spur der wissenschaftlichen Artikel folgt, spricht er ebenso von industrieller Strategie wie von R h e t o r i k (Callon, Law et al. 1986); w e n n Hughes die Notizbücher Edisons analysiert, beschäftigt er sich nicht nur mit der Innenwelt von M e n l o Park, denn diese wird bald zur Außenwelt von ganz Amerika werden; und w e n n ich die Z ä h m u n g der Mikroben durch Pasteur beschreibe, mobilisiere ich die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und nicht bloß die Semiotik der Texte eines großen Mannes; w e n n ich die E r f i n d u n g / E n t d e c k u n g der P e p t i d h o r m o n e b e schreibe, spreche ich sehr wohl von den Peptiden selbst und nicht bloß von ihrer Repräsentation im Labor Professor Guillemins. U n d doch h a n delt es sich u m Textstrategie, Schrift, Inszenierung, Semiotik, aber u m eine neue Form, die gleichzeitig die Natur der Dinge und den sozialen K o n text miteinbezieht, ohne sich auf das eine oder andere zu reduzieren. Unser intellektuelles Leben ist entschieden schlecht eingerichtet. Epistemologie, Sozialwissenschaften u n d Semiotik haben j e d e ihre Stärke, doch nur unter der Bedingung, daß sie voneinander getrennt bleiben. Sobald die Wesen, die man verfolgt, in allen drei Bereichen auftauchen, wird man nicht m e h r verstanden. Zeigt man den etablierten wissenschaftlichen Disziplinen irgendein schönes soziotechnisches Netz, irgendwelche w u n derbaren Ubersetzungen, so werden die Epistemologen die Begriffe h e r ausziehen und alle Wurzeln zum Sozialen oder zur R h e t o r i k abschneiden; die Sozialwissenschaftler werden die soziale und politische Dimension herausgreifen u n d sie von j e d e m Objekt säubern; die Semiologen schließlich werden aus unserer Arbeit Diskurs und R h e t o r i k ü b e r n e h m e n , aber von j e d e m unstatthaften Bezug zur Realität — horresco referens — und den Machtspielen reinigen. Das Ozonloch über unseren Köpfen, das moralische Gesetz in unserem Herzen und der autonome Text m ö g e n in den A u g e n unseren Kritiker zwar interessant sein, aber nur getrennt voneinander. Sobald ein feines Weberschiffchen H i m m e l , Industrie, Texte, See-

Die Krise der Kritik

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len u n d moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, u n vorstellbar, unstatthaft.

Die Krise der Kritik Die Kritiker haben drei unterschiedliche Repertoires der Kritik e n t w i k kelt, u m über unsere Welt zu sprechen: Naturalisierung, Sozialisierung u n d Dekonstruktion. Greifen wir — ein wenig ungerecht — Changeux, Bourdieu und Derrida als die emblematischen Figuren dieser drei R i c h tungen heraus. W e n n Changeux von naturalisierten Fakten spricht, verschwinden Gesellschaft, Subjekt und alle Diskursformen. Wenn Bourdieu von Machtfeldern spricht, gibt es keine Wissenschaft mehr, keine Technik, keinen Text, keine Inhalte der Aktivitäten. Wenn Derrida von Wahrheitseffekten spricht, meint er, daß es von großer Naivität zeugt, an die wirkliche Existenz von N e u r o n e n im Gehirn oder an Machtspiele zu glauben. Jede dieser F o r m e n der Kritik ist für sich g e n o m m e n stark, aber läßt sich keinesfalls mit den beiden anderen kombinieren. Kann man sich eine U n t e r s u c h u n g vorstellen, die aus dem O z o n l o c h etwas macht, das n a t u ralisiert, soziologisiert und dekonstruiert ist? Eine Untersuchung, in der die N a t u r der Fakten absolut erwiesen, die Strategien der Macht vorhersehbar wären, obwohl es sich dabei nur u m BedeutungsefFekte handelte, welche die fadenscheinige Illusion einer N a t u r und eines Sprechers erzeugten? Ein solches Flickwerk wäre grotesk. Unser intellektuelles Leben bleibt kenntlich, solange Epistemologen, Soziologen und Dekonstrukteure in angemessener Entfernung voneinander bleiben und die Kritik ihre Stärke jeweils aus der Schwäche der beiden anderen Ansätze zieht. M a n kann die Wissenschaften verherrlichen, die Machtspiele aufzeigen und den Glaub e n an eine Realität lächerlich machen, man darf j e d o c h auf keinen Fall diese drei ätzenden Säuren der Kritik vermischen. Entweder — oder: Entweder existieren die Netze, die wir in den science studies ausgebreitet haben, nicht wirklich, u n d die Kritiker tun gut daran, sie zu marginalisieren oder in drei verschiedene Ensembles — Fakten, Macht, Diskurs — aufzuteilen. O d e r die N e t z e sind so, wie wir sie beschrieben haben, und überqueren die Grenzen der großen Fürstentüm e r der Kritik: sie sind weder objektiv n o c h sozial noch DiskursefFekte, während sie gleichzeitig sowohl real als auch kollektiv als auch diskursiv

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Krise

sind. E n t w e d e r w i r müssen v e r s c h w i n d e n , wir, die Ü b e r b r i n g e r der schlechten N a c h r i c h t e n , oder die Kritik gerät in eine Krise durch die Netze, mit d e n e n sie nicht m e h r zurechtkommt. Ja, die wissenschaftlichen Fakten sind konstruiert, aber sie lassen sich nicht auf das Soziale reduzieren, weil dieses mit O b j e k t e n bevölkert ist, die mobilisiert worden sind, u m es zu konstruieren. Ja, diese Dinge sind real, aber sie gleichen zu sehr sozialen Akteuren, u m sich auf die von den Wissenschaftstheoretikern erfundene Realität »dort draußen« reduzieren zu lassen. D e r H a n d lungsträger dieser Doppelkonstruktion — Wissenschaft mit Gesellschaft und Gesellschaft mit Wissenschaft - entsteht aus einem Ensemble von Praktiken, das v o m Begriff der Dekonstruktion so schlecht wie nur möglich erfaßt wird. Das O z o n l o c h ist zu sozial u n d zu narrativ, u m wirklich N a tur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf chemische R e a k t i o n e n , u m allein auf Macht und Interessen reduziert werden zu k ö n n e n , der Diskurs der Ökosphäre zu real u n d zu sozial, u m ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen. Ist es unser Fehler, w e n n die Netze gleichzeitig real wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft sind? Sollen wir den Netzen folgen und die drei Repertoires der Kritik aufgeben, oder die Netze aufgeben und uns d e m C o m m o n sense der kritischen Dreiteilung anschließen? Die feinen Netze, die wir entfaltet haben, werden von ihr auseinandergerissen wie die Kurden von Iran e r n , Irakern u n d Türken; aber bei Anbruch der Nacht überschreiten diese Kurden die Grenzen, u m untereinander zu heiraten u n d von e i n e m gemeinsamen Vaterland zu träumen, das aus den drei Ländern, die sie vereinnahmen, herauszulösen wäre. Das Dilemma wäre ausweglos, w e n n die Anthropologie uns nicht schon seit langem daran gewöhnt hätte, o h n e Krise und Kritik das nahtlos ineinander übergehende Gewebe der »Natur/Kultur« zu untersuchen, das ich so n e n n e n will, weil es etwas m e h r u n d etwas weniger als eine Kultur ist (s.u. S. 139ff.). Selbst der rationalistischste Ethnologe ist, w e n n er Feldforschung betreibt, durchaus in der Lage, Mythen, Ethnowissenschaften, Genealogien, politische F o r m e n , Techniken, Religionen, Sagenwelt u n d R i t e n der von i h m erforschten Völker in ein und derselben M o n o g r a p h i e zu verbinden. O b man ihn zu den Arapesch oder Achuar schickt, zu den Koreanern oder Chinesen, man erhält jedesmal einen einzigen Bericht, in dem H i m m e l , A h n e n , Hausbau, Jamswurzel-, M a n i o k - oder R e i s k u l turen, Initiationsriten, R e g i e r u n g s f o r m e n und Kosmologien miteinander

Die Krise der Kritik

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verwoben sind. In den anthropologischen Arbeiten, die in der Fremde entstanden sind, findet sich kein einziges Merkmal, das nicht gleichzeitig real, sozial und narrativ wäre. Wenn seine Analyse subtil ist, wird der Anthropologe Netze nachzeichnen, die den soziotechnischen Verwicklungen zum Verwechseln ähnlich sehen, die wir aufzeigen, wenn wir den Mikroben, Missiles oder Brennstoffzellen in unseren westlichen Gesellschaften folgen. Auch wir haben Angst, daß uns der Himmel auf den Kopf fällt. Auch wir verknüpfen die winzige Handbewegung, eine Spraydose zu drücken, mit Verboten, die den Himmel betreffen. Auch wir müssen Gesetze, Macht und Moral berücksichtigen, wenn wir verstehen wollen, was unsere Wissenschaften zur Chemie der Stratosphäre sagen. Ja, aber wir sind keine Wilden. Kein Anthropologe erforscht uns in dieser Weise. U n d es ist geradezu unmöglich, mit unserer Kultur, oder soll ich sagen Natur/Kultur zu verfahren, wie es anderswo, mit den anderen, möglich ist. Warum? Weil wir modern sind. Bei uns gibt es kein nahtloses Gewebe mehr. Die Kontinuität der Analysen ist nicht mehr möglich. Für die traditionellen Anthropologen gibt es, kann es und darf es keine Anthropologie der modernen Welt geben (Latour 1988 a). Die Ethnowissenschaften, wie Ethnobotanik, Ethnomedizin, Ethnozoologie etc., lassen sich mit der Gesellschaft und dem Diskurs verbinden (Conklin 1983), die Wissenschaft selbst nicht. Ja gerade weil die Ethnographen unfähig sind, uns wie die anderen zu erforschen, sind sie so subtil und distanziert, wenn sie in die Tropen gehen. Unter dem Schutz der kritischen Dreiteilung fühlen sie sich autorisiert, bei den sogenannten Vormodernen die Kontinuität zwischen den Kollektiven herzustellen. Den Mut, in der Fremde zu vereinheitlichen, haben sie nur, weil sie bei sich zu Hause trennen. Die Formulierung des Dilemmas hat sich verändert: Entweder ist es unmöglich, die moderne Welt zum Gegenstand der Anthropologie zu machen — und dann ist es richtig, diejenigen zu ignorieren, die darauf bestehen, den soziotechnischen Netzen ein Zuhause zu geben; oder es ist m ö g lich, dann aber m u ß die Definition der modernen Welt geändert werden. W i r gehen von einem begrenzten Problem — warum sind die Netze kaum wahrnehmbar? warum werden die science studies ignoriert? — über zu ein e m umfassenderen und klassischen Problem, nämlich zu der Frage: Was ist ein Moderner? Wenn wir dem Befremden unserer Vorgänger angesichts der Netze nachgehen, in denen wir das Gewebe unserer Welt sehen, be-

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Krise

merken wir die anthropologischen Wurzeln ihres Unverständnisses. Glücklicherweise kommen uns dabei beachtliche Ereignisse zu Hilfe, die den alten kritischen Maulwurf in seinem eigenen Bau begraben. Die moderne Welt kann jetzt zum Gegenstand der Anthropologie werden, weil ihr etwas zugestoßen ist. Seit dem Salon von Mme. de Guermantes* wissen wir, daß es einer Erschütterung wie der des Ersten Weltkriegs bedarf, damit die intellektuelle Kultur ihre Gewohnheiten ein wenig ändert und schließlich jene Parvenüs empfängt, die sie früher gemieden hatte.

1989: Ein Jahr der Wunder Alle Daten sind konventionell, das Jahr 1989 jedoch etwas weniger als andere. Der Fall der Berliner Mauer symbolisiert für alle Zeitgenossen den Zusammenbruch des Sozialismus. »Triumph des Liberalismus, des Kapitalismus, der westlichen Demokratien über die vergeblichen Hoffnungen des Marxismus«, so lautet das Siegeskommunique jener, die dem Leninismus mit knapper Not entgangen sind. Während der Sozialismus die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abschaffen wollte, hatte er sie unendlich vervielfacht. Seltsame Dialektik, die den Ausbeuter wiederauferstehen läßt und den Totengäber beerdigt, nachdem sie zuvor der Welt den Bürgerkrieg im großen Maßstab gelehrt hat. Das Verdrängte kehrt wieder, und zwar doppelt: Das ausgebeutete Volk, in dessen Namen die Avantgarde des Proletariats regierte, wird wieder zum Volk; die Eliten mit den langen Zähnen, die man für entbehrlich gehalten hatte, kehren in großer Zahl zurück, um in Banken, Geschäften und Fabriken ihre alte Arbeit der Ausbeutung wiederaufzunehmen. Der liberale Westen kann sich vor Freude kaum halten. Er hat den Kalten Krieg gewonnen. Dieser Triumph war jedoch von kurzer Dauer. Im selben glorreichen Jahr 1989 fanden in Paris, London und Amsterdam die ersten Konferenzen über den globalen Zustand des Planeten statt, und dies symbolisiert für manche Beobachter das Ende des Kapitalismus und seiner eitlen Hoffnungen der unbegrenzten Eroberung und totalen Beherrschung der N a tur. Indem der Kapitalismus die Ausbeutung des Menschen durch den

*

In Prousts A la recherche du temps perdu.

1989: Ein Jahr der Wunder

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Menschen umlenken wollte in eine Ausbeutung der Natur durch den Menschen, hat er beide unendlich vervielfacht. Das Verdrängte kehrt wieder, und zwar doppelt: Die Massen, die man vom Tod retten wollte, fallen zu Hunderten von Millionen wieder ins Elend; die Natur, die man absolut beherrschen wollte, beherrscht uns genauso absolut, indem sie uns alle global bedroht. Seltsame Dialektik, die aus dem beherrschten Sklaven den Herrn und Besitzer des Menschen macht und uns plötzlich bewußt werden läßt, daß wir die Umweltzerstörung gleichzeitig mit der Hungersnot im großen Maßstab erfunden haben. Die perfekte Symmetrie zwischen dem Fall der Schandmauer und dem Verschwinden der unbegrenzten Natur bleibt nur den reichen westlichen Demokratien verborgen. In der Tat haben die sozialistischen Staaten zugleich ihre Völker und ihre Ökosysteme zerstört, während die Mächte des Nordens und Westens ihre Völker und einige ihrer Landschaften retten konnten, indem sie den Rest der Welt zerstörten und die anderen Völker ins Elend stießen. Also eine doppelte Tragödie: Die alten sozialistischen Gesellschaften glaubten, ihrem doppelten Mißgeschick abhelfen zu können, indem sie den Westen imitierten; dieser glaubt, jenem entgangen zu sein und den anderen Lektionen erteilen zu können, während er die Erde und die Menschen sterben läßt. Er glaubt als einziger ein todsicheres System zu kennen, mit dem sich ständig gewinnen läßt, während er vielleicht alles verloren hat. Nachdem so die besten Absichten zweimal zunichte geworden sind, scheinen wir abendländischen Modernen unser Selbstvertrauen ein wenig verloren zu haben. Hätte man also nicht versuchen sollen, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende zu machen? Hätte man nicht versuchen sollen, sich zum Herrn und Besitzer der Natur zu machen? Wir haben unsere höchsten Tugenden in den Dienst dieser zweifachen Aufgabe gestellt, einmal in der politischen Arena, das andere Mal im Bereich der Wissenschaften und Techniken. Und dennoch könnten wir an unsere eigene enthusiastische und wohlmeinende Jugend die Frage richten, welche die jungen Deutschen ihren grauhaarigen Eltern stellten: »Welchen verbrecherischen Befehlen habt ihr gehorcht? Wollt ihr sagen, daß ihr von allem nichts gewußt habt?« Dieser Zweifel an der Rechtmäßigkeit der besten Absichten treibt manche unter uns dazu, reaktionär zu werden, und zwar auf verschiedene Weise: Man darf der Beherrschung des Menschen durch den Menschen nicht

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mehr ein Ende setzen wollen, sagen die einen; man darf nicht mehr versuchen wollen, die Natur zu beherrschen, sagen die anderen. Seien wir entschieden antimodern, sagen sie alle beide. Zum anderen resümiert der vage Ausdruck Postmoderne sehr gut den halbherzigen Skeptizismus jener, welche die eine oder andere dieser R e aktionen verweigern. Unfähig, an die Versprechen von Sozialismus oder »Naturalismus« zu glauben, hüten sich die Postmodernen wohl, gänzlich daran zu zweifeln. In der Schwebe zwischen Glauben und Zweifel warten sie auf das Ende des Jahrtausends. Schließlich gibt es noch jene, die den ökologischen oder den antisozialistischen Obskurantismus verwerfen und sich auch nicht mit dem Skeptizismus der Postmodernen zufriedengeben wollen; sie entscheiden sich fortzufahren, als wäre nichts gewesen, und wollen entschieden modern bleiben. Sie glauben weiterhin an die Versprechen der Wissenschaft oder der Emanzipation, oder an beide. Dennoch klingt ihr Vertrauen in die Moderne etwas hohl, sowohl im Bereich der Kunst wie in der Ökonomie, in der Politik, der Wissenschaft oder der Technik. In den Kunstgalerien und Konzertsälen, an den Hausfassaden und in den internationalen Organisationen spürt man, daß das Herz nicht mehr dabei ist. Der Wille, modern zu sein, erscheint unschlüssig, manchmal sogar altmodisch. O b wir nun antimodern, modern oder postmodern sind, der zweifache Zusammenbruch des wundersamen Jahres 1989 stellt uns alle erneut in Frage. Aber wir nehmen den Faden des Denkens wieder auf, wenn wir diesen Zusammenbruch als zwei Seiten einer Medaille betrachten, als zwei Lektionen, deren erstaunliche Symmetrie uns erlaubt, unsere ganze Vergangenheit in einem anderen Licht zu sehen. Und wenn wir nie modern gewesen wären? Dann wäre eine vergleichende Anthropologie möglich. Die Netze hätten ein Zuhause.

Was heißt modern sein? Die Moderne kommt in so vielen Bedeutungen daher, wie es Denker oder Journalisten gibt. Dennoch verweisen alle diese Definitionen in der einen oder anderen Form auf den Lauf der Zeit. Mit dem Adjektiv »modern« bezeichnet man ein neues Regime, eine Beschleunigung, einen Bruch, eine Revolution der Zeit. Sobald die Worte »modern«, »Moder-

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nisierung«, »Moderne« auftauchen, definieren wir im Kontrast dazu eine archaische und stabile Vergangenheit. Mehr noch, das Wort wird immer im Verlauf einer Polemik eingeführt, in einer Auseinandersetzung, in der es Gewinner und Verlierer, Alte und Moderne gibt. »Modern« ist daher doppelt asymmetrisch: Es bezeichnet einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit, und es bezeichnet einen Kampf, in dem es Sieger und Besiegte gibt. Warum zögern heute so viele, dieses Adjektiv zu verwenden, oder warum versehen wir es mit Präpositionen? Offenbar trauen wir uns nicht mehr recht zu, diese doppelte Asymmetrie aufrechtzuerhalten: Wir können nicht mehr auf den irreversiblen Pfeil der Zeit hinweisen noch den Siegern einen Preis zuerkennen. In den unzähligen Auseinandersetzungen der Alten und der Modernen gewinnen die ersten jetzt genauso oft wie die zweiten, und nichts erlaubt mehr zu sagen, ob die Revolutionen den alten Regimes den Garaus machen oder sie vollenden. Daher der Skeptizismus, der seltsamerweise »post«-modern genannt wird, auch wenn er nicht weiß, ob er fähig ist, die Modernen für immer abzulösen. U m uns zu besinnen, müssen wir die Definition der Moderne wieder aufgreifen, das Symptom der Postmoderne deuten und verstehen, warum wir der zweifachen Aufgabe der Beherrschung und der Emanzipation nicht mehr mit ganzem Herzen zustimmen. Muß man Himmel und Erde in Bewegung setzen, um die Netze der Wissenschaften und Techniken unterzubringen? Ja, genau, den Himmel und die Erde. Die Hypothese dieses Essays — es handelt sich um eine Hypothese und wirklich um einen Essay — ist, daß das Wort »modern« zwei vollkommen verschiedene Ensembles von Praktiken bezeichnet, die, um wirksam zu sein, deutlich geschieden bleiben müssen, es jedoch seit kurzem nicht mehr sind. Das erste Ensemble von Praktiken schafft durch »Ubersetzung« vollkommen neue Mischungen zwischen Wesen: Hybriden, Mischwesen zwischen Natur und Kultur. Das zweite Ensemble schafft, durch »Reinigung«, zwei vollkommen getrennte ontologische Zonen, die der Menschen einerseits, die der nicht-menschlichen Wesen andererseits. Ohne das erste Ensemble wären die Reinigungspraktiken leer oder überflüssig. Ohne das zweite wäre die Arbeit der Ubersetzung verlangsamt, eingeschränkt oder sogar verboten. Das erste Ensemble entspricht dem, was ich Netze genannt habe, das zweite dem, was ich Kritik genannt habe. Das erste könnte beispielsweise in einer fortlaufenden Kette die Chemie der Stratosphäre, die wissenschaftlichen und industriellen Strategien, die Nöte der

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Staatschefs, die Ängste der Ökologiebewegung verbinden. Das zweite würde eine Einteilung vornehmen zwischen einer Naturwelt, die schon immer da war, einer Gesellschaft mit vorhersehbaren und stabilen Interessen und Einsätzen und schließlich einem Diskurs, der von der R e f e renz wie von der Gesellschaft unabhängig ist.

Erste

Dichotomie

f

\

menschliche Wesen

REINIGUNG

2 Kultur Zweite

Dichotomie

UBERSETZUNG Hybriden Netzwerke Abbildung 1: Reinigungs- und Übersetzungsarbeit

Solange wir die beiden Praktiken der Übersetzung und der Reinigung getrennt betrachten, sind wir wirklich modern, das heißt, wir stimmen dem kritischen Projekt mit ganzem Herzen zu, auch wenn dieses sich nur entfaltet, weil die Hybriden sich darunter ausbreiten. Sobald wir unsere Aufmerksamkeit dagegen gleichzeitig auf die Arbeit der Reinigung und der Hybridisierung richten, hören wir sofort auf, gänzlich modern zu sein, unsere Zukunft beginnt sich zu verändern. Im selben Moment hören wir auf, modern gewesen zu sein — im Perfekt —, weil uns rückblickend bewußt wird, daß die beiden Ensembles von Praktiken in der zu Ende gehenden historischen Periode schon immer am Werk gewesen sind. Unsere Vergangenheit beginnt sich zu verändern. U n d schließlich, wenn wir nie modern gewesen sind (zumindest in der Bedeutung, die uns die Kritik vorgibt), könnten sich die gequälten Beziehungen, die wir zu den anderen Naturen/Kulturen unterhalten haben, wandeln. Relativismus, Herrschaft, Imperialismus, schlechtes Gewissen, Synkretismus, kurz, alle Probleme, die im Ausdruck »Große Trennung«* zusammengefaßt sind,

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würden anders erklärt werden und damit die vergleichende Anthropologie verändern. Welches Band existiert zwischen der Arbeit der Übersetzung oder Vermittlung und der Arbeit der Reinigung? Dieser Frage möchte ich nachgehen. Grob umrissen lautet die Hypothese, daß die zweite die erste ermöglicht hat. Je mehr man sich verbietet, die Hybriden zu denken, desto mehr wird ihre Kreuzung möglich — darin besteht das große Paradox der Modernen, mit dem sich die besondere Situation, in der wir uns heute befinden, endlich erfassen läßt. Die zweite Frage betrifft die Vormodernen, die anderen Naturen/Kulturen. Die Hypothese, auch sie wieder sehr vereinfacht, lautet, daß die Prämodernen, weil sie sich bemüht haben, die Hybriden zu denken, ihre Vermehrung verboten haben. Diese Verschiebung würde die Große Trennung zwischen »ihnen« und »uns« erklären, so daß sich endlich das unlösbare Problem des Relativismus lösen ließe. Die dritte Frage betrifft die aktuelle Krise: Wenn die Moderne derart effizient in ihrer doppelten Arbeit der Trennung und der Vermehrung war, warum wird sie heute schwächer und hält uns davon ab, aufrichtig modern zu sein? Daher die letzte Frage, die auch die schwierigste ist: Wenn wir aufgehört haben, modern zu sein, wenn wir die Arbeit der Vermehrung und die Arbeit der Reinigung nicht mehr trennen können, was wird aus uns werden? Kann man die Aufklärung ohne die Moderne wollen? Die letzte Hypothese, wieder nur grob umrissen, lautet, daß die Vermehrung der Monstren verlangsamt, umgelenkt und reguliert werden muß, indem ihre Existenz offiziell anerkannt wird. Würde dann eine andere Demokratie notwendig? Gar eine auf die Dinge ausgeweitete Demokratie? U m diese Fragen zu beantworten, werde ich bei den Prämodernen, den Modernen und sogar den Postmodernen sortieren müssen, was sie an Beständigem und was sie an Verderblichem haben. Zu viele Fragen, ich weiß es, für einen Essay, der keine andere Entschuldigung als seine Kürze hat. Nietzsche sagte, daß große Probleme wie kalte Bäder sind: Man sollte sie genauso schnell wieder verlassen, wie man sich hineinbegibt.

Grand Partage\ vgl. G o o d y 1 9 7 7 , w o diese Trennung zwischen unserer und den anderen Kulturen als »Grand Dichotomy« bezeichnet wird.

2 Konstitution

Die Verfassung der Moderne Die Moderne wird oft über den Humanismus definiert, sei es, um damit die Geburt des »Menschen« zu begrüßen, sei es um seinen Tod anzukündigen. Diese Gewohnheit jedoch ist selbst modern, denn sie bleibt asymmetrisch. Sie vergißt die gleichzeitige Geburt der »Nicht-Menschheit«: die der Dinge oder Objekte oder Tiere, und das nicht weniger befremdliche Aufkommen eines aus dem Spiel bleibenden, »gesperrten« Gottes. Die Moderne geht aus der gemeinsamen Schöpfung aller drei — Menschen, andere Wesen, gesperrter Gott — hervor, sodann aus der Kaschierung dieser gemeinsamen Geburt und ihrer getrennten Behandlung. Unter der Oberfläche breiten sich jedoch die Mischwesen immer weiter aus, und zwar gerade als Folge der getrennten Behandlung. Diese doppelte Trennung wollen wir rekonstruieren: die zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, und die zwischen dem, was sich »oben«, und dem, was sich unter der Oberfläche abspielt. Man könnte hier an die Trennung zwischen Rechtsprechung und Exekutive denken. Diese kann niemals die vielfältigen Verbindungen,Verflechtungen und fortgesetzten Verhandlungen zwischen Richtern und Politikern erklären. Und doch würde man sich täuschen, wollte man ihre Effizienz bestreiten. Die moderne Trennung zwischen Natur und Gesellschaft hat den gleichen konstitutionellen Charakter. Allerdings hat bisher niemand Politiker und Wissenschaftler symmetrisch untersucht, denn es schien keine Achse in der Mitte zu geben. In gewissem Sinne sind die Artikel des Gesetzes, das diese Trennung regelt, so gut verfaßt, daß man darin einen ontologischen Unterschied gesehen hat. Sobald man diesen symmetrischen Raum skizziert und so das gemeinsame Abkommen rekonstruiert, das die Gewaltenteilung zwischen natürlichen und politischen Mächten organisiert, hört man auf, modern zu sein.

DieVerfassung der Moderne

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Den gemeinsamen Text, der dieses Abkommen und diese Trennung definiert, nennen wir Verfassung. Wer schreibt sie? Bei den politischen Verfassungen ist dies Aufgabe der Juristen und verfassunggebenden Versammlungen. Doch sie haben ihre Arbeit bislang erst zu einem Teil erledigt, denn die Macht der Wissenschaft und die Arbeit der Hybriden ist von ihnen nicht berücksichtigt worden. Bei der Natur der Dinge wäre es Aufgabe der Wissenschaftler. Aber auch sie haben nur einen Teil der Arbeit erledigt, denn sie haben die politische Macht ignoriert und gleichzeitig den Hybriden jede Wirksamkeit abgesprochen, obwohl sie die Mischwesen unablässig vermehren. Im Bereich der Ubersetzung müßte diese Verfassung von den Wissenschaftsforschern geschrieben werden, die jenen seltsamen Netze nachgehen, von denen weiter oben die Rede war. Aber auch sie haben ihren Vertrag nur zur Hälfte erfüllt, denn sie haben die Reinigungsarbeit nicht erklärt, die über ihren Köpfen stattfindet und die Ausbreitung der Hybriden erklärt. Wer schreibt die ganze Verfassung? Bei den fremden Kollektiven hatte die Anthropologie keine Probleme, alles gleichzeitig zu behandeln. Denn jeder Ethnologe ist in der Lage, in einer einzigen Monographie alles unterzubringen, was zu dem untersuchten Kollektiv gehört: die Kräfte, die im Spiel sind; die Machtverteilung zwischen Menschen, Göttern und anderen Wesen; die Verständigungsverfahren; die Verbindungen zwischen R e ligion und Macht; die Ahnenwelt, die Kosmologie, das Eigentumsrecht und die Taxonomien von Pflanzen und Tieren. Ein Ethnologe wird gewiß nicht drei Bücher schreiben, eines über die Erkenntnisse, eines über die Herrschaftsformen und ein weiteres über die Praktiken. Er wird nur ein einziges schreiben, wie jenes wunderbare Buch, in dem Descola die Verfassung der Achuar aus Amazonien zusammenzufassen versucht (Descola 1986): »Die Achuar haben die Natur jedoch nicht vollständig zivilisiert und in die symbolischen Netze der Domestikation eingebunden. Sicherlich ist das kulturelle Feld hier besonders umfangreich, denn Tiere, Pflanzen und Geister werden dazugerechnet, während sie in den anderen indianischen Gesellschaften zum Bereich der Natur gehören. Bei den Achuar findet man also keine Antinomie zwischen der Kulturwelt der menschlichen Gesellschaft und der Naturwelt der tierischen Gesellschaft als zwei geschlossenen und unwiderruflich

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gegensätzlichen Welten. Dennoch existiert ein Moment, wo das Kontinuum der Gesellschaftlichkeit unterbrochen wird, um einem wilden Universum Platz zu machen, das dem Menschen unwiderruflich fremd ist. Dieses Segment der Natur ist wesentlich kleiner als der Bereich der Kultur. Es umfaßt alle Dinge, mit denen keinerlei Kommunikation hergestellt werden kann. Den Sprachwesen (aents), deren vollendetste Verkörperung die Menschen darstellen, stehen hier die stummen Dinge gegenüber, die parallele und unzugängliche Universen bevölkern. Das Unvermögen zur Kommunikation wird oft einem Mangel an Seele (wakan) zugeschrieben, den manche Lebewesen haben können. Die Mehrzahl der Insekten und Fische, die meisten Geflügelarten und zahlreiche Pflanzen sind so mit einer mechanischen und sinnlosen Existenz bedacht. Die fehlende Kommunikation ist jedoch manchmal auch Funktion der Entfernung; so bleibt die unendlich ferne und ungemein bewegliche Seele der Sterne und Meteore taub gegenüber den Reden der Menschen« (S. 399). Gäbe es eine Anthropologie der modernen Welt, so hätte sie in gleicher Weise zu beschreiben, wie die verschiedenen Bereiche unserer Regierungsform organisiert sind, einschließlich dem der Natur und der exakten Wissenschaften; sie hätte zu erklären, wie und warum diese Bereiche sich trennen, aber auch die vielfältigen Arrangements zu beschreiben, die sie wieder zusammenfuhren. Der Ethnologe unserer Welt müßte sich an den gemeinsamen Ort versetzen, wo die Rollen, Aktionen und Kompetenzen verteilt werden, durch die dieses oder jenes Wesen als belebt oder unbelebt, ein anderes als Rechtssubjekt, wieder ein anderes als bewußtseinsbegabt, mechanisch, unbewußt oder unzurechnungsfähig definiert wird. Er müßte vergleichen, wie Materie, Recht, Bewußtsein, Tierseele jeweils definiert oder nicht definiert werden, ohne dabei von der modernen Metaphysik auszugehen. All dies definiert die „Verfassung" der modernen Welt. Genauso wie die Verfassung der Juristen die Rechte und Pflichten der Bürger und des Staates, die Funktionsweise der Justiz und den Machtwechsel definiert, definiert diese Verfassung Menschen und nicht-menschliche Wesen, ihre Eigenschaften und Beziehungen, ihre Kompetenzen und Gruppierungen. Wie soll man diese Verfassung der Moderne beschreiben? Ich habe mich dafür entschieden, mich auf eine exemplarische Situation ganz zu Beginn

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ihrer Niederschrift zu konzentrieren, und zwar in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Damals stritten der Naturphilosoph Boyle u n d der politische Philosoph Hobbes über die Gewaltenteilung zwischen wissenschaftlicher u n d politischer Macht. Eine solche Wahl k ö n n t e willkürlich erscheinen, wäre nicht kürzlich ein bemerkenswertes B u c h erschienen, das sich mit dieser gleichzeitigen Schöpfung eines sozialen Kontextes und einer i h m angeblich entgehenden N a t u r befaßt. Boyle u n d seine Nachfahren, H o b bes u n d seine Jünger werden mir als E m b l e m und R e s ü m e e einer sehr viel längeren Geschichte dienen, die ich hier nicht vollständig wiedergeb e n kann, die j e d o c h andere, dafür Berufenere, bestimmt eines Tages darstellen werden.

Boyle und seine Objekte Ein B u c h von Steven Shapin und Simon Schaffer (Shapin u n d Schaffer 1985) markiert den wirklichen Beginn einer vergleichenden A n t h r o p o logie, die sich auch mit der Wissenschaft ernsthaft beschäftigt. Auf den ersten Blick leistet dieses Buch nicht viel mehr, als den Kampfruf der E d i n burgher Schule der science studies zu veranschaulichen (Barnes und Shapin 1979, Bloor [1976] 1991), der auch die meisten Arbeiten in der Sozialgeschichte der Wissenschaft (Shapin 1982) und in der Wissenssoziologie (Moscovici 1977) beherrscht: »Fragen der Epistemologie sind i m m e r auch Fragen der Gesellschaftsordnung«. Es ist unmöglich, beide F r a g e n k o m plexe getrennt zu behandeln, den einen in philosophischen Fakultäten u n d d e n anderen in soziologischen u n d politologischen. A b e r Shapin u n d Schaffer radikalisieren dieses allgemeine Programm: Erstens arbeiten sie den historischen Beginn der T r e n n u n g zwischen Epistemologie u n d Soziologie heraus, u n d zweitens h e b e n sie, zum Teil unabsichtlich, das Vorrecht des sozialen Kontextes bei der Erklärung der Wissenschaften auf. »Wir verstehen die Politik nicht als etwas der wissenschaftlichen Sphäre Äußerliches, das sich ihr irgendwie mitteilen könnte. Die [von Boyle geschaffene] Experimentalgemeinschaft hat gerade daf ü r gekämpft, ein solches Vokabular der Abgrenzung durchzusetzen, u n d wir haben uns bemüht, diese Sprache historisch einzuordnen

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und das Aufkommen dieser neuen Diskurskonventionen zu erklären. Wenn unsere Untersuchung unter historischem Gesichtspunkt konsequent sein soll, müssen wir vermeiden, die Sprache der Akteure in unsere eigenen Erklärungen einfließen zu lassen. Denn gerade diesen Sprachgebrauch, der die Politik als der Wissenschaft äußerlich vorzustellen erlaubt, wollen wir verstehen und erklären. Wir geraten hier in Widerstreit mit der geläufigen Meinung der Wissenschaftshistoriker, die behaupten, sie hätten die Begriffe >innerhalb< und >außerhalb< der Wissenschaft längst überwunden. Weit gefehlt! Wir beginnen die Probleme erst zu ahnen, die durch diese Abgrenzungskonventionen aufgeworfen werden. Wie haben die wissenschaftlichen Akteure, historisch gesehen, die Elemente im Sinne ihres (nicht unseres) Abgrenzungssystems verteilt, und wie können wir ihre Art und Weise, ihm zu entsprechen, empirisch untersuchen? Die Sache, die >Wissenschaft< genannt wird, hat keine natürliche Grenze« (S. 342). In dieser langen Passage beweisen die Autoren nicht, wie sich durch den sozialen Kontext in England die Entstehung der Physik Boyles und das Scheitern der mathematischen Theorien von Hobbes erklären läßt. Sie stoßen vielmehr zum Fundament der politischen Philosophie vor. Weit davon entfernt, »die wissenschaftlichen Arbeiten Boyles in ihrem historischen Kontext zu situieren« oder zu zeigen, wie die Politik die wissenschaftlichen Inhalte »beeinflußt«, untersuchen sie genau, wie Boyle und Hobbes miteinander darum gekämpft haben, eine Wissenschaft zu erfinden, einen Kontext dafür und eine Abgrenzung zwischen beiden. Der Inhalt läßt sich gar nicht durch den Kontext erklären, denn weder der eine noch der andere existierte bereits in dieser neuen Form, bevor Boyle und Hobbes nicht ihr jeweiliges Ziel erreicht und ihre Meinungsverschiedenheiten geregelt hatten. Die Schönheit des Buchs rührt daher, daß Shapin und Schaffer die wissenschaftlichen Arbeiten von Hobbes ausgegraben haben, die von den Politologen stets ignoriert worden sind, da sie sich der mathematischen Hirngespinste ihres Helden schämten. Ebenso haben sie die politischen Theorien von Boyle dem Vergessen entrissen, die wiederum von den Wissenschaftshistorikern ignoriert worden sind, da diese die Organisationsarbeit ihres Helden verheimlichen wollten. Anstelle einer Asymmetrie und einer Aufteilung — an Boyle die Wissenschaft, an Hobbes die politische

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T h e o r i e —, skizzieren Shapin und Schaffner einen Quadranten: Boyle verfugt über eine Wissenschaft und eine politische Theorie, Hobbes über eine politische T h e o r i e und eine Wissenschaft. Dieses Koordinatensystem wäre nicht interessant, lägen die Gedanken unserer beiden Helden allzu weit voneinander entfernt, wäre der eine zum Beispiel ein Philosoph in der Tradition von Paracelsus und der andere ein Legist ä la Bodin. Aber z u m Glück stimmen beide in fast allem überein. Beide wollen einen König, ein Parlament, eine gefugige und geeinte Kirche, und beide sind glühende Anhänger der mechanistischen Philosophie. Aber w e n n beide auch zutiefst rationalistisch sind, so gehen ihre M e i n u n g e n in der Frage auseinander, was von E x p e r i m e n t e n zu erwarten sei, von wissenschaftlicher Beweisführung, von politischer Argumentation und, vor allem, von der Luftpumpe, d e m wahren Helden dieser Geschichte. Diese Meinungsverschiedenheiten machen aus den beiden M ä n n e r n , die sonst in allem einig sind, die idealen »Drosophilas« der neuen Anthropologie. Boyle vermeidet es sorgfältig, explizit von der Vakuumpumpe zu sprechen. E r will nur O r d n u n g in die Debatten bringen, die auf die E n t d e k k u n g der Torricelli-Leere folgen; dabei handelt es sich bekanntlich u m einen nahezu luftleeren R a u m , der sich über der Quecksilbersäule in ein e m umgestülpten Reagenzglas bildet, welches in eine Schale mit Q u e c k silber getaucht ist. Boyle gibt vor, nur das Gewicht und die Elastizität der Luft zu erforschen, ohne im Streit zwischen den Anhängern der A t h e r theorie und den Verfechtern des Vakuums Partei zu ergreifen. Ausgehend von der P u m p e O t t o von Guerickes entwickelt er einen Apparat, u m die Luft dauerhaft aus einem durchsichtigen Glasgefäß abzusaugen; dieser ist — w e n n man Kosten, Komplexität und N e u h e i t zur damaligen Zeit in Betracht zieht — das Äquivalent einer großen Versuchsanlage der heutigen Physik. Das ist schon big science. D e r große Vorteil der Apparaturen Boyles besteht darin, daß m a n bei ihnen durch die Glaswände hindurchsehen u n d dank einer R e i h e einfallsreicher Mechanismen von Luftschleusen und Klappen Materialproben einfuhren oder sogar manipulieren kann. D o c h weder die Pumpenkolben noch die dickwandigen Gläser n o c h die D i c h t u n g e n sind von ausreichender Qualität. Boyle m u ß daher die technologische Forschung relativ weit vorantreiben, u m ein E x p e r i m e n t zu verwirklichen, das i h m am meisten am Herzen liegt: das eines Vakuums im Vakuum. E r schließt eine Toricelli-Röhre in das Glasgefäß der P u m p e ein u n d hat so oben in der umgestülpten R ö h r e ein erstes Vakuum. D a n n

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läßt er die P u m p e durch einen seiner Techniker — die im übrigen u n sichtbar bleiben (Shapin 1989) - betätigen und verringert den Luftdruck im Glasgefäß so weit, daß die Quecksilbersäule sinkt, u n d zwar fast bis auf die H ö h e des Quecksilbers in der Schale. Boyle wird nun eine Vielzahl von Experimenten in diesem geschlossenen R a u m seiner L u f t p u m pe entwickeln: Manche sollen den von seinen Gegnern postulierten Atherw i n d aufspüren, mit anderen soll die Kohäsion von M a r m o r z y l i n d e r n erklärt werden, in wieder anderen werden kleine Tiere erstickt u n d Kerzen gelöscht, wie es von der Salon-Physik des 18. Jahrhunderts später p o pularisiert worden ist. W ä h r e n d ständig neue Bürgerkriege w ü t e n , entscheidet Boyle sich für eine Argumentationsmethode, die von der scholastischen Tradition schon i m m e r verspottet worden ist: die M e i n u n g . Zugunsten der doxa geben Boyle und seine Kollegen die Gewißheit der apodiktischen Beweisführ u n g auf. Diese doxa ist j e d o c h nicht die üppige Phantasie der gläubigen Massen, sondern ein neues Dispositiv, das die Z u s t i m m u n g der Gleichrangigen herbeiführen soll. Dabei stützt Boyle sich weniger auf Logik, Mathematik oder R h e t o r i k als auf eine aus der Rechtsprechung abgeleitete Metapher: Glaubwürdige, aufrichtige u n d unabhängige Zeugen, am O r t des Geschehens versammelt, k ö n n e n die Existenz eines Faktums, the matter offact, bezeugen, selbst w e n n sie dessen wahre N a t u r nicht kennen. So erfindet Boyle den empirischen Stil, in dem wir heute n o c h arbeiten (Shapin 1984). Er ist nicht an der M e i n u n g der Gentlemen interessiert, sondern verlangt die Beobachtung eines Phänomens, das künstlich im geschlossenen u n d geschützten R a u m des Labors produziert worden ist (Shapin 1990). Ironischerweise ist die Schlüsselfrage der Konstruktivisten — sind die Fakten von Anfang bis Ende im Labor produziert? (Woolgar 1988) — exakt die Frage, die Boyle aufwirft und löst. Ja, die Fakten sind tatsächlich in der n e u e n Einrichtung des Labors und über die künstliche Vermittlung der Luftpumpe konstruiert. D e r Quecksilberspiegel in derTorricelli-Röhre sinkt wirklich im durchsichtigen geschlossenen R a u m der Luftpumpe, die von atemlosen Technikern betätigt wird. Les faits sontfaits, w ü r d e Bachelard sagen: »Die Fakten werden fabriziert«. Aber sind die Fakten, w e n n sie vom Menschen konstruiert sind, deshalb auch schon Artefakte? Nein, denn genau wie Hobbes erweitert Boyle den »Konstruktivismus« Gottes auf den Menschen — Gott erkennt die Dinge, weil er sie erschafft (Funkenstein

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1986). W i r erkennen die Natur der Fakten, weil wir sie unter Bedingungen erarbeitet haben, die wir vollkommen kontrollieren. Aus der Schwäche wird eine Stärke, sofern man die Erkenntnis auf die instrumentalisierte Natur der Fakten beschränkt und die Interpretation der Ursachen beiseite läßt. Wieder wendet Boyle einen Mangel — wir produzieren nur matters offact, die im Labor geschaffen sind und nur eine lokale Bedeutung besitzen — zu einem entscheidenden Vorteil: Diese Fakten werden nie modifiziert werden können, was immer sich sonstwo im Bereich der Theorie, der Metaphysik, der Religion, der Politik oder der Logik ereignen mag.

Hobbes und seine Subjekte Hobbes verwirft Boyles ganze Beweisanordnung. Auch er will dem Bürgerkrieg ein Ende machen; auch er will die freie Interpretation der Bibel durch Priester und Volk aufgeben. Aber er will dieses Ziel durch eine Vereinheitlichung des politischen Körpers erreichen. Der durch den Vertrag geschaffene Souverän, »jener sterbliche Gott, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken«, ist nur der R e p r ä sentant, der Vertreter der Menge. »Es ist die Einheit des Vertreters, nicht die Einheit des Vertretenen, die bewirkt, daß eine Person entsteht.« H o b bes ist besessen von dieser Einheit der Person, die in seinen Worten ein »Darsteller« ist, dessen »Autoren« wir Bürger sind (Hobbes [1651] 1988). Ihretwegen kann es keine Transzendenz geben. Die Bürgerkriege werden so lange weiterwüten, wie übernatürliche Wesen existieren, die anzurufen die Bürger sich berechtigt fühlen, wenn sie von den irdischen Autoritäten verfolgt werden. Die Pflichttreue der alten mittelalterlichen Gesellschaft — Gott und König — ist nicht mehr möglich, wenn jeder unmittelbar Gott anrufen oder seinen König bestimmen kann. Hobbes will aufräum e n mit jeglicher Anrufung von Wesen, die der weltlichen Autorität übergeordnet sind. Er will die katholische Einheit wiederfinden, aber indem er jeden Zugang zur göttlichen Transzendenz versperrt. Für Hobbes ist die Macht Erkenntnis, was bedeutet, daß es nur eine einzige Erkenntnis und nur eine einzige Macht geben darf, will man den Bürgerkriegen ein Ende setzen. Der Leviathan besteht daher zu weiten Teilen aus einer Exegese des Alten und N e u e n Testaments. Eine der groß-

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ten Gefahren für den öffentlichen Frieden kommt vom Glauben an i m materielle Körper wie Geister, Gespenster oder Seelen, auf die sich die Menschen gegen das Urteil der weltlichen Macht berufen. Schon Antigone könnte gefährlich sein, wenn sie die Überlegenheit der Barmherzigkeit über die »Staatsräson« Kreons verkündet. Weit gefährlicher aber noch sind die Verfechter der Gleichheit, die Levellers und die Diggers, denn sie berufen sich auf die aktiven Mächte der Materie und die freie Interpretation der Bibel, u m ihren rechtmäßigen Fürsten den Gehorsam zu verweigern. Eine träge und mechanische Materie ist für den inneren Frieden ebenso wichtig wie eine rein symbolische Interpretation der Bibel. In beiden Fällen muß unbedingt verhindert werden, daß Splittergruppen sich auf ein nicht vollkommen vom Souverän kontrolliertes höheres Wesen — die Natur oder Gott — berufen können. Dieser Reduktionismus führt nicht zu einem totalitären Staat, denn Hobbes wendet ihn gerade auf die Republik an: Der Souverän ist immer nur ein vom Gesellschaftsvertrag designierter Akteur. Es gibt kein göttliches Recht, keine höhere Instanz, auf die sich der Souverän berufen k ö n n te, u m so zu handeln, wie er möchte, und damit den Leviathan zu zerschlagen. In diesem neuen Regime, in dem die Erkenntnis der Macht gleichkommt, wird alles reduziert: der Souverän, Gott, die Materie und die Menge. N o c h nicht einmal für seine eigene Staatswissenschaft will Hobbes sich auf eine irgendwie geartete Transzendenz berufen. Z u all seinen wissenschaftlichen Resultaten gelangt er nicht durch Meinung, Beobachtung oder Offenbarung, sondern durch mathematische Beweisführung, die einzige Argumentationsmethode, die geeignet ist, j e d e n zur Zustimmung zu nötigen. U n d zu dieser Beweisführung gelangt er nicht über transzendentale Kalküle, wie Piatons König, sondern durch ein Instrument reiner Berechnung, das mechanische Gehirn, einen Computer vor der Zeit. Sogar der berühmte Gesellschaftsvertrag ist nur die Summe einer Berechnung, auf die alle Bürger, die verängstigt sind und sich vom Naturzustand befreien wollen, gleichzeitig plötzlich kommen. So sieht der verallgemeinerte Konstruktivismus von Hobbes aus, mit dem er die Bürgerkriege befrieden will: keinerlei Transzendenz, kein Rückgriff auf Gott, kein Rückgriff auf eine aktive Materie oder eine Macht von Gottes Gnaden, nicht einmal ein Rückgriff auf mathematische Ideen im Sinne Piatons. Damit ist alles vorbereitet für die Konfrontation zwischen Hobbes und Boyle. Nachdem Hobbes endlich den politischen Körper vereinfacht und

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vereinheitlicht hat, betritt die Royal Society die Bühne und will alles wieder teilen: Einige Gentlemen proklamieren ihr Recht, eine unabhängige Meinung zu besitzen, und zwar in einem abgeschlossenen Laboratorium, über das der Staat keinerlei Kontrolle ausübt. U n d wenn diese Aufwiegler sich untereinander einigen, geschieht dies nicht durch mathematische Beweisführung, die jeder zu akzeptieren gezwungen wäre, sondern durch Experimente, die mittels der trügerischen Sinne beobachtet werden; im übrigen sind diese Experimente unerklärlich und wenig überzeugend. Schlimmer noch, entrüstet sich Hobbes, diese neue Clique will ihre Arbeit auf die Luftpumpe konzentrieren, die von neuem immaterielle K ö r per, nämlich das Vakuum produziert. Als hätte er nicht M ü h e genug gehabt, sich der Phantome und Geister zu entledigen! Womit wir wieder, sorgt sich Hobbes, mitten im Bürgerkrieg wären. Zwar werden wir nicht mehr die Levellers und Diggers erdulden müssen, die sich auf ihre persönliche Interpretation von Gott und den Eigenschaften der Materie beriefen, u m die Autorität des Königs anzuzweifeln (man hat sie buchstäblich ausgerottet). Aber dafür werden wir uns nun mit dieser neuen Clique von Wissenschaftlern herumschlagen müssen. Sie wird bald jede Autorität anzweifeln, indem sie sich auf Ereignisse im Labor beruft, die von vorne bis hinten fabriziert sind! Läßt man zu, daß die Experimente ihre eigenen matters of fad produzieren und die Leere in die Luftpumpe eindringt — und von dort in die Naturphilosophie —, so spaltet man die Autorität: Die immateriellen Geister werden wieder jeden zur Revolte treiben, weil sie eine Berufungsinstanz für die Unzufriedenen darstellen. Erkenntnis und Macht werden wieder geteilt sein. Man wird, nach den Worten von H o b bes, »doppelt sehen«. Dies sind die Warnungen, die er an den König richtet, u m das Treiben der Royal Society zu denunzieren.

Die Vermittlung des Labors Diese politische Interpretation der Athertheorie von Hobbes würde nicht ausreichen, aus dem Buch von Shapin und Schaffer eine solide Grundlage für die vergleichende Anthropologie zu machen. Alles in allem hätte jeder gute Ideenhistoriker die gleiche Arbeit leisten können. Aber in drei entscheidenden Kapiteln verlassen unsere Autoren das Gebiet der Ideengeschichte und gehen von der Welt der Meinungen und Argumentado-

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nen zur Welt der Praxis und der Netze über. Z u m ersten Mal in den science studies werden alle Ideen über Gott, König, Materie und W u n d e r in die detaillierte Funktionsweise eines Instruments übersetzt und transkribiert; sie müssen die Luftpumpe durchlaufen. Andere Wissenschaftshistoriker hatten zwar schon die wissenschaftliche Praxis untersucht, andere Historiker hatten den religiösen, politischen und kulturellen Kontext der Wissenschaft erforscht; aber niemand hatte es bis jetzt geschafft, beides gleichzeitig zu tun. So wie Boyle es fertiggebracht hatte, das Herumbasteln an einer Luftp u m p e in die partielle Z u s t i m m u n g von Gentlemen zu unbestreitbar gewordenen Fakten zu verwandeln, gelingt es Shapin u n d Schaffer zu erklären, wie und w a r u m die Diskussionen über den politischen Körper, über Gott und seine Wunder, über die Materie und ihre Kräfte durch die L u f t p u m p e übersetzt werden müssen. Das Rätsel w u r d e nie gelöst, solange man eine kontextualistische Erklärung für die Wissenschaft suchte. Kontextualisten gehen bekanntlich vom Prinzip aus, daß es einen sozialen Makro-Kontext gibt: England, die Streitigkeiten u m die T h r o n n a c h folge, den Kapitalismus, die Revolution, die Geschäftsleute, die Kirche. U n d dieser Kontext beeinflußt, formt, reflektiert, spiegelt oder m a n i p u liert in einer bestimmten Weise »Ideen über« die Materie, die Elastizität der Luft, das Vakuum u n d die Torricelli-Röhren. Aber damit erklärt sich n o c h lange nicht die vorgängige Herstellung einer Verbindung zwischen Gott, König, Parlament u n d dem nach A t e m ringenden Vogel im geschlossenen Glasgefäß einer Pumpe, aus dem ein Techniker mittels einer K u r bel die Luft absaugt. W i e kann die Erfahrung eines Vogels alle anderen Kontroversen ausdrücken, verschieben, transportieren, deformieren, so daß diejenigen, die die P u m p e in der H a n d haben, damit ebenfalls König, Gott und ihr gesamtes Umfeld beherrschen? Hobbes b e m ü h t sich zwar, alles zu umgehen, was mit der e x p e r i m e n tellen Arbeit zu tun hat, aber Boyle zwingt die Diskussion dazu, zahlreiche schmutzige Details zu durchlaufen, die mit den Lecks, D i c h t u n g e n und Kurbeln seiner Maschine zu tun haben. So wie Hobbes w ü r d e n auch die Wissenschaftstheoretiker und Ideenhistoriker gerne die Welt des Labors vermeiden, diese abstoßende Giftküche, in der Begriffe von Trivialitäten erstickt werden (Knorr-Cetina 1984, Latour und Woolgar [1979] 1986,Traweek 1988, Pickering 1992, C u n n i n g h a m und Williams, 1992). Shapin u n d Schaffer aber lassen ihre Analysen u m den Gegenstand krei-

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sen, um dieses Leck, um jene Dichtung einer bestimmten Luftpumpe. Die Praxis der Fabrikation der Gegenstände gewinnt die Vormachtstellung zurück, die sie mit der modernen Kritik verloren hatte. Das Buch unserer beiden Kollegen ist nicht nur empirisch, weil es voller Details steckt, es ist empirisch, weil es die Archäologie dieses neuen Gegenstands leistet, der im 17. Jahrhundert im Labor zur Welt kommt. In fast ethnographischer F o r m leisten Shapin und Schaffer — wie auch Hacking (Hacking 1983) - etwas, was die Wissenschaftsphilosophen kaum noch tun: sie zeigen die realistischen Grundlagen der Wissenschaften auf. Aber statt von der äußeren Realität out there zu sprechen, verankern sie die unbestreitbare Realität der Wissenschaft down there, auf dem Labortisch. Boyles Experimente verlaufen nicht zufriedenstellend. Die Pumpe ist undicht. Sie muß geflickt werden. Wer unfähig ist, das Eindringen der Objekte in das menschliche Kollektiv zu erklären, mit allen dazugehörigen Manipulationen und Praktiken, ist kein Anthropologe. Denn ihm entgeht, was seit Boyles Zeiten den fundamentalsten Aspekt unserer Kultur darstellt: Das soziale Band der Gesellschaft, in der wir leben, besteht aus Objekten, die im Laboratorium fabriziert sind. An die Stelle von Ideen sind Praktiken getreten, die apodiktischen Beweisführungen haben der kontrollierten doxa Platz gemacht, und die universelle Ubereinkunft ist durch Gruppen von Fachkollegen ersetzt worden. Die schöne Ordnung, die Hobbes wiederzufinden suchte, wird zerstört, weil immer neue private Räume aus dem Boden schießen. In ihnen wird der transzendentale Ursprung von Fakten proklamiert, die zwar vom Menschen hergestellt, aber niemandes Werk sind, die zwar keine Kausalität haben, aber dennoch erklärbar sind. W i e soll eine Gesellschaft friedlich zusammenhalten, entrüstet sich Hobbes, die auf dem dürftigen Fundament von matters offact errichtet ist? Ihn irritiert besonders die relative Veränderung im Maßstab der Phänomene. Für Boyle lassen sich die großen Fragen nach Gott und göttlichen Mächten einer experimentellen Lösung zuführen, und diese Lösung wird immer partiell und bescheiden sein. Hobbes aber verwirft die Möglichkeit des Vakuums gerade aus ontologischen und politischen Gründen höchster Philosophie. Er hört nicht damit auf, die Existenz eines unsichtbaren Äthers ins Feld zu führen, der vorhanden sein muß, auch wenn der Arbeiter Boyles seine Pumpe bis an den Rand der Erschöpfung betätigt hat. Anders gesagt, er verlangt eine makroskopische Antwort auf seine »Ma-

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kro«-Argumente, eine Demonstration, die beweisen würde, daß seine Ontologie nicht notwendig und das Vakuum politisch akzeptabel ist. Womit aber antwortet Boyle? Er entschließt sich, sein Experiment noch weiter zu verfeinern, um zu zeigen, welchen Effekt der von Hobbes postulierte Ätherwind auf einen Detektor - eine simple Hühnerfeder! - hat, in der Hoffnung, damit die Theorie seines Verleumders zu entkräften (S. 182). Für Hobbes ist das lächerlich. Er wirft ein Grundsatzproblem politischer Philosophie auf, und um seine Theorien zu widerlegen, bemüht man eine Hühnerfeder im Innern eines Glasgefäßes im Innern des Schlosses von Boyle! Selbstverständlich zittert die Feder nicht im geringsten, und Boyle zieht daraus den Schluß, daß Hobbes sich im Irrtum befindet und ein Atherwind nicht existiert. Und doch kann Hobbes sich nicht irren, denn er weigert sich anzuerkennen, daß das Phänomen, von dem er spricht, auf einer anderen Ebene, in einem anderen Maßstab auftreten kann als in dem der gesamten Republik. Er negiert, was zum wesentlichen Merkmal der modernen Macht werden wird: die von der Laborarbeit vorausgesetzten Maßstabsveränderungen und Verschiebungen (Latour 1983). Wie der gestiefelte Kater kann Boyle den auf die Größe einer Maus verkleinerten Zauberer nun in die Tasche stecken.

Das Zeugnis nicht-menschlicher W e s e n Boyles Neuerung ist eindrucksvoll. Gegen Hobbes' Rat bemächtigt er sich des alten Repertoires von Strafrecht und Bibelexegese, aber wendet beides auf das Zeugnis der im Labor geprüften Dinge an. So schreiben Shapin und Schaffer: »Sprat und Boyle beriefen sich auf >die Praxis unserer Gerichtshöfe in Englands um die moralische Zuverlässigkeit ihrer Schlüsse zu gewährleisten und ihr Argument rechtsgültig zu machen, daß die Vermehrung der Zeugen einen >Wettstreit der Wahrscheinlichkeiten auslösen würde. Boyle benutzte dazu die Gesetzesklausel aus den Konstitutionen von Clarendon von 1661, wonach, wie er sagt, zwei Zeugen ausreichen, um einen Menschen zu verurteilen. Man sieht, daß die juristischen und religiösen Autoritätsmodelle die Hauptquellen der Experimentatoren darstellen. Die zuverlässigen Zeugen ge-

Das Zeugnis nicht-menschlicher Wesen

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hörten ipso facto zu einer Gemeinschaft, die glaubwürdig war: Die Berichte von Papisten, Atheisten und Sektierern wurden in Frage gestellt, der soziale Status des Zeugen trug zu seiner Glaubwürdigkeit bei, und die Ubereinstimmung der Versionen vieler Zeugen erlaubte, sich der Extremisten zu entledigen. Hobbes stellt die Grundlage dieser Praxis wieder in Frage: Er fuhrt den Brauch an, der die Praxis der Zeugenschaft für wirkungslos und zersetzend erklärt« (S. 327). A u f den ersten Blick bringt das Repertoire Boyles nichts großartig N e u es. Gelehrte, Mönche, Juristen und Schreiber hatten all seine Hilfsmittel im Laufe von mehr als tausend Jahren ausgearbeitet. Aber der Punkt, an dem diese Hilfsmittel eingesetzt werden, ist neu. Bislang waren die Z e u gen immer menschliche oder göttliche Zeugen gewesen — niemals nichtmenschliche. Die Texte waren von Menschen geschrieben worden oder von Gott inspiriert — niemals inspiriert oder geschrieben von nichtmenschlichen Wesen. Die Gerichtshöfe hatten eine große Zahl menschlicher und göttlicher Prozesse erlebt, niemals jedoch Fälle, in denen die Verhaltensweisen von nicht-menschlichen Wesen in einem zum Gerichtshof gewordenen Laboratorium zur Debatte standen. Für Boyle haben j e doch die Experimente im Laboratorium mehr Autorität als die unbestätigten Aussagen achtbarer Zeugen: »In unserem hier dargelegten Experiment [der Taucherglocke] hat der Druck des Wassers sichtbare Auswirkungen auf die unbeseelten Körper, die unfähig zu Vorurteilen sind und auch keine parteiischen Informationen vorbringen können. Daher wird dieses Experiment bei unvoreingenommenen Personen mehr Gewicht haben als die suspekten und manchmal widersprüchlichen Berichte unwissender Taucher, deren vorgefaßte Meinungen Schwankungen unterworfen sind, und deren Sinnesempfindungen wie die des gemeinen Volkes sogar durch besondere Anfälligkeiten oder sehr viele andere U m stände bestimmt sein können und so leicht zum Irrtum fuhren« (S. 218). Wir sehen hier, wie unter der Feder Boyles ein neuer — durch die neue Verfassung anerkannter — Akteur die Szene betritt: träge Körper, unfähig

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zu Willen und Vorurteil, aber fähig zu zeigen, zu signieren, zu schreiben u n d zu kritzeln, u n d zwar auf Laboratoriumsinstrumente vor glaubwürdigen Z e u g e n . Diese nicht-menschlichen Wesen, die keine Seele haben, denen man j e d o c h einen Sinn zuspricht, sind sogar zuverlässiger als die gemeinen Sterblichen, denen man zwar einen Willen zuspricht, die aber unfähig sind, P h ä n o m e n e auf zuverlässige Weise anzuzeigen. N a c h der Verfassung ist es i m Zweifelsfall sogar besser, w e n n die M e n s c h e n n i c h t menschliche Wesen anrufen. Diese werden mit ihren n e u e n semiotischen Fähigkeiten zu einer n e u e n F o r m von Text beitragen, d e m Bericht der Experimentalwissenschaft. Er ist ein Mischwesen aus tausendjähriger B i belexegese — bisher ausschließlich auf die Heilige Schrift und die Klassiker angewandt — und d e m n e u e n Instrument, das die n e u e n Einschreib u n g e n produziert. Von n u n an versammeln sich die Z e u g e n f ü r ihre Debatten i m geschlossenen R a u m u m die Luftpumpe, und die Debatten drehen sich u m das mit Sinn begabte Verhalten nicht-menschlicher W e sen. Die alte H e r m e n e u t i k gibt es weiterhin, aber ihre Pergamente w e r den n u n u m die zitternde Signatur der wissenschaftlichen Instrumente ergänzt (Latour u n d de N o b l e t 1985, Lynch 1985, Latour u n d Woolgar [1979]1986, Law und Fyfe 1988, Lynch und Woolgar 1990). Ein solcherm a ß e n e r n e u e r t e r Gerichtshof f u h r t auch zum U m s t u r z aller anderen Mächte, u n d gerade das bringt Hobbes dermaßen auf. Dieser U m s t u r z ist j e d o c h n u r möglich, w e n n jede Verbindung zu den politischen u n d religiösen Regierungsressorts unmöglich wird. Shapin u n d SchafFer treiben ihre Diskussion der Objekte, Laboratorien, Fähigkeiten und Maßstabsveränderungen konsequent weiter. W e n n die Wissenschaft nicht auf Ideen gegründet ist, sondern auf eine Praxis, w e n n sie nicht außerhalb, sondern innerhalb des durchsichtigen Gefäßes der L u f t p u m p e angesiedelt ist, wie k o m m t es dann, daß sie sich »überall« hin ausbreitet, bis sie zuletzt so universell wird wie die »Boyleschen Gesetze« oder die »Newtonschen Gesetze«? N u n , sie wird nie universell, z u m i n dest nicht im Sinne der Epistemologen. Ihr Netzwerk erweitert und stabilisiert sich. Diese Erweiterung wird brillant dargestellt in einem Kapitel, das zusammen mit d e m Werk von H a r r y Collins (Collins 1985, Collins 1990) und vonTrevor Pinch (Pinch 1986) ein eindrucksvolles Beispiel für die Fruchtbarkeit der neuen science studies bildet. Die Autoren verfolgen die R e p r o d u k t i o n jedes Prototyps der Luftpumpe quer durch Europa u n d zeigen, wie sich dabei ein kostspieliges, wenig zuverlässiges und recht sper-

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riges Gerät allmählich in eine billige black box verwandelt, die nach und nach zur üblichen Laborausrüstung gehört. Damit bringen sie die universelle Anwendung eines physikalischen Gesetzes wieder zurück in ein Netzwerk standardisierter Praktiken. Selbstverständlich verbreitet sich Boyles Interpretation von der Elastizität der Luft, aber sie verbreitet sich genau mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sich die Gemeinschaft der Experimentatoren und ihre Ausrüstungen entwickeln. Keine Wissenschaft kann aus dem Netz ihrer Praxis heraustreten. Gewiß ist das Gewicht der Luft heute ein Universal, aber ein Universal im Netz. Dank der Erweiter u n g des Netzes können die Kompetenzen und Geräte hinlänglich zur R o u t i n e werden, u m die Produktion des Vakuums genauso unsichtbar zu machen wie die Luft, die wir atmen, was aber keineswegs gleichbedeutend ist mit Universalität im herkömmlichen Sinne.

Zwei Artefakte: Labor und Leviathan W i e weit geht die Symmetrie zwischen der Erfindung von Hobbes und der von Boyle? In diesem Punkt bleiben Shapin und Schaffer unklar. D a bei sieht es doch zunächst so aus, daß Hobbes und seine Jünger die prinzipiellen Hilfsmittel erarbeitet haben, die uns zur Verfügung stehen, u m über Macht zu sprechen: »Repräsentation«, »Souverän«, »Vertrag«, »Eigentum«, »Bürger«. Boyle und seine Nachfolger wiederum haben eines der wichtigsten Repertoires entwickelt, um über Natur zu sprechen: »Experiment«, »Tatsache«, »Beweis«, »Fachkollegen«. Daher sollte es auch klar sein, daß wir es nicht mit zwei getrennten Erfindungen zu tun haben, sondern nur mit einer, die in einer Gewaltenteilung zwischen den beiden Protagonisten besteht. Hobbes wird die Politik zugesprochen, und Boyle die Wissenschaft. Dies ist jedoch nicht der Schluß, den Shapin und Schaffer ziehen. Nachdem sie den genialen Einfall hatten, die experimentelle Praxis und die politische Organisation zweier Hauptfiguren aus der Frühzeit der M o d e r n e zu vergleichen, machen sie einen Rückzieher und zögern, H o b bes und seine Politik in der gleichen Weise zu behandeln wie Boyle und seine Wissenschaft. Merkwürdigerweise scheinen sie sich enger an das p o litische Repertoire anzulehnen als an das wissenschaftliche. U n d doch verschieben Shapin und Schaffer den traditionellen Bezugspunkt der Kritik ungewollt nach unten. Wenn die Wissenschaft auf Le-

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bensformen, Praktiken, Laboratorien und Netzen aufbaut, wo soll man sie dann einordnen? Gewiß nicht auf der Seite der Dinge an sich, denn die Fakten sind fabriziert. Aber genausowenig auf der Seite des Subjekts, oder wie auch immer man diese Seite nennt: Gesellschaft, Gehirn, Geist, Sprachspiel, Episteme oder Kultur. Denn der erstickende Vogel, die Marmorkugeln, der sinkende Quecksilberspiegel sind nicht unsere eigenen Schöpfungen, sind nicht aus der Luft gegriffen, bestehen nicht aus sozialen Beziehungen, nicht aus menschlichen Kategorien. M u ß man also die Praxis der Wissenschaft in der Mitte jener Linie situieren, die den O b jektpol mit dem Subjektpol verbindet? Ist sie eine Hybride, eine Mischung aus beidem? Teilweise Objekt und teilweise Subjekt? Oder ist es notwendig, eine neue Position fiir diese seltsame gleichzeitige Erzeugung eines politischen Kontexts und eines wissenschaftlichen Inhalts zu finden? Die Autoren geben uns keine abschließende Antwort auf diese Fragen, so als wäre es ihnen nicht gelungen, ihrer eigenen Entdeckung gerecht zu werden. Genauso wie Hobbes und Boyle sich in allem einig sind, außer darin, wie Experimente durchgeführt werden sollen, sind unsere beiden Autoren zwar in allem mit sich einig, nicht jedoch darin, wie der »soziale« Kontext zu behandeln ist, d. h. Hobbes' symmetrische Erfindung eines Menschen, der sich vertreten, repräsentieren lassen kann. Die letzten Kapitel des Buchs schwanken zwischen einer Hobbesschen Erklärung ihrer eigenen Arbeit und einem Boyleschen Gesichtspunkt. Durch diese Spannung wird ihr Werk nur um so interessanter und liefert der A n thropologie der Wissenschaften eine neue Linie von idealen »Drosophilas«, die sich nur durch wenige Merkmale unterscheiden. Für Shapin und Schaffer sind Hobbes' makro-soziale Erklärungen von Boyles Wissenschaft überzeugender als die Widerlegung von Hobbes durch Boyles Argumente! Ausgebildet im R a h m e n der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung (Callón und Latour 1991), scheinen sie die von der Edinburgher Schule auferlegten Beschränkungen zu akzeptieren: Alle Fragen der Epistemologie sind Fragen der Gesellschaftsordnung, weil in letzter Instanz der soziale Kontext die Definition dessen enthält, was als gute Wissenschaft gilt. Mit einer solchen Asymmetrie sind sie weniger gut ausgerüstet, den makro-sozialen Kontext zu dekonstruieren, als die Natur out there. Sie scheinen zu glauben, daß es wirklich eine Gesellschaft up there gibt, die das Scheitern von Hobbes' Programm erklärt. O d e r genauer, es gelingt ihnen nicht, diese Frage zu entscheiden, wenn sie in ihrem Fazit

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zurücknehmen, was sie in Kapitel VII bewiesen hatten, und ihre Argumentation im allerletzten Satz des Buchs noch einmal revidieren: »Weder unsere wissenschaftliche Erkenntnis noch die Konstitution unserer Gesellschaft, noch die üblichen Behauptungen über die Verbindungen zwischen Gesellschaft und Erkenntnis können als gesichert gelten. In dem Maße, wie wir den konventionellen und konstruierten Status unserer Erkenntnisformen entdecken, verstehen wir allmählich, daß wir selbst, und nicht die Realität, für das verantwortlich sind, was wir wissen. Ebenso wie der Staat ist die Erkenntnis das Produkt menschlicher Aktionen. Hobbes hatte recht« (S. 344). Nein, Hobbes hatte unrecht! Wie könnte er recht haben, wo er doch der Erfinder der monistischen Gesellschaft ist, in der Erkenntnis und Macht nur ein und dieselbe Sache sind? Wie kann man eine so grobschlächtige Theorie verwenden, u m Boyles Erfindung einer absoluten Dichotomie zwischen der Politik und der Produktion der Erkenntnis von Fakten zu erklären? Gewiß, »ebenso wie der Staat ist die Erkenntnis das Produkt menschlicher Aktionen«, aber gerade darum ist die politische Erfindung Boyles sehr viel feinsinniger als Hobbes' Wissenschaftssoziologie. U m das letzte Hindernis aus dem Weg zu räumen, das uns noch von einer A n thropologie der Wissenschaften trennt, müssen wir die konstitutionelle Erfindung von Hobbes dekonstruieren, wonach es eine Makro-Gesellschaft gibt, die sehr viel fester und robuster wäre als die Natur. Hobbes erfindet den nackten rechnenden Bürger, dessen R e c h t sich darauf beschränkt, zu besitzen und durch die artifizielle Konstruktion des Souveräns repräsentiert zu werden. Ebenso ersinnt er die Sprache der »Macht = Erkenntnis«, eine Gleichung, die jeder modernen Realpolitik* z u g r u n d e liegt. Er liefert außerdem ein R e p e r t o i r e zur Analyse der menschlichen Interessen, das zusammen mit dem von Machiavelli noch immer das Grundvokabular jeder Soziologie bildet. Mit anderen Worten, auch wenn Shapin und Schaffer noch so große Vorsichtsmaßnahmen treffen, u m den Ausdruck »wissenschaftliche Tatsache« nicht als Gegebenheit, sondern als historische und politische Erfindung zu verwenden, treffen

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Im Original deutsch.

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sie keinerlei Vorsichtsmaßnahme hinsichtlich der politischen Sprache. In ihrem Kapitel VII verwenden sie die Worte »Macht«, Interesse« und »Politik« in aller Unschuld. Wer hat nun aber diese Worte in ihrer modernen Bedeutung erfunden? Hobbes! Auch unsere Autoren sehen also »doppelt« und gehen im Zickzack, wenn sie die Wissenschaft kritisieren, die Politik jedoch für bare Münze nehmen und als allein gültige Erkenntnisquelle ansehen. Wer aber bietet uns diese asymmetrische Sichtweise an, um das Wissen durch die Macht zu erklären? Es ist wieder Hobbes mit seiner Konstruktion einer monistischen Makrostruktur, in der die Erkenntnis keinen anderen Stellenwert hat als den, die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Unsere beiden Autoren dekonstruieren meisterlich die Entwicklung, Verbreitung und Banalisierung der Luftpumpe. Warum dekonstruieren sie dann nicht die Entwicklung, Verbreitung und Banalisierung der »Macht« oder der »Gewalt«? Sollte die »Gewalt« etwa weniger problematisch sein als die Elastizität der Luft? Wenn Natur und Epistemologie nicht aus transhistorischen Entitäten bestehen, dann auch nicht Geschichte und Soziologie. Es sei denn, man nimmt die asymmetrische Position mancher Autoren ein und akzeptiert, Konstruktivist zu sein, wenn es um die Natur geht, und Realist, wenn es um die Gesellschaft geht! Aber es ist wenig wahrscheinlich, daß die Elastizität der Luft politischere Fundamente hat als die englische Gesellschaft.

Wissenschaftliche Repräsentation und politische Repräsentation Wenn wir, anders als Shapin und Schaffer, die Logik ihres Buches konsequent zu Ende denken, verstehen wir die Symmetrie der Arbeit, die gleichzeitig von Hobbes und von Boyle geleistet wurde, und wir können die von unseren Autoren beschriebene Wissenschaftspraxis lokalisieren. Boyle erfindet nicht einfach einen wissenschaftlichen Diskurs, und Hobbes leistet nicht dasselbe für die Politik. Boyle erfindet einen politischen Diskurs, aus dem die Politik ausgeschlossen werden soll, während Hobbes eine wissenschaftliche Politik ersinnt, aus der die Experimentalwissenschaft ausgeschlossen werden muß. Mit anderen Worten, sie erfinden unsere moderne Welt, eine Welt, in der die Repräsentation der Dinge durch die Vermittlung des Labors für immer von der Repräsentation der

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Bürger durch die Vermittlung des Gesellschaftsvertrags geschieden ist. Es liegt demnach kein bloßes Versehen vor, wenn die politischen Philosophen alles vergessen haben, was mit der Wissenschaft von Hobbes zu tun hat, während die Wissenschaftshistoriker die Positionen Boyles zur Politik der Wissenschaft vergessen haben. Von nun an war jeder gezwungen, »doppelt zu sehen«, denn es ließ sich keine direkte Verbindung mehr herstellen zwischen der Repräsentation der nicht-menschlichen Wesen und der Repräsentation der Menschen, zwischen der Künstlichkeit der Fakten und der Künstlichkeit des politischen Körpers. Das Wort »Repräsentation« ist dasselbe, aber durch die Kontroverse zwischen Hobbes und Boyle wurde die Ähnlichkeit der beiden Bedeutungen des Wortes unvorstellbar. Heute, w o wir nicht mehr gänzlich modern sind, nähern sich die beiden B e deutungen wieder an. Der Zusammenhang zwischen Epistemologie und Gesellschaftsordnung erhält jetzt eine völlig neue Bedeutung. Die beiden Regierungshälften, die Boyle und Hobbes jeder von seiner Seite her ausarbeiten, haben nur dann Autorität, wenn sie deutlich getrennt bleiben. Der Staat von H o b bes ist ohnmächtig ohne Wissenschaft und Technologie, aber Hobbes spricht nur von der Repräsentation nackter Bürger. Die Wissenschaft von Boyle ist ohnmächtig ohne eine genaue Abgrenzung zwischen religiöser, politischer und wissenschaftlicher Sphäre; und ebendarum unternimmt Boyle so große Anstrengungen, den Monismus von Hobbes zu bekämpfen. Die beiden Männer gleichen zwei Gründerfiguren, die wie verabredet handeln, um ein und dieselbe Neuerung in der politischen Theorie durchzusetzen: Aufgabe der Wissenschaft ist die Repräsentation der nichtmenschlichen Wesen, aber es ist ihr untersagt, die Politik anzurufen; A u f gabe der Politik ist die Repräsentation der Bürger, aber sie darf keinerlei Beziehung zu den nicht-menschlichen Wesen unterhalten, die von Wissenschaft und Technik produziert und mobilisiert werden. Hobbes und Boyle kämpfen miteinander um die Definition der beiden Ressourcen, die wir, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, noch immer nutzen. U n d die Intensität ihrer Schlacht offenbart deutlich genug die N e u heit dessen, was sie erfinden. Hobbes definiert einen rechnenden und nackten Bürger, der den Leviathan ins Leben ruft, diesen sterblichen Gott, diese künstliche Kreatur. Wodurch hat der Leviathan Halt? Durch das Kalkül der menschlichen A t o me, das den Vertrag herbeifuhrt, der über die unwiderrufliche Zusam-

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menfiihrung der Gewalt aller in die Hände eines einzelnen entscheidet. Woraus besteht diese Gewalt? Aus der Ermächtigung eines einzelnen durch alle nackten Bürger, in ihrem Namen zu sprechen. Wer handelt, wenn er handelt? Wir, denn wir haben unsere Macht definitiv an ihn delegiert. Die Republik ist ein paradoxes artifizielles Geschöpf, zusammengesetzt aus Bürgern, die allein dadurch vereint sind, daß sie einen einzelnen autorisiert haben, sie alle zu repräsentieren. Spricht der Souverän in seinem Namen oder im Namen derer, die ihn autorisiert haben? Das ist eine unlösbare Frage, mit der sich die moderne politische Theorie endlos herumschlagen wird. Gewiß spricht er, aber durch ihn sprechen die Bürger. Er wird zu ihrem Fürsprecher, ihrer Person, ihrer Verkörperung. Er übersetzt sie und kann sie daher auch verraten. Sie ermächtigen ihn und können ihn daher auch entmündigen. Der Leviathan besteht nur aus Bürgern, Berechnungen, Ubereinkünften oder Streitigkeiten. Kurz, er besteht nur aus gesellschaftlichen Beziehungen. Oder vielmehr fangen wir dank Hobbes und seinen Nachfolgern erst an zu verstehen, was gesellschaftliche Beziehungen, Mächte, Kräfte und Gesellschaft selbst überhaupt bedeuten. Aber Boyle definiert ein noch befremdlicheres Artefakt. Er erfindet das Laboratorium, in dem artifizielle Maschinen die Phänomene von A bis Z erzeugen. Obwohl die in dieser Weise erzeugten Fakten artifiziell, kostspielig und schwer zu reproduzieren sind, und die Anzahl der glaubwürdigen und geschulten Zeugen klein, repräsentieren diese Fakten die Natur wirklich so, wie sie ist. Die Fakten werden im Labor und in den wissenschaftlichen Schriften produziert und repräsentiert, werden anerkannt und autorisiert von der wachsenden Gemeinschaft der Zeugen. Die Wissenschaftler sind die skrupulösen Repräsentanten der Fakten.Wer spricht, wenn sie sprechen? Zweifellos die Fakten selbst, aber ebenfalls ihre autorisierten Sprecher. Wer spricht also, die Natur oder die Menschen? Das ist eine andere unlösbare Frage, und drei Jahrhunderte lang hat sich die moderne Wissenschaftsphilosophie mit ihr herumgeschlagen. Für sich genommen sind die Fakten stumm, die Naturkräfte sind rohe Mechanismen. Und doch versichern die Wissenschaftler, daß nicht sie es sind, die sprechen, sondern daß die Fakten für sich sprechen. Diese Stummen sind demnach fähig zu sprechen, zu schreiben, zu bedeuten, und zwar im künsdichen, abgeschlossenen Raum des Labors oder in dem noch rareren der Luftpumpe. Kleine Gruppen von Gendemen lassen die Naturkräfte Zeugnis ablegen und be-

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zeugen sich gegenseitig, daß sie das wordose Verhalten der Objekte übersetzen und nicht verfälschen. Mit Boyle und seinen Nachfolgern fangen wir an zu verstehen, was eine Naturkraft ist: ein stummes, aber mit Sinn begabtes oder versehenes Objekt. In ihrem gemeinschaftlichen Disput liefern die Nachfahren Hobbes' und Boyles uns die Ressourcen, die wir bis heute verwenden: auf der einen Seite die gesellschaftliche Kraft, die Macht; auf der anderen Seite die Naturkraft, der Mechanismus. Auf der einen Seite das Rechtssubjekt, auf der anderen das Wissenschaftsobjekt. Die politischen Sprecher werden künftig die zänkische und rechnende Masse der Bürger repräsentieren, die wissenschafdichen Sprecher dagegen die materielle und stumme Masse der Objekte. Erstere übersetzen ihre Mandanten, die nicht alle gleichzeitig sprechen können; letztere übersetzen die ihren, die von Geburt an stumm sind. Erstere können Verrat üben, letztere ebenfalls. Im 17. Jahrhundert ist die Symmetrie noch sichtbar, die beiden Lager von Sprechern diskutieren noch und beschuldigen sich gegenseitig, den Streit immer wieder neu zu entfachen. Es bedarf nur einer kleinen Anstrengung, um den gemeinsamen Ursprung zu verdecken, so daß allein auf der Seite der Menschen Sprecher übrigbleiben, während die Vermittlung der Wissenschaftler unsichtbar wird. Bald wird das Wort »Repräsentation« zwei verschiedene Bedeutungen annehmen, je nachdem ob es sich um Abgeordnete oder um Dinge handelt. Epistemologie und Politikwissenschaft werden entgegengesetzte Wege einschlagen.

Die konstitutionellen Garantien der Moderne Wenn die moderne Verfassung eine Trennung erfindet zwischen der wissenschaftlichen Macht — damit beauftragt, die Objekte zu repräsentieren — und der politischen Macht — damit beauftragt, die Subjekte zu repräsentieren —, so sollten wir daraus nicht den Schluß ziehen, daß nunmehr die Subjekte sich von den Dingen entfernen. Im Gegenteil, Hobbes geht in seinem Leviathan an die Umarbeitung von Physik, Theologie, Psychologie, Recht, Bibelexegese und politischer Wissenschaft. Und Boyle widmet sich in seinen Schriften und Briefen dem Neuentwurf von wissenschaftlicher R h e t o r i k , Theologie, Wissenschaftspolitik, politischer Wissenschaft und Hermeneutik der Fakten. Beide beschreiben sie, wie

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Gott herrschen soll, wie der neue König von England Gesetze erlassen soll, wie Geister oder Engel handeln sollen, welches die Eigenschaften der Materie sind, wie man die Natur befragen soll, welche Schranken fiir die gelehrte oder politische Diskussion zu gelten haben, wie man den Pöbel im Zaum halten kann, welche Rechte und Pflichten die Frauen haben und was man sich von der Mathematik versprechen kann. In der Praxis situieren sie sich also noch in der alten anthropologischen Matrix, sie verteilen die Kompetenzen von Menschen und Dingen und trennen noch nicht zwischen der reinen gesellschaftlichen Kraft und dem reinen Naturmechanismus. Darin liegt das ganze moderne Paradox: Wenn wir die Hybriden betrachten, haben wir es mit Mischungen von Natur und Kultur zu tun; wenn wir die Reinigungsarbeit betrachten, sind wir mit einer totalen Trennung zwischen Natur und Kultur konfrontiert. Mir geht es jedoch gerade darum, die Beziehung zwischen diesen beiden Aufgaben zu verstehen. Obwohl Boyle und Hobbes sich beide mit Politik, Religion,Technik, Moral, Wissenschaft und Recht befassen, teilen sie sich die Aufgaben doch soweit, daß der eine sich auf die Wissenschaft der Dinge beschränkt und der andere auf die Politik der Menschen. Welche innere Beziehung besteht zwischen den beiden Bewegungen? Ist diese Reinigung nötig, damit jene Vermehrung möglich wird? Sind Hunderte und Aberhunderte von Hybriden nötig, damit es Politik gibt, die nur menschlich ist, und Dinge, die nur zur Natur gehören? Ist die absolute Unterscheidung zwischen beiden Bewegungen nötig, damit sie beide wirksam bleiben? Wie soll man die Macht dieses Arrangements erklären? Worin also besteht das Geheimnis der modernen Welt? Wenn wir es erfassen wollen, müssen wir die Resultate von Shapin und Schaffet verallgemeinern und die vollständige Verfassung definieren, deren ersten Entwurf Hobbes und Boyle geschrieben haben. Ich verfüge nicht über die historischen Kenntnisse meiner Kollegen und werde daher auf eine zwangsläufig spekulative Übung angewiesen sein. Dazu stelle ich mir vor, daß eine solche Verfassung wirklich von bewußten Akteuren geschrieben worden wäre, die versuchten, ein funktionales System von »checks and balances« aus dem Nichts aufzubauen. Wie jede Verfassung müssen wir sie an den Garantien messen, die sie bietet. Die Naturmacht, die Boyle und seine zahlreichen wissenschaftlichen Nachkommen gegen Hobbes definieren, und die den stummen Ob-

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jekten - durch die Vermittlung loyaler und disziplinierter wissenschaftlicher Sprecher — zu sprechen erlaubt, bietet eine Hauptgarantie: Nicht die Menschen produzieren die Natur, sie existiert seit eh und je und war schon immer da; wir decken nur ihre Geheimnisse auf. Die politische Macht, wie Hobbes und seine zahlreichen politischen Nachkommen sie gegen Boyle definieren, bringt die Bürger in einer einzigen Stimme zum Sprechen, durch die Ubersetzung/denVerrat eines Souveräns, der lediglich sagt, was sie selbst sagen. Diese Macht bietet eine ebenso wichtige Garantie: Die Menschen, und allein die Menschen bauen die Gesellschaft auf und bestimmen frei über ihr Schicksal. Wenn wir nach Art der modernen politischen Philosophie diese beiden Garantien getrennt betrachten, bleiben sie unverständlich. Wenn die Natur weder von den Menschen noch für sie gemacht ist, bleibt sie fremd, für immer fern und feindlich. Gerade ihre Transzendenz macht sie unzugänglich oder erdrückt uns. Wenn symmetrisch dazu die Gesellschaft nur von den Menschen und für sie gemacht ist, könnte sich der Leviathan, diese künstliche Kreatur, für die wir gleichzeitig Form und Stoff sind, nicht auf den Beinen halten. Gerade ihre Immanenz würde sie sofort in den Krieg aller gegen alle auflösen. Aber diese beiden konstitutionellen Garantien dürfen nicht getrennt behandelt werden, wonach die erste das Nicht-Menschliche der Natur garantiert und die zweite das Menschliche des Sozialen. D e n n sie wurden zusammen geschaffen. Sie halten sich gegenseitig. Die erste und die zweite Garantie dienen sich jeweils als Gegengewicht, als »checks and balances«. Sie sind die beiden Hälften ein und derselben neuen Regierungsform. Wenn wir sie jetzt zusammen und nicht getrennt betrachten, bemerken wir, daß die Garantien sich umkehren. Die Nachfahren Boyles sagen nicht nur, daß die Naturgesetze unserem Zugriff entgehen, sie fabrizieren sie auch im Labor. Trotz der künstlichen Konstruktion in der Vakuu m p u m p e — in der Phase der Vermittlung oder Ubersetzung — entgehen die Fakten jeder menschlichen Fabrikation — in der Phase der Reinigung. Die Nachfahren von Hobbes wiederum behaupten nicht nur, daß die Menschen ihre Gesellschaft aus eigener Kraft schaffen, sondern daß der Leviathan dauerhaft und solide ist, gewaltig und stark, daß er Geschäfte, Erfindungen und Künste mobilisiert und daß der Souverän in seinen H ä n den ein Schwert aus gehärtetem Stahl und ein Szepter aus Gold hält.Trotz seiner menschlichen Konstruktion übersteigt der Leviathan unendlich den

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Menschen, der ihn geschaffen hat, denn er mobilisiert in seinen Poren, Gefäßen und Geweben die unzähligen Güter und Objekte, die ihm Konsistenz und Dauer verleihen. Und dennoch: Trotz dieser durch die Mobilisierung der Dinge erlangten Härte — in der sich die Arbeit der Vermittlung zeigt —, sind wir und allein wir es, die ihn frei und einzig durch die Kraft unserer Berechnung bilden, wir, die armen, nackten und wehrlosen Bürger — worin sich die Arbeit der Reinigung zeigt. Aber diese beiden Garantien widersprechen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selbst, denn jede bemüht gleichzeitig Transzendenz und Immanenz. Boyle und seine zahllosen Nachfolger werden nicht nur die Natur unentwegt künstlich konstruieren, sondern gleichzeitig genauso unentwegt versichern, daß sie sie entdecken. Hobbes und die neu definierten Bürger werden nicht nur unaufhörlich und eifrig den Leviathan durch Kalkül und soziale Kraft konstruieren, sondern gleichzeitig immer mehr Objekte rekrutieren, um ihm Dauer zu verleihen. Lügen sie? Täuschen sie sich? Täuschen sie uns? Nein, denn sie fügen eine dritte konstitutionelle Garantie hinzu: Es soll eine vollkommene Trennung zwischen der Naturwelt — obwohl vom Menschen konstruiert — und der Sozialwelt — obwohl von den Dingen zusammengehalten — geben, außerdem eine totale Trennung zwischen der Arbeit der Hybridisierung und der Arbeit der Reinigung. Die beiden ersten Garantien sind nur solange widersprüchlich, wie die dritte sie nicht für immer voneinander entfernt hat und aus einer allzu offenkundigen Symmetrie zwei widersprüchliche Asymmetrien macht, die von der Praxis zwar aufgelöst, aber nie ausgedrückt werden können. Viele andere Autoren, viele andere Institutionen und viele andere R e gelungen werden nötig sein, um diese Bewegung zu vervollständigen, die im exemplarischen Disput zwischen Hobbes und Boyle vorgezeichnet ist. Aber die Struktur des Ganzen ist jetzt leicht zu erfassen: Diese drei Garantien zusammengenommen werden die Maßstabsveränderung der M o derne erlauben. In der Fabrik ihrer Gesellschaften können die Modernen nun die Natur überall intervenieren lassen, aber ihr weiterhin eine radikale Transzendenz zusprechen; sie können zu den alleinigen Akteuren ihres politischen Geschicks werden, aber ihre Gesellschaft weiterhin durch die Mobilisierung der Natur zusammenhalten. Einerseits wird die Transzendenz der Natur nicht ihre soziale Immanenz verhindern; andererseits wird die Immanenz des Sozialen den Leviathan nicht daran hindern, tran-

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ERSTES PARADOX Die Natur ist nicht unsere Konstruktion: Die Gesellschaft ist unsere freie sie ist transzendent und übersteigt uns Konstruktion: unendlich. sie ist unserem Handeln immanent. ZWEITES PARADOX Die Natur ist unsere künstliche Die Gesellschaft ist nicht unsere Konstruktion im Labor: Konstruktion: sie ist sie ist transzendent und übersteigt uns immanent. unendlich. VERFASSUNG 1. Garantie: Auch w e n n wir die Natur konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie nicht.

2. Garantie: Auch wenn wir die Gesellschaft nicht konstruieren, ist es, als konstruierten wir sie.

3. Garantie: Natur und Gesellschaft müssen absolut getrennt bleiben; die Arbeit der Reinigung m u ß absolut getrennt bleiben von der Arbeit der Vermittlung Abbildung 2: Die Paradoxe von Natur und Gesellschaft

szendent zu bleiben. Man muß gestehen, daß es eine recht geschickte Konstruktion ist, die erlaubt, alles zu tun, ohne durch irgend etwas eingeschränkt zu sein. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Verfassung es erlaubt hat, einige - wie es früher hieß — »Produktivkräfte freizusetzen«...

Die vierte Garantie: der gesperrte Gott Dennoch war eine allzu vollkommene sichtbare Symmetrie zwischen den beiden Garantien der Verfassung zu vermeiden, denn sonst hätten sie nicht voll ausgespielt werden können. Eine vierte Garantie mußte noch die Frage Gottes regeln, ihn für immer aus der doppelten Sozial- und NaturKonstruktion entfernen, wobei er gleichzeitig vorzeigbar und in klingende Münze umsetzbar bleiben mußte. Die Nachfolger Boyles und Hobbes' versuchten sich mit Erfolg an dieser Aufgabe, erstere indem sie die Anwesenheit Gottes in der Natur, letztere indem sie jeden göttlichen Ur-

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sprung der Gesellschaft tilgten. Die Macht der Wissenschaft »war auf diese Hypothese nicht m e h r angewiesen«; u n d die Politiker konnten j e n e n »sterblichen Gott« des Leviathan fabrizieren, ohne sich weiter mit d e m unsterblichen Gott beschäftigen zu müssen, dessen Schrift bereits bei H o b bes vom Souverän n u r m e h r auf allegorische Weise interpretiert wird. N i e mand ist wirklich m o d e r n , w e n n er nicht bereit ist, Gott aus d e m Spiel der Gesetze der N a t u r u n d der Republik zu entfernen. Gott wird z u m gesperrten Gott der Metaphysik, der sich ebenso vom v o r m o d e r n e n Gott der Christen unterscheidet, wie die im Labor konstruierte N a t u r von der alten physis, oder wie die von den Soziologen erfundene Gesellschaft v o m alten anthropologischen Kollektiv, zu d e m auch nicht-menschliche W e sen gehören. Aber eine vollständige E n t f e r n u n g Gottes hätte die M o d e r n e n einer kritischen Ressource beraubt, die geeignet war, ihr Dispositiv zu vervollständigen. Die Zwillingswesen N a t u r u n d Gesellschaft hätten i m Leeren gehangen, o h n e daß im Konfliktfall zu entscheiden gewesen wäre, welche der beiden Regierungshälften die O b e r h a n d behalten sollte. Schlimm e r noch, ihre Symmetrie wäre allzu deutlich in Erscheinung getreten. W e n n ich mit der zweckmäßigen Fiktion fortfahren darf, daß diese Verfassung der M o d e r n e von bewußten Akteuren geschrieben wird, die mit Willen, Weitblick und Klugheit begabt sind, dann sieht es so aus, als hätten die M o d e r n e n den gesperrten Gott auf dieselbe Weise verdoppelt wie N a t u r u n d Gesellschaft. Seine Transzendenz entfernte ihn unendlich, so daß er weder das freie Spiel der N a t u r noch der Gesellschaft störte, aber man behielt sich trotzdem vor, diese Transzendenz anrufen zu k ö n n e n , falls die Gesetze der N a t u r mit denen der Gesellschaft in Konflikt geraten sollten. So konnte der m o d e r n e Mensch atheistisch sein und religiös bleiben. Er konnte in die materielle Welt einfallen, frei die Sozialwelt n e u schaffen u n d brauchte sich trotzdem nicht als von Gott und der Welt verlassenes demiurgisches Waisenkind zu fühlen. Die alten theologischen T h e m e n der Christen werden einer N e u interpretation unterzogen, mit der sich gleichzeitig die Transzendenz G o t tes und seine Immanenz mobilisieren läßt. Aber die lange Arbeit der R e formation im 16. Jahrhundert hätte ganz andere Ergebnisse gezeitigt, wäre sie nicht im 17. Jahrhundert mit j e n e r anderen Arbeit verwoben worden, die sich der gemeinsamen Erfindung der wissenschaftlichen Fakten u n d der Bürger w i d m e t e (Eisenstein 1979). Die Spiritualität w u r d e n e u er-

Die vierte Garantie: der gesperrte Gott

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funden, d. h. die Einkehr des allmächtigen Gottes ins Innerste jedes einzelnen, ohne daß dieser Gott im Äußeren in irgendeiner Weise eingriff. Eine ganz individuelle und spirituelle Religion erlaubte es, den beherrschenden Einfluß der Wissenschaft wie der Gesellschaft zu kritisieren, ohne sich zu verpflichten, Gott in die eine oder andere hineingelangen zu lassen. Damit war es den Modernen möglich, weltlich und fromm zugleich zu sein (Weber [1905] 1993). Diese letzte konstitutionelle Garantie wurde nicht durch einen höchsten Gott gegeben, sondern durch einen abwesenden, auch wenn seine Abwesenheit nicht daran hinderte, bei Bedarf im Innersten des Herzens über ihn zu verfugen. Seine Position wurde buchstäblich ideal, denn er wurde zweimal ausgeklammert: einmal in der Metaphysik, ein zweites Mal in der Spiritualität. Er sollte die Entwicklung der Modernen nicht mehr im geringsten stören, während er gleichzeitig wirkungsvoll und hilfreich blieb — doch nur im Geist der Menschenwesen. Dreimal Transzendenz und dreimal Immanenz in einem gekreuzten Schema, das alle Möglichkeiten einschließt — hier liegt die Macht der M o dernen. Sie haben die Natur nicht gemacht; sie machen die Gesellschaft; sie machen die Natur; sie haben die Gesellschaft nicht gemacht; sie haben weder die eine noch die andere gemacht, Gott hat alles gemacht; Gott hat nichts gemacht, sie haben alles gemacht. Man versteht die M o dernen nicht, wenn man nicht sieht, daß die vier Garantien sich gegenseitig als checks and balances dienen. Die beiden ersten erlauben, die Machtquellen alternieren zu lassen; mühelos geht man von der reinen Naturkraft zur reinen politischen Kraft über, und umgekehrt. Die dritte Garantie verbietet jede Kontamination zwischen den Bereichen von Natur und Politik, während die beiden ersten Garantien gerade den schnellen Wechsel vom einen zum anderen erlauben. Ist der Widerspruch zwischen der dritten, die trennt, und den beiden ersten, die den Wechsel ermöglichen, zu deutlich sichtbar? Nein, denn die vierte konstitutionelle Garantie setzt einen unendlich fernen Gott als Schiedsrichter ein, einen Gott, der vollkommen ohnmächtig und gleichzeitig souveräner Richter ist. Wenn dieser Grundriß der Verfassung stimmt, hat die Moderne nichts zu tun mit der Erfindung des Humanismus, mit dem Aufkommen der Wissenschaften, mit der Säkularisierung der Gesellschaft oder der Mechanisierung der Welt. Ihre Originalität und Stärke rührt von der gemeinsamen Produktion dieser drei Transzendenz- und Immanenzpaare her, die

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eine lange Geschichte hat; in den Gestalten von Hobbes und Boyle habe ich nur eine Etappe daraus dargestellt. Der springende Punkt ist folgender: Die Arbeit der Vermittlung, in der die Hybriden zusammengesetzt werden, wird von der modernen Verfassung unsichtbar, unvorstellbar, u n denkbar gemacht. Schränkt diese fehlende Repräsentation aber in irgendeiner Weise die Arbeit der Vermittlung ein? Nein, denn die moderne Welt würde auf der Stelle aufhören zu funktionieren, weil sie wie alle anderen Kollektive von der Vermischung lebt. Im Gegenteil, und hieran sieht man die Schönheit der Vorrichtung: Die moderne Verfassung erlaubt gerade die immer zahlreichere Vermehrung der Hybriden, während sie gleichzeitig deren Existenz, ja sogar Möglichkeit leugnet. Dreimal hintereinander wird auf denselben Wechsel zwischen Transzendenz und Immanenz gesetzt; damit ist es möglich, die Natur zu mobilisieren, das Soziale zu verdinglichen und die geistige Anwesenheit Gottes zu empfinden. U n d gleichzeitig wird unerschütterlich daran festgehalten, daß die Natur uns entgeht, die Gesellschaft unser Werk ist und Gott nicht eingreift. Wer hätte einer solchen K o n struktion widerstehen können? Es müssen wirklich unglaubliche Ereignisse diesen mächtigen Mechanismus geschwächt haben, damit ich ihn heute mit dieser Distanz beschreiben kann und mit dieser Sympathie des Ethnologen für eine Welt, die im Begriff ist zu verschwinden.

Die Macht der modernen Kritik Gerade im Moment, wo die kritischen Fähigkeiten der Modernen verblassen, ist es angebracht, ein letztes Mal ihre ungeheure Wirksamkeit zu ermessen. Befreit von der religiösen Hypothek wurden die Modernen fähig, den Obskurantismus der alten Mächte zu kritisieren; sie enthüllten die materielle Kausalität, die jene Mächte verhüllten — auch wenn diese Kausalität von ihnen selbst in der künstlichen Abgeschlossenheit des Labors erfunden wurde. Mit Hilfe der Naturgesetze konnte die erste Aufklärung die unbegründeten Einbildungen der menschlichen Vorurteile zerstören. Mit diesem neuen kritischen Werkzeug sah man in den Hybriden früherer Zeiten nur noch illegitime Mischungen, die geläutert werden mußten, indem man die Naturmechanismen von den Leidenschaften, Interessen oder der Unkenntnis der Menschen schied. Alle Gedanken aus früherer

Die Macht der modernen Kritik

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Zeit wurden nacheinander unbrauchbar oder ungenau. Oder vielmehr definierte bereits die bloße Anwendung der modernen Verfassung im K o n trast ein »Früher«, das absolut verschieden war vom Heute. Die Finsternis der früheren Zeiten, wo soziale Bedürfnisse und Naturwirklichkeit, B e deutungen und Mechanismen, Zeichen und Dinge unberechtigterweise vermengt worden waren, machte einer leuchtenden Morgenröte Platz, in der endlich klar zu trennen war zwischen der materiellen Kausalität und der menschlichen Phantasie. Die Naturwissenschaften definierten nun, was die Natur war, und jede neu entstehende wissenschaftliche Disziplin wurde als eine totale Revolution erlebt, mit der man sich endlich von der vorwissenschaftlichen Vergangenheit, vom Anden Régime losriß. N i e mand ist modern, der nicht die Schönheit dieser Morgenröte empfunden und angesichts ihrer Versprechen gebebt hat. Aber die moderne Kritik stützte sich nicht nur auf die Natur, um die menschlichen Vorurteile zu zerschlagen. Bald ging sie auch in umgekehrter Richtung vor und stützte sich auf die frisch gegründeten Gesellschaftswissenschaften, um mit ihrer Hilfe die Auswüchse der Naturalisierung zu kritisieren. Dies war die zweite Aufklärung, die des 19. Jahrhunderts. Mit der genauen Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Gesetze ließen sich nun nicht allein die Vorurteile des üblichen Obskurantismus entlarven, sondern auch die neuen Vorurteile, die auf die Naturwissenschaften zurückgingen. Die Spreu der Ideologie vom Weizen der Wissenschaft zu trennen wurde zum Motto von Generationen wohlmeinender Modernisierer. In den Mischwesen der ersten Aufklärung sah nun die zweite nur eine inakzeptable Vermengung, die zu läutern war, indem der Anteil der D i n ge sorgfältig vom Anteil geschieden wurde, der auf die Funktionsweise der Ökonomie, des Unbewußten, der Sprache oder der Symbole zurückging. Alle Gedanken von früher — auch die mancher Wissenschaften — wurden nun ihrerseits unbrauchbar oder ungenau. Oder vielmehr: Eine Folge radikaler Revolutionen schuf im Kontrast ein finsteres »Früher«, das die leuchtende Morgenröte der Sozialwissenschaften bald verscheucht haben würde. Endlich waren die Fallstricke der Naturalisierung und der wissenschaftlichen Ideologie entwirrt. Niemand ist modern, der nicht diese Morgenröte erhofft und angesichts ihrer Versprechen gebebt hat. Bald wurde es den unbesiegbaren Modernen sogar möglich, die beiden kritischen Bewegungen zu kombinieren. Sie zogen die Naturwissenschaften heran, um die unbegründeten Ambitionen der Macht zu entlar-

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ven, und benutzten die Gewißheiten der Humanwissenschaften, um die unbegründeten Ambitionen der Naturwissenschaften und des Szientismus zu kritisieren. Das totale Wissen war endlich in greifbare Nähe gerückt. Der Marxismus schien nicht zuletzt deshalb so lange unangreifbar, weil er die beiden mächtigsten Ressourcen, die je von der Kritik entwickelt wurden, kreuzte und für immer zusammenschloß (Althusser 1993). Er machte es möglich, den Wahrheitsanteil der Naturwissenschaften und der Sozialwissenschaften zu bewahren, indem er ihren verfehmten Teil, ihre Ideologie, sorgfaltig beseitigte. Er erschöpfte - und zwar in der doppelten Bedeutung des Wortes, wie man bald erfahren sollte — alle Hoffungen der ersten und der zweiten Aufklärung. Die erste Unterscheidung zwischen materieller Kausalität und obskurantistischen Illusionen und die zweite zwischen Wissenschaft und Ideologie sind auch heute noch die beiden Hauptquellen der modernen Empörung. Freilich können die heutigen Kritiker nicht länger die Diskussion in der Art der Marxisten abriegeln, und deren kritisches Kapital ist jetzt auf Millionen von Kleinaktionären verteilt. Wer niemals diese doppelte kritische Macht in sich gespürt hat oder nie besessen war von der Unterscheidung zwischen R a tionalität und Obskurantismus, zwischen falscher Ideologie und wahrer Wissenschaft, ist nie modern gewesen. Gestützt auf die transzendentale Gewißheit der Naturgesetze, kann der Moderne irrationale Glaubenslehren und unrechtmäßige Herrschaft kritisieren und entlarven, anprangern und dagegen aufbegehren. Gestützt auf die Gewißheit, daß der Mensch sein Schicksal selbst gestaltet, kann er Kritik und Entlarvung, Anprangerung und Aufbegehren gegen die irrationalen Glaubenslehren, die wissenschaftlichen Ideologien und die unrechtmäßige Herrschaft der Experten richten, wenn diese dem Handeln und der Freiheit Schranken setzen wollen. Aber allein die Transzendenz einer Natur, die nicht unser Werk ist, und die Immanenz einer Gesellschaft, die durch und durch unser Werk ist, würden die Modernen paralysieren. Den Dingen gegenüber wären sie zu ohnmächtig und in der Gesellschaft zu mächtig. Welcher gewaltige Vorteil, ohne den geringsten Anschein eines Widerspruchs die Prinzipien umkehren zu können! Trotz ihrer Transzendenz bleibt die Natur mobilisierbar, humanisierbar, sozialisierbar. Die Laboratorien, die Archive, die Rechen- und Profitzentren, die wissenschaftlichen Institute und Forschungsbüros vermengen sie Tag für Tag mit den vielfachen Geschicken dieser und jener gesellschaftlichen

Die Unbesiegbarkeit der Modernen Ausgangspunkt

Kritische Möglichkeit

Transzendenz der Natur

Wir vermögen nichts gegen die Naturgesetze

Immanenz der Natur

Unbegrenzte Möglichkeiten

Immanenz der Gesellschaft

Wir sind vollkommen frei

Transzendenz der Gesellschaft

Wir vermögen nichts gegen die

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gesellschaftlichen Gesetze Abbildung 3: Ausgangspunkte kritischer Möglichkeiten

Gruppen. Umgekehrt: Auch wenn wir die Gesellschaft durch und durch konstruieren, dauert sie, übersteigt sie uns, beherrscht sie uns, hat sie ihre Gesetze, ist sie ebenso transzendent wie die Natur. Denn die Laboratorien, die Archive, die Rechen- und Profitzentren, die wissenschaftlichen Institute und Forschungsbüros setzen Tag für Tag dem Handeln und der Freiheit der sozialen Gruppen Schranken und verwandeln die menschlichen Beziehungen in dauerhafte Dinge, die niemand geschaffen hat. In dieser doppelzüngigen Sprache liegt die kritische Macht der Modernen: Sie können die Natur inmitten der sozialen Beziehungen mobilisieren und trotzdem unendlich von den Menschen entfernt halten; sie sind frei, ihre Gesellschaft zu schaffen und abzuschaffen, und machen trotzdem aus den gesellschaftlichen Gesetzen etwas Unausweichliches, Notwendiges und Absolutes.

Die Unbesiegbarkeit der Modernen Gerade weil ihre Verfassung an die totale Trennung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen glaubt und gleichzeitig diese Trennung annulliert, sind die Modernen unbesiegbar geworden. Wenn man sie kritisiert und sagt, daß die Natur eine von Menschenhand konstruierte Welt ist, beweisen sie einem, daß die Natur transzendent ist, daß die Wissenschaft nur einen indirekten Zugang zu ihr darstellt und niemand die Natur als solche anrührt. Sagt man ihnen, daß die Gesellschaft transzendent ist und die gesellschaftlichen Gesetze uns unendlich übersteigen, so antworten sie, daß wir frei sind und unser Schicksal in unserer Hand liegt. Wendet man ein, daß sie doppelzüngig sind, beweisen sie einem, daß Na-

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turgesetze und unantastbare menschliche Freiheit von ihnen immer auseinandergehalten werden. Glaubt man ihnen und wendet seine Aufmerksamkeit ab, so profitieren sie davon, um Tausende von Naturobjekten in den Gesellschaftskörper einströmen zu lassen und diesem damit die Festigkeit von Naturgegenständen zu verschaffen. Dreht man sich plötzlich um, wie bei dem Kinderspiel »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, so erstarren sie auf der Stelle, als hätten sie sich nie bewegt: zur Linken die Dinge als solche, zur Rechten die freie Gesellschaft sprechender und denkender Subjekte, die Werte und Zeichen. Alles spielt sich in der Mitte ab, alles passiert zwischen den beiden Polen, alles geschieht durch Vermittlung, Übersetzung und Netze, aber dieser Ort in der Mitte existiert nicht, dafür ist kein Platz vorgesehen. Hier liegt das Ungedachte, das U n bewußte der Modernen. Wie könnte man die Kollektive besser ausweiten als durch Verbündung mit der Transzendenz der Natur und der totalen menschlichen Freiheit, während man sich gleichzeitig die Natur einverleibt und die Spielräume der Freiheit absolut begrenzt? Denn das erlaubt, alles zu tun - und sein Gegenteil. Die Indianer täuschten sich nicht, als sie die Weißen anklagten, mit gespaltener Zunge zu reden. Die Modernen hatten zwar die politischen Kräfteverhältnisse von den wissenschaftlichen Begründungszusammenhängen getrennt, aber stets die Macht auf die Begründung und die Begründung auf die Macht gestützt. Dadurch hatten sie immer zwei Eisen im Feuer. Sie wurden unbesiegbar. Ihr glaubt, daß der Donner eine Gottheit ist? Die Kritik wird euch zeigen, daß er von bloßen physikalischen Mechanismen erzeugt wird, die keinen Einfluß auf den Lauf der Menschenwelt haben. Ihr seid in einer traditionellen Ökonomie steckengeblieben? Die Kritik wird euch zeigen, daß die physikalischen Mechanismen den Lauf der Menschenwelt durch die Mobilisierung gigantischer Produktivkräfte umstürzen können. Ihr denkt, daß die Geister der Ahnen euch für immer in ihrem Bann halten? Die Kritik wird euch zeigen, daß ihr euch Geister und Gesetze selbst gegeben habt, daß die geistige Welt eine menschliche, allzu menschliche Konstruktion ist. Dann denkt ihr, daß ihr alles machen und eure Gesellschaft entwickeln könnt, wie ihr wollt? Die Kritik wird euch zeigen, daß die ehernen Gesetze der Gesellschaft und Ökonomie sehr viel unbeugsamer sind als die der Ahnen. Ihr empört euch, daß man die Welt mechanisiert? Die Kritik wird euch vom Schöpfergott erzählen, dem alles ge-

Die Unbesiegbarkeit der Modernen

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hört und der dem Menschen alles gab. Ihr empört euch, daß die Gesellschaft verweltlicht ist? Die Kritik wird euch zeigen, daß die Geistigkeit dadurch befreit wird und eine vollkommen geistige Religion wirklich überlegener ist. Ihr haltet euch für religiös? Die Kritik wird sich über euch totlachen! Wie hätten die anderen Naturen/Kulturen widerstehen können? Sie wurden im Kontrast vor-modern. Sie hätten sich der transzendenten Natur widersetzen können oder der immanenten Natur oder der von Menschenhand geschaffenen Gesellschaft oder der transzendenten Gesellschaft oder dem fernen Gott oder dem inneren Gott, aber wie hätte man der Kombination dieser sechs Ressourcen widerstehen können? Oder vielmehr, man hätte es gekonnt, wenn die sechs Ressourcen der Kritik zusammen als eine einzige Operation sichtbar gewesen wären, so, wie ich sie heute nachzeichne. Aber sie schienen getrennt, miteinander in Konflikt, ein Durcheinander verschiedener sich zankender Regierungsressorts, von denen jedes sich auf andere Grundlagen berief. Außerdem wurde all diesen kritischen Ressourcen der Reinigung sofort von der Vermittlungpraxis widersprochen, ohne daß dieser Widerspruch den geringsten Einfluß auf die Verschiedenheit der Machtquellen oder ihre veborgene Einheit gehabt hätte. Eine solche Überlegenheit und Originalität ließ die Modernen die letzten Vorbehalte vergessen, die ihre Expansion noch hätten aufhalten können. Jahrhundert um Jahrhundert, Kolonialreich um Kolonialreich wurden die armen vormodernen Kollektive angeklagt, Dinge und Menschen, Objekte und Zeichen in einem unerträglichen Maße zu vermengen, während ihre Ankläger sie endlich vollkommen trennten — um sie sogleich in einer bislang unbekannten Größenordnung neu zu vermengen. Die M o dernen weiteten diese Große Trennung außerdem auf die Zeit aus, nachdem sie sie im Raum ausgebreitet hatten. So konnten sie sich endlich von den lächerlichen Zwängen ihrerVergangenheit befreit fühlen, die verlangt hatten, das feine Gespinst der Beziehungen zwischen Menschen und Dingen zu berücksichtigen. Gleichzeitig zogen sie jedoch sehr viel mehr Dinge und sehr viel mehr Menschen in ihre Netze. Man kann sie nicht einmal anklagen, ungläubig zu sein. Sagt man ihnen, daß sie Atheisten sind, erzählen sie einem vom allmächtigen Gott, der unendlich entfernt im Jenseits ist. Sagt man ihnen, daß dieser unzugängliche Gott sehr merkwürdig ist, antworten sie, daß er im Innersten

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des Herzens zu uns spricht und daß sie trotz ihrer Wissenschaft und Politik nie aufgehört haben, moralisch und fromm zu sein. Wundert man sich über eine Religion, die keinerlei Einfluß auf den Gang der Welt oder der Gesellschaft ausübt, sagen sie einem, daß eine solche Religion beide richtet. Verlangt man, diese Urteile zu lesen, wenden sie ein, daß die Religion Wissenschaft und Politik unendlich übersteigt und nicht beeinflussen kann oder daß die Religion eine soziale Konstruktion ist oder die Auswirkung von Nervenzellen! Was kann man darauf noch sagen? Sie halten alle Machtquellen in der Hand, alle kritischen Möglichkeiten, aber sie verschieben sie von Instanz zu Instanz mit einer solchen Schnelligkeit, daß es nie möglich ist, sie auf frischer Tat zu ertappen. Ja, gewiß, sie sind, sie waren unbesiegbar, sie waren beinahe unbesiegbar, sie haben sich flir unbesiegbar gehalten.

Was die Verfassung erhellt und was sie verdunkelt Und doch hat es die moderne Welt nie gegeben, das heißt, sie hat nie ausschließlich nach den Regeln ihrer offiziellen Verfassung funktioniert. Sie ist nie darin aufgegangen, die drei Seinsregionen, von denen ich sprach, zu trennen und die sechs Ressourcen der Kritik getrennt in Anspruch zu nehmen. Neben den Reinigungspraktiken gab es immer auch eine Ubersetzungspraxis, die sich davon unterschied. Oder vielmehr ist gerade dieser Unterschied in der Verfassung festgeschrieben, denn das doppelte Spiel zwischen Transzendenz und Immanenz dieser drei Instanzen erlaubt, alles zu tun und sein Gegenteil. Keine andere Verfassung hat in der Praxis einen solchen Handlungsspielraum gelassen. Für diese Freiheit war jedoch ein Preis zu entrichten: Die Modernen blieben unfähig, sich in Kontinuität mit den Vormodernen zu denken. Sie mußten sich für absolut verschieden halten, sie mußten die Große Trennung erfinden, weil die ganze Vermittlungsarbeit aus dem konstitutionellen Rahmen fällt, der sie zwar vorzeichnet, aber ihr Vorhandensein leugnet. So formuliert, gleicht das moderne Dilemma fast einer Verschwörung, die ich nun aufdecke. Ein falsches Bewußtsein hätte die Modernen gezwungen, sich eine Verfassung auszudenken, die sie nie hätten anwenden können. Sie würden genau das praktizieren, was sie nicht aussprechen dürfen. Die moderne Welt wäre mit Lügnern und Schwätzern bevölkert.

Was die Verfassung erhellt und was sie verdunkelt

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Schlimmer noch: Wenn ich versuchte, ihre Illusionen zu enthüllen, ihre wirkliche Praxis aufzudecken, ihren unbewußten Glauben zu ergründen, ihr doppelzüngiges Reden zu entlarven, würde ich tatsächlich eine sehr moderne Rolle spielen, indem ich meinen Platz in einer langen Reihe von Kritikern und Demaskierern einnehme. Die Beziehung zwischen Reinigung und Vermittlung ist jedoch eine andere als die zwischen Bewußtem und Unbewußtem, Offiziellem und Informellem, Sprache und Praxis, Illusion und Realität. Ich behaupte nicht, daß die Modernen nicht wissen, was sie tun. Ich sage nur, daß ihr Tun - Innovationen in einem großen Maßstab in der Produktion von Hybriden - nur möglich ist, weil sie eisern an der Dichotomie zwischen Natur- und Gesellschaftsordnung festhalten. Diese Dichotomie wiederum ist nur möglich, weil Reinigungsarbeit undVermittlungsarbeit nie zusammen betrachtet werden. Es ist kein falsches Bewußtsein im Spiel, denn die Modernen thematisieren beide Aufgaben, es geht ihnen um die obere und untere Hälfte der modernen Verfassung. Ich fuge lediglich die Beziehung zwischen diesen beiden Ensembles von Praktiken hinzu. Ist die Moderne also eine Illusion? Nein, sie ist sehr viel mehr als eine Illusion und sehr viel weniger als eine Wesenheit. Sie ist eine Kraft, die zu anderen Kräften hinzutritt, welche lange Zeit von ihr repräsentiert, beschleunigt oder zusammengefaßt werden konnten. Das gelingt heute jedoch nicht mehr. Die hier vorgeschlagene Revision ist mit jener vergleichbar, der man seit zwanzig Jahren die Französische Revolution unterzieht; beide Revisionen sind im übrigen ein und dieselbe, wie wir noch sehen werden. Seit den 70er Jahren haben die französischen Historiker endlich verstanden, daß die revolutionäre Lektüre der Revolution zu den damaligen Ereignissen hinzugefugt wird und die Geschichtsschreibung seit 1789 organisiert, aber die Ereignisse selbst nicht definiert (Füret 1980). Wie Füret vorschlägt, muß man genau unterscheiden zwischen der »Revolution als Modalität der Veränderung, als besondere Dynamik kollektiven Handelns« und der »Revolution als geschichtlichem Prozeß«. Die Ereignisse von 1789 waren nicht revolutionärer als die moderne Welt modern gewesen ist. Die Akteure und Chronisten von 1789 haben den Begriff der Revolution benutzt, um zu verstehen, was mit ihnen geschah, und um ihr Schicksal zu beeinflussen. Genauso existiert und agiert die moderne Verfassung sehr wohl in der Geschichte, aber sie definiert nicht länger, was mit uns geschehen ist. Die Moderne wartet immer noch auf

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ihren Tocqueville und die wissenschaftlichen Revolutionen auf ihren François Furet. So ist die Moderne nicht das falsche Bewußtsein der Modernen, und wir müssen darauf achten, daß wir der Verfassung - wie der Idee der R e volution - nicht ihre eigentümliche Wirksamkeit absprechen. Denn sie hat die Vermittlungsarbeit nicht beseitigt, sondern im Gegenteil erlaubt, sie zu steigern. Genauso wie die Idee der Revolution die Revolutionäre dazu antrieb, unwiderrufliche Entscheidungen zu treffen, welche sie sich sonst nicht zugetraut hätten, gab die Verfassung den Modernen den Mut, Dinge und Menschen in einer Größenordnung zu mobilisieren, die sie sich sonst untersagt hätten. Diese Maßstabsveränderung war nicht, wie die Modernen glaubten, Resultat der Trennung, sondern der verstärkten Vermischung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen. Diese Steigerung wiederum wird gefördert durch die Idee einer transzendenten Natur — vorausgesetzt, sie bleibt mobilisierbar —, die Idee einer freien Gesellschaft — vorausgesetzt, sie bleibt transzendent — und durch die Abwesenheit jeglicher Gottheit — vorausgesetzt, Gott spricht zum Herzen. Solange die Gegensätze gleichzeitig präsent und undenkbar bleiben und die Vermittlungsarbeit die Hybriden vervielfacht, ermöglichen diese drei Ideen die Kapitalisierung in großem Maßstab. Die Modernen fuhren den Erfolg einer solchen Expansion darauf zurück, daß sie Natur und Gesellschaft sorgfältig getrennt haben (und Gott ausgeklammert), während sie es dahin nur brachten, weil sie sehr viel größere Massen von Menschen und nicht-menschlichen Wesen mischten, ohne irgendetwas auszuklammern und sich irgendeine Kombination zu versagen. Die Verbindung von Reinigungs- und Vermittlungsarbeit hat die Modernen hervorgebracht, aber nur in ersterer sehen sie die Ursache ihres Erfolges. Damit enthülle ich keine Praxis, die unter einer offiziellen Lesart verborgen liegt, sondern ergänze die obere Hälfte der Verfassung um die untere. Beide zusammen sind notwendig, aber solange wir modern waren, sollten sie ganz einfach nicht als eine einzige und zusammenhängende Konfiguration erscheinen. Sind sich die Modernen also dessen bewußt, was sie tun, oder nicht? Dieses Paradox ist vielleicht nicht so schwer aufzulösen, wenn wir uns ansehen, was die Anthropologen uns von den Vormodernen erzählen. Wenn man sich an Hybridbildungen macht, ist es immer notwendig zu glauben, daß sie keine gravierenden Auswirkungen auf die Ordnung der

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Was die Verfassung erhellt und was sie verdunkelt

Verfassung haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu gewährleisten. Die erste besteht darin, die engen Verbindungen zwischen Gesellschafts- und Naturordnung gründlich zu durchdenken, so daß nicht leichtsinnig irgendeine gefährliche Hybride eingeführt wird. Die zweite besteht darin, sowohl das Werk der Hybridisierung als auch die duale Ordnung von Natur und Gesellschaft völlig auszuklammern. Während die Modernen sich absichern, indem sie die Folgen ihrer Innovationen für die Gesellschaftsordnung außer acht lassen, sind die Vormodernen, wenn wir den Anthropologen Glauben schenken, fortwährend mit dem sorgfältigen Durchdenken der Verbindungen zwischen Natur und Kultur beschäftigt. U m es vereinfacht zu sagen: Wer am meisten über Hybriden nachdenkt, verbietet sie soweit wie möglich; wer sie dagegen ignoriert, indem er alle gefährlichen Konsequenzen ausblendet, entwickelt sie, soweit er kann. Die Vormodernen sind im Grunde alle Monisten in der Konstitution ihrer Naturen/Kulturen (Lévi-Strauss [1952] 1987), und daher verbieten sie sich zu praktizieren, was ihre Vorstellungen gerade zu erlauben scheinen. »Der Eingeborene ist ein logischer Schatzbildner«, schreibt Lévi-Strauss, »unablässig verknüpft er die Fäden, unaufhörlich zieht er alle Aspekte des Realen zusammen, seien diese nun physischer, sozialer oder geistiger Art« (Lévi-Strauss 1973, S. 307). Gerade dadurch, daß die Vormodernen die Mischwesen aus Göttlichem, Menschlichem und Natürlichem mit Begriffen sättigen, schränken sie ihre Expansion in der Praxis ein. Die U n möglichkeit, die gesellschaftliche Ordnung zu ändern, ohne gleichzeitig die Naturordnung zu verändern, und umgekehrt, zwingt sie von jeher zu allergrößter Vorsicht. Jedes Monstrum wird sichtbar und denkbar und bedeutet explizit schwerwiegende Probleme für die gesellschaftliche Ordnung, den Kosmos oder die göttlichen Gesetze (Horton 1967, Horton 1982). »Die Homöostasie der >kalten Gesellschaftern Amazoniens«, schreibt beispielsweise Descola über die Achuar, »wäre demnach weniger das Resultat einer stillschweigenden Verweigerung der politischen Entfremdung, wie Clastres sie >den Wilden< zuschrieb. (Clastres 1976) Sie würde vielmehr aus dem Trägheitseffekt eines Denksystems resultieren, in d e m sich der Sozialisierungsprozeß vorstellen läßt als vermittelt

über Kategorien,

der Natur

nicht anders

die vorgeben, wie die

wirkli-

che Gesellschafi funktionieren soll. Im Unterschied zum übereilten tech-

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nologischen Determinismus, mit dem evolutionistische Theorien oft durchtränkt sind, kann man hier davon ausgehen, daß die Transformation der materiellen Basis einer Gesellschaft bedingt ist durch eine vorgängige Umwandlung der Formen gesellschaftlicher Organisation, die als begriffliches Grundgerüst für die materielle Produktionsweise dienen« (Descola 1986, S. 405, Hervorhebungen von mir). Was unsere Verfassung dagegen autorisiert, ist die beschleunigte Sozialisierung nicht-menschlicher Wesen, weil sie diesen nie erlaubt, als Elemente der »wirklichen Gesellschaft« in Erscheinung zu treten. Die M o d e r n e n haben die Mischwesen undenkbar gemacht. Die sich in der Mitte ihrer drei Instanzen öffnende Arena haben sie entleert, gefegt, gesäubert und gereinigt. Dadurch konnte die Vermittlungspraxis alle möglichen M o n stren kombinieren, ohne daß diesen irgendeine Auswirkung auf die Fabrik der Gesellschaft zugestanden wurde, ja nicht einmal Kontakt mit ihr. W i e bizarr diese Monstren auch sein mochten - sie stellten kein Problem dar, denn sozial gesehen existierten sie nicht, und ihre monströsen Folgewirkungen waren niemandem zuzuschreiben. Was die Vormodernen sich immer verboten haben, können die Modernen sich erlauben, da bei ihnen die Gesellschaftsordnung der Naturordnung niemals Punkt für Punkt entspricht. Die Luftpumpe Boyles zum Beispiel könnte als recht beängstigende Chimäre erscheinen, denn sie produziert künstlich ein Laboratoriumsvakuum, mit dem sich sowohl die Gesetze der Natur, als auch das Handeln Gottes und die Regelung der Dispute im England der Glorious Revolution definieren lassen. Wie H o r t o n es sieht, hätte das wilde Denken sofort ihre Gefahr gebannt. Im England des 17. Jahrhundert dagegen werden K ö nigtum, Natur und Theologie mittels des Labors und der wissenschaftlichen Gemeinschaft konstruiert. Z u den Akteuren, die England bevölkern, tritt nun die Elastizität der Luft hinzu. U n d dennoch wirft die Rekrutierung dieses neuen Verbündeten keinerlei Probleme auf, weil es keine C h i märe gibt, weil nichts Monströses geschehen ist, weil man nichts weiter tut, als die Gesetze der Natur zu entdecken. »Weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen.« Das Ausmaß der Mobilisierung ist proportional zur U n möglichkeit, ihre Beziehungen zur Gesellschaftsordnung zu denken. Je weniger die Modernen sich für gemischt halten, desto mehr vermischen sie. Je mehr die Wissenschaft nach absoluter Reinheit strebt, desto inniger ist sie mit der Fabrik der Gesellschaft verbunden. Die moderne Ver-

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fassung beschleunigt und erleichtert die Entfaltung der Kollektive, aber erlaubt nicht, sie zu denken; denn diese bestehen im Unterschied zu Gesellschaften nicht nur aus sozialen Beziehungen.

Das Ende der Denunziation Wenn ich behaupte, daß die Verfassung, um wirksam zu sein, ignorieren muß, was sie erlaubt, praktiziere gewiß auch ich eine »Enthüllung«. Allerdings zielt diese nicht mehr auf dieselben Objekte wie die moderne Kritik und wird auch nicht mehr von denselben Beweggründen getragen. Solange wir noch guten Gewissens der modernen Verfassung zustimmten, erlaubte sie die Regelung aller Dispute und diente als Grundlage für den kritischen Geist. Sie lieferte dem einzelnen die Legitimation für seine Attacken und Enthüllungsoperationen. Aber wenn die ganze Verfassung jetzt nur noch als eine Hälfte erscheint, die ihre andere Hälfte nicht mehr begreifen kann, dann ist die Grundlage der Kritik selbst nicht mehr gesichert. Ich versuche also den schwierigen Schachzug, die moderne Verfassung zu enthüllen, ohne auf die moderne Form der Entlarvung zurückzugreifen. Damit trage ich dem unbestimmten und unangenehmen Gefühl Rechnung, daß wir seit einiger Zeit nicht nur zur Modernisierung, sondern auch zur Denunziation unfähig sind. Die Grundlage für eine kritische Einstellung scheint uns entglitten zu sein. Weil die moderne Empörung ihren Schwung mal aus der Natur bezog, mal aus der Gesellschaft, dann wieder aus Gott, und hartnäckig die Transzendenz jedes dieser drei Begriffe seiner Immanenz entgegensetzte, fand sie sich immer wieder gestärkt. Was wäre ein Moderner, der sich nicht mehr auf die Transzendenz der Natur stützte, um den Obskurantismus der Macht zu kritisieren? Auf die Immanenz der Natur, um die Trägheit der Menschenwesen zu kritisieren? Auf die Immanenz der Gesellschaft, um die Unterwerfung der Menschen und die Gefahren des Naturalismus zu kritisieren? Auf die Transzendenz der Gesellschaft, um die menschliche Illusion einer individuellen Freiheit zu kritisieren? Auf die Transzendenz Gottes, um Berufung einzulegen gegen das Urteil der Menschen und die Widerspenstigkeit der Dinge? Auf die Immanenz Gottes, um die etablierten Kirchen, die naturalistischen Glaubensformen und sozialistischen Träume zu kritisieren? Das wäre ein sehr armseliger M o -

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derner, oder aber er wäre postmodern: I m m e r getrieben v o m heftigen Wunsch zu denunzieren, hätte er nicht m e h r die Kraft, an die Legitimität eines dieser sechs Gerichtshöfe zu glauben. E i n e m M o d e r n e n seine E m p ö r u n g wegzunehmen, heißt offenbar, ihn j e d e r Selbstachtung zu berauben. D e m kritischen Intellektuellen die Grundlagen seiner Denunziation zu entziehen, heißt offenbar, ihm j e d e n G r u n d z u m Leben zu n e h m e n . H a b e n wir nicht den Eindruck, das Beste unserer selbst zu verlieren, w e n n wir die bereitwillige Z u s t i m m u n g zur Verfassung aufgeben? Lag hier nicht der U r s p r u n g unserer Energie, unserer moralischen Kraft, unserer D é o n tologie? Luc Boltanski und Laurent Thévenot haben die m o d e r n e Denunziatio n ihrer Grundlage beraubt — in einem Buch, das für diesen Essay ebenso wichtig ist wie das von Shapin und Schaffer. Was François Furet fiir die Französische Revolution geleistet hat, haben sie für die kritische E m p ö r u n g getan. »Die Französische Revolution ist beendet«, schrieb Furet; in ähnlicher Weise k ö n n t e der Untertitel der Économies de la grandeur (Boltanski und T h é v e n o t 1991) lauten: »Die Denunziation ist beendet«. Bislang schien die kritische Demaskierung sich von selbst zu verstehen. Es ging nur darum, einen Anlaß zur E m p ö r u n g zu suchen, j e d e erdenkliche Leidenschaft hineinzulegen und sich den falschen Denunziationen entgegenzustellen. Entlarvung — darin sahen wir M o d e r n e n die geheiligte A u f gabe. U n t e r d e m falschen Bewußtsein galt es die wahren Kalküle b l o ß z u legen, oder unter den falschen Kalkülen die wahren Interessen. W e m hängt nicht n o c h ein Speichelfaden von dieser W u t am M u n d ? Boltanski u n d T h é v e n o t erfinden so etwas wie ein Gegengift gegen Tollwut, w e n n sie bedachtsam alle Quellen der Denunziation vergleichen — die verschieden e n F o r m e n des Gemeinwesens mit ihren Rechtsprinzipien — u n d w e n n sie die tausenderlei F o r m e n miteinander kreuzen, in denen wir — heute, in Frankreich — einen Fall vor Gericht bringen. Sie denunzieren die anderen nicht. Sie entblößen niemanden. Sie zeigen, wie wir alle es anstellen, u m uns gegenseitig anzuklagen. D e r kritische Geist ist nicht länger Ressource, sondern wird zum Gegenstand gemacht, wird zu einer K o m petenz unter anderen, zur Grammatik unserer E m p ö r u n g . Statt eine k r i tische Soziologie zu praktizieren, beginnen unsere Autoren in aller R u h e mit einer Soziologie des Kritizismus. D a n k dieser kleinen, durch die systematische Analyse bewirkten Verschiebung k ö n n e n wir dem m o d e r n e n kritischen Geist nicht m e h r ganz

Das Ende der Denunziation

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zustimmen. Wie soll man noch guten Gewissens anklagen, wenn der Opfermechanismus klar zutage liegt? Selbst die Humanwissenschaften sind nicht mehr das letzte Reservoir, aus dem sich schöpfen ließe, um endlich die wahren Motive hinter den Erscheinungen zu erkennen. Auch sie lassen sich zum Gegenstand der Analyse machen (Chateauraynaud 1991); denn auch sie klagen an, bringen Fälle vor Gericht, empören sich und kritisieren. Die Tradition der Human Wissenschaften hat nicht mehr das Privileg, den Akteur zu durchschauen und unter seinen unbewußten Aktionen die Wirklichkeit zu erkennen und ofFenzulegen (Boltanski 1990). Die Humanwissenschaften können sich nun nicht mehr empören, ohne eine der Positionen in der Tabelle unserer beiden Kollegen einzunehmen. Der Denunziant ist der Bruder der gewöhnlichen Leute, die er zu denunzieren vorgab. Statt wirklich an die Denunziation zu glauben, empfinden wir sie jetzt als eine »historische Modalität«, die zwar all unsere Affären durchzieht, aber sie genausowenig erklärt, wie die revolutionäre Modalität den Prozeß der Ereignisse von 1789. Denunziation wie Revolution sind heute schal geworden. Die Arbeit von Boltanski und Thévenot vollendet die von René Girard vorhergesehene und beschriebene Bewegung, wonach die Modernen nicht mehr mit ganzem Herzen anklagen können, aber anders als Girard verachten sie die Objekte nicht. Damit der Opfermechnismus funktionieren konnte, mußte der gemeinsam von der Masse geopferte Angeklagte wirklich schuldig sein (Girard 1978). Wenn er nur noch Sündenbock ist, wird der Mechanismus der Anklage sichtbar: Ein armer, einfacher Mann, der sich keines Verbrechens schuldig gemacht hat, wird nur aus dem Grunde angeklagt, um auf seinem Rücken das Kollektiv zu versöhnen. Die Verschiebung vom Opfer zum Sündenbock läßt die Anklage schal werden. Diese Auszehrung besänftigt freilich die Modernen nicht, denn der Grund für ihre Serienverbrechen besteht gerade darin, niemals einen wirklich Schuldigen guten Gewissens anklagen zu können (Girard 1983). Aber Girard sieht nicht, daß er damit eine noch schwerwiegendere Anklage erhebt, denn er klagt die Objekte an, nicht wirklich zu zählen. Solange wir unseren Auseinandersetzungen objektive Gründe unterstellen, sind wir in der Illusion des mimetischen Begehrens befangen, behauptet er. Dieses Begehren allein schmückt die Objekte mit einer Bedeutung, die sie nicht haben. Für sich selbst zählen sie nicht, sind sie nichts. Indem er den Anklagemechanismus aufdeckt, erschöpft Girard, wie Boi-

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tanski und Thévenot, für immer unsere Fähigkeit zur Anklage. Aber er treibt diese Tendenz der Modernen, die Objekte zu verachten, noch viel weiter — und diese Anklage kommt bei Girard von Herzen, weil er wirklich daran glaubt und in dieser hart errungenen Verachtung den höchsten Beweis für Moralität sieht (Girard 1988). Wenn schon Denunziant, dann ein hundertfünfzigprozentiger. Das Buch von Boltanski und Thévenot ist deswegen so großartig, weil sie die Denunziation erschöpfen, obwohl sie das Objekt, das in die Urteilsfindung verwickelt ist, in den Mittelpunkt ihrer Analysen stellen. Sind wir jeder moralischen Grundlage beraubt, wenn die Denunziation sich erschöpft hat? Nein, denn neben dem moralischen Urteil durch Denunziation gab es immer ein anderes Urteil, das über Sortieren und Auswahl vorgeht. Man nennt es Arrangement, Berechnung, combinazione, Dreh, aber auch Verhandlung oder Kompromiß. Péguy sagte, daß die anpassungsfähige Moral unendlich viel fordernder ist als die strenge Moral. Genauso verhält es sich mit der offiziösen Moral, von der die praktischen Lösungen der Modernen unentwegt sortiert und umverteilt werden. Sie wird verachtet, weil sie keine Empörung erlaubt, aber sie ist aktiv und großzügig, denn sie folgt den zahllosen Windungen der Situationen und Netze. Sie wird verachtet, weil sie die Objekte in Betracht zieht, die weder arbiträre Spielbälle unseres Begehrens sind noch Projektionsflächen für unsere mentalen Kategorien. So wie die moderne Verfassung die Hybriden verachtet, denen sie Quartier gibt, verachtet die offizielle Moral die praktischen Arrangements und die Objekte, die ihr Halt geben. U n ter dem Gegensatz von Objekt und Subjekt liegt der Strudel der Vermittler. Unter der moralischen Größe liegt das sorgfältige Mustern von U m ständen und Fällen (Jonsen undToulmin 1988).

Wir sind nie modern gewesen Ich habe jetzt die Wahl: Entweder glaube ich an die vollständige Trennung zwischen den beiden Hälften der modernen Verfassung, oder ich untersuche gleichzeitig, was diese Verfassung erlaubt und was sie verbietet, was sie erhellt und was sie verdunkelt. Entweder verteidige ich die Arbeit der Reinigung — und bin selbst Reinigungsfanatiker und wachsamer Wächter der Verfassung - , oder ich untersuche gleichzeitig Vermitt-

Wir sind nie modern gewesen

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lungs- und Reinigungsarbeit, dann aber bin ich nicht mehr ganz und gar modern. Wenn ich behaupte, daß die moderne Verfassung sich selbst nicht b e greifen kann; wenn ich mir herausnehme, die Praktiken aufzudecken, die ihre Existenz ermöglichen; wenn ich versichere, daß der kritische M e chanismus schal geworden ist, behaupte ich dann, daß wir in ein neues Zeitalter eintreten, das die Moderne ablöst? Bin ich also, im wörtlichen Sinne, postmodern? Der Postmodernismus ist ein Symptom und keine neue, unverbrauchte Lösung. Er lebt unter der modernen Verfassung, aber glaubt nicht mehr an die Garantien, die sie bietet. Er flihlt, daß mit der Kritik etwas nicht stimmt, aber ihm fällt nichts anderes ein, als die Kritik weiterzuführen, ohne noch an ihre Grundlagen zu glauben (Lyotard 1994). Statt zur empirischen Untersuchung der Netze überzugehen, die der von ihm denunzierten Reinigungsarbeit Sinn verleiht, verwirft der Postmodernismus jede empirische Arbeit als Illusion und enttäuschenden Szientismus (Baudrillard 1994). Als enttäuschte Rationalisten empfinden seine Anhänger wohl, daß der Modernismus am Ende ist, aber sie akzeptieren weiterhin seine Art, die Zeit zu unterteilen; sie können daher die E p o chen nicht anders einteilen als nach Revolutionen, die einander folgen. Sie fühlen, daß sie »nach« den Modernen gekommen sind, aber mit dem unangenehmen Gefühl, daß es kein »nach« mehr gibt. »Nofuture« ist ihr Slogan, der dem der Modernen, »no past«, zur Seite tritt. Was bleibt den Postmodernen noch? Momente ohne Halt und Kritik ohne Grundlage, denn sie glauben nicht mehr an die Gründe für Denunziation und E m pörung. Ein anderer Ausweg taucht auf, sobald wir gleichzeitig der offiziellen Verfassung folgen und dem, was sie verbietet und erlaubt; sobald wir die Arbeit der Produktion von Hybriden und die Arbeit der Beseitigung dieser selben Hybriden detailliert untersuchen. Dann bemerken wir, daß wir nie im Sinne derVerfassung modern gewesen sind. Daher entlarve ich nicht das falsche Bewußtsein von Menschen, die das Gegenteil von dem tun, was sie sagen. Niemand ist j e modern gewesen. Die M o d e r n e hat nie begonnen. Es hat nie eine moderne Welt gegeben. Der Gebrauch des Perfekts ist nicht unwichtig, denn es handelt sich u m ein retrospektives Gefühl, u m eine neue Lektüre unserer Geschichte. Ich behaupte nicht, daß wir in eine neue Ära eintreten. Im Gegenteil, wir müssen nicht länger die verzweifelte Flucht der Post-Post-Postmodernisten fortsetzen. W i r

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müssen uns nicht länger an die Avantgarde der Avantgarde hängen. Wir versuchen nicht mehr, noch gerissener, noch kritischer zu sein, die Ära des Verdachts noch weiter voranzutreiben. Nein, wir bemerken, daß wir niemals begonnen haben, in die moderne Ära einzutreten. Daher das Gefühl des Lächerlichen, das die postmodernen Denker immer begleitet: Sie behaupten, nach einer Zeit zu kommen, die nicht einmal begonnen hat. Diese retrospektive Haltung, die entfaltet, statt zu entlarven; die hinzufügt, statt wegzulassen; die verbrüdert, statt zu denunzieren; die sortiert, statt zu demaskieren, charakterisiere ich als »nichtmodern« (oder »amodern«). Nichtmodern ist, wer sowohl die Verfassung der Modernen berücksichtigt als auch die Populationen von Hybriden, die sich unter dieser Verfassung ausbreiten, aber von ihr verleugnet werden. Die Verfassung erklärte alles, aber indem sie ausließ, was in der Mitte war. »Da ist nichts, überhaupt nichts«, sagte sie, »bloß ein Rest.« N u n sind aber die Hybriden, die Monstren — oder die »cyborgs« und »tricksters«, wie Donna Haraway sie nennt (Haraway 1991) — nahezu alles. Sie bilden nicht nur unsere Kollektive, sondern auch die der anderen, von uns irreführend als vormodern bezeichnet. Im selben Moment, wo die doppelte Aufklärung des Marxismus scheinbar alles erklärt hat, wo der Zusammenbruch dieser totalen Erklärung die Postmodernen dazu bringt, sich in der Verzweiflung der Selbstkritik zu verlieren, bemerken wir, daß wir noch gar nicht mit den Erklärungen angefangen haben. Wir bemerken, daß es schon immer so war; daß wir nie modern gewesen sind, und auch nicht kritisch; daß es niemals ein Früher oder ein Ancien Régime gegeben hat (Mayer 1984); daß wir niemals wirklich die alte anthropologische Matrix verlassen haben und es anders auch gar nicht sein konnte. Zu erkennen, daß wir nie modern gewesen sind und von den anderen Kollektiven nur durch kleine Trennungen geschieden, heißt nicht, reaktionär zu sein. Die antimoderne Reaktion kämpft erbittert gegen die Auswirkungen der Verfassung, aber akzeptiert die Verfassung selbst völlig. Die Antimodernen wollen entweder das Regionale verteidigen oder den Geist oder die reine Materie oder die Rationalität oder die Vergangenheit oder die Universalität oder die Freiheit oder die Gesellschaft oder Gott — als existierten diese Entitäten wirklich und hätten wirklich die Form, die ihnen im offiziellen Teil der modernen Verfassung zugestanden wird. Die Antimodernen ändern nur Vorzeichen und Richtung der Empörung. Sie akzeptieren sogar die prinzipielle Bizarrerie der Modernen, nämlich die

Wir sind nie modern gewesen

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Vorstellung einer Zeit, die unwiderruflich vergeht und die gesamte Vergangenheit hinter sich annulliert. Ob man eine solche Vergangenheit nun bewahren oder abschaffen will, hinter beiden Vorstellungen steht die revolutionäre Idee par excellence, nämlich daß eine Revolution möglich ist. Gerade diese Idee scheint mir aber überzogen, weil die Revolution nur eine Ressource unter sehr vielen anderen in Geschichten ist, die nichts Revolutionäres, nichts Irreversibles an sich haben. »Potentiell« ist die moderne Welt eine totale und irreversible Erfindung, die mit der Vergangenheit bricht, so wie die französische und die bolschewistische Revolution »potentiell« Geburtshelferinnen einer neuen Welt waren. Betrachtet man die moderne Welt oder die Revolutionen dagegen als Netzwerke, so sieht man, daß sie kaum mehr ermöglichen, als die Praktiken ein wenig zu erweitern, die Zirkulation der Erkenntnisse leicht zu beschleunigen, die Gesellschaften etwas auszudehnen, die Anzahl der Akteure minimal zu vergößern, die alten Glaubensformen ein wenig zu modifizieren. Als Netzwerke gesehen bleiben die Neuerungen der Abendländer zwar kenntlich und bedeutsam, aber sie lassen sich nicht mehr zu einer großen Geschichte aufbauschen, einer Geschichte des radikalen Bruchs, des verhängnisvollen Schicksals, des unwiderruflichen Unheils oder Heils. Die Antimodernen wie die Postmodernen haben das Terrain ihrer Gegner akzeptiert. Ein anderes Terrain hat sich fiir uns geöffnet, das sehr viel größer und weniger polemisch ist: die nichtmodernen Welten. Sie sind das Reich der Mitte, genauso groß wie China, genauso unbekannt.

3 Revolution

Die Modernen - Opfer ihres Erfolgs Wenn der kritische Apparat die Modernen unbesiegbar gemacht hat, warum sind sie dann heute über ihr Schicksal im Ungewissen? Wenn die Wirksamkeit der Verfassung gerade von ihrer dunklen Seite herrührte, warum kann ich diese jetzt mit ihrer lichten Seite verbinden? Das Band zwischen den beiden Ensembles von Praktiken muß sich sehr verändert haben, daß ich heute gleichzeitig den Reinigungspraktiken und den Übersetzungspraktiken nachgehen kann. Wenn wir den Aufgaben der Modernisierung nicht mehr mit ganzem Herzen zustimmen können, müssen unvorhergesehene Hindernisse ihren Mechanismus gebremst haben. Was ist passiert, daß die Arbeit der Reinigung nicht mehr gedacht werden kann, während noch vor einigen Jahren die Entfaltung der Netze absurd oder doch skandalös schien? Sagen wir, daß die Modernen Opfer ihres Erfolgs geworden sind. Zugegeben, das ist eine grobe Erklärung. Aber es sieht so aus, als hätte gerade die umfangreiche Mobilisierung der Kollektive schließlich die Hybriden vervielfacht, so daß der konstitutionelle Rahmen, der ihre Existenz zwar verneint, aber ermöglicht, sie nicht mehr halten kann. Die moderne Verfassung ist unter ihrem eigenen Gewicht zusammengebrochen. Sie wurde überschwemmt von den Mischwesen, deren experimentelle Erprobung sie ermöglichte, weil sie ihre Auswirkungen auf die Fabrik der Gesellschaft verheimlichte. Der Dritte im Bunde wurde schließlich zu zahlreich, um in der Ordnung der Objekte oder Subjekte noch zuverlässig repräsentiert werden zu können. Solange sie nur in Form von ein paar Luftpumpen auftauchten, ließen sich die Mischwesen noch getrennt in zwei Dossiers unterbringen, klassifiziert nach Naturgesetzen und politischen Repräsentationen. Wenn man

Die Modernen — Opfer ihres Erfolgs

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aber von Embryonen im Reagenzglas, Expertensystemen, digitalen Maschinen, Robotern mit Sensoren, hybridem Mais, Datenbanken, Drogen auf Rezept, Walen mit Funksendern, synthetisierten Genen, Einschaltmeßgeräten, etc. überschwemmt wird, wenn unsere Tageszeitungen all diese Monstren seitenweise vor uns ausbreiten und wenn diese Chimären sich weder auf der Seite der Objekte noch auf der Seite der Subjekte, noch in der Mitte zu Hause fühlen, muß wohl oder übel irgend etwas geschehen. Alles sieht so aus, als wären die beiden Pole der Verfassung zuletzt miteinander verschmolzen, und zwar gerade aufgrund der Vermittlungspraxis, die von der Verfassung freigesetzt und gleichzeitig geleugnet worden ist. Es sieht so aus, als gäbe es nicht mehr genug Richter und Kritiker, um die Hybriden einzuteilen. Das Reinigungssystem ist genauso überfordert wie unser Rechtssystem. Vielleicht hätte die Grundstruktur der Moderne noch eine Weile halten können, hätte nicht ihre eigene Entwicklung einen Kurzschluß zwischen der Natur auf der einen Seite und den Menschenmassen auf der anderen ausgelöst. Solange die Natur fern und beherrscht war, glich sie noch vage dem traditionellen Pol der Verfassung, und Wissenschaft konnte noch als bloßes Zwischenglied angesehen werden, um sie zu entdekken. Die Natur schien in Reserve zu sein, transzendent, unerschöpflich, weit genug entfernt. Aber wo läßt sich die Geschichte mit dem Ozonloch einordnen, die Erwärmung der Erdatmosphäre oder das Waldsterben? Wo soll man die Hybriden unterbringen? Sie sind unser Werk. Sind sie also menschlich? Aber sie sind nicht unser Tun. Sind sie also natürlich? Und sind sie lokal oder global? Beides. Und die Menschenmassen, die von den Tugenden und Lastern der Medizin und der Ökonomie vermehrt worden sind, sind ebenso schwer zu lokalisieren. In welcher Welt soll man diese Massen unterbringen? Befinden wir uns hier in der Biologie, der Soziologie, der Naturgeschichte, der Ethik oder der Soziobiologie? Die Gesetze der Demographie und der Ökonomie sind unser Werk, dennoch übersteigen sie uns gewaltig. Ist die Bevölkerungsexplosion global oder lokal? Beides. Weder auf der Seite der Natur noch auf der Seite des Sozialen lassen sich demnach die beiden konstitutionellen Garantien der Moderne wiedererkennen: die universellen Gesetze der Dinge und die unantastbaren Rechte der Subjekte. Das Schicksal der hungernden Massen und das des armen Planeten sind in ein und demselben gordischen Knoten miteinander verschlungen, den kein Alexander mehr zerschlagen wird.

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Sagen wir also, daß die Modernen kapituliert haben. Ihre Verfassung konnte ein paar Gegenbeispiele, ein paar Ausnahmen verkraften, ja sie zehrte sogar davon. Sie vermag jedoch nichts mehr, wenn die Ausnahm e n wuchern, wenn der dritte Stand der Dinge und die dritte Welt sich vermengen und massenhaft in alle Versammlungen eindringen. U m diese Ausnahmen aufzunehmen, die sich tatsächlich wenig von denen des wilden Denkens unterscheiden (siehe unten), müssen wir einen R a u m entwerfen, der bereits nicht mehr der R a u m der modernen Verfassung ist, denn er füllt den mittleren Bereich aus, den sie leerzuräumen vorgab. Die Reinigungspraxis — horizontale Linie — m u ß um die Vermittlungspraktiken — vertikale Linie — ergänzt werden. Naturpol

Subjet/Gesellschaftspol

nichtmoderne Dimension Abbildung 4: Reinigung und Vermittlung

U m die Vervielfachung der Hybriden zu verfolgen, genügt es nicht, sie auf eine einzige Achse zu projizieren, sondern man m u ß sie nach Längen- und Breitengraden orten. Dann springt die Diagnose der Krise, mit der ich diesen Essay eröffnet habe, in die Augen: Die Vermehrung der Hybriden hat den konstitutionellen Rahmen der Moderne gesprengt. In der Praxis haben die M o d e r n e n immer beide Dimensionen genutzt, haben jede von ihnen für sich expliziert, nie jedoch die Beziehung zwischen den beiden Ensembles von Praktiken. Die Nichtmodernen müssen die Beziehungen zwischen ihnen betonen, wenn sie sowohl die Erfolge der Modernen als auch ihre kürzlichen Mißerfolge verstehen und nicht in den Postmodernismus abdriften wollen. Wenn wir die beiden Dimensionen gleichzeitig entfalten, können wir die Hybriden vielleicht aufnehmen und ihnen ei-

Was ist ein Quasi-Objekt?

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nen Platz geben, einen Namen, ein Haus, eine Philosophie, eine Ontologie und, wie ich hoffe, eine neue Verfassung.

Was ist ein Quasi-Objekt? Mit Michel Serres bezeichne ich diese Hybriden als Quasi-Objekte (Serres 1987a, Serres 1987b), denn sie nehmen weder die für sie von der Verfassung vorgesehene Position von Dingen ein, noch die von Subjekten. Sie lassen sich auch unmöglich alle in die Mittelposition hineinzwängen, so als wären sie lediglich eine Mischung von Naturding und sozialem Symbol. Interessanterweise liefert Lévi-Strauss — wenn er nach einem Beispiel sucht, um zu verdeutlichen, wie nah uns das wilde Denken ist — eine gute Definition für diese innige Verschmelzung, in der sich die Spuren der beiden Komponenten Natur und Gesellschaft verwischen: »Ein exotischer Beobachter würde fraglos meinen, der Autoverkehr im Zentrum einer großen Stadt oder auf einer Autobahn überschreite die menschlichen Fähigkeiten; und er überschreitet sie tatsächlich, insofern er nicht Menschen und Naturgesetze einander genau gegenüberstellt, sondern Systeme von Naturkräften, die durch die Absicht der Fahrer humanisiert sind, und Menschen, die durch die physikalische Energie, zu deren Mittler sie sich machen, in Naturkräfte verwandelt sind. Es handelt sich nicht mehr um die Wirkung eines Agens auf einen leblosen Gegenstand noch um die Rückwirkung eines zum Agens aufgestiegenen Gegenstandes auf ein Subjekt, das sich zu seinen Gunsten entmachtet hat, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, d. h. also um Situationen, die auf der einen oder anderen Seite ein bestimmtes Quantum Passivität enthalten, sondern die Wesen stehen einander als Subjekte und zugleich als Objekte gegenüber; und in dem Code, den sie verwenden, hat eine einfache Änderung der Entfernung, die sie trennt, die Kraft einer stummen Beschwörungsformel« (Lévi-Strauss 1973, S. 257). Die Position dieser befremdlichen Quasi-Objekte, Quasi-Subjekte können wir vielleicht orten, wenn wir die Dimensionen der Länge und Breite gleichzeitig berücksichtigen. Wir werden dann auch sehen, wie es kommt,

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daß wir auf die science studies warten mußten, u m zu verstehen, w a r u m die Sozialwissenschaften die Hybriden bisher ignoriert haben. Dazu m ü s sen wir nur d e m kleinen C o m i c strip in Abbildung 5 folgen. Sozialwissenschaftler haben es sich lange herausgenommen, das Glaubenssystem der einfachen Leute zu denunzieren. Sie behaupten, es b e r u he auf einer »Naturalisierung« (Bourdieu u n d W a c q u a n t 1992). G e w ö h n liche Leute stellen sich vor, daß die Macht der Götter, die Objektivität des Geldes, die Anziehungskraft der Mode, die Schönheit der Kunst von objektiven Eigenschaften herrühren, die in der N a t u r der Dinge liegen. Glücklicherweise wissen die Sozialwissenschaftler es besser u n d zeigen, daß der Pfeil in Wirklichkeit in die andere R i c h t u n g zeigt: von der G e sellschaft zu den O b j e k t e n . D e m n a c h stellen Götter, Geld, M o d e u n d Kunst nur eine Oberfläche für die Projektion unserer sozialen Bedürfnisse u n d Interessen dar. Spätestens seit Emile D ü r k h e i m m u ß t e man diese Interpretation als Einrittspreis entrichten, u m in den Soziologenstand aufg e n o m m e n zu w e r d e n ( D ü r k h e i m [1915] 1994). Sozialwissenschaftler werden heißt, sich darüber klar zu werden, daß die inneren Eigenschaften der O b j e k t e nicht zählen, daß letztere bloß Gegenstand für m e n s c h liche Kategorien sind. Die Schwierigkeit besteht j e d o c h darin, diese F o r m von Kritik mit einer anderen zu vereinbaren, bei der die Pfeile genau in umgekehrter R i c h t u n g verlaufen. Gewöhnliche Leute, Durchschnittsbürger, einfache soziale Akteure glauben, daß sie frei sind und ihre Wünsche, Motive u n d rationalen Strategien willentlich ändern k ö n n e n . D e r Pfeil ihrer U b e r zeugungen geht jetzt v o m Subjekt/Gesellschaftspol z u m N a t u r p o l . Aber glücklicherweise sind die Sozialwissenschaftler auf der H u t und entlarven, denunzieren u n d verspotten diesen naiven Glauben an die Freiheit des menschlichen Subjekts u n d der Gesellschaft. Diesmal b e n u t z e n sie die unbestreitbaren Resultate der Wissenschaften, d. h. die N a t u r der Dinge, und zeigen, wie diese den weichen und formbaren Willen der armen M e n schenwesen bestimmt, beeinflußt u n d prägt. »Naturalisierung« ist nicht länger ein Schimpfwort, sondern wird zur Losung, die es den Sozialwissenschaftlern erlaubt, sich mit den Naturwissenschaften zu verbünden. Alle Wissenschaften — N a t u r - u n d Sozialwissenschaften — werden jetzt m o b i lisiert, u m die Menschen in Marionetten zu verwandeln, die von objektiven Kräften manipuliert werden - welche eben nur den N a t u r - u n d Sozialwissenschaftlern bekannt sind.

Was ist ein Quasi-Objekt? D i e doppelte Kritk

Der Dualismus und seine Zerstörung

Kritik Nr. 1 Natur

Gesellschaft j

Uberzeugung Nr. 1 Überzeugung Nr. 2

Natur

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#

• • — Kritik Nr. 2



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Gesellschaft

Natur Nr. 1 »weich« :n« »r

Nr. I1 »hart« \int.

Natur Nr. 2 »hart«

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Dialektik

Gesellschaft

Gesellschaft Science studies

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Quasi-Objekt

D

Gesellschaft

D e r Ort des Quasi-Objekts

Abbildung 5: Was ist ein Quasi-Objekt?

Wenn man die beiden kritischen Ressourcen zusammen betrachtet, versteht man, wieso es fiir Sozialwissenschaftler so schwierig ist, sich über Objekte zu einigen. Auch sie »sehen doppelt«. Für die erste Form von Kritik zählen die Objekte nicht; sie bilden nur die Leinwand, auf die die Gesellschaft ihren Film projiziert. Für die zweite sind die Objekte jedoch so mächtig, daß sie die menschliche Gesellschaft gestalten; ausgeblendet wird dabei die gesellschaftliche Konstruktion der Wissenschaften, die diese Objekte hervorgebracht haben. Objekte, Dinge, Konsumgegenstände, Kunstwerke sind entweder zu stark oder zu schwach. Aber noch seltsamer sind die sukzessiven Rollen, die man der Gesellschaft gibt. In der ersten Form von Kritik ist die Gesellschaft so mächtig, daß sie aus sich selbst heraus existiert. Wie das transzendentale Subjekt, an dessen Stelle sie tritt, hat sie keine Ursache. Sie ist so ursprünglich, daß sie in der Lage

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ist, ihren Gegenpart zu formen und zu gestalten; dieser stellt kaum mehr dar als beliebige und formlose Materie. In der zweiten Form von Kritik ist die Gesellschaft jedoch machtlos geworden und wird nun ihrerseits von mächtigen objektiven Kräften bestimmt, die ihr Wirken vollständig determinieren. Die Gesellschaft ist entweder zu mächtig oder zu schwach gegenüber Objekten, die abwechselnd zu mächtig oder zu gleichgültig sind. Die Lösung dieser doppelt widersprüchlichen Kritik ist so durchgreifend, daß die Sozialwissenschaftler einen Großteil ihres Common sense daraus beziehen. Das nennt sich dann Dualismus. Der Naturpol wird in zwei Komponenten unterteilt: Die erste enthält seine »weicheren« B e standteile — Leinwände, um die sozialen Kategorien darauf zu projizieren —, die zweite seine »härteren« Bestandteile — Ursachen, die für das Los der menschlichen Kategorien verantwortlich sind, d. h. Wissenschaft und Technik. Dieselbe Unterteilung wird am Subjekt/Gesellschaftspol vorgenommen: hier seine »härteren« Bestandteile — soziale Faktoren sui generis —, dort seine »weicheren« — bestimmt von den Kräften, die von Wissenschaft und Technik entdeckt worden sind. Die Sozialwissenschaftler wechseln nun unbekümmert von der einen zur anderen Seite und können mühelos zeigen, daß beispielsweise Götter nichts als Idole sind, die aus den Erfordernissen der Gesellschaftsordnung hervorgehen, während die R e geln der Gesellschaft von der Biologie bestimmt werden. Dieser Wechsel ist natürlich nicht sehr überzeugend. Erstens handelt es sich um eine zufällige Auflistung. In der »weichen« Komponente des Naturpols wird all das zusammengefaßt, was die Sozialwissenschaftler zufällig gerade verachten — Religion, Konsum, Völkskultur und Politik —, während die »harte« Komponente aus den Wissenschaften besteht, an die sie gerade naiv glauben — Ökonomie, Genetik, Biologie, Linguistik oder Hirnforschung. Zweitens ist nicht klar, wieso die Gesellschaft auf arbiträre Objekte projiziert werden sollte, wenn diese Objekte nicht zählen. Ist die Gesellschaft so schwach, daß sie permanent wiederbelebt werden muß? Ist sie so schrecklich, daß sie, wie das Medusenhaupt, nur in einem Spiegel erblickt werden kann? Und wenn Religion, Künste oder Stile erforderlich sind, um die Gesellschaft »widerzuspiegeln«, »zu verdinglichen«, zu »materialisieren«, »zu verkörpern« - um ein paar Lieblingswörter der Gesellschaftstheoretiker zu nennen sind dann die Objekte nicht letzten Endes Koproduzenten dieser selben Gesellschaft? Ist die Gesellschaft nicht schließlich im wörtlichen Sinne - und nicht bloß metaphorisch - aufge-

Was ist ein Quasi-Objekt?

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baut aus Göttern, Maschinen, Wissenschaften, Künsten und Stilen? Aber w o bleibt dann n o c h die »Illusion« des »gewöhnlichen« Akteurs im u n t e ren Pfeil von Abbildung 5.1? Vielleicht haben die Sozialwissenschaftler vergessen, daß die Gesellschaft, bevor sie sich auf Dinge projizieren kann, gemacht, aufgebaut, konstruiert werden muß? U n d aus welchem Material sollte sie aufgebaut werden, wenn nicht aus nicht-sozialen, nicht-menschlic h e n Ressourcen? Aber der Gesellschaftstheorie ist es untersagt, diesen Schluß zu ziehen, weil sie keine Konzeption von Objekten hat, es sei denn die von den alternativen »harten« Wissenschaften beigebrachte. Diese O b jekte sind dann so stark, daß sie die Gesellschaft schlicht und einfach determinieren, wodurch diese wiederum schwach und immateriell wird. D e r Dualismus mag eine dürftige Lösung sein, aber aus i h m besteht größtenteils das kritische Repertoire der Sozialwissenschaften. Nichts hätte seine wohltuende Asymmetrie gestört, hätten die science studies nicht alles umgeworfen. Bis zu ihrem Auftauchen funktionierte der Dualismus anscheinend, d e n n der »harte« Teil der Gesellschaft wurde bei den »weichen« O b j e k t e n eingesetzt, während die »harten« O b j e k t e nur bei den »weichen« Teilen der Gesellschaft eingesetzt w u r d e n (Bourdieu u n d W a c q u a n t 1992). Die Sozialwissenschaftler kritisierten j e n e Praktiken, an die sie selbst nicht glaubten, und dazu benutzten sie j e n e solide Gesellschaftswissenschaft, die sie selbst ausgebrütet hatten. U m die Gesellschaftsordnung zu begründen, bedienten sie sich w i e d e r u m bei anderen Wissenschaften, in die sie absolutes Vertrauen hatten. Es ist das Verdienst der wissenschaftssoziologischen Edinburgher Schule, eine verbotene Kreuzung versucht zu haben (Barnes 1974, Barnes u n d Shapin 1 9 7 9 , B l o o r [1976] 1991, MacKenzie 1981, Shapin 1982). Die Vertreter dieser Schule v e r w e n d e t e n das kritische Repertoire, das für die »weicheren« Bestandteile der N a t u r reserviert war, u m die »härteren« Bestandteile, d. h. die Wissenschaften selbst zu entlarven! Kurz, sie wollten für die Wissenschaft leisten, was D ü r k h e i m für die R e l i g i o n und Bourdieu für M o d e u n d Geschmack geleistet hatte. U n d sie dachten in aller Unschuld, daß die Sozialwissenschaften unverändert daraus hervorgehen würden, daß diese die Wissenschaft genauso leicht verdauen w ü r d e n wie Religion oder Künste. Aber es gab da einen großen Unterschied, der zuvor nicht zu sehen gewesen war. D i e Sozialwissenschaftler glaubten nicht wirklich an die R e l i g i o n oder den K o n s u m der gewöhnlichen Leute. Sie glaubten j e d o c h an die Wissenschaft, u n d zwar aus tiefstem Wissenschaftlerherzen.

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So verdarb dieser Verstoß der Wissenschaftssoziologen gegen das Spiel der Dualisten sofort das ganze Unternehmen.Was als »soziale« Erforschung der Wissenschaft b e g o n n e n hatte, konnte natürlich nicht von Erfolg gekrönt sein. So währte es auch nur den Bruchteil einer Sekunde — gerade lange genug, u m die gewaltigen Mängel des Dualismus offenkundig zu machen. I n d e m sie die »harten« Bestandteile der Natur in derselben Weise behandelten wie die weicheren — d. h. als arbiträre Konstruktionen, die von Interessen u n d Erfordernissen einer Gesellschaft sui generis b e stimmt waren - entzogen die Edinburgher Draufgänger den Dualisten (und in der Tat auch sich selbst, wie sie bald merken sollten) die Hälfte ihrer Ressourcen. N u n wurde alles z u m arbiträren Produkt der Gesellschaft, einschließlich der kosmischen Ordnung, der Biologie, der C h e m i e und der physikalischen Gesetze. Die Unglaubhaftigkeit dieses Anspruchs f ü r die »harten« Bestandteile der Natur war so offenkundig, daß plötzlich klar wurde, wie unglaubhaft er auch für die »weichen« war. O b j e k t e sind kein formloser Gegenstand für soziale Kategorien — weder für »harte« n o c h für »weiche«. Als die Wissenschaftssoziologen das dualistische Kartenspiel durcheinanderbrachten, enthüllten sie die perfekte Asymmetrie der e r sten und zweiten F o r m von Kritik. Damit zeigten sie zugleich — z u m i n dest negativ —, auf wie schwachen Beinen die mit diesen einhergehende Gesellschaftstheorie und Epistemologie standen. Die Gesellschaft ist w e der so stark n o c h so schwach. Die wechselseitige Position von O b j e k t e n u n d Gesellschaft m u ß t e völlig neu durchdacht werden. A u c h mit dialektischen Überlegungen war kein Ausweg aus d e m D i l e m m a zu finden, in das die science studies die Sozialwissenschaften gebracht hatten. Die Verknüpfung der beiden Pole N a t u r u n d Gesellschaft durch n o c h so viele Pfeile, W i r k u n g e n u n d R ü c k w i r k u n g e n hilft nicht, den Q u a s i - O b j e k t e n oder Quasi-Subjekten einen Platz zu geben. I m G e g e n teil, durch die Dialektik wird ein solcher Platz n o c h unkenntlicher als im dualistischen Paradigma. D e n n sie täuscht vor, ihn durch Schleifen u n d Spiralen u n d andere komplizierte akrobatische Figuren zu überwinden. Sie redet wortwörtlich u m den heißen Brei herum. Quasi-Objekte sind zwischen und unterhalb der beiden Pole, an der Stelle, u m die Dualismus und Dialektik endlos gekreist sind, ohne etwas damit anfangen zu können. Q u a si-Objekte sind sehr viel sozialer, sehr viel fabrizierter, sehr viel kollektiver als die »harten« Teile der Natur; aber deswegen sind sie noch lange kein arbiträrer Gegenstand für eine auf sich gestellte Gesellschaft. Andererseits

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sind sie sehr viel realer, nicht-menschlicher und objektiver als j e n e gestaltlosen Projektionsflächen, auf welche die Gesellschaft - aus welchen G r ü n den auch immer — »projiziert« werden müßte. Generationen von Sozialwissenschaftlern haben versucht, entweder »weiche« Fakten zu kritisieren oder die harten Wissenschaften unkritisch zu verwenden. Erst die science studies haben — indem sie sich an der unmöglichen Aufgabe versuchten, soziale Erklärungen für harte wissenschaftliche Fakten zu liefern — jeden dazu gezwungen, die Rolle der Objekte im Aufbau der Kollektive zu überdenken. Das bedeutet eine Herausforderung für die Philosophie.

Philosophien, die den Abgrund überbrücken sollen W i e haben die großen Philosophien versucht, sowohl die m o d e r n e Verfassung als auch die Quasi-Objekte zu integrieren, dieses R e i c h der M i t te, das sich unaufhörlich ausdehnte? Stark vereinfacht lassen sich drei große Strategien unterscheiden. Die erste besteht darin, einen Spagat zwischen O b j e k t e n und Subjekten zu vollführen und sie damit n o c h weiter v o n einander zu entfernen; die zweite, genannt »semiotische Wende«, beschäftigt sich mit der Mitte und gibt dabei die Extreme auf; die dritte schließlich isoliert den Gedanken des Seins u n d verwirft so die ganze Trennung zwischen Objekten, Diskurs u n d Subjekten. Uberfliegen wir kurz die beiden ersten. Je zahlreicher die Q u a s i - O b j e k t e sich vermehren, desto m e h r behandeln diese Philosophien die beiden konstitutionellen Pole als miteinander unvereinbar; gleichzeitig seh e n sie in ihre dringlichste Aufgabe darin, sie w i e d e r miteinander in Einklang zu bringen. Diese Philosophien illustrieren also auf ihre Weise das m o d e r n e Paradox: Sie verbieten, was sie erlauben, und erlauben, was sie verbieten. Jede einzelne von ihnen ist gewiß subtiler als m e i n dürftiges R e s ü m e e , j e d e ist definitionsgemäß n i c h t m o d e r n , da die M o d e r n e nie wirklich b e g o n n e n hat, und n i m m t es daher explizit mit demselben Problem auf, an d e m auch ich mich hier ungeschickt versuche. D e n n o c h zeigen ihre offiziellen u n d popularisierten Interpretationen in diesem P u n k t eine erstaunliche Treue zur Verfassung der M o d e r n e : W i e lassen sich die Q u a s i - O b j e k t e vermehren, o h n e ihnen Bürgerrecht zuzugestehen? D e n n nur so läßt sich die Große Trennung aufrechterhalten, die uns von unserer Vergangenheit und den anderen N a t u r e n / K u l t u r e n absondert.

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Hobbes und Boyle stritten ja nur deshalb so heftig, weil es ihnen nicht recht gelang, den Pol der stummen und natürlichen Nicht-Menschen von dem der bewußten und sprechenden Staatsbürger zu trennen. Die beiden Artefakte waren noch so ähnlich und ihrem gemeinsamen Ursprung noch so nahe, daß die beiden Philosophen nur einen leichten Einschnitt im Bereich der Hybriden vornehmen konnten. Erst mit dem Kantianismus erhält unsere Verfassung ihre wahrhaft kanonische Formulierung. Was bloße Unterscheidung war, wird hier zur totalen Trennung, zu einer kopernikanischen Revolution. Die Dinge an sich werden unzugänglich, während das transzendentale Subjekt sich symmetrisch dazu unendlich von der Welt entfernt. Trotzdem bleiben die beiden konstitutionellen Garantien eindeutig symmetrisch, denn Erkenntnis ist nur möglich in der mittleren Position, bei den Erscheinungen, und zwar durch die Anwendung der beiden reinen Formen, des Dings an sich und des Subjekts. Die Hybriden haben wohl Bürgerrecht, aber einzig als Mischungen reiner Formen in gleicher Proportion. Gewiß bleibt die Vermittlungsarbeit sichtbar, denn Kant vervielfacht die Zwischenstationen, um von der fernen Welt der Dinge zur noch ferneren Welt des Ichs überzugehen. Aber diese Vermittlungen werden nurmehr als bloße Zwischenglieder akzeptiert, die allein dazu da sind, um die — einzig erkennbaren — reinen Formen zu transportieren oder zu übermitteln. Die Schichtung der Zwischenglieder ermöglicht es, die Rolle der Quasi-Objekte zu akzeptieren, ohne ihnen deswegen aber einen ontologischen Status zu geben; denn dieser würde die »kopernikanische R e volution« wieder in Frage stellen. Die Kantische Formulierung ist auch heute noch jedesmal sichtbar, wenn man dem menschlichen Geist das Vermögen unterstellt, einer amorphen, aber realen Materie willkürlich Formen aufzuzwingen. Der Sonnenkönig, um den die Objekte sich drehen, wird hier zwar zugunsten ganz anderer Prätendenten gestürzt — Gesellschaft, Episteme, mentale Strukturen, kulturelle Kategorien, Intersubjektivität, Sprache —, diese Palastrevolutionen werden jedoch den Brennpunkt nicht verschieben, den ich eben deshalb Subjekt/Gesellschaft genannt habe. Es ist die Größe der Dialektik, daß sie versucht hat, ein letztes Mal den ganzen Kreis der Vormodernen zu durchlaufen, indem sie alle göttlichen, sozialen und natürlichen Wesen mit einschloß. So wollte sie dem Widerspruch des Kantianismus zwischen den Funktionen der Reinigung und der Vermittlung entgehen. Aber die Dialektik hat sich im Widerspruch

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geirrt - den zwischen Subjekt- und Objektpol hat sie zwar bemerkt, nicht jedoch jenen anderen zwischen der sich gerade durchsetzenden modernen Verfassung und der Vermehrung der Quasi-Objekte. Gerade dieser Widerspruch sollte jedoch das 19. und 20. Jahrhundert prägen. Oder vielmehr glaubte die Dialektik, den zweiten Widerspruch absorbieren zu können, indem sie den ersten auflöste. Während Hegel die Kantische Trennung zwischen den Dingen an sich und dem Subjekt zu überwinden glaubte, riß er sie noch weiter auf. Er erhob sie in den Rang eines Widerspruchs und machte aus diesem auf die Spitze getriebenen, dann aufgehobenen Widerspruch den Motor der Geschichte. Was im 17. Jahrhundert Unterscheidung war, wird im 18. zur Trennung, dann im 19. zu einem Widerspruch, der um so vollständiger ist, als er zur Triebfeder der ganzen Geschichte wird. Wie ließe sich das moderne Paradox besser illustrieren? Die Dialektik vertieft noch den Graben, der den Subjektpol vom O b jektpol trennt, aber da sie ihn zuletzt überwindet und aufhebt, glaubt sie tatsächlich, über Kant hinausgegangen zu sein! Sie spricht nur von Vermittlungen, und doch sind die unzähligen Vermittlungen, mit denen sie ihre grandiose Geschichte bevölkert, nur Zwischenglieder, die die reinen ontologischen Qualitäten weiterleiten, sei es den Geist in der rechten Variante, sei es die Materie in der linken. Am Ende steht ein Gegensatzpaar, das niemand mehr versöhnen kann, nämlich der Pol der Natur und der Pol des Geistes; denn gerade ihr Gegensatz wird »aufgehoben«, d. h. abgeleugnet. Wenn schon modern, dann hundertfünfzigprozentig! Unsere größten Modernisierer waren zweifellos die Dialektiker, und sie waren um so mächtiger, als sie die Totalität des Wissens und der Vergangenheit tatsächlich zu sammeln schienen und alle Ressourcen der Kritik miteinander verbunden hatten. Aber die Quasi-Objekte breiteten sich weiter aus, diese Monstren der ersten, der zweiten und dritten industriellen Revolution, diese sozialisierten Fakten und diese zu Bestandteilen der Naturwelt gewordenen Menschen. Kaum waren die Totalitäten komplett, platzten sie aus allen Nähten. Auf das Ende der Geschichte folgte jedesmal wieder Geschichte. Die Phänomenologie sollte noch ein letztes Mal versuchen, einen Spagat zu vollfuhren. Diesmal jedoch wurde Ballast abgeworfen, wurden die beiden Pole des reinen Bewußtseins und des reinen Objekts aufgegeben. Denn die Phänomenologie spreizte sich — im wörtlichen Sinne — über die Mitte und versuchte, den inzwischen zum Abgrund gewordenen Zwi-

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Hyper-Inkommensurabilität (Postmoderne) Inkommensurabilität (Habermas) unüberwindliche Spannung (Phänomenologie) Widerspruch (Hegel)

^ Naturpol

Trennung (Kant)

REINIGUNG

r

Unterscheidung (Hobbes und Boyle Subjet/Gesellschaftspol \ /

Je zahlreicher sich die Quasi-Objekte vermehren, desto stärker polarisieren sich Natur und Gesellschaft

VERMITTLUNG

nichtmoderne Dimension Abbildung 6: Das moderne Paradox

schenraum einzunehmen, auch wenn sie spürte, daß sie ihn nicht mehr in sich aufnehmen konnte. Noch einmal wird das Paradox der Modernen auf die Spitze getrieben. Durch den Begriff der Intentionalität werden Unterscheidung,Trennung,Widerspruch zur unüberwindlichen Spannung zwischen Subjekt und Objekt. Die Hoffnungen der Dialektik werden aufgegeben, denn diese Spannung läßt sich in keiner Weise mehr auflösen. Die Phänomenologen haben zwar den Eindruck, über Kant, Hegel und Marx hinausgegangen zu sein, denn sie schreiben weder den reinen Subjekten noch den reinen Objekten irgendeine Essenz mehr zu. Sie glauben tatsächlich, nur von einer Vermittlung zu sprechen, die auf keinen Pol mehr angewiesen ist. Und trotzdem ziehen sie — wie so viele ängstliche Modernisierer — lediglich einen Verbindungsstrich zwischen zwei Polen, welche so die allergrößte Bedeutung erhalten. Reine Objektivität und reines Bewußtsein fehlen, aber dadurch sind sie erst recht präsent. Das »Bewußtsein von etwas« bildet nur noch einen schmalen Steg über den sich stetig weitenden Abgrund. Das konnte nicht gutgehen. Das ist nicht

Das Ende der Enden

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gutgegangen. Zur gleichen Zeit liefert das Werk von Bachelard mit seiner doppelten Stoßrichtung das Symbol für diese unmögliche Krisis, diese Zerrissenheit: Z u m einen steigert es durch den Bruch mit dem gesunden Menschenverstand noch die Objektivität der Wissenschaften, zum anderen, und symmetrisch dazu, übersteigert es durch die epistemologischen Einschnitte die gegenstandslose Macht des Imaginären (Bachelard 1987, Tile 1984).

Das Ende der Enden Diese Geschichte nimmt in ihrem weiteren Verlauf eine unfreiwillig komische Wendung. Je weiter der Spagat, desto mehr erinnert das Ganze an eine Akrobatennummer. Bisher waren diese großen philosophischen B e wegungen alle tiefgehend und ernsthaft; sie begründeten, erforschten, begleiteten die wunderbare Vermehrung der Quasi-Objekte; sie wollten glauben, daß es trotz allem möglich wäre, diese zu integrieren und zu verarbeiten. Auch wenn nur von Reinheit die R e d e war, ging es allein darum, die Arbeit der Hybriden zu erfassen. Alle diese Denker interessierten sich leidenschaftlich für exakte Wissenschaften, Technik und Ö k o nomie, denn sie sahen darin zugleich ihre Gefahr und ihr Heil. Aber was soll man von den Philosophien sagen, die nach ihnen kamen? Und wie soll man sie überhaupt nennen? Modern? Nein, denn sie versuchen nicht mehr, die beiden Enden der Kette zu halten. Postmodern? Noch nicht, das Schlimmste kommt erst noch. Sagen wir prä-postmodern, um anzuzeigen, daß sie einen Ubergang darstellen. Was zunächst nur eine Unterscheidung war, dann eine Trennung, dann ein Widerspruch, dann eine unüberwindliche Spannung, wird jetzt auf die Ebene der Inkommensurabilität gehoben. Daß es kein gemeinsames Maß zwischen der Welt der Subjekte und der Welt der Objekte gibt, das sagte bereits die ganze moderne Verfassung. Aber sie annullierte diese Distanz sofort, indem sie das Gegenteil praktizierte, indem sie Menschen und Dinge mit derselben Elle maß, indem sie in Gestalt von Zwischengliedern die Mittler vervielfachte. Die Prä-Postmodernen ihrerseits glauben wirklich, daß das sprechende Subjekt nicht mit dem Naturobjekt und der technischen Wirksamkeit kommensurabel ist oder daß es inkommensurabel gemacht werden muß. Sie

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annullieren also das Projekt der Moderne, während sie vorgeben, es zu retten. Denn sie folgen nur jener Hälfte der Verfassung, die von Reinheit spricht, ignorieren aber die andere Hälfte, in der die Hybridisierung vonstatten geht. Sie stellen sich vor, daß es keine Mittler gibt, keine geben darf. Auf der Seite der Subjekte erfinden sie das Sprechen, die Hermeneutik, den Sinn, und lassen dabei die Welt der Dinge langsam ins Nichts abdriften. Die Technokraten und Szientisten auf der anderen Seite des Spiegels haben selbstverständlich die dazu symmetrische Einstellung. Je mehr die Hermeneutik ihr Garn ausspinnt, desto mehr der Naturalismus das seine. Aber diese Wiederholung der historischen Einteilungen wird zur Karikatur: Changeux und seine Neuronen auf der einen Seite, Lacan und seine Analysanden auf der anderen. Dieses Zwillingspaar ist der modernen Intention nicht mehr treu. Hier wird nicht mehr versucht, das Paradox zu denken, das darin besteht, unten die Hybriden zu vervielfachen, deren Existenz man oben verbietet, und sich unmögliche Beziehungen zwischen den beiden auszudenken. Schlimmer noch ist es, wenn das Projekt der Moderne gegen die Gefahr seines Verschwindens verteidigt wird. Habermas verleiht diesem verzweifelten Aufbäumen Ausdruck (Habermas 1988). Wird er zu diesem Zweck endlich beweisen, daß nichts je die Dinge grundlegend von den Menschen getrennt hat? Wird er das moderne Projekt wiederaufnehmen, die Arrangements der Praxis unterhalb der konstitutionellen Legitimationen aufzeigen und die Massen der Hybriden akzeptieren, so wie de Gaulle und Nixon schließlich doch den Kontinent China anerkannt haben? Im Gegenteil, für Habermas kommt die größte Gefahr von der Konfusion zwischen sprechenden und denkenden Subjekten einerseits und reiner wissenschaftlicher, technischer Rationalität andererseits, die in der alten Bewußtseinsphilosophie noch möglich war. Er behauptet, »daß das Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen durch das Paradigma der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten abgelöst werden muß« (S. 345). Wenn jemand sich je in seinen Feinden getäuscht hat, so dieser in die Mitte des 20. Jahrhunderts versetzte Kantianismus, der versucht, den Abgrund zwischen den vom Subjekt erkannten Gegenständen und der kommunikativen Vernunft noch zu vergrößern. Demgegenüber hatte das alte Bewußtsein immerhin noch das Verdienst, den Gegenstand anzupeilen und folglich an den künstlichen Ursprung der beiden konstitutionellen Pole zu erinnern. Aber Habermas will die beiden Pole

Das Ende der Enden

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inkommensurabel machen, und zwar gerade in dem Moment, wo die Quasi-Objekte sich dermaßen vervielfachen, daß es unmöglich scheint, ein einziges unter ihnen zu finden, das noch einem freien sprechenden Subjekt ähnelt oder einem verdinglichten Naturobjekt. Mitten in der industriellen Revolution gelang das Kant schon nicht, wie sollte es Habermas nach der sechsten oder siebten Revolution gelingen? Der alte Kant vervielfachte immerhin noch die Zwischenglieder, was ihm dann erlaubte, wieder Ubergänge zwischen dem transzendentalen Subjekt und den Noumena herzustellen. Davon kann keine Rede mehr sein, wenn die instrumentelle Vernunft so weit wie möglich auf Distanz gehalten werden muß von der herrschaftsfreien Kommunikation der Menschen. Mit den Prä-Postmodernen verhält es sich wie mit der feudalen R e aktion am Ende des Ancien Régime: nie war die Ehre empfindlicher und die Berechnung der genauen Anteile blauen Bluts präziser, und doch war es ein wenig spät, den dritten Stand und die Adligen radikal trennen zu wollen. So ist es auch für uns ein wenig zu spät, die kopernikanische R e volution noch einmal zu vollziehen und die Dinge um die Intersubjektivität kreisen zu lassen. Habermas und seine Schüler können dem Projekt der Moderne nur treu bleiben, indem sie sich jeder empirischen Forschung enthalten (Habermas 1981); der dritte Stand würde sonst zu schnell sichtbar und mischte sich zu stark mit den armen sprechenden Subjekten. Solange nur die kommunikative Vernunft triumphiert, scheinen die Netze ruhig zusammenbrechen zu können. Dennoch bleibt er ehrenwert und respektabel. Selbst in der Karikatur des modernen Projekts erkennt man noch den abgeschwächten Glanz der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und das Echo der Kritik des 19. Jahrhunderts. Selbst in dieser zwanghaften Trennung der Objektivität von der Kommunikation läßt sich noch eine Spur, eine Erinnerung, eine Narbe der Unmöglichkeit dieses Vorhabens erfassen. Mit den Postmodernen jedoch ist die Preisgabe des modernen Projekts vollendet. Ich habe kein Wort gefunden, das häßlich genug wäre, um diese Bewegung oder vielmehr diese geistige Unbeweglichkeit zu bezeichnen, durch die man Menschen und nicht-menschliche Wesen ihrem Schicksal überläßt. Ich nenne sie »Hyper-Inkommensurabilität«. Ein einziges Beispiel mag die Resignation des Denkens und die selbst verschuldete Niederlage des postmodernen Projekts zeigen. »Ich als Philosoph ziehe eine desaströse Bilanz« antwortet Jean-François Lyotard, den

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einige wohlmeinende Wissenschaftler baten, über die Verbindung zwischen Wissenschaft und menschlicher Gemeinschaft nachzudenken: »Ich behaupte [...], daß die wissenschaftliche Expansion nichts Menschliches hat.Vielleicht ist unser Gehirn nur der provisorische Träger eines Prozesses der Komplexitätssteigerung. Es würde sich also nur noch darum handeln, diesen Prozeß von seinem bisherigen Träger abzulösen. Ich bin überzeugt, daß Sie [als Wissenschaftler] gerade dabei sind, dies zu tun. Informatik, Genmanipulation, Physik, Astrophysik, Robotik — diese Disziplinen arbeiten schon an der Aufrechterhaltung dieser Komplexität unter Lebensbedingungen, die vom Leben auf der Erde unabhängig sind. Aber ich sehe nicht, was daran menschlich ist, wenn man unter >menschlich< Kollektive mit ihren kulturellen Traditionen versteht, die sich seit bestimmten Epochen in bestimmten Gegenden dieses Planeten angesiedelt haben. Daß dieser >a-humane< Prozeß neben seinen destruktiven Auswirkungen auch einige positive Nebeneffekte für die Menschheit haben kann, daran zweifle ich keine Sekunde. Aber das hat nichts mit der Emanzipation des Menschen zu tun« (Lyotard 1988). Den angesichts dieser desaströsen Bilanz verwunderten Wissenschaftlern, die weiterhin an die Nützlichkeit der Philosophen glauben, antwortet Lyotard düster: »Darauf können Sie wohl noch lange warten.« Aber das Debakel ist auf Seiten des Postmodernismus, nicht der Philosophie (Hutcheon 1989,Jameson 1991). Die Postmodernen halten sich noch für modern, denn sie akzeptieren die totale Zweiteilung zwischen der materiellen und technischen Welt einerseits und den Sprachspielen sprechender Subjekte andererseits — und vergessen so die untere Hälfte der modernen Verfassung. Oder sie finden Gefallen nur am hybriden Charakter freischwebender Netzwerke und Collagen — und vergessen so die obere Hälfte dieser selben Verfassung. Aber sie täuschen sich, denn die wirklich M o dernen haben immer unterderhand die Zwischenglieder vervielfacht, um die ungeheure Vermehrung der Hybriden und gleichzeitig ihre Reinigung zu denken. Wissenschaften und Kollektive waren stets so innig miteinander verbunden wie die Luftpumpe Boyles mit dem Leviathan Hobbes'. Erst der doppelte

Widerspruch

ist modern, der Widerspruch

zwischen

den

beiden

Semiotische Wenden

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konstitutionellen Garantien von Natur und Gesellschaft einerseits, und zwischen Reinigungspraxis und Vermittlungspraxis andererseits. Wenn aber die Postmodernen an die totale Trennung der vier Glieder glauben, wenn sie ein fiir allemal glauben, daß Wissenschaftler Außerirdische sind, daß Materie i m materiell ist, Technik inhuman und Politik ein reines Simulakrum, machen sie dem Modernismus den Garaus, indem sie ihm fiir immer die Triebkraft seiner Spannung nehmen. Das einzig Positive an den Postmodernen ist: Nach ihnen kommt nichts mehr. Weit davon entfernt, der letzte Schrei zu sein, markieren sie das letzte Ende, d. h. das Ende der verschiedenen Formen, aufzuhören und weiterzugehen, in denen mit z u n e h m e n d schwindelerregenderer G e schwindigkeit immer radikalere und revolutionärere Kritiken einander jagten. W i e könnten wir noch weitergehen in der fehlenden Spannung zwischen Natur und Gesellschaft, wie könnten wir die Trennung zwischen Hybridisierung und Reinigung noch weitertreiben? Sollen wir uns eine Supra-Hyper-Inkommensurabilität vorstellen? Die »Pomos« sind das Ende der Geschichte, und das seltsamste ist, daß sie sogar daran glauben! U n d u m zu zeigen, daß sie nicht naiv sind, geben sie vor, sich über dieses Ende zu freuen. »Von uns dürft ihr nichts erwarten«, wiederholen Baudrillard und Lyotard gerne. Nein, in der Tat nicht. Aber es steht genausowenig in ihrer Macht, die Geschichte zu beenden, wie der Naivität zu entgehen. Sie stecken einfach in der Sackgasse all jener Avantgarden, denen keine Truppen mehr folgen. Lassen wir sie bis zum Ende des Jahrtausends schlafen, wie es Baudrillard vorschlägt, und gehen wir zu etwas anderem über. O d e r vielmehr, besinnen wir uns. Hören wir mit dem Weitergehen auf.

Semiotische Wenden Während die modernistischen Philosophien einen Spagat zwischen den beiden Polen der Verfassung vollführten, um die Vermehrung der QuasiObjekte aufzufangen, kam eine andere Strategie auf, u m sich der ständig expandierenden Mitte zu bemächtigen. Statt sich auf die Extreme der Reinigungsarbeit zu konzentrieren, richtete sich diese Strategie auf eine ihrer Vermittlungen, die Sprache. O b sie nun »Semiotik«, »Semiologie« oder »linguistische Wende« genannt werden, alle diese Philosophien haben zum Ziel, aus dem Diskurs nicht ein transparentes Zwischenglied zu

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machen, welches das menschliche Subjekt mit der Naturwelt in Kontakt bringt, sondern einen von der Natur wie der Gesellschaft unabhängigen Mittler. Diese Autonomisierung der Bedeutungssphäre hat die besten Köpfe unserer Zeit im letzten halben Jahrhundert beschäftigt. Doch auch sie haben uns in eine Sackgasse gefuhrt. Zwar nicht, weil sie »den Menschen vergessen« oder »die Referenz aufgegeben« hätten, wie es die modernistische Reaktion heute behauptet, sondern weil sie ihr Unternehmen ganz auf den Diskurs beschränkt haben. Für diese Philosophien war die Autonomisierung der Bedeutung nur möglich, wenn sowohl die Frage der Referenz zur Naturwelt als auch die Identität der sprechenden und denkenden Subjekte ausgeklammert blieb. Jener mittlere Ort der modernen Philosophie - der Treffpunkt der Erscheinungen bei Kant - wird jetzt von der Sprache eingenommen. Sie stellt nicht länger etwas dar, was mehr oder weniger transparent oder opak sein kann, mehr oder weniger getreu oder ungetreu, sondern sie hat den ganzen Raum eingenommen. Die Sprache ist zur eigenen Welt und sich zum eigenen Gesetz geworden. »Sprache als System«, »Sprachspiele«, »Signifikant«, »Schrift«, »Text«, »Textualität«, »Erzählungen«, »Diskurse« sind einige der Begriffe, die dieses Reich der Zeichen benennen — um Barthes' Buchtitel einen umfassenderen Sinn zu geben (Barthes 1981). Während die modernistischen Philosophien die Distanz ständig vergrößerten, welche die Objekte von den Subjekten trennte und sie inkommensurabel machte, nahmen die Sprach-, Text- oder Diskursphilosophien die leergelassene Mitte ein. Dabei glaubte man, sehr weit von den Naturen und Gesellschaften entfernt zu sein, die man ausgeklammert hatte (Pavel 1986). Die Größe dieser Sprachphilosophien bestand darin, gefeit gegen die doppelte Tyrannei des Referenten und des sprechenden Subjekts, jene Begriffe zu entwickeln, die den Mittlern eine eigene Würde verleihen. Denn diese sind nun nicht mehr bloße Zwischenglieder oder Träger, die Bedeutungen von der Natur zu den Sprechern oder von diesen zu jener transportieren. Text und Sprache produzieren die Bedeutung; sie bringen sogar interne Referenten für die Diskurse hervor und Sprecher, die im Diskurs installiert sind (Greimas 1976, Greimas und Courtes 1979). U m Gesellschaften und Naturen zu produzieren, brauchen Text und Sprache nur sich selbst, und als würden sie sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, entnehmen sie anderen narrativen Formen ihr Realitätsprinzip. Den Signifikanten, der am Ursprung steht, umkreisen die Signi-

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fikate, die jegliches Privileg verloren haben. Der Text wird primär, was er ausdrückt oder transportiert, sekundär. Aus den sprechenden Subjekten werden durch BedeutungsefFekte hervorgebrachte Fiktionen; der A u t o r ist nur n o c h Artefakt seiner eigenen Schriften (Eco 1987). Aus den O b j e k t e n , über die m a n spricht, werden RealitätsefFekte, die auf der O b e r fläche der Schrift dahingleiten. Alles wird Zeichen u n d Zeichensystem: Architektur u n d Küche, M o d e und Mythologien, Politik und sogar U n bewußtes (Barthes 1987). D i e große Schwäche dieser Philosophien bestand darin, daß sie es schwieriger machten, Anschlüsse herzustellen zwischen einem autonomisierten Diskurs u n d dem, was sie vorläufig beiseite gelassen hatten: d e m Referenten - auf der Seite der Natur - und d e m Sprecher - auf der Seite Subjekt/Gesellschaft. Wieder einmal spielten die science studies den Störenfried. Als sie die Semiotik auf den wissenschaftlichen Diskurs anwandten, und nicht mehr allein auf die literarische Fiktion, erschien die A u t o n o m i sierung des Diskurses als Artefakt (Bastide 1995). W i e schon bei der R h e torik veränderte sich die Bedeutung der Semiotik völlig, als sie Wahrheit und Beweis anstelle von Überzeugung und Verführung aufzunehmen hatte (Latour 1987). Sobald man es mit Wissenschaft und Technik zu tun hat, ist es schwierig, lange die Vorstellung aufrechtzuerhalten, daß wir ein Text sind, der sich selbst schreibt, ein Diskurs, der sich ganz allein spricht, ein Spiel von Signifikanten ohne Signifikat. Es ist schwierig, den ganzen Kosmos auf eine große Erzählung zurückzuführen, die Physik der Elementarteilchen auf einen Text, alle sozialen Strukturen auf einen Diskurs und Massenverkehrsmittel auf rhetorische Kunstgriffe. Das R e i c h der Zeichen währte nicht länger als das Alexanders, und wie dieses wurde es zerstückelt und unter seinen Feldherrn aufgeteilt (Pavel 1988). Manche wollten das autonome System der Sprache plausibler machen und setzten das sprechende Subjekt oder sogar die soziale Gruppe wieder ein; zu diesem Zweck griffen sie wieder auf die alte Soziologie zurück. Andere wollten die Semiotik weniger sinnwidrig machen und stellten den Kontakt zum Referenten wieder her; sie kamen auf die Welt der Wissenschaft oder des gesunden Menschenverstandes zurück, u m den Diskurs wieder irgendwo zu verankern. D o c h weder Soziologisierung n o c h Naturalisierung sind überzeugende Alternativen. Andere hielten am ursprünglichen Impetus des Reichs der Zeichen fest und gingen daran, sich selbst zu dekonstruieren. A u t o n o m e Auslegungen auton o m e r Auslegungen, bis hin zur Selbstauflösung, waren das Resultat.

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Aus dieser wichtigen Wende haben wir gelernt, daß wir den symmetrischen Fallstricken von Naturalisierung und Soziologisierung nur entgehen können, wenn wir der Sprache Autonomie zuerkennen. Wie könnte man ohne sie diesen mittleren Raum zwischen Gesellschaften und Naturen entfalten, um darin die Quasi-Objekte und Quasi-Subjekte aufzunehmen? Die verschiedenen Formen der Semiotik bieten eine ausgezeichnete Werkzeugkiste, um die Vermittlungen der Sprache zu verfolgen. Aber da sie das Problem der Verbindungen zum Referenten und zum Kontext umgehen, hindern sie uns daran, die Quasi-Objekte bis zum Ende zu verfolgen. Diese sind, wie ich gesagt habe, gleichzeitig real, diskursiv und sozial. Sie gehören zur Natur, zum Kollektiv und zum Diskurs. Wenn man den Diskurs autonomisiert, aber dabei die Natur den Epistemologen überläßt und die Gesellschaft den Soziologen, wird die Zusammenfiihrung dieser drei Ressourcen unmöglich. Das »postmoderne Wissen« hat eine Zeitlang versucht, die drei R e pertoires der Kritik - Natur, Gesellschaft und Diskurs — nebeneinanderzustellen, ohne überhaupt zu versuchen, sie zu verbinden. Wenn sie nicht nur voneinander, sondern auch von der Arbeit der Hybridisierung getrennt werden, liefern sie in der Tat ein schreckliches Bild der modernen Welt: eine vollständig glatte Natur und Technik, eine Gesellschaft, die nur aus falschem Bewußtsein, aus Simulakren und Illusionen besteht, ein Diskurs, der sich nur aus abgehobenen Bedeutungseffekten zusammensetzt; und diese ganze Welt der Erscheinungen fuhrt losgelöste Elemente von Netzwerken aus allen Zeiten und Orten mit sich, die in Form von Collagen beliebig miteinander kombiniert werden können. Der einzige Ausweg scheint, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Hier liegt die Ursache für die leichtfertige Verzweiflung der Postmodernen, welche die Angst* ihrer Vorgänger, der Meister des Absurden, ablöst. Freilich hätten die Postmodernen nie einen solchen Grad an Lächerlichkeit und Verlassenheit erreicht, hätten sie zu allem Überdruß nicht auch noch geglaubt, das Sein vergessen zu haben.

im Original deutsch

Wer hat das Sein vergessen?

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Wer hat das Sein vergessen? Dabei schien anfangs der Gedanke der ontologischen Differenz, des U n terschieds zwischen Sein und Seiendem, ein gutes Mittel, um die QuasiObjekte unterzubringen, eine dritte Strategie, die zu den modernistischen Philosophien und linguistischen Wenden hinzutrat. Die Quasi-Objekte gehören weder zur Natur noch zur Gesellschaft noch zum Subjekt. Wenn Heidegger die Metaphysik - d. h. die moderne Verfassung, losgelöst von der Hybridisierung — dekonstruiert, kennzeichnet er den zentralen Punkt, an dem alles miteinander verbunden und der gleich weit von den Subjekten wie den Objekten entfernt ist: das Einfache. »Das Befremdliche an diesem Denken des Seins ist das Einfache. Gerade dieses hält uns von ihm ab« (Heidegger 1991a, S. 52). Indem er diesen Nabel, diesen omphalos, umkreist, gibt der Philosoph zu, daß eine Artikulation zwischen der m e taphysischen Reinigung und der Arbeit der Vermittlung existiert, nämlich das »einfache Sagen«: »Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens. Das Denken sammelt die Sprache in das einfache Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins wie die Wolken die Wolken des Himmels sind.« (S. 54) Aber diese gutgemeinte Einfachheit verliert der Philosoph sofort wieder. Warum? Ironischerweise deutet er selbst den Grund in einer Fabel über Heraklit an. Dieser kauerte sich an einen Backofen. »Einai gar kai entautha theous«. »Auch hier sind Götter«, sagt Heraklit zu den Besuchern, die sich wundern, daß er sein armseliges Gerippe wie ein gewöhnlicher Sterblicher am O f e n wärmt. »Auch hier nämlich wesen Götter am (S. 45). D o c h Heidegger läßt sich ebenso täuschen wie diese naiven Besucher, denn er und seine Epigonen glauben das Sein nur auf den Holzwegen des Schwarzwalds zu finden. Sein kann nicht in gewöhnlichen Wesen, im »Seienden«, liegen. Uberall ist Wüste. Die Götter können nicht in der Technik wohnen, diesem reinen Ge-Stell des Seins (Zimmerman 1990), diesem unausweichlichen Geschick, dieser äußersten Gefahr*. M a n darf sie gleichfalls nicht in der Wissenschaft suchen, denn diese hat kein anderes Wesen als die Technik (Heidegger 1991b). Die Götter sind abwesend in der Politik, in der Soziologie, in der Anthropologie, auch in der Geschichte

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im Original jeweils deutsch.

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- denn diese ist die Geschichte des Seins und mißt ihre Epochen in Jahrtausenden. Die Götter könnten auch nicht in der Ökonomie wohnen — dieser reinen Berechnung, die für immer dem Seienden und der Sorge verhaftet ist. Genausowenig sind sie in der Philosophie oder der O n t o l o gie zu finden, denn beide haben seit 2500 Jahren ihr Geschick vergessen. So reagiert Heidegger auf die moderne Welt wie die Besucher auf Heraklit: mit Geringschätzung. U n d trotzdem: »auch hier sind Götter«, im Wasserkraftwerk am Ufer des Rheins, in den subatomaren Partikeln, in den Adidas-Schuhen genauso wie in den alten handgeschnitzten Holzschuhen, im Agrar-Business genauso wie in der alten Landschaft, im Geschäftskalkül genauso wie in den herzzerreißenden Versen Hölderlins. Aber warum erkennen jene Philosophen sie nicht mehr? Weil sie glauben, was die moderne Verfassung über sich selbst sagt! Dieses Paradox sollte uns nicht verwundern. Die M o d e r n e n behaupten nämlich, daß die Technik nur reine instrumentelle Beherrschung ist, die Wissenschaft reines Bestellen und Ge-Stell, daß die Ö k o n o m i e reine Berechnung ist, der Kapitalismus reine Reproduktion, das Subjekt reines Bewußtsein. Uberall Reinheit! Das geben sie vor, aber man darf ihnen keinesfalls ganz glauben, denn was sie behaupten, betrifft nur die Hälfte der modernen Welt, nämlich die Reinigungsarbeit, die destilliert, was die Hybridisierung ihr als Material liefert. Wer hat das Sein vergessen? Aber niemand, jemals, sonst würde die Natur wirklich »als Bestand bestellt«. Man m u ß sich nur umschauen: Die wissenschaftlichen Objekte zirkulieren gleichzeitig als Subjekte, Objekte und Diskurse. Die Netze sind voller Sein. Die Maschinen wiederum sind mit Subjekten und Kollektiven befrachtet. Wie könnte das Seiende seine Differenz verlieren, seine Unfertigkeit, seine Prägung, seine Spur des Seins? Das steht in niemandes Macht, denn sonst müßten wir uns vorstellen, tatsächlich modern gewesen und von der oberen Hälfte der modernen Verfassung genarrt worden zu sein. Aber hat nicht doch jemand das Sein wirklich vergessen? Ja, deijenige, der ein für allemal glaubt, daß das Sein ein für allemal vergessen worden ist. W i e Lévi-Strauss sagt, ist »ein Barbar zunächst der Mensch, der an die Barbarei glaubt«. Diejenigen, die es unterlassen haben, Wissenschaft,Technik, Recht, Politik, Ökonomie, Religion, Fiktion empirisch zu untersuchen, haben die Spuren des Seins verloren, die überall im Seienden verstreut sind. Wenn man sich aus Geringschätzung für die Empirie zuerst

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von den exakten Wissenschaften zurückzieht, dann von den Humanwissenschaften, dann von der traditionellen Philosophie, dann von den Sprachwissenschaften, kurz, wenn man sich in seinen Wald zurückzieht, empfindet man tatsächlich einen tragischen Mangel. Aber einem selber fehlt etwas, nicht der Welt. Aus dieser eklatanten Schwäche haben die Epigonen Heideggers eine Stärke gemacht. »Wir verstehen nichts von Empirie, aber das ist unwichtig, denn eure Welt entbehrt des Seins. Wir bewahren und schützen die kleine Flamme des Denkens des Seins, und ihr, die ihr alles übrige habt, ihr habt nichts.« Im Gegenteil, wir haben alles, denn wir haben das Sein, das Seiende, und wir haben den Unterschied zwischen Sein und Seiendem nie aus dem Auge verloren. Wir fuhren das unmögliche Projekt Heideggers durch. Er jedoch hat geglaubt, was die moderne Verfassung über sich selbst sagt. Er hat nicht verstanden, daß dies nur die Hälfte eines umfassenderen Dispositivs ist, das sich nie von der alten anthropologischen Matrix getrennt hat. Niemand kann das Sein vergessen, denn es hat nie eine moderne Welt gegeben und folglich auch keine Metaphysik. Wir sind immer vor-sokratisch, vor-kartesianisch, vorkantianisch, vor-nietzscheanisch geblieben. Keine radikale Revolution kann uns von diesen Vergangenheiten abschneiden, und daher ist auch keine reaktionäre Konterrevolution erforderlich, um uns irgendwohin zurückzubringen, wovon wir uns nie entfernt haben. Ja, Heraklit führt uns sicherer als Heidegger: »Einai gar kai entautha theousA

Der Beginn der Vergangenheit Der Vermehrung der Quasi-Objekte wurde also mit drei verschiedenen Strategien begegnet: erstens, mit der immer schärferen Trennung zwischen dem Pol der Natur — den Dingen an sich — und dem der Gesellschaft oder des Subjekts — den Menschen unter sich; zweitens, mit der Autonomisierung der Sprache oder Bedeutung; und drittens mit der Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik. Vier verschiedene Repertoires ermöglichen der Kritik, diese ätzenden Säuren zu entwickeln: Naturalisierung, Soziologisierung, Diskursivierung und schließlich Seinsvergessenheit. Keines dieser Repertoires ermöglicht für sich genommen ein Verständnis der modernen Welt. Verwendet man sie zusammen, hält sie aber gleichzeitig getrennt, ist es noch schlimmer; daraus resultiert dann jene

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ironische Verzweiflung, deren Symptom der Postmodernismus ist. Allen diesen Ressourcen ist gemeinsam, daß sie nicht gleichzeitig die Vermehrung der Hybriden und die Arbeit der Reinigung verfolgen können. Wenn wir die Unschlüssigkeit der Postmodernen hinter uns lassen wollen, genügt es, alle diese Ressourcen zusammenzufuhren und gemeinsam einzusetzen, u m die Quasi-Objekte und Netzwerke zu verfolgen. Aber wie sollen diese kritischen Ressourcen zusammenarbeiten k ö n nen, wo sie alle doch aus ihrem gegenseitigen Streit hervorgegangen sind? W i r müssen unsere Schritte zurückverfolgen, u m einen geistigen R a u m zu entfalten, der groß genug ist, gleichzeitig die Aufgaben der Reinigung und der Vermittlung aufzunehmen, d. h. die beiden Hälften der modernen Welt. Aber wie unsere Schritte zurückverfolgen? Ist die moderne Welt nicht gekennzeichnet durch den Pfeil der Zeit? Verschlingt sie nicht die Vergangenheit? Bricht sie nicht für immer mit ihr? Liegt die Ursache der aktuellen Erschöpfung nicht gerade in einer »post«-modernen Epoche, die zwangsläufig auf die vorhergehende folgt, welche wiederum in einer R e i he von Sprüngen und Katastrophen auf die prämodernen Epochen folgte? Ist die Geschichte nicht schon beendet? Wenn wir den Quasi-Objekten gleichzeitig mit ihrer Verfassung Quartier geben wollen, sind wir demnach gehalten, den zeitlichen R a h m e n der Moderne genauer zu b e trachten. Da wir uns weigern, »nach« den Pomos zu kommen, können wir nicht vorschlagen, in eine a-moderne Welt zurückzukehren, die wir in Wirklichkeit nie verlassen haben, bevor wir nicht den Lauf der Zeit modifiziert betrachtet haben. So werden wir von der Definition der Quasi-Objekte zur Definition der Zeit geführt, denn auch die Zeit hat eine moderne und eine nichtmoderne Dimension, besitzt Längen- und Breitengrade. Niemand hat diesen Gedanken besser zum Ausdruck gebracht als Péguy in seiner Clio, der schönsten Meditation über das Gemenge der Geschichten (Péguy 1961). Die Kalenderzeit situiert die Ereignisse im Hinblick auf eine geordnete Serie von Daten, die Geschichtlichkeit jedoch situiert dieselben Ereignisse im Hinblick auf ihre Intensität. Das erklärt Clio, die Muse der Geschichte, in heiterer Weise, indem sie das entsetzliche Stück Die Burggrafen von Victor H u g o — Akkumulation von Zeit ohne Geschichtlichkeit — mit einem kurzen Satz von Beaumarchais — ein ausgezeichnetes Beispiel für Geschichtlichkeit ohne Geschichte - vergleicht (Latour 1977):

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»Wenn man mir sagt, daß Hatto, Sohn von Magnus, Marquis von Verona, Burggraf von Nollig, Vater von Gorlois, Sohn von Hatto (Bastard), Burggraf von Sareck ist, sagt man mir nichts. Ich kenne sie nicht. Ich werde sie nie kennenlernen. Aber wenn man mir sagt, daß Cherubim gestorben ist, in einem Sturmangriff auf ein Fort, den niemand befohlen hatte, dann allerdings sagt man mir etwas. Ich weiß sehr genau, was man mir sagt. Ein geheimer Schauder zeigt mir an, daß ich wirklich verstanden habe« (S. 276) (Hervorhebung im O r i ginal). Der moderne Lauf der Zeit ist also nur eine besondere Form von G e schichtlichkeit. Woher haben wir den Gedanken einer Zeit, die vergeht? Aus der modernen Verfassung selbst! Die Anthropologie erinnert uns daran, daß der Lauf der Zeit sich in vielfacher Weise interpretieren läßt, als Kreis oder Niedergang, als Sündenfall oder Wechselfall, als Wiederkehr oder fortgesetzte Gegenwart. Wir wollen die Interpretation dieses Laufs Zeitlichkeit nennen, um sie von der Zeit zu unterscheiden. Die Modernen haben die Eigenart, den Lauf der Zeit so zu verstehen, daß er tatsächlich die Vergangenheit hinter sich abschafft. Sie halten sich alle für Attila, hinter dem kein Gras mehr wächst. Sie fühlen sich vom Mittelalter nicht um einige Jahrhunderte entfernt, sondern getrennt durch kopernikanische Revolutionen, epistemologische Einschnitte, Brüche mit früheren Wissensformen, die derart radikal sind, daß von dieser Vergangenheit nichts mehr in ihnen fortlebt — nichts mehr fortleben darf. »>Diese Theorie des Fortschritts ist im wesentlichen eine Sparkassen-TheorieSie setzt überall und universell eine riesige universelle Sparkasse voraus, eine gemeinsame Sparkasse für die ganze menschliche Gemeinschaft, eine große allgemeine geistige und sogar automatisch universelle Sparkasse für die ganze Menschheit; automatisch in dem Sinne, daß die Menschheit immer etwas in sie einzahlt und nie etwas abhebt; und daß die Einzahlungen von selbst automatisch immer wieder dazukommen. Das ist die Theorie des Fortschritts. Das ist ihr Schema. Es ist eine Treppenleiter«« (Péguy 1961, S. 129).

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Da alles, was vergeht, auf immer entfernt ist, haben die M o d e r n e n in der Tat das Gefühl, daß die Zeit ein irreversibler Pfeil ist, eine Kapitalbildung, ein Fortschritt. Aber da diese Zeitlichkeit einem Zeitregime aufgezwungen wird, das ganz anders funktioniert, vermehren sich die Symptome der Unstimmigkeit. Wie Nietzsche bereits vor langer Zeit bemerkt hat, leiden die M o d e r n e n an der Geschichte. Sie wollen alles behalten, alles datieren, denn sie glauben, endgültig mit der Vergangenheit gebrochen zu haben. Je mehr Revolutionen sie akkumulieren, desto mehr bewahren sie; je mehr Kapital sie bilden, desto mehr stecken sie ins Museum. Die manische Zerstörung wird mit einer dazu symmetrischen, genauso manischen Konservierung bezahlt. Die Vergangenheit wird von den Historikern Detail für Detail und umso sorgfältiger rekonstruiert, als sie auf i m mer entschwunden ist. Aber sind wir von unserer Vergangenheit so weit entfernt, wie wir es glauben möchten? Nein, denn die moderne Zeitlichkeit bleibt ohne große Auswirkung auf den Lauf der Zeit. Die Vergangenheit bleibt also und taucht sogar wieder auf. Dieses Wiederauftauchen ist den M o d e r n e n unbegreiflich. Also sehen sie darin die Wiederkehr des Verdrängten. Sie sehen darin etwas Archaisches. »Wenn wir nicht achtgeben«, denken sie, »werden wir in die Vergangenheit zurückkehren, wir werden in die finsteren Zeiten zurückfallen.« Die historische R e k o n struktion und das Archaische sind zwei Symptome der Unfähigkeit der M o d e r n e n , das aus dem Weg zu räumen, was sie gleichwohl aus d e m Weg räumen müssen, u m den Eindruck zu bewahren, daß die Zeit vergeht. Wenn ich erkläre, daß die Revolutionen versuchen, die Vergangenheit abzuschaffen, es aber nicht können, gehe ich wieder das Risiko ein, als Reaktionär zu erscheinen. Denn für die Modernen — wie auch für ihre antimodernen Feinde und ihre Pseudo-Feinde von der Postmoderne — ist der Pfeil der Zeit ohne Ambiguität: Man kann vorwärts gehen, m u ß dann aber mit der Vergangenheit brechen; man kann sich auch dafür entscheiden, zurückzugehen, m u ß dann aber mit den modernistischen Avantgarden brechen, da diese radikal mit der Vergangenheit gebrochen haben. Dieses Diktat organisierte das moderne Denken bis in die letzten Jahre hinein, ohne selbstverständlich die Vermittlungspraxis beeinflussen zu k ö n nen, welche schon immer Epochen, Genres und Gedanken gemischt hat, die so heterogen waren wie die der Vormodernen. W i e wir inzwischen wissen, sind wir dazu unfähig, eine Revolution zu machen, ob in Wis-

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senschaft, Technik, Politik oder Philosophie. Aber wir sind n o c h m o d e r n , solange wir diese Tatsache als eine Enttäuschung interpretieren — als w ü r de das Archaische n u n alles überschwemmen; oder Enttäuschung darüber, daß es plötzlich keinen Müllabladeplatz der Vergangenheit m e h r gibt, auf d e m wir das Verdrängte abladen k ö n n e n . W i r sind n o c h postmodern, w e n n wir diese Enttäuschung zu ü b e r w i n d e n versuchen, i n d e m wir in einer Collage Elemente aus allen Zeiten nebeneinanderstellen, Elemente, die alle gleichermaßen überholt und altmodisch sind.

Das revolutionäre Wunder Welche Verbindung besteht zwischen der m o d e r n e n F o r m der Zeitlichkeit u n d der modernen Verfassung, in der die beiden Asymmetrien von N a t u r u n d Gesellschaft stillschweigend zusammenfügt u n d die H y b r i d e n unter der Oberfläche vermehrt werden? W a r u m verpflichtet uns die m o derne Verfassung, die Zeit als eine i m m e r wieder neu zu beginnende R e volution zu empfinden? Die Antwort wurde wieder einmal von den science studies geliefert, diesmal durch ihr kühnes Vordringen in die Historie. In der Sozialgeschichte der Wissenschaften w u r d e versucht, die gebräuchlichen Instrumente der Kulturgeschichte nicht länger auf die »weichen«, kontingenten, lokalen menschlichen Ereignisse anzuwenden, sondern auf die exakten, notwendigen und universellen P h ä n o m e n e der Natur. Z w a r glaubten die Historiker, daß es nur d a r u m ginge, die B u r g der Geschichte u m einen n e u e n Flügel zu erweitern. Aber wieder einmal f ü h r t e die Einbeziehung der Wissenschaften dazu, die meisten der impliziten Voraussetzungen der »normalen« Geschichtsforschung neu zu betrachten, wie es ähnlich schon bei den Voraussetzungen von Soziologie, Philosophie u n d Anthropologie der Fall gewesen war. Die m o d e r n e Konzeption der Zeit, wie sie in der historischen Disziplin erscheint, hängt, seltsam genug, von einer bestimmten Auffassung der Wissenschaft ab: darin werden die k o n kreten Entstehungsbedingungen der Naturobjekte beiseite gelassen, u n d so wird aus ihrem plötzlichen Auftauchen ein Wunder. Die m o d e r n e Zeit besteht in einer Aufeinanderfolge unerklärlicher E r scheinungen. Dies geht zurück auf die Trennung zwischen einer Geschichte als solcher u n d einer Technik- und Wissenschaftsgeschichte. Läßt man Boyle u n d Hobbes mit ihren Streitgesprächen beiseite, ignoriert man den

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Konstruktionsprozeß der Luftpumpe, die Zähmung der Kollegen, die Erfindung eines gesperrten Gottes und die Restaurierung des englischen Königtums, wie sollen sich dann noch die Entdeckungen Boyles erklären lassen? Die Elastizität der Luft kommt nun nirgendwo mehr her. Sie bricht herein, fix und fertig und von Kopf bis Fuß bewaffnet. U m zu erklären, was nun zu einem großen Mysterium geworden ist, muß ein Bild der Zeit konstruiert werden, das diesem wundersamen Hereinbrechen neuer Dinge (die offenbar schon immer irgendwo vorhanden waren) und menschlicher Fabrikationen (die kein Mensch je fabriziert hat) entspricht. Die Idee der radikalen Revolution ist die einzige Lösung, die den M o dernen eingefallen ist, um das Einbrechen der Hybriden zu erklären, die von der modernen Verfassung zugleich verboten und ermöglicht werden. Und um folgendes Monstrum zu vermeiden: daß die Dinge selbst eine Geschichte haben. Gute Gründe sprechen dafür, daß die Idee der politischen Revolution der Idee der wissenschaftlichen Revolution entlehnt ist (Cohen 1985). Wir verstehen jetzt, warum. Wie sollte die Chemie von Lavoisier nicht eine absolute Neuheit sein, wenn der große Wissenschaftler alle Spuren seiner Konstruktion getilgt, alle Verbindungen zu seinen Vorläufern abgeschnitten und diese so ins Dunkel zurückgestoßen hat? Daß auch er mit derselben Guillotine und im Namen derselben obskurantistischen Aufklärung hingerichtet worden ist, ist eine düstere Ironie der Geschichte (Bensaude-Vincent 1989). Die Entstehung wissenschaftlicher und technischer Innovationen bleibt in der modernen Verfassung geheimnisvoll, und zwar deshalb, weil eine universelle Transzendenz fabrizierter und lokaler Gesetze undenkbar ist — und es bei Strafe des Skandals bleiben muß. Die Geschichte der Menschen dagegen wird kontingent sein, geschüttelt von Schall und Wahn. Es wird also zwei verschiedene Geschichten geben: Die eine beschäftigt sich mit den universellen und notwendigen Dingen, die immer schon dagewesen sind; sie kennt keine andere Geschichtlichkeit als totale Revolutionen und epistemologische Einschnitte. Die andere dagegen spricht vom Treiben der armen, von den Dingen losgelösten Menschenwesen, einem Treiben, das mehr oder weniger von den Umständen abhängt und mehr oder weniger beständig oder unbeständig ist. Vermittels dieser Unterscheidung zwischen Kontingentem und Notwendigem, Historischem und Zeitlosem wird die Geschichte der M o -

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dernen durch das Auftauchen nicht-menschlicher Akteure eingeteilt — durch den Satz des Pythagoras, den Heliozentrismus, die Gesetze des freien Falls, die Dampfmaschine, die Chemie Lavoisiers, die Impfung Pasteurs, die Atombombe, den Computer. U n d jedesmal beginnt man, ausgehend von diesen wunderbaren Anfängen, mit einer neuen Zeitrechnung. Es ist nicht abwegig, darin eine säkularisierte Inkarnation der transzendenten Wissenschaften in der Geschichte zu sehen. Man wird die Zeit »vor« und »nach« dem Computer unterscheiden wie die Jahre »vor« und »nach C h r i stus«. Mit bebender Stimme, wie sie oft die Erklärungen über das m o derne Schicksal begleitet, wird man sogar von einer »jüdisch-christlichen Konzeption der Zeit« sprechen. Dabei handelt es sich allerdings u m einen Anachronismus, denn weder die jüdischen Mystiker noch die christlichen Theologen hatten die geringste Neigung für die moderne Verfassung. U m die Präsenz (Gottes) herum konstruieren sie ihr R e g i m e der Zeit, und nicht u m das Auftauchen des Vakuums, der DNS, der Mikrochips oder der vollautomatisierten Fabriken. Die moderne Zeitlichkeit hat nichts »Jüdisch-Christliches« und — glücklicherweise — auch nichts Dauerhaftes. Sie ist eine Projektion des Reichs der Mitte auf eine in einen Pfeil verwandelte Linie. Sie resultiert aus der brutalen Trennung zwischen dem, was keine Geschichte hat, jedoch in der Geschichte auftaucht — die Dinge der Natur - und dem, was nie aus der Geschichte heraustritt — die Leidenschaften und M ü h e n der M e n schen. Aus der Asymmetrie zwischen Natur und Kultur wird damit eine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit war ein Durcheinander von Dingen und Menschen; Z u k u n f t ist, was sie nicht m e h r durcheinanderbringen wird. Modernisierung heißt, immer wieder aus ein e m die gesellschaftlichen Bedürfnisse mit der wissenschaftlichen Wahrheit vermengenden dunklen Zeitalter hinauszugelangen, u m einzutreten in ein neues Zeitalter, das endlich klar unterscheidet zwischen dem, was zur zeitlosen Natur gehört, und dem, was von den Menschen kommt; zwischen dem, was von den Dingen abhängt, und dem, was zu den Zeichen gehört. Demnach resultiert die moderne Zeitlichkeit aus einer U b e r lagerung der Differenz zwischen Vergangenheit und Z u k u n f t mit jener anderen, weit wichtigeren Differenz zwischen Vermittlung und Reinigung. Die Gegenwart gewinnt Gestalt durch eine Folge radikaler Brüche, die Revolutionen, deren jede eine irreversible Barriere darstellt, die uns für immer daran hindern soll, zurückzugehen. Für sich genommen ist diese

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Zeitlinie genauso leer wie das Skandieren eines Metronoms. Auf sie werden die Modernen jedoch die Vervielfachung der Quasi-Objekte projizieren und mit diesen Objekten zwei Zeitreihen des unwiederruflichen Fortschreitens entwerfen: die eine nach oben, den Fortschritt, die andere nach unten, den Niedergang.

Das Ende der überholten Vergangenheit Es stimmt zwar, daß die Mobilisierung der Welt und der Kollektive in immer größerem Maßstab die Akteure vervielfacht, aus denen sich unsere Gesellschaften und Naturen zusammensetzen. Aber nichts in dieser Mobilisierung weist auf einen geordneten und systematischen Lauf der Zeit hin. Trotzdem werden die Modernen mit Hilfe ihrer so besonderen Form von Zeitlichkeit die Vervielfachung neuer Akteure ordnen: Sie sehen darin entweder eine Kapitalbildung, eine Akkumulation von Eroberungen, oder aber eine Invasion von Barbaren, eine Folge von Katastrophen. Fortschritt und Niedergang sind ihre beiden großen Repertoires, und beide haben denselben Ursprung. Auf jeder der drei Linien — Kalenderzeit, Fortschritt, Niedergang — lassen sich auch die Antimodernen ausfindig machen. Sie akzeptieren die moderne Zeitlichkeit, kehren aber ihre Richtung um. U m den Fortschritt oder den Niedergang auszulöschen, möchten sie in die Vergangenheit zurückkehren — als gäbe es eine Vergangenheit! Woher kommt der so moderne Eindruck, in einer neuen Zeit zu leben, die mit der Vergangenheit gebrochen hat? Aus einer Verknüpfung, einer Wiederholung, die selbst nichts Zeitliches hat (Deleuze 1992). Der Eindruck des irreversiblen Laufs entsteht nur, wenn wir die Elemente, die unser Alltagsuniversum bilden, zu einer Kohorte verbinden. Erst ihre systematische Kohäsion und die Ersetzung dieser Elemente durch andere, ebenso kohärente in der folgenden Periode vermittelt uns den Eindruck eines Zeitlaufs, eines kontinuierlichen Flusses, der von der Zukunft in die Vergangenheit strömt, einer Treppenleiter, wie Péguy sagt. Damit die Zeit zum Fluß wird, müssen Entitäten zeitgleich gemacht werden, indem man sie im Gleichschritt marschieren läßt, und müssen dann von anderen, ebenfalls in Reih und Glied antretenden abgelöst werden. Die moderne Zeitlichkeit ist das Resultat einer Umschulung, der sämtliche Entitäten

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unterzogen werden. Ohne diese harsche Disziplinierung würden sie zu allen Arten von Zeiten gehören und den unterschiedlichsten ontologischen Status besitzen. Für sich genommen ist die Vakuumpumpe weder modern noch revolutionär. Sie assoziiert, kombiniert und regruppiert unzählige Akteure, von denen manche — jedoch keineswegs alle — neu und frisch sind: der König von England, das Vakuum, das Gewicht der Luft. Ihre Kohäsion ist nicht groß genug, als daß sich ein klarer Trennungsstrich zur Vergangenheit ziehen ließe. Dazu ist eine zusätzliche Arbeit der Klassifizierung, Reinigung und Umverteilung erforderlich. Erst dann erhält man den Eindruck einer Modernisierung, die auf der Höhe der Zeit ist. Wenn wir die Entdekkungen Boyles in die Ewigkeit versetzen und sie dann auf einen Schlag über England hereinbrechen lassen, wenn wir sie mit denen von Galilei und Descartes verbinden und alle drei in einer »wissenschaftlichen Methode« miteinander verknüpfen, wenn wir schließlich noch Boyles Glauben an "Wunder als archaisch verwerfen, erhalten wir am Ende den Eindruck einer radikal neuen, modernen Zeit. Die Vorstellung eines irreversiblen Pfeils — Fortschritt oder Niedergang — entsteht durch ein bestimmtes Anordnen der Quasi-Objekte, deren Zunahme die Modernen nicht erklären können. Die Unumkehrbarkeit im Zeitlauf selbst wiederum geht auf die Transzendenz der Wissenschaften und Techniken zurück; diese bleiben für die Modernen unverständlich, da die beiden Hälften ihrer Verfassung nie zusammen thematisiert werden. Das Ganze ist ein Klassifizierungsverfahren, um den uneingestandenen Ursprung natürlicher und sozialer Entitäten aus der Arbeit der Vermittlung zu verschleiern. So, wie die Modernen die konkreten Entstehungsbedingungen der Hybriden beseitigen, interpretieren sie die heterogenen Neuanordnungen als systematische Totalitäten, in denen alles mit allem fest verbunden ist. Der moderne Fortschritt ist nur unter der Bedingung denkbar, daß alle Elemente, die dem Kalender nach gleichzeitig sind, der gleichen Zeit angehören. Dazu müssen diese Elemente ein vollständiges und erkennbares System bilden. Dann, und nur dann bildet die Zeit einen kontinuierlichen und weiterströmenden Fluß, als dessen Avantgarde die Modernen und als dessen Nachhut die Antimodernen sich proklamieren können, während die Vormodernen in vollkommener Stagnation am Ufer verharren. Diese wunderschöne Ordnung gerät durcheinander, sobald die QuasiObjekte als Gemenge verschiedener Epochen, Ontologien und Gattun-

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gen betrachtet werden. Sofort vermittelt eine historische Periode dann den Eindruck einer großen Bastelei. Statt eines schönen gleichmäßigen Stromes sieht man nun einen turbulenten Fluß mit Wirbeln und Stromschnellen. Aus einer irreversiblen Zeit wird eine reversible. Zunächst stört das die Modernen nicht. Alles, was nicht im Takt des Fortschritts marschiert, betrachten sie als archaisch, irrational oder konservativ. Und da es tatsächlich Antimoderne gibt, die ausgesprochen gerne die im modernen Drehbuch vorgesehene Rolle der Reaktionäre spielen, können die großen Dramen des leuchtenden Fortschritts im Kampf gegen den Obskurantismus (oder das Antidrama der wahnsinnigen Revolutionäre gegen die vernünftigen Konservativen) zum großen Vergnügen der Zuschauer aufgeführt werden. Damit die moderne Zeitlichkeit jedoch weiterhin funktioniert, muß der Eindruck einer geordneten Front von Entitäten, die zur selben Zeit gehören, glaubwürdig bleiben. Es darf nicht zu viele Gegenbeispiele geben. Werden diese zu zahlreich, läßt sich unmöglich noch vom Archaischen oder von der Wiederkehr des Verdrängten sprechen. Durch die Vermehrung der Quasi-Objekte sind moderne Zeitlichkeit und Verfassung aus den Fugen geraten. Die Flucht der Modernen nach vorne hat vielleicht vor 20 Jahren, vielleicht vor zehn Jahren, vielleicht vor einem Jahr aufgehört — mit der Vermehrung von Ausnahmen, für die niemand mehr einen Platz im regelmäßigen Fluß der Zeit sah. Zunächst waren da die Wolkenkratzer der postmodernen Architektur (die Architektur steht am Ursprung dieses unglücklichen Ausdrucks), dann die islamische Revolution von Khomeini, von denen niemand mehr zu sagen vermochte, ob sie der Zeit voraus oder hinterher waren. Seitdem haben die Ausnahmen nicht mehr aufgehört, aus dem Boden zu schießen. Niemand kann mehr in einer einzigen kohärenten Gruppe die Akteure einordnen, die zur »gleichen Zeit« gehören. Niemand weiß mehr, ob der in den Pyrenäen wieder heimisch gemachte Bär, ob die Kolchosen, die Spraydosen, die grüne Revolution, die Pockenschutzimpfung, der Krieg der Sterne, die moslemische R e l i g i o n , die R e b h u h n j a g d , die Französische Revolution, das Unternehmen der dritten Art, die Gewerkschaften, die kalte Kernfusion, der Bolschewismus, die Relativität, der slowenische Nationalismus, Segelschiffe etc. altmodisch, aktuell, futuristisch, zeitlos, inexistent oder permanent sind. Diesen Wirbel im Zeitfluß haben die Postmodernen sehr früh und sensibel in den beiden Avantgarden von Kunst und Politik erspürt (Hutcheon 1989).

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Wie immer ist der Postmodernismus ein Symptom und keine Lösung: Er »deckt das Wesen der Moderne als Zeitalter der Reduktion des Seins auf das novum auf. Die Postmoderne hat erst begonnen, doch die Gleichsetzung des Seins mit dem novum wirft weiterhin ihren Schatten auf uns, gerade so wie der bereits gestorbene Gott, von dem die Fröhliche Wissenschaft spricht« (Vattimo 1987, S. 182f). Die Postmodernen bewahren den modernen Rahmen, aber zerstreuen die Elemente, welche die Modernen in einer gut geordneten Mannschaft aufmarschieren ließen. Die Postmodernen haben recht mit der Zerstreuung, denn jede zeitgenössische Versammlung ist polytemporell. Aber sie haben unrecht, wenn sie den R a h m e n bewahren und noch an den Anspruch der fortgesetzten Neuheit glauben, auf den sich der Modernismus berief. Indem sie die Elemente der Vergangenheit in Form von Collagen und Zitaten vermischen, erkennen die Postmodernen an, wie überholt diese Zitate in Wirklichkeit sind. Übrigens gerade weil sie aus der Mode sind, werden sie von ihnen hervorgezerrt, um die alten »modernistischen« Avantgarden zu schockieren, die nicht mehr wissen, an welchen Heiligen sie sich noch wenden sollen. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen dem provokativen Zitat, das aus einer wirklich überholten Vergangenheit herausgerissen wird, und der Reprise, der Wiederholung, dem neuen Zusammenbrauen einer Vergangenheit, die nie verschwunden war.

Sortieren, Auswahl und multiple Zeiten Glücklicherweise zwingt uns nichts, die moderne Zeitlichkeit und alles, was sie mit sich führt, beizubehalten: ihre Abfolge radikaler Revolutionen; ihre Antimodernen, die zurückkehren in das, was sie für die Vergangenheit halten; ihr Doppelkonzert von Lobreden und Klagen für oder gegen den ständigen Forschritt, für oder gegen den ständigen Niedergang. W i r sind nicht auf ewig an diese Zeitlichkeit gekettet, mit der sich weder unsere Vergangenheit noch unsere Zukunft verstehen läßt und die uns zwingt, die dritten Welten der menschlichen und nicht-menschlichen Wesen allesamt zum alten Eisen der Geschichte zu werfen. Besser wäre zu sagen, daß die moderne Zeitlichkeit aufgehört hat. Lamentieren wir nicht darüber, denn unsere wirkliche Geschichte hatte immer nur recht lose Beziehungen zu diesem Prokrustesbett, in das die Modernisierer und ihre Feinde sie gezwängt hatten.

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Die Zeit ist kein allgemeiner Rahmen, sondern das provisorische R e sultat der Verbindung der verschiedenen Wesen. Die moderne Disziplin versammelte, umklammerte, systematisierte die Kohorte der gleichzeitigen Elemente, um sie zusammenzuhalten und so jene zu eliminieren, die nicht zum System passen. Dieser Versuch ist gescheitert, er war immer schon zum Scheitern verurteilt. Es gibt keine anderen Elemente mehr als solche, die dem System entgehen, es hat nie andere gegeben: Objekte, deren Datum und Dauer unbestimmt sind. Nicht bloß die Beduinen oder die Kung vermengen Transistorradios und traditionelle Verhaltensweisen, Plastikeimer und Tierhautschläuche. Von welchem Land ließe sich nicht sagen, daß es ein »Land voller Gegensätze« ist? Wir sind alle dabei, die Zeiten zu vermengen. Wir sind alle wieder vormodern geworden. Aber wenn wir nicht mehr in der Art der Modernen vorwärtskommen können, müssen wir dann in der Art der Antimodernen zurückschreiten? Nein, wir müssen von einer Form der Zeitlichkeit zu einer anderen übergehen. Denn eine Zeitlichkeit für sich genommen hat nichts Zeitliches. Es ist eine bestimmte Ordnung, um Elemente zu verbinden. Wenn wir das Klassifizierungsprinzip ändern, erhalten wir ausgehend von denselben Ereignissen eine andere Zeitlichkeit. Nehmen wir zum Beispiel an, daß wir die gleichzeitigen Elemente entlang einer Spirale anordnen und nicht mehr entlang einer geraden Linie. Wir haben dann sehr wohl eine Zukunft und eine Vergangenheit, aber die Zukunft hat die Form eines sich in alle Richtungen ausweitenden Kreises, und die Vergangenheit ist nicht überholt, sondern wird wiederholt, aufgegriffen, umschlossen, geschützt, neu kombiniert, neu interpretiert und neu geschaffen. Elemente, die entfernt scheinen, wenn wir der Linie der Spirale folgen, lassen sich sehr nahe beieinander wiederfinden, wenn wir verschiedene Windungen vergleichen. Umgekehrt können Elemente, die auf der Linie der Spirale sehr nahe beieinander, d. h. gleichzeitig sind, sich sehr weit voneinander entfernen, wenn wir einen Radius durchlaufen. Mit einer solchen Zeitlichkeit sind wir nicht mehr gezwungen, die Etiketten »archaisch« oder »fortgeschritten« zu verwenden, denn jede Kohorte zeitgenössischer Elemente kann Elemente aus allen Zeiten zusammenfügen. In einem solchen Rahmen werden unsere Handlungen endlich als polytemporell anerkannt. Möglicherweise benutze ich außer einem elektrischen Bohrer auch einen Hammer. Der erste ist 25 Jahre alt, der zweite Hunderttausende von

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Jahren. Bin ich deshalb schon ein Bastler »von Gegensätzen«, weil ich Gesten aus verschiedenen Zeiten mische? Bin ich eine ethnographische Kuriosität? Man sollte mir im Gegenteil eine Aktivität zeigen, die unter dem Gesichtspunkt der modernen Zeit homogen ist. Manche meiner Gene sind 500 Millionen Jahre alt, andere 3 Millionen, andere 100 000 Jahre, und meine Gewohnheiten staffeln sich von einigen Tagen zu einigen Tausenden von Jahren. Wie die Clio Peguys sagte, und wie Michel Serres wiederholt, »tauschen und mischen wir Zeit« (Serres 1992a). Dieser Tausch definiert uns, und nicht der Kalender oder der Fluß, den sich die Modernen flir uns ausgedacht haben. Auch wenn wir alle Burggrafen hintereinander aufreihen, haben wir immer noch nicht die Zeit. Steigen wir aber seitwärts hinab, um das Ereignis von Cherubims Tod in seiner Intensität zu erfassen, so wird uns die Zeit darüber hinaus gegeben. Sind wir also traditionell? Ebensowenig. Der Gedanke einer stabilen Tradition ist eine Illusion, die von den Anthropologen bereits seit langem in ihre Schranken verwiesen worden ist. Alle unwandelbaren Traditionen waren vorgestern noch in Bewegung. Mit den meisten altüberlieferten Volksbräuchen verhält es sich wie mit dem »jahrhundertealten« Kilt der Schotten, der von A bis Z zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfunden worden ist (Trevor-Roper 1983); oder wie mit der Tafelrunde der »Chevaliers du tastevin« meiner kleinen Stadt in Burgund, deren lOOOjähriges Ritual keine 50 Jahre alt ist. »Die Völker ohne Geschichte«, sind von denen erfunden worden, die glaubten, eine radikal neue Geschichte zu haben (Goody 1990). In der Praxis sind erstere unablässig dabei, Neuerungen einzuführen; letztere dagegen sind gezwungen, die gleichen Rituale von Revolutionen, epistemologischen Einschnitten und Kontroversen zwischen Alten und Modernen wieder und wieder zu durchlaufen. Man wird nicht als Traditionalist geboren; man enscheidet sich dafür, es zu werden, indem man viele Neuerungen einführt. Der Gedanke einer identischen Wiederholung der Vergangenheit und der eines radikalen Bruchs mit jeder Vergangenheit sind zwei symmetrische Resultate ein und derselben Konzeption der Zeit. Wir können nicht in die Vergangenheit zurückkehren, zur Tradition, zur Wiederholung. Denn diese großen unbeweglichen Ländereien sind das Vexierbild jenes Landes, das für uns heute nicht mehr das gelobte Land ist: Fortschritt, permanente Revolution, Modernisierung, Flucht nach vorne. Was tun, wenn wir weder vorwärts- noch zurückgehen können? Unsere Aufmerksamkeit verschieben. Wir sind nie vorgerückt oder zurück-

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gegangen. W i r haben immer aktiv Elemente sortiert und ausgewählt, die zu verschiedenen Zeiten gehören. Wir können immer noch auswählen. Dieses Auswählen macht die Zeiten und nicht die Zeiten das Auswählen. Der Modernismus — mit seinen anti- und postmodernen Korollarien — war nur das provisorische Resultat einer Auswahl, die von einer kleinen Anzahl Akteure im Namen aller getroffen wurde. Wenn wir verstärkt die Fähigkeit wieder nutzen, selbst die Elemente auszuwählen, die zu unserer Zeit gehören, finden wir die Bewegungsfreiheit wieder, die der Modernismus uns absprach, eine Freiheit, die wir in Wirklichkeit nie verloren hatten. Wir tauchen nicht aus einer dunklen Vergangenheit auf, die ein Gemenge von Kulturen und Naturen darstellt, um in eine leuchtende Zukunft zu gelangen, wo beides endlich klar getrennt ist, dank einer permanenten Revolution der Gegenwart. Wir waren nie in einen homogenen und weltumspannenden Fluß geworfen, der, sei es aus der Zukunft, sei es vom Anbeginn der Zeiten kommt. Die Modernisierung hat nie stattgefunden. Es gibt keine Flut, die lange Zeit gestiegen wäre und heute zurückflutet. Es hat nie eine Flut gegeben. Wir können zu etwas anderem übergehen, d. h. auf die vielfachen Dinge zurückkommen, die immer auf unterschiedliche Weise »passiert« sind.

Eine kopernikanische Gegenrevolution Wäre es uns noch länger gelungen, Menschenmassen und nicht-menschliche Umwelt hinter uns zurückzudrängen und zu verdrängen, hätten wir wahrscheinlich weiterhin glauben können, daß der Lauf der modernen Zeit tatsächlich alles auf seinem Weg eliminiert. Aber das Verdrängte kehrt wieder. Die Massen sind von neuem da, die Menschenmassen des Ostens und des Südens und die unendliche Varietät der nicht-menschlichen Massen von überallher. Sie können nicht mehr ausgebeutet werden. Sie können nicht mehr überholt werden, denn nichts überholt sie mehr. Nichts ist umfassender als die uns umgebende Natur; die Völker des Ostens gehen nicht mehr in ihren proletarischen Avantgarden auf; und auch die Massen der dritten Welt wird nichts mehr eingrenzen können. W i e können wir sie integrieren, fragen sich die Modernen voller Angst? W i e sie alle modernisieren? Man konnte es einmal, man glaubte es zu können, man kann es nicht mehr glauben. Wie ein großer Dampfer, den die Eis-

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massen in der Sargassosee erst bremsen, dann zum Stillstand bringen, ist auch die Zeit der Modernen schließlich stehengeblieben. Aber das ist keine Frage der Zeit. Vielmehr bildet die Verbindung der Wesen die Zeit. Die systematische Verbindung der Entitäten in einem kohärenten Ganzen bildet den Fluß der modernen Zeit. Jetzt, wo dieser ruhige und gleichmäßige Fluß turbulent geworden ist, können wir damit aufhören, den leeren R a h m e n der Zeitlichkeit zu analysieren, und zur Zeit zurückkommen, die »passiert«, d. h. zu den Wesen und ihren Beziehungen, zu den N e t zen, diesen Konstrukteuren von Irreversibilität und Reversibilität. Aber wie kann das Prinzip verändert werden, nach dem man die Wesen klassifiziert? Wie soll man den illegitimen Massen eine Repräsentation geben, eine Abstammung, einen Personenstand? Wie soll man jene terra incognita erkunden, die uns gleichwohl so vertraut ist? W i e soll man von der Welt der Objekte oder der Subjekte zu dem kommen, was ich QuasiObjekte oder Quasi-Subjekte genannt habe? Wie von der transzendenten/immanenten Natur übergehen zu jener Natur, die noch genauso wirklich ist, aber aus den wissenschaftlichen Laboratorien stammt und dann zu äußerer Realität geworden ist? Wie von der transzendenten/immanenten Gesellschaft zu den Kollektiven von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen gelangen? Wie soll man vom gesperrten transzendenten/immanenten Gott zum Gott der Anfange kommen, den man vielleicht den Gott von unten nennen sollte? Wie zu den Netzen gelangen, diesen Wesen mit ihrer so merkwürdigen Topologie und noch merkwürdigeren O n tologie, die in der Lage sind, zu verbinden und zu trennen, d. h. sowohl Zeit als auch R a u m hervorbringen können? Wie das Reich der Mitte denken? Ich sagte es bereits: Wir müssen gleichzeitig die moderne und die nichtmoderne Dimension aufzeichnen, Längen- und Breitengrade eintragen. Dann können wir Karten entwerfen, in denen beide Prozesse — Vermittlung und Reinigung — Platz finden. Die Modernen wußten genau, wie sie dieses Reich zu denken hatten. Sie ließen die Quasi-Objekte nicht durch Leugnung und Verneinung verschwinden, als wollten sie sie verdrängen. Im Gegenteil, sie erkannten ihre Existenz an, aber nahmen ihr jede Relevanz, indem sie aus vollwertigen Mittlern bloße Zwischenglieder machten. Ein Zwischenglied wird zwar als notwendig angesehen, aber seine Aufgabe besteht nur darin, die von einem Pol der Verfassung stammende Energie zu transportieren, zu übertragen, zu »übermitteln«. Für sich genommen ist es leer; es kann nur

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mehr oder weniger getreu oder mehr oder weniger abwegig übermitteln. Ein Mittler jedoch ist ein originäres Ereignis. Er erschafft, was er übersetzt, mit gleichem R e c h t wie die Entitäten, zwischen denen er seine Mittlerrolle spielt. Sobald wir allen Akteuren diese Mittlerrolle wieder zuerkennen, hat sich die Welt als solche nicht verändert. Sie wird nach wie vor von denselben Entitäten bevölkert, aber sie ist nicht mehr m o dern und wird, was sie nie aufgehört hat zu sein, nämlich nichtmodern. W i e stellten es die Modernen an, die Vermittlungsarbeit gleichzeitig anzuerkennen und aufzuheben? Indem sie jede Hybride als Mischung zweier reiner Formen ansahen. Die modernen Erklärungen bestanden darin, die Mischwesen aufzuspalten, u m herauszuziehen, was vom Subjekt (oder vom Sozialen) kam und was vom Objekt. Anschließend wurden die Zwischenglieder vervielfacht, u m die Einheit, die durch diese Erklärungen zerstört worden war, die man aber dennoch nicht verlieren wollte, durch die M i schung reiner Formen wiederherzustellen. Diese Operationen der Analyse und Synthese hatten also immer drei Aspekte: eine primäre Reinigung, eine Trennung durch Aufteilungen, eine schrittweise Neuvermischung. Die kritische Erklärung ging immer von den beiden Polen aus und zur Mitte hin, welche zuerst die Trennungslinie, dann der Verbindungspunkt fiir entgegengesetzte Ressourcen war - die Stelle der Erscheinungen in Kants großer Erzählung. So wurde die Mitte gleichzeitg beibehalten und beseitigt, anerkannt und verleugnet, thematisiert und verschwiegen. Daher kann ich, ohne mir zu widersprechen, sagen, daß niemand j e modern gewesen ist und daß wir heute nicht mehr modern sind. Die Notwendigkeit, die Zwischenglieder zu vervielfachen, u m die verlorene Einheit wiederherzustellen, ist stets anerkannt worden. Niemand außer den Postmodernen glaubt daher wirklich an zwei extreme Pole von Natur und Gesellschaft, die radikal verschieden wären von freischwebenden und losgelösten N e t z werken. Solange die Zwischenglieder jedoch als Mischungen reiner Formen angesehen wurden, war der Glaube an die Existenz einer modernen Welt unvermeidlich. Der ganze Unterschied dreht sich u m die scheinbar kleine Nuance zwischen Mittlern und Zwischengliedern. Wenn wir das Reich der Mitte für sich genommen entfalten wollen, müssen wir also die allgemeine Form der Erklärungen umdrehen. Der Punkt der Spaltung - und der Verbindung - wird zum Ausgangspunkt. Die Erklärungen verlaufen nicht mehr von den reinen Formen zu den Erscheinungen, sondern vom Zentrum zu den Extremen. Letztere sind

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nicht mehr der Verankerungspunkt der Realität, sondern provisorische und partielle Resultate. Die Schichtung der Zwischenglieder wird durch Ketten von Mittlern ersetzt, wie es Antoine Hennion in seinem Modell vorschlägt (Hennion 1991). Statt die Existenz von Hybriden zu verneinen — und sie ungeschickt als Zwischenglieder wieder einzuführen —, ermöglicht dieses Erklärungsmodell, die Arbeit der Reinigung als besonderen Fall der Vermittlung zu integrieren. Damit wird der einzige Unterschied zwischen der modernen und der nichtmodernen Konzeption aufgehoben, da die Reinigung nun als nützliche Arbeit betrachtet wird, die Instrumente, Institutionen und K n o w - h o w erfordert. Im modernen Paradigma gab es dagegen nur die Reinigung und keine explizite Funktion und offensichtliche Notwendigkeit für die Arbeit der Vermittlung. W i e wir weiter oben gesehen haben, liefert die kopernikanische R e volution Kants ein vervollkommnetes Modell der modernen Erklärungen: Das Objekt dreht sich u m einen neuen Brennpunkt, und die Z w i schenglieder werden vervielfacht, um die Distanz zwischen den beiden Polen nach und nach aufzuheben. Aber nichts verpflichtet uns, diese R e volution für das entscheidende Ereignis zu halten, das uns endgültig auf den sicheren Weg von Wissenschaft, Moral und Theologie gebracht hätte. Mit diesem Umsturz verhält es sich wie mit der Französischen Revolution, die mit ihm zusammenhängt. Beides sind exzellente Werkzeuge, u m die Zeit irreversibel zu machen, sie selbst aber sind nicht irreversibel. K o pernikanische Gegenrevolution nenne ich den Umsturz des Umsturzes. O d e r vielmehr jene Verschiebung von den Extremen zum Z e n t r u m und nach unten, wodurch Objekt wie Subjekt u m die Praxis der Quasi-Objekte und Mittler zu kreisen beginnen. Wir brauchen unsere Erklärungen nicht mehr an den beiden reinen Formen Objekt und Subjekt/Gesellschaft festzumachen: Diese sind vielmehr die partiellen und bereinigten Resultate der zentralen Praxis, welche allein uns interessiert. Auch in der von uns gesuchten Erklärung werden Natur und Gesellschaft enthalten sein, aber als Endresultat, nicht als Ausgangspunkt. Die Natur dreht sich, aber nicht um das Subjekt/die Gesellschaft. Sie dreht sich u m das Dinge und Menschen produzierende Kollektiv. Das Subjekt dreht sich, aber nicht u m die Natur. Es dreht sich u m das Kollektiv, aus dem heraus Menschen und Dinge erzeugt werden. Endlich ist das Reich der Mitte repräsentiert. Naturen und Gesellschaften sind seine Satelliten.

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Von den Zwischengliedern zu den Mittlern Sobald wir die kopernikanische Gegenrevolution durchfuhren und die Quasi-Objekte unterhalb und gleich weit entfernt von den früheren Dingen an sich und Menschen unter sich plazieren, sobald wir zur immer schon bestehenden Praxis zurückkommen, bemerken wir, daß es keinen Grund mehr gibt, die entscheidenden ontologischen Varietäten auf zwei zu beschränken (oder auf drei, wenn wir den gesperrten Gott mitzählen). Ist die Vakuumpumpe, die uns bis jetzt als Beispiel gedient hat, eine neue, eigenständige ontologische Varietät? U m diese Frage zu beantworten, helfen uns asymmetrische Historiker nicht weiter, denn sie sind unfähig, das gemeinsame ontologische Problem zu lokalisieren. Asymmetrisch sind beispielsweise Historiker, die sich auf das England des 17. Jahrhunderts spezialisiert haben und sich nicht im geringsten für die Pumpe interessieren, außer daß diese beim Aufstellen ihrer Chronologie plötzlich vom Himmel der Ideen fallt. Auf der anderen Seite werden Wissenschaftler und Epistemologen die Physik des Vakuums beschreiben, ohne sich im geringsten mit England oder gar mit Boyle zu beschäftigen. Lassen wir diese beiden asymmetrischen Aufgabenstellungen beiseite, von denen die eine die nicht-menschlichen Wesen vergißt, die andere die Menschen. Wenden wir uns statt dessen den symmetrischen Historikern zu, die die beiden Seiten der Bilanz vergleichen, indem sie auf Zwischenglieder oder Mittler Bezug nehmen. In der modernen Welt der kopernikanischen Revolution gibt es nichts Neues. Denn sobald eine neue Entität auftaucht, müßten wir diese zweiteilen und ihre Originalität auf zwei Pole verteilen. Ein erster Teil wanderte nach links und würde zu »Naturgesetzen«, ein zweiter nach rechts und würde zur »englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts«; und dann könnten wir vielleicht noch die Stelle der Erscheinung markieren, diese Leerstelle, wo die beiden Pole wieder verbunden werden. Schließlich müßten wir, indem wir die Zwischenglieder vervielfachen, das wieder verbinden, was wir soeben voneinander entfernt hatten. Wir würden sagen, daß die Luftpumpe im Labor die Gesetze der Natur »offenbart« oder »repräsentiert« oder »sinnfällig macht« oder »zu erfassen erlaubt«. Und daß die sozialen »Repräsentationen« der wohlhabenden englischen Gentlemen es ermöglichten, den Luftdruck zu »interpretieren« und die Existenz eines Vakuums zu »akzeptieren«. Wenn wir uns dem Punkt des Zusammen-

Von den Zwischengliedern zu den Mitdern

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treflfens und der Spaltung näherten, würden wir vom globalen Kontext zum lokalen übergehen und zeigen, wie die Handgriffe Boyles und der von der Royal Society ausgeübte Druck diesen Gentlemen ermöglicht haben, die Mängel der Pumpe, ihre undichten Stellen und Unregelmäßigkeiten zu verstehen. Durch die Vervielfachung von Zwischengliedern hätten wir schließlich die beiden zunächst unendlich entfernten Teile, die zur Natur und zur Gesellschaft gehören, wieder zusammengeführt. In einer solchen Erklärung hätte sich im Grunde nichts Wesentliches ereignet. U m unsere Luftpumpe zu erklären, hätten wir bloß unsere Hand entweder in die Urne gesteckt, die seit Ewigkeiten die Naturwesen enthält, oder in die andere Urne mit den ewig gleichen Triebkräften der sozialen Welt. Die Natur ist immer die gleiche; die Gesellschaft setzt sich immer aus den gleichen Ressourcen, den gleichen Interessen, den gleichen Leidenschaften zusammen. In der modernen Perspektive ermöglichen Natur und Gesellschaft eine Erklärung, weil sie selbst nicht erklärungsbedürftig sind. Selbstverständlich existieren Zwischenglieder, deren Rolle genau darin besteht, die Verbindung zwischen beiden herzustellen; aber sie stellen die Verbindung nur deshalb her, weil ihnen selbst jede ontologische Dignität fehlt. Sie transportieren nur, befördern nur, übermitteln nur die Macht der beiden einzigen wirklichen Wesen: Natur und Gesellschaft. Gewiß kann ihre Übermittlung unzulänglich sein, stumpßinnig oder ungetreu. Aber diese mangelnde Zuverlässigkeit gibt ihnen keine eigene Bedeutung, sondern beweist im Gegenteil ihren Status als Zwischenglieder. Sie haben keine eigene Kompetenz. Schlimmstenfalls sind es Hohlköpfe oder Sklaven, bestenfalls loyale Diener. Führen wir die kopernikanische Gegenrevolution durch, so sind wir verpflichtet, die Arbeit der Zwischenglieder sehr viel ernster zu nehmen. Denn diese müssen nun nicht mehr die Macht der Natur oder der Gesellschaft übermitteln, und doch produzieren sie dieselben RealitätsefFekte. Zählen wir nun die mit einem autonomen Status versehenen Entitäten, so finden wir sehr viel mehr als zwei oder drei. Wir finden Dutzende. Hat die Natur Abscheu vor der Leere oder nicht? Gibt es ein wirkliches Vakuum in der Pumpe oder hat sich irgendein feiner Äther hineingeschlichen? Wie werden die Zeugen der Royal Society die undichten Stellen der Pumpe erklären? Was wird der englische König dazu sagen, daß man wieder über die Eigenschaften der Materie zu sprechen beginnt und private Kreise bildet, während man gerade damit angefangen hatte, endlich

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die Frage der absoluten Macht zu regeln? Wird die Glaubhaftigkeit von Wundern durch die Mechanisierung der Materie erschüttert oder verstärkt? Wird Boyle ein angesehener Experimentator werden, obwohl er sich vulgären experimentellen Aufgaben widmet und die deduktive Erklärung aufgibt, die einzig eines Wissenschaftlers würdig wäre? Alle diese Fragen sind nicht mehr zwischen Natur und Gesellschaft eingezwängt, denn sie alle definieren um, was die Natur vermag und was die Gesellschaft ist.

Natur und Gesellschaft sind keine explikativen Begriffe mehr, sondern verlangen gemeinsam eine Erklärung (Latour 1987). U m die Arbeit der Pumpe herum bilden sich ein neuer Boyle, eine neue Natur, eine neue Theologie der Wunder, eine neue Wissenschaftlergemeinschaft und eine neue Gesellschaft, zu der nun auch Vakuum, Wissenschafder und Labor gehören. Geschichte ist aktiv. Jede Entität ist ein Ereignis. Wir werden die Innovation der Luftpumpe nicht mehr erklären, indem wir abwechselnd in die beiden Urnen Natur und Gesellschaft greifen. Im Gegenteil, wir füllen diese Urnen oder modifizieren zumindest gründlich ihren Inhalt. Die Natur wird verwandelt aus dem Laboratorium Boyles hervorgehen, ebenso die englische Gesellschaft, aber auch Boyle und Hobbes werden sich verändern. Solche Metamorphosen bleiben unverständlich, wenn es seit unvordenklichen Zeiten nur zwei Wesen gibt, Natur und Gesellschaft; oder wenn die erste ewig ist, während allein die zweite von den Unbilden der Geschichte geschüttelt wird. Die Metamorphosen werden dagegen verständlich, wenn wir das Sein an alle Wesen umverteilen, die die Geschichte bilden. Dann aber sind diese nicht länger bloße Zwischenglieder, die mehr oder weniger zuverlässig sind. Sie werden zu Mittlern, das heißt Akteuren, die mit der Fähigkeit begabt sind, das von ihnen Ubermittelte zu übersetzen, umzudefinieren, neu zu entfalten oder aber zu verraten. Aus Leibeigenen sind freie Bürger geworden. Wenn wir allen Mittlern das bis jetzt in der Natur oder der Gesellschaft gefangene Sein schenken, wird der Lauf der Zeit schon verständlicher. In der Welt der kopernikanischen Revolution, wo alles zwischen die beiden Pole Natur und Gesellschaft hineinpassen mußte, zählte die Geschichte nicht wirklich. Es wurde lediglich die Natur entdeckt oder die Gesellschaft entwickelt, oder die eine auf die andere angewendet. In den Erscheinungen trafen von jeher präsente Elemente zusammen. Wohl gab es eine kontingente Geschichte, aber einzig für die Menschen, losge-

Streitsache und Tatsache

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löst von den gesetzmäßigen Naturdingen. Erst wenn wir von der Mitte ausgehen, erst wenn wir die Richtung der Erklärung umdrehen, das an den beiden Extremen angehäufte Sein nehmen und es auf die Gesamtheit der Zwischenglieder neu verteilen und diese in den Rang von vollwertigen Mittlern erheben, wird Geschichte wirklich möglich. Die Zeit ist nicht mehr gleich-gültig, sondern jetzt zählt sie wirklich. Es geschieht wirklich etwas mit Boyle, mit der Elastizität der Luft, mit dem Vakuum, der Luftpumpe, dem König, mit Hobbes. Sie alle gehen verändert aus der Situation hervor. Alle Wesenheiten werden zu Ereignissen, die Elastizität der Luft mit gleichem Recht wie der Tod Cherubims. Geschichte ist nicht mehr bloß Geschichte der Menschen, sie wird auch Geschichte der Naturdinge (Serres 1994a).

Streitsache und Tatsache Die kopernikanische Gegenrevolution läuft darauf hinaus, die Stellung des Objekts zu verändern, um es vom Ding an sich wegzubringen und hin zum Kollektiv zu verschieben, ohne es jedoch der Gesellschaft anzunähern. U m diese Verschiebung, diese Abwärtsbewegung zu erreichen, sind die Arbeiten von Serres ebenso wichtig wie die von Shapin und Schaffer und von Hennion. »Wir versuchen zu beschreiben, wie das Objekt auftaucht, nicht nur das Werkzeug oder die schöne Statue, sondern das Ding im allgemeinen, ontologisch gesprochen. Wie kommt das Objekt zur H o minität?« schreibt Michel Serres in einem seiner besten Bücher (Serres 1987a, S. 162). Das Problem ist, daß er »in den Büchern nichts finden kann, das von der primitiven Erfahrung spricht, in deren Verlauf das Objekt als solches das Hominidensubjekt konstituierte. Denn die Bücher werden geschrieben, um diese Empirie mit Schweigen zu bedecken oder die Zugangspforte zu vermauern, und die Reden verscheuchen mit ihrem Lärm, was dort in diesem Schweigen passierte« (S. 216). Wir besitzen Hunderte von Mythen, die erzählen, wie das Subjekt (oder das Kollektiv oder die Intersubjektivität oder die Episteme) das Objekt konstruiert — wobei die kopernikanische Revolution Kants nur ein Bei-

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spiel aus einer langen Ahnenreihe ist. Wir haben jedoch nichts, um uns den anderen Aspekt der Geschichte zu erzählen: wie das Objekt das Subjekt schafft. Shapin und Schaffer verfügen über Tausende Seiten Archivmaterial zu den Gedanken von Boyle und Hobbes, aber sie haben kein Material über die stumme Arbeit der Luftpumpe oder über die Fingerfertigkeit, die zu ihrer Handhabung erforderlich war. Die Zeugnisse für diese zweite Hälfte der Geschichte bestehen nicht aus Texten oder Sprachen, sondern aus schweigenden, rohen Resten wie Pumpen, Steinen und Statuen. Wenngleich die Archäologie von Serres sich mehrere Schichten tiefer abspielt, stößt er sich am gleichen Schweigen wie Shapin und Schaffer. »Das Volk Israels klagt vor der niedergerissenen Klagemauer: Vom Tempel bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Was mag der weise Thaies vor den Pyramiden Ägyptens gesehen, getan, gedacht haben, in einem Moment, der für uns so antik wirkt, wie für ihn der Name Cheops archaisch klang? Warum erfindet er vor diesem Steinhaufen die Geometrie? Der ganze Islam träumt davon, nach Mekka zu reisen, wo in der Kaaba der schwarze Stein aufbewahrt wird. Mit dem freien Fall wird in der Rennaissance die moderne Wissenschaft geboren: Steine fallen. Warum gründete Jesus die christliche Kirche auf einen Mann mit Namen Petrus, d. h. Stein? In diesen Gründungsbeispielen vermische ich absichtlich Religionen und Erkenntnisse.« (S. 213) Warum sollten wir eine so vorschnelle Verallgemeinerung derart verschiedener Versteinerungen ernst nehmen, wo der schwarze Stein der Religion mit Galileis freiem Fall der Körper zusammengebracht wird? Aus demselben Grund, aus dem ich die Arbeit von Shapin und Schaffer ernstgenommen habe:Auch sie mischen in ihren Gründungsbeispielen der modernen Wissenschaft und Politik »absichtlich Religionen und Erkenntnisse«. Shapin und Schaffer haben der Epistemologie einen n e u e n unbekannten Akteur aufgebürdet, diese zusammengebastelte, zusammengeflickte und undichte Luftpumpe. Serres bürdet der Epistemologie ebenfalls neue unbekannte Akteure auf: die stummen Dinge. Sie tun es alle aus den gleichen anthropologischen Gründen: Wissenschaft und Religion werden verbunden durch eine tiefgreifende Neuinterpretation dessen, was

Streitsache und Tatsache

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anklagen und überprüfen heißt. Für Serres wie für Boyle ist die Wissenschaft ein Zweig des Rechtswesens: »In allen Sprachen Europas, im N o r d e n wie im Süden, hat das Wort >DingSache< [cause], das aus d e m juristischen oder politischen Bereich oder der Kritik im allgemeinen geschöpft ist. Als existierten die Objekte selbst nur gemäß den Debatten einer Versammlung oder nach der von Geschworenen ausgesprochenen E n t scheidung. Die Sprache will, daß die Welt allein aus ihr k o m m t . Zumindest sagt sie es« (S. 111). »So nannte die lateinische Sprache das D i n g res, w o h e r wir sowohl die Realität haben als auch die Streitsache des juristischen Verfahrens als auch die Sache selbst oder die Ursache; für die Alten trug der Angeklagte dementsprechend den N a m e n reus, weil die R i c h t e r ihn zitierten. Als ob die menschliche Realität allein von den Tribunalen käme« (307). »Hier erwartet uns das W u n d e r und die Auflösung des höchsten Rätsels. Das Wort Streitsache bezeichnet die Wurzel oder den U r s p r u n g des W o r tes Ding: causa, cosa; desgleichen thing oder Ding. [...] Das Tribunal setzt die Identität der Streitsache u n d des Dings, des Worts u n d des Objekts in Szene, oder den substitutiven Ubergang vom einen zum anderen. Hier taucht ein D i n g auf« (S. 294). In diesen drei Zitaten verallgemeinert Serres die Resultate, die Shapin u n d Schaffer mit soviel M ü h e zusammengetragen haben: Die Streitsachen, die Steine und die Tatsachen n e h m e n nie die Position des Dings an sich ein. Boyle fragte sich, wie den Bürgerkriegen ein Ende zu machen sei. U n d suchte eine Antwort, i n d e m er die Materie zur Trägheit zwang; ind e m er Gott bat, nicht unmittelbar gegenwärtig zu sein; i n d e m er einen n e u e n geschlossenen R a u m in einem Behälter konstruierte, w o r i n sich die Existenz des Vakuums manifestierte; i n d e m er aufhörte, die Z e u g e n für ihre M e i n u n g e n zu verurteilen. Keine Anklage ad hominem wird m e h r Gültigkeit haben, sagt Boyle uns, keinem menschlichen Z e u g e n wird m e h r geglaubt werden; allein nicht-menschliche Indikatoren und von Gentlem e n beobachtete Instrumente werden glaubwürdig sein. Die hartnäckige A n h ä u f u n g von matters of fact wird die Fundamente für das befriedete Kollektiv legen. Diese Erfindung der Fakten bedeutet j e d o c h keine E n t d e k -

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k u n g der Dinge out there, sondern ist eine anthropologische Schöpfung, in der Gott, Willen, Liebe, H a ß und Gerechtigkeit neu verteilt werden. Serres sagt nichts anderes. W i r haben keinerlei Vorstellung vom Anblick, den die Dinge außerhalb des Tribunals hätten, außerhalb unserer Bürgerkriege u n d unserer Prozesse u n d Gerichte. O h n e Anklage [accusation] haben wir keine Streitsache [cause], für die wir plädieren k ö n n e n , u n d k ö n n e n wir den P h ä n o m e n e n keine Ursachen [causes] zuschreiben. D i e se anthropologische Situation ist nicht auf unsere vorwissenschaftliche Vergangenheit beschränkt, sie gehört ebenso und m e h r n o c h zu unserer wissenschaftlichen Gegenwart. So leben wir nicht in einer Gesellschaft, die m o d e r n ist, weil sie i m Gegensatz zu allen anderen sich endlich von der Hölle der kollektiven Beziehungen befreit hätte, v o m Obskurantismus der Religion, von der Tyrannei der Politik, sondern weil sie wie alle anderen Gesellschaften vor ihr die Anklagen neu verteilt, indem sie eine — juristische, kollektive, soziale — Streitsache ersetzt durch eine — wissenschaftliche, nicht soziale, faktische — Tatsache. N i r g e n d w o läßt sich ein Objekt oder ein Subjekt b e obachten, nirgendwo eine Gesellschaft, die primitiv, u n d eine andere, die m o d e r n wäre. Sondern Serien von Ersetzungen, Verschiebungen, U b e r setzungen mobilisieren Völker u n d Dinge in i m m e r größerem Maßstab. »Am U r s p r u n g stelle ich mir einen schnellen Wirbel vor, in d e m die transzendentale Konstitution des Objekts durch das Subjekt sich aus der — symmetrischen — Konstitution des Subjekts durch das O b j e k t nähren würde, gewissermaßen als Gegenleistung, in durchschlag e n d e n u n d i m m e r wieder a u f g e n o m m e n Halbkreisen z u m U r sprung zurückkehrend. [...] Es gibt ein objektives Transzendental, konstitutive Bedingung des Subjekts durch das Auftauchen des O b jekts als O b j e k t im allgemeinen. Von der umgekehrten oder symm e t r i s c h e n B e d i n g u n g auf d e m w i r b e l n d e n Kreis h a b e n w i r Zeugnisse, Spuren oder Erzählungen, geschrieben in den labilen Sprachen. [...] Für die vom Objekt ausgehende direkte konstitutive Bedingung haben wir j e d o c h greifbare, sichtbare, konkrete, gewaltige, s t u m m e Zeugen. So weit wir auch in die geschwätzige G e schichte oder in die schweigsame Vorgeschichte zurückgehen, sie sind i m m e r schon da« (S. 209).

Variable Ontologien

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In seinem so wenig modernen Werk erzählt uns Serres eine Pragmatogonie, die ebenso phantastisch ist wie die alte Kosmogonie Hesiods oder diejenige Hegels. Seine Erzählung verfährt nicht über Metamorphose oder Dialektik, sondern über Substitutionen. Die neuen Wissenschaften, die das Kollektiv in von niemandem gemachte Dinge umleiten, umwandeln, versteinern, sind nur Spätankömmlinge in dieser langen Mythologie von Substitutionen. Die Erforscher der Netze oder der Wissenschaften dokumentieren nur die soundsovielte Windung dieser Spirale, deren sagenhaften Anfang Serres für uns skizziert. Die zeitgenössische Wissenschaft setzt auf ihre Weise fort, was wir schon immer getan haben. Hobbes konstruiert einen politischen Körper ausgehend von beseelten nackten Körpern — er findet sich mit der gigantischen künstlichen Prothese des Leviathan wieder. Boyle konzentriert alle Zwietracht der Bürgerkriege um eine Luftpumpe — er findet sich mit Fakten wieder. Jede Windung der Spirale definiert ein neues Kollektiv und eine neue Objektivität. Das in permanenter E r n e u e r u n g begriffene Kollektiv, das sich um in permanenter Erneuerung begriffene Dinge organisiert, hat nie aufgehört, sich zu entwickeln. Wir haben die anthropologische Matrix nie verlassen — wir befinden uns noch in grauer Vorzeit oder, wenn man so will: in der Kindheit der Welt.

Variable Ontologien Sobald wir allen Akteuren Geschichtlichkeit zuerkennen, um die Vermehrung der Quasi-Objekte aufzunehmen, existieren Natur und Gesellschaft nicht mehr und nicht weniger als Ost und West. Sie werden zu bequemen und relativen Bezugspunkten, die von den Modernen zur Differenzierung der Zwischenglieder verwendet werden. Manche dieser Zwischenglieder werden »natürlich« genannt und andere »gesellschaftlich«, wieder andere »rein natürlich« oder »rein gesellschaftlich«, nochmals andere »nicht nur« natürlich, »sondern auch« ein wenig gesellschaftlich. Die Analytiker, die im Schema nach links tendieren, werden eher Realisten genannt, die nach rechts tendieren, eher Konstruktivisten (Latour 1991, Pickering 1992). Diejenigen, die sich genau in der Mitte, im Juste-milieu halten wollen, werden unzählige Kombinationen erfinden, um die Natur mit der Gesellschaft (oder dem Subjekt) zu vermischen, indem sie ab-

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wechselnd die »symbolische Dimension« der Dinge und die »natürliche Dimension« der Gesellschaften bemühen. Andere sind imperialistischer oder einseitiger und versuchen, die Gesellschaft zu naturalisieren, indem sie sie in die Natur integrieren (Hull 1988), oder die Natur zu sozialisieren, indem sie sie von der Gesellschaft verarbeiten lassen (Bloor [1976] 1991); oder, was schwieriger ist, vom Subjekt. Jedenfalls bleiben diese Bezugspunkte und diese Debatten eindimensional. Alle Entitäten allein auf einer Linie zu klassifizieren, die von der Natur zur Gesellschaft verläuft, ist genauso, als wollte man geographische Karten allein mit Hilfe der Länge zeichnen: sie würden auf einen Strich zusammenschrumpfen! Die zweite Dimension ermöglicht es, den Entitäten Breitengrade zuzuordnen und eine Karte zu entfalten, die, wie ich weiter oben gesagt habe, sowohl die moderne Verfassung als auch ihre Praxis erfaßt. Wie sollen wir dieses Äquivalent von Nord und Süd definieren? Wenn ich die Metaphern mischen darf, würde ich sagen, daß man es als ein Gefälle definieren muß, als einen Gradienten, der die Stabilität der Entitäten vom Ereignis bis zur Wesenheit registriert. Wir wissen noch nichts von der Luftpumpe, wenn wir sagen, daß sie die Repräsentation der Naturgesetze ist oder die Repräsentation der englischen Gesellschaft oder die R e sultante der beiden entgegengesetzten Zwänge von Natur und Gesellschaft. Man muß uns außerdem sagen, ob es sich um die Luftpumpe als Ereignis des 17. Jahrhunderts handelt oder um die Luftpumpe als stabilisierte Wesenheit im 18. oder im 20. Jahrhundert. Der Grad der Stabilisier u n g — der Breitengrad — ist genauso wichtig wie die Position auf der Linie, die vom Natürlichen zum Sozialen geht — der Längengrad (siehe Cussins 1992 für eine weitere und präzisere graphische Darstellung). Die Ontologie der Mittler hat also eine variable Geometrie. Was Sartre von den Menschen sagte, daß ihre Existenz ihrem Wesen vorausgeht, m u ß man von allen Aktanten* sagen, von der Elastizität der Luft wie von der Gesellschaft, von der Materie wie vom Bewußtsein. W i r müssen nicht wählen zwischen dem Vakuum Nr. 5, einer Realität der äußeren Natur,

*

D e r Begriff des A k t a n t e n hat - n e b e n d e m des A k t e u r s — in d e r literarischen S e m i o t i k d e n B e g r i f f d e r Person o d e r der dramatis persona ersetzt, d e n n er u m f a ß t n i c h t n u r M e n s c h e n , s o n d e r n auch Tiere, O b j e k t e o d e r K o n z e p t e . S i e h e G r e i mas u n d C o u r t e s 1979, S. 3ff.

Variable Ontologien

Wesen

Naturpol

Breite

Subjet/Gesellschaftspol B'

-Of

D"

C Vakuum Nr. 3

D',

O D Vakuum Nr. 4

E"

E Vakuum Nr. 5

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C" B Vakuum Nr. 2

B" A Vakuum

Länge

^

Existenz Abbildung 7: Die moderne Verfassung und ihre Praxis

deren Wesen von keinem M e n s c h e n abhängt, und dem Vakuum N r . 4, einer Repräsentation, die zu definieren die abendländischen D e n k e r Jahrh u n d e r t e gebraucht haben. O d e r vielmehr k ö n n e n wir zwischen beiden nur dann wählen, w e n n sie stabilisiert sind. Vom sehr instabilen Vakuum N r . 1 im Laboratorium von Boyle k ö n n e n wir nicht sagen, ob es natürlich oder gesellschaftlich ist, sondern nur, daß es künstlich im Labor auftritt. Das Vakuum Nr. 2 kann ein Artefakt sein, das von Menschenhand fabriziert ist, sofern es sich nicht in Vakuum Nr. 3 verwandelt, das a n fängt, eine Realität zu werden, die den M e n s c h e n entgehen wird. Was also ist das Vakuum? Keine dieser Positionen. Das Wesen des Vakuums ist die Bahn, die sie alle verbindet. Anders gesagt, die Elastizität der Luft hat eine Geschichte. Jeder der Aktanten besitzt in d e m in dieser Weise skizzierten R a u m eine einzigartige Signatur. U m sie aufzuzeichnen, brauchen wir keinerlei Hypothesen über das Wesen der N a t u r oder der Gesellschaft aufzustellen. Wenn man alle Signaturen überlagert, hat man die Umrisse dessen, was die M o d e r n e n zu Unrecht — zusammenfassend u n d bereinigt — »Natur« u n d »Gesellschaft« nennen. W e n n wir j e d o c h alle diese Bahnen auf die einzige Linie projizieren, die den alten Pol der N a t u r und den alten Pol der Gesellschaft miteinan-

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Revolution

der verbindet, verstehen wir nichts mehr. Alle Punkte (A, B, C, D, E) werden dann allein entlang der Breite projiziert (A', B', O , D', E'). Der zentrale Punkt A befindet sich an der Stelle der alten Phänomene, wo im modernen Szenario angeblich gerade nichts passiert; denn er ist nichts weiter als der Treffpunkt der beiden Extreme Natur und Gesellschaft, in welchen die ganze Realität liegt. Mit dieser einzigen Linie können Realisten und Konstruktivisten sich noch weitere 100 Jahre darum schlagen, das Vakuum zu definieren. Die ersten werden behaupten, daß niemand dieses reale Faktum fabriziert hat; die zweiten, daß niemand sonst als wir mit eigenen Händen dieses soziale Faktum geformt haben; die Verfechter des Juste-milieu werden zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes »Faktum« schwanken und bei jeder günstigen und ungünstigen Gelegenheit die Formel »nicht nur..., sondern auch...« verwenden. Denn die Fabrik befindet sich unterhalb dieser Linie, in der Arbeit der Vermittlung, die nur dann sichtbar wird, wenn wir ebenfalls den Grad der Stabilisierung berücksichtigen (B", C", D", E"). Mit den großen Massen der Natur und der Gesellschaft verhält es sich wie mit den erkalteten Kontinenten in der Tektonik der Erdplatten. Wenn wir ihre Bewegung verstehen wollen, müssen wir uns in jene brodelnden Gräben hinabbegeben, wo das Magma ausbricht und von wo aus sehr viel später und sehr viel ferner, durch Erkaltung und fortschreitende Aufschichtung, die beiden kontinentalen Platten entstehen, auf denen wir mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen. Wie die Geophysiker müssen auch wir hinabsteigen und uns jenen Orten nähern, wo die Mischwesen entstehen, die sehr viel später zu Natur oder zu Sozialem werden. Ist es zuviel verlangt, in unseren Debatten künftig den Breitengrad der Entitäten gleichzeitig mit ihrem Längengrad anzugeben und die Wesenheiten immer als Ereignisse und Bahnen anzusehen? Wir verstehen das Paradox der Modernen jetzt besser. Indem sie sowohl die Arbeit der Vermittlung als auch der Reinigung eingesetzt, aber nie beide zusammen repräsentiert haben, benutzten sie gleichzeitig die Transzendenz und die Immanenz der beiden Instanzen Natur und Gesellschaft. Dadurch erhielten sie vier widersprüchliche Ressourcen, die ihnen eine ungewöhnliche Bewegungsfreiheit verschafft haben. Wenn wir aber nun die Karte der ontologischen Varietäten aufzeichnen, bemerken wir, daß es nicht vier Regionen gibt, sondern drei. Die doppelte Transzendenz der Natur einerseits und der Gesellschaft andererseits entspricht

Die Verbindung der vier modernen Repertoires

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einer bestimmten M e n g e stabilisierter Wesenheiten. Für j e d e n gesellschaftlichen Zustand gibt es einen entsprechenden Zustand der Natur. N a t u r u n d Gesellschaft sind nicht zwei entgegengesetzte Transzendenzen, sond e r n ein und dieselbe, die aus der Arbeit der Vermittlung entspringt. D a gegen entspricht die Immanenz der Naturen (als naturae naturantes) und der Kollektive einer bestimmten R e g i o n , nämlich der R e g i o n der Instabilität der Ereignisse, der R e g i o n der Vermittlungsarbeit. Die m o d e r n e Verfassung hat daher recht darin, daß es einen A b g r u n d zwischen N a t u r u n d Gesellschaft gibt, aber dieser A b g r u n d ist nur ein spätes Resultat der Stabilisierung. D e r einzige Abgrund, der zählt, trennt die Arbeit der Vermittlung von der Formgebung der Verfassung. Aber dieser A b g r u n d wird gerade durch die Vermehrung der Hybriden zu einem kontinuierlichen Gefälle, d e m wir nachgehen k ö n n e n , sobald wir wieder werden, was wir nie aufgehört haben zu sein, nämlich nichtmodern. Wenn wir die offizielle u n d stabile Version der Verfassung ergänzen u m ihre heiße, inoffizielle u n d instabile Version, füllt sich die Mitte, während die Extreme sich e n t leeren. W i r verstehen, w a r u m die N i c h t m o d e r n e n nicht auf die M o d e r n e n folgen. Sie tun nichts weiter als die verleugnete Praxis letzterer offiziell zu machen. U m den Preis einer kleinen Gegenrevolution verstehen wir i m Rückblick endlich, was wir schon immer getan haben.

Die Verbindung der vier modernen Repertoires W i r haben die m o d e r n e u n d die nichtmoderne Dimension herausgearbeitet, wir haben eine kopernikanische Gegenrevolution durchgeführt, wir haben das O b j e k t u n d das Subjekt zum Z e n t r u m und nach unten verschoben — und sind n u n vielleicht in der Lage, die besten kritischen R e s sourcen zu kapitalisieren. Die M o d e r n e n haben vier verschiedene, von ihnen für inkompatibel gehaltene Repertoires entwickelt, u m die Vermehr u n g der Q u a s i - O b j e k t e unterzubringen. Das erste behandelt die äußere Realität einer Natur, derer wir nicht H e r r sind, die außerhalb von uns existiert u n d die weder unsere Leidenschaften n o c h Begierden besitzt, auch w e n n w i r sie konstruieren u n d mobilisieren k ö n n e n . Das zweite R e p e r t o i r e behandelt das soziale Band: das, was die Menschen untereinander verbindet; die Leidenschaften u n d Begierden, die uns umtreiben; die personifizierten Kräfte, die die Gesellschaft strukturieren, welche uns

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Revolution

alle übersteigt, auch wenn sie unser eigenes Werk ist. Das dritte Repertoire behandelt Bedeutung und Sinn: die Aktanten, aus denen sich die Geschichten zusammensetzen, die wir uns erzählen; die Prüfungen, denen diese Aktanten sich unterziehen; die Abenteuer, die sie erleben; die Tropen und Genres, von denen sie organisiert werden; die großen Erzählungen, die uns unendlich übersteigen, auch wenn sie gleichzeitig bloße Texte und Diskurse sind. Das vierte schließlich spricht vom Sein und dekonstruiert, was wir immer vergessen, wenn wir einzig Sorge um das Seiende haben, auch wenn die ontologische Differenz auf das Seiende verteilt ist, das im einzelnen jeweils mit seiner Existenz, seiner wirklichen Geschichtlichkeit zusammenfällt. Diese vier Ressourcen sind nur in der offiziellen Sicht der Verfassung inkompatibel. In der Praxis lassen sie sich nur mit großer Mühe auseinanderhalten. Schamlos mischen wir unsere Begierden mit natürlichen Entitäten, d. h. mit gesellschaftlich konstruierten Wissenschaften, welche wiederum Diskursen sehr ähneln und unsere Gesellschaft vorzeichnen. Sobald wir die Spur irgendeines Quasi-Objekts verfolgen, erscheint es uns bald als Ding, bald als Erzählung, bald als soziales Band, ohne sich je auf bloßes Seiendes zu reduzieren. Unsere Luftpumpe entwirft die Elastizität der Luft, zeichnet aber auch die Gesellschaft des 17. Jahrhunderts vor und definiert außerdem ein neues literarisches Genre, nämlich die Erzählung des Experiments im Labor. Müssen wir, wenn wir der Luftpumpe nachgehen, behaupten, daß alles rhetorisch oder alles natürlich ist, oder alles gesellschaftlich konstruiert, oder alles »Gestell«? Sollen wir behaupten, daß dieselbe Pumpe in ihrem Wesen manchmal Objekt ist, manchmal soziales Band und manchmal Diskurs? Daß sie ein wenig von allem ist? Daß sie manchmal nur zum Seienden gehört und manchmal gezeichnet ist durch die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem? Und wenn wir Modernen selbst es wären, die künsdich eine einzige Bahn zerteilten, welche zunächst weder Objekt noch Subjekt, weder Bedeutungseffekt noch reines Seiendes ist? Und wenn die Trennung der vier Repertoires sich nur auf stabilisierte und spätere Zustände anwenden ließe? Nichts beweist, daß diese vier Ressourcen inkompatibel bleiben, sobald wir von den Wesenheiten zu den Ereignissen übergehen, von der Reinigung zur Vermittlung, von der modernen zur nichtmodernen Dimension, von der kopernikanischen Revolution zur Gegenrevolution.Von den Quasi-Objekten oder Quasi-Subjekten werden wir einfach sagen, daß

Die Verbindung der vier modernen Repertoires

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sie Netze bilden oder bahnen. Sie sind real, sehr real, und wir Menschen haben sie nicht gemacht. Aber sie sind kollektiv, denn sie verbinden uns miteinander, weil sie durch unsere Hände gehen und gerade durch ihre Zirkulation unseren sozialen Zusammenhang definieren. Dennoch sind sie diskursiv, erzählt, historisch, leidenschaftlich und von Aktanten mit autonomen Formen bevölkert. Sie sind instabil und riskant, existentiell und nie seinsvergessen. Nachdem die vier Repertoires offiziell repräsentiert sind, ermöglicht ihre Verbindung in denselben Netzen es uns, eine Bleibe zu konstruieren, die groß genug ist, das Reich der Mitte aufzunehmen — das wirkliche gemeinsame Haus der nichtmodernen Welt und gleichzeitig ihre Verfassung. Die Verbindung ist so lange unmöglich, wie wir entschieden modern bleiben. Denn die vier Repertoires Natur, Diskurs, Gesellschaft, Sein übersteigen uns unendlich und definieren sich nur durch ihre Trennung, die unsere konstitutionellen Garantien trägt. Die Kontinuität wird jedoch möglich, wenn wir zu den Garantien die Vermittlungspraxis hinzufügen, die von der Verfassung ermöglicht, aber verleugnet wird. Die Modernen haben schon recht, gleichzeitig die Realität, die Sprache, die Gesellschaft und das Sein zu wollen. Sie haben nur unrecht, wenn sie glauben, daß diese sich ewig widersprechen müssen. Statt den Parcours der Quasi-Objekte zu analysieren, indem wir diese Ressourcen ständig trennen, wäre es doch auch möglich, so zu schreiben, als ob sie kontinuierlich miteinander in Verbindung stünden. Dann könnten wir wahrscheinlich die postmoderne Erschöpfung überwinden, die aus einer Uberdosis der vier kritischen Repertoires resultiert. Sind wir es nicht müde, für immer in der Sprache eingeschlossen zu sein oder gefangen in den sozialen Repräsentationen, wie uns so viele Sozialwissenschaftler gerne sähen? Wir wollen Zugang zu den Dingen selbst, nicht nur zu ihren Phänomenen. Das Wirkliche ist nicht fern, sondern in allen überall auf der Welt mobilisierten Objekten zugänglich. Ist die äußere Realität nicht im Uberfluß mitten unter uns? Sind wir es nicht mehr als leid, für immer von einer transzendenten, unerkennbaren, unzugänglichen, exakten und bloß wahren Natur beherrscht zu sein, die bevölkert ist von Gebilden im Dornröschenschlaf, welche schließlich eines Tages von wissenschaftlichen Märchenprinzen entdeckt werden? Die Kollektive, in denen wir leben, sind aktiver, produktiver, sozialisierter, als die langweiligen Dinge an sich es uns erwarten ließen.

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Sind wir nicht dieser Soziologien müde, die ausschließlich auf dem Sozialen aufbauen, das anscheinend allein durch die Wiederholung der Worte »Macht« und »Legitimität« getragen wird, weil die Soziologen weder mit den Inhalten der Objekte noch mit der Welt der Sprachen zurechtkommen, welche gleichwohl die Gesellschaft konstruieren? Unsere Kollektive sind wirklicher, naturalisierter, diskursiver, als die langweiligen Menschen unter sich es uns erwarten ließen. Sind wir nicht die Sprachspiele und die ewige skeptische Dekonstruktion der Bedeutungen leid? Der Diskurs ist keine Welt für sich, sondern eine Population von Aktanten, die sich mit den Dingen und Gesellschaften mischen und sie halten und tragen. Unser Interesse für die Texte entfernt uns nicht von der Realität, denn auch den Dingen muß die Würde zugestanden werden, Erzählung zu sein. Und warum sollte man den Texten die Größe absprechen, das soziale Band zu bilden, das uns zusammenhält? Sind wir es nicht müde, angeklagt zu werden, das Sein vergessen zu haben, in einer niederen Welt zu leben, die aller Substanz, alles Heiligen, aller Kunst beraubt ist? Und gesagt zu bekommen, um alle diese Schätze wiederzufinden, müßten wir die historische, wissenschaftliche und soziale Welt verlassen, in der wir leben? Wenn wir uns den Wissenschaften zuwenden, entfernen wir uns weder von der Differenz zwischen Sein und Seiendem noch von der Gesellschaft, der Politik oder der Sprache. Wirklich wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft, existentiell wie das Sein, so sind die Quasi-Objekte, denen die Modernen zur Ausbreitung verholfen haben, und so sollten wir ihnen auch nachgehen, indem wir einfach wieder werden, was wir nie aufgehört haben zu sein: nichtmodern.

4 Relativismus

Wie läßt sich die Asymmetrie beenden? Zu Beginn dieses Essays hatte ich die Anthropologie als Beschreibungsmodell für unsere Welt vorgeschlagen. Sie allein schien die seltsamen Bahnen der Quasi-Objekte in einem Ganzen verbinden zu können. Ich habe jedoch schnell erkannt, daß dieses Modell, so wie es vorlag, nicht zu gebrauchen war, denn es ließ sich nicht auf Wissenschaft und Technik anwenden. Die Ethnographen konnten zwar die Bindeglieder zwischen den Ethnowissenschaften und der sozialen Welt nachzeichnen, aber angesichts der exakten Wissenschaften fühlten sie sich machtlos. U m zu begreifen, warum es so schwierig war, sich gegenüber den soziotechnischen Netzen unserer westlichen Welt die gleiche Freiheit des Tons herauszunehmen, mußte ich begreifen, was wir unter modern verstehen. Wenn wir darunter jene offizielle Verfassung verstehen, die zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen sowie zwischen Reinigung und Vermittlung strikt trennen muß, dann kann es in der Tat keine Anthropologie der modernen Welt geben. Wenn wir jedoch die Verfassung und die Vermittlungsarbeit, die ihr Sinn verleiht, gleichzeitig entfalten wollen, bemerken wir rückblickend, daß wir nie wirklich modern gewesen sind. Folglich könnte die Anthropologie, die sich bislang an Wissenschaft und Technik stieß, wieder zum gesuchten Beschreibungsmodell werden. Unfähig, die Vormodernen mit den Modernen zu vergleichen, könnte sie beide mit den Nichtmodernen vergleichen. Leider läßt sich die Anthropologie nicht einfach so verwenden, wie sie vorliegt. Sie ist von den Modernen entwickelt worden, um jene zu erforschen, die als vormodern galten. Die Unmöglichkeit, von der ich eben sprach, ist daher in die anthropologischen Praktiken, Begriffe und Fragestellungen eingegangen. Die Anthropologie schließt das Studium der

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Relativismus

Naturgegenstände aus und beschränkt ihre Untersuchungen auf die Kulturen. Sie bleibt also asymmetrisch. U m komparativ zu werden und zwischen den Modernen und Vormodernen hin- und hergehen zu können, muß sie daher symmetrisiert werden. Sie muß nicht nur jenen Glaubensformen, die uns nicht unmittelbar berühren, die Stirn bieten können — ihnen stehen wir immer recht kritisch gegenüber —, sondern den wahren Erkenntnissen, denen wir selbst vollkommen anhängen. Die Anthropologie muß daher in die Lage versetzt werden, die Wissenschaften zu erforschen; dazu muß sie über die Grenzen der Wissenssoziologie und vor allem der Epistemologie hinausgehen. Das erste Symmetrieprinzip, von dem die traditionelle Wissenssoziologie umgewälzt wurde, verlangte, Irrtum und Wahrheit mit denselben Begriffen anzugehen (Bloor, [1976] 1991). Früher erklärte die Wissenssoziologie unter großem Aufwand an sozialen Faktoren nur die Abweichungen vom rechten Weg der Vernunft. Irrtum und Glaubensformen ließen sich gesellschaftlich erklären, aber das Wahre erklärte sich von selbst. Man durfte zwar den Glauben an fliegende Untertassen gesellschaftlich erklären, nicht jedoch die Erkenntnis der schwarzen Löcher; zwar die Illusionen der Parapsychologie, nicht jedoch das Wissen der Psychologen; zwar die Irrtümer Spencers, nicht jedoch die Gewißheiten Darwins. Soziale Faktoren desselben Typs ließen sich nicht gleichermaßen auf beide anwenden. In diesem Messen mit zweierlei Maß erkennen wir die alte Einteilung der Anthropologie zwischen Wissenschaften (unerforschbar) und Ethnowissenschaften (erforschbar) wieder. Die Vörannahmen der Wissenssoziologie hätten die Ethnologen gewiß nicht lange eingeschüchtert, wenn die Epistemologen — besonders in der französischen Tradition — dieselbe Asymmetrie zwischen wahren und falschen Wissenschaften nicht in den Rang eines Grundprinzips erhoben hätten. Allein die falschen — die »überholten« — Wissenschaften lassen sich mit dem sozialen Kontext in Zusammenhang bringen. Die »sanktionierten« Wissenschaften dagegen werden nur dadurch wissenschaftlich, daß sie sich gerade jedem Kontext, jeder Berührung mit Geschichte, jeder naiven Wahrnehmung entziehen und sogar ihrer eigenen Geschichte entgehen. Solcherart ist für Bachelard und seine Schüler der Unterschied zwischen Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. (Bachelard 1987, Canguilhem 1977). Geschichte kann symmetrisch sein, aber das ist nicht entscheidend, denn sie behandelt ohnehin nie die wirkliche Wissenschaft. Wissenschafts-

Wie läßt sich die Asymmetrie beenden?

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geschichte dagegen darf nie symmetrisch sein, denn sie behandelt die Wissenschaft, und ihre oberste Pflicht besteht darin, den epistemologischen Bruch noch zu vertiefen. Ein einziges Beispiel mag genügen, um zu zeigen, wohin eine solche Zurückweisung jeder symmetrischen Anthropologie fuhrt, sobald Epistemologen wahre Wissenschaften anders behandeln müssen als falsche Glaubensformen. Wenn Canguilhem die wissenschaftlichen Ideologien von den wahren Wissenschaften unterscheidet, behauptet er nicht nur, daß es unmöglich ist, auf Darwin — den Wissenschaftler — und Diderot — den Ideologen — dieselben Begriffe anzuwenden, sondern daß es unmöglich gemacht werden muß, sie überhaupt in einem Atemzug zu nennen (Canguilhem 1977). »Die Trennung von Wissenschaft und Ideologie muß verhindern, daß man in der Wissenschaftsgeschichte eine Kontinuität sieht, wo in Wirklichkeit nur Elemente irgendeiner Ideologie in einer wissenschaftlichen Konstruktion bewahrt wurden, die ihrerseits die Ideologie abgesetzt hat: D a ß m a n z. B . in D'Alemberts

Traum e i n e V o r w e g n a h m e d e s Ursprungs

der

Arten sieht« (S. 45). Wissenschaftlich ist nur, was für immer mit der Ideologie bricht. Verfährt man nach einem solchen Prinzip, ist es in der Tat schwierig, die konkreten Entstehungsbedingungen der Quasi-Objekte zu verfolgen. Sind diese einmal durch die Hände der Epistemologen gegangen, so sind sie von ihren Wurzeln abgeschnitten. Übrig bleibt nur das Objekt, herausgelöst aus allen Netzen, die ihm Sinn gaben. Aber warum überhaupt von Diderot und Spencer sprechen, warum sich für den Irrtum interessieren? Weil sonst das Wahre zu hell leuchten würde! »Die Berücksichtigung der Verbindungen zwischen Ideologie und Wissenschaft sollte uns davor bewahren, die Wissenschaftsgeschichte zu einer bloßen Chronologie zu verflachen, d. h. zu einem Gemälde ohne Relief und Schatten« (S. 45). Für solche Epistemologen ist eine teleologische Geschichtsschreibung kein Fehler, der überwunden werden muß, sondern eine Pflicht, der mit äußerster Strenge nachzukommen ist. Wissenschaftsgeschichte soll nicht mit Geschichte durcheinandergebracht werden (Bowker und Latour 1987). Das Falsche bringt das Wahre erst zur Geltung. Was Racine für den Sonnenkönig unter dem schönen Titel eines Historikers leistete, wiederholt Canguilhem für Darwin unter dem gleichermaßen usurpierten Etikett eines Wissenschaftshistorikers. Das Symmetrieprinzip führt dagegen wieder Kontinuität, Geschichtlichkeit ein und, sagen wir es ruhig: elementare Gerechtigkeit. Bloor ist

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Relativismus

der Gegen-Canguilhem, so wie Serres der Gegen-Bachelard ist. Was ü b rigens das totale Unverständnis in Frankreich sowohl für die Wissenschaftssoziologie Bloors als auch für die Anthropologie Serres' erklärt. »Es gibt keinen reineren Mythos als die Vorstellung einer Wissenschaft, die von j e d e m Mythos gereinigt wäre«, schreibt letzterer, als er mit der Epistemologie bricht (Serres 1992b). Für ihn wie für die Wissenschaftshistoriker im eigentlichen Sinn müssen sich Diderot, Darwin, Malthus u n d Spencer mit denselben Prinzipien u n d Ursachen erklären lassen. W e n n wir den Glauben an fliegende Untertassen erklären wollen, sollten wir überprüfen, ob die von uns vorgeschlagenen Erklärungen sich ebenfalls — symmetrisch — auf die schwarzen Löcher anwenden lassen (Lagrange 1990); w e n n wir die Parapsychologie entlarven wollen, müssen wir uns fragen, ob wir dieselben Faktoren auch für die Psychologie verwenden k ö n n e n (Collins u n d Pinch 1982); w e n n wir die Erfolge Pasteurs analysieren, sollten wir zusehen, ob wir mit denselben Begriffen auch seine Niederlagen erklären k ö n n e n (Latour 1984). Das erste Symmetrieprinzip schlägt vor allem vor, die Erklärungen abzuspecken, mit denen die Sozialwissenschaftler die Irrtümer erklären. Es war so einfach geworden, Abweichungen zu erklären! Gesellschaft, Glaub e n s f o r m e n , Symbole, U n b e w u ß t e s , Wahnsinn — alles b o t sich dar, u m die Erklärungen für den I r r t u m damit zu mästen. Aber das Wahre? Als wir uns bei der Erforschung der Wissenschaften den b e q u e m e n R ü c k g r i f f auf den epistemologischen Einschnitt versagten, bemerkten wir, daß die m e i sten unserer Erklärungen nicht viel taugten. Alle waren sie durch die Asymmetrie organisiert, u n d die leistete weiter nichts, als den Besiegten den schwarzen Peter zuzuschieben. Das ändert sich, w e n n die zuverlässige Disziplin des Symmetrieprinzips dazu zwingt, n u r diejenigen Ursachen beizubehalten, die sowohl für Wahrheit wie Falschheit, für Glauben wie W i s sen, für Wissenschaft wie Parawissenschaft zu gebrauchen sind. W e n n man die Waage der Symmetrie genau austariert, wird die Verschiebung nur klarer, die verständlich macht, w a r u m die einen gewinnen u n d die anderen verlieren (Latour 1989b). Wenn man dagegen mit der einen Waage die Sieger wiegt, mit einer anderen die Verlierer, und dabei wie Brennus ausruft: »we victish, wehe den Besiegten!, bleibt diese Verschiebung unverständlich.

Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip

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Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip Das erste Symmetrieprinzip hat den großen Vorteil, uns von den epistemologischen Einschnitten zu befreien, von den a priori-Trennungen zwischen »sanktionierten« und »überholten« Wissenschaften. Außerdem b e freit es von den künstlichen Unterteilungen zwischen einer Soziologie, die sich mit dem Wissen, einer anderen, die sich mit Glaubenssystemen und einer weiteren, die sich mit der Wissenschaft beschäftigt. Wenn der Anthropologe früher aus der Ferne zurückkehrte und dann zu Hause Wissenschaften entdeckte, die von der Epistemologie gereinigt worden waren, konnte er keinerlei Kontinuität zwischen den Ethnowissenschaften dort und den wissenschaftlichen Erkenntnissen hier herstellen. Er begnügte sich daher damit, die Kulturen zu analysieren, und ließ Natur und Naturwissenschaften beiseite. Wenn er jetzt zurückkehrt und zu Hause - immer zahlreicher werdende — Forschungen entdeckt, die sich mit den eigenen Wissenschaften und Techniken beschäftigen, ist die Kluft schon weniger groß. O h n e allzu große M ü h e kann er von der chinesischen zur englischen Physik übergehen (Needham 1991); von den trobriandischen Seefahrern zur U S Navy (Hutchins 1980); von den Rechenkünstlern in Westafrika zu den Mathematikern in Kalifornien (Rogoff und Lave 1984); von den Technikern der Elfenbeinküste zu den Nobelpreisträgern von La Jolla (Latour 1988); von den O p f e r n für den Gott Baal zur Explosion der Raumfähre Challenger (Serres 1987a). Er ist nicht mehr gezwungen, sich auf die Kulturen zu beschränken. Die Natur oder die Naturen werden nun ebenfalls untersuchbar. D e n n o c h führt das von Bloor definierte Symmetrieprinzip schnell in eine Sackgasse (Latour 1991). Es nötigt zwar zu eiserner Disziplin in den Erklärungen, aber es ist selbst asymmetrisch, wovon man sich im folgenden Diagramm (Abb. 8) leicht überzeugen kann. Epistemologen und Wissenssoziologen erklärten das Wahre durch seine Übereinstimmung mit der Realität der Natur und das Falsche durch den Zwang sozialer Kategorien, Wissensformen oder Interessen. Ihre Erklärungen waren asymmetrisch. Bloors Prinzip verlangt, das Wahre und das Falsche durch dieselben Kategorien, dieselben Wissensformen und dieselben Interessen zu erklären. Aber welche Begriffe werden dazu verwendet? Es sind die Begriffe der Sozialwissenschaften, die sich den Sozialwissenschaftlern, d. h. Hobbes und seinen zahlreichen Nachfolgern darbieten.

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Relativismus Subjet/Gesellschaftspol ASYMMETRISCHE ERKLÄRUNGEN Wahrheit wird durch die Natur erklärt

Falschheit wird durch die Gesellschaft erklärt ERSTES SYMMETRIEPRINZIP

O Die Natur erklärt weder Wahrheit noch Falschheit

Wahrheit und Falschheit werden beide durch die Gesellschaft erklärt

Die Erklärung geht von den Quasi-Objekten aus

VERALLGEMEINERTES SYMMETRIEPRINZIP

Abbildung 8: Das Symmetrieprinzip

Auch Bloors Prinzip ist demnach asymmetrisch. Zwar nicht mehr, weil es nach Art der Epistemologen eine Unterteilung in Ideologie und Wissenschaft vornimmt, sondern weil es die Natur ausklammert und dem Pol der Gesellschaft das ganze Gewicht der Erklärungen aufbürdet. Es verfährt konstruktivistisch mit der Natur, aber realistisch mit der Gesellschaft (Collins und Yearley 1992, Callon und Latour 1992). Aber die Gesellschaft ist, wie wir mittlerweile wissen, nicht weniger konstruiert als die Natur, denn beide sind das doppelte Resultat eines einzigen Stabilisierungsprozesses. Für jeden Zustand der Natur gibt es einen korrespondierenden Zustand der Gesellschaft. Wenn man im einen Fall realistisch ist, muß man es auch im anderen sein. Wenn man im einen konstruktivistisch ist, muß man es konsequenterweise in beiden sein. Oder vielmehr muß man, wie unsere Untersuchung der beiden modernen Praktiken gezeigt hat, verstehen, wie Natur und Gesellschaft gleichzeitig immanent — in der Vermittlungsarbeit — und transzendent — nach der Reinigungsarbeit - sein können. Natur und Gesellschaft bieten keine soliden Aufhänger, an denen wir unsere Interpretationen festmachen könnten — ob asymmetrisch im Sinne Canguilhems oder symmetrisch im Sinne

Das verallgemeinerte Symmetrieprinzip

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Bloors —, sondern sind selbst zu erklären. Der Anschein von Erklärung, den Natur und Gesellschaft bieten, kommt ihnen erst nachträglich zu, wenn die stabilisierten Quasi-Objekte nach der Spaltung entweder O b jekte der äußeren Realität geworden sind oder Subjekte der Gesellschaft. Natur und Gesellschaft sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Damit die Anthropologie symmetrisch wird, genügt es also nicht, daß sie das erste Symmetrieprinzip aufnimmt — das nur den schreiendsten U n gerechtigkeiten der Epistemologie ein Ende bereitet. Sie muß sich zu eigen machen, was Michel Callon das verallgemeinerte Symmetrieprinzip nennt: Der Anthropologe soll sich in die mittlere Position versetzen, wo er gleichzeitig die Zuschreibung der nicht-menschlichen und der menschlichen Eigenschaften verfolgen kann (Callon 1986). Es ist ihm sowohl untersagt, sich der äußeren Realität zu bedienen, um die Gesellschaft zu erklären, als auch die Machtmechanismen heranzuziehen, um zu erklären, was die äußere Realität formt. Selbstverständlich bleibt es ihm auch untersagt, vom Realismus der Natur zum Realismus des Sozialen zu wechseln, indem er »nicht nur« die Natur verwendet, »sondern auch« die Gesellschaft; denn so bewahrt er die beiden anfänglichen Asymmetrien, wobei er die Schwächen der einen hinter denen der anderen versteckt (Latour 1987). Solange wir modern waren, war es unmöglich, eine zentrale Position einzunehmen, von der aus die Symmetrie zwischen Natur und Gesellschaft endlich sichtbar wird, denn sie existierte nicht. Die einzige zentrale Position, die von der Verfassung anerkannt wurde, war, wie wir weiter oben gesehen haben, die Erscheinung, also der Punkt, an dem die beiden Pole von Natur und Subjekt zusammengeführt wurden. Nun war dieser Punkt aber ein Niemandsland, ein Un-Ort. Wie wir inzwischen wissen, ändert sich alles, sobald wir die nichtmoderne Dimension hinabsteigen, statt immer nur innerhalb der modernen Dimension vom einen zum anderen Pol zu wechseln. Der undenkbare Un-Ort wird nun zum Punkt, an dem die Vermittlungsarbeit in die Verfassung einbricht. Er ist nicht leer, im Gegenteil, hier vermehren sich die Quasi-Objekte oder Quasi-Subjekte. Er ist nicht undenkbar, sondern wird zum Terrain aller empirischen Untersuchungen, die inzwischen schon zu den Netzen durchgeführt worden sind. Aber ist diese Position nicht gerade jene, an der die Anthropologie seit einem Jahrhundert mit so viel Aufwand gearbeitet hat und die der Ethno-

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Relativismus

löge heute mühelos einnimmt, wenn er andere Kulturen erforschen will? In der Tat, denn er geht von der Meteorologie zum Verwandtschaftssystem über, von der Natur der Pflanzen zu ihrer kulturellen Repräsentation, von der politischen Organisation zur Ethnomedizin, von den Strukturen des Mythos zur Ethnophysik oder zu den Jagdtechniken, ohne dabei seine analytischen Instrumente zu verändern. Gewiß kommt der M u t des Ethnologen, dieses nahtlose Gewebe zu entfalten, von seiner festen U b e r zeugung, daß es sich dabei nur u m Repräsentationen, und allein u m R e präsentationen handelt. Die Natur ihrerseits bleibt einzigartig, äußerlich und universell. Aber wenn wir die beiden Standorte überlagern — jenen, den der Ethnologe ohne jegliche Anstrengung einnimmt, um die Kulturen zu studieren, und jenen, den wir mit großen Anstrengungen definiert haben, u m unsere Natur zu studieren — wird eine vergleichende Anthropologie möglich, wenn nicht sogar leicht. Sie vergleicht nicht mehr Kulturen, wobei sie ihre eigene beiseite läßt, als besäße diese durch ein erstaunliches Privileg Zugang zur universellen Natur. Sie vergleicht die Naturen/ Kulturen. Sind sie vergleichbar? Sind sie ähnlich? Sind sie gleich? Vielleicht können wir jetzt das unlösbare Problem des Relativismus lösen.

Import und Export der beiden Großen Trennungen »Wir Abendländer sind absolut anders als die anderen«, so lautet der Siegesschrei der Modernen oder auch ihre unentwegte Klage. Unaufhörlich verfolgt uns die Große Trennung zwischen »uns«, den Abendländern, und »ihnen«, allen anderen, vom chinesischen Meer bis nach Yucatan, von den Inuit bis zu den Ureinwohnern Tasmaniens. Was auch immer die Abendländer tun, sie bringen die Geschichte mit: in den Rümpfen ihrer Karavellen und Kanonenboote, in den Zylindern ihrer Teleskope und den Kolben ihrer Injektionsspritzen. Diese Bürde des weißen Mannes wird von ihnen mal als eine begeisternde Herausforderung empfunden, mal als Tragödie, immer aber als Schicksal. Sie behaupten nicht nur, sich von den anderen zu unterscheiden wie die Sioux von den Algonkin, oder die Baoule von den Lappländern, sondern sie unterscheiden sich radikal, absolut. So daß auf der einen Seite die Abendländer stehen und auf der anderen alle Kulturen; denn allen Kulturen ist gemein, nur eine Kultur unter anderen zu sein. Allein das Abendland wäre demnach keine Kultur oder nicht bloß eine Kultur.

Import und Export der beiden GroßenTrennungen

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Warum denkt sich das Abendland in dieser Weise? Warum sollte es, und allein es, mehr als eine Kultur sein? U m die tiefe Kluft der Großen Trennung zwischen »uns« und »ihnen« zu verstehen, m u ß man auf jene andere Große Trennung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen zurückkommen, die ich weiter oben definiert habe. Die erste ist nämlich der Export der zweiten. Wir, die Abendländer, können nicht nur eine Kultur unter anderen sein, weil wir auch die Natur mobilisieren. Nicht allein, wie die anderen Gesellschaften, ein Bild oder eine symbolische R e präsentation der Natur, sondern die Natur als solche; oder zumindest die Natur, wie die Wissenschaften sie kennen, Wissenschaften, die im Hintergrund bleiben, unerforschbar, unerforscht, auf wundersame Weise mit der Natur selbst verschmolzen. Hätten die Abendländer nichts weiter getan, als Handel zu treiben und zu erobern, als zu plündern und zu unteijochen, so hätten sie sich von den anderen Händlern und Eroberern nicht radikal unterschieden. Aber sie haben eben die Wissenschaft erfunden, eine Aktivität, die etwas völlig anderes ist als Eroberung und Handel, Politik und Moral. Selbst jene, die im Zeichen des kulturellen Relativismus versucht haben, die Kontinuität der Kulturen zu verteidigen, statt sie in eine Serie des Fortschritts einzuordnen oder in ihren Gefängnissen zu isolieren (LéviStrauss [1952]1987), glaubten es nur tun zu können, indem sie diese Kulturen soweit wie möglich den Wissenschaften annäherten. »Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hat es gedauert«, schreibt LéviStrauss in Das wilde Denken, »bis sich lang getrennte Wege kreuzten: derjenige, der auf dem U m w e g der Kommunikation zur physischen Welt Zugang findet [das wilde Denken], und deijenige, der, wie man seit kurzem weiß, auf dem U m w e g der Physik zur Welt der K o m munikation Zugang findet [die moderne Wissenschaft]« (S. 310). »Damit war auch die falsche Antinomie zwischen logischer Mentalität und prälogischer Mentalität überwunden. Das wilde Denken ist in demselben Sinne und auf dieselbe Weise logisch, wie es unser Denken ist, aber nur dann, wenn es sich auf die Erkenntnis einer Welt richtet, der es zugleich physische und semantische Eigenschaften zuerkennt. M a n wird einwenden, daß zwischen dem Denken der Primitiven und dem unseren ein wesentlicher Unterschied fortbesteht: die Informationstheorie interessiert sich für Nachrichten,

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die authentisch solche sind, während die Primitiven bloße Manifestationen des physischen Determinismus fälschlich fiir Nachrichten nehmen. Indem die Menschen [des wilden Denkens] die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des Tier- und Pflanzenreiches behandelten, als seien es die Elemente einer Nachricht, und indem sie dabei >Signaturen< - also Zeichen - entdeckten, haben sie Irrtümer der Ortung begangen: das bezeichnende Element war nicht immer das, das sie dafür hielten. Aber obwohl ihnen perfektionierte Instrumente fehlten, die ihnen die Möglichkeit hätten geben können, es dort zu sehen, wo es am häufigsten ist, nämlich auf mikroskopischer Ebene, erkannten sie bereits, >wie durch eine Wolke hindurch