„Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben“: Vom schlechten Gebrauch der Vernunft 9783495824214, 9783495490785


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Inhalt
Hinführung
I) Vom Teufel und von der Hölle
II) Schreiben über das Böse
1. Der Pakt mit dem Teufel
Johann Wolfgang von Goethe: Faust
Amélie Nothomb: Antéchrista
Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten
a) Menschen zwischen Individualität und Statistik
Max von Aue
Statistik
Individualität
b) Reminiszenzen an Faust
»Vom Himmel durch die Welt zur Hölle«
Thomas – Mephisto
»Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe«
Clemens und Weser: Die Erlösung
c) Der Teufel in Person
d) Egoismus und Schwäche als Prinzip des Bösen
Die Gefahr der falschen Zugehörigkeit
2. Der künstliche Mensch
Der Golem
a) Tradition und Elemente
b) Historischer Überblick
Literarische Ausführungen
a) Brentanos Golem
b) Jüdische Erzählungen
Variationen des Golem
a) Paul Wegeners Film: Der Golem, wie er in die Welt kam
Legende des Golem
Darstellung der Menschen
Vergessene Verantwortung
b) Cynthia Ozicks weiblicher Golem
c) Mary Shelley: Frankenstein
Erschaffung des Lebens
Frankensteins Geschöpf
Das Böse
Die Thematisierung der Verantwortungslosigkeit
III) Nachdenken über den Bösen
1. Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen
Das Böse als Möglichkeit bei Gottfried Wilhelm Leibniz
a) Gott und die beste aller Welten
b) Das Verhältnis Gott – Mensch
c) Das Problem des Bösen
Die Bedeutungslosigkeit des Bösen bei Johann Gottfried Herder
a) Das Prinzip der Harmonie
b) Die Unterlegenheit des Bösen
2. Die Rückkehr des Teufels
Die Entdeckung des radikal Bösen bei Immanuel Kant
a) Die Freiheit als Wesen des Menschen
b) Die Stufen des Bösen
Die Verkehrung der Anlagen
Der Hang zum Bösen
Das radikal Böse
c) Das Teuflische und das Vorbild des Guten
Das mythologisch begründete Böse bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
a) Gott und die Schöpfung
b) Der Mensch als Ebenbild Gottes
c) Das Böse und der Teufel
Die Kultur als Keimzelle allen Bösen bei Jean-Jacques Rousseau
a) Der natürliche Mensch
b) Der Mensch in der Gesellschaft
3. Die Vertreibung des Teufels
Die Radikalisierung der Freiheit bei Jean-Paul Sartre
a) Das Handeln in Verantwortung
b) Der neue Humanismus
c) Der Teufel und der liebe Gott
Die Flucht in Verzweifung und der Verfall in Schwermut
a) Der Verlust des Teufels bei Sören Kierkegaard
Der Mensch als Selbst
Verzweiflung und Angst
Der Teufel und die Verzweiflung aus Trotz
b) Die Schwermut bei Romano Guardini
Das Böse als Widerspruch
Die Person im Dialog
Die Schwermut und ihre Annahme
Der Dialog wider das Böse bei Hannah Arendt
a) Das Böse und der Dialog
Handeln und Untat
Statistik und Durchschnitt
Macht und Gewalt
b) Das Gewissen
Der Ursprung des Bösen
Gewissen und die Gesellschaft
Das wurzellose Böse
Orientierung an Beispielen
c) Das gewissenlose Böse
Zur Normalität der Person
Unfähigkeit zu handeln und zu sprechen
Das personifizierte Böse
Die Rolle der Intellektuellen in der NS-Diktatur
Die Banalität des Bösen
d) Vom Überschreiten der Grenzen
Die Bedeutung der Ehrfurcht bei Albert Schweitzer
a) Die falsche Kultur und Weltanschauung
b) Wesen und Aufgabe der Philosophie
IV) Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung
1. Der Mensch und die Gemeinschaft
Das Beziehungsgeflecht
Das Erleben
2. Der Mensch und er selbst
Die Erfahrung des Mangels
Die Neugier
Das Können
3. Der Bezug nach außen
Die fragliche Existenz des Anderen
Der Vergleich
4. Der Andere
Der gute und der böse Andere
Der schlechte Gebrauch der Vernunft
V) »Die Hölle«
Danksagung
Bibliographie
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„Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben“: Vom schlechten Gebrauch der Vernunft
 9783495824214, 9783495490785

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Patricia Rehm-Grätzel

»Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben«

Vom schlechten Gebrauch der Vernunft

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824214

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B

Patricia Rehm-Grätzel »Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben«

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Patricia Rehm-Grätzel

»Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben« Vom schlechten Gebrauch der Vernunft

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Patricia Rehm-Grätzel »The Evil One’s gone: the evil stays« About the bad use of reason The title refers to Goethe’s tragedy of Faust and the inherent prophecy of the ›banality of evil‹, broadly discussed only in the 20th century. Philosophers as well as fictional authors show in their works how the evil one has vanished in order to leave his place to the masses. In the present book these processes are retraced throughout relevant texts which provide an interpretation of the increasing brutalization of the occidental culture.

The Author: Patricia Rehm-Grätzel studied Philosophy, German and French philology and Comparative Literature in Mainz and in Dijon within a special integrated studies programme, meaning that she spent half her studies in France and the other half in Germany. Her PhD was also done within a binational »Co-tutelle de Thèse« programme. She lectured at Université de Bourgogne, Dijon, at Université Lyon III Jean Moulin, Lyon, at Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Germany, and at Waterford Institute of Technology, Ireland. She currently works as a teacher at a highschool at Mainz.

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Patricia Rehm-Grätzel »Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben« Vom schlechten Gebrauch der Vernunft Der Buchtitel zitiert Goethes Prophetie im Faust I und verweist auf die »Banalität des Bösen«, die im 20. Jahrhundert zum breit diskutierten Thema wurde. Sowohl Philosophie als auch Literatur zeigen die Spuren auf, in denen »der Böse« sich verflüchtigt hat, um einer Vielgesichtigkeit des Bösen Platz zu machen. Im Buch werden diese Prozesse anhand von einschlägigen Texten nachvollzogen. Sie bieten in Darstellung und Interpretation eine Tiefenanalyse der zunehmenden Verrohung der westlichen Kultur.

Die Autorin: Patricia Rehm-Grätzel studierte Philosophie, Germanistik, Romanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Johannes Gutenberg Universität Mainz und der Université de Bourgogne, Dijon. Sie absolvierte den Integrierten Studiengang und erwarb einen französisch-deutschen Doppelabschluss (Magister/ Maîtrise). Danach promovierte sie im Rahmen eines binationalen, ko-betreuten Promotionsverfahrens (Co-tuelle de thèse). Sie forschte und lehrte an den Universitäten Université de Bourgogne, Université Lyon III Jean Moulin, Lyon, Johannes Gutenberg Universität Mainz und am Waterford Institute of Technology, Irland. Zur Zeit lehrt sie an einem Gymnasium in Mainz.

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Fiona Dowling, © privat Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49078-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82421-4

https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Inhalt

Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

I)

Vom Teufel und von der Hölle

21

II) 1.

Schreiben über das Böse . . . . . . . . . . . . . Der Pakt mit dem Teufel . . . . . . . . . . . . . Johann Wolfgang von Goethe: Faust . . . . . . . Amélie Nothomb : Antéchrista . . . . . . . . . . Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten . . . . . . . a) Menschen zwischen Individualität und Statistik Max von Aue . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individualität . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Reminiszenzen an Faust . . . . . . . . . . . . »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« . . . Thomas – Mephisto . . . . . . . . . . . . . . »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe« . . . . . . Clemens und Weser: Die Erlösung . . . . . . . c) Der Teufel in Person . . . . . . . . . . . . . d) Egoismus und Schwäche als Prinzip des Bösen . Die Gefahr der falschen Zugehörigkeit . . . . . Der künstliche Mensch . . . . . . . . . . . . . Der Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tradition und Elemente . . . . . . . . . . . . b) Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . Literarische Ausführungen . . . . . . . . . . . a) Brentanos Golem . . . . . . . . . . . . . . . b) Jüdische Erzählungen . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Variationen des Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Paul Wegeners Film: Der Golem, wie er in die Welt kam Legende des Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung der Menschen . . . . . . . . . . . . . . Vergessene Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . b) Cynthia Ozicks weiblicher Golem . . . . . . . . . . . c) Mary Shelley: Frankenstein . . . . . . . . . . . . . . Erschaffung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . Frankensteins Geschöpf . . . . . . . . . . . . . . . . Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Thematisierung der Verantwortungslosigkeit . . . . III) Nachdenken über den Bösen . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen . . Das Böse als Möglichkeit bei Gottfried Wilhelm Leibniz a) Gott und die beste aller Welten . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis Gott – Mensch . . . . . . . . . . . . c) Das Problem des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutungslosigkeit des Bösen bei Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . . a) Das Prinzip der Harmonie . . . . . . . . . . . . . . b) Die Unterlegenheit des Bösen . . . . . . . . . . . . 2. Die Rückkehr des Teufels . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung des radikal Bösen bei Immanuel Kant . a) Die Freiheit als Wesen des Menschen . . . . . . . . b) Die Stufen des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verkehrung der Anlagen . . . . . . . . . . . . Der Hang zum Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . Das radikal Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Teuflische und das Vorbild des Guten . . . . . . Das mythologisch begründete Böse bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling . . . . . . . . . a) Gott und die Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mensch als Ebenbild Gottes . . . . . . . . . . . c) Das Böse und der Teufel . . . . . . . . . . . . . . . Die Kultur als Keimzelle allen Bösen bei Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . a) Der natürliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Mensch in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Inhalt

Die Vertreibung des Teufels . . . . . . . . . . . . . . . Die Radikalisierung der Freiheit bei Jean-Paul Sartre . . a) Das Handeln in Verantwortung . . . . . . . . . . . . b) Der neue Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Teufel und der liebe Gott . . . . . . . . . . . . . Die Flucht in Verzweifung und der Verfall in Schwermut . a) Der Verlust des Teufels bei Sören Kierkegaard . . . . . Der Mensch als Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzweiflung und Angst . . . . . . . . . . . . . . . Der Teufel und die Verzweiflung aus Trotz . . . . . . b) Die Schwermut bei Romano Guardini . . . . . . . . . Das Böse als Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . Die Person im Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schwermut und ihre Annahme . . . . . . . . . . Der Dialog wider das Böse bei Hannah Arendt . . . . . a) Das Böse und der Dialog . . . . . . . . . . . . . . . Handeln und Untat . . . . . . . . . . . . . . . . . . Statistik und Durchschnitt . . . . . . . . . . . . . . Macht und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ursprung des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . Gewissen und die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . Das wurzellose Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orientierung an Beispielen . . . . . . . . . . . . . . c) Das gewissenlose Böse . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Normalität der Person . . . . . . . . . . . . . . Unfähigkeit zu handeln und zu sprechen . . . . . . . Das personifizierte Böse . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rolle der Intellektuellen in der NS-Diktatur . . . . Die Banalität des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vom Überschreiten der Grenzen . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Ehrfurcht bei Albert Schweitzer . . . a) Die falsche Kultur und Weltanschauung . . . . . . . . b) Wesen und Aufgabe der Philosophie . . . . . . . . . .

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IV) Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Mensch und die Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . Das Beziehungsgeflecht . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.

9 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Inhalt

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3.

4.

V)

Das Erleben . . . . . . . . . . . . . Der Mensch und er selbst . . . . . . Die Erfahrung des Mangels . . . . . Die Neugier . . . . . . . . . . . . . Das Können . . . . . . . . . . . . . Der Bezug nach außen . . . . . . . . Die fragliche Existenz des Anderen . Der Vergleich . . . . . . . . . . . . Der Andere . . . . . . . . . . . . . Der gute und der böse Andere . . . . Der schlechte Gebrauch der Vernunft »Die Hölle«

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie

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[…] The Devil I met the Devil too, And the adjectives by which I would describe him are these: Solemn, Boring, Conservative. He was a man the world would appoint to a Board, He would be on the list of invitees for a bishop’s garden party, He looked like an artist. He was the fellow who wrote in newspapers about music, Got into a rage when someone laughed; He was serious about unserious things; You had to be careful about his inferiority-complex For he was conscious of being uncreative. (Patrick Kavanagh – A View of God and the Devil)

[…] Der Teufel Ich habe auch den Teufel getroffen, Und die Adjektive, mit denen ich ihn beschreiben würde, sind: Gravitätisch, Langweilig, Konservativ. Er war derjenige, den man in ein Gremium wählen würde, Er wäre bei einem Empfang beim Bischof auf der Gästeliste, Er sah aus wie ein Stümper. Er war der Kerl, der in Zeitungen über Musik schrieb, Der wütend wurde, wenn jemand lachte; Er war ernsthaft bei unernsten Dingen; Man musste sich vor seinem Minderwertigkeitskomplex in Acht nehmen, Denn er war sich dessen bewusst, dass er nicht kreativ war. (Patrick Kavanagh – Ein Blick auf Gott und den Teufel)

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Wenn Mephisto sich in der Hexenküche die Anrede Satan verbietet und erklärend hinzufügt: »Er [der Name Satan] ist schon lang in’s Fabelbuch geschrieben; Allein die Menschen sind nichts besser dran, Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.« (Goethe. Faust I. V 2507–2509),

so verweist Goethe hier durch Mephisto auf ein neues Weltbild. Der Name Satan steht für den Urbösen, der den Menschen und ihrer Welt Schaden zufügt. Er ist der alleinige Verursacher, der als Gegenspieler Gottes wirkt. Ist sein Name ins Fabelbuch geschrieben, so ist er selbst nur noch Geschichte und noch weniger: Er ist zum Märchen geworden. Als solches ist seine Realität mehr als zweifelhaft. Dasselbe gilt auch für seine Funktion, wobei hier mehr als nur Satans Funktion gemeint ist. Es geht hierbei um den Glauben als solchen, der den Menschen abhandengekommen ist. Somit spielt der Glaube an den Bösen und auch an den Guten nicht mehr die bestimmende Rolle im Leben der Menschen. Der Böse hat nun nicht mehr dieselbe Macht über die Menschen, da diese sich mehr an Naturwissenschaften orientieren und ihr Interesse mehr auf die materielle Welt, statt auf die spirituelle Welt richten. Jedoch ist sein Vermächtnis geblieben: Das Böse ist weiterhin in der Immanenz zu finden, und auch die Menschen sind immer noch böse. Mephistos Worte haben während der letzten zweihundert Jahre nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Philosophen wie z. B. Hans Jonas bedauern immer wieder den Verlust des Transzendenten gegenüber der allzu technisch orientierten Welt (vgl. Jonas. Verantwortung. S. 57 f.). Bedingt durch kulturelle und gesellschaftliche Errungenschaften oder literarische und philosophische Überlegungen wird in unserer Zeit tatsächlich häufig das Religiöse säkularisiert. Auch 13 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Hinführung

Bettina Stangneth stellt fest: »Wer heute vom Bösen spricht, der spricht allein vom Menschen« (Stangneth. Denken. S. 15). Dabei bezeichnet das Böse hier zum einen eine Art des Handelns oder SichVerhaltens, zum anderen ist der Böse Synonym des Teufels. Der Teufel stellt aber im europäischen Denken kaum mehr eine Realität dar und repräsentiert deshalb nicht mehr die Gefahr des Bösen oder den Verführer zum Bösen. Vielmehr ist er weitestgehend nur noch eine ikonographische Figur. Jedoch ist das Böse weiterhin in der Welt vorhanden und die Gefahr, zum Bösen verführt zu werden, scheint nun von den Anderen auszugehen. Böse sind immer die Anderen. Dieser Aussage und der damit verbundenen Einstellung begegnen wir allzu häufig. Es geht dem Menschen dann darum, sich zu schützen und die Schuld auf jemand Anderen zu übertragen. Der Mensch ist der Gute in seinem Leben, das seine Geschichte ist. Er ist derjenige, der sich richtig verhält und dessen Absichten gut sind. Stellt sich dies alles als (teilweise) nicht korrekt heraus, so bemüht er häufig einen Sündenbock – den Anderen. Der Andere ist der eigentlich Böse oder er hat den Menschen dazu gebracht, dass er sich nicht gut verhalten hat. Jedoch ist das Thema des bösen Anderen kein typisches philosophisches Thema. Gustav Roskoff verweist im Rahmen seiner Geschichte des Teufels mehrfach auf religiöse Traditionen, in denen der Feind eines Volkes zum Bösen gemacht wird, damit der Feind der Andere wird, den man bekämpfen kann. (Vgl. Roskoff. Geschichte. S. 64, S. 72) 1 In der christlichen Tradition sieht Hermann Häring das Böse sogar als den »entscheidende[n] Kampf- und Machtfaktor« und damit gleichzeitig als die »entscheidende Triebfeder menschlicher Geschichte« (Häring. Tradition. S. 77) in Europa. Der Teufel selbst ist für ihn »ein typischer Fall der Interaktion zwischen Religion und Kultur« (Häring. Tradition. S. 85). Der böse Andere ist eine religiöse Thematik und eine Thematik des menschlichen Lebens überhaupt. Der Mensch hat entweder FeinRoskoff bezieht sich hier auf die Religionen des klassischen Altertums: »Der gefährliche Feind wird entweder selbst zum mythischen bösen Wesen […] oder die Gottheit, die dem feindlichen Volk als Schutzgottheit gilt […], erscheint dem bedrohten Volk als feindliche, übeltätige […].« (Roskoff. Geschichte. S. 64). Aber auch schon bei den Ägyptern ist diese Verhaltensweise bekannt und sogar mit einer Gottheit belegt: »Set galt auch als Gott der Nachbarvölker […] Alles Nichtägyptische, Fremdartige ist eine Offenbarung des Set, ebenso alles Schädliche, Rohe, alles verwüstende Wesen.« (Roskoff. Geschichte. S. 72)

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Hinführung

de, denen er trotzen muss, um sich zu bewähren und über sich hinauszugehen, oder er schafft sich Feinde. Die Literatur als erzählerische Form kann das Leben in seinen allgemeinen Zusammenhängen zeigen. Deshalb erscheint der böse Andere vornehmlich in der Literatur. Zum einen taucht hier der Teufel selbst immer wieder auf, und gerade in der literarischen Moderne erfreut er sich großer Beliebtheit (vgl. Schulte. Radikal. S. 323). Zum anderen wird in der Literatur sowie in jedem künstlerischen Werk, das eine Geschichte erzählt, dem Helden, der in der Regel der Gute ist, ein Widersacher entgegengesetzt. Letzterer ist dem Helden gegenüber grundsätzlich feindselig gestimmt, sei es aus Missgunst oder Eifersucht, oder er ist an sich von schlechtem Charakter, was dann die Feindseligkeit nicht nur dem Helden gegenüber, sondern gegen alle anderen Menschen begründet. In jedem Fall lässt der Antipode einerseits den Helden über sich hinauswachsen und unterstreicht andererseits die positiven Eigenschaften des Helden, der sich im Verlauf der Handlung gegen seinen Widersacher durchzusetzen und insgesamt in der Geschichte zu bewähren hat. Neben der literarischen Verarbeitung als Widerstreit von Helden und Antipoden, Gut und Böse, hellem und dunklem Prinzip, Akteur und Widersacher werden das Böse und die Personifikation des Bösen, nämlich der Teufel, auch häufig in der Philosophie thematisiert, denn die Philosophie beschäftigt sich mit Prinzipien, die dem individuellen, menschlichen Leben und dem Leben des Menschen als solchem zugrunde liegen. Susan Neiman ist sogar der Ansicht, dass die Philosophiegeschichte insgesamt »nichts Ernsteres zu bieten [hat], als die Frage nach dem Bösen« (Neiman. Böse. S. 13). Dieser Ernst resultiert aus dem Leben des Menschen selbst. Insofern ergänzen sich Literatur und Philosophie als zwei Arten des Nachdenkens über das Leben und des Beschreibens des Lebenszusammenhangs. Aus diesem Grund werden im vorliegenden Werk zuerst die Literatur und anschließend philosophische Betrachtungen hinsichtlich des Themas des Bösen und des Bösen im Anderen nacheinander zur Sprache kommen. Das Böse hat ebenso viele Facetten wie das menschliche Leben selbst. Christian Schäfer spricht von dem »Variantenreichtum in den philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Bösen« (Schäfer. Einführung. S. 13 f.) und zählt die vielen unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Grundpositionen bezüglich des Bösen in der Philosophie auf (vgl. Schäfer. Einführung. S. 11 ff.). 15 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Hinführung

Ebenso verhält es sich mit der Art und Weise, wie und warum Menschen zum bösen Anderen gemacht werden. Um das Thema einzugrenzen, wurde eine Auswahl getroffen. Was die Literatur betrifft, so liegt der Schwerpunkt hier auf zwei besonderen Thematiken. Zum einen wird der Faust-Stoff zur Verdeutlichung herangezogen. Dieser Stoff bietet das Motiv des Paktes mit dem Teufel, also der Pakt zwischen einem Menschen und einem übernatürlichen Wesen, nämlich mit dem bösen Anderen, der den Menschen verführt. Dabei geht es hier nicht darum, dass sich Menschen mithilfe des Teufelspaktes von der Gesellschaft entfernen und ihr schaden wollen, so wie es ehrbaren Frauen in Zeiten des Hexenwahns unterstellt wurde. Vielmehr steht der Pakt mit dem Teufel hier für den Versuch eines Außenseiters, sich in eine menschliche Gemeinschaft zu integrieren. Im Folgenden sollen exemplarisch literarische Werke interpretiert werden, die sich dem Pakt mit dem Teufel widmen. An dieser Stelle wird es vor allem um Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil gehen, vornehmlich um das Prinzip, das die Grundlage für weitere Faust-Variationen bietet. Außerdem soll Amélie Nothombs Böses Mädchen – Antéchrista vorgestellt werden, eine Variation der Thematik, bei der es um zwei junge Frauen im 20. Jahrhundert geht und ihren Versuch, sich in der Universität zu integrieren. Schließlich wird Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten ausführlicher bearbeitet. In diesem Roman findet sich zum einen der Faust-Stoff Goethes mit direkten Hinweisen und Zitaten, und insbesondere die Thematik des Paktes mit dem Teufel, wieder. Zum anderen verarbeitet der Roman Hannah Arendts philosophische Reflexionen zum Bösen, auf welche im Verlauf dieser Arbeit genauer eingegangen werden. Im zweiten Teil von Goethes Faust. Der Tragödie zweiter Teil wird wie nebenbei das zweite Thema vorbereitet, das für uns hier von Interesse ist, nämlich der künstliche Mensch. Hier erschafft Wagner den Homunculus, der aber letztendlich nicht lebensfähig ist. Der künstliche Mensch oder das von Menschen erschaffene künstliche Wesen ist ein bekanntes Motiv der Mythologie und der Literatur, aber auch der jüdischen Tradition. Bei letzterer handelt es sich jedoch nicht um ein aus wissenschaftlichem Hochmut erschaffenes Wesen, sondern mit dem Golem um den stummen Helfer des Rabbi, der die Juden auf Geheiß Jahwehs vor böswilligen Übergriffen schützen soll. Auch dieses Motiv erfährt in der Literatur und im Film viele Variationen, wovon im Folgenden einige exemplarisch behandelt werden sollen. 16 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Hinführung

Bei diesem Motiv geht es uns vor allem darum, wie der Mensch mit seiner eigenen Schöpfung umgeht. Dies wird anhand von Brentanos und einer jüdischen Erzählung aufgewiesen. Dem schließt sich Paul Wegeners Film Der Golem, wie er in die Welt kam an, der das Grundmuster der Golem-Thematik aufgreift. Abschließend werden auch hier Variationen der Thematik vorgestellt: Zum einen die Variante des weiblichen Golems in Cynthia Ozicks Puttermesser und ihr Golem, zum anderen Mary Shelleys Frankenstein, in dem das Grundmuster, das der Golem-Legende zugrunde liegt, ebenfalls deutlich wird. Dabei sollen hauptsächlich gemeinsame Strukturen des Handelns und des Sich-Verhaltens aufgezeigt werden. Was nun die Philosophie betrifft, so geht es hier mit der Frage um das Böse, um die nach gutem und bösem Handeln sowie die Frage nach dem personifizierten Bösen, dem Teufel. Dabei begrenzen wir uns auch hier auf die Zeit zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert. Zunächst aber werden zwei Philosophen des 18. Jahrhunderts vorgestellt, für die die Welt nach dem göttlichen Prinzip der Harmonie geordnet ist. Diese Harmonie ist das Grundprinzip, das alles, was lebt, bestimmt. Das Böse existiert zwar, jedoch setzt sich das Gute immer wieder und prinzipiell durch. Es handelt sich hierbei um Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Gottfried Herder, für den Leibniz ein Vorbild war. Trotzdem spielt das Böse in der Philosophie weiterhin eine Rolle. Da das Böse auch weiterhin in der Welt bleibt, analysieren Denker wie Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und JeanJacques Rousseau das Böse als solches. Außerdem liefern sie unterschiedliche Überlegungen hinsichtlich des Ursprungs des Bösen in der Welt. Sie gehen auch der Frage nach, warum der Mensch das Böse für sich annimmt oder gar zum Bösen wird. Demzufolge spielt auch für Kant und Schelling die Personifikation des Bösen wieder eine Rolle, wie gezeigt werden soll. Im 20. Jahrhundert scheint der Mensch selbst die Rolle des personifizierten Bösen zu übernehmen, was sich auch im philosophischen Denken niederschlägt. Exemplarisch für das Nachdenken über das Böse und dessen Personifikation sollen hier verschiedene Philosophen des 19. und 20. Jahrhundert stehen. Für Jean-Paul Sartre ist jeder Mensch Schöpfer seines eigenen Lebens, das er selbst für sich entwirft und eigenständig umsetzt. Dabei fordert Sartre für jeden Einzelnen die nahezu absolute Freiheit.

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Hinführung

Demzufolge wird derjenige zum Bösen, der den Menschen an der Verwirklichung seiner Pläne hindert. Sören Kierkegaard versteht die Verzweiflung in der Schelling’schen Tradition als Auswirkung des Bösen und sieht die größtmögliche Verzweiflung in der Personifikation des Bösen. Was für Kierkegaard die Verzweiflung ist, wird von Romano Guardini als Schwermut begriffen. Die Schwermut selbst ist aber nicht Anzeichen des Bösen, sondern des Guten. Das Böse hingegen ist für Guardini ein Widerspruch zum Guten, womit er das Böse als vom Guten abhängig begreift. Guardini liefert zudem noch die Antwort darauf, wie die Schwermut gemeistert werden kann, ohne, dass dieses lähmende Gefühl zum Bösen tendiert, nämlich durch Dialog und Annahme. Gerade das Fehlen des Dialoges oder gar die Verweigerung desselben ist für Hannah Arendt letztendlich das Böse. In ihren philosophischen Überlegungen geht sie zunächst von Kants Begriff des radikalen Bösen aus, den sie annimmt und weiterentwickelt. Aufgrund der historischen Ereignisse, die sie als Zeitzeugin miterlebt, ändert sie dies jedoch und prägt den Begriff der Banalität des Bösen, durch den die Radikalität des Bösen negiert wird. Albert Schweitzer hingegen begreift das Böse als ebenso naturgegeben wie das Gute, wobei das Böse als das Zerstörende dem aufbauenden Guten auch wieder untergeordnet ist. Dabei verfasst er, wie auch Rousseau, gleichzeitig eine Kulturkritik. Seine ethische Forderung, Ehrfurcht vor dem Leben zu haben, soll jedem Menschen bei seinem eigenen Handeln Orientierung sein. Die literarischen Werke und die ausgewählten Philosophen werden zwar im Rahmen einer größeren Thematik, aber dennoch in Einzelinterpretationen vorgestellt. Deshalb mag die Art der Bearbeitung und Auseinandersetzung mit der ausgewählten Literatur und Philosophie einen eher einleitenden Charakter aufweisen. Dies ist vor allem dem Interesse geschuldet, dass Literatur und Philosophie nicht nur für Wissenschaftler in Universitäten zugänglich und verständlich sein sollte, sondern für alle, die ihren Horizont erweitern wollen. Durch diese Art der eingehenden Textanalyse werden die einzelnen Positionen genauer dargelegt, damit sie besser miteinander verglichen werden können. Es handelt sich hier aber nicht um eine Philosophiegeschichte des Bösen. Deshalb folgen die zitierten Philosophen nicht unbedingt chronologisch aufeinander und ihr Denken ist nicht zwangsläufig das Resultat einer Auseinandersetzung mit dem im voranstehenden 18 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Hinführung

Kapitel dargestellten Philosophen. Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass die Art der Zusammenstellung eine in sich systematische Beschäftigung mit der Thematik des Bösen und dessen Personifikation aufweist. So, wie sie hier nacheinander erscheinen, spannen sie einen Bogen vom Verschwinden und Wieder-Auftauchen des Nachdenkens über das Böse und seiner Personifikation über die allmähliche Vermenschlichung der Personifikation des Bösen bis hin zu Überlegungen, welches konkrete Handeln dem Bösen entgegenwirkt. In einer abschließenden Überlegung soll es um den vernünftigen Umgang mit dem Bösen und mit dem Anderen gehen. Es wird dargelegt, dass Menschen zwar Vernunft haben und dies auch prinzipiell wissen, sich dieser Vernunft aber häufig nicht bewusst bedienen. Die Vernunft, d. h. in diesem Fall das bewusste Nachdenken über das eigene Sein und Handeln, kommt zwar sehr wohl zum Tragen, wenn es um eigene Erfahrungen und Bedürfnisse geht. Dann setzten Menschen häufig ihre Vernunft ein, um zu planen und etwas zu erreichen. Geht es aber um den Anderen oder um den Umgang mit Anderen, so lassen sich Menschen häufig von Gefühlen und Vorurteilen leiten. In vielen Fällen wird der Andere dann zum Bösen gemachten und damit zum Sündenbock, der für alles Widrige verantwortlich ist. Jedoch kann viel Böses kann verstanden und vermieden werden, wenn wir uns bewusst machen, dass nicht unbedingt der Andere der Böse ist.

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I) Vom Teufel und von der Hölle

Die Hölle – ist das der Andere? Für den Philosophen Jean-Paul Sartre ist dies keine Frage, sondern die Antwort. Der Andere, das ist derjenige, der auch da ist, derjenige, der Grenzen setzt, und derjenige, der die unbedingte Freiheit und ihre Entfaltung hemmt, die für Sartre im Menschen angelegt ist. Der Andere stört, weil er existiert. Er hat sein eigenes Wesen und seine eigenen Rechte. Deshalb ist er die Hölle. Jedoch ist das Leben mit den Anderen nicht ganz so einseitig negativ zu begreifen, wie Sartre es sieht. Und nur, weil der Andere ebenso auf seine Individualität besteht wie ich, ist er nicht gleich der Böse, der mir mein Leben verdirbt. Der Andere ist jeder Mensch, mit dem ich es im Laufe meines Lebens zu tun habe. Er kann eine bedeutende Rolle in meinem Leben und für mein Leben spielen, wie z. B. Eltern, Geschwister, Lebenspartner oder Freunde. Der Andere kann nur auf bestimmte Zeit mein Leben begleiten, wie z. B. Schulkameraden, Arbeitskollegen oder Menschen, mit denen ich gemeinsam im selben Verein bin. Der Andere ist aber auch jeder, den ich nur kurz in meinem Leben wahrnehme und dann auch wieder vergesse. Dies kann z. B. ein Mensch sein, der das Auto fährt, das ich gerne fahren würde, es mir aber nicht leisten kann, oder jemand, über dessen Vordrängen ich mich kurzzeitig ärgere, oder jemand, der mir kurz in einer Menge auffällt, den ich aber hinterher wieder vergesse. Der Andere ist ein Mensch wie ich. Der Andere kann aber auch der ganz Andere sein. Ein Wesen, das mir nicht ähnlich ist, sondern eben ganz anders, das aber trotzdem mit mir und meinem Leben zu tun hat, und sei es auch nur in der Phantasie, in der Literatur oder in Form von idiomatischen Wendungen in der Sprache. Dieses ganz andere Wesen ist der Teufel. Trotz seiner Nicht-Menschlichkeit wird dieses Wesen personifiziert, damit der Mensch es sich vorstellen kann. Dann aber trägt der Andere die 21 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom Teufel und von der Hölle

Züge des Un-Menschlichen. Insofern ist er trotzdem noch ganz anders, da er allein das Böse verkörpert und deshalb allein alles Negative personifiziert. Jedoch ist auch die Definition des Teufels nicht so einfach. In der Tradition erscheinen mehrere Namen, die den Teufel charakterisieren. Jeder dieser Namen birgt aber eine andere Herkunft und damit eine andere Geschichte des Teufels. Auch wird jeder Name mit unterschiedlichen Attributen belegt. Dabei scheint auch der Name ›Teufel‹ ein Oberbegriff zu werden, unter dem die unterschiedlichen anderen Bezeichnungen und die damit verbundenen Traditionen des größtmöglichen Bösen vereint werden. Im Dictionnaire du Diable von Roland Villeneuve sind einige Namen und Bedeutungen zusammengetragen. So ist der Teufel die Personifikation des Bösen Geistes und damit der Feind Gottes. Er wird als der Oberste der rebellischen Engel bezeichnet, da er der universelle Nein-Sager ist (vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 261). Dementsprechend negiert er alles, zerstört, was aufgebaut ist und wird somit zum ewigen Skeptiker. Was die angeblich tatsächliche Gestalt und das Auftreten des Teufels betrifft, so bezieht sich Villeneuve auf die spanische Hexe Marie Zozaya. Sie berichtet von einem Wesen, das halb Mensch, halb Ziegenbock und deshalb körperlich deformiert ist. Zudem habe dieses Wesen einen Schwanz wie ein Esel. Diese Verbindung zwischen Mensch und Tier wird auch in der Stimme deutlich, denn sie sei derart gebrochen und schrecklich anzuhören, dass sie an den Schrei eines Maultieres, also einer weiteren Kreuzung, erinnert. Dabei artikuliere der Teufel auch nicht richtig. Während des Hexensabbats trage er eine Krone aus Hörnern, von denen eines Licht spendet und das Treiben erleuchtet. Ungeachtet seines Aussehens oder gerade auch deshalb sei die Erscheinung des Teufels von großem Ernst und prächtig. Jedoch umgebe ihn der Anschein von Traurigkeit, Melancholie und Langeweile. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 262 f.) In dieser Beschreibung zeigen sich alle Attribute, die dem Teufel zugeschrieben werden. Er ist aber nicht nur der Schreckliche und Hässliche, sondern vor allem auch der Unglückliche, der seine Deformierung mit Stolz (er)trägt. In seinem Werk über Das Böse verweist Rüdiger Safranski darauf, dass die Personifizierung des Bösen »etwa im 13. Jahrhundert zum Abschluß [sic!]« (Safranski. Böse. S. 30) kommt. Seitdem erscheine der Teufel in verschiedenen Naturkatastrophen, aber auch in Form der schwarzen Katze, eines Hundes, eines Raben, eines Geiers 22 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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oder einer Wolke aus Gestank. (Vgl. Safranski. Böse. S. 30) Nimmt er die menschliche Gestalt an, so habe er einen Bocksfuß, sei häufig in Schwarz gekleidet, könne aber als schlanker oder sehr korpulenter Mensch erscheinen. Zudem könne er fliegen und käme durch den Kamin. (Vgl. Safranski. Böse. S. 30) Der Teufel sei jedoch immer lediglich der Widersacher Gottes, der nur so lange existiert, wie Gott selbst (vgl. Safranski. Böse. S. 31), was auf die Abhängigkeit der Personifikation des Bösen von Gott hinweist. Zudem »personifiziert [der Teufel] alles Verkehrte« (Safranski. Böse. S. 31), wodurch auf die Perversion all dessen verwiesen wird, was von Gott geschaffen und dem Leben dienlich ist. Als Synonyme des Teufels werden im Dictionnaire du Diable Luzifer, Beelzebub, Satan oder Diabolus, der lateinische Name für Satan, aufgezählt. Hierzu gehören auch noch die Schlange, die Eva in der Genesis verführt, sowie der Drache der Apokalypse. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 261) Dabei steht jeder dieser Namen auch für eine andere Geschichte, einen anderen Mythos, eine andere Tradition und andere Aufgaben. Luzifer ist der gefallene Erzengel, der den Menschen das Licht bringen wollte und nun zum Prinzen der Finsternis geworden ist. Deshalb wird er neben all den anderen ikonographischen teuflischen Attributen zusätzlich noch mit riesigen schwarzen Flügeln dargestellt. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 261) Er verführt die Menschen mit ihrem Stolz und Hochmut, während Satans Verführung durch Wollust stattfindet. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 560) Sowohl Hochmut als auch Wollust gelten in der christlichen Religion als Todsünden. Die Zuweisung verschiedener Todsünden an unterschiedliche gefallene Engel verweisen bereits auf eine mögliche weite Verzweigung der teuflischen Hierarchie. Satan ist auch Tertullian zufolge der klügste Engel und damit unterschieden von Luzifer, dem schönsten Engel. Satans Fall erfolgte dementsprechend aus freiem Willen. Dank seines Intellekts, der eine Emanation eines nicht weiter definierten Teiles von Gott ist, wird er zum erklärten Gegner Gottes. Als solcher klagt er immerzu alles an und widerspricht allem. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 874 f.) Er wird somit zum Zweifler und Hinterfrager. Während für Villeneuve Diabolus die Übersetzung von Satan und somit derselbe Name für denselben Dämon ist, macht Hannah Arendt in ihrem Denktagebuch eine Unterscheidung. Satan ist hier für sie der Widersacher Gottes, während Diabolos als Verleumder 23 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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und als Mörder agiert. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 377) Dem intellektuellen Zweifler steht hier der Gewalttätige gegenüber. Beelzebub hingegen ist Satan untergeordnet und somit lediglich Teil einer dämonischen Hierarchie gemäß John Miltons Paradise Lost. Aber auch die Evangelisten bezeichnen ihn als Fürst der Dämonen. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 101) Mephistopheles wird ebenfalls als einer der maßgeblichen Herren der Hölle erwähnt. Er ist der Dämon des bösartigen Spotts, der Missachtung der Tugenden und des Skeptizismus. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 631) Somit ist auch Mephistopheles, der durch Goethes Faust zu großer Bekanntheit gekommen ist, nur Teil der höllischen Hierarchie, was Goethe auch im Faust zum Ausdruck bringt: »Ein Teil von jener Kraft […]« (Goethe. Faust I. V. 1335). In seinem umfangreichen Werk The History oft he Devil, das 1900 erschienen ist, ergründet bereits Paul Carus die Figur des Teufels in Mythologie, Religion, Literatur, Kunst und Philosophie ausgehend von den frühesten Zeugnissen bis zum 19. Jahrhundert. Carus sieht den Teufel als »very interesting personality« (Carus. Devil. S. 5), denn er ist grotesk, romantisch, humorvoll, pathetisch, er ist der Nein-Sager, der Verleugner, aber auch würdevoll und tragisch (vgl. Carus. Devil. S. 5). Insofern haften dem Teufel auch hier nicht nur negative Eigenschaften an, sondern er hat vor allem die Qualitäten einer tragisch-komischen Persönlichkeit. Dementsprechend repräsentiert auch die Figur des Teufels für Carus nicht nur einen Mythos, sondern eine menschliche Realität. Letztendlich ist der Teufel aber auch der treue Helfer Gottes (vgl. Carus. Devil. S. 488), denn als Vater der Naturwissenschaften und damit der naturwissenschaftlichen Neugier des Menschen erzeugt Satan erst – und Carus fasst hier alle Teufelsgestalten in einer zusammen – die Unzufriedenheit in der Gesellschaft, welche die Menschen zu Fortschritt, Zweifel und neuen Erfindungen anstachelt (vgl. Carus. Devil. S. 484). Insgesamt hat die Teufelsfigur, so facettenreich sie auch ist, nicht nur in ihrem Äußeren, aber gerade in ihren Charakterzügen sehr viel Menschliches. Carus zufolge wäre das Menschliche das Streben nach dem nützlichen, richtigen, guten Handeln, dem er immer wieder mit seinem Streben nach Neuem, seiner Neugier und seinen Versuchen, Grenzen zu überschreiten, zuwiderhandelt. Ist deshalb der Böse oder der Teufel so interessant für den Menschen, weil er eigentlich das Menschliche repräsentiert? Identifiziert sich der Mensch in einem dualisti24 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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schen Kosmos deshalb eher mit dem Bösen und interessiert er sich deshalb eher für den Teufel als für Gott? Die Assoziation des Teufels mit der Hölle ergibt sich im westlichen Kulturkreis mittlerweile von selbst. Gemäß des Dictionnaire du Diable ist die Hölle ein Ort, an dem die Verdammten bis zum Jüngsten Tag für ihre Sünden büßen. Dabei ist weder bestimmt, wo sich dieser Ort befindet, noch auf welche Weise die sich dort befindlichen Dämonen und Verdammten verbrannt werden. Die allgemeine Vorstellung von der Hölle beinhaltet jedoch das Feuer, den Schwefel und die Folter, was in der Literatur und in den bildenden Künsten je nach Phantasie reichlich ausgeschmückt wird. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 315) Somit ist die Vorstellung von Schmerzen, Qualen und Gestank unmittelbar mit der Vorstellung der Hölle verbunden. Im Gegensatz zu der Figur des Teufels selbst dominiert hier die rein negative Beschreibung. Die Hölle ist ein für den Menschen unangenehmer Ort und bedeutet für ihn in jeder Hinsicht Leiden. Ein tatsächlich existierender höllenähnlicher Ort ist das Tal Hinnom südlich von Jerusalem. Ursprünglich handelt es sich um einen Ort, an welchem dem Gott Moloch Menschopfer dargebracht wurden. Später wurde daraus die öffentliche Mülldeponie, in der es fürchterlich stank. In der französischen Sprache steht das Tal Hinnom – la géhenne – in mehreren idiomatischen Wendungen synonym für die Hölle. (Vgl. Villeneuve. Dictionnaire. S. 399) Gemäß der gnostischen Tradition ist die Hölle die Gegenwelt zum Himmel, das Reich der Finsternis. Vor allem Hans Jonas weist in seinem Werk Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes Motive und Bilder auf, die zur gnostischen Tradition gezählt werden, und interpretiert ihren symbolischen Gehalt. Hier ist »die Antithese von Licht und Finsternis« (Jonas. Gnosis. S. 84) zu finden. Im Reich des Lichts, der ersten Welt, regiert der Fürst des Lichts. Diese Welt ist rein und ohne Fehler. Ihr gegenüber steht die Welt der Finsternis, die all das beinhaltet, was schlecht und falsch ist und die jeden Lichts entbehrt. Auch hier findet sich ein Wesen, das diese Welt regiert, nämlich das Wesen der Finsternis. In der gnostischen Tradition, die das dualistische Denken von Gut und Böse begründet, sind diese beiden Welten, Licht und Finsternis, in unserer Welt, der Welt der Menschen, zugleich vorhanden. Jedoch herrscht die Welt der Finsternis in der Welt der Menschen vor, sie ist sogar die eigentliche Substanz der menschlichen Welt. Die Welt 25 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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des Lichts hingegen kommt wie etwas Fremdes hinzu. (Vgl. Jonas. Gnosis. S. 85) Daher stammt die Vorstellung, dass die Welt der Menschen grundsätzlich schlecht ist, denn sie wird von Finsternis und Tod bestimmt. Licht und Leben kommen aber allein von Gott. Diesem Denken zufolge sind die Welt der Menschen und der Mensch an sich grundsätzlich schlecht, und die Menschen brauchen jemanden, der aus der Welt des Lichtes, einer anderen Welt, kommt und sie von ihrem Übel erlöst. Eine andere gnostische Erklärung für das Böse, das sich des Menschen bemächtigt, ist das Symbol des Falls (vgl. Jonas. Gnosis. S. 90 ff.), das in der christlichen Theologie als Sündenfall wiederzufinden ist. Aus der Sicht verschiedener gnostischer Positionen verbindet sich die Seele oder der Geist, die der Welt des Lichtes entstammen und deshalb grundsätzlich gut sind, erst aus Neugier, Begierde oder einem anderen Grund, der häufig ein Erzeugnis der Finsternis ist, mit der materiellen Welt oder gar mit dem Körper. Diese Verbindung mit der materiellen Welt wird als Fall der Seele oder des Geistes verstanden, nämlich der Fall oder das Herunterfallen aus dem Licht in die Finsternis. Dieser Vorgang vollzieht sich aber, gemäß der gnostischen Position, vor jeder Zeitrechnung. Die Seele des Menschen, die die Verbindung mit dem Körper des Menschen eingegangen ist, kann aber nicht in der Finsternis verbleiben, denn sie stammt ja, gnostischen Denkens gemäß, eigentlich aus dem Licht und ist diesem zugehörig. Deshalb muss der Seele die Möglichkeit der Erlösung geboten werden, damit sie wieder ins Licht eingehen kann. Die Erlösung der Seele oder des Menschen selbst vollzieht sich nur durch einen »Ruf« (Jonas. Gnosis. S. 103) 2, der von außerhalb in die Welt der Menschen kommt. Dieser Ruf wird von jemandem geleistet, der in der Welt der Menschen erscheint und die Rolle des Boten oder Gesandten oder Fremden übernimmt. (Vgl. Jonas. Gnosis. S. 104) Dieser Bote erlebt nun keinen Fall, sondern er kommt freiwillig in die Welt der Menschen, in die Welt des Leidens, die vom Bösen verursacht werden, und somit geschieht in Form des Boten der zweite göttliche Abstieg. Der Ruf des Boten hat die Aufgabe, den Menschen aufzurütteln, da dieser seinen Ursprung vergessen hat, nämlich woher Seele und Geist kommen. Aber der Ruf hat noch andere Funktionen. Er soll Jonas stellt heraus, dass dies vornehmlich in den Vorstellungen der östlichen Gnostiker der Fall ist, die folglich auch die »Religionen des Rufs« (S. 103) genannt werden.

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dem Menschen seinen himmlischen Ursprung in Erinnerung rufen, ihm die Erlösung versprechen und praktische Hinweise geben. (Vgl. Jonas. Gnosis. S. 110) Hans Jonas sieht deshalb, dass »[d]iese drei Momente […] in nuce den vollständigen gnostischen Mythos« (Jonas. Gnosis. S. 110) umfassen: Zunächst muss der Mensch den Ruf hören, darauf muss er antworten. Die Art und Weise, wie er auf den Ruf antwortet, bestimmt seine Erlösung. Die Erlösung des Menschen hängt also ganz allein von ihm selbst ab. An dieser Stelle schließt sich die Frage nach der menschlichen Vernunft an. Hängen die Erlösung des Menschen ebenso wie seine Verführbarkeit zum Bösen von ihm selbst ab, so ist hier der verantwortungsvolle Gebrauch der Vernunft gefragt. Die Philosophen stellen seit jeher Überlegungen hinsichtlich des menschlichen Verstandes und der Vernunft an. Seit Kant die Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht hat, beschäftigen sich die Philosophen auch eingehender mit der Definition von Vernunft und vor allem mit der Abgrenzung der Vernunft vom Verstand. Johann Gottfried Herder versteht die Vernunft als den »anwendend-höhere[n] Verstand« (SW XXI, S. 201) und macht somit die enge Verbindung zwischen Verstand und Vernunft deutlich. Der menschliche Verstand versteht und ordnet, die Vernunft entscheidet und wendet an. (Vgl. SW XXI, 200, 203 f.) Der Verstand bezieht sich also unmittelbar auf alles, was sinnlich und empirisch erfahrbar ist, während die Vernunft darüber hinausgeht, die Prinzipien erkennt, die dem Erfahrbaren zugrunde liegen, und aus subjektiven Erfahrungen objektive Erkenntnis gewinnt. Es ist hier nicht der Ort, eine Abhandlung über Definitionen von Vernunft und Verstand und ihr Verhältnis zueinander zu verfassen. Jedoch halten wir fest, dass der Verstand das Erlebbare begreift und ordnet, während der Mensch Dank der Vernunft über dieses Unmittelbare hinausgehen kann. Dank der Vernunft ist es dem Menschen möglich, größere Zusammenhänge zu begreifen, zu abstrahieren und andere Sichtweisen anzunehmen. Dieser Perspektivwechsel macht es möglich, Situationen und andere Menschen zu hinterfragen und zu interpretieren. Überhaupt wird ein respektvoller Umgang mit dem Anderen auch nur aufgrund dieser Möglichkeit des Perspektivwechsels gewährleistet. Nur indem der Mensch seine eigene, subjektive Erfahrung und Weltsicht überschreiten kann, ist es ihm möglich, die Erfahrung und Weltsicht des Anderen kennenzulernen. Ob er diese wirklich versteht, hängt von 27 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Jedoch ist es ihm möglich, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrzunehmen. Diese kann er akzeptieren und somit ist es ihm möglich, den Anderen in seiner Eigenheit anzuerkennen, zu tolerieren und zu respektieren. Hinsichtlich der Vernunft lässt sich Susan Neiman in ihrer Studie über das Böse von der Frage leiten: »Welchen Sinn hat es überhaupt, auf die Vernunft zu setzen angesichts eines Bösen, das aller Vernunft trotzt?« (Neiman. Böse. S. 12) Was das Böse als solches betrifft, so verweist der bereits erwähnte Paul Carus auf dessen Relativität. Zunächst stellt er in seiner Studie fest, dass der Mensch im Naturzusammenhang zu begreifen ist. Als solcher ist er Teil der Natur, die wächst, blüht und vergeht, hervorbringt und vernichtet. Dieser natürliche Rhythmus vollzieht sich, wobei auf einzelne Wesen und deren mögliche Empfindungen oder Leiden keine Rücksicht genommen wird. (Vgl. Carus. Devil. S. 458, aber auch Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 79) Das Böse, das dem Menschen zugefügt wird, ist, von außen betrachtet, ebenfalls relativ. Ob etwas als gut oder böse bewertet wird, hängt von vielen Faktoren ab. Dies können beim Menschen rationale Entscheidungen, Gefühle oder auch Stimmungen sein. Die Art und Weise, wie jemand zu etwas oder jemandem Anderen steht, entscheidet, ob er dieses oder diesen für sich selbst als gut oder böse beurteilt. Dabei ist es immerzu möglich, dass sich die Einstellung des Einzelnen ändert. (Vgl. Carus. Devil. S. 454 f.) Auch Jean-Claude Wolf verweist darauf, dass sich das Böse auch »in den guten Absichten« (Wolf. Böse. S. 169) verbergen kann, was die Relativität des Bösen unterstreicht. Zudem geht er noch darüber hinaus, wenn er feststellt, dass es deshalb kein »Hauptrezept gegen das Böse [gibt], das nicht selber Böses schafft« (Wolf. Böse. S. 169). Da Gut und Böse meist subjektiv gesehen werden und deshalb relativ sind, hängt ihre Definition, Carus zufolge, vom Standpunkt jedes Einzelnen ab. (Vgl. Carus. Devil. S. 545 f.) Demzufolge stellt Carus auch die berechtigte Frage, ob jeweils der Standpunkt des Einzelnen der richtige sei und, bezogen auf die gesamte Menschheit, ob der anthropozentrische Standpunkt überhaupt der angemessene sei, da der Mensch sich immerzu als das positive Zentrum begreift, dem Böses geschieht, wenn menschliches Leben vernichtet wird. (Vgl. Carus. Devil. S. 455) Dank seiner Vernunft ist der Mensch aber überhaupt erst fähig, Geschehnisse und Handlungen in der Welt als gut oder böse zu inter28 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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pretieren. Er kann sich selbst und sein Handeln als gut oder böse verstehen. Dank seiner Vernunft kann der Mensch aber auch immer wieder in jeder Hinsicht die eigenen, subjektiven Grenzen überschreiten. Nur so sind eine Interpretation des Anderen und eine Interpretation überhaupt möglich. Nimmt der Mensch diese Herausforderung nicht an, so verbleibt er in seinem eigenen Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Erfahren. Der Andere wird dann mit Unverständnis betrachtet oder gar zum Feind gemacht. Die Frage stellt sich also anders: Welchen Gebrauch machen wir von der Vernunft, wenn wir Böses nicht erkennen (wollen), es selbst tun und dann Andere als die Bösen stigmatisieren? Dies lässt sich anhand von Personifikation, Symbolisierung oder anderen Gestaltungen des Bösen und des Teufels erkennen. Wenn wir den unterschiedlichen Ansätzen nachgehen, dann finden wir Antworten auf den Gebrauch der Vernunft, auf Ignoranz oder Stigmatisierung des Anderen, soweit er zum Träger solcher Projektionen geworden ist.

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II) Schreiben über das Böse

In der Literatur ist das Böse weit verbreitet und nimmt viele unterschiedliche Formen an. Selten wird der Böse oder das Böse zum Helden gemacht. Verbreiteter ist das Böse als Gegenentwurf zum Guten. Das Böse scheint dabei die interessantere Variante des Dargestellten zu sein, es hat eine andere Macht als das Gute und wirkt bedrohlicher und aggressiver, aber auch lebendiger. Wird das Gute durch das Böse bedroht, so erscheint es fragiler und schützenswerter und damit auch kostbarer und erstrebenswerter. Schließlich stellt der Sieg des Guten über das Böse den Sieg des Gerechten über das Ungerechte und somit die Wiederherstellung der eigentlichen, ursprünglichen Harmonie in der Welt dar. In der Regel steht aber jedem literarischen Helden der Antagonist, der böse Andere, gegenüber, den es zu bekämpfen oder zu ertragen gilt. So ist der böse Andere der Rivale oder der Widersacher oder derjenige, der dem Helden die eigenen Abgründe vor Augen führt. Der Antagonist zeigt dem Helden ein anderes Leben auf, das letzterer von sich weisen oder akzeptieren kann. Indem der Held den bösen Anderen überwindet, beweist er, dass seine Art des Lebens für ihn die richtige ist, für die es sich zu kämpfen und die es zu verteidigen lohnt. Aus der Vielzahl von Stoffen, die zum Bösen in der Literatur existieren, werden wir uns im Folgenden hauptsächlich auf zwei Motive konzentrieren, anhand derer die Problematik des bösen Anderen besonders deutlich wird. Diese sind der Pakt mit dem Teufel einerseits und das Motiv des künstlichen Menschen andererseits. Beide werden anhand von ausgewählten Werken dargestellt, welche die ihnen inhärenten Grundmuster repräsentieren.

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Der Pakt mit dem Teufel

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Der Pakt mit dem Teufel

Der Pakt mit dem Teufel ist sprichwörtlich geworden und bezieht sich darauf, dass ein Mensch etwas in seinem Leben nicht erreichen kann und darüber verzweifelt und unglücklich wird. Da er dies aber unbedingt erreichen will, würde er alles dafür tun und alles dafür in Kauf nehmen. Er verkauft seine Seele und damit sein eigentliches Wesen einem Anderen, der seinerseits alles tut, um das angestrebte Gut für ihn in die Tat umzusetzen. In dieser Hinsicht ist der Andere böse, denn ihm ist jedes Mittel recht, auch und vor allem das Zerstören und das Schaden Anderer. Letzteres ist für den Menschen, der den Pakt schließt, undenkbar und so lässt er dem bösen Anderen freien Lauf, damit er selbst seine Pläne verwirklichen und glücklich werden kann. Genau das erweist sich aber schließlich als Trugschluss. Der böse Andere aber scheint in seiner rücksichtslosen Skrupellosigkeit nicht von dieser Welt zu sein. Er kann kein Mensch sein, da er all das tut, was ein Mensch keinem anderen Menschen antun würde. Also ist der böse Andere der Teufel, der auch nicht für den Menschen handelt, sondern immer nur für sich selbst. Der Pakt mit dem Teufel ist ein beliebtes Thema in der Literatur. Zum einen wird hier das Unmenschliche personifiziert und vor ihm gewarnt, zum anderen soll der Leser an seine Menschlichkeit erinnert werden und ihm damit der richtige Umgang mit sich und seiner Mitwelt verdeutlicht werden. Die berühmteste literarische Verarbeitung des Teufelspaktes ist wohl der Faust-Stoff. Der Faust-Stoff ist weltweit bekannt und gehört zum geistigen Kulturgut in Deutschland und in der westlichen Kultur. Er beruht auf einer alten Legende, die häufig in der Literatur bearbeitet wurde. Dank Johann Wolfgang von Goethes Interpretation von Christopher Marlowes Vorlage ist der Faust-Stoff in die Weltliteratur eingegangen, und die Geschichte des intellektuellen, aber lebensfremden Faust wird oft als Synonym des Deutschen verwendet. Der gelehrte Doktor Faust geht einen Pakt mit dem Teufel ein. Dieser zeigt ihm die Welt jenseits seines Studierzimmers und gemeinsam richten die beiden viel Schaden bei Fausts Mitmenschen an, vollbringen aber auch großartige Werke, die den Anderen von Nutzen sind. Es ist vor allem das Kreative, das Faust charakterisiert und ihn zum hervorragenden Theoretiker macht. Jedoch ist er nicht fähig, dies alles in die Tat, also im konkreten Leben, auch umzusetzen. Hier31 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

für benötigt er die Hilfe des zerstörerischen, chaotischen Elementes, nämlich den Teufel, der ihm in Gestalt des Mephistopheles entgegentritt, also des bösen Anderen. An dieser Stelle wird den bisher schon zahlreich erschienenen Interpretationen dieses Stoffes in Goethes berühmtem Drama keine neue detaillierte Analyse hinzugefügt. Vielmehr soll hier die Grundstruktur der Faust-Geschichte aufgedeckt werden, die für den Verlauf unserer Betrachtungen hinsichtlich des Bösen von Bedeutung ist und deren Auftauchen in unterschiedlichen Variationen ein Grundproblem des Menschen mit dem Bösen verdeutlicht.

Johann Wolfgang von Goethe: Faust Von Interesse für das Folgende ist zwar bereits der Urfaust, jedoch vielmehr noch der klassische Faust. Hier vor allem der Tragödie erster Teil. In Goethes klassischer Tragödie ist Faust ein außergewöhnlicher Gelehrter. Er ist ein Professor, der in allen universitären Gebieten gebildet und ausgebildet ist: »Habe nun, ach!, Philosophie, Juristerei und Medizin Und leider auch Theologie Durchaus studiert« (Goethe. Faust I. V. 354–357).

Philosophie, Jurisprudenz, Medizin und Theologie sind seit dem Mittelalter in den deutschsprachigen Ländern die eigentlichen Hauptstudienfächer. Außer diesen hat Faust auch noch Kenntnisse in der geheimen Wissenschaft der Alchemie erworben. Die Theorie ist also die Welt, in der Faust lebt und in der er brilliert. Sein Ansehen und seine wissenschaftliche Reputation sind groß. Studenten scharen sich um ihn und fragen ihn um Rat. Letzteres wird in der Szene im Studierzimmer deutlich, wenn der Schüler kommt, um bei Faust zu studieren (Goethe. Faust I. V. 1868–2048). Zudem wird Faust von den Menschen geehrt, denen er bekannt ist, auch wenn sie ihn nicht persönlich kennen, wie dies beim Osterspaziergang zu sehen ist (Goethe. Faust I. V. 981–1010): »ALLE. Gesundheit dem bewährten Mann,/ Daß er noch lange helfen kann!« (Goethe. Faust I. V. 1007–1008) Dabei wird deutlich, dass die Menschen Faust als Gelehrten und als Helfer wahrnehmen, der sich für sie einsetzt,

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Der Pakt mit dem Teufel

wenn es nötig wird. Demnach gehört er für sie zu ihrer Gemeinschaft und zeichnet sich zudem dadurch aus, dass er etwas für sie tut. Aber so sehr er auch auf jedem theoretischen Gebiet Experte zu sein scheint, so unerfahren ist er tatsächlich hinsichtlich des konkreten, alltäglichen Lebens. Dies erkennt er selbst, wenn er fordert: »[…] Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau alle Wirkenskraft und Samen Und tu nicht mehr in Worten kramen« (Goethe. Faust I. S. 20)

Noch ein Zweites wird ihm bewusst, nämlich: »Statt der lebendigen Natur, Da Gott die Menschen schuf hinein, Umgibt in Rauch und Moder nur Dich Tiergeripp und Totenbein!« (Goethe. Faust I. V. 414–415)

Es wird schon zu Beginn klar, dass Faust, der theoretisch viel weiß und bewandert ist, im praktischen Leben überhaupt keine Erfahrung hat. Zum einen kann die Wissenschaft ihm nicht das geben, was er wirklich sucht, nämlich den Sinn des Lebens, den er in dessen Ursprung zu finden vermutet. Zum anderen ist Faust in seiner Wissenschaft nicht von Lebendigem umgeben. Er leidet in gewisser Weise unter diesem Manko, findet für sich aber keine andere Lösung für dieses Problem, als den Erdgeist zu beschwören (Goethe. Faust I. V. 461 ff.). Letzterer verstößt ihn dann auch wieder, da er Faust in seinem Suchen nicht helfen kann. Diese Unerfahrenheit mit dem Leben selbst zeigt sich bei Faust vor allem in seinem Umgang mit den Mitmenschen. Er selbst gibt zu: »[…] Fehlt mir die leichte Lebensart. Es wird mir der Versuch nicht glücken; Ich wußte nie mich in die Welt zu schicken, Vor andern fühl’ ich mich so klein; Ich werde stets verlegen sein.« (Goethe. Faust I. V. 2056–2060)

Faust ist sich seines eigentlichen Problems wohl bewusst: Er hat keinen Zugang zu anderen Menschen. Er selbst hält sich für nicht sehr umgänglich und das Leben selbst kann er zudem auch nicht leicht nehmen. Im Vergleich zu anderen Menschen, die er wohl beobachtet, sieht er, dass ihm selbst der Umgang mit ihnen nicht leicht fällt, da er sich ihnen nicht gewachsen fühlt. Er kennt sich nicht mit dem konkreten Leben und insofern mit dem Praktischen aus und fühlt diesen 33 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Mangel immer, wenn er mit Menschen zusammentrifft. Letztendlich fühlt er sich vom Leben und von den Menschen ausgeschlossen, was er aber auch als eigenes Verschulden sieht. Da Faust sich der Welt und dem Leben nicht zu nähern weiß, lässt er sich vom Bösen verführen und schließt einen Pakt mit dem Teufel. Letzterer ist Mephistopheles, der ihn nun endlich in die Welt, vor allem in die Welt der Menschen und deren Leben einführen soll. Hier nun verfolgt Faust, der entweder von Mephisto unterstützt oder manipuliert wird, einen zerstörerischen Weg. Das Zerstörerische betrifft dabei allerdings eher die anderen als Faust selbst. Der Streich, den Mephisto den Betrunkenen in Auerbachs Keller spielt, könnte fast noch als harmlos bezeichnet werden. (Vgl. Goethe. Faust I. V. 2073–2336) Mephisto gaukelt den Betrunkenen vor, sie tränken ihren Lieblingswein, lässt Feuer aufglühen und lässt sich die Betrunkenen scheinbar vor ihren eigenen Augen verwandeln, sodass sie sich gegenseitig angreifen. Jedoch ist dies, was sich vor den Augen Fausts abspielt, keineswegs harmlos, sondern tatsächlich eine Initiation zum Bösen – und Faust lässt sich darauf ein. Faust ist anwesend, schreitet aber in keiner Weise ein. Weder schließt er sich dem Trinkgelage an, noch interessiert ihn das Feuer oder dessen mögliche Konsequenz. Er meldet sich überhaupt nur ein einziges Mal in dieser Szene zu Wort, als ihm langweilig wird, wenn er sagt: »Ich hätte Lust, nun abzufahren.« (Goethe. Faust I. V. 2296) Im Gegensatz zu seinem Wunsch, die Menschen kennenzulernen und in ihre Gemeinschaft aufgenommen zu werden, interessiert sich Faust auch hier nicht für die Menschen. Er kehrt ihnen quasi den Rücken, ohne sich betroffen oder auch nur für die Szene verantwortlich zu fühlen. Bei seinen folgenden Zusammentreffen mit Menschen zeigt sich Faust dann allerdings aktiver. Er ist zwar immer noch nicht in der Lage, sich Menschen gegenüber korrekt zu verhalten und dementsprechend zu handeln, aber er kann immerhin schon formulieren, was er sich von der Gesellschaft der Menschen erhofft: Er will eine Frau. Während seines Aufenthaltes in der Küche der Hexe, die ihm einen Trank gibt, nach dessen Einnahme Faust wieder zum jungen Mann geworden ist, erscheint ihm das Bild Helenas. Es handelt sich hierbei um die Helena der griechischen Mythologie, welche die Personifikation der weiblichen Schönheit ist. Diese Schönheit will Faust erobern und Mephisto verspricht ihm Aussicht auf Erfolg:

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Der Pakt mit dem Teufel

»[…] Du sollst das Muster aller Frauen Nun bald leibhaftig vor dir sehen. […] Du siehst mit diesem Trank im Leibe Bald Helenen in jedem Weibe.« (Goethe. Faust I. V. 2601–2604)

Dieses Muster aller Frauen zeigt sich Faust nun in der Gestalt der Margarete, ein Mädchen aus einfachem Hause, das gemäß den bürgerlichen Konventionen lebt. Statt sich nun aber selbst um das Mädchen zu bemühen, das einen tiefen Eindruck auf Faust gemacht hat, befiehlt er Mephisto, sich darum zu kümmern: »Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!« (Goethe. Faust I. V. 2619) Es interessiert Faust dabei auch wieder nicht, auf welche Weise sein Wunsch erfüllt wird. Mephisto muss die nötigen Schritte unternehmen, damit Faust das Mädchen kennenlernen kann. Dafür befolgt nun aber Faust alle Ratschläge Mephistos. In der Folge verstrickt sich Faust immer mehr in unredliche Handlungen, deren Konsequenzen andere tragen müssen. Dabei ist immer Mephisto die treibende Kraft, auf die Faust hört, ohne dass dieser selbst über sein Tun nachdenkt. Mephisto lässt Faust zunächst in die Wohnung von Margaretes Familie ein und hinterlässt ihr dort dann Schmuck (Goethe. Faust I. V. 2740–2745), von dem Margarete nicht weiß, woher er kommt und wie er in ihre Wohnung gekommen ist (vgl. Goethe. Faust I. V. 2783 f.). Da dies der Mutter nicht geheuer ist, bringt sie den Schmuck deshalb sofort zu einem Pfarrer zur Verwahrung (vgl. Goethe. Faust I. V. 28113–2814). Auf Fausts Geheiß: »Häng dich an ihre Nachbarin!« (Goethe. Faust I. V. 2858) wird Mephisto zum Kuppler, der die Gunst der Nachbarin Marthe Schwerdtlein nutzt, um Margarete in Fausts Arme zu treiben. Frau Marthe arrangiert heimlich eine Liebesbeziehung zwischen von Faust und Margarete und stürzt damit letztendlich Margarete ins Unglück. In der Folge wird Margarete zum einen unwissentlich ihre Mutter ermorden, da sie ihr einen Schlaftrunk verabreicht, den ihr Faust gegeben hat. (Vgl. Goethe. Faust I. V. 4507). Zum anderen ermordet Faust mit Hilfe Mephistos Valentin, den Bruder Margaretes, der seine entehrte Schwester rächen will (vgl. Goethe. Faust I. V. 3698–3775). Somit beraubt Faust Margarete ihrer Familie. Diese Ereignisse führen schließlich auch zu Margaretes Tod. Nach Fausts Abreise bringt sie ihr uneheliches Kind allein zur Welt, das sie ertränkt, um der Schande und der gesellschaftlichen Ächtung zu ent-

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Schreiben über das Böse

gehen (vgl. Goethe. Faust I. V. 4508), und wird dafür doch zum Tode verurteilt. Zwar plagen Faust zwischenzeitlich immer wieder Zweifel hinsichtlich seiner Taten oder der Konsequenzen, von denen er erfährt. Jedoch lässt er sich auch immer wieder von Mephisto beruhigen und zum Weiterziehen animieren. Trotz seiner schweren Vergehen gegen die Menschen, mit denen er es im ersten Teil der Tragödie zu tun hat, wird Faust doch letztendlich im zweiten Teil nach seinem Tod vor der Hölle gerettet. Dies allerdings nicht, weil er sich von Mephistopheles hätte lossagen können oder er durch sein unermüdliches Schaffen schließlich so viel Gutes für andere Menschen getan hätte, dass es seine schlechten Taten ausgleichen würde. Letztendlich wird Faust nur deshalb von seinem Pakt befreit und erlöst, da Margarete ihm verzeiht und sich für ihn einsetzt (vgl. Goethe. Faust II. V. 12068–12075). Faust ist ausgezogen, um den Sinn des Lebens und somit das Leben selbst kennenzulernen. Dies bedeutet in erster Linie, dass er, der Stubengelehrte, lernt, mit Menschen unter Menschen zu leben. Letztendlich hat Faust aber sein ursprüngliches Problem mit seinen Mitmenschen nicht lösen können und bis zu seinem Lebensende hat er tatsächlich kein Interesse an anderen Menschen, an deren Gemeinschaft oder an deren Art zu leben. Im Gegenteil, denn geradezu traumwandlerisch tut er alles, um der Gesellschaft nicht angehören zu müssen. Dies beweist er, indem er mit Mephistos Hilfe Taten begeht, die sich gegen die Mitmenschen und deren Rechts- und Moralvorstellungen richten und die somit als böse zu charakterisieren sind. Faust lässt stehlen, kuppeln, verführen, morden und mordet selbst. Durch letztere Tat schließt er sich völlig aus der Gemeinschaft aus. Dank Mephisto wird Faust jedoch auch nie zur Verantwortung gezogen und seine eigenen Gewissensbisse halten sich in Grenzen. Erst in der Walpurgisnacht wird ihm bewusst, dass er Margarete ins Verderben gestürzt hat. Als sein Rettungsversuch fehlschlägt, endet der erste Teil der Tragödie. Im zweiten Teil scheinen diese Episoden vergessen. Gerade im zweiten Teil der Tragödie kehrt Faust aber wieder zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zurück, die er dann in die Tat umsetzt. Er baut einen Deich und trotzt dem Meer Land ab. Im Gegenzug dazu nimmt er Philemon und Baucis sowie vielen anderen Menschen auch ihr Zuhause, da ihr Leben nicht in seine eigenen schöpferischen Pläne passt. Sein Egoismus führt letztendlich soweit, dass er erblindet, denn er kümmert sich nicht mehr um andere Men36 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

schen und deren Belange, sondern sieht nur noch seine eigenen Taten und Errungenschaften. Für das Böse, das Faust begeht, hat er keine Konsequenzen zu befürchten. Dank seines Paktes mit Mephisto wird dieser für alle Fehltritte Fausts verantwortlich gemacht. Mephistopheles wiederum kann sich jeder Vergeltung entziehen. Statt Mephisto Einhalt zu gebieten, sieht Faust ihm entweder tatenlos zu oder lässt sich von ihm sogar anleiten. Dabei ist Mephisto nicht der Teufel persönlich und auch keine eigenständige Macht, die gegen Gott arbeitet. Vielmehr ist er »[e]in Teil von jener Kraft,/ die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (Goethe. Faust I. V. 1335–1336) und von daher ist er auch schon vollkommen unselbständig. Zum einen ist er lediglich ein Teil einer Kraft und nicht die Kraft selbst, zum anderen scheint er nicht einmal das wirklich ausführen zu können, was er anstrebt. Das Böse, das er erreichen will, ist in zweierlei Hinsicht von dem Guten abhängig. Einerseits existiert es nur als Gegensatz des Guten und ist also nicht selbständig, andererseits wirkt dieses Böse letztendlich doch wieder auf das Gute hin. Ebenso ist Mephisto von Faust abhängig. Zwar wird er von Gott aufgrund einer Wette zu Faust geschickt. Aber in ihm sind alle Charakterzüge vereint, die Faust nicht hat, nämlich das Derbe, das Primitive, das Praktische, die Menschenkenntnis, das Oberflächliche oder die Dreistigkeit und seine Hanswurstiaden (vgl. Goethe. Faust. Der Tragödie 2. Teil). Somit ist Mephisto all das, was Faust nicht ist, und wird zu Fausts Alter Ego. Grundsätzlich lassen sich in Goethes Faust folgende Elemente finden: Faust ist ein großer Gelehrter, der bereits in die Jahre gekommen ist. Er schließt einen Pakt mit Mephisto, dem Teufel, und wird dank seiner wieder jung, lebendig und lebenshungrig. Mephisto hat nun leichtes Spiel, Faust zu mehr oder weniger großen Verfehlungen zu verführen, die in der Regel vor allem Andere in Mitleidenschaft ziehen. Der Faust-Stoff ist so bedeutend, dass er immer wieder in verschiedenen Variationen auftaucht. Dabei ist nicht immer alles gleich oder detailgenau nachgezeichnet. Grundsätzlich zeigt sich aber dennoch ein Grundmuster, dem auch alle Variationen treu bleiben: Ein weltfremder und vielleicht auch lebensunfähiger Mensch, der allerdings auf theoretischem Gebiet oder literarisch brilliert, will am Leben der Anderen teilhaben und für sich selbst ein sinnvolles Leben 37 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

schaffen. Dies ist ihm nur möglich, indem er einen Pakt mit einem Anderen schließt. Der Andere kennt das Leben und kennt die Menschen und genießt alles in vollen Zügen. Der Preis, den der Mensch für diesen Pakt zahlt, ist ein Verfallen-Sein an böse Taten und an Oberflächlichkeit. In der Folge soll dieses Prinzip anhand zweier weiterer Variationen aufgezeigt und im Hinblick auf das Böse und den Umgang mit Anderen ausgedeutet werden.

Amélie Nothomb : Antéchrista In Amélie Nothombs Roman Antéchrista, im Deutschen unspektakulär übersetzt mit Böses Mädchen, findet sich das gleiche Prinzip wieder, das auch Goethes Faust zugrunde liegt. In dieser Variation geht es um zwei junge Frauen, die sich an der Universität begegnen. Die hochbegabte Blanche Haste schließt hier quasi einen Pakt mit ihrer Kommilitonin Christa Bildung. Beide sind erst 16 Jahre alt, aber wegen ihrer Begabung studieren sie bereits im ersten Jahr an der Universität. Blanche ist hochbegabt. Sie ist Einzelkind und wird von ihren Eltern vernachlässigt. Ebenso vernachlässigt Blanche andere Menschen in ihrem Leben. Sie selbst sagt von sich: »Als Einzelkind war ich ein wenig ungeschickt, was Freundschaften betraf. Ich hatte nie Besuch […]« (Nothomb. Mädchen. S. 11). Infolgedessen zieht sie sich in ihre Lektüre und ins Lernen zurück. Ihr Vater spricht von seiner Tochter als jemandem, »[der] außer Lesen gar nichts macht« (Nothomb. Mädchen. S. 60). In ihrer Einsamkeit charakterisiert sich Blanche folgendermaßen: »Ich war sechzehn. Ich hatte nichts, weder materielle Güter noch spirituellen Halt. Keine Freunde, keine Liebe und noch nichts erlebt. Ich hatte keine Ahnung und war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine Seele besaß.« (Nothomb. Mädchen. S. 16)

Blanches Problem ist das von Faust. Auch sie schafft es nicht, Teil einer Gemeinschaft zu sein, und gesteht sich dies auch ein: »Immer hast du davon geträumt, dazuzugehören, umso mehr, als du es noch nie geschafft hast« (Nothomb. Mädchen. S. 36). Nicht einmal in ihrer eigenen Familie hat sie einen Platz. Im Gegensatz zu Blanche ist Christa überall integriert. Sie ist der 38 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

Liebling des Jahrgangs, vor allem bei den männlichen Kommilitonen. Christa ist nicht der Teufel im eigentlichen Sinne. Ihr fehlen die phänotypischen Eigenschaften wie die Hörner, der Schwanz, der Klumpfuß und auch die typischen Farben Schwarz oder Rot. Vielmehr ist sie eine angenehme Erscheinung, die dank ihrer Selbstsicherheit älter wirkt als sie tatsächlich ist (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 6): »Sie hatte einen herrlichen Körper, […] ihr Lächeln verlieh ihrer Umgebung Glanz, ein unbegreifliches Leuchten ging von ihr aus, alle Welt war in sie verliebt […], der Archetyp der eben erblühten Jungfrau, dies Ideal aus Gewitztheit und Zerbrechlichkeit […]« (Nothomb. Mädchen. S. 70 f.).

Trotz dieser augenscheinlichen Gegensätze will Christa, zu Blanches Überraschung, mit ihr befreundet sein. Da Blanche schon immer allein und isoliert ist, geht sie darauf bereitwillig ein und lädt Christa zum Abendessen zu ihren Eltern ein. Danach beginnt Christa Blanche in die universitäre Gesellschaft einzuführen: Christa stellt Blanche ihren Kommilitonen vor, sie gibt ihr Ratschläge und sie nimmt sie zu Studentenpartys mit. Allerdings sind diese Integrationsversuche alles andere als wirklich ernsthaft, weder von Christas noch von Blanches Seite. So gleicht das Einführen in die Gesellschaft eher einer unerwünschten Pflicht: »Sie zerrte mich am Arm hinter sich her und stieß mich in einen Haufen großgewachsener Prolls hinein. ›Jungs, das ist Blanche‹« (Nothomb. Mädchen. S. 34). Auf den Studentenpartys lernt Blanche das »Knutschen« (Nothomb. Mädchen. S. 78) kennen. Fortan knutscht sie mit jedem, der will. Auf jeder Party findet sie mindestens einen Jungen, aber abgesehen von den Namen, weiß sie nichts von den jungen Männern, denen sie auf diese Weise begegnet. Weder geht es Blanche darum, körperlich einen Schritt weiter zu gehen, noch interessiert sie sich wirklich für die Kommilitonen: »[…] eine erfreuliche Anzahl von Jungen, […] sie waren alle so austauschbar […]« (Nothomb. Mädchen. S. 78 f.). Es gibt kein weiteres Gespräch und schon gar keine weitere Beziehung. Blanches Verhältnis zur Gesellschaft, d. h. zu der Gesellschaft, in der sie sich befindet und in die sie von Christa eingeführt wird, bleibt weiterhin gestört. Sie ist auch mit Christas Hilfe oder dank ihrer Ratschläge nicht fähig, normale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Aber diese neue Offenheit Blanches für das universitäre Leben und das Leben selbst, so ungeschickt und desinteressiert sie auch sein 39 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

mag, hat ihren Preis: Christa plagt Blanche; viel mehr noch: Christa wird für Blanche regelrecht zur Heimsuchung. Sie nimmt ihr zunächst ihre Eltern, die sich nicht sonderlich für ihre Tochter interessieren, aber Christa bei sich aufnehmen und schließlich sogar Partys für sie veranstalten (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 100 ff.). Blanche kann nur noch feststellen: »Ich war zur dritten Person geworden. […] Mich gab es einfach nicht mehr.« (Nothomb. Mädchen. S. 33). Blanches Eltern nehmen Christa auf und bieten ihr Blanches Bett in Blanches Zimmer an, das Christa eigenmächtig nach ihren eigenen Vorstellungen zu dekorieren beginnt. Blanche selbst muss auf einer Matratze schlafen (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 42). Letztendlich nimmt Christa ihr ihre Freuden, indem sie sich über das für Blanche wichtige Lesen lustig macht (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 59), und ihre Würde (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 67 f.). Somit treibt Christa Blanche noch mehr in die Isolation, aus der sie ihr eigentlich heraushelfen soll. Jedoch deckt Blanche Christas Spiel auf, denn Christa ist tatsächlich die klassische Teufelsfigur, nicht phänotypisch, aber charakterlich. Blanche gegenüber präsentiert sie sich zunehmend als »Antichrista« (Nothomb. Mädchen. S. 71), was bereits der französische Originaltitel verrät und in der Übersetzung aufgegriffen wird. Christa ist ein Wesen, das zwei Gesichter hat, wovon das eine schön ist, um die Menschen zu verführen, das andere hässlich wird, sobald die Verführung von statten gegangen ist: »Der leere Blick verriet, wie klein ihre wäßrigen Augen waren, dem Hals fehlte jegliche Anmut, ihr erloschenes Gesicht entblößte derbe Züge, schmale Lippen und eine niedrige Stirn, an der sich die Grenzen ihrer Schönheit und ihres Geistes ablesen ließen. […] Christa war so schön wie Antichrista scheußlich.« (Nothomb. Mädchen. S. 70 f.)

Dummheit, Falschheit und Narzissmus sind zudem Eigenschaften, die Blanche schnell an Christa bemerkt. (Vgl. Nothomb. Mädchen. S. 22, 40, 55, 60) Christa unterwirft ihre Mitmenschen, indem sie ein Netz aus Lügen, Fehlinformationen und Manipulation auswirft, in dem sich andere verfangen und ihr dann ausgeliefert sind. Letztendlich gelingt es Blanche dennoch aus eigener Kraft, Christa aus ihrem Leben und ihrem Umkreis, nämlich der Universität und der Stadt, zu vertreiben. Sie fährt in die Gegend, aus der Christa stammt, und schafft es, anhand der spärlichen Informationen, die Christa über sich gegeben hat, ihre Lügen zu entlarven. (Vgl. No40 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

thomb. Mädchen. S. 107 ff.) Anhand konkreter Beweise gelingt es ihr, ihre Eltern von Christas wahrem Charakter zu überzeugen, und schließlich kann sie sich durch einen theatralischen Filmkuss vor allen Kommilitonen im Hörsaal gegen Christas inzwischen weitreichende Diffamierungskampagne wehren (vgl. Nothomb. Mädchen. S. 134). Christa verschwindet und dieses Verschwinden gleicht der Ausfahrt des Teufels nach einer Austreibung. Jedoch wird Blanche niemals wirklich von Christa befreit sein. Noch Monate nach der Austreibung erinnert sich Blanche an Sportübungen, die ihr Christa einst gezeigt hatte, damit ihre Brust sich entwickelt und sie für Männer gefälliger wird. Blanche wiederholt diese Übungen heimlich vor ihrem Spiegel und muss zugeben: »So kam es, daß ihr Wille geschah statt meinem« (Nothomb. Mädchen. S. 138) – »Ainsi, sa volonté fut faite, et non la mienne« (Nothomb. Antéchrista. S. 150). Auch bei Amélie Nothomb trifft die schüchterne, intelligente Blanche auf eine Andere, die sie in die Gesellschaft einführen soll. Aber auch wenn Christa das Gegenteil von Blanche ist und verkörpert, so ist sie doch eine reale Person, mit der Blanche es zu tun hat, die sie regelrecht heimsucht und die sie austreiben muss. Christa ist Blanche auch keinesfalls behilflich bei der Realisierung ihrer Wünsche oder Träume. Vielmehr versucht Christa sie von sich abhängig zu machen, um sie noch mehr zu isolieren und zu demütigen. Das Böse, das Blanche vollbringt, begrenzt sich auf einen oberflächlichen Umgang mit Anderen. Andererseits ist Blanche auch nicht bereit, ihr Verhalten Anderen gegenüber zu überdenken und dies zu ändern, um sich zu integrieren, obwohl sie sehr genau ihre Situation und Christas Intrigen analysieren kann und Lösungen findet. Wie Faust interessiert sich auch Blanche nicht wirklich für ihre Mitmenschen und sie bleibt ihnen eigentlich bis zum Schluss fern. Doch dieses Desinteresse ist gerade das Böse, das Blanche betreibt. Da Blanche nicht bereit ist, sich anderen Menschen anzuschließen und andere Menschen wirklich kennenzulernen, »verhält« (vgl. Kapitel: Der Dialog wider das Böse bei Hannah Arendt) sie sich lediglich ihnen gegenüber. Es kommt zu keiner tieferen Beziehung. Desinteresse und Nicht-Handeln mit den Anderen führt letztendlich zu einem falschen Umgang mit den Mitmenschen und ist die Grundlage für das Böse, das man anderen Menschen antut.

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Schreiben über das Böse

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten a)

Menschen zwischen Individualität und Statistik

In seinem 2006 unter dem Titel Les Bienveillantes erschienen Roman, der 2008 auf Deutsch mit dem Titel Die Wohlgesinnten erschien, sind die Protagonisten des Faust-Prinzips in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus bei Mitarbeitern der SS zu finden, die während des 2. Weltkrieges ihr Unwesen treiben. Gleichzeitig greift Jonathan Littell hier auch philosophische Themen auf, die für Hannah Arendt in ihrem philosophischen Werk wichtig sind, wie wir noch sehen werden. Max von Aue Anhand des Protagonisten, Max von Aue, will Littell nach eigenen Aussagen »die Banalität und Durchschnittlichkeit der Menschen […] darstellen« (Lanzmann. Littell. S. 20 f.), die während der Zeit des Nationalsozialismus’ die Vernichtung der Juden durchführten. Hiermit übernehme er Florence Mercier-Leca zufolge Hannah Arendts Begriff der Banalität des Bösen (vgl. Mercier-Leca. Tragödie. S. 85), den wir später genauer ausführen werden. Jedoch ist der Protagonist auch wiederum absichtlich so gestaltet, dass er weder durchschnittlich noch banal ist. (Vgl. Lanzmann. Littell. S. 21 und MercierLeca. Tragödie. S. 85) Der Protagonist, Max von Aue, führt zwei Leben und hat deshalb zwei unterschiedliche Lebensgeschichten, die seinen jeweiligen Lebenssituationen angepasst sind. Diese sind einmal die Zeit als NSFunktionär, der den 2. Weltkrieg und den Untergang des Nazi-Regimes miterlebt, zum anderen die Zeit nach dem Krieg. Diese Zweiteilung ist für den Protagonisten zugleich das Sinnbild seines Lebens, denn einerseits ist er als Teil eines Zwillingspaares zur Welt gekommen, andererseits besitzt er die doppelte Staatsangehörigkeit; er ist Franzose und Deutscher. Diese Bipolarität durchzieht sein Leben. Da er sowohl Deutsch als auch Französisch perfekt beherrscht, ist es ihm möglich, in beiden Ländern anerkannt zu werden und Karriere machen zu können. Auch als bisexuell orientierter Mann, der eigentlich eine Frau sein will, ist sein Leben von Zweiheit geprägt, die nach einer Einheit strebt: Una zu sein, die Eine, seine Schwester. Das Streben nach dieser Einheit ist aber zum Scheitern

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Der Pakt mit dem Teufel

verurteilt, da er nicht die Schwester ist und selbst für sich keine eigene Identität findet, sondern diese lediglich konstruiert. So sind auch seine Nachkommen keine Einheit, sondern jeweils Zwillinge, nämlich zum einen Tristan und Orlando, die er mit seiner Schwester hat, und zum anderen die namenlosen Zwillinge, die er mit der »Frau aus gutem Hause« (Littell. Wohlgesinnten. S. 21) in Frankreich hat. Auch in der Namensgebung von Tristan und Orlando wiederholt sich die Doppelung. So tritt Tristan, der Held Gottfried von Straßburgs, bei seiner Reise nach Irland als ein anderer auf, indem er sich Tantris nennt, wird aber von Isolde als Tristan entlarvt. Orlando verweist auf Virginia Woolfs Held, der im Verlauf der Zeit das Geschlecht wechselt und zu einer Heldin wird. (Vgl. Woolf. Orlando. S. 99 ff.) Das Motiv der Doppelung wird sich auch bei anderen Charakteren, mit denen Aue umgeht, wiederholen. Doch alle diese Verdoppelungen weisen darauf hin, dass der Protagonist im speziellen, aber auch der Mensch im allgemeinen nicht eindeutig ist und es auch nicht sein kann – zumindest nicht in Extremzeiten, in denen eindeutige Haltungen und Rückgrat nicht erwünscht sind. So führt auch Max von Aue ein Doppelleben, da er seine homosexuellen Neigungen verbirgt, um Karriere zu machen und um sich einen Platz in der Gesellschaft zu schaffen. Max von Aue gibt auch zu, dass er in seiner Jugend »genaue Vorstellungen von der Welt« hatte, »davon, wie sie sein sollte und wie sie tatsächlich war, und von meinem Platz in dieser Welt« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1064). Aber genau diesen Platz – von dem er niemals sagt, wie er eigentlich hätte aussehen sollen und wie er ihn ausfüllen will – wird Max von Aue nie erreichen. Sein ursprünglicher Wunsch, sich mit Literatur und Philosophie, also mit den Geisteswissenschaften zu beschäftigen, wird ihm untersagt. Er studiert Jura und Volkswirtschaft und promoviert sogar in Jura. Als Jugendlicher hat er in Frankreich sogar die Vorstufe der Ausbildung an einer Elitehochschule genossen. Sein Weg ist vorbestimmt, die Grundlagen für eine solide Karriere in den höchsten Kreisen der Gesellschaft sind gelegt. Jedoch scheint dies nicht zu genügen, um einen Platz in der Gesellschaft – weder in der französischen, noch in der deutschen, weder in der demokratisch-republikanischen, noch in der nationalsozialistischen – einzunehmen und zu behaupten. Hinter dem Juristen, der sich auf die Paragraphen des geltenden 43 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Rechts berufen und eine Karriere zielstrebig planen kann, scheint immer wieder der Geisteswissenschaftler hervor, der analysiert und interpretiert, sich aber zugleich in seinen Interpretationen wieder zurücknimmt, sobald die nationalsozialistische Gesinnung ins Wanken geraten könnte. Statt aktiv zu gestalten und einzugreifen, verhält er sich eher passiv und so bestätigt er auch gegenüber dem Arzt Hohenegg: »Ich beobachte und tue nichts, das ist meine Lieblingsrolle.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 358) Diese Lieblingsrolle wird eine gewisse Zeit lang seinen Platz in der nationalsozialistischen Hierarchie bestimmen, in der er als Berichterstatter tätig ist. Jedoch sind seine Beobachtungen für die Gesellschaft die falschen, seine Schlussfolgerungen für seine Auftraggeber uninteressant. Immer wieder muss er sich sagen lassen oder gar sich selbst gegenüber eingestehen, dass er fehl am Platz ist. Dies wird bereits früh deutlich, wenn er zugibt: »Es war mir nie gelungen, die verschrobenen Rangordnungsrituale der SS zu durchschauen.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 335) oder wenn ihm klar wird, dass er die Spielregeln, die seinen Missionen zugrunde liegen, nicht begriffen hat: »Ich hatte die Wahrheit dort gesucht, wo man nicht an der Wahrheit, sondern nur am politischen Nutzen interessiert war« (Littell. Wohlgesinnten. S. 468). Schließlich wird ihm gar von seinen heimlichen Gönnern, Dr. Mandelbrod und Herrn Leland, ganz unmissverständlich gesagt, dass er sie enttäuscht habe: »Wir haben den Eindruck, […] dass du nicht verstanden hast, was wir von dir erwarten.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1161) Jedoch wird ihm auch niemals genau mitgeteilt, was eigentlich von ihm erwartet wird. Der Protagonist befindet sich immerzu in einem Zustand kafkaesker Schuldigkeit mangels Wissen. Diese Schuldigkeit ist jedoch nicht allein sein Vergehen, sondern der Struktur der Regierungsform inhärent. So muss Thomas seinem Freund Max erklären: »Dass die Befehle immer vage bleiben, ist normal, sogar Absicht, das ergibt sich logisch aus dem Führerprinzip selbst. Der Befehlsempfänger hat die Aufgabe, die Absichten des Befehlsgebers zu erkennen und entsprechend zu handeln.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 766)

und »[…] ganz Deutschland ist heute ein riesiges Gespinst aus Gerüchten, ein Spinnennetz, das sich über alle Gebiete unter unserer Kontrolle erstreckt […]. Die Informationen verbreiten sich mit irrsinniger Geschwin-

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digkeit. Und die ganz Schlauen machen sich ihren Reim auf diese Gerüchte und gelangen zu erstaunlich genauen Schlussfolgerungen […].« (Littell. Wohlgesinnten. S. 767)

Dass der Protagonist seinen Platz in dieser Gesellschaft nicht finden kann, liegt nicht in erster Linie nur an ihm, sondern an der Willkür, die innerhalb des Systems vorherrscht. Der Führerbefehl wird nie verschriftlicht. Es gibt keinerlei Hinweise auf das, was der Führer wirklich gesagt, gemeint oder gewollt hat und somit gibt es keinerlei Dokumentation, die eindeutig auslegbar wäre. Allein das Wort dessen, der mit Hitler vertraut und im Gespräch ist, gilt. Dabei ist die Auslegung ebenso willkürlich, wie das, was anscheinend gesagt wurde. 3 Die Schuld, die den Protagonisten trotz aller Verwirrtheit aber letztendlich doch trifft, ist diejenige des Unterlassens. Obwohl er geisteswissenschaftlich interessiert ist und auch durchaus mit kritischen Gedanken nicht zurückhält, verweigert er bei diesen doch sehr eindeutigen Aussagen seines Freundes jede weitere Überlegung. Stattdessen flüchtet er sich in eine Resignation, wenn er sagt: »[…] ich verstand auch, dass mir das Talent fehlte, hinter die Fassaden zu blicken, zu erraten, worum es im Verborgenen ging […]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 767). Max von Aue weiß selbst, dass er diese Gesellschaft und ihre Regeln nicht durchschaut, dass er hier lediglich verständnisloser Zuschauer ist in einem Szenario, an dem er keinen Platz einnehmen kann. So bemerkt er auch, dass er durch »die Umstände meines ruhelosen Lebens, hin- und hergerissen zwischen zwei Ländern, von anderen Menschen [ge]schieden« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1063) ist. Sein Drama liegt aber darin, dass er diese Zweigeteiltheit nicht akzeptieren und als Vorteil annehmen und nutzen will. Vielmehr verdammt er sich und sein Schicksal, denn »[a]uch ich wollte meinen Stein zum gemeinsamen Werk beitragen, auch ich wollte mich als Teil des Ganzen fühlen können.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1063) Max von Aue will seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen, seine Rolle spielen und seinen Beitrag leisten. Jedoch versteht er entweder die Spielregeln nicht, und/ oder er lehnt sie bewusst ab, wenn sie ihm klar diktiert werden. So lehnt er es ab zu heiraten und arische Dies erinnert an Goethes Iphigenie, ein Stück, in dem allerdings klar zutage tritt wird, dass der vermeintliche Götterwille reine Interpretations- und Auslegungssache ist, ja sogar zum eigenen Vorteil ausgelegt wird.

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Kinder in die Welt zu setzen, obwohl ihm dies ausdrücklich als Mittel zur Beförderung seiner Karriere empfohlen wird. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 755) Auch die unzweideutigen Angebote der drei sich gleichenden Assistentinnen seiner Gönner, er möge sie schwängern, lehnt er ab. Von seinem Freund Thomas erfährt er später von den Vergünstigungen, die dieser erhält, da er zwei Frauen in den Lebensborn geschickt hat. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1042) Aber auch dies überzeugt ihn nicht, weckt vielleicht auch nicht sein Interesse und zeigt deutlich, dass die Eindeutigkeit, die er sich doch eigentlich wünscht, für ihn letztendlich keine Option ist. In der nationalsozialistischen Gesellschaft hat er keinen Platz, da er selbst nicht eindeutig ist. Gleichzeitig lehnt er aber auch jede Art von Eindeutigkeit ab, die ihn in eine Gesellschaft integrieren könnte, die selbst nicht eindeutig ist. Obwohl sich der Protagonist zum Nationalsozialismus bekennt und in dieser Staatsform Karriere machen will, legt er durchweg ein ambivalentes Verhalten an den Tag. Hinzu kommt die permanente Weigerung, eindeutig Stellung zu beziehen und aus kritischen Positionen ein konsequentes Verhalten und Handeln zu entwickeln. Um aber eine Stellung innerhalb einer Gesellschaftsform zu erhalten, ist es notwendig, deren Regeln zu kennen und diese als solche zu akzeptieren. Jedoch muss man diese Regeln nicht bedingungslos annehmen und ausfüllen. Auch ein durchaus kritischer oder gar ablehnender Umgang mit gesellschaftlichen Regeln schließt das Akzeptieren der Regeln als solche nicht aus. Allerdings ist Max von Aue tatsächlich in dieser Zeit nicht vorrangig an einer Karriere interessiert, sondern vielmehr an einem Aufarbeiten und Verarbeiten seiner persönlichen Situation. Die allesverschlingende Liebe zu seiner Zwillingsschwester, der allzu große Hass auf seine Mutter und die Ungewissheit über Leben und Verbleib des Vaters beschäftigen ihn in erster Linie. Die Verlorenheit, die er im Kreis seiner Familie empfindet, versucht er in der Gesellschaft und durch eine Karriere lediglich zu kompensieren. Da er von Anfang an entwurzelt und unentschieden ist, muss er hier scheitern. Ganz anders verhält es und er sich in seinem zweiten Leben, das er nach dem Krieg in Frankreich führt. Er gibt sich eine zweite, diesmal eindeutige und falsche Identität, indem er sich als Franzose ausgibt und einen falschen Namen annimmt. Er verleugnet seine Vergangenheit, erhält aber gerade dank dieser Vergangenheit und weil er einen anderen Untergetauchten damit erpresst eine Stellung in 46 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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einem Unternehmen. Hier macht er Karriere, hier schafft er sich seinen Platz und akzeptiert die Regeln, die die französische Gesellschaft ihm vorgibt. Er führt ein »Leben, das allen gesellschaftlichen Konventionen Rechnung« (Littell. Wohlgesinnten. S. 22) trägt, heiratet eine Frau, weil dies nötig ist, »um meine gesellschaftliche Stellung zu festigen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 21) und kauft sich »ein stattliches Haus« (Littell. Wohlgesinnten. S. 21–22). Der Protagonist schafft sich in seinem zweiten Leben mit dem Haus und der Familie einen Ort, durch den er einen Platz in der Gesellschaft erhält. Er taucht ein in die Bürgerlichkeit Nordfrankreichs und somit in die Bedeutungslosigkeit. Das zweite Leben ist zwar von Eindeutigkeit und Alltagsroutine gekennzeichnet, dafür aber auch von absolutem Desinteresse und Identitätsverlust. »[I]ch lasse mich einlullen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 17), behauptet der Protagonist, wenn er von der Betrachtung der monotonen Arbeit der Webstühle spricht, die ihn in seiner Arbeitsstelle umgeben. Aber genau dies tut er auch in seinem Leben und mit seinem Leben. Nichts interessiert ihn mehr und er gibt dies auch zu: »Ehrlich gesagt, gibt es nicht viel, woran ich Interesse finde« (Littell. Wohlgesinnten. S. 22). Er stellt keine Überlegungen mehr an über das, was er macht und wie er lebt. Schließlich gibt es keinerlei Hinweise auf seinen neuen Namen, noch den Namen irgendeines Mitgliedes seiner Familie, die aus Frau, Kindern und Enkeln besteht. Identitäts- und namenlos, identitäts-, weil namenlos, ist er Teil einer Gesellschaft geworden, an die er sich anpasst. Dies ist der Preis, den er für seine scheinbare Eindeutigkeit zahlt. Statistik Hannah Arendt spricht in ihrem Werk Vita Activa von dem Paradox der Statistik, wie wir noch sehen werden. Dies entsteht, da in den Statistiken eine große Anzahl von Einzelfällen zusammengeführt wird, um daraus einen Durchschnittswert zu berechnen. Dieser soll dann wiederum auf die Einzelfälle angewendet werden und somit Aussagen über das Individuelle machen. Der Durchschnitt kann dem Einzelnen jedoch überhaupt nicht gerecht werden, erweckt aber den Anschein, als könnte durch ihn das Wesen und Handeln der einzelnen Menschen vorausberechnet werden. (Vgl. Arendt. Vita. S. 53 f.) Auch der Protagonist in Littells Roman geht auf dieses Paradox ein, entlarvt es und eröffnet noch eine neue Perspektive, indem er eine erschreckende und grauenhafte Statistik aufstellt. Ihm geht es 47 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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nicht allein darum, mit »eindrucksvollen Zahlen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 24) zu imponieren, wie dies im Fernsehen der Fall ist. Sein Beispiel sind die Zahlen der im Krieg getöteten Menschen, mit denen er eine beängstigende Statistik berechnet. So spricht er nicht nur von den »berühmten sechs Millionen oder zwanzig Millionen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 24), nämlich den sechs Millionen getöteten Juden und den 20 Millionen sowjetischen Opfern des Krieges, sondern er stellt minutiöse Berechnungen darüber an, wie viele Menschen auf sowjetischer, deutscher und jüdischer Seite zwischen dem 22. Juni 1941 und dem 8. Mai 1945 pro Monat, pro Woche, pro Tag, pro Stunde und pro Minute umgekommen sind. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 24 ff.) Allein die Vergegenwärtigung der Zahlen der Toten pro Minute, nämlich 1, 47 deutsche, 2,5 jüdische und 9,8 sowjetische (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 26) – reale Zahlen innerhalb der Fiktion –, scheint erschreckend. Diese in Verbindung mit der Aufforderung des Protagonisten, der Leser möge sich alle Menschen, die er kennt, vor seinem inneren Auge vorstellen und jede Minute die Anzahl der während des Krieges Getöteten davon abziehen, ruft dem Leser ins Bewusstsein, welches Grauen und welche menschliche Tragödie hinter den eher unpersönlich und deshalb unwirklich erscheinenden Zahlen in Millionenhöhe steckt. Der Protagonist geht aber noch weiter und fordert seine Leser auf, sich »diese Toten vorzustellen, wie sie dort aufgereiht vor euch liegen […]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 27– 28), wodurch die Zahlen zu Personen werden. In diesem Sinne wirkt auch die eingangs gestellte Frage »Wer von euch hat jemals versucht, alle Menschen, die er kennt oder in seinem Leben gekannt hat, zusammenzuzählen […]?« (Littell. Wohlgesinnten. S. 24) äußerst provokant. Hier wird Zahlen ein Gesicht gegeben, nämlich das Gesicht derjenigen Menschen, die der Leser kennt oder gekannt hat. Mit dem Gesicht erhält die Zahl eine potentielle Geschichte, die durch den gewaltsamen Tod jäh unterbrochen wird. Statistiken lassen nur allzu leicht vergessen, dass sich hinter den Zahlen Menschen und Geschichten verbergen, dass sich die Zahlen aus Menschen und Geschichten zusammensetzen, vor allem aber, dass jede Zahl jemand sein könnte, der direkt oder indirekt mit uns selbst zu tun haben könnte, der mit uns in Beziehung steht und der für uns wertvoll ist. Die Statistik vernichtet das Individuum und damit jede Menschlichkeit. Indem der Protagonist das Entpersönlichte wieder personalisiert, bringt er dies zum Bewusstsein. 48 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Die Absurdität der Statistik (vgl. Kapitel: Der Dialog wider das Böse bei Hannah Arendt) kulminiert schließlich in der Frage eines SS-Offiziers, »ob es technisch möglich sei, die Rationen [der KZHäftlinge] zu berechnen, die geeignet seien, einen Menschen nach Ablauf einer bestimmten Frist sterben zu lassen […]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 903). Individualität In kurzen Abschnitten werden in Littells Roman auch unmittelbar die Themen Staat und Bürokratie behandelt, auf die auch Hannah Arendt genauer eingeht, wie wir noch sehen werden, wobei diese eigentlich das Grundthema des Romans sind. Der Staat ist eine »Maschinerie« (Littell. Wohlgesinnten. S. 34) und als solche wird er dem Menschen gerne gegenübergestellt. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 34) Dabei wird das Persönliche gegen das Unpersönliche aufgewogen und der Mensch in seiner Menschlichkeit als der Schwächere dargestellt. Er fühlt sich von der scheinbar allgewaltigen Maschinerie überrannt und übervorteilt, was Hannah Arendt mit dem Begriff »Herrschaft des Niemands« (Arendt. Vita. S. 51) verdeutlicht. Der Protagonist Max von Aue sieht dies allerdings nicht so. Er sieht zu Recht, »dass der Staat aus Menschen besteht, mehr oder weniger gewöhnlichen Menschen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 34). Der Staat und seine Bürokratie sind kein künstliches Gebilde, das einer Gesellschaft aufgezwungen wird, sondern er ist natürlich gewachsen, und zwar aus der Gesamtverfasstheit der Menschen heraus, die in dieser Gesellschaft leben. Dabei bedeutet Gesamtverfasstheit die Gesamtheit aller individuellen Lebensgeschichten derer, die in einem bestimmten Staat leben, und die Zufälle, die in jedes Leben, sei es individuell oder gemeinschaftlich, hineinspielen. Der Staat existiert also nicht in der ihm eigenen Form mit der ihm eigenen Bürokratie, weil er einer Menschengruppe von außen vorgeschrieben ist, sondern weil er aus der Gemeinschaft und Individualität der Menschengruppe gewachsen ist. »Es gibt sie [die Maschinerie des Staates], weil alle damit einverstanden sind, dass es sie gibt […]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 34), so das Fazit des Protagonisten. Der Staat ist keine Maschine, sondern er ist ein lebendiges Gebilde, das von Menschen gestaltet und getragen wird. Allerdings gibt es tatsächlich einen Gegner des Menschen, der für ihn eine nicht unerhebliche Gefahr darstellt. Dieser ist nicht in 49 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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der Administration zu suchen, denn »[d]ie wirkliche Gefahr […] sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr« (Littell. Wohlgesinnten. S. 35). Der Protagonist Max von Aue gesteht jedem Menschen seine eigenen Begierden und Leidenschaften, aber auch eine Vergangenheit zu. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 38) Gerade in totalitären Gesellschaften, in denen jede Individualität zum Feind wird, ist es schwierig, sich den anderen als Mensch vorzustellen. Der andere wird zu der Funktion, die er ausfüllt, und somit zum Angepassten, er wird zu demjenigen, der sich so verhält, dass er nicht auffällt. Ein individuelles Leben wird den einzelnen Menschen aber auch allgemein in der (nicht nur totalitären) Gesellschaft selten wirklich zugestanden. Es wird zwar viel darüber gesprochen und diskutiert, aber meist wird der Andere lediglich in seiner beruflichen Funktion, seiner Rolle innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft oder gar nur in kurzen Momenten des Zusammentreffens wahrgenommen und letztendlich darauf reduziert. Ein Fußballprofi, der Bach liebt und sensibel veranlagt ist, scheint ebenso wenig wahrscheinlich zu sein wie eine Mathematik-Lehrerin, die malt. Und dennoch müsste jedem Menschen ein weiterer Interessenshorizont zugestanden werden, als der, den uns eine bestimmte Funktion oder Rolle vorschreibt. Dies gilt für alles, was einen Menschen tatsächlich ausmacht, nämlich Beruf, Familien- und Gemeinschaftszugehörigkeit, Freizeitaktivitäten, Vorlieben und Abneigungen. Aber es gilt auch für alles, was einen Menschen in seiner jeweiligen Situation (noch) nicht ausmacht. Ein Mensch, der bislang in einem freien demokratischen Staat leben und wirken durfte, und der sich plötzlich in einer autoritären totalitären Gesellschaftsform wiederfinden muss oder der in irgendeiner Form tyrannisiert wird, verhält sich anders. Unter geänderten Umständen entwickelt sich jeder Mensch anders, und Menschen erkennen sich oft selbst nicht wieder. Auch dies muss zugestanden werden. Vor diesem Hintergrund kann der Protagonist in Littells Roman auch hinsichtlich der Mörder des »Dritten Reiches« sagen: »Die, die töten, sind Menschen wie die, die getötet werden […]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 39). Dies ist keinesfalls eine Entschuldigung dafür, dass Menschen in Extremsituationen Straftaten oder Morde begehen. Es soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass der Mensch – so geregelt und anständig sein Leben in seiner derzeitigen Situation auch sein mag – nie weiß, wie er sich in einer anderen Situation verhält und zu wel50 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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chen Taten er fähig ist. Es ist nie abzusehen, welcher Mensch in welcher Situation zu welchen Überzeugungen gelangt und auf welche Weise handeln wird. Die Freiheit des Menschen ist sein größter Feind, da er jederzeit fähig ist, sich – auch in radikaler Weise – zu ändern. Das Handeln und die Entscheidungen des Individuums sind nie vorhersagbar. Individualität bezieht sich hier sowohl auf das eigene Verhalten als auch auf die Individualität jedes Menschen als solchen. Deshalb stellt der Protagonist Max von Aue auch fest: »Ob ich ohne den Krieg bis zu diesem Äußersten gegangen wäre, kann man nicht wissen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 39) und folgert daraufhin: »Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. […] Ich bin wie ihr!« (Littell. Wohlgesinnten. S. 39) Das Problem, das durch Max von Aue hier angesprochen wird, ist allerdings ein grundlegendes, und dieses Problem macht zwischenmenschliches Verhalten so schwierig. Der Mensch selbst weiß für sich, dass er ein Individuum ist. Auch wenn er sich selbst häufig ein Rätsel ist, so erfährt er sich selbst als jemanden, der auf gewisse Weise fühlt und handelt. Selbst wenn er sich in seinen Augen falsch verhält oder ihm etwas peinlich ist, weiß er dies für sich einzuschätzen und erwartet von Anderen Verständnis. Jedoch liegt gerade hierin das größte Problem und Missverständnis. Denn der Andere sieht und erkennt nur, was er unmittelbar wahrnehmen kann, also vor allem das Aussehen, die Wirkung, typische Handlungsweisen, Mimik und Gestik etc. Untypische Verhaltensweisen führen zur Verwirrung. Ebenso reagiert der Mensch, wenn der Andere sich in unerwarteter Weise verhält. Das Verständnis, das der Mensch für sich selbst aufbringt, ist wesentlich größer als das, was er für den anderen in ähnlichen Situationen zeigt. Je geringer die Beziehung zum Anderen ist, umso weniger Verständnis zeigt der Mensch für ihn. Ist der Andere nur eine Zahl oder Teil einer Statistik, wird ihm auch jede Individualität abgesprochen. Gegen dieses Vergessen des Anderen wehrt sich der Protagonist Littells, wenn auch eigentlich nur in seinem eigenen Interesse. b)

Reminiszenzen an Faust

Neben den philosophischen Themen ist ein Grundmotiv des Romans der Faust-Stoff. Littell variiert hier vornehmlich die Bearbeitung von 51 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Goethe. Zwar ist die Anlehnung des Romans an die Orestie offensichtlich, weshalb der intertextuelle Faust-Bezug möglicherweise in den Hintergrund tritt und schwerer zu fassen ist, jedoch gibt es zahlreiche Hinweise darauf, die uns im Folgenden näher interessieren werden. »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« Nach Entdeckung des Inzests mit seiner Zwillingsschwester werden die Geschwister Una und Max getrennt voneinander in katholische Internate geschickt. Im Zusammenhang mit der neuen Situation wird das Zitat »vom Himmel durch die Welt zur Hölle« (Littell. Wohlgesinnten. S. 286) direkt aus dem Faust übernommen, um den Leidensweg des Protagonisten im Internat zu beschreiben. Dies ist der Auftakt für ein Leben, das Höhen und Tiefen erlebt und schließlich die Abgründe des menschlichen Lebens erblickt, aber nie wieder den ursprünglichen Zustand der Harmonie und des Wohlbefindens erreichen wird. Es ist das Zitat des Theaterdirektors aus dem Vorspiel auf dem Theater (vgl. Goethe. Faust I. V. 33–242), das hier wörtlich übernommen wird. Hiermit legt der Direktor den Leitgedanken des Schauspiels als solches und der bevorstehenden Faust-Inszenierung im Besonderen fest. Das Schauspiel im Theater soll den Zuschauern alles zeigen, sowohl die Vorkommnisse in der irdischen, immanenten Welt, als auch die transzendente Welt und den Dualismus zwischen Gut und Böse, dem der Mensch unterworfen ist und von dem sein Leben auf der Welt bestimmt wird. Der Himmel ist auch hier der glückliche, unschuldige Zustand, der Beginn jedes Schauspiels, das sich erst entwickeln muss. Insofern steht der Himmel für den Beginn jedes Schauspiels, während dessen der Zuschauer erst in die Situation eingeführt wird, die Protagonisten kennenlernt und die Handlung anfängt, sich zu entwickeln. In Goethes Faust verweist der Satz des Direktors tatsächlich auf den Himmel, nämlich auf den folgenden Prolog im Himmel (vgl. Goethe. Faust I. V. 243–353). Im Himmel wird das Schicksal Fausts beschlossen, wobei es hier alles andere als unschuldig zugeht, lässt sich hier doch Gott mit Mephistopheles auf eine Wette ein, bei der es darum geht, Faust zum Bösen zu verführen. Auch die Hölle, die allgemein für das Darstellen menschlicher Abgründe steht, ist im Faust in der Person des Mephistopheles und seiner Gefährten, wie

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z. B. der Hexen, dargestellt. Die Welt bezeichnet das Leben, Treiben und Wirken der Personen, durch das die Abgründe offenbar werden. Wenn Max von Aue sich nun des Satzes des Theaterdirektors bedient, so ist dies ein eindeutiger Hinweis darauf, dass einerseits das von ihm Dargestellte, sein Lebensbericht, ein Schauspiel ist, das die Facetten des menschlichen Lebens zeigen soll. Auch er wird zeigen, wie durch das Leben der Menschen, Himmel und Hölle miteinander verbunden werden, indem gerade dieses Leben vom Zustand der Unschuld zu den schlimmsten Abgründen menschlichen Daseins führt. Andererseits wird hier mit der Bezugnahme auf den Goethe’schen Faust eine Interpretationsgrundlage des Werkes klar herausgestellt. Der Faust als urdeutscher Stoff ist ein Schema, das dem Roman zugrunde liegt. Thomas – Mephisto Thomas Hauser ist für Max von Aue viel mehr als »ein guter Kamerad« (Littell. Wohlgesinnten. S. 79), auch wenn letzterer dies nicht begreift. Max von Aue ist ständig von Zwillingskonstellationen umgeben, und so ist Thomas Hauser ein weiterer Zwilling, mit dem Max von Aue verbunden ist. Allein der Name Thomas gibt dies deutlich zu erkennen, denn er stammt von dem aramäischen Wort teoma, was nichts Anderes bedeutet als der Zwilling. Als Zwilling des Protagonisten hat er eine ähnliche Karriere wie dieser und begleitet ihn auf seinen im Roman dargestellten Weg. Auch Thomas ist Mitglied der NSDAP, hat Jura studiert und ist in diesem Fach promoviert, auch er hat mehrere Jahre in Frankreich gelebt. Dies ist seine Situation, als sich beide zum ersten Mal treffen. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 102 f.) Im Gegensatz zu Max ist er eine gepflegte Erscheinung. Er ist gut gekleidet, seine Hände sind manikürt und er pflegt höfliche Umgangsformen. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 102 f.) Jedoch ist er in Deutschland fest verwurzelt und nimmt nicht die Rolle eines Grenzgängers ohne Platz in der Gesellschaft ein. Frankreich ist nicht sein Heimatland; die Sprache beherrscht er, jedoch ist sie für ihn ein Mittel der Verständigung und somit ein Mittel zum Zweck. Er lebt nicht in der französischen Sprache, er setzt sie ein, um Informationen zu erhalten. Er versteht vielleicht nicht das wahre Wesen der französischen Seele, kennt auch nicht die wirklichen politischen und gesellschaftlichen Realitäten des Landes, dafür weiß er aber genau, worauf

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es ankommt, um seinem eigenen Land zu dienen, vor allem aber, um dort Karriere zu machen. Das erste Zusammentreffen der beiden wirkt trotz seiner Brisanz nahezu grotesk. Max von Aue wurde vom Sicherheitsdienst erwischt, als er sich an einem Treffpunkt für Homosexuelle herumgetrieben hat. Da Homosexualität verboten ist und streng bestraft wird, stehen seine Karriere und gar sein Leben auf dem Spiel. »Kameradschaftsgeist« (Littell. Wohlgesinnten. S. 107) veranlasst Thomas Hauser dazu, sich des Falles anzunehmen. Für ihn ist Max von Aue ein Student mit großen Karriereaussichten, der die Haltung des Nationalsozialismus vertritt und den er deshalb für den Sicherheitsdienst gewinnen will. Max von Aue seinerseits sieht sich in einer Situation, die ihm die Karriere oder das Leben kosten kann, und so erfindet er die Geschichte des zerstreuten Studenten, der nach einem anstrengenden Tag beim nächtlichen Spaziergang Erholung sucht und in das falsche Gebiet geraten ist. Diese Geschichte wird ihm auch abgenommen. Aber mit dieser scheinbaren Absolution begibt sich Max von Aue auf weitaus gefährlicheres Terrain. Zwar rettet er sein Leben und vorerst seine Karriere, aber er verkauft seine Seele, indem er sich ab diesem Moment an Thomas Hauser bindet. Thomas Hauser ist für Max von Aue auch mehr als ein Zwilling, der eine ähnliche Ausbildung hat und eine ähnliche Karriere machen wird. Thomas ist all das, was Max nicht ist. Während Max sich Gedanken über sein Leben macht oder über das, was ihm zustößt, scheint dies Thomas nicht zu interessieren. Während Max zu ergründen versucht, was wirklich hinter Befehlen steckt, die er erhält und sich mit dem Anderen auseinandersetzt, sieht Thomas in den Befehlen vor allem seinen eigenen Vorteil und Nutzen. Nicht der Andere interessiert Thomas, sondern er interessiert sich nur für sich selbst. Thomas ist das Alter Ego von Max, er ist der lebenslustige, oberflächliche Egoist und insofern gleicht er Fausts Mephisto. Hinweise auf die Rolle, die er als Mephisto einnimmt, gibt es bereits beim ersten Kennenlernen. Wie Mephisto, weiß Thomas über sein Opfer gut Bescheid. »Ich weiß sehr gut, wer Sie sind« (Littell. Wohlgesinnten. S. 104), teilt er ihm beim ersten Treffen mit, und dies ist nicht nur auf die Person von Aues bezogen, sondern auch auf die Berichte, die er als Student geschrieben hat. Thomas lockt Max durch Schmeicheleien und unterschwellige Erpressung – die er jedoch weit von sich weist, als er darauf angesprochen wird –, in den Sicherheitsdienst einzutreten und gibt ihm damit zu verstehen, dass hier seine 54 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Karriere gemacht wird und gemacht ist. Mit einem »Denken Sie darüber nach« (Littell. Wohlgesinnten. S. 107) lockt er Max von Aue und bringt ihn schließlich zu einer Entscheidung. Grotesk ist diese Situation, da hier permanent höchste Gefahr mit skatologischen Momenten verbunden wird. So muss Max eigentlich von Beginn an auf die Toilette, wird davon aber stundenlang zurückgehalten. Die eingestreuten Hinweise darauf verleihen der Szenerie etwas Derb-Komisches. Der Pakt mit dem Teufel wird durch einen »kräftigen Händedruck« (Littell. Wohlgesinnten. S. 107) besiegelt, nachdem Max sich auf der Toilette endlich hat erleichtern können. Jedoch fehlt es auch hier nicht an derber Komik, denn die »offene und direkte Haltung«, die »Geradlinigkeit, Tatkraft und […] Überzeugung« (Littell. Wohlgesinnten. S. 107), die Max an Thomas so beeindrucken und die offensichtlich wichtige Eigenschaften eines Sicherheitsdienst-Mannes zu sein scheinen, kann Max selbst nicht vollständig vorweisen. Im Gegenteil wird er immer etwas zu verbergen haben, und dies bereits von Anfang an, denn aufgrund seiner homosexuellen Neigungen gehört er eigentlich zu denen, die verfolgt werden. So wirkt es denn auch grotesk, wenn Max feststellt: »Und so entschloss ich mich, den Arsch noch voller Sperma, in den Sicherheitsdienst einzutreten.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 107) Von diesem Moment an ist das Leben von Max von Aue mit dem von Thomas Hauser eng verbunden. Beide befreunden sich, und es ist der »Lebemann« (Littel. Wohlgesinnten. S. 79) Thomas, der den Grübler Max in Nachtlokale oder Konzerte mitnimmt oder mit ihm gemeinsam zu Abend isst. Thomas ist also, wie Mephisto, die treibende Kraft, die den Beobachter und Wissenschaftler Max in die Welt einer bestimmten Gesellschaft einführt. Für ihn ist wichtig, dass man sich in guter Gesellschaft amüsiert. Das Oberflächliche reizt ihn, wie das gute Essen oder die hübschen Mädchen in Frankreich (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 82). Andererseits erkennt Thomas aber auch die gegebenen Situationen, kann vorausschauend arbeiten und nutzt dies zu seinem eigenen Vorteil. So scheiden sich die Wege von Max und Thomas bereits bei ihrer ersten gemeinsamen Aufgabe: Der Auskundschaftung der Stimmung in Frankreich hinsichtlich eines Eintritts in den Krieg. Sehr schnell wird deutlich, was die beiden wirklich trennt: »Schellenberg hatte ihm [Thomas] auseinandergesetzt, was man von uns erwartete« (Littell. Wohlgesinnten. S. 82) und »[…] während ich 55 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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mit begeisterten jungen Leuten in Dachwohnungen saß […] und mich mit billigem Wein und Pasta begnügte, gönnte er [Thomas] sich Gänseleberpastete in den besten Brasserien der Stadt.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 84) Thomas weiß, worauf es ankommt. Er ist es, der die Informationen von höherer Stelle erhält, und der diese Informationen zu verwerten weiß. Während Max seinen Auftrag ernst nimmt, sich mit dem Leben der Studenten und deren politischer Stimmung auseinandersetzt, indem er seine Freunde aus früheren Studienzeiten besucht, genießt Thomas das Leben in Paris auf Kosten seiner Vorgesetzten, denn er weiß: »Der Reichsführer will nur eins: den Führer beruhigen, damit der sich ungestört mit Polen befassen kann.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 85) Es kommt nicht darauf an, sich wirklich unter das Volk zu mischen und den Auftrag zu erfüllen, so wie es Max verstanden hat. Vielmehr geht es darum, das zu berichten, was man in den bestimmten Kreisen hören will. Die Menschen und ihre wirklichen Befindlichkeiten spielen hier keine Rolle. Sie können umgangen werden. Diese menschenverachtende Haltung ist die Grundlage von Thomas’ Karriere. Auf den Inhalt des wahrheitsgetreuen Berichts, den Max abliefert, reagiert Thomas deshalb nur mit einem »Du kapierst wohl überhaupt nichts.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 85) Max von Aue kommentiert dies so: »mein Freund hatte eine unfehlbare Begabung, nicht nur zur rechten Zeit, sondern schon etwas früher am rechten Ort zu sein; so hatte es jedes Mal den Anschein, er wäre schon immer dort gewesen und der bürokratische Machtwechsel hätte ihn lediglich eingeholt.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 86) Thomas Hauser versteht es, sich zu seinem eigenen Vorteil unentbehrlich zu machen und dies nutzt er vorrangig für sich, aber auch für Max, den er immer wieder zu sich holt, und dessen Karriere. Unmittelbar nach dem Paris-Auftrag ist dies zunächst nicht möglich, da Max sich durch seine Ehrlichkeit zunächst diskreditiert hat. Ab 1941 aber kann Thomas sich wieder für Max und dessen Karriere einsetzen, wobei Thomas einen Karrierevorsprung hat, den Max trotz all seiner Beförderungen nicht wieder aufholen wird. Wann immer Max befördert wird, hat auch Thomas den nächsthöheren Dienstgrad erreicht. Thomas zieht ihn also mit sich. Wie Faust ist Max an seinen Mephisto Thomas gebunden, und was als Freundschaft und Freundschaftsdienst dargestellt wird, ist nichts Anderes als die Erfüllung des Paktes, den Thomas und Max miteinander geschlossen haben. Besonders zynisch wirkt in dieser Konstellation Thomas’ Aus56 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

sage: »Du wirst sehen, es wird lustig« (Littell. Wohlgesinnten. S. 88), denn dieses ›lustig‹ bezieht sich darauf, Karriere zu machen, indem man am Tod anderer Menschen beteiligt ist, und verweist wieder auf die Oberflächlichkeit von Thomas’ Charakter. Im Nachhinein bewertet Max diese Aussage wie folgt: »So vergrößert der Teufel sein Reich, so und nicht anders.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 88) Allerdings langweilt sich der Intellektuelle Max auf den Posten, die ihm zugewiesen werden (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 88), und ergreift jede Gelegenheit, um eine Verbesserung herbeizuführen. Wie auch Faust, der schaffend wirkt, so nimmt auch von Aue nicht vollständig am Zerstörungswerk Hausers teil, sondern versucht wieder etwas aufzubauen. Dies ist eine Erweiterung des Pakts mit dem Teufel, denn hier ist nach wie vor die faustische Analogie zu sehen. Der Teufel, den Thomas repräsentiert, wird zum Sinnbild für die sich ausbreitende Grausamkeit und Unmenschlichkeit, die sich hinter Amüsements versteckt. Thomas wird ein ständiger Wegbegleiter. Er ist bereits in Stalingrad, als Max dorthin strafversetzt wird, und arbeitet mit ihm zusammen im SS-Hauptamt in Berlin. Er ist Max immer voraus, achtet aber darauf, dass Max ihm auch folgt. So lässt er ihn nicht in Stalingrad sterben, sondern bemüht sich darum, ihn aus dem Kriegsgeschehen zu retten. Als Max in Berlin schwer erkrankt, kümmert er sich um ihn und sorgt dafür, dass er betreut wird. Schließlich holt Thomas seinen Freund aus dem Haus seiner Schwester und schlägt sich gemeinsam mit ihm nach Berlin durch. Immer wieder bringt Thomas Max ins Leben zurück und dies auch im übertragenen Sinn, denn als Max sich nur noch seiner Arbeit widmet, animiert Thomas ihn zum Sport und lädt ihn zu seinen ausschweifenden Festen ein. Max schätzt Thomas wegen seines Optimismus, seiner Intelligenz und seines Zynismus, jedoch bemerkt er auch dessen Egoismus und Phantasielosigkeit (Littell. Wohlgesinnten. S. 965 f.). Thomas arbeitet nur für sich, ihm fehlt jedes Bewusstsein dafür, dass andere Menschen aus anderen Beweggründen handeln. Dank seiner Fähigkeiten schafft er es aber auch immer wieder, sich materiell gut zu stellen. So lebt er in Wohnungen in bester Lage – zum Schluss gar in einem Haus in Dahlem – und fährt noch fast bis zum als infernale Apokalypse inszenierten Ende im eigenen Auto. Ethische Werte scheinen ihm nichts zu bedeuten, und so sät er wahllos Gerüchte und setzt Lügen in Umlauf, damit seine eigene 57 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Stellung gefestigt wird. Auch seine Identität scheint ihm nichts zu bedeuten, denn als der Untergang unausweichlich ist, legt er sich gleich mehrere Identitäten zu, um überleben zu können. Wichtig ist für ihn das rein materielle Leben. Ihm ist klar, dass er nach dem Krieg als bekennender Nationalsozialist keine Karriere mehr machen kann und dass sein Überleben auch mehr als fragwürdig sein wird. Indem er sich mehrere Identitäten ausstellen lässt, zeigt er, dass er keinen Wert auf eine bestimmte Identität legt, und dass seine Überzeugungen austauschbar sind. Somit ist Thomas Hauser letzten Endes charakterlos. Der am rein Materiellen interessierte Helfer bleibt er bis zum Schluss. Er tötet Clemens, der seinerseits Max erschießen will, und nimmt das Bargeld der Leiche an sich. Erstaunlich ist aber, dass Max seinen Beschützer letztendlich ohne ersichtlichen Grund ermordet. Dies scheint eine Tat zu sein, die er im Wahn begeht, denn er selbst sagt von sich: »Ich fieberte, mein Verstand zerfiel.« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1358) Mit diesem Mord aber befreit er sich vom Pakt mit dem Teufel. Im Gegensatz zu Faust, der stirbt, um diesem Pakt zu entkommen, tötet Max sein Alter Ego. Jedoch nimmt er dessen Identität an, wenn auch bloß vorübergehend, und lässt der Leiche seine eigene Identität zurück. »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe« 4 Bei Goethe lässt Mephisto Faust einen Verjüngungstrank bereiten. Dieser gibt Faust nicht nur seine Jugend zurück, sondern er erkennt auch die Weiblichkeit und beginnt, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Auslöser hierfür ist Helena, das Urbild der Frau und der Weiblichkeit, die in jeder Frau ist und deshalb auch in jeder Frau zu finden ist: »Du siehst mit diesem Trank im Leibe/ Bald Helenen in jedem Weibe.« (Goethe. Faust I. V. 2603–2604; Littell. Wohlgesinnten. S. 1358) Daraufhin erscheint Faust die Helena in der Gestalt von Margarete. Die Margarete des Faust I tritt bei Littell jedoch nicht so in Erscheinung, wie sie bei Goethedargestellt ist. Goethes Gretchen ist sittsam, von gesellschaftlichen Konventionen geprägt, an denen sie scheitert. Sie ist der Typ des gefallenen Mädchens, das verführt wird und sich aus Unwissenheit auch verführen lässt. Aus dieser Ver4

Goethe. Faust I. V. 2603–2604

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Der Pakt mit dem Teufel

führung der Unschuld resultiert die gesellschaftliche Ächtung, durch die Gretchen zur Mörderin wird, was sie letztendlich mit ihrem Leben bezahlt. Jedoch wird sie schließlich erlöst, da sie bereut und ihre Sittsamkeit im Glauben wiedererlangt. Die Gretchen-Figur in der Form, wie sie bei Goethe erscheint, existiert in Littells Roman nicht. Auch heißt keine Romanfigur Margarethe. Dennoch lässt sich der Typ des Gretchen wiedererkennen. Allerdings ist er verborgen in einer pervertierten Form. Die nationalsozialistische Ideologie beruht u. a. auf dem Prinzip der Gleichheit und des Gleichmachens. Besonders das Frauenbild lässt keine Individualität zu. So wird hier der Typ Frau propagiert und gefördert, der athletisch und devot ist und Führer und Volk viele Kinder gebiert. Auch das äußere Erscheinungsbild ist typisiert, sollen doch die Frauen möglichst gepflegt, blond und – in jeder Hinsicht – blauäugig sein. So ist der devote Frauentypus, bei dem sich alle Frauen bis aufs Haar gleichen, überall gegenwärtig, was analog zum Faust bedeutet, dass hier tatsächlich die Helena, nämlich das Muster der perfekten Frau, in jedem Weib zu erkennen ist. Bis ins Groteske wird dies in den Assistentinnen von Dr. Mandelbrod und Leland gesteigert. Max von Aue ist nicht mehr fähig, die einzelnen Damen voneinander zu unterscheiden. Alle sind blond, tragen dieselbe Frisur, dieselbe Kleidung, haben manikürte Hände und ein gleichförmig, höfliches Verhalten, das keinerlei Rückschlüsse auf ihre Individualität zulässt. Zudem tragen sie auch noch ähnlich klingende Namen, wobei die Alliteration von Hilde, Hedwig, Heide und Helga nicht nur lächerlich klingt, sondern den Eindruck der nahezu perfekten Gleichheit und Identität noch bestätigt. Die Gretchen-Hs sind aber keineswegs sittsam in dem Sinne des Goethe-Gretchens, wohl aber von den gesellschaftlichen Konventionen des Nationalsozialismus geprägt. Sie lassen sich nicht aus Unwissenheit verführen, sondern sie ergreifen die Initiative, denn sie bieten sich Max von Aue regelrecht an. Ziel dabei ist auch nicht die Ehe im konventionellen Rahmen, sondern die Erhaltung der arischen Rasse. Auch und gerade für diese gefallenen Mädchen ist von Seiten der Gesellschaft vorgesorgt, denn die Mutter mit unehelichem, reinrassigem Kind wird im Lebensborn aufgefangen. Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zu Goethes Zeiten, ist dies in der Gesellschaft der Nationalsozialisten sogar noch erwünscht: Der Erzeuger wird belohnt und ist bar jeder Verantwortung für Mutter und Kind. 59 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Wie Fausts Gretchen, so sterben auch Hilde, Hedwig, Heide und Helga am Schluss. Es hat den Anschein, dass sie sich den Freitod gegeben haben, nachdem russische Streitkräfte in Berlin einmarschiert sind. Auch sie entziehen sich somit einem Leben, das weiterzuführen für sie sinnlos zu sein scheint. Anders scheint jedoch Helene zu sein, die dann auch Helene Anders heißt. Auch hier finden wir wieder den gleichen Frauentypus und den Namen, der sich dem Stabreim der Gleichen anschließt. Jedoch kann Helene nicht vollständig mit den anderen Frauen identifiziert werden, weder mit den dargestellten Frauen im Allgemeinen, noch durch ihre Beziehung zu Max von Aue im Besonderen. Helene taucht immer wieder auf und unter, so wie sie es in der ersten Szene im Schwimmbad tut, als Max von Aue ihr zum ersten Mal begegnet (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 970 ff.). Sie ist nicht ständig anwesend und begleitet Max nicht immer und überall hin. Es dauert eine Weile, bis sie sich einander nähern, aber über einen Kuss oder eine zaghafte Berührung (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1045) geht diese Verbindung nicht hinaus. Max bezeichnet ihr nahezu tägliches Zusammensein dann doch als Beziehung (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1076). Auch wäre das Leben mit Helene für Max »ein Stück Alltagsleben […], ein Stück Normalität, einfach und natürlich« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1039) gewesen. Während seiner Krankheit zieht Helene sogar bei Max ein und pflegt ihn. Dabei erträgt sie auch seine Unverschämtheiten und erfährt von ihm die Wahrheit über die angeblichen Heldentaten und den Heldentod der Soldaten (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1135– 43). Die Euphorie scheint nach diesen Offenbarungen im Fieberwahn zwar vorbei, jedoch hält Helene weiter an Max fest und trifft ihn regelmäßig. Letztendlich flieht sie allerdings mit ihren Eltern kurz vor Kriegsende ins Badische. Obwohl sie Max mehrmals zu verstehen gibt, dass sie seinetwegen bleiben würde, lässt er sie gehen. Ihre Briefe bleiben von ihm unbeantwortet und Helene ist aus seinem Leben verschwunden. Helene ist die Frau, die zwar äußerlich dem Bild aller Frauen ähnelt, dann aber doch eine Sonderstellung beim Protagonisten einnimmt. Jedoch ist Helene Anders nicht die Margarete. Vielmehr gleicht sie der Helena aus Faust I und II, dem Urbild aller Frauen. Ebenso wie Helene im Schwimmbad auf- und untertaucht, so erscheint Helena Faust im Spiegel der Hexenküche und verschwindet wieder (vgl. Goethe. Faust I, V. 2429–2440). Zwar muss Max von Aue 60 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

nicht wie Faust zu den Müttern hinabfahren (vgl. Goethe. Faust II, V. 6212 ff.), um Helen abzuholen. Jedoch wohnt Helene nach dem Tod ihres Mannes wieder bei ihren Eltern. Max von Aue holt sie dort ab und wird an der Tür von ihrer Mutter empfangen (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1020). Auch entwickelt sich eine Art Beziehung zwischen von Aue und Helene, ebenso wie zwischen Faust und Helena (vgl. Goethe. Faust II. 3. Akt), doch die beginnende Euphorie über dieses neue Liebesglück stirbt ebenso wie Euphorion, der Sohn von Faust und Helena (vgl. Goethe. Faust II, V. 9887 ff.). Schließlich verlässt auch Helene Max von Aue und zieht zu ihren Eltern nach Baden (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1199), ebenso wie Helena Faust nach Euphorions Tod verlässt, um in den Hades zu Persephone, einer Toten- und Unterweltgöttin, zurückzukehren (vgl. Goethe. Faust II, V. 9940). Durch ihre Vergleichbarkeit zu Helena ist Helene Anders das eigentliche Bild der Frau, das in jeder anderen Frau gesucht wird. Deshalb ist sie den anderen Frauen, die im Roman dargestellt werden, äußerlich ähnlich. Jedoch macht sie ihr Charakter und ihre Beziehung zu Max von Aue wieder einzigartig. Clemens und Weser: Die Erlösung Clemens und Weser sind Kriminalkommissare, die von deutscher Seite aus den Mord an Aristide und Héloise Moreau, der Mutter Max von Aues und deren zweiten Ehemanns, aufklären wollen. Dabei erweisen sie sich bis zum Schluss als penetrant und hartnäckig. Die Aufklärung des Mordes wird zu ihrer Lebensaufgabe, einer fixen Idee, die sie auch dann noch beenden wollen, als der Fall längst zu den Akten gelegt worden ist und Berlin kurz vor der Kapitulation steht. Max von Aue findet schon gleich bei ihrem ersten Besuch, dass sie sich »wie zwei Cops aus einem amerikanischen Film« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1027) benehmen, außerdem bezeichnet er sie als »Karikaturen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1029). Tatsächlich beißen sich die beiden immer wieder an der Frage nach den Zwillingen Tristan und Orlando fest, wer sie sind und was sie gesehen haben. Diese Frage wird ihnen jedoch nie von Max beantwortet. Schließlich finden sie ihre eigenen Erklärungen, aufgrund derer sie Max für schuldig erachten. Als Personen mögen beide grotesk erscheinen und erinnern tatsächlich an Polizisten aus amerikanischen Filmen. Florence MercierLeca interpretiert sie vor dem Hintergrund der Orestie, die für sie das 61 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Grundgerüst des Romans darstellt, als die Erinnyen, die den Helden verfolgen. Ebenso werden sie bei ihr mit Klytämnestras Hunden verglichen. (Vgl. Mercier-Leca. Tragödie. S. 77) Clemens und Weser stellen in der Tat das personifizierte schlechte Gewissen von Max von Aue dar. Da dieser sich wahrscheinlich aufgrund seiner Kopfverletzung an nichts mehr erinnern kann, übernehmen Clemens und Weser die Erinnerung. Sie treten immer wieder, z. T. an den unmöglichsten Stellen und in unmöglichen Situationen auf. Allerdings sind sie nur für diesen bestimmten Abschnitt von Max von Aues Lebenslauf zuständig. Alle anderen Taten, die auch eines (schlechten) Gewissens bedürfen, sind von den beiden unberührt. Auch wenn Max über sein Tun und dasjenige der Anderen reflektiert, so zieht er daraus keine persönlichen Konsequenzen und es scheint ihn auch kein schlechtes Gewissen zu plagen. Die beiden Höllenhunde, Erinnyen oder Gewissensbisse, sterben am Ende. Der eine kommt beim Angriff der russischen Streitkräfte ums Leben, der andere wird letztendlich von Thomas ermordet. Das schlechte Gewissen erlischt also dank des Alter Ego. Im Gegensatz zu Faust erfährt Max von Aue keine Erlösung. Er erkennt nicht, dass das Gewissen in Gestalt von Clemens und Weser ihm die Möglichkeit zum Innehalten und Nachdenken bietet und damit auch die Möglichkeit, seinen Lebenswandel zu begreifen und zu ändern. c)

Der Teufel in Person

Auch der Teufel tritt bei Littell in Person auf. So wurde die Parallele von Thomas Hauser und Mephisto bereits betrachtet. Allerdings handelt es sich hier eher um Teufelsfiguren, denn es gibt nicht allein eine Person, die das Urböse verkörpert, sondern mehrere, die Attribute des Teufels aufweisen. Die bekannteste historische Figur mit Attributen des Teufels, die im Roman erwähnt wird, ist zweifellos Joseph Goebbels. Jedoch tritt er, im Gegensatz zu Adolf Eichmann, nie wirklich als Person im Roman auf, die der Protagonist sieht oder kennen lernt. Er hat auch keinerlei weitere Funktion für die Handlung. An verschiedenen Stellen wird Goebbels lediglich von unterschiedlichen Figuren des Romans erwähnt. Am Auffälligsten ist dabei der Hinweis auf die Deformation eines seiner Füße. So bezeichnet ihn Dr. Mandelbrod als: »unser hinkender Mephisto« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1335), wäh62 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

rend Thomas von ihm spricht als: »Goebbels, dieser widerwärtige Klumpfuß« (Littell. Wohlgesinnten. S. 642). Mit diesem typischen Attribut wird Goebbels zum Teufel gemacht. Durch die Anspielung auf Mephisto ist er derjenige, der alle Anderen verführt und ihnen den totalen Krieg aufzwingt (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 616 und 1153). Neben Goebbels finden sich aber noch viel mehr Attribute des Teufels in einer anderen fiktiven Person wieder, nämlich bei Dr. Mandelbrod. Herr Leland und Dr. Mandelbrod sind Gönner Max von Aues, die im Hintergrund wirken und in bestimmten Momenten der Entscheidung auftreten. Sie werden als Industrielle eingeführt, die viel Geld und Einfluss besitzen. So sind sie in der SS, gehören zum Freundeskreis Himmlers und haben Posten in der Kanzlei des Führers. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 628) Sie scheinen die mächtigsten Männer des nationalsozialistischen Staates, halten sich aber aus der Öffentlichkeit fern. Sogar Thomas beneidet Max um diese Kontakte. Bei einem Besuch Max von Aues bei Dr. Mandelbrod wird die Figur des letzteren klarer. Es handelt sich hier um einen ungeheuer schwergewichtigen Menschen, der in seinen Fettmassen geradezu versinkt. Ein normaler Rollstuhl reicht für ihn nicht mehr aus, sodass er in einer Konstruktion aus Sessel und Rollplattform sitzen muss. Aue vergleicht seine Erscheinung auch gleich mit einem »kolossale [n] orientalische[n] Götze[n]« (Littell. Wohlgesinnten. S. 630), was auf die Unwirklichkeit dieses Menschen hindeutet. Aber auch weitere Elemente lassen Dr. Mandelbrod unmenschlich erscheinen. So fällt Aue beim Eintreten zunächst der ausladende Schreibtisch auf, der rötlich schimmert. In der Wohnung wimmelt es von Katzen, und es verbreitet sich ein widerlicher Geruch, da Dr. Mandelbrod ständig Gase entweichen. Das Rot, die Katzen und der Gestank sind Attribute, die dem Teufel und der Hölle zugeschrieben werden. Trotz seiner massigen Gestalt hat Dr. Mandelbrod »eine […] schöne und melodische Stimme« (Littell. Wohlgesinnten. S. 629), die eine Diskrepanz zum Äußeren darstellt. Dies ist die Stimme des Verführers. Wie sich herausstellt, hat Dr. Mandelbrod sogar noch Max’ Großvater gekannt, ist sogar noch älter als dieser, der schon lange verstorben ist, und ist bis ins Detail über jeden Schritt von Max, wie auch schon von dessen Vater und Großvater, informiert. Die Stimme des teuflischen Verführers setzt dieses Wissen auch ein, denn Dr. Mandelbrod versucht, Max für seine Zwecke zu ge63 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

winnen, indem er mit Informationen über dessen männliche Vorfahren spielt, die er gezielt einsetzt. Nicht alles wird verraten, aber so viel, dass Max, der sich von seiner Mutter abgewandt hat, beginnt, sich für seine männlichen Vorfahren zu interessieren. Ziel ist hierbei, Max zu einem guten Nationalsozialisten zu machen, so wie sein Vater und Großvater dies angeblich auch schon waren. Die Absicht, die dahinter steckt, ist, Max zum Mord an den Juden anzustiften. Der Jurist, soll Karriere machen, indem er sich aktiv an der Ermordung von Menschen beteiligt. Zu diesem Zweck zitiert Mandelbrod sogar jüdische Autoren, wodurch er beweisen will, dass auch die Juden Rassisten und deshalb die größten natürlichen Feinde der Arier sind. Dr. Mandelbrods Absichten sind eindeutig unmenschlich, er setzt auf gefühlsmäßige Bindungen und moralische Verpflichtungen, um Max seine eigenen Absichten schmackhaft zu machen. Da auch das ganze Umfeld Anzeichen der Hölle aufweist, handelt es sich bei Dr. Mandelbrod um das in einer Teufelsfigur personifizierte Böse. Im weiteren Verlauf des Romans trifft Max hin und wieder auf Dr. Mandelbrod oder auch auf Herrn Leland 5. Zweck dieser Treffen ist jedes Mal, Max in die Gesellschaft der linientreuen Nationalsozialisten einzuführen. Jedoch scheint Max dies nicht zu verstehen und handelt deshalb nicht so, wie es sich seine beiden Gönner vorstellen. Namen und deren Bedeutung spielen bei Littell eine große Rolle. So kann man den Namen des Herrn Leland in Anlehnung an Charles Godfey Leland (1824–1903) sehen, der u. a. Philologe, Dichter und Mythenforscher war. Sein Werk Aradia – Die Lehren der Hexen beeinflusste die englische Literatur und führte gar zur Wiederauflebung des Hexenkultes in den angelsächsischen Ländern. Die Rolle Herrn Lelands im Hinblick auf diese Verwandtschaft scheint in Bezug auf eine Personifikation des Teufels bzw. seines Gehilfen eindeutig. Schwieriger ist es mit Dr. Mandelbrod. Sein Name kann eine Zusammensetzung aus den Namen Mandel und Brod sein, beides Ableitungen aus dem Mittelhochdeutschen. Insofern wäre die Bedeutung seines Namens: gebrechlicher/schwacher kleiner Mann. Im Lateinischen würde dies in die Nähe des Homunkulus rücken, allerdings des schwachen Homunkulus. Dies wäre er keinesfalls. Allerdings birgt er Züge des Homunkulus, nämlich eine gigantische Größe – in diesem Falle Fettleibigkeit – und das Wissen über alles Geheime und Verborgene. Vgl.: »Lorsque de tels homuncules atteignent l’âge viril ils deviennent les géants ou les pygmées et les autres hommes miraculeux qui sont les instruments de grandes choses, qui remportent de grandes victoires sur leurs ennemis, et connaissent toutes choses secrètes et cachées« (zitiert nach: De natura rerum, Oevres complètes von Paracelsus, t. II In: Roland Villeneuve. Dictionnaire du Diable. Paris 1998. S. 450).

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Der Pakt mit dem Teufel

Kurz bevor in Berlin alles zusammenbricht besucht Max die beiden ein letztes Mal in ihrem Büro. Mehr denn je erinnert die Szenerie an die Hölle, denn zwischenzeitlich hatten russische Soldaten in den Büroräumen ihr Lager aufgeschlagen. Dementsprechend sind nun »Spuren von Kochfeuern« und »fast trockene Kothaufen« (Littell. Wohlgesinnten. S. 1351) überall in der Wohnung verteilt. Das einzig Lebende im Raum sind die Katzen. Die schlafend wirkenden Leichen der blonden Assistentinnen verstärken noch diesen Eindruck eines höllischen Szenarios. Dr. Mandelbrod und Herr Leland allerdings sind weit entfernt von jeder Realität, so scheint es. Sie halten die Russen für ihre Retter und gleichzeitig auch für die Retter der Welt und sie wollen mit ihnen nach Moskau, um dort ihr Werk zu vollenden (vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 1353). Allerdings ist nach wie vor nicht klar, was ihr Werk eigentlich ist. Auch scheint es auf den ersten Blick recht naiv von beiden zu sein, sich als bekennende Nationalsozialisten dem Feind anschließen zu wollen. Jedoch sind Dr. Mandelbrod und Herr Leland vor allem die Sinnbilder für die ideologische Verführung. Sie repräsentieren die menschenfeindliche Ideologie, und insofern ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht nur einer Tendenz des Menschenfeindlichen treu bleiben, sondern sich an das anpassen, worin sie ihre Chancen sehen. So ist es nicht verwunderlich, dass, nach dem Zusammenbruch des Hitler-Staates, nun das Russland Stalins Dr. Mandelbrod und Herrn Leland erstrebenswert erscheint und ihnen anscheinend auch die Aufnahme anbietet, erweist sich doch aus historischer Sicht auch der Stalinismus als menschenverachtende Ideologie. Der Teufel Mandelbrod und sein Gehilfe Leland ziehen weiter. Sie werden nicht aufgehalten, haben keine Sanktionen zu erwarten und haben auch ihrerseits keine Skrupel, das hinter sich zu lassen, was für sie rettungslos verloren ist. Desinteressiert an jeder speziellen Ideologie, folgen sie der Ideologie, die Menschen am wenigsten würdigt. Es ist allerdings auch nicht eindeutig, ob die beiden nicht die eigentlichen Initiatoren dieser menschenverachtenden Ideologie sind. Die sich ähnelnden Frauen hingegen müssen sterben, da sie sich nur einer einzigen Ideologie verpflichtet fühlen, der sie sich angepasst haben, nicht aber der menschenverachtenden Ideologie als solcher.

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Schreiben über das Böse

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Egoismus und Schwäche als Prinzip des Bösen

»[D]as Unmenschliche […], das gibt es nicht. Es gibt nur das Menschliche, immer nur das Menschliche« (Littell. Wohlgesinnten. S. 824), bestätigt von Aue und beginnt damit eine Rechtfertigung der zur Zeit des Nationalsozialismus begangenen Taten. Das Menschliche ist aber auch für ihn durch bestimmte Verhaltensweisen charakterisiert, nämlich: »Jeder möchte seine Bedürfnisse befriedigen und bleibt gleichgültig gegenüber denen anderer« (Littell. Wohlgesinnten. S. 826). Auch ist der Mensch »egoistisch und schwach« (Littell. Wohlgesinnten. S. 826). Beide Aussagen deuten auf das generelle Menschenbild von Max von Aue hin. Altruismus ist für von Aue lediglich ein Ideal, das künstlich geschaffen wurde, damit der Mensch in Gemeinschaft leben kann, jedoch ist ihm diese Gemeinschaft eigentlich egal. Wichtig ist in erster Linie die Selbsterhaltung, die nicht nur die eigene Selbsterhaltung beinhaltet, sondern auch die Erhaltung der eigenen Familie. So werden die Grausamkeiten Vieler damit entschuldigt, dass sie ihre Familie schützen und ernähren mussten. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Anderen ist unmittelbar mit dem Egoismus der Selbsterhaltung verbunden. Wenn man nur für sich selbst sorgt, kann man auf den Anderen keine Rücksicht nehmen. Als schwach kann der Mensch tatsächlich charakterisiert werden, wenn er zwar seine eigenen Interessen vertreten kann, dies aber nicht innerhalb einer Gemeinschaft tut. So können z. B. moralische Gesinnungen zwar im eigenen Denken verankert sein, jedoch werden sie nicht in den Taten sichtbar, die man im Umkreis von anderen begeht, sei es, weil man einer Gruppe zugehören möchte oder aus anderen Gründen. Der Mensch in Gemeinschaft schließt sich hauptsächlich der geltenden Meinung an. Dies vor allem aus dem Grund, weil er nicht allein sein will. Jeder Mensch hat Angst davor, isoliert zu sein und sein Leben tatsächlich allein führen zu müssen. Vor dieser Angst kann auch der größte Egoismus nicht schützen. Die Schwäche des Menschen ist auch für von Aue der Grund dafür, dass er sich Gesetzen unterwirft. Das Leben in Gemeinschaft muss in seinen Augen ebenfalls Regeln unterworfen sein, damit der schwache Mensch weiß, wie er sich zu verhalten hat, um nicht ausgeschlossen zu werden. Dazu gibt es die Gesetze. Sie gelten als übergeordnete Instanz, welcher der Mensch sich unterwirft, um in der Gemeinschaft zu leben. Im Falle von Aues wird hier auch noch der 66 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

Führer als übergeordnete Instanz, die in von Aues Augen sinnvolle Gesetze gibt, legitimiert. Der schwache Mensch muss jemandem folgen. Allerdings ist nicht klar, woher eigentlich in diesem Falle der Führer das Wissen um die richtigen Gesetze nehmen soll, ist doch auch er zu den schwachen, egoistischen Menschen zu zählen, denn gemäß von Aues Charakterisierung ist auch der Führer keine Ausnahme. Hierüber macht sich von Aue aber keine Gedanken. Von Aue erteilt hier ebenfalls dem kategorischen Imperativ Kants eine Absage. Ist Kant doch der Überzeugung, dass jeder Mensch in sich in gleicher Weise das Bewusstsein des moralischen Gesetzes trägt, so stellt von Aue die Frage: »Welcher Mensch könnte, auf sich selbst gestellt, nur dem eigenen Urteil folgend, eine Trennungslinie ziehen und sagen, dies hier ist gut und das dort ist böse?« (Littell. Wohlgesinnten. S. 827) Damit macht er das moralische Gesetz Kants gar zu einer Fiktion; wie er im Übrigen jedes Gesetz für eine Fiktion hält, dies aber nicht weiter hinterfragt oder ausführt. Fraglich wäre dann auch, ob nicht die Realisierung jeder menschlichen Gemeinschaft eine Fiktion ist. Für von Aue ist jedenfalls klar, dass es nicht das moralische Gesetz als solches gibt, das in allen Menschen auf die gleiche Weise wirkt und ihnen somit den Weg zum richtigen Handeln weist. Würde jeder Mensch auf sich hören, so würde jeder nach einem anderen Gesetz leben. Der Mensch ist individuell und somit gibt es für von Aue keine allgemeine Grundlage, der der Mensch folgt. Insofern ist es nur konsequent, wenn von Aue eine Gesellschaft, die nicht von übergeordneten Gesetzen bestimmt wird, als wilde, ungesteuerte Gesellschaft sieht und diesen Zustand mit dem Hobbes’schen Zustand des Krieges, »den jeder Einzelne gegen jeden führt« (Hobbes. Leviathan. S. 99), vergleicht. So individuell wie die Gesellschaften, so individuell sind auch deren Gesetze, und wenn ein Gesetz für eine Gesellschaft richtig und gut ist, so ist es dies nicht unbedingt für die andere. Auch hier ist keine Allgemeingültigkeit erreichbar. Gesetze gelten begrenzt. Dies gilt für von Aue auch in moralischer Hinsicht. Deshalb sind die Beurteilungen des Handelns eines Menschen in Gut oder Böse allein aufgrund von dessen Wirkung zu erteilen. Der Mensch selbst kann nicht als guter oder böser Mensch beurteilt werden, auch sein Handeln nicht, denn wie oft komme es vor, dass jemand aus bestem Wissen und Gewissen handelt, die Wirkungen jedoch fatal sind. Da der Mensch für von Aue egoistisch und schwach ist, kann sein Charakter an sich eigentlich auch gar nicht nach den Kategorien gut und böse 67 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

beurteilt werden. Jedoch äußert er sich nicht dazu, aufgrund welcher Kriterien der Mensch eigentlich beurteilt werden sollte. Oberflächlich betrachtet erscheint von Aues Argumentation nachvollziehbar. Jedoch vergisst er, dass viele Menschen sich Gedanken über ihr Handeln machen und dies durchaus als gutes oder böses Handeln einschätzen können. Insofern sind sie sich der Konsequenzen ihrer wie auch immer gearteten Handlungsweisen bewusst und handeln trotz des zu erwarteten Schadens in der vorgesehenen Weise. Auch gibt es viele Egoisten, die nicht bereit sind, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Dabei spielt die von von Aue genannte Schwäche keinerlei Rolle. Für von Aue ist lediglich wichtig, dass der schwache, egoistische Mensch dem Gesetz oder im Falle Nazi-Deutschlands dem Führer gehorcht. Insofern ist auch der Soldat der Gehorchende par excellence, der keinen Willen hat und nur allein der Zufall macht ihn zum Helden oder zum Mörder. (Vgl. Littell. Wohlgesinnten. S. 828) Gehorcht der Soldat nicht, ist er von der Gemeinschaft ausgeschlossen, denn er sagt sich von deren Gesetzen los. Er wird zum Deserteur. Der Zufall bestimmt also Max von Aue zufolge die Sieger und die Verlierer eines Kampfes oder eines Krieges und es ist dann nur natürlich, dass der Sieger bestimmt, was geltendes Recht ist, um dann den Verlierer zum Mörder zu machen. Jedoch fühlt sich der Verlierer nicht an Recht und Gesetz des Siegers gebunden, da er innerhalb seiner Gemeinschaft andere Gesetze hat. Insofern kann der Verlierer die Gesetze der anderen nicht akzeptieren und fühlt sich – wenn man dieser Argumentation folgt – unschuldig. Hier vergisst aber von Aue, dass es trotz der fiktionalen gemeinschaftlichen Gesetzgebung noch ein ethisches Gesetz gibt, das jeden Menschen mit dem anderen verbindet. Auch wird das Recht eines jeden auf freie Meinungs- und Willensbildung und –äußerung übergangen. Die Devise »Die Menschen brauchen Führung, dafür können sie nichts« (Littell. Wohlgesinnten. S. 829 f.), mit der sich von Aue den Totalitarismus des »Dritten Reichs« schönredet, ist von Grund auf falsch, da sie das übergeht, was jeden Menschen zum Menschen macht, nämlich seine Willens- und Handlungsfreiheit, die weiterhin besteht, auch wenn der Mensch schwach ist und sich aus Angst oder Unsicherheit den vorherrschenden – falschen – Meinungen anschließt. Aufgrund dieser falschen Beweisführung von Aues ist auch zu verstehen, dass Menschen zu Zahlen und Dingen gemacht werden, die entmenschlicht und nur noch rein technisch betrachtet werden. 68 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

Diese Art des Denkens und Argumentierens, die durch von Aue vorgestellt wird, nennt Stangneth das »Denken ohne Maß [und] Redlichkeit« (vgl. Stangneth. Denken. S. 244), das in sich böse ist, auch und gerade, wenn es von Intellektuellen praktiziert wird.

Die Gefahr der falschen Zugehörigkeit Fausts Problem, nämlich das des Intellektuellen, der sich im praktischen Leben nicht zurechtfindet und keine dauerhafte Beziehung zu seinen Mitmenschen aufbauen kann, zeigt sich auch in Littells Roman. Max von Aue interessiert sich zwar für Literatur und Kunst und ist eigentlich ein schöngeistiger Mensch. Durch seine Lebensumstände wird er aber in ein Leben gezwungen, in dem er sich nicht zurechtfindet. Hier trifft er auf Thomas, der ihn in die nationalsozialistische Gesellschaft einführen will. In gewisser Weise gelingt dies auch, vor allem im Hinblick auf die Karriere, die Max von Aue innerhalb dieses Regimes macht. Allen anderen gesellschaftlichen Konventionen und Spielregeln des Nationalsozialismus gegenüber hält er sich jedoch zurück. Er wird zum Mitläufer, dessen Desinteresse an Anderen diesmal nicht dazu führt, dass er der Gesellschaft, der er sich anschließt, Böses tut. Vielmehr schließt er sich durch sein Mitläufertum einer Gesellschaft an, die Andere radikal ausrottet und damit das größtmögliche Verbrechen an der Menschheit und der Menschlichkeit selbst begeht, und somit jeder Ethik zuwider läuft. Ebenso wie Faust und Blanche, hält sich auch Max von Aue in seiner eigenen Welt auf, die ihn nicht ausfüllt. Auch er beschäftigt sich lieber (geistes-) wissenschaftlich als praktisch und findet so keinen wirklichen Zugang zum Leben selbst und zum Leben mit Anderen. Allen Protagonisten ist gemein, dass sie keinen richtigen Umgang mit sich und den Anderen pflegen können. Im Verlauf der Werke unternehmen sie eine Reise in die – oder ihre – Unterwelt. Angeleitet vom bösen Anderen lernen sie entweder das Böse kennen oder aber sie vollbringen es selbst. Dies ist auch der Fall, wenn sie es nicht selbst praktizieren, sondern es befehligen oder nur dabei zusehen ohne einzuschreiten. Doch selbst am Ende ihrer Reise haben sie nichts gelernt. Keiner der vorgestellten Protagonisten ist am Ende fähig, normale oder dauerhafte Beziehungen mit anderen Menschen aufzubauen. Dies mag an der Gesellschaft liegen, in die die Protagonisten 69 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

integriert werden wollen. Da einzelne Charaktere nicht vertieft sind, erscheint die dargestellte Gesellschaft als oberflächlich, naiv und teilweise auch dümmlich. Dies ist der Fall bei Frau Marthe Schwerdtlein im Faust, bei den Studenten in »Böses Mädchen« und erst recht bei der nationalsozialistischen Gesellschaft der »Wohlgesinnten«. Dem Intellektuellen kann diese Gesellschaft nicht genügen, denn es fehlt ihr an Tiefgang und Reife. Die beschriebene Gesellschaft stellt das Mittelmaß dar, über das sich der Intellektuelle erhebt. Aber gerade deshalb ist es schwer für ihn, sich zu integrieren, denn er fühlt sich ausgestoßen, da er mehr weiß als der Durchschnitt. Wer sich aber ausgeschlossen fühlt, droht sich gegen die anderen Menschen zu wenden und böse zu werden (vgl. Guardini. Lebensalter. S. 69). Die scheinbare Oberflächlichkeit einer Gesellschaft erleichtert es, dass sie manipuliert werden kann und sich manipulieren lässt. Dies lässt sich leicht ausnutzen, den die Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, erscheinen als eine gleichförmige Einheit, in der sich jeder nach gleichen Mustern verhält. Folglich scheint die gesamte Einheit sich gleich zu verhalten. Sie wird also analysierbar und ihr Verhalten vorhersehbar. Wer sich in gleicher Weise verhält, kann auch in gleicher Weise behandelt werden. Dieser Logik entsprechend, scheint es einfach zu sein, diese Einheit zu beeinflussen. Dabei wird immer wieder vergessen, dass auch die Gesellschaft aus Individuen mit unterschiedlichen Persönlichkeiten besteht und dass jede Persönlichkeit auch ihre Tiefe hat. Als Gemeinschaft mögen sich all diese Persönlichkeiten anders verhalten, als sie es allein tun würden. Jedoch wird die Individualität des Einzelnen nicht berücksichtigt und insofern erscheint die in den hier behandelten literarischen Texten dargestellte Gesellschaft nicht als erstrebenswerte Gemeinschaft. Welche Fehler die Gemeinschaft der Menschen oder eine bestimmte Gesellschaft auch haben mag – und dies ist immer in einer Gemeinschaft impliziert, denn Menschen haben ihre eigenen Persönlichkeiten –, so ist dennoch immer auch das Individuum selbst dafür verantwortlich, ob und in welcher Weise es einer Gemeinschaft zugehören will. Im Falle der drei Protagonisten handelt es sich um intelligente Menschen, die sich theoretisch mit der Welt beschäftigen. Sie stellen den Typ des Intellektuellen und somit des Gelehrten dar und können somit über Dinge, Menschen oder Ereignisse nachdenken, um sie zu interpretieren, sie zu analysieren und schließlich Lösungen zu finden. Sie sind kritisch und reflektiert und können sich 70 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Pakt mit dem Teufel

ihrer Vernunft bedienen. Insofern müssten sich Faust, Blanche und Max von Aue intellektuell mit ihrer Situation als Außenseiter auseinandersetzen und zu einer Lösung gelangen, die sie in die Gesellschaft Anderer bringt. Hier aber versagen alle drei. Der böse Andere oder auch das Böse, das vollbracht wird, steht hier für die falsche Vorstellung, die sich der Einzelne von der Integration in eine Gemeinschaft macht. Gleichzeitig steht das Böse für die falsche Vorstellung, die sich der Einzelne von seinem eigenen Verhalten als in einer Gesellschaft Integrierter macht. Der Pakt mit dem Teufel führt zudem in den erwähnten Werken immer zu einer Veränderung der eigenen Persönlichkeit. Faust wird verjüngt, das heißt ihm wird die Zeit geschenkt, die er braucht, um all seine Wünsche zu erfüllen. Er ist dann nicht mehr der alte Gelehrte, der in seinem Leben keinen Sinn mehr findet und es beenden will. Vielmehr probiert er sich aus und wird in der Welt tätig, was vor seiner Verjüngung nicht der Fall war. Blanche schließt sich zwar anderen Menschen an, aber ihre hehren Vorstellungen von der einzig wahren Liebe oder der absoluten Freundschaft, die alles trägt und versteht, entsagt sie damit. Sie verzichtet auf die emotionale Tiefe im Leben zugunsten einer desinteressierten Oberflächlichkeit. Max von Aue schließlich verliert sich in Heimlichkeiten. Statt seine intellektuellen Fähigkeiten einzusetzen und seine persönlichen Interessen auszuleben, versteckt er seine wahre Persönlichkeit hinter Fassaden. Dies geht soweit, dass er in seinem zweiten Leben sogar seine deutsche Identität verleugnet. Letztendlich werden die hier erwähnten literarischen Personen durch den Pakt mit dem Teufel dazu verleitet, ihr Wesen zu verändern und falsche Zugeständnisse zu machen, die dann aber auch ihre Integration tatsächlich verhindern. Denn letztendlich konnte keiner der drei Protagonisten seine Persönlichkeit in die Gesellschaft einbringen und jeder bleibt allein. Diese drei Protagonisten verdeutlichen, dass es niemandem darum gehen sollte, um jeden Preis in einer Gesellschaft aufgenommen zu werden. Vielmehr sollte man sich seiner Stärken und Schwächen und seiner eigenen Interessen bewusst werden und diese mit anderen Menschen teilen.

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Schreiben über das Böse

2.

Der künstliche Mensch

Die Verführung des Menschen durch den Pakt mit dem Teufel lässt den Menschen selbst kreativ werden, wie dies bei Goethe im Faust II verdeutlicht wird. Der Teufel bringt anscheinend erst das Göttliche im Menschen, nämlich das Durchführen eines eigenen Schöpfungsaktes, hervor. Faust selbst erschafft neues Land, das er dem Meer abtrotzt. Aber auch der Traum des Menschen, ein eigenes Wesen, einen künstlichen Menschen selbst zu erschaffen, wird im Faust II thematisiert. Im 2. Akt der Tragödie zweiter Teil erschafft Fausts ehemaliger Famulus Wagner, der nun selbst zum großen Gelehrten geworden ist, den Homunculus. Dieser ist ein kleiner Mensch, der alle menschlichen Eigenschaften besitzt, aber nur in einer Phiole überleben kann. Allein in dieser kann er sich fortbewegen. So ist es sein größter Wunsch, aus der Phiole herauszukommen und zu entstehen. Während der klassischen Walpurgisnacht schließt er sich allen möglichen mythischen Figuren an in der Hoffnung, dass sie ihm helfen können. Letztendlich aber verglüht er im Meer, um von dort aus den normalen Gang der Entstehung aller Lebewesen zu gehen. Trotzdem bleibt es ein alter Traum des Menschen, ein vom Menschen gemachtes Wesen zu schaffen, das nicht natürlich entsteht und geboren wird. Dieser findet sich in vielen Variationen in der Literatur und inzwischen auch im Film wieder. In der griechischen Mythologie existiert der Mythos von Pygmalion, der sich eine künstliche Frau fertigt, die seinen Ansprüchen genügt, da er die ihn umgebenden Frauen nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Mit dieser lebt er glücklich bis an sein Lebensende. George Bernard Shaw betitelt sein Drama nach diesem Mythos ebenfalls Pygmalion, welches als das Musical My Fair Lady bekannt wurde. Hier geht es allerdings darum, dass eine Frau aus der Arbeiterklasse zur Lady erzogen wird. Anlass hierzu ist eine Wette, nach deren Gewinn sich niemand mehr für die Zukunft der Eliza Doolittle interessiert. Ähnliches sehen wir im Film Pretty Woman, wo eine Prostituierte in die reiche, amerikanische Gesellschaft eingeführt wird, nachdem ein Millionär ihr Kleider gekauft und Manieren beigebracht hat. In den hier aufgezählten Beispielen geht es zwar um lebendige Frauen, die neu geschaffen werden, indem sie von einem Mann erzogen werden, damit sich ihre soziale Stellung verbessert. Insofern werden aber auch sie zu künstlichen Kreaturen eines männlichen Schöpfers. 72 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der künstliche Mensch

Der Traum von der tatsächlichen Erschaffung eines künstlichen Menschen oder einer Art künstlichen Kreatur wird sehr häufig auch verbunden mit der Warnung vor den Geistern, die man ruft und die man dann nicht mehr los wird (vgl. Goethes Zauberlehrling). Inzwischen ist die Diskussion über das Können der vom Menschen geschaffenen künstlichen Intelligenz in der Realität und in der Philosophie angekommen. Die literarischen Verarbeitungen zeigen einerseits den Wunsch des Menschen, selbst zum Schöpfer und damit zum alleinigen Beherrscher des Geschaffenen zu werden. Andererseits dienen sie auch immer wieder als Warnung vor eben dieser Hybris, denn der menschliche Schöpfer ist aus verschiedenen Gründen zum Scheitern verurteilt. Besonders aussagekräftig sind in der Literatur und im Film in dieser Hinsicht Variationen der Golem-Legende. 6

Der Golem Die Legende vom Golem kennt viele Ausprägungen und geht auf unterschiedliche Traditionen zurück. Der Begriff ›Golem‹ steht für das Unfertige. Moshe Idel spricht von der ursprünglichen Bedeutung ›ungeformt‹ (Idel. Golem. S. 19), die im Verlauf der Zeit jedoch eine Wandlung erfahren hat. Auch weist er auf die Bedeutung im Hebräischen hin, nämlich die Bezeichnung für den unverheirateten Menschen – egal ob Mann oder Frau (vgl. Idel. Golem. S. 337). Erst seit Beginn des 13. Jahrhunderts wird der Begriff Golem in der Bedeutung des vom Menschen künstlich geschaffenen Menschen verwendet. Moshe Idel legt diese letzte Bedeutung in seinem Werk Der Golem. Jüdische magische und mystische Tradition des künstlichen Anthropoiden dar und weist auf deren unterschiedliche Interpretation und Deutungsweise hin. Es geht ihm dabei zwar nicht um die Entwicklung der Legende, die zum literarischen Topos geworden ist, und deren mannigfaltige Variation, dennoch geben seine Studien

Jean-Paul Engélibert verweist sogar darauf, dass die Legende von Faust und die Legende vom Golem nahezu zur selben Zeit entstanden seien und auch bedeutsame Parallelen aufweisen. Allerdings fehle der Golem-Legende das Diabolische und sie sei Ausdruck des göttlichen Wissens, das durch den Menschen in Form eines notwendigerweise nicht perfekten Lebewesens realisiert werde. (Engélibert. L’Homme. S. 13)

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wichtige Hinweise auf die Entstehung und grundsätzliche Motive dieser Legende. Uns geht es an dieser Stelle nicht um eine Zusammentragung oder erneute Kommentierung hebräischer Schriftstücke, sondern um ein Verständnis für die Bedeutung dieser Legende für das tägliche Leben und den Umgang damit. Dies soll anhand verschiedener literarischer Fassungen und einer Verfilmung beleuchtet werden. a)

Tradition und Elemente

Gemäß Moshe Idel stammt die Vorstellung, einen künstlichen Menschen zu schaffen, bereits aus der Antike. Er verweist auf ägyptische, römische und patristische Beispiele, in denen das Beleben von Statuen eine wichtige Rolle spielt. (Vgl. Idel. Golem. S. 41) Auch erklärt er die Bedeutung des Begriffes der Wahrheit in der griechischen und jüdischen Tradition anhand des Diktums »Die Wahrheit steht fest, die Lüge steht nicht fest« (Idel. Golem. S. 42) und der dazu gehörigen Fabel von Phaedrus über Prometheus. In letzterer zeigt sich die Lüge als Statue, die der Statue der Wahrheit nachgeahmt wurde, aber ohne Füße und deshalb nicht fähig, zu stehen. Schließlich zitiert er eine Legende um die Person des Simon Magus, der einen künstlichen Jungen geschaffen haben soll. (Vgl. Idel. Golem. S. 44) Diese Geschichten und Legenden von nicht weiter lebensfähigen künstlichen Anthropoiden werden erweitert durch das Buch Sefer Jezira, einer kosmogonischen und kosmologischen Abhandlung, die nicht genau datiert werden kann, jedoch, laut Idel, Ideen ausweist, die bereits aus dem 2. Jahrhundert nach Christus stammen können. (Vgl. Idel. Golem. S. 61, Anm. 1) Es handelt sich hierbei um ein mystisches Werk, in dem davon ausgegangen wird, dass durch Buchstabenkombinationen und den Namen des Schöpfers alles Materielle geschaffen werden kann. (Vgl. Idel. Golem. S. 49 ff.) Dieses Werk ist federführend für die später in der Legende und in der Literatur erwähnte Technik, die zur Schaffung des künstlichen Menschen eingesetzt wird, auch deshalb, da Idel zufolge, im Sefer Jezira bereits von der Erschaffung eines Golem die Rede sein soll. (Vgl. Idel. Golem. S. 50) Als dritte antike Quelle zitiert Idel Talmud und Midrasch. Aus dem Talmud, besonders der Sanhedrin-Passage, stammt die Bedeutung der Sprachlosigkeit des Golem. Der Golem ist als vom Menschen erschaffene Kreatur ein unvollständiges Wesen. Diese Unvollständigkeit zeigt sich nun darin, dass ihm das fehlt, was ihn eigentlich zum 74 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Menschen machen würde, nämlich neben der Sprache auch noch die Seele. (Vgl. Idel. Golem. S. 72 ff.) Der Mensch ist also nicht fähig, tatsächlich Seinesgleichen zu schaffen. Selbst wenn er ein Wesen schaffen könnte, das ihm ähnlich wäre, so wäre es ihm doch nicht gleich oder ebenbürtig. Das Wesen wird immer Mängel aufweisen und diese Mängel werden immer in dem liegen, was den Menschen eigentlich zum Menschen werden lässt. Auf die Ähnlichkeit des Schöpfungsvorgangs des künstlichen Menschen mit der Erschaffung Adams wird mit Hilfe der Midraschsammlung Leviticus Raba und des Midrasch Abkir aufmerksam gemacht. (Vgl. Idel. Golem. S. 81 ff.) In beiden Werken wird Adam als Golem bezeichnet und auf seine Erschaffung aus Staub verwiesen. Idel bemerkt auch, dass die unterschiedlichen Thematiken, nämlich belebte Statuen, Bedeutung des Begriffs ›Wahrheit‹, Technik der Erschaffung, Sprachlosigkeit des Wesens und Erschaffung aus Staub, respektive Erde, bei den Autoren des Mittelalters miteinander kombiniert wurden (vgl. Idel. Golem. S. 81), und das Interesse an der Gesamtthematik der Erschaffung des künstlichen Menschen im 16. und 17. Jahrhundert sowohl bei jüdischen als auch bei christlichen Autoren deutlich zunahm (vgl. Idel. Golem. S. 249). Dabei sei das Motiv des künstlichen Anthropoiden als Beweis der »unübertroffenen Errungenschaften der jüdischen Mystik« (Idel. Golem. S. 361) eingeführt worden. Zur Legende wurde die Thematik erst im 16. Jahrhundert (vgl. Idel. Golem. S. 303), wobei sich seit dem 19. Jahrhundert die Version durchgesetzt hat, dergemäß Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel, der sogenannte MaHaRaL, aus Prag als Erschaffer des Golem auftritt (vgl. Idel. Golem. S. 361). Allerdings geben die Schriften Jehuda Löws keinerlei Hinweise darauf, dass er mit dem ›tatsächlichen‹ Schöpfer des Golem in Verbindung gebracht werden könne. Aus dem Zusammenschluss der erwähnten Traditionen lassen sich nun die grundsätzlichen Elemente für die Legende zusammenstellen: Der Golem ist ein Wesen, das zunächst von einem weisen Mann oder Gelehrten aus Staub oder Erde in Form eines Menschen erstellt wird. Bei der Erweckung der Erdgestalt zum Leben hat der weise Mann einen oder mehrere Gehilfen. Durch Anwendung verschiedener Buchstabenkombinationen sowie des hebräischen Wortes für ›Wahrheit‹ – emet – wird der Golem belebt. Jedoch fehlt dem Golem die Fähigkeit zu sprechen und somit fehlen ihm Verstand, Vernunft und Seele. Er wird zum Diener des Gelehrten, gerät jedoch 75 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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außer Kontrolle und wird zur Gefahr für seinen Schöpfer und für andere. Letztendlich muss er zerstört werden. Die Zerstörung kann nur durch die Umkehrung des Schöpfungsprozesses vollbracht werden. Es gibt verschiedene Gründe für die Entstehung und Verbreitung der Legende vom Menschen schaffenden Menschen. Aus historischer Sicht gibt Moshe Idel einen Erklärungsversuch. Wie wir bereits gesehen haben, lässt sich das Interesse am Golem im 16./17. Jahrhundert für ihn darauf zurückführen, dass anhand der GolemGeschichte die Unübertroffenheit der jüdischen Mystik dargestellt werden sollte (vgl. Idel. Golem. S. 81). Einer Interpretation, dergemäß der Golem als der Retter aus Krisensituationen verstanden wird, kann Idel nicht folgen, da er gerade in den im Mittelalter entstandenen Texten die Rettungssymbolik nicht vorfinden kann. (Vgl. Idel. Golem. S. 367) Auch sieht er in der mystischen und magischen Literatur keinerlei Hinweise auf eine Verwendung des Golem etwa als Dienstbote eines Gelehrten, noch auf dessen etwaige dämonische Züge. (Vgl. Idel. Golem. S. 373) Der Golem, der in den Überlieferungen keinerlei Charakteristika aufweist, ist für Idel »eine abstrakte Idee« (Idel. Golem. S. 374) und somit ein Beweis für die göttliche Ordnung und die Erhabenheit des Gelehrten. b)

Historischer Überblick

Gershom Scholem gibt in seinem Aufsatz Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen einen historischen Überblick hinsichtlich der literarischen und mystischen Figur des Golem. Er verweist auf verschiedene Überlieferungen, die zur Entstehung der modernen Golem-Legende beigetragen haben. Dabei geht er auf diverse Darstellungen der Erschaffung des Adams ein, der selbst in einem bestimmten Stadium als Golem bezeichnet wird (vgl. Scholem. Golem. S. 211), sowie auf die Überlieferungen des Talmud über Rabah, der einen Golem schuf (vgl. Scholem. Golem. S. 218), und R. Chanina und R. Oschaja, die nach den Studien des Buchs der Schöpfung ein Kalb schufen und dies verzehrten (vgl. Scholem. Golem. S. 218 f.). Jedoch weist er hier wie auch später immer wieder darauf hin, dass diese Beispiele der Erschaffung eines künstlichen Wesens von Magie in einer »durchaus erlaubten Form« (Scholem.

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Golem. S. 219) zeugen, und das erzeugte Wesen keinerlei weitere Funktion habe, denn als Mittel zum Zweck seines Herstellers diene. Viele verschiedene Motive aus anderen Auslegungen schließen sich im Laufe der Jahrhunderte zusammen, wie z. B. der Gebrauch des Wortes emet – Wahrheit, der aus dem Pseudo-Saadia Kommentar zum Buch Jezira entstammt (vgl. Scholem. Golem. S. 233), das Motiv der Warnung vor der künstlichen Erschaffung eines Menschen eines Pseudepigraphon des Juda ben Bathyra (vgl. Scholem. Golem. S. 235) oder das Motiv der magischen Belebung des Golem durch das Aussprechen oder die Verschriftlichung des Gottesnamens, wie dies im Talmud erwähnt wird (vgl. Scholem. Golem. S. 236 f.). Aber auch in den letzterwähnten Texten ist das erschaffene Wesen wieder nur Mittel zum Zweck und hat keinerlei eigenständige Funktion. Vielmehr ist seine Erschaffung Teil einer mystischen Erfahrung, die der Gelehrte erlebt (vgl. Scholem. Golem. S. 239, 244 f.). Laut Scholem entwickelt sich die Golem-Legende, so wie sie von Jakob Grimm 1808 in der Zeitung für Einsiedler wiedergegeben wird (vgl. Scholem. Golem. S. 210) – und die in den Hauptmotiven der Geschichte Brentanos gleicht – erst ab dem 16. Jahrhundert und zwar im deutschen und im polnischen Judentum (vgl. Scholem. Golem. S. 251). Hier fließen nach und nach alle Motive zusammen und vermischen sich mit esoterischen Traditionen (vgl. Scholem. Golem. S. 251). Es werden aber auch bekannte Persönlichkeiten zu Schöpfern des Golem gemacht (vgl. Scholem. Golem. S. 251), wie eben zum Beispiel der Prager Rabbi Jehuda Löw. Diese Legenden verbreiten sich vor allem im deutschsprachigen Raum und erfreuen sich großer Popularität. Im 17. und 18. Jahrhundert erfährt die Legende noch eine Erweiterung um das Unheimliche, denn hier wird das Motiv der Knechtschaft des Golem eingeführt (vgl. Scholem. Golem. S. 256). Der Golem erhält also als Figur eine Funktion, die ihn zu etwas Einzigartigem macht, er wird personifiziert und erhält einen (Lebens-) Sinn. Jedoch wird der Golem so zur Gefahr für die anderen, denn ihm erwachsen nun Kräfte, die weder er noch andere kontrollieren können und deren Ursprung ungeklärt und von daher unheimlich ist. Die Magie, die ursprünglich allein der mystischen Erfahrung dienen soll, wird nun zur gefährlichen, zur schwarzen Magie. Scholem begnügt sich mit diesen historischen Ausführungen, die zur Entstehung der Legende beitragen. Einer psychologischen oder gar philosophischen Deutung enthält er sich, überlässt es eben-

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falls anderen, in der Golem-Legende ein »Symbol der Seele« oder »des jüdischen Volkes selber« (Scholem. Golem. S. 259) zu sehen.

Literarische Ausführungen Im Folgenden werden ausgewählte Erzählungen der Legende vom Golem vorgestellt und ausgedeutet. Dabei wird die wohl bekannteste Variante des Golem von Gustav Meyrink außer Acht bleiben, da es sich hier um eine Erzählung handelt, die nicht den klassischen Golem-Motiven entspricht. Die grundsätzliche Struktur des Golem-Mythos besteht, wie wir oben ausgeführt haben, darin, dass ein Rabbi unter Mithilfe mindestens eines Schülers aus Lehm die Gestalt eines Menschen formt und diese zum Leben erweckt. Der Golem wird daraufhin zum stummen Diener des Rabbi. Jedoch lehnt sich dieser stumme Diener gegen seinen Herrn auf und wird zur Gefahr für die Menschen, die im Judenviertel leben. Letztendlich zerstört der Rabbi den Golem wieder. Der Golem ist zwar ein Wesen aus der jüdischen Sagentradition. Allerdings gibt es in unterschiedlichen Kulturkreisen verschiedene Varianten der Golem-Thematik, die nicht das spezifisch Jüdische dieser Geschichte im Blick haben. Insofern ist die Legende vom Golem und somit die Erzählung vom künstlichen Menschen in die Weltliteratur eingegangen. a)

Brentanos Golem

In der Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen Kabbala gibt Clemens Brentano, anders als der Titel der kleinen Schrift es vermuten lässt, keinerlei Begründung dafür, warum der Golem geschaffen wird. (Vgl. Brentano. Golem. S. 59) Lediglich die Art und Weise des Schaffensvorganges wird dargelegt, die der biblischen Erschaffung des Menschen sehr ähnlich ist. Auch der Golem wird aus Lehm geformt, anstatt aber den Atem Gottes erhält er das Wort anmath – Wahrheit als Zeichen auf seine Stirn und ein Wort, nämlich die kabbalistische Schöpfungsformel schemhamphoras wird ausgesprochen. Durch diese Schöpfungsformel wird die natürliche Schöpfung des Menschen zwar imitiert, gleichzeitig aber auch pervertiert, denn der Mensch bedient sich nicht einer natürlichen Schöpfer-

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kraft, sondern einer Art Geheimlehre – quasi einer Art Zauberformel, einer Art schwarze Magie – um das neue Leben zu erwecken. Es geht sicherlich zu weit, die Kabbala mit schwarzer Magie zu vergleichen – insofern es sich aber um Wissen handelt, das im Verborgenen weitergegeben und praktiziert wird, handelt es sich bei beiden um etwas Verborgenes und deshalb ist es für Nicht-Eingeweihte ominös. Dieses Wissen steht nicht der Allgemeinheit zur Verfügung und ihm haftet auch deshalb der Anschein des – von Gott – Verbotenen an. Auch der Golem selbst scheint etwas Verbotenes zu sein, da er in Gestalt eines Menschen auftritt, jedoch keiner ist. Brentano nennt ihn gar das »Äußerlichkeitsgespenst« (Brentano. Golem. S. 59). Einerseits ist der Golem eine Täuschung; denn hier wird Menschlichkeit vorgestellt, die keine ist, um das Verbotene, das Neue vor anderen Menschen zu verstecken. Andererseits ist dieser ›neue Mensch‹ leer und hohl. Nichts füllt ihn aus, er hat keinerlei Eigenschaften und keine Eigenständigkeit. Umso mehr stellt sich die Frage, warum und wozu er geschaffen wurde. Diese Frage wird aber bei Brentano nicht beantwortet. In Brentanos Version wächst der Golem sehr schnell, obwohl oder gerade weil er keinen inneren Kern besitzt. Er muss getötet werden, bevor er zu groß für seinen Meister und somit zu einer Gefahr für diesen wird. Denn sobald der Golem den Menschen überragt, wird er für ihn zum Tyrannen. Um den Golem zu töten, muss man ihm die erste Silbe des Wortes anmanth – also das ›an‹ – wegwischen; das Wort manth bedeutet Tod und führt auch zu selbigem. Der Vorgang des Wegwischens ist in diesem Fall auch nur dann möglich, wenn der Golem seinen Meister noch nicht überragt. Brentano erzählt von dem Fall, als ein Rabbi den Zeitpunkt verpasste und nur durch eine List der Tyrannei des künstlichen Wesens zu entkommen hoffte. Er bat ihn, ihm beim Ausziehen der Stiefel behilflich zu sein und wischte das ›an‹ weg, als sich der Golem zu ihm niederbückte. Allerdings wurde der Rabbi daraufhin von den gewaltigen Lehmmassen des nicht mehr belebten Golem erschlagen. »Alle falsche äußerliche Kunst erschlägt endlich ihren Meister« (Brentano. Golem. S. 59), stellt Brentano als Quintessenz der GolemLegende heraus. Und »die wahre Kunst, welche die Schöpfung selbst ist, ist ewig« (Brentano. Golem. S. 59). Mit diesen Gedanken formuliert Brentano den Unterschied zwischen Kunst und Künstlichkeit, 79 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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wobei das, was er die wahre Kunst nennt, einzig Gott vorbehalten bleibt. Nur Gott überblickt das Gesamte der Schöpfung, die ihm niemals über den Kopf wächst, wie es umgangssprachlich heißt. Der Mensch aber beherrscht sein Werk nicht vollständig, sondern nur so lange, bis er es wieder tötet, denn im umgekehrten Falle tötet es ihn. Das Künstliche ist für den Menschen unüberblickbar und vor allem seine Wirkung ist unabsehbar. So verstanden weist die GolemLegende auf die Gefahr hin, die für jeden Menschen von dem ausgeht, was er eigenmächtig erschafft, wenn er die Konsequenzen nicht berücksichtigt. Das Künstliche scheint bei Brentano ein Begriff zu sein, der sehr weit gefasst ist. Insofern wäre alles, was der Mensch schafft, von vorneherein eine mögliche Gefahr für ihn. Dies ist ein recht pessimistisches Bild, das von den kreativen Fähigkeiten des Menschen gezeichnet wird. In letzter Konsequenz würde dies zu der Annahme führen, dass der Mensch eher nichts tun und entwickeln sollte, da es ihn letztendlich einholt und buchstäblich erschlägt. Jeder mögliche Fortschritt und jede Entwicklung wären somit im Voraus negativ bewertet. b)

Jüdische Erzählungen

In einer anderen Legende wird der Akzent auf einen weiteren Aspekt gelegt. In Der Prager Golem. Jüdische Erzählungen aus dem Ghetto wird von der Erschaffung, der Vernichtung und vom Grund für die Vernichtung des Golem berichtet. Die Erschaffung des Golem wird hier motiviert durch die Tatsache, dass das jüdische Volk im Prager Ghetto in Gefahr ist. Es wird von einem antisemitischen Geistlichen mit einem Pogrom bedroht. In seiner Not wendet sich der sagenumwobene Rabbi Löw an Jahwe, der ihm den Befehl erteilt einen Golem zu schaffen. Einerseits finden wir hier einen Auftrag Gottes, der am Anfang der Golem-Legende steht. Es ist nicht der Rabbi selbst, der aus eigenem Wunsch heraus dieses künstliche Wesen schaffen will. Er gehorcht einem Befehl von Gott. Somit ist er eigentlich von vorneherein bar jeder Verantwortung für das, was aus der Erschaffung des Künstlichen resultieren wird. Andererseits ist die Schaffung des Golem motiviert, und somit ist auch seine Aufgabe, der Grund für seine Schöpfung, klar vorgegeben: Der Golem soll alle Antisemiten vernichten und dem Rabbi Löw dienen. Auch hier führt wieder ein besonderes Ritual dazu, dass der 80 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der künstliche Mensch

Golem zum Leben erweckt wird. Dieses erinnert aber nicht so sehr an schwarze Magie, sondern eher an einen kultisch-religiösen Ritus, denn der Schöpfer und seine Helfer müssen sich zunächst einer Buße unterziehen, Andacht halten und Psalmen beten, bevor sie ans Werk gehen können. Der Golem wird hier auch dadurch belebt, dass ihm der auf ein Papier geschriebene Name Gottes in den Mund gelegt wird und in Erinnerung an die Erschaffung Adams die Worte aus der Thora wiederholt werden. All dies gleicht einer Legitimation des künstlichen Wesens, da hier auf göttlichen Befehl gehandelt und die Schöpfung Gottes nachgeahmt wird. Der Golem wird als »Scheinmensch« (Prager Golem. S. 45) betitelt, da er in allem den Menschen gleicht, aber nicht sprechen kann. Er wird auch als Mensch unter den Juden eingeführt, erhält den Namen Josef und wird damit personifiziert. Außer dem Rabbi Löw und seinen Helfern weiß niemand, um wen es sich bei dem Golem wirklich handelt. Josef, der Golem, soll nun allen Befehlen des Rabbi gehorchen. Dieser beschäftigt ihn täglich, indem er ihm einen Tagesplan macht, damit er weiß, was er zu tun hat. Problematisch wird es an dem Tag, als der Rabbi vergessen hat, dem Golem seinen Plan zu geben. Die Beschäftigungslosigkeit führt zur Verwirrung. Der Golem gerät außer Kontrolle und wird gewalttätig, da er mit sich selbst nichts anzufangen weiß. Er schafft es nicht, seine zu große Kraft selbständig zu beherrschen. Ihm ist kein Verstand gegeben und so kann er keine Unterscheidung machen zwischen dem, was gut ist, und dem, was schlecht oder gar böse ist. Sein Verhalten erscheint aber nach außen hin als böse. Da die Hauptaufgabe des Golem erfüllt ist und er das jüdische Volk gerettet hat, ist er nutzlos geworden. Auch braucht der Rabbi ihn nicht mehr als willigen Diener und somit wird er nach dem Tag der großen Verwirrung wieder vernichtet. Obwohl der Golem Zeit seiner Existenz als Mensch behandelt wurde, wird diese Vernichtung jedoch nicht als Mord angesehen und auch nicht als Tod eines menschlichen Wesens. Von außen betrachtet liegt das Böse hier im Golem, der wie ein Wahnsinniger die Stadt bedroht und zerstören will. Jedoch ist dies allein dem Umstand geschuldet, dass er als Mensch betrachtet und als solcher von außen beurteilt und behandelt wird. Insofern wird er tatsächlich zu einer Bedrohung für die Bevölkerung, da sein Wesen als unberechenbar gelten muss. 81 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Schreiben über das Böse

Erkennt man den Golem als verstandsloses Geschöpf, so ist nicht er, sondern sein Schöpfer zur Rechenschaft zu ziehen. Der Rabbi handelt im Auftrag Gottes und fragt sich nicht, welche Konsequenzen aus der Erschaffung eines künstlichen Wesens resultieren. Zudem vernachlässigt er den Golem zusehends. Zwar verbietet er anderen, dem Golem Befehle zu erteilen, jedoch wird er selbst gegenüber dem Golem nachlässig, indem er vergisst, ihm seine Aufgaben zu geben, und stürzt diesen somit in Verwirrung. Da der Rabbi lediglich Befehle erteilt und der Golem Befehle ausführt, wird letzterer nicht als lebendiges Wesen wahrgenommen. Dies ist umso schwerwiegender, als der Golem zwar als Mensch unter Menschen eingeführt, aber nicht als solcher behandelt wird, denn er wird hier lediglich als willfähriger Diener genutzt. Letztendlich wird der Golem getötet. Hier zeigt sich auch eine gewisse Willkür und Gleichgültigkeit dem geschaffenen Leben gegenüber. Der Rabbi schafft Leben, damit eine bestimmte Aufgabe erfüllt wird, nimmt es dann aber wieder, wenn die Aufgabe erfüllt ist. Letztendlich wird dem Golem sogar der eigene Tod abgesprochen, da der Rabbi sich sonst nicht an der Vernichtung des Golem beteiligen könnte. 7 Auch wenn es sich bei der Legende um künstlich geschaffenes Leben handelt, so zeigt sich hier der falsche Umgang mit dem Leben als solchem. Es handelt sich bei dem Golem nicht um eine Maschine, sondern um ein Lebewesen. Dieses wird hier nur zu einem bestimmten Zweck erschaffen und wieder zerstört, wenn es zur Bedrohung für die Menschen oder die Umwelt wird. Jedoch wird nicht genug darauf geachtet, dass das erschaffene Leben nicht zur Bedrohung wird, obwohl es eindeutige Regeln gibt, die dies verhindern würden. Der Rabbi vernachlässigt den Golem und damit seine Verantwortung diesem als Leben gegenüber. Somit wird durch das künstlich geschaffene Wesen, das Menschen retten soll, dem Leben als solchem geschadet. Leben heißt immer Verantwortung für seine Taten übernehmen und Leben erschaffen heißt, dass die Verantwortung auch für dieses Leben übernommen werden muss.

7 Vgl. Prager Erzählungen. S. 52: »[der Rabbi] stellte […] die Frage, ob ein Toter, wie es der Golem sei, wie andere Tote einen Gegenstand der Verunreinigung bilde […] weil sich der Priester sonst an der Zerstörung des Golem nicht hätte beteiligen dürfen, aber Rabbi Löw entschied, dass diese Frage zu verneinen sei.«

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Der künstliche Mensch

Variationen des Golem a)

Paul Wegeners Film: Der Golem, wie er in die Welt kam

Der Regisseur Paul Wegener muss vom Phantastischen und besonders von der Legende des Golems fasziniert gewesen sein. Bereits sein Film Der Student von Prag von 1913 enthält Motive der literarischen Romantik, nämlich die Doppelgängerthematik und das Thema des Verkaufs des eigenen Schattens, also der Seele. Mit diesem Film schreibt er bereits Filmgeschichte und wird als einer der Gründer des phantastischen Kinos bezeichnet. (Vgl. Schwab. Golem. S. 232) Ab 1914 schafft Wegener eine Trilogie, in der er die Legende des Golems verarbeitet. 1914 erscheint der Film Der Golem, 1917 Der Golem und die Tänzerin und 1920 Der Golem, wie er in die Welt kam. Wegener ist hier nicht nur Regisseur, sondern er schreibt auch das Drehbuch und spielt die Titelrolle, verkörpert also selbst den Golem. Leider ist von der Trilogie nicht mehr viel erhalten. Der Golem sowie Der Golem und die Tänzerin sind verloren, vereinzelt findet man noch Szenenfotos und sehr selten kurze Inhaltsangaben. Deshalb kann hier nur noch der dritte Film der Trilogie berücksichtigt werden, nämlich Der Golem, wie er in die Welt kam. Legende des Golem In fünf Kapiteln erzählt Wegener die Geschichte von der Erschaffung und der Zerstörung des Golem, indem er im Großen und Ganzen der Legende (vgl. Prager Golem.) treu bleibt, allerdings einige Variationen einfügt. Im ersten Kapitel beobachtet Rabbi Löw die Sternenkonstellationen und liest daraus, dass den Juden Prags ein großes Unglück bevorstehen wird. Er informiert den Rabbi Jehuda sowie den Ältestenrat darüber. Rabbi Löw, der sich der Gefahr bewusst ist und nach einer Rettung sucht, macht sich daran, den Golem zu schaffen, indem er einen Körper aus Lehm formt. Zur gleichen Zeit unterzeichnet der König auf der Prager Burg ein Dekret wider die Juden, das ihre Vertreibung aus der Stadt besiegelt. Florian, ein junger Ritter, wird ins Prager Ghetto entsandt, um dieses Dekret zu übergeben. Er wendet sich zunächst an Rabbi Jehuda, der ihn zu Rabbi Löw bringt, wo Florian dessen Tochter Mirjam trifft, die ihn stark beeindruckt. Das zweite Kapitel zeigt einerseits die beginnende Liebe zwischen Mirjam und Florian, der wieder ins Ghetto zurückkehrt, um 83 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Rabbi Löw eine Einladung des Königs zum Rosenfest zu überbringen, andererseits die Erweckung des Golem. Letztere ist nur durch die Hilfe eines bösen Geistes, Astharot, möglich. Hier entfernt sich Wegener von der jüdischen Golem-Legende. Was eigentlich der Vorzug des hohen Rabbi ist, nämlich die Weisheit, aufgrund derer Jahwe ihm die Fähigkeit verleiht, ihm gleich, menschenähnliches Leben zu schaffen, wird von Wegener zum Nachteil für den Rabbi ausgelegt. Aus Weisheit wird schwarze Magie und somit dubioses Zauberwerk, das den Rabbi als fragwürdige Person erscheinen lässt. Statt Jahweh ist es der böse Geist, der seinen Beitrag zur Erschaffung des Golem leistet. Nur dieser ist in Besitz des Wortes, das das Tote zum Leben erweckt. Im dritten Kapitel werden die Aufgaben des Golem gezeigt. Rabbi Löw gibt ihm Befehle, die er ausführt. Aber auch der Schüler des Rabbi, schlicht Famulus genannt, führt den Golem aus dem Haus des Rabbi ins Ghetto und gebietet ihm, die Einkäufe zu erledigen. Zwischenzeitlich besticht Florian den Wächter des Ghettos, um ein nächtliches Stelldichein mit Mirjam arrangieren zu können. Am Abend nimmt Rabbi Löw den Golem mit zum Rosenfest auf dem Prager Schloss. Der Golem verängstigt und fasziniert die höfische Gesellschaft zugleich. Schließlich bittet der König den Rabbi, dem Hof Zauberkunststücke vorzuführen. Rabbi Löw lässt die Patriarchen erscheinen, warnt aber die Gesellschaft zuvor, dass es ein großes Unglück geben wird, wenn auch nur einer spricht oder lacht. Der Hofnarr jedoch kann nicht an sich halten und bringt die ganze Gesellschaft zum Lachen, woraufhin das Unglück eintritt und das Schoss in sich zusammenstürzt. Nun wird der Golem zu Hilfe gerufen und er kann den Einsturz des Schlosses verhindern. Die Rückkehr des Rabbi im vierten Kapitel ist von Erfolg gekrönt: Dank der Hilfe des Golem wurden die Juden gerettet, denn der König hat das Dekret widerrufen. Jedoch liest der Rabbi in seinen Büchern, dass der Golem sich bei einer bestimmten Sternenkonstellation gegen ihn wenden wird. Daraufhin will der Rabbi sein Geschöpf zerstören, wird daran aber von seinem Famulus gehindert, der mit ihm und den Juden auf der Straße die Rettung feiern will. Auch mit Mirjam will der Famulus feiern, muss allerdings herausfinden, dass Florian bei ihr ist. Voller Eifersucht manipuliert er den Golem nun dahingehend, dass dieser aus Wut Florian tötet, indem er ihn vom Dach des Hauses wirft, das Haus in Brand steckt und Mirjam entführt. Im fünften Kapitel erzählt der Famulus in der Synagoge von 84 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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diesem Unglück, spart jedoch seinen eigenen Beitrag dazu wohlweislich aus. Unterdessen hat das Feuer auf das Ghetto übergegriffen und nur durch die Anwendung von Magie kann der Rabbi den Brand verlöschen lassen. Somit rettet er die Juden zum zweiten Mal. Der Golem lässt Mirjam zurück, und ihr Vater findet sie in bester Gesundheit wieder vor. Der Golem reißt die Tore des Ghettos nieder und erschreckt mit seiner Erscheinung die Kinder, die vor den Toren spielen. Nur ein kleines Mädchen hat keine Angst. Der Golem nimmt sie in seine Arme, und sie entwendet ihm die sternförmige Kapsel, in der sich das lebensspendende Wort befindet. Der Golem stirbt augenblicklich. Die Juden finden den leblosen Lehmkörper und feiern diese dritte Rettung. Darstellung der Menschen In seinem Film zeigt Wegener einen Kontrast zwischen dem jüdischen Volk und der höfischen Gesellschaft von Prag. Es ist möglich, dass Wegener hier »antisemitische […] Stereotypen« (vgl. Kaes. Film. S. 51) zeigt, wie es ihm Anton Kaes vorwirft, jedoch lässt sich auch ein differenzierteres Bild der Darstellung der Menschen erkennen. Über weite Strecken spielt der Film ausschließlich im Ghetto: Man sieht die Straßen, die Synagoge und die Räumlichkeiten bei Rabbi Löw und Rabbi Jehuda. Das Ghetto ist düster und eng, aber die Räume erscheinen eher groß. Auch sind die Juden dunkel gekleidet und die Männer tragen dunkele Hüte. Rabbi Löw und Rabbi Jehuda tragen Bärte, ihre Gesichter zeigen ihr hohes Alter und somit sind die beiden Rabbiner realistisch dargestellt. Auch die Gesichter der anderen Juden, wie Mirjam und die Menschen im Ghetto, die man von Nahem sieht, sind realistisch dargestellt; man sieht die normalen Schattierungen in den Gesichtern, man sieht ihr Alter und somit eine normale Ausleuchtung. Im gleichen Maße wie sie realistisch dargestellt sind, verhalten sie sich auch auf realistische Weise. Sie zeigen ihr Interesse, ihre Neugier, aber auch ihre Enttäuschung und ihre Angst. Die Juden werden also so dargestellt, dass ihre realistische Mimik und Gestik zum Ausdruck kommt. Dies ist bei den Prager Christen nicht der Fall. Zunächst zeigt Wegener eigentlich nur zwei Gruppen der Prager Bevölkerung, nämlich die Hofgesellschaft und die Kinder, die vor dem Ghetto spielen. Hier wird keinesfalls ein Querschnitt der Bewohner gezeigt, was für eine tatsächliche Kontrastierung wichtig wäre. Was die Hofgesellschaft betrifft, so sind hier Licht und Helligkeit 85 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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dominant. Der Saal im Schloss ist weitläufig und sehr hell ausgeleuchtet und die Kleider der Gesellschaft sind sehr hell. Dieser Kontrast zwischen der Dunkelheit im Ghetto und der Helligkeit des Hofes hat sicherlich zu der Interpretation Anton Kaes’ beigetragen, dass die Juden Eindringlinge in der Welt der Christen seien (vgl. Kaes. Film. S. 51 f.). Jedoch muss man auch die Gesichter der Christen in Betracht ziehen. Auch hier finden wir die Helligkeit wieder, nämlich zu viel Helligkeit. Die gesamte Hofgesellschaft ist im »high-key«-Stil dargestellt. Dabei handelt es sich um einen Beleuchtungsstil, der sehr wenige Kontraste zeigt. Die Gesichter wirken also wesentlich jünger und so erscheinen die Menschen viel sorgloser. Aber diese Darstellung weist auch die Oberflächlichkeit von Gesichtern ohne Erfahrung und ohne Leben auf, und Egon Erwin Kisch spricht zu Recht vom »farblose[n] […] Kaiser […]« (Kisch. Prag. S. 421) – ein Adjektiv, das die gesamte höfische Gesellschaft charakterisiert. So sehr die Welt der Juden auch dunkel dargestellt wird und somit zweideutig ist, so sehr ist die Welt des Hofes zu hell und damit einseitig. Diese Welt ist zu ideal, um wahr zu sein. Die Darstellung der Kinder entspricht dem auch. Sie spielen im hellen Sonnenlicht und sind hell gekleidet. Sie repräsentieren also auch die unschuldige, sorglose und ideale Welt. Wenn dies auch eine gängige Interpretation für Kinder ist, so ist sie es dennoch nicht für Erwachsene. So in Szene gesetzt, wirken die Erwachsenen steif, leblos und letztlich lächerlich. Nur die Person Florian zeigt eine Veränderung. In der Nacht, in der er Mirjam besucht, ändert sich sein Gehabe des manierierten Ritters, der auf seinem Schimmel am Ghettotor erscheint und auch noch eine weiße Blume zwischen den Zähnen hält. Die Entwicklung ist nicht einschneidend, doch sie zeigt sich an seinen Kleidern: Die Helligkeit der Kleidung wird zum Teil von einem dunklen Mantel verhüllt. Er allein überschreitet wirklich die Grenze zwischen dem Hof und dem Ghetto, die Grenze zwischen der lächerlichen Idealität und der zweideutigen Realität. Vergessene Verantwortung Die Gliederung des Films in fünf Kapitel erinnert an das Schema der klassischen Tragödie. Gemäß der Aufteilung von Gustav Freytag (vgl. Freytag. Drama. S. 102) ist das erste Kapitel also die Exposition, in der 86 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Hauptcharaktere sowie die Situation der Juden in Prag eingeführt werden. Das zweite Kapitel zeigt die Momente, die zur Klimax führen werden, nämlich die beginnende Liebe und die Belebung des Golem. Die Klimax befindet sich im dritten Kapitel, in dem Mirjam und Florian sich treffen und der Golem dem jüdischen Volk hilft. Der Untergang beginnt im vierten Kapitel, wenn der Golem Florian tötet und das Ghetto zerstört. Dies müsste dann im fünften Kapitel zur Katastrophe führen. Aus der Perspektive des jüdischen Volkes, das hier die Hauptfigur und somit der Held der Geschichte zu sein scheint, endet jedoch alles gut. Am Ende wird das jüdische Volk vor jeder Bedrohung gerettet – vor der Vertreibung aus der Stadt, vor der Zerstörung des Ghettos und auch vor dem Dämon, den es sich selbst erschaffen hat. In dieser Hinsicht ist der Film also keine Tragödie. Aber es handelt sich hier sehr wohl um eine Tragödie, denn der Held der Geschichte ist nicht das jüdische Volk, auch nicht der Rabbi Löw. Der wahre Held der Geschichte ist der Golem. Der Golem ist ein Koloss aus Lehm und man sieht, dass Rabbi Löw die Form mehrmals bearbeitet hat, denn der Körper, den er schließlich belebt, ist bereits der zweite Versuch. Der Körper des Golem ist kompakt und massiv. Das, was sein Haupthaar sein soll, erinnert eher an einen unförmigen Helm. Sein Gesicht hat strenge Züge, was ihn unheimlich macht. Da er groß und schwer ist, muss der Rabbi seinen Famulus bitten, ihm beim Tragen behilflich zu sein. Der Golem ist bereits so gestaltet, dass er angezogen ist. In seiner Brust hat er allerdings ein kleines Loch – dort wird der Rabbi später die Kapsel mit dem lebensspendenden Wort einfügen. Die Kleidung des Golem erinnert an diejenige eines Bauern oder eines Dieners und somit wird der Golem schon gleich auf seine Rolle festgelegt: Er wurde nur geschaffen, um zu dienen. Nachdem der Golem belebt wurde, verändert er sich nicht. Im Gegensatz zu der Legende (vgl. Prager Golem. S. 46, 52), in der sich der Lehmkörper zum menschlichen Körper verwandelt, bleibt der Golem im Film das seltsame und düstere Wesen, bei dessen Auftreten sich alle Menschen fürchten, die ihn zum ersten Mal sehen. Dies zeigt sich, wenn er zum ersten Mal durch die Stadt läuft und wenn er die Einkäufe erledigt. Die Menschen fliehen entsetzt vor ihm. Der Golem unterscheidet sich augenscheinlich von ihnen. Seine Seltsamkeit zeigt sich auch im Augenblick seiner Be87 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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lebung. Wie ein Neugeborener öffnet er weit die Augen und blickt um sich. Die hellen Augen bilden einen Kontrast zum Rest des Körpers, der dunkel ist. Es ist so, als ob im dunklen Firmament Sterne aufscheinen. Das beginnende Leben ist also gut zu erkennen. Jedoch verängstigen diese großen Augen und das strenge, düstere Gesicht auch seinen Schöpfer. Der Famulus, der ohnehin einen feigen Charakter hat, versucht sofort sich zu verstecken, aber auch der Rabbi Löw flieht in dem Moment, als seine Schöpfung ihn betrachtet. Von der Ferne aus gibt Rabbi Löw dem Golem Befehle – nach vorne gehen, sich zum Rabbi drehen, wieder zurückgehen. In diesem Moment kreuzt der Famulus den Weg des Golem und letzterer stößt ihn so kräftig, dass der Famulus zu Boden fällt. Sofort entreißt der Rabbi dem Golem die Kapsel und dieser bleibt leblos stehen. So gesehen ist der Golem wirklich schrecklich und die Gewalttätigkeit, die er demonstriert, scheint bedrohlich zu sein und nimmt seinen zerstörenden Charakter vorweg. Jedoch ist der Golem ein Geschaffener, dem man das Leben gegeben hat. Als solcher ist der Golem ein Neugeborener und im Augenblick seiner Belebung zeigt sich schon das bevorstehende Drama: Der Golem wird zurückgewiesen und nicht verstanden. Die weit geöffneten Augen sind kein Zeichen der Bedrohung, sondern sie zeugen von dem Erstaunen dessen, der in diese Welt eintritt und der zum ersten Mal das entdeckt, was ihn umgibt. Mit diesem Blick entdeckt er seinen Schöpfer, der vor ihm flieht, und einen anderen, der sich versteckt. Ebenso wie er nicht verstanden wird, kann er auch nicht verstehen. Sein Meister befiehlt ihm zu laufen und da der Golem nicht daran gewöhnt ist, schwankt er natürlich, wenn er seine ersten Schritte tut. Dieses Schwanken wird als Aggressivität empfunden, da der Körper des Golem kolossal ist. Dies gilt auch für den Schlag, den der Golem dem Famulus versetzt. Jedoch muss man einerseits sehen, dass der Golem nur die Befehle des Rabbi Löw befolgt. Unerfahren wie er ist, befolgt er sie aufs Wort und deshalb räumt er alles aus dem Weg, was ihn behindert – auch den Famulus. Andererseits kennt der Golem weder seine Stärke, die viel größer als die eines Menschen ist, noch den Unterschied zwischen seiner Stärke und derjenigen eines Menschen und deshalb kann er sie nicht kontrollieren. Er stößt den Famulus so, wie er alles stoßen würde, und er ist sich nicht bewusst, dass er nach menschlichem Ermessen gewalttätig handelt. Dies wird noch 88 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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einmal auf dem Rosenfest passieren, wenn eine junge Frau dem Golem eine Blume überreicht und er ihr danken will, indem er ihr über das Haar streicht. Jedoch hat er auch hier kein Bewusstsein seiner Stärke und schlägt sie. Allerdings hilft dem Golem auch niemand, damit er sich in dieser für ihn unbekannten Welt zurechtfinden kann. Für die Welt ist der Golem ein merkwürdiges Wesen. Für Rabbi Löw und seinen Famulus ist er mehr: Er ist die Kreatur eines bösen Geistes. Um den Golem zu erschaffen, muss der Rabbi erst das richtige Wort von Astaroth erfahren – einem Erzdämon. In den Augen des Rabbi wurde der Golem von einer gewissen Sternenkonstellation und dem Dämon erweckt, also von der schwarzen Magie – und nicht von ihm. Deshalb wird vom Golem erwartet, dass er alles kann und auch alles beherrscht, und der Rabbi fühlt sich keineswegs für den Golem verantwortlich. Vielmehr hat er selbst Angst und versucht diese zu besiegen, indem er dem Golem Befehle erteilt, oder ihm die Kapsel entfernt. Aber der Golem ist im Wesentlichen nicht die Schöpfung des Dämons. Er wurde von dem Rabbi geschaffen und so ist er ein Riese, aber dennoch ist er lebendig. Und er zeigt ständig, dass er leben will und dass er das Leben liebt. Er ist nicht nur der stumme Diener, der alles ausführt, was man ihm aufträgt. Er betrachtet das Leben um ihn und um seine Arbeit herum, und er reagiert darauf: Er hat Gefühle, die er auf sehr unbeholfene Weise zeigt, was seine Ungeschicktheit noch betont. Dies zeigt sich auch, wenn der Famulus ihn zum Einkaufen mitnimmt. Der Golem, der zum ersten Mal das Haus verlässt, schaut sich um und zeigt ein leichtes Lächeln, als er die Sonne wahrnimmt. Diese Freude wird durch die Befehle des Famulus brüsk unterbrochen. Auch beim Rosenfest zeigt der Golem seine Freude. Die junge Frau reicht ihm eine Rose, der Golem riecht daran und zeigt erneut ein leichtes Lächeln. Auch dieser Moment endet brüsk, als der Golem der Frau danken will und sie versehentlich schlägt. In beiden Fällen steht sich der Golem durch seine Unerfahrenheit mit der Welt der Menschen selbst im Weg. Die wachsende Fähigkeit, Gefühle zu entwickeln, erklärt auch, warum der Golem den Rabbi Löw in einem bestimmten Moment angreift, nämlich als dieser ihm die Kapsel wegnehmen will. Weder die Sternenkonstellation, noch das dämonische Wort machen den Golem wütend. Er will einfach nur leben. In diesem Augenblick hat er ge89 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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lernt; er hat verstanden, dass ›die Kapsel wegnehmen‹ gleichbedeutend ist mit ›nicht mehr am Leben sein‹, und dies will er verhindern. Seine Wut im vierten Kapitel kommt auch daher, dass er seine Gefühle nicht beherrschen kann. Hier beginnt alles durch eine Manipulation. Der auf Florian eifersüchtige Famulus gibt dem Golem gegenüber vor, dass ein Eindringling Mirjam und somit auch das Haus seines Schöpfers bedrohen würde. Der Golem versucht, Mirjam zu schützen, was Florian für eine Bedrohung hält. Er greift den Golem mit einer Waffe an, aber der Golem überwältigt ihn und wirft ihn vom Turm. Im Folgenden versucht der Golem, Mirjam zu küssen, was beweist, dass er auch fähig ist, einer bestimmten Person gegenüber bestimmte Gefühle zu empfinden. Aber genau in diesem Moment greift der Famulus ein und versucht, dem Golem die Kapsel zu entwenden und ihm somit sein Leben zu nehmen. Diese Geste erst lässt den Golem richtig wütend werden. Nur um sein eigenes Leben zu retten, setzt er das Haus in Brand und entführt Mirjam, um auch diese zu retten. Die Gefühle, die der Golem empfindet, haben aus ihm ein individuelles Wesen gemacht. Wenn er zunächst auch nur das Haus und die Familie seines Meisters schützen will, so verteidigt er nun auch sein eigenes Leben. Schließlich flieht der Golem aus dem Ghetto und in dem Moment, als er das kleine Mädchen sieht, das vor ihm keine Angst hat und das sich von ihm auf den Arm nehmen lässt, kann sich seine Freude endlich vollständig entfalten. Zum ersten Mal lacht er wirklich – er freut sich über das Leben, über sein Leben und über die Schönheit, die das Leben ihm bietet. Und genau in diesem Moment nimmt das Mädchen dem Golem die Kapsel weg, und das Leben des Golems verlischt. Der Film »Der Golem, wie er in die Welt kam« zeigt also die Tragödie des Golem. Es ist die Tragödie eines geschaffenen Wesens, dem man nicht die Rechte jedes geschaffenen Wesens zuspricht, aber trotzdem alle Pflichten auferlegt. Es ist die Tragödie eines Lebens, das geschaffen wurde und nicht als solches akzeptiert wird. Wegener zeigt hier die Tragödie des falschen Umgangs mit lebendigen Wesen. b)

Cynthia Ozicks weiblicher Golem

In ihrer Kurzgeschichte Puttermesser und ihr Golem bedient sich Cynthia Ozick ebenfalls der Legende des Golem und nahezu aller 90 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Motive, macht aber die bis dahin rein männliche Geschichte zu einer weiblichen. Ruth Puttermesser ist eine intelligente und gelehrte Juristin mittleren Alters, deren Potential im Berufsleben verkannt wird und der es unmöglich ist, im Privatleben dauerhafte Kontakte zu knüpfen. Puttermesser wird im Beruf gemobbt und lebt ohne Familie. Dennoch scheint sie sich ein Familienleben zu wünschen, das jedoch in ihrer Phantasie lediglich aus diversen Töchtern besteht, die sie sich vorstellt. An einer realen Familie scheint sie kein Interesse zu haben, da auch ihr Liebhaber ein verheirateter Mann ist, der immer nur auf ein Abenteuer bei ihr vorbeikommt. Konsequenterweise hält sie ihn auch nicht auf, als er sie schließlich verlässt. Auch die Tochter oder Töchter, die sie sich wünscht und immer wieder vorstellt, sind keine eigenständigen Persönlichkeiten, sondern »Puttermesser als kleines Mädchen« (Ozick. Puttermesser. S. 100). Sie sieht sich selbst als wissbegieriges Kind, das ihr als Mutter selbstverständlich keine Probleme macht. Diese Phantasien zeigen Ruth Puttermesser hier bereits als egozentrischen Charakter. Eingekapselt in ihre eigene Welt, ist sie unfähig, das Leben mit anderen zu meistern. Zwar entgehen ihr nicht die Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz, jedoch nimmt sie diese fast ausschließlich nur ihr gegenüber wahr. Um andere Arbeitskollegen und deren Probleme kümmert sie sich nicht. 8 Diese Egozentrik wird auch das beherrschende Thema in dieser Golem-Variation. Wie Puttermessers Golem erschaffen wird, bleibt allerdings unklar. Weder die Gründe hierfür noch die Art und Weise werden bekannt. Das Lehmgebilde befindet sich plötzlich auf Puttermessers Bett, ohne dass sie wüsste, wie es dorthin gekommen ist. Sie hält es auch zunächst für eine Einbrecherin oder eine Obdachlose. Bewusst, aber ohne sich darüber im Klaren zu sein, was sie tut, vollzieht sie die letzten Schritte der Belebung: sie nimmt letzte Schönheitskorrekturen vor, bläst ihren Atem in die Nase des Gebildes, umrundet mehrfach das Bett, auf dem das Wesen liegt und spricht den Namen Gottes aus. (Vgl. Ozick. Puttermesser. S. 101) Vorerst aber bleibt sie verwirrt darüber, wie dieses Wesen entstehen und zum Leben erweckt werden konnte. Die Lektüre sämtlicher Schriften zum Golem hilft ihr dabei nur bedingt weiter, außer dass sie Puttermesser die Beruhigung verschafft, dass sie nicht wahnsinnig und auch keiner Halluzination auf8 Vgl. Ozick. Puttermesser. S. 99 Puttermessers lakonische Reaktionen auf die Geschichten und Avancen ihres Kollegen Leon Cracow.

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gesessen ist. Puttermesser hat also keinen Grund dafür, einen Golem zu schaffen und noch weniger hat sie bewusst daran teil. Dies ist ihr selbst unheimlich und verdeutlicht den magisch-dämonischen Charakter dieser Schöpfung. (Vgl. Ozick. Puttermesser. S. 120) Erst später scheint sie sich daran zu erinnern, dass sie den Golem absichtlich geschaffen hat. Die zwei Versionen der Erschaffung heben aber den magisch-dämonischen Charakter noch deutlicher hervor. Der Akt selbst scheint in einer Art Trance stattgefunden zu haben, die rational nicht erklärbar und nachvollziehbar ist. Der Golem selbst zeigt bald ein eigenständiges Bewusstsein. Von Anfang an widersetzt er sich seiner Schöpferin und tyrannisiert sie sogar. Er verweigert den Namen Leah, den er erhalten soll und nennt sich selbst Xanthippe. Die Hausarbeiten, die er erledigen soll, sind ihm nicht intellektuell genug. Er verrichtet sie dennoch, indem er entweder raffinierte Speisen zubereitet und somit seine Kreativität unter Beweis stellt (vgl. Ozick. Puttermesser. S. 119) oder eigenmächtig die Wohnung verschönert (vgl. Ozick. Puttermesser. S. 122 ff.). Immer wieder jedoch versucht er, sich den Anordnungen zu widersetzen, indem er auf eine höhere Berufung verweist 9. Diese Eigenständigkeit zeugt vom eigenen Charakter des Golem, der somit menschlich erscheint. Auch in Bezug auf seine Kleidung entwickelt er einen – wenn auch nicht guten, so aber doch eigenen – Geschmack und wird selbst diesbezüglich kreativ, nachdem er jeder menschlichen Kleidergröße entwachsen ist. Im Gegensatz zu den klassischen Golem-Figuren kann Xanthippe nicht nur sprechen, sie beherrscht alle Sprachen der Welt und sie ist sofort des Schreibens kundig. Das Sprechen ist Ausdruck des höchsten Verstandes, der eigentlich der Legende nach jedem Golem als unvollständigem Wesen verwehrt ist. Xanthippe hingegen kann sprechen, dennoch ist es ihr aber »nicht erlaubt« (Ozick. Puttermesser. S. 107). Stattdessen kommuniziert Xanthippe mit Puttermesser mittels der Schreibmaschine. Der Golem erscheint in dieser Variante keinesfalls als unvollständiges oder gar unvernünftiges Wesen. Verstand und Vernunft sind ihm durchaus zu-eigen und nicht nur besitzt er die Fähigkeit zu sprechen, sondern auch die Fähigkeit, Sprache 9 Vgl. Ozick. Puttermesser. S. 118: »Meine Dienste können in anderen Bereichen als nur dem häuslichen Verwendung finden.«, S. 120: »Ich möchte betonen, dass ich mich zu Höherem eigne als nur zur Hausarbeit.«, S. 123: »Ich brauche einen größeren Wirkungskreis.«

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durch Schrift auszudrücken, ohne diese vorher gelernt haben zu müssen. Die intellektuellen Fähigkeiten sind nahezu in Vollendung vorhanden, sogar die Anwendung von Technik wie Wasch- oder Schreibmaschine geht problemlos vonstatten. Der weibliche Golem, von einer Frau geschaffen, erscheint hier als durchaus vollkommenes Wesen im Rahmen dessen, was menschlich vollkommen sein kann. Auffällig ist auch, dass der Golem nicht nur seiner Schöpferin gehorcht, sondern anscheinend noch anderen Gesetzen, denen er als Wesen unterstellt ist. Dabei scheinen letztere für ihn wichtiger zu sein, da er das Sprechverbot, dessen Ursprung nicht geklärt wird, bis kurz vor seiner Vernichtung nicht mehr übertritt, wohingegen die Anweisungen und Befehle Puttermessers nur widerwillig befolgt oder gar missachtet werden. In Ozicks Erzählung wird deutlich, wer der Golem ist und woher er seine individuellen Eigenschaften hat. Xanthippe sagt Puttermesser zu Anfang: »Ich weiß alles, was du weißt. […] ich bin […] aus deinem Geist geschaffen.« (Ozick. Puttermesser. S. 109) Später wird sie jedoch noch deutlicher, wenn sie darlegt: »Ich drücke Dein Denken aus« (Ozick. Puttermesser. S. 142) oder »Ich bin die Verwirklichung der Großartigkeit deiner Grundsätze« (Ozick. Puttermesser. S. 143). Diese Selbstdarstellung zeugt einerseits von einem eigenständigen Selbstbezug und einer Selbstreflexion. Andererseits erscheint dieser Selbstbezug auch wieder überheblich. Letztendlich aber werfen diese Aussagen auch ein Bild auf Puttermesser selbst. Sie, die geniale Intellektuelle, die eigenständig Leben schaffen kann, ist unfähig zum Handeln. Der Golem ist ihr ausführendes Selbst, da sie – auch und gerade durch die Erschaffung und Belebung ihres Selbst und keiner anderen Person – unfähig ist, mit anderen in eine Beziehung zu treten und auch dementsprechend zu agieren. So ist es auch der Golem, der sämtliche Pläne Puttermessers ausführt. Er wird ihr Wahlkampfhelfer, der die Bürger New Yorks dazu bringt, die politisch und auch sonst vollkommen unbekannte Ruth Puttermesser zum Bürgermeister zu wählen (vgl. Ozick. Puttermesser. S. 148 ff.). Ihm gelingt es, den von Puttermesser erträumten paradiesischen Zustand des Friedens in New York einzuführen. Schließlich ist es aber dann auch der Golem, der dieses Werk des Friedens wieder ganz bewusst vernichtet. Die Ankündigung: »Ich kann es wieder vernichten« (Ozick. Puttermesser. S. 165) läutet den Vorgang des Verfalls ein. Der Golem, der durch Puttermessers ehemaligen Liebhaber in die Freuden der Liebe eingeführt wurde, lernt 93 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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schnell die Verbindung von Liebe und Macht kennen und sucht seine Gespielen fortan unter den mächtigsten Männern der Stadt. Ebenso unfähig wie Puttermesser, wirkliche Beziehungen einzugehen, benutzt er diese Männer; sie sind Trophäen für ihn. Jedoch aufgrund der inzwischen gewonnenen Größe und Stärke des Golems gleicht dieses Benutzen nicht nur einer Demütigung, sondern vielmehr einem körperlichen Aussaugen, was die mächtigen Männer zu anderen Zielen und Aufgaben letztendlich unfähig macht. Ein Regieren der Stadt wird somit unmöglich und Puttermessers Sturz ist unumgänglich. Puttermesser lässt sich auch von Beginn an von ihrem Golem tyrannisieren. In der Rolle des Schöpfers verbleibt sie passiv und zeigt, dass sie zu keiner Beziehung zu einem anderen Wesen fähig ist. Dieses Verhältnis zum Golem drückt sich letztendlich in der Erkenntnis aus, »dass sie der Golem des Golems ist« (Ozick. Puttermesser. S. 159). Puttermesser lässt sich nicht nur tyrannisieren, sondern auch manipulieren. Sie ist als Schöpfer eigentlich machtlos, und sie liefert sich sogar ihrem Golem aus, der alles für sie regelt. Erst in letzter Sekunde zerstört sie das von ihr geschaffene Wesen. Puttermessers Golem ist die aktive Seite von Ruth Puttermesser und verkörpert nicht nur all ihr Wissen, ihre Wünsche und Sehnsüchte, sondern auch deren Verwirklichung. Insofern ist der Golem nicht nur ein Abbild von Puttermesser, so wie sie sich ihre Töchter erträumt, sondern auch die Wunschvorstellung ihres eigenen Handelns. Die Verwirklichung der Wünsche gerät allerdings außer Kontrolle, da sie ohne jeden Zusammenhang mit anderen realen Persönlichkeiten stehen. Puttermesser lebt in ihrer Welt und hält diese für die beste aller Welten für alle – zumindest für alle New Yorker. Jedoch liegt es nicht »in der Natur der Sache, dass die Ruhe – das Paradies – friedlich, langweilig, eintönig ist« (Ozick. Puttermesser. S. 158), wie dies vom Erzähler proklamiert wird. Vielmehr ist es in Puttermessers Fall so, dass sie überhaupt nicht auf Wünsche und Vorstellungen der Bürger eingeht, und sie eine gänzlich falsche Auffassung vom Leben und vom Leben in der Gemeinschaft hat. Diese Vorstellungen sind nicht realistisch und letztendlich korrumpiert Puttermesser sie und sich selbst. Insofern ist der Golem auch die Personifikation von Puttermessers eigener Schwäche. Puttermesser und ihr Golem sind eins; zwei Ausprägungen derselben Person, die jedoch ausschließlich um sich selbst kreist. Ihre Wünsche und Erwartungen terrorisieren Puttermesser, die Ausfüh94 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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rung jedoch überwältigt sie. Letztendlich ist Ozicks Erzählung die Darstellung eines Menschen, der an sich und dem Leben scheitert und daran verzweifelt. c)

Mary Shelley: Frankenstein

Der Wunsch des Menschen, eine eigene Kreatur zu erschaffen, drückt sich auch in der nicht-jüdischen Literatur aus. Hier ist es vor allem Mary Shelley, die mit ihrem Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus die wohl bekannteste Version dieses Menschheitstraums und damit auch eine Variante der Golem-Legende liefert. Erschaffung des Lebens Der Protagonist des Romans, Victor Frankenstein, ist ein ambitionierter Wissenschaftler, der dem Geheimnis des Lebens, dem Geheimnis des Lebendigen auf die Spur zu kommen sucht. Er ist ehrgeizig und will das Neue, das Unerwartete entdecken: »[Ich] werde […] neue Wege einschlagen, unbekannte Kräfte erforschen und der Welt die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung offenbaren.« (Shelley. Frankenstein. S. 62). Schließlich interessiert ihn der »Ursprung des Lebens« (Shelley. Frankenstein. S. 66). Mit Hilfe von Leichenteilen und Elektrizität wird der neue Mensch quasi zusammengebastelt. Dabei verzichtet Shelley auf die Darstellung der Art und Weise, wie das Geschöpf belebt wird, sowie der Methoden, die dazu verwendet werden. Allein die Verwendung von Leichenteilen zeigt, dass hier nichts wirklich Neues entsteht, obwohl Frankenstein eine »neue Menschengattung« (Shelley. Frankenstein. S. 70) schaffen möchte. Tatsächlich wird lediglich der Versuch unternommen, Totes zu beleben. Frankenstein setzt dazu Teile verschiedener Leichen zu einer neuen Leiche zusammen. Hier handelt es sich nur um Versatzstücke, die neu kombiniert werden, aber auf altbewährte Weise. Ein wirklich neues Wesen, das auch äußerlich neuartig ist, entsteht nicht, und auch die überdimensionierte Größe des Geschöpfes ändert nichts daran. Es ist auch unklar, was für Frankenstein eine neue Menschengattung sein soll. Er schwärmt zwar von »glückliche[n] und vortreffliche[n] Geschöpfe[n]« (Shelley. Frankenstein. S. 70), jedoch wird nicht reflektiert, in welcher Hinsicht diese glücklicher und vortrefflicher sein sollen, als alle natürlich geborenen Menschen. Weder ist klar, zu welchem Zweck diese neue Menschengattung erschaffen wer-

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den soll, noch welche Aufgabe die neuen Geschöpfe haben sollen – ob als Herrscher der Welt oder Diener der ›natürlichen‹ Menschen. Frankenstein gibt allein seinem Forscherdrang, seiner Neugier und seinem Wissensdurst nach, ohne die Konsequenzen für sich, sein Geschöpf und die Welt zu bedenken. Neben dem Forscherdrang ist hier auch noch das Motiv der Gier zu erkennen, denn Frankenstein selbst träumt davon, dass diese neuen Menschen ihn als ihren Schöpfer »preisen« und ihm »Dankbarkeit« (Shelley. Frankenstein. S. 70) erweisen. Dabei geht es ihm nicht nur um ein einzelnes Geschöpf, das für ihn ein Forschungsobjekt ist. Vielmehr möchte er eine ganze neue Gattung erschaffen. Sein Experiment soll erst der Anfang sein. Da aber unklar ist, zu welchem Zweck diese geschaffen werden sollen, ist der Grund für deren Dankbarkeit auch nicht erkennbar. Frankenstein erweist sich als ein Egozentriker, der sich über jedes Gesetz – auch über Naturgesetze – hinwegzusetzen versucht. Unmittelbar nach der Belebung der Leiche lässt Frankensteins Interesse an seiner neuen Menschengattung allerdings deutlich nach. Das Geschöpf ist für ihn ein »Scheusal« (Shelley. Frankenstein. S. 74), und das neue Leben wird als »Katastrophe« (Shelley. Frankenstein. S. 74) verstanden. Die wiederbelebten Leichenteile sind hässlich und verzerrt. Die neue Menschengattung, die Frankenstein erschaffen wollte, ist zwar von ihren Zügen her menschlich, jedoch abgrundtief hässlich. Wie schon Faust, so kann auch Frankenstein mit dem gewonnenen neuen Leben nicht umgehen. Allein die Hässlichkeit des Wesens stößt den Wissenschaftler derart ab, dass er sich nicht weiter damit beschäftigen will. Weder versucht er zu ergründen, was er tut oder was passiert ist, noch kümmert er sich um das Geschöpf, das Produkt seiner Forschung ist. Frankenstein fehlt hier jeglicher Tiefgang, und seine Tat ist in keiner Weise in einem Zusammenhang gegründet. Sie steht quasi alleine, abseits von jeglichem Geschehen, und Frankenstein selbst weigert sich, das neue Leben zu akzeptieren, es aus dem Geschehen heraus zu verstehen und es in das Geschehen einzuführen. Er unternimmt nach der Erschaffung des Geschöpfes nichts. Sich seiner Verantwortung gegenüber seinem Geschöpf entledigend, flieht er zunächst vor dem Geschöpf und lässt es allein in seiner Werkstatt zurück. Als Entschuldigung für sein Verhalten fügt er noch hinzu: »Kein Sterblicher könnte den grauenhaften Anblick dieses Gesichts ertragen« (Shelley. Frankenstein. S. 75). Letztendlich flüchtete er sich aber auch vor der Verantwortung in ein Nervenfieber (vgl. Shelley. 96 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Frankenstein. S. 79 f.), das längere Zeit anhält und in späteren Krisenzeiten immer wieder auftreten wird. Faust erträgt den gerufenen Erdgeist nicht, weil er für ihn zu mächtig ist; Frankenstein erträgt sein Geschöpf nicht, weil es hässlich ist. In beiden Fällen war der Grund für das Rufen und die Erschaffung die Suche nach dem Ursprung des Lebens. In beiden Fällen ist dies gescheitert, da genau diese Frage nicht beantwortet werden konnte. Hier wie da vollzieht sich die Suche auch im Verborgenen abseits der Gemeinschaft der Menschen und des Lebens. Dies ist absurd und letztendlich nicht zielführend. Hier fehlt jegliche Verankerung im Leben, und auch im Nachhinein wird jeder Bezug zum Leben vermieden; der Erdgeist verschwindet, Frankensteins Geschöpf wird sich selbst überlassen. Nach der Erschaffung und Verstoßung des eigenen Geschöpfes steht für Frankenstein fest, dass die neue Menschengattung böse ist. Der einzige Grund für diese Vermutung ist jedoch die abgrundtiefe Hässlichkeit des Wesens. Hier erweist sich Frankenstein als Physiognomiker, also als Pseudo-Wissenschaftler, der seine Vermutungen auf Äußerlichkeiten stützt, die nicht fundiert sind. Indem Frankenstein sich allein auf seine Gefühle verlässt, wendet er sich allerdings von der Wissenschaft ab. Er sieht in seinem Geschöpf – wie sich später herausstellen wird zu Recht – den Mörder seines Bruders (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 98). Dies geschieht aber intuitiv und allein deshalb, weil er sein Geschöpf bereits von Anfang an und immer wieder als »Monstrum« versteht und es als »der widerliche Dämon« (Shelley. Frankenstein. S. 98) beschreibt. Das Unmenschliche, mit dem das Wesen assoziiert wird, macht es zum Bösen. Damit werden zwei Charakterisierungen gleich-gesetzt, die nichts miteinander zu tun haben. Der neue Mensch ist zum Un-Menschen geworden, d. h. er steht außerhalb jeden Menschseins, er ist kein Mensch. Gleichzeitig aber werden Attribute auf ihn angewendet, die nur dem Menschsein zustehen, so wie gut und böse. Jedoch kann etwas, was außerhalb des Menschen ist und dessen ethischen Grundlagen nicht zugeordnet werden können, auch nicht mit ethischen Maßstäben gemessen werden. Frankenstein jedoch tut dies, obwohl gerade er ihm jeden Zugang zum Menschsein und dessen Ethik verweigert hat. Hier zeigt sich nicht nur Verantwortungslosigkeit, sondern Frankenstein entfernt sich immer weiter von der Wissenschaftlichkeit. Gleichzeitig bewahrt er sich aber auch eine gewisse Hybris 97 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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gegenüber seinem Geschöpf. So hält er das neue Wesen in jeder Hinsicht für seine Schöpfung, was sogar die Erschaffung des Willens und der Macht des Wesens mit einbezieht. Wenn Frankenstein von dem Wesen spricht, »das ich unter die Menschen gestoßen und mit dem Willen und der Macht ausgestattet hatte« (Shelley. Frankenstein. S. 99), so zeigt sich, dass er selbst Opfer seiner Wahnvorstellungen geworden ist. Wenn unter der ›Macht‹ die Kraft und die Stärke des Geschöpfes verstanden wird, dann mag Frankenstein Recht haben, da er diese durch die Konstellation der Leichenteile geschaffen hat. Jedoch hat er selbst keinen Anteil am Willen des Wesens. Weder hat er ihm diesen irgendwie gegeben, noch hat er ihn durch Erziehung geprägt. Die Behauptung Frankensteins, er habe den Willen eines Geschöpfes selbst erschaffen, entbehrt jeder Grundlage und zeigt, dass ihm nicht bewusst ist, was er eigentlich getan hat. Frankensteins Geschöpf Das Geschöpf selbst ist in der Tat un-menschlich, in dem Sinne, dass es über-menschlich ist. Geschaffen wurde es als neue Menschengattung, die allen anderen Menschen auf bestimmte undefinierte Weise überlegen sein sollte. Dementsprechend wurden ihm aufgrund von Körperbau und Veranlagung übermenschliche Größe und Stärke von seinem Schöpfer gegeben. Jedoch erweist sich das Geschöpf in noch ganz anderer Hinsicht als über-menschlich. Es ist von Anfang an fähig, sich selbständig zu versorgen (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 113 ff.) und bringt sich selbst die Sprache (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 144 ff.) und das Lesen (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 162 ff.) bei. Schließlich beginnt es, sich Fragen über seine eigene Herkunft zu stellen, da es sich mit der Familie vergleicht, in deren Stall es heimlich wohnt (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 155 f.). Dabei ist ihm vollkommen bewusst: »[…] ich gehörte nicht einmal zur selben Gattung wie der Mensch« (Shelley. Frankenstein. S. 154). Auch dieses Bewusstsein wird allein aus dem Vergleich mit den Äußerlichkeiten gezogen. Allein seine Gestalt und seine Fähigkeiten machen ihn zwar eigentlich zum Menschen. Er selbst sieht sich jedoch als einen anderen; ein Wesen, das zu einer anderen Gattung gehört. Das Geschöpf hält sich aber für über-menschlich und ist es auch in dem Sinne, als es die Menschen lediglich beobachtet. Es steht dank seines Aussehens – und nur deshalb – außerhalb der menschlichen Gesellschaft. Es wird zum unsichtbaren und somit zum objektiven 98 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Beobachter seiner Umwelt, der wie ein Deus ex machina in kleinem Maße in die Geschehnisse eingreift 10. Durch seine Rolle als Beobachter lernt das Geschöpf von den Menschen. So erfährt es, was Tugend ist und lernt Bosheit und Niedertracht kennen. Dies nicht nur am lebendigen Beispiel (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 153), sondern auch durch die Lektüre von Das verlorene Paradies, Plutarchs Leben und Goethes Die Leiden des jungen Werthers (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 163 f.). Auf diese Weise kommt Frankensteins Geschöpf zu vielleicht naiven aber dennoch klarsichtigen Einsichten über den Menschen und sein Verhalten und entwickelt eine Lebensklugheit, die zumindest derjenigen seines Schöpfers weitaus überlegen ist. Es handelt dementsprechend den ethischen und moralischen Grundsätzen der Menschen gemäß. Zwar weiß es sich von den Menschen ausgestoßen, jedoch passt es sich ihnen an. Das Geschöpf weiß genau, wann es schlecht handelt. Trotz seiner Haltung als Beobachter verspürt das Geschöpf den »Wunsch, ein Mitspieler auf der belebten Bühne zu werden.« (Shelley. Frankenstein. S. 163) Dieser Wunsch ist durchaus nachvollziehbar, denn das Wesen ist vernunftbegabt und allein. Es hat niemanden, dem es sich offenbaren und mitteilen kann. Als das Geschöpf allerdings den Mut fasst, auf die anderen Menschen zuzugehen, wird es sofort wieder mit denselben Vorurteilen konfrontiert, die schon sein Schöpfer hatte, nämlich dass das Hässliche gleichzeitig auch böse ist (vgl. Shelley. Frankenstein. S. 172 f.). Aus kindischer Rache wendet sich das Geschöpf also gegen die Menschen, die es wegen seines Äußeren vorverurteilen und meiden. Vor allem aber wendet es sich gegen seinen eigenen Schöpfer, um dessen Leben ebenso zu zerstören. Dabei handelt es nicht blindwütig, indem es allein seinen verletzten Gefühlen folgt, sondern es reflektiert sehr wohl seine Situation, wenn es gegenüber Frankenstein verlauten lässt: »Ich war friedfertig und gut; das Unglück hat mich zum Teufel gemacht.« (Shelley. Frankenstein. S. 129) Auch mit dieser Überlegung beweist das Geschöpf seine intellektuelle Befähigung und gar schon seine Überlegenheit, denn im Gegensatz zu Frankenstein selbst analysiert es seine Situation. Seine moralische Integrität zeigt sich besonders im Gespräch mit seinem Schöpfer, wenn es ihm vorwirft: »Wie kannst du es wagen, so Vgl. Shelley. Frankenstein. S. 147 ff. Das Geschöpf sammelt nachts Brennholz für die Familie und wird von dieser als ›guter Geist‹ bezeichnet.

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mit dem Leben zu spielen?« (Shelley. Frankenstein. S. 128) oder: »Du klagst mich des Mordes an, und dabei würdest du selbst mit ruhigem Gewissen dein eigenes Geschöpf vernichten.« (Shelley. Frankenstein. S. 130) Das Geschöpf beweist, dass es mehr über das Leben und den ethischen Gehalt des Lebens nachgedacht hat, als sein Schöpfer. Es zeigt sich reflektiert, während Frankenstein, der ein reflektierter Wissenschaftler sein sollte, allein seinen diffusen, egozentrischen, übertriebenen Gefühlen und Leidenschaften folgt. Insofern wird das Geschöpf zu Frankensteins Gewissen. Allerdings ist auch das Geschöpf nicht ohne Leidenschaft, und die objektive Reflektiertheit ist nur ein Teil seines ihm eigenen Charakters. Auch das Geschöpf lässt sich von übermäßigen Leidenschaften überwältigen. So sind es unbändige Wut und Rachlust, die es dazu treiben, alles zu vernichten, was Frankenstein lieb und teuer ist. Dies und die Aussage: »Wie soll ich da nicht hassen, die mich verabscheuen? Ich werde meine Feinde nicht schonen.« (Shelley. Frankenstein. S. 129) zeugen aber auch wiederum von einer eingeschränkt subjektiven Weltsicht. So objektiv das Geschöpf auch zu reflektieren weiß, so stark sind seine Gefühle, die es nicht beherrschen will und vielleicht auch nicht kann. Der Ausdruck seiner Leidenschaft ist maßlos und insofern ebenso un-menschlich wie sein gesamtes Wesen. Ebenso maßlos ist die Forderung des Wesens, Frankenstein möge ihm eine Frau erschaffen, die so ist wie er. Schon die Forderung an sich erscheint überheblich, da das Geschöpf seinem Meister befiehlt und somit das Kräfteverhältnis umgekehrt wird. Die Forderung wird gleichzeitig auch mit einer übersteigerten Drohung ausgesprochen: »[…] um eines einzigen Lebewesens willen würde ich mit der ganzen Gattung Frieden schließen« (Shelley. Frankenstein. S. 186). An dieser Formulierung zeigt sich, wie sehr sich das Geschöpf von den Menschen entfernt fühlt, denn diese Forderung erinnert sehr an das biblische Gespräch Abrahams mit Gott bezüglich der Vernichtung von Sodom und Gomorra (vgl. Gen I 18, 26–33), wenn Gott sagt: »Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben.« (Gen I 18, 26) Das Geschöpf sieht sich also als dem Menschen übermächtig und nahezu gottgleich. Insofern hat es seine ursprünglich intendierte Rolle als Über-Mensch und neue Menschengattung angenommen. Diese Rolle behält es aber auch in seiner Forderung bei, wenn er sagt: »Du musst eine Frau für mich schaffen, die mir mit der für meine Existenz nötigen Sympathie begegnet.« (Shelley. Franken100 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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stein. S. 183) Oder: »Meine Gefährtin wird mir gleichen und mit derselben Kost zufrieden sein.« (Shelley. Frankenstein. S. 187) Der Wunsch des einsamen Geschöpfes ist verständlich. Allerdings drückt sich auch hier der Wunsch nach einem gleichartigen Wesen aus, das allen Hoffnungen und Plänen entspricht. Ebenso wie Frankenstein erwartet sein Geschöpf von einem weiblichen Geschöpf eine bestimmte Grundeinstellung ihm und der Welt gegenüber. Hier wird vorausgesetzt, dass der weibliche Gegenpart keinen eigenen Willen haben wird, das männliche Geschöpf fraglos als seinen Partner akzeptieren und ihm in jeder Hinsicht folgen wird. Diese Annahme zeugt von einem überhöhten Machtanspruch, den das Geschöpf nicht nur den Menschen, sondern auch seiner eigenen Art gegenüber haben will. Weder das Geschöpf, noch Frankenstein ziehen die Eigenständigkeit eines neuen Geschöpfes in Betracht 11. Es ist auch nicht der Gedanke an mögliche neue Individuen, sondern die Angst vor einem zerstörerischen Pärchen, das seinem Schöpfer nicht Dankbarkeit entgegenbringt, sondern ihm Schande macht, die Frankenstein letztendlich von der Verwirklichung einer erneuten Schöpfung abhält. Diese Weigerung führt schließlich zur Vernichtung seiner Familie und seiner selbst. Das Böse Das Böse in Frankenstein stammt ursprünglich aus Frankensteins Gedankenlosigkeit und Fanatismus. Die Suche nach dem Ursprung des Lebens wird bei ihm zu einer Manie, und ethische Probleme und Konsequenzen werden nicht mehr bedacht. Die Personifizierung des Bösen ist zunächst Frankenstein selbst, der den Typ des fanatischen Wissenschaftlers darstellt. Aber auch sein Geschöpf ist eine Personifikation des Bösen. Dies nicht nur wegen seines Aussehens oder gar seiner Herkunft. Frankenstein selbst bezeichnet es gar als »meinen eigenen Vampir, meinen eigenen bösen Geist« (Shelley. Frankenstein. S. 99). Das Geschöpf ist sein Doppelgänger. Aber während Frankenstein aus Leidenschaft unreflektiert handelt, ist das Geschöpf mit BeDiese Leistung, die Frankenstein im Roman nicht erbringen wird, wird jedoch in filmischen Adaptionen bis zum Ende gedacht. Hier wird auch der Eigenständigkeit der künstlich erschaffenen Frau Rechnung getragen, denn in James Whales Film Frankensteins Braut von 1935 lehnt die vermeintliche Braut ihren Bräutigam aus Angst vor ihm ab, während sich die wiedererweckte Elizabeth in Kenneth Branaghs Film Mary Shelleys Frankenstein von 1994 freiwillig wieder in den Tod stürzt, da sie die Unmöglichkeit von Frankensteins Handlungen begreift.

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dacht böse: »Ich bin böse, weil ich unglücklich bin« (Shelley. Frankenstein. S. 183). Dies ist eine Art Leitmotiv, welches das Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber immer wieder wiederholt. Mit seinen intellektuellen Fähigkeiten ist dem Geschöpf bewusst, dass es vorsätzlich handelt. Es hebt sich aber über jeden ethischen Grundsatz hinweg. Es sieht sich außerhalb der menschlichen Gesellschaft, lebt aber nach deren Ethik und sieht sich gleichzeitig als Maßstab für jedes Geschöpf seiner Art. Insofern verkörpern beide Figuren das Böse, Frankenstein, weil er gewissenslos handelt, sein Geschöpf, weil es das Gewissen seines Schöpfers geschickt auszunützen und zu manipulieren weiß. Beides geschieht aufgrund von Leidenschaften, die weder durch Verstand noch durch Vernunft gezügelt werden.

Die Thematisierung der Verantwortungslosigkeit Bei der Behandlung des Themas des Golem ging es darum, dessen Grundstruktur herauszustellen und deren Bedeutung darzulegen. Prinzipiell geht es beim Golem-Thema darum, dass jemand bedroht wird und daraufhin einen künstlichen Menschen erschafft, der die Bedrohung von ihm abwenden soll. Das geschaffene Wesen wird aber nach Beendigung seiner Aufgabe selbst zur Bedrohung für seinen Schöpfer. Es wird böse und muss letztendlich zerstört werden. Eine Variante der Golem-Thematik, die bisher in der GolemLiteratur einzigartig ist, findet sich bei Cynthia Ozick. Zwar verweist sie im Text selbst auf Ibn Gabriol, der einen weiblichen Golem schuf, jedoch war dieser eine Puppe aus Holz und keine Lehmgestalt. (Vgl. Ozick. Puttermesser. S. 109) Neuartig an ihrer Erzählung ist, dass eine Frau den Golem schafft, und dass diese keinerlei religiöse Funktion im Judentum einnimmt. Auch sind hier die Beweggründe für die Erschaffung eines Golem zunächst unklar oder gar nicht vorhanden und werden im Nachhinein durch die Umsetzung von Puttermessers Plänen und Visionen motiviert. Ozick verwendet in ihrem Text jedoch die typischen Elemente der Golem-Legende. Insofern ist auch ihre Erzählung von Interesse. In erster Linie zeigt die Golem-Thematik, also das Motiv des künstlichen Menschen, den Egoismus des Menschen und dessen Verantwortungslosigkeit seinen Mitgeschöpfen gegenüber, die er – zum Teil konsequent – vernachlässigt. 102 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Der Egoismus zeigt sich dabei in mehreren Varianten. Zum einen geht es hier um den tatsächlichen Egoismus wie in Ozicks Erzählung, bei dem sich der Mensch lediglich um seine eigene Person dreht. Der Mensch interessiert sich hier nur für seine eigenen Belange und die anderen werden zu Randfiguren, die er entweder nicht wahrnimmt oder zu seinem eigenen Zweck benutzt. Zum anderen wird hier eine Egozentrik thematisiert, die der Ausstoßung durch andere verdankt ist. Ein oder mehrere Menschen müssen sich gegen andere zur Wehr setzen und können sich nur auf sich selbst, ihr Wissen und ihr Können, wie z. B. das geheime Wissen der Kabbala, verlassen. Letzteres bleibt aber den anderen verborgen und führt zu weiterer Abgrenzung und damit wiederum zur Konzentration auf sich selbst. Diese Grundthematik zeigt bereits den falschen Umgang, den der Mensch mit seinen Mitmenschen pflegt. Kommt nun noch das Motiv der Erschaffung eines eigenen menschenähnlichen Gebildes hinzu, so erhält dieser falsche Umgang noch eine weitere Komponente, nämlich den falschen Umgang mit dem eigenen Geschöpf in Form von Verantwortungslosigkeit, mangelnder Einfühlung, Egoismus und Vernachlässigung. Der Mensch, der ein menschenähnliches Geschöpf in die Welt setzt, geht davon aus, dass seine Schöpfung menschlich und übermenschlich zugleich ist. Übermenschlich ist sie und soll sie sein, da sie die Bedrohung bekämpfen soll, die der Mensch selbst nicht bewältigen kann. Menschlich hingegen soll die Kreatur sein, insofern als sie alle menschlichen Eigenschaften haben soll. Dazu gehört auch die Eigenschaft der Einfühlung und des Verstehens des Menschen an sich, was jedoch nie explizit zum Ausdruck gebracht wird. Das vom Menschen erschaffene Wesen soll sich an die Gegebenheiten und die Menschen anpassen können, diese verstehen und ihre Eigenheiten akzeptieren können. Es wird vom Schöpfer vorausgesetzt, dass sich sein Geschöpf von vorneherein richtig verhält. Jedoch vergisst der Schöpfer im Allgemeinen, dass die Voraussetzung für entsprechendes richtiges Verhalten die Einführung in dieses Verhalten ist, sei es durch Erziehung oder Erklärung. Andererseits wird auch vom Schöpfer gar nicht erst in Betracht gezogen, dass sein Geschöpf eine eigene Identität oder gar einen eigenen Willen haben könnte. Auch wird nicht berücksichtigt, dass es sich eben nicht um einen Menschen handelt, sondern um ein anderes Wesen, das zwar menschenähnlich, aber doch anders ist. Dem103 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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entsprechend ist auch niemandem bewusst, dass dieses Wesen eventuell andere Maßstäbe des Verhaltens haben könnte als der Mensch. Stattdessen wird das Verhalten des Geschöpfes am Verhalten der Menschen gemessen. Ist dieses Verhalten dem Menschen zuwider oder wendet sich das Geschöpf gegen die menschliche Ordnung, dann wird das Geschöpf als solches als Böses stigmatisiert. Dieses Böse gilt es nun zu bekämpfen und zu vernichten. Bei der Golem-Legende handelt es sich aber nicht nur um die Thematik des Egoismus und der Vernachlässigung von Verantwortung, sondern auch um einen Mythos, der einen der größten Träume des Menschen behandelt: den Traum, aus eigener Kraft Menschen zu schaffen. Es geht hierbei nicht nur um das reine Erschaffen oder Reproduzieren eines anderen, künstlichen Menschen, um sich selbst sein eigenes Können und sich als Schöpfer zu beweisen. Vielmehr will der Mensch durch die Erschaffung eines Wesens verstehen, was Leben ist und wie es funktioniert. Gleichzeitig ist dies auch der Wunsch, dem Leben das letzte und größte Geheimnis zu entreißen. Aus philosophischer Sicht ist jedoch nicht klar, woher der Wunsch des Menschen, der Ausdruck des (Selbst-)Bewusstseins ist, überhaupt kommt. Um diese Frage: »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe. Faust I. V. 382–383) – ebenso wie um die Frage des Ursprungs des Bewusstseins oder des Urteilsvermögens – dreht sich die Philosophie. Aber auch andere Wissenschaften beschäftigen sich direkt oder indirekt mit dieser Frage. Bisher ist es jedoch noch keiner Wissenschaft gelungen, diese Frage endgültig zu klären, und auch die Philosophie kann diese Frage nur offen lassen. Die Wissenschaft und damit die Neugier am Verstehen und am Experimentieren, ist allen Menschen zu eigen. Auch die Verantwortung demgegenüber, was man erschafft, sollte allen bewusst sein. Das Problem der vergessenen Verantwortung sowie das im Kapitel »Der Pakt mit dem Teufel« angesprochene Problem der richtigen Integration in eine Gesellschaft sind Lebenserfahrungen, mit denen jeder Mensch jederzeit wieder konfrontiert wird. Sowohl die Legende des Golem als auch die Legende des Faust repräsentieren menschliche Realitäten und Grundthemen des Menschen; und als solche Darstellungen von Realität sind beide Mythen, der Definition des Mythos von Bronislaw Malinowski zufolge (vgl. Grätzel. Dionysos. S. 32). Als Mythen können literarische oder andere erzählerische Werke wie zum Beispiel der Film Geheimnisse des menschlichen Lebens 104 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der künstliche Mensch

zum Vorschein bringen und in den Fällen des Paktes mit dem Teufel und des künstlichen Menschen handelt es sich um das Verhältnis des Menschen zum Bösen. Folglich ist das Problem des Bösen ein generell menschliches. Ist der Mensch als Held seiner eigenen Geschichte nun aber gut oder böse? Trägt er das Böse selbst in sich oder verführt ihn der böse Andere? Diese Fragen stellen sich nicht nur Schriftsteller, die sie dann literarisch verarbeiten, sondern auch Philosophen. Um von ihnen Antworten zu erhalten, müssen die Fragen jedoch anders gestellt werden, nämlich: Was ist das Böse? Wie entsteht es? Was folgt daraus und was bringt es dem Menschen? Und schließlich: Verführt mich der böse Andere zum Bösen oder bin ich es selbst?

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III) Nachdenken über den Bösen

Die Philosophie beschäftigt sich mit dem Menschen und seinem Umfeld. Sie fragt nach den Ursprüngen des Lebens oder den Grenzen des Wissens überhaupt. Auch geht sie der Frage nach dem richtigen Handeln im Bereich der Ethik nach. Das Nachdenken über das Böse, über die Positionierung des Menschen und über die Personifikation des Bösen als Teufel ist eines der Hauptthemen im Bereich der Religionsphilosophie. In der Folge sollen ausgewählte Positionen von Philosophen dargestellt werden, die vielleicht nicht gerade als ausgewiesene Religionsphilosophen bekannt sind. Dennoch haben sie sich in ihrem Werk die Frage nach dem Bösen und gar nach dem Teufel gestellt. In ihrem Denken scheinen sie miteinander nahezu in einen Dialog getreten zu sein. Somit weisen sie beinahe eine Art Genealogie auf. Diese Positionen werden im Folgenden miteinander verglichen.

1.

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

In der Zeit der Aufklärung wurde im deutschsprachigen Raum das Vermögen der menschlichen Vernunft ins Zentrum des Philosophierens gerückt, was unmittelbar Auswirkungen auf das Nachdenken über das Böse und über dessen Personifikation, den Teufel hatte. So bemerkt Safranski, dass im Zeitalter der Aufklärung von den Philosophen, vor allem von Immanuel Kant, eine »Entdämonisierung« (Safranski. Böse. S. 177) betrieben wurde. Diese bezog sich auf die Natur, denn das Anerkennen des Waltens von Naturgesetzen setzte dem Aberglauben, Naturphänomene seien von bösen Geistern oder gar dem Teufel verursacht, um dem Menschen zu schaden, ein Ende. Dementsprechend nannte auch Johann Gottfried Herder Voltaires Aufregung wegen des Erdbebens von Lissabon ein »unphilosophisches Geschrei« (SW XIII, S. 24). 106 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

Die Philosophen verstanden die Vernunft noch nicht als eine unabhängige Fähigkeit, die sich im Laufe einer besonderen Entwicklung allein beim Menschen herausgebildet hatte. Vielmehr begriffen sie die Vernunft als das Göttliche im Menschen, das, was ihn über das allein Natürliche erhebt und mit Gott, dem Schöpfer des Natürlichen, besonders verbindet. Durch den Verstand hat der Mensch die Fähigkeit zu reflektieren und somit, das zu begreifen, was ihm widerfährt, Erfahrungen zu machen und sich daran zu erinnern. Die Vernunft ermöglicht ihm, Abstand von sich selbst und seinen Handlungen zu gewinnen und sich somit selbst zu beurteilen. Dadurch ist es dem Menschen möglich, in der Zukunft etwas ändern zu können. Hinsichtlich des Bösen bedeutet dies, dass der Mensch das Böse erfahren, erkennen und begreifen kann. Dank seines eigenen Verstandes, seiner Vernunft und seiner Fähigkeit zu Wollen kann er erfahrenes Böses in Gutes ändern oder gar versuchen, das Böse auszumerzen. Für einige wichtige Philosophen des 18. Jahrhunderts sind allerdings nicht die Natur und ihre Gesetze, sondern die Gottähnlichkeit des Menschen und die Verbindung zwischen der Schöpfung und ihrem Schöpfer so bedeutend, dass das Böse und das Nachdenken darüber ihr Denken nicht mehr primär bestimmt und an Bedeutung verliert. Das Göttliche wird hier als das absolut Gute begriffen, welches das Böse jederzeit wieder vertilgt. Die Welt und ihre Ordnung sind so gestaltet, dass das Grundprinzip des Guten sich immer wieder durchsetzen wird. Exemplarisch für dieses Denken sollen im Folgenden zwei Philosophen stehen, nämlich Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Gottfried Herder, deren Überlegungen in Bezug auf den Menschen und das Böse dargestellt werden.

Das Böse als Möglichkeit bei Gottfried Wilhelm Leibniz Gottfried Wilhelm Leibniz steht an der Schwelle zur philosophischen Epoche der Aufklärung. Sein Werk jedoch hat diese Epoche im Wesentlichen mitbestimmt. Gerade seine Definition der Welt als »beste aller Welten« sorgte für eine rege Diskussion, die sich auch dank Voltaires Roman Candide in der Literatur niederschlug. Die These Leibniz’ führt zu der Frage, wie es in der besten aller Welten mit dem Bösen und dessen Personifikation bestellt ist. 107 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

a)

Gott und die beste aller Welten

In seiner Schrift Monadologie von 1714, die als Übersetzung aus dem Französischen von Heinrich Köhler 1720 veröffentlicht wurde, geht Leibniz davon aus, dass es nur einen Gott gibt (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 613). Dieser ist absolut vollkommen und ihm sind keine Grenzen gesetzt (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 613). Die Vorstellung des Absoluten besteht nur jenseits aller Grenzen und Begrenzungen. So ist Gott jenseits von Zeit und Raum, er ist ewig und laut Leibniz ist er die größtmögliche Realität (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 613: »doit […] contenir tout autant de realité qu’il est possible«). Er ist die notwendige Substanz (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 613), die sein muss, da alles, was ist, von ihr abhängt. Er ist der Schöpfer all dessen, was ist (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 614), er hat die Macht, die allem zugrunde liegt, die Erkenntnis, die alle Ideen beinhaltet und den Willen, der (Ver-)Änderungen bewirken kann (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 615). Dies bedeutet, dass alles, was wirkt und (sich) verändert, von Gott ausgeht und durch ihn und in ihm seinen Ursprung hat. Gleichzeitig ist alles, was gedacht werden und geschehen kann, bereits in seinem Wissen enthalten. Jede Möglichkeit des Werdens und SichEntwickelns des Seins ist in Gottes Erkenntnis bereits beinhaltet. Dies geschieht allerdings nicht auf die Weise des Vorweggenommenseins, sondern auf die Weise des Möglich-Seins. Nichts ist im Vorhinein geplant und schicksalhaft festgelegt. Vielmehr ist alles möglich und alles kann sich innerhalb von Raum und Zeit in alle Richtungen realisieren. Leibniz entwickelt hier die Vorstellung des allmächtigen Gottes, der Ursprung von allem ist. Gott hat als Grundlage allen konkreten Seins die Ordnung geschaffen. Nichts kann außerhalb der göttlichen Ordnung sein. Die Welt als Schöpfung gehorcht dieser Ordnung und bewegt sich in ihr. Alles, was innerhalb dieser Ordnung als konkretes Sein möglich ist und realisiert werden könnte, ist Gott bereits bekannt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dies auch genauso realisiert wird. Gottes Wissen und Erkenntnis ist allumfassend und ohne Grenzen, aber dies bedeutet für Leibniz keinesfalls, dass alles, was in der Welt geschieht, determiniert ist. Die Ordnung und die unendliche Vielfalt an Möglichkeiten sind die Grundlage für das, was in der konkreten, begrenzten Welt existieren und sich entwickeln kann. Außerdem folgen Gottes Handlungen, gemäß Leibniz, dem 108 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

»principe du Meilleur« – Prinzip des Besten (Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 615). Gott ist das Gute und handelt dem Guten gemäß. Sein Wesen ist das Gute, also das Aufbauende, das Voranbringende, das, was die Welt zum Besten bringt. Dies bedeutet aber auch, dass das Böse, nämlich das Zerstörende, lediglich als Möglichkeit existiert, nicht aber Gott wesenhaft ist. Somit ist das Gute die Basis für die existierende Welt, das Böse kann geschehen, muss aber nicht verwirklicht werden. Der Begriff der Besten aller Welten findet sich bei Leibniz, besonders in den Essais de Théodicée von 1710. Hier zeigt Leibniz, dass die konkrete Welt, so wie sie existiert, die bestmögliche ist, die Gott hat schaffen können, und somit die einzig möglich existierende. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol. VI. S. 106 ff.) Gott ist Verstand, Wille und Macht. Diese drei Komponenten sind es, die auch in der konkreten Welt in begrenzter Form wiederzufinden sind. Als Ausdruck des Guten wirken auch Verstand, Wille und Macht auf das Gute hin, das durch das Erschaffen einer Welt ausgedrückt werden soll. Aus dem göttlichen Verstand geht die Weisheit hervor, die das Gute, also das Wahre vorstellt. Der göttliche Wille wird zur Möglichkeit der Wahl, die das Gute wählen will. Aus der Macht wird das Sein hervorgebracht. Verstand, Wille und Macht sind auch in ihren konkreten Ausführungen als das Gute und Wahre, der Möglichkeit der Wahl und das Sein in der konkreten Welt miteinander verknüpft. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol VI. S. 106) Dank des göttlichen Willens existiert also die Welt, die alle konkreten Dinge und deren Beziehungen untereinander beinhaltet; dank des göttlichen Verstandes existiert sie genau so, wie sie ist. Da Gott das Gute ist, ist die existierende Welt grundsätzlich gut und somit die beste aller möglichen Welten. Der göttliche Verstand, der unendlich und grenzenlos ist, wählt aus allen möglichen zahlreichen Variationen der konkreten Welten diejenige aus, welche die beste ist und welche dann von dem göttlichen Willen, der das Aktive ermöglicht, geschaffen wird. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol VI. S. 106) Dann hat gemäß Leibniz Gott nicht allein nur über den Anfang der zu schaffenden Welt nachgedacht, sondern auch über jede mögliche Beziehung und ihre Folge, denn alles steht in der konkreten Welt miteinander in Beziehung. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol VI. S. 107) Nachdem die bestmögliche Welt gewählt wurde, hat Gott, nach Leibniz, alles »idéalement« – ›in der Vorstellung‹ – im Voraus geregelt (vgl. Leibniz. Essais. Vol VI. S. 108), d. h. alle Dinge, jede Handlung, usw. als Mög109 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

lichkeit vorausgesehen. Es handelt sich für Leibniz deshalb um die beste aller Welten, da der Wille Gottes immer zum Besten zielt, da Gott das höchste Gute ist. In dieser Schrift zielt Leibniz eindeutig nur auf das Gute in der Welt ab und scheint alles Böse auszublenden oder gar zu verwerfen, was ihm gerade in Voltaires Roman Candide erhebliche Kritik einbrachte. 12 Aber auch heute noch versteht Susan Neiman Leibniz so »als sei [seine] These nicht nur vor aller Erfahrung aufgestellt worden, sondern als sei sie auch gegen jegliche Erfahrung immun« (Neiman. Böse. S. 52). Voltaires Vorwurf der Weltfremdheit Leibniz’, der sich ein System konstruiert, aufgrund dessen er die konkrete Erfahrungswelt interpretiert, ist nach wie vor existent. Dieser Mangel bei Leibniz lässt sich jedoch dadurch erklären, dass, ihm gemäß, das Grundprinzip des Guten immer vorherrschend ist. Insofern ist die Welt eine aufbauende, zum Guten tendierende, in der sich trotz des Schlechten, das möglich ist, letztendlich das Gute durchsetzen wird. Safranski bemerkt hierzu, dass Leibniz vom konkreten Leiden in der Welt absieht, gerade weil er die »Rolle des Weltbaumeisters« (Safranski. Böse. S. 307) hervorheben wolle. Somit versteht Safranski Leibniz’ Gott als »Programmierer […] [, der i]n seinem unendlichen Verstand […] alle möglichen Programme [prüft] und […] das beste aus[wählt].« (Safranski. Böse. S. 308) Im Discours de Métaphysique von 1646, aber erst 1686 veröffentlicht, verteidigt Leibniz seine Idee der besten aller Welten, argumentiert aber ein wenig differenzierter. Die in der Monadologie erarbeiteten Wesensmerkmale Ordnung als Grundlage, Vielfalt der Möglichkeiten und Prinzip des Besten veranlassen Leibniz auch zu dem Schluss, dass die Welt, so wie sie geschaffen wurde, und so, wie sie ist, die beste aller möglichen Welten ist. Sie ist nämlich laut Leibniz, »le plus simple en hypotheses et le plus riche en phenomenes« – die einfachste an Prinzipien und die reichhaltigste an Erscheinungen (Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 431). Das Beste ist demnach das, was am wenigsten beschränkt ist. Nur wenige Grundsätze bilden die Grundlage für unendliche Entfaltungsmöglichkeiten. Dabei finden die Beschränkungen des UnendSusan Neiman versteht z. B. Leibniz’ Theodizee als »juristisches Schriftstück« (Neiman. Böse. S. 67), mit dem Leibniz als Verteidiger des Angeklagten Gott fungiert. (Vgl. Neiman. Böse. S. 52)

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Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

lichen allein durch die Bedingtheit innerhalb der konkreten Erfahrungswelt statt, nicht aber durch die göttlichen Grundsätze. Nur wo wenige grundsätzliche Beschränkungen gegeben sind, lässt sich eine große Zahl an Variationen erreichen. Insofern ist diese Struktur die bestmögliche hinsichtlich der erreichbaren Möglichkeiten. Diese schließt die Möglichkeit des Schlechten und des Bösen nicht aus. Es stellt sich also die Frage nach der Freiheit des Menschen und der Freiheit seiner Handlungen, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll. b)

Das Verhältnis Gott – Mensch

Gott hat die Welt erschaffen, und er hat sie so erschaffen, dass sie aus Monaden und Körpern besteht. Als Monaden bezeichnet Leibniz einfache Substanzen, die durch Schöpfung entstehen und durch Vernichtung vergehen (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 607). Eine Substanz ist eine Welt im Ganzen; der Spiegel Gottes und des Universums. Sie trägt die Allmacht Gottes in sich und somit dessen Weisheit (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 434). Die Substanz ist nicht Gott. Sie enthält aber alle Eigenschaften und alles Wissen von Gott in begrenzter und bedingter Form, denn sie existiert in Zeit und Raum. Die Monade selbst entsteht aber nicht in oder durch Zeit und Raum, ihre Existenz verdankt sie allein dem Schöpfungsakt. Somit ist sie sowohl innerweltlich bedingt als auch ewig. Das Ende der Monade kann auch nur von außen kommen; selbst kann sie sich nicht zerstören. Bedingt durch ihre Begrenztheit in Zeit und Raum, ist jede Monade unterschiedlich. Zudem liegt in ihr die Möglichkeit der Entwicklung, da auch ihr das Prinzip der Veränderung innewohnt (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 608). Die Monaden können mit Seelen ausgestattet sein, die durch deutliche Perzeption und Erinnerung (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 610) gekennzeichnet sind. Davon zu unterscheiden sind nochmals die vernünftigen Seelen oder auch Geister, die sich durch Selbstbewusstsein, Wissen um ihre Handlungen und Erkenntnis, also Vernunft, auszeichnen (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 436; Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 611 f.). Im Besitz einer vernünftigen Seele sind Menschen, welche die Fähigkeit zu reflexiven Akten und zur Erkenntnis des Ich haben. Der Mensch ist die individuelle Substanz, da er eine vernünftige 111 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Seele hat. Dank dieser ist er fähig, »um seine Handlung zu wissen« (Leibniz. Discours. Meiner. S. 27) – »connoissent leur actions« (Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 436), d. h., der Mensch weiß, was er tut, und ist sich dieser Handlung bewusst. Hier liegt also ein Moment der Freiheit, denn handeln bedeutet abwägen und frei wählen. Auch ist der Substanz durch die Seele zu eigen, dass sie »die Grundlage der Erkenntnis ihrer selbst bewahren« (Leibniz. Discours. Meiner. S. 27) – »gardent tousjours le fondement de la connoissance de ce qu’elles sont« (Leibniz. Discours. Vol IV. S. 436). Dies bedeutet, dass der Mensch sich der Besonderheit seiner Seele bewusst ist, nämlich das Wissen darum, dass sie ihm von Gott gegeben ist und somit die Verbindung zu Gott herstellt. Nur durch dieses Geschenk Gottes ist der Mensch fähig, sich der Besonderheit seiner Seele bewusst zu sein und sich dieser vernünftig in Form von Handlungen zu bedienen. In Leibniz’ System existieren die Monaden, Seelen oder Substanzen unabhängig von den Körpern. Jedoch wirken die Körper miteinander und beeinflussen sich in ihrem Streben. Auch die Seelen wirken miteinander. Ein unmittelbares Zusammenspiel gibt es jedoch nicht. Hier stellt sich die Frage, wie es in diesem Fall möglich sein kann, dass die Handlungen der Seele mit dem Verhalten des Körpers zusammenspielen kann. Leibniz löst dieses Problem durch die ›prästabilierte Harmonie‹ (Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 621). Parallel zueinander und unabhängig voneinander wirken die Seelen und Körper in die gleiche Richtung miteinander. Das Streben von Seele und Körper ist das gleiche und so finden sie sich in derselben Bewegung, die eine Harmonie ergibt und wiederum zu einer Harmonie führt. Hierin spiegelt sich das Prinzip des Guten wider, das Gott zugrunde legt. Das Gute führt zu einem Ausgleich zwischen zwei Bereichen und dieser Ausgleich ist als Prinzip von vorneherein festgelegt. Alles, was im Universum geschieht, soll zum Positiven und zum Aufbau beitragen. In seiner Schrift Discours de Métaphysique stellt Leibniz die Verbindung von Gott und dem Licht her. Hier entwickelt Leibniz, dass einzig Gott auf die Monade oder den Menschen wirkt und dass Gott durch sein kontinuierliches Wirken im Menschen die Vorstellung von allen äußeren Dingen entstehen lässt. Die Monade selbst kann nicht durch etwas oder jemanden außerhalb ihrer selbst affiziert werden, sondern alles, was existiert, affiziert die Monade nur durch die Vermittlung von Gott. Die Seele ist Ausdruck oder Bild des gött112 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

lichen Wesens und Denkens, welche allein auf die Monade einwirken. Somit wirken das göttliche Wesen und Denken auch auf die Seele. Daraus schließt Leibniz, dass alles, was im göttlichen Denken ist, sich auch auf begrenzte Art und Weise im Denken der Monade wiederfindet und hier genau im Denken des Menschen, welcher der Ausdruck des göttlichen Denkens ist. Der Mensch sieht alle Dinge nur durch Gott, der ihm die Vorstellung der konkreten Dinge außer ihm gibt. Auf diese Weise versteht Leibniz Gott als Licht, denn jener gibt die Ideen/Vorstellungen und erleuchtet sozusagen die Seele des Menschen. 13 Der Zusammenhang zwischen Gott und dem Licht wird auch in den Essais de Théodicée hergestellt, in denen Leibniz bereits in der Vorrede vom »lumière divine« (Leibniz. Essais. Vol. VI. S. 9) spricht. Dieses Licht wird als das natürliche Licht verstanden, welches dem Menschen von Gott gegeben wurde, demnach eingeboren ist und ebenso aus einfachen Ideen wie aus den komplexesten Begriffen besteht. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol VI. S. 453) Das natürliche Licht wird auch »la lumière de la raison« (Leibniz. Essais. Vol VI. S. 274) – das Licht der Vernunft – genannt. Leibniz bezeichnet das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen, der in seiner Terminologie Geist (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol. VI. S. 621) ist, in der Monadologie unter anderem auch als das Verhältnis zwischen Vater und Kind (vgl. Leibniz. Monadologie. Vol VI. S. 621). Jedoch meint dieses Verhältnis die Tatsache, dass die Geister das Bild oder auch die Darstellung Gottes sind und dass sie als solche eine Gemeinschaft bilden. c)

Das Problem des Bösen

Der Begriff der individuellen Substanz schließt bei Leibniz alles ein, was ihr widerfahren kann, sowie die Möglichkeit, alles vorauszusehen, was über sie ausgesagt werden kann (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 436). Dies bedeutet dann folgerichtig, dass alles, was einer Person widerfahren kann sowie das, was sie ausleben kann, bereits als Möglichkeit in ihrer Natur enthalten ist (vgl. Leibniz. Discours. Im Übrigen verweist Leibniz darauf, dass die Vorstellung von Gott als Licht ursprünglich nicht seine eigene ist, sondern dass er hier einer Tradition folgt, die ihren Ursprung in der Bibel findet und durch die scholastische Philosophie weitergetragen wurde.

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Nachdenken über den Bösen

Vol. IV. S. 437). Dies heißt jedoch nicht, dass der Mensch und sein Tun von vorneherein determiniert sind. In dem Falle wäre der Mensch unfrei; sein Sein und sein Handeln wären vorgegeben. Der Problematik des Determinismus ist sich Leibniz bewusst. Dass dem nicht so ist, begründet er anhand der Begriffe des Gewissen und des Notwendigen (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 436 f.). So ist Gott allwissend und allmächtig und erteilt dem Menschen seine Persönlichkeit, die ihm zu eigen ist und ihn zu dem macht, was er ist. Der Mensch verhält sich nun gemäß dieser ihm gegebenen Persönlichkeit und dies ist notwendig. Die Persönlichkeit stellt gewissermaßen die Rahmenbedingung oder die Ordnung dar, gemäß derer der einzelne Mensch lebt. Er kann sich nicht anders verhalten, als es ihm seine Persönlichkeit vorgibt (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 437), denn darin läge ein Widerspruch, was beim Begriff des Notwendigen ausgeschlossen ist. Die Art und Weise, wie genau sich der Mensch verhält, liegt lediglich im Verstand und im Willen Gottes (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 437) und hat zunächst noch keine Realität. Dass der Mensch sich verhalten wird, dass er sich entscheiden und handeln wird, ist also gewiss, dass er seinen Vorbedingungen gemäß agieren wird, ist gewiss, aber nicht notwendig. Wie er sich aber verhalten wird, welche Entscheidungen er treffen wird, liegt im Bereich des Möglichen. Das Mögliche gehört zum Bereich des Gewissens, in dem der Widerspruch nicht ausgeschlossen ist. Somit ist alles möglich, auch das Gegenteil von dem, was den Vorbedingungen gemäß eintreten kann und soll. Gewiss ist auch, dass Gott immer das Beste tun wird und er auf die vollkommenste und wünschenswerteste Weise handelt. (Vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 431). Sein Handeln erfolgt dem Ratschluss gemäß, immer das Vollkommenste zu verrichten (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 438). Insofern tut Gott das Perfekte. Hinsichtlich des Menschen handelt er dem Ratschluss gemäß, dass ersterer – freiwillig – immer das tun wird, was ihm das Beste zu sein scheint (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 438). Hierin liegt die Freiheit des Menschen für Leibniz begründet. Bei Leibniz findet sich die Vorstellung, dass der göttliche Wille sich immer zum Guten wendet. Diese Vorstellung wird vor allem in den Essais de Théodicée herausgestellt (vgl. Leibniz. Essais. Vol. VI. S. 63 ff., 69, 198 ff.). Alles, was in der sinnlich wahrnehmbaren Welt passiert, geschieht gemäß dem Ratschluss Gottes und die menschlichen Handlungen sind Teil des allgemeinen Willens Gottes, der 114 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

zum Guten strebt. Folglich strebt auch der Wille des Menschen zum Guten. Hiermit wirft Leibniz das Problem auf, dass das Böse, das zufällig geschieht, immer durch einen Anschein des Guten verschleiert ist. (Vgl. Leibniz. Essais. Vol. VI. S. 201) Das Böse ist nicht in Gott, es kommt nur deshalb zum Menschen, da es eine Möglichkeit ist und aus dem Mangel (vgl. Leibniz. Essais. Vol. VI. S. 201) entsteht, den Gott in seiner Allmacht und Unendlichkeit nicht kennt. Da jedoch der Wille des Menschen zum Guten strebt und vor allem zum höchsten Guten, das Gott ist, kann es ihm auch gelingen, dieses Böse, das zufällig geschieht, zu besiegen. Im Discours (vgl. Leibniz. Discours. Vol. IV. S. 432) ist die Argumentation bezüglich des Guten und des Bösen konkreter hinsichtlich des Menschen und seiner Handlungen. Hier stellt Leibniz dar, dass jede menschliche Handlung – geschehe sie aus guter oder aus böser Absicht – sich zum Guten wendet, denn sie ist Teil des göttlichen Willens. Jedoch berücksichtigt Leibniz nicht die Handlungen, die aus böser Absicht geschehen und die sich zufällig zum Guten wenden, denn Gott trägt gemäß ihm zu jeder menschlichen Handlung bei, in dem Maße, in dem sie Teil des allgemeinen Willens Gottes sind, der zum Guten strebt. Es sind der Wille des Menschen und seine Handlungen, die zum Anschein des Guten streben, das, nach Leibniz, immer etwas Wahres (vgl. Leibniz. Discours. Vol IV. S. 454) und somit etwas Gutes in sich trägt. Handelt der Mensch nun nicht zum Besten, so liegt das in der Unvollkommenheit des Menschen. Der Mensch ist begrenzt. Er ist endlich und es mangelt ihm an Ewigkeit. Deshalb kann er nicht alles überschauen und verstehen. Auch kann er nicht alle Möglichkeiten realisieren, sondern nur diejenigen, die seine Persönlichkeit zulassen. Insofern ergreift und lebt er alle Möglichkeiten aus, die sich ihm bieten, soweit sie ihm selbst als gut erscheinen, auch wenn diese nicht zum Guten führen. Leibniz präsentiert in seinem Denken eine Welt, die von vorneherein geordnet ist und wenigen, dafür aber eindeutigen Prinzipien unterstellt ist. Das Böse ist innerhalb dieser Welt eine von sehr vielen Möglichkeiten, es ist jedoch nicht notwendig vorhanden. Das personifizierte Böse existiert in der besten aller Welten nicht.

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Nachdenken über den Bösen

Die Bedeutungslosigkeit des Bösen bei Johann Gottfried Herder Johann Gottfried Herder sind Leibniz’ Schriften bekannt und er setzt sich in seinem Denken auch häufig mit der Leibniz’schen Philosophie auseinander. Vor allem hinsichtlich seiner Überlegungen zum Bösen scheint Herder Leibniz’ Denken sehr nahe zu sein. Dies ist nicht verwunderlich, denn Herder ist ein großer Bewunderer dieses Philosophen, den er selbst den größten Mann nennt, »den Deutschland in den neueren Zeiten gehabt« (SW V, S. 224) 14 hat. (Vgl. SW V, S. 57) 15 a)

Das Prinzip der Harmonie

In Herders Denken haben die Natur und das Natürliche eine große Bedeutung. Natur steht für einen dynamischen Rhythmus, der das Leben an sich beherrscht. Dieser Rhythmus besteht zum einen im Werden-Blühen-Vergehen, das sich zyklisch wiederholt; zum anderen im harmonischen Ausgleich zwischen Theorie und Praxis. Werden-Blühen-Vergehen ist ein dynamischer Prozess, der überall in der Natur zu finden ist und somit gemäß Herder das Vorbild für alles darstellt, was auf der Erde auf natürliche Weise vor sich geht. Dies geschieht jederzeit und überall und wiederholt sich auf die gleiche Weise. Insofern gleicht sich alles, was auf natürliche Weise entsteht, und Herder findet diesen Prozess auch dort wieder, wo die Natur nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: nämlich in der Geschichte der Menschheit und in der Entwicklung der Sprache. Jede historische Epoche, so legt Herder in seiner Geschichtsphilosophie Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit dar, trägt ihre dynamische Entwicklung in sich selbst, indem sie entsteht, erblüht und wieder untergeht. Dasselbe gilt auch für eine Reihe historischer Epochen, die aufeinander aufbauen, dann innerhalb einer bestimmten Epoche ihren geistigen und kulturellen Höhepunkt erreichen, um in der/den Folgeepoche/n dekadent unterzugehen. (Vgl. Rehm. Herder. S. 129 ff., SW V, S. 504 und S. 512) Ebenso hat jede Sprache ihren natürlichen Rhythmus und vergeht auf natürliche

Jedoch auch wenn Herder den Namen Leibniz’ sehr oft zitiert, so bezieht er sich fast nie direkt auf Titel seiner Werke und auch nicht auf dessen Begrifflichkeiten. 15 Das Zitat in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache zeigt, dass Herder schon 1770 die Oeuvres philosophiques von Leibniz kannte, die Rudolf Erich Raspe herausgegeben hat. 14

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Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

Weise auch wieder, wie Herder in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache ausführt. (Vgl. Rehm. Herder. S. 240 ff.) Was den harmonischen Ausgleich zwischen Theorie und Praxis betrifft, so scheint er auf den ersten Blick nicht in der Natur vorzuherrschen. Hier geht es um etwas, das allein in der Lebensrealität des intelligenten selbstbewussten Wesens entstanden ist, denn nur das intelligente Wesen hat die Möglichkeit, zu abstrahieren und somit Theorien zu entwickeln, die aus dem Praktischen kommen und wieder in der Praxis angewendet werden. Dennoch findet sich hierin ein natürliches Prinzip des Ausgleichs und der Ausgewogenheit, das Herder in der Natur vorzufinden vermeint. In der Natur und im Natürlichen sieht Herder eine gewisse Ausgewogenheit erreicht. Diese sieht er vor allem darin, dass ein Zuviel durch natürliche Beschränkung, ein Zuwenig durch natürlichen Überfluss ausgeglichen wird. So findet Herder diese Art von Ausgewogenheit auch beim vernunftbegabten, selbstbewussten Menschen selbst wieder, nämlich in der Dualität zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Anwendung und Reflexion und zwischen konkretem Handeln und Abstraktion. Der natürliche Rhythmus von Werden-Blühen-Vergehen und das Prinzip der Ausgewogenheit verbinden sich in der Geschichtsphilosophie in dem, was den Menschen und sein Auftreten in der Welt betrifft. So entsteht laut Herder gerade die Dekadenz einer historischen Epoche aus einer zu großen Abstraktion der menschlichen Kultur. 16 Gefühl und Anwendung treten zu sehr in den Hintergrund. Hier treffen dann zwei natürliche Prinzipien aufeinander, die wieder die Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand bewirken. In Herders Philosophie kommt aber noch ein dritter Aspekt zum Tragen, denn der Mensch ist nicht nur Natur, in der er aufgeht. Jeder Mensch ist ein Individuum, das sich von anderen Individuen unterscheidet. Insofern ist alles, was jedem einzelnen Menschen oder den Menschen im Verlauf ihrer Geschichte passiert, einzigartig, unwiederholbar und somit unvergleichbar. (Vgl. SW V, S. 565) Aus dem natürlichen Rhythmus, der alles gleich macht, indem er sich immer auf die gleiche Weise wiederholt, sticht der Mensch in seiner Individualität heraus. Er und seine Geschichte werden somit zu etwas Besonderem im Allgemeinen, das das Allgemeine beinhaltet, Diese Verbindung bezieht sich aber allein auf das Problem der Kultur. Jede natürliche Entwicklung des Vergehens wird nicht vom Prinzip des Ausgleichs bedingt, sondern ergibt sich von allein.

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Nachdenken über den Bösen

um daraus etwas Besonderes zu werden. Und so verhält es sich auch mit der Sprache und letztendlich Herder gemäß auch mit der Vernunft, die bei jedem Menschen individuell ausgeprägt ist. (Vgl. SW XIII, S. 145 sowie Rehm. Herder. S. 24) 17 Was die Harmonie betrifft, so versteht Herder diese dem eigentlichen Wortsinn gemäß. Sie ist ein Zustand des Wohlergehens und des Gleichgewichts, der in der Perfektion in Gott existiert und der in allen Bereichen des Lebens in der konkreten Welt zu finden ist. Für ihn hat die weltliche Harmonie ihren Ursprung in Gott. Dieser ist Handlung und Licht und Schöpfer einer Welt in Harmonie, die ständig im Wandel ist. (Vgl. SW VI, 221) Da Gott für Herder das Licht ist, ist er das Positive und das Gute. Die Vorstellung dieses Guten, die im Menschen eingeboren ist, ermöglicht die Vorstellung, dass die Schöpfung positiv ist und von Harmonie bestimmt wird, die über die Gesamtheit der existierenden Dinge herrscht. In erster Linie erfährt der Mensch die Harmonie in der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Für Herder ist diese analog zum Verhältnis Vater und Sohn. Die Existenz Gottes wird durch seine Offenbarungen in der Natur und in der Bibel bewusst. Hier offenbart sich Gott dem Menschen durch Beispiele in der Natur, durch die er den Menschen lehrt. Er leitet aber auch den Menschen insofern als er dessen schlechte Entscheidungen, die der Mensch in seiner Freiheit getroffen hat, korrigiert und sie ins Positive wendet (vgl. SW X, 147; SW XIII, 147). Dieses Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen ist insofern harmonisch, als Herder hier nicht in Betracht zieht, dass ein solches Verhältnis Missverständnisse, Spannungen oder auch Krisen mit sich bringen kann. Das von Herder gedachte Verhältnis ist ohne Fehl und in diesem Sinne ideal und perfekt. Was die Erläuterungen Herders hinsichtlich Gottes betrifft, so findet sich hier eine Terminologie wieder, die an Leibniz erinnert. So wird die Verbindung von Gott und Licht in den Essais de Théodicée geleistet, wo Leibniz schon in der Vorrede, Préface, vom »göttlichen Licht« (Leibniz. Bd. VI. S. 25: »lumière divine«) redet. Dieses Licht wird als natürliches Licht verstanden, das eingeboren ist, und das sich in einfachen Vorstellungen und komplexen Begriffen, die der Mensch hat, zeigt. (Vgl. Leibniz. Bd. VI, S. 453) Dieses natürliche Licht wird

Vgl. hierzu die Ausführungen von Patricia Rehm. Herder et les Lumières. Essai de biographie intellectuelle. Hildesheim, New York, Zürich 2007.

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auch bei Leibniz »Licht der Vernunft« (Leibniz. Bd. VI, S. 247: »la lumière de la raison«) genannt. Bei Herder hingegen ist Gott das Licht, und das Licht in der Welt wird somit einerseits die Offenbarung Gottes in der konkreten Erfahrungswelt. Andererseits stellt das Licht die göttliche Aktivität dar, die alles andere erst zum Handeln bringt und anregt. Insofern ist das Licht auch gleichzeitig Metapher der Aktivität. Herder zeigt aber auch auf, dass der Mensch und seine Handlungen nicht vollkommen abhängig von Gott sind, denn für ihn ist der Mensch »der erste Freigelassene der Schöpfung« (SW XIII, 146). Zwar ist der Mensch Gottes Abbild, aber als solcher ist er frei, d. h. er erfährt die konkrete Erfahrungswelt durch seine eigenen Sinne und er trifft seine eigenen Entscheidungen seinem freien Willen gemäß, der bei Herder ein Faktum ist und nicht weiter diskutiert wird. Der Beitrag, den Gott leistet – um in der Leibniz’schen Terminologie zu bleiben –, um die Handlungen des Menschen zum Guten zu wenden, kommt von außen. Nicht der Mensch strebt zum Guten. Aber der in seinen Entscheidungen freie Mensch wird von Gott geleitet, und seine schlechten Handlungen werden im Nachhinein von Gott korrigiert. Die Tatsache, dass Gott den Menschen und seine Handlungen leitet, und die Gewissheit, dass Gott allzeit gegenwärtig ist, führen Herder zu dem Schluss, dass Gott den Menschen schützt. Dementsprechend repräsentiert Gott den Vater und die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist Herder gemäß diejenige von Vater und Kind. Herder untermauert seine philosophischen Gedanken häufig durch Beispiele. Diese bezieht er aus der Bibel, aus der Literatur oder dem Leben selbst. Dabei sind auch die Bibel und die Literatur für ihn Darstellungen des Lebens selbst. Die Bibel interessiert ihn, insofern sie die Offenbarung Gottes in der Welt darstellt. Hier werden die Werke und Wunder Gottes beschrieben und damit das Vorbild gezeigt, das dem Menschen für sein eigenes Leben und Wirken gegeben wird. In philosophischer Hinsicht zeigt die Bibel Grundsituationen menschlichen Lebens und Agierens und damit den Mythos oder die Mythen, die den Menschen bestimmen. Letztere werden oft auch in der Literatur zugrunde gelegt und verarbeitet. Vor allem aber wird hier das Leben in der Gesellschaft dargestellt. Jedoch bezieht sich Herder in seinen Beispielen häufig auf Idealzustände. So stellt er z. B. das Leben innerhalb einer Familie oder einer Gemeinschaft als harmonisches dar. Im alltäglichen Leben und Umgang jedoch ist von dieser Harmonie häufig nicht viel vorhanden, zu sehr konzentrieren sich die 119 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Menschen auf ihre eigenen Belange und schauen häufig mit Neid auf die Verdienste der anderen. Dies muss auch der Pastor Herder erfahren haben, der als Seelsorger in der Gemeinde tätig war und sicherlich viele Erfahrungen mit Disharmonie, gerade innerhalb von Familien, gemacht hat. Jedoch hält er an der Harmonie fest. Dies tut er nicht, weil er naiv ist, sondern weil er die Harmonie als Grundprinzip menschlichen Lebens und allen Lebens überhaupt sieht. Da sich die Harmonie in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen ausdrückt und auch als solche von ihm empfunden wird, sie also eingeboren im Menschen ist, gibt letzterer sie auch in seinen Beziehungen mit anderen Menschen weiter. Dementsprechend wird die Beziehung von Mann und Frau von Herder als Ideal dargestellt, indem er geschlechtsspezifische Charakteristika aufzählt, die allein im Paar zur Perfektion gelangen, da sie sich nur hier ergänzen (vgl. SW VI, S. 250). Diese Charakteristika erscheinen eher wie ein Klischee von Mann und Frau, das zudem nur die positiven Seiten aufweist. Herder erinnert hier an Platons Kugelmenschenmythos im Symposion und schafft somit eine eigene Interpretation desselben. So versteht Herder schon das Paar als Ausdruck der Harmonie und hierin liegt die Keimzelle einer größeren Harmonie, die der Mensch in der Gesellschaft (er)lebt. Für Herder beginnt die Gemeinschaft der Menschen sowohl in persönlicher als auch in historischer Hinsicht in der Familie. Als Beispiel erwähnt er die Großfamilie, die mehrere Generationen und Verwandtschaftsgrade umfasst, und die Zeit der Patriarchen, in der die Gesellschaft wie eine Art Großfamilie vom Patriarchen geleitet wurde. (Vgl. SW V, 480 ff.; SW XIII, 320; SW XVIII, 235) In diesen Formen des Zusammenlebens wird die Gemeinschaft von einem Vorsteher angeführt und angeleitet. Dies geschieht sowohl konkret in der Form der Führung als auch abstrakt durch das Lehren. Auch beschützt der Vorsteher die Familie oder die Gemeinschaft. Insofern wird innerhalb dieser Gemeinschaftsform das Vorbild der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen weitergeführt. Wie diese Beziehung, so ist auch die analoge Beziehung unter den Menschen ideal und Herder denkt nicht einmal an die Möglichkeit eines Machtmissbrauchs von Seiten des Familienoberhauptes oder des Vorstehers der Gemeinschaft. Auch werden mögliche Rivalitäten der Gemeinschaftsmitglieder untereinander außer Acht gelassen. Eine weitere analoge Beziehung sieht Herder in der Schule. (Vgl. SW IV, 386) Auch hier steht eine Person einer Gruppe vor und leitet 120 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

diese. Der Lehrer führt die Schüler zum Wissen und erzieht sie. Er wird zum Vorsteher der Schüler und übernimmt in Analogie die Vaterfigur, die Herder auf Gott und den Vorsteher einer Gemeinschaft übertragen hat. Insofern herrscht auch innerhalb der Schule das Prinzip der Harmonie vor. So ist es in Herders Ausführungen selbstverständlich, dass jeder Lehrer stets voll Tatendrang und Enthusiasmus ist, während die Schüler nur darauf warten, lernen zu dürfen. Faulheit, Desinteresse oder Unzufriedenheit finden in Herders Darstellung keinen Platz. Jedoch handelt es sich bei Herders Darstellung lediglich um ein Modell, die Theorie einer idealen Schule, die er entwickelt, die aber in seiner eigenen Lebenspraxis nicht unbedingt der Realität entsprechen muss. Im Gegensatz dazu ist das Verhältnis Gott-Mensch eine theologisch fundierte Gewissheit Herders und auch die Familien- oder Patriarchenidyllen stammen aus historischen Quellen, die Herder im Hinblick auf das Prinzip der Harmonie analysiert und wiedergegeben hat. Neben den Beziehungen der Menschen untereinander, ist für Herder auch wichtig, dass der Mensch seine Umwelt nicht vergessen soll. Hier meint er zum einen, dass der Mensch im Einklang mit der Natur lebt, zum anderen, dass er in dem, was er tut, stets das Abstrakte und das Natürliche, also Theorie und Praxis miteinander vereinen soll. (Vgl. SW V, 480 ff.) Der Mensch muss gemäß der ihn umgebenden natürlichen Gegebenheiten leben, d. h. er muss sich dem Klima und dem Rhythmus der Natur, z. B. den Jahreszeiten, anpassen. Dementsprechend müssen gemäß Herder die Gesetze, die sich die Menschen geben, auch diesen natürlichen Bedingungen Rechnung tragen. Außerdem steht für Herder fest, dass die Natur und die Naturgegebenheiten und das Klima den Charakter des Menschen bestimmen. So sind für ihn z. B. die Menschen, die in südlicheren Teilen Europas leben, viel fröhlicher und lustiger, als diejenigen im Norden. Folglich passe sich der Mensch automatisch an die Natur an, die ihn umgibt, und die Gemeinschaft der Menschen muss nun die sie umgebende Natur verstehen und ihr gemeinschaftliches Leben daraufhin ausrichten. Jedoch bleiben die Charakterisierungen der Menschen, die Herder aufgrund einer doch recht oberflächlichen Klimatheorie leistet, auch eher einseitig, verstärken aber dadurch den Eindruck des idealen Menschen. Was die Verbindung von Theorie und Praxis betrifft, so geht die Erkenntnis zunächst für jeden Menschen von der Erfahrung innerhalb seiner konkreten Erfahrungswelt aus. Hier von der Natur und 121 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

der den Menschen unmittelbar umgebenden Umwelt. Dank seines Verstandes und seiner Vernunft kann der Mensch von dieser unmittelbaren Erfahrung abstrahieren und diese Abstraktion kann wiederum auf die konkrete Erfahrungswelt angewendet werden. Durch diese Verarbeitung und Anwendung von Erkenntnis wird der Mensch aktiv, in dem Sinne, dass er sich mit der Welt auseinandersetzt, und produktiv, in dem Sinne, dass die Anwendung der Theorie nicht nur zum Wiedererkennen, sondern auch zu praktischen Techniken des Eingreifens und Veränderns führen kann. Aktivität ist aber auch eine Form der Offenbarung Gottes und der aktive und produktive Mensch wiederholt somit diese göttliche Aktivität. Durch sein eigenes Tätigsein lebt der Mensch die Harmonie Gottes und schafft diese in der Welt. Diese Verbindung von Theorie und Praxis ebenso wie die Bewegung, die von der Praxis ausgeht, um in der Theorie zu abstrahieren, damit es wiederum in der Praxis angewendet wird, findet sich bei Herder auch dann wieder, wenn es um die Verbindung zwischen Religion und Philosophie geht. Gemäß Herder steht das religiöse Gefühl am Anfang allen menschlichen Erlebens. Es ist der Ursprung, der im Leben, also in der Praxis, erfahren wird. Diese wird abstrahiert zur Theorie, welche für ihn die Philosophie ist. (Vgl. SW VI, 444) Die Anwendung der Theorie in der Praxis erfolgt letztendlich durch das Handeln, sei es im philosophisch-ethischen oder im religiös-ethischen Sinne. Als ideales Beispiel für ein solches Leben in Harmonie mit der Natur und der Einheit zwischen Theorie und Praxis sind für Herder die alten Griechen. (Vgl. SW V, 500; SW V, 211) Die Epoche des antiken Griechenland ist für Herder vor allem auch deshalb so beispielhaft, da die Menschen hier eine Kunst entwickelt haben, die in seinem Sinne sowohl der als auch ihrer Natur gemäß ist. Insofern sind sie selbst zu Schöpfern geworden, da sie die göttliche Schöpfung nachempfinden. Dieses Ideal der Harmonie, das innerhalb einer geschichtlichen Epoche oder bei einem Volk gelebt wird, kann an andere Epochen oder Völker weitergegeben werden, sofern auch hier die Harmonie mit der Umwelt gegeben ist. Auf diese Weise entwickeln sich Traditionen, die an die Lebensumstände der folgenden Generationen angepasst werden können. Jedoch ist sich Herder gewiss, dass nur jene Traditionen bestehen bleiben, die nützlich und deshalb für die Folgegeneration positiv sind. Diese werden so angepasst, dass sie für die jeweilige 122 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

Menschengruppe nützlich werden. Einerseits überdauern, gemäß Herder, nur positive Traditionen im Verlauf der Geschichte, andererseits erfolgt die Weitergabe dieser Traditionen auf harmonische Art und Weise, da niemand seinen Zeitgenossen dazu zwingt, Traditionen anzunehmen, die seiner Natur und seinem Wesen schädlich sind. Nicht nur bei den Menschen und in der menschlichen Gemeinschaft findet sich die Harmonie wieder, sondern in allen Bereichen der göttlichen Schöpfung, nämlich der Welt und den Geschöpfen. Gemäß der von Herder aufgestellten Ordnung der Koexistenz (vgl. SW XXI, 50) leben alle Kreaturen in der Welt in vollkommener Harmonie miteinander und respektieren sich gegenseitig. Herder beschwört hier die Vorstellung des biblischen Paradieses herauf, denn das von ihm beschriebene Zusammenleben ist friedlich und friedfertig. Er zieht den Überlebenskampf der Tiere in der freien Natur nicht in Betracht. Auch bleibt außer Acht, dass sowohl Mensch als auch Tier andere Tiere töten, damit sie sich ernähren können. Auf den ersten Blick scheint es naiv zu sein, wenn Herder das Grundprinzip der Harmonie in allen Bereichen des weltlichen Lebens verwirklicht sieht. Herder verstärkt diesen Eindruck, indem er Beispiele wählt, die vereinfacht und oberflächlich sind und leicht kritisiert und widerlegt werden können. Jedoch ist zu beachten, dass Herder hier ein Prinzip darstellt; also das, was allem weltlichen und letztendlich allem Sein zugrunde liegt. Dieses Prinzip der Harmonie ist zugleich das Prinzip des Guten, das Grundlage der Welt und des Lebens ist. Allein das Gute lässt etwas existieren und fortdauern. Indem das Gute wirkt und (harmonische) Ausgleiche schafft, kann etwas entstehen und Entwicklungen können fortschreiten. Allein das Gute schafft und bewirkt etwas im Konkreten. Jahrhunderte später wird Albert Schweitzer hinsichtlich seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben das Gute als das »Erhalten, Fördern und Steigern von Leben« (Schweitzer. Kultur. S. 90) definieren – und dies genau meint Herder, obwohl er es nicht so explizit ausdrückt, wenn er das Prinzip der Harmonie, also des Guten darstellt. Bei Herder würde das Gute jedoch nicht allein im Bereich des Ethischen seine Anwendung finden, sondern auch und vor allem auf das allumfassende Gute bezogen sein. Es wird auch deutlich, dass die Realität des in der Welt Erfahrenen durchaus anders sein und erfahren werden kann und die Harmonie in der Welt nicht immer erkennbar ist. Dennoch liegt allem, was ist und was passiert, dem Existieren und dem Sich-Entwickeln, das Gute, zugrunde und wird von ihm getragen. 123 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Jedoch ist sich Herder auch dessen bewusst, dass es das Schlechte oder das Böse in der Welt in unterschiedlichen Formen gibt und dass sich andere bedeutende Philosophen damit auseinandersetzen. b)

Die Unterlegenheit des Bösen

Über das Böse schreibt Herder nur in der 10. Sammlung seiner Briefe zur Beförderung der Humanität von 1797. Wenn er hier als Einleitung für seine Ausführungen in Anlehnung an Hobbes von »einer radicalen bösen Grundkraft« (SWS XVIII, 295) oder in Anlehnung an Kant vom »Radicalübel« (SWS XVIII, 297) spricht, so bezeichnet er beides als »Hypothese« (SWS XVIII, 295, 297). Die Überlegungen hinsichtlich eines ursprünglichen Bösen sind für Herder lediglich Theorien, die ersonnen werden, denen jedoch nichts in der realen Welt entspricht. Historisch gesehen stammt diese Theorie eines ursprünglichen Bösen als Widersacher des Guten aus den Zeiten der alten Perser, wie Herder herausstellt, in deren Religion die feindlichen Grundursachen Gut und Böse, einander gegenüberstanden und sich gegenseitig bekriegten. (Vgl. SWS XVIII, 295 f.) Herder zufolge ist jedoch diese gnostische Tradition für die Erklärung des Bösen in der Welt nicht weiter maßgeblich, sie ist sogar falsch verstanden und angewendet worden. Die Natur und deren Gesetze sind, so Herder, grundsätzlich gut. (Vgl. SWS XVIII, 296) Das, was den Menschen zum Menschen macht und damit von der Natur unterscheidet, ist das Moralische – wobei Herder an dieser Stelle nicht darauf eingeht, was das Moralische für ihn bedeutet. Das Moralische kann demnach als Gesinnung des Menschen verstanden werden, die er gegenüber der Welt einnimmt. Hiermit distanziert der Mensch sich vom reinen Natur-Sein und wird deshalb fähig zum Urteilen. Auch das Moralische ist für Herder grundsätzlich gut, ebenso wie die Gesetze, denen die Moral folgt. Moral haben, moralisch sein hieße dann für den Menschen natürlich sein, nämlich seiner Natur als Wesen, dem Moral zukommt, entsprechen. Demzufolge kann der natürlich-moralische Mensch auch nur gut sein. Die Religion der Perser interpretiert Herder nun dahingehend, dass hier das Gute gegen das Böse kämpfte, damit das Gute siegen kann. (Vgl. SWS XVIII, 296) Das Böse jedoch ist für Herder gerade nicht die Nacht, die in der Gnosis das Dunkle Prinzip repräsentiert. 124 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

Die Nacht ist für ihn Teil der Natur, entspricht damit dem Natürlichen und kann insofern nicht böse sein und auch nichts Böses hervorbringen. Das Böse hingegen ist für Herder das Dunkel, das nicht natürlich ist, nämlich die Zerstörungskraft, die gegen alles Aufbauende wirkt und die eigentlich als das Nichts bezeichnet wird. Tiefere Einsichten in die Religion der Perser werden von Herder an dieser Stelle nicht gegeben. Problematisch ist deshalb auch, wie aus dem Nichts etwas entstehen kann – in diesem Fall das Böse – und wie dies wiederum zerstörerisch wirken kann, also selbst aktiv ist. Auch dem Christentum, das in der historischen Entwicklung auf der Grundlage der persischen Religion entstand, spricht Herder jede Ambivalenz ab, obwohl auch hier das Böse, ob in Form des personifizierten Bösen oder in Form von Sünde, fester Bestandteil des Glaubens und der Institution Kirche ist. Herder jedoch sieht das Christentum als die Religion der Freiheit. Der Mensch besitze oder sei »die Gottesnatur« (SWS XVIII, 296) und von daher von Natur aus gut, denn der christliche Gott ist kein rächender Gott, der negative Züge trägt, sondern ein umfassend guter. Insofern sei auch der gottähnliche Mensch von Natur aus gut. Die Freiheit des Menschen heißt bei Herder, dass er keinem Gesetz unterworfen ist. Dieser Zug gehört zur Gottesnatur des Menschen, denn Gott ist absolut frei. Dies wirft einige Fragen auf, die sich Herder nicht stellt. Eine absolute Freiheit birgt auch absolute Möglichkeiten in sich und damit unbegrenzte Wahl. Letzteres ist dem Menschen nicht gegeben, da er mit seinem Eintritt in die begrenzte Welt bedingt ist. Hier stellt sich die Frage, ob der Begriff der Freiheit nicht überhaupt an das Bedingtsein gebunden ist und Freiheit nicht vor allem aus dem Bewusstsein der Unfreiheit oder Bedingtheit erklärbar wird. Fraglich ist demzufolge, ob die absolute Freiheit wirklich Freiheit ist und ob sie in einer bedingten Existenz überhaupt existiert. Das Christentum als Religion der Freiheit führt den Menschen ihre wahre Natur vor Augen und gibt sie ihm so wieder. Herders Begriff des Christentums erscheint wie angelehnt an Leibniz’ Lehre der Monadologie. Der Mensch ist für Herder ein Abbild Gottes auf der Erde und verkörpert dessen Attribute. Dies wird aber allein im Christentum deutlich, wodurch das Christentum zur einzig wahren, gar philosophischen Religion wird. Auch werden hier lediglich positive Elemente des Seins berücksichtigt, die dem Menschen zukommen. 125 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Jedoch gibt es gerade im Christentum den Glauben an den Teufel und das Böse, was auch im Laufe der Geschichte zu verheerenden Auswirkungen geführt hat. Diesen Glauben an das Böse schreibt Herder aber nicht dem Christentum zu. Vielmehr entspringe der Teufel und der Glaube daran, die Welt und die Menschen seien sein Werk, allein einem unchristlichen Geist. Hierdurch soll der Menschen verängstigt und in Abhängigkeiten gebracht werden. Für Herder ist nichts davon real. Jedoch geht er nicht darauf ein, durch welchen unchristlichen Geist das Böse ins Christentum gelangt ist. Wohl aber verneint Herder das Böse nicht vollkommen. Er ist sich bewusst, dass es Böses gibt, aber es ist kein existenzielles Böses und auch kein Gegenpart zum Guten. Das Böse entsteht gemäß Herder durch das Handeln des Menschen. Es ist somit allein auf den Menschen bezogen. Deshalb spricht Herder nicht vom Bösen, sondern von Übeln, »die vermeidlich und heilbar sind« (SW XVIII, S. 296). Zu diesen Übeln zählt Herder neben Eigenschaften, die die Todsünden wiedergeben und sich auf rein egoistische Motive des Menschen beziehen, auch Vorurteile, schlechte Gewohnheiten und schlechte Erziehung. Allerdings bestimmt er nicht genau, woher diese Übel kommen oder durch was sie verursacht werden. Herder unternimmt nicht den Versuch, eine Grundpolarität im menschlichen Verhalten zu deuten oder zu erklären. Auch nennt er keinerlei Ursache, die diese Übel im Menschen hervorrufen, wie zum Beispiel die Verstädterung die Gesellschaftlichkeit oder die Neugier des Menschen. Nichts weist darauf hin, woher das schlechte Handeln des Menschen stammt. Herders Interesse scheint auch nicht so sehr in den Ursachen zu liegen, was eindeutig ein Desiderat seiner Überlegungen ist, vielmehr interessiert er sich dafür, wie gegen diese Übel angegangen werden kann und wie sie ausgemerzt werden können, was, wie ihm scheint, gerade bei Kant in expliziter Form fehlt. So geschieht die Heilung von den Übeln, vor allem durch die menschliche Intelligenz, die »Werkzeug seiner Bestimmung« (SWS XVIII, 297–298) ist, und den Verstand. Intelligenz und Verstand erheben den Menschen über alle anderen Wesen und deshalb ist es an ihm, beides einzusetzen, um das Gute und damit von Gott Gewollte in der Welt voranzutreiben. Das Schlechte ist für Herder nicht dauerhaft. Ebenso wie schlechte Erfindungen und Vorstellungen ganz von selbst aus dem Verlauf der Menschheitsgeschichte verschwinden und von späteren Generationen nicht weiter verwirklicht werden, so ist es auch mit 126 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Aufklärungsoptimismus als Vertilger des Bösen

dem Bösen, was der Mensch in und durch sein Handeln ausdrückt. Auch dieses kann nicht lange existieren, denn es wird vom menschlichen Verstand ausgemerzt. Letztendlich ist Herder der festen Überzeugung, dass das böse Handeln sich selbst straft (vgl. SWS XVIII, 297) und dass es auf den in dieser Weise Handelnden wieder zurückfällt. Die Bestimmung des Menschen liegt aber, Herder gemäß, darin, dass der Mensch seiner bösen Neigungen Herr werde, um als Einzelner und in Gemeinschaft die Glückseligkeit, das höchste Gut des Einzelnen und der gesamten Menschheit, zu erlangen. Böses Handeln verhindert die Glückseligkeit. Sie kann nur durch die richtige Verwendung des dem Menschen eigenen Verstandes und der Intelligenz erreicht werden. Nur dadurch überwindet der Mensch das »Reich der Nacht« (SW XVIII, S. 297), also das Dunkle seines Handelns und erkennt das Licht des Wahren und Richtigen. Allerdings genügt diese Erkenntnis nicht allein, sondern sie muss immer auch vom Handeln, von »thätiger Güte« (SW XVIII, S. 298) in die Welt getragen werden. Als Pädagoge fordert Herder nun, dass Menschen in die Richtung des Guten erzogen werden sollen. Der Verstand, dem das Gute bereits inhärent bekannt ist, muss durch Vorbilder und Beispiele richtiges Handeln erlernen und dann dahin gebildet werden. Dabei gilt nach wie vor, dass es sowohl um jeden Einzelnen als auch um die gesamte Menschheit geht, und es reicht Herder nicht, dass Menschen eines Kontinents z. B. im Licht des Guten leben, während dieselben Menschen andere versklaven (vgl. SWS XVIII, 299 f.) 18. Ein solches Vorgehen, wie Herder es in Südamerika sieht, ist nach wie vor als schlechtes oder böses Handeln zu verstehen, dessen Auswirkungen immer wieder die gesamte Menschheit beeinflussen werden. Es ist Herders feste Überzeugung, dass alles, was der Mensch tut, wieder auf ihn zurückfällt. Insofern wird alles Negative und Böse, das von ihm ausgeht, wieder auf ihn zurückkommen und im umgekehrten Sinne gilt dies auch für das Gute. Herder geht also davon aus, dass, wenn alle Menschen das Gute tun würden, dieses in der Welt vorherrschen würde. Insofern wird auch deutlich, dass alles, was der Einzelne oder eine Gemeinschaft in der Welt an Gutem, Schlechtem oder Neutralem vollbringt, wieder in demselben Maße auf sie zurückfällt. An dieser Stelle kritisiert er Voltaire, der Europa Toleranz predigt und selbst in der neuen Welt eine Plantage mit Sklaven unterhält.

18

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Nachdenken über den Bösen

Insofern ist die Bemühung des Einzelnen wichtig, um das Gute in der Welt zu verbreiten und dessen Verbreitung zu sichern. Wichtig ist, dass die Menschen im Allgemeinen sich für das Gute einsetzen und dies nicht nur im Bereich der eigenen Belange, sondern weltweit. Dies kann vor allem auch durch Erziehung der Menschen geschehen. Jedoch müssen alle ihren Beitrag leisten. Dies ist auch der Grundsatz des »rein-moralischen Charakters« (SWS XVIII, 299), der gemäß Herder bei allen Menschen, so verschieden sie auch sein mögen, unabänderlich in gleichem Maße vorhanden ist, nämlich: »Keiner für sich allein, jeder für Alle; so seyd ihr alle euch einander werth und glücklich.« (SW XVIII, S. 300) Wichtig ist demnach also ein Leben in Gemeinschaft, das auch von der Gemeinschaft als solcher getragen wird. So ist jeder für jeden und für die gesamte Gemeinschaft verantwortlich. Insofern kann auch gemäß Herder Europa nicht die Glückseligkeit erlangen kann, solange in Amerika Sklaven gehalten werden, da diese der Unterdrückung und Unmenschlichkeit preisgegeben sind. Das Grundprinizip, auf das sich Herders Denken stützt und das seinen Analysen zugrunde liegt, ist die Harmonie. Die von Gott geschaffene Welt ist gut und lebt in Harmonie, alles Gute wird weitergetragen, das Schlechte auf natürliche Art und Weise zurückgedrängt. Dies führt sicherlich zu Bruchstücken in der Betrachtung und im Denken, da Vielem nicht weiter nachgegangen wird und viele Fragen gar nicht erst gestellt werden. Die Welt ist in Herders Denken nicht von vorneherein von Gott determiniert, sondern auch hier ist die Freiheit ein Prinzip, das sich durchsetzt. Die Welt und ihre Geschöpfe entwickeln sich frei, werden aber von Gott begleitet und, wenn nötig, werden negative Auswirkungen korrigiert. Auch bei Herder finden wir in Abwandlung das Modell der Welt als beste aller Welten vor, der bereits bei Leibniz ein Grundgedanke war. Gott ist für Herder das höchste Wesen und als solches die Harmonie schlechthin. Die Schöpfung Gottes, nämlich die Welt und alle ihre Geschöpfe, sind die konkrete Repräsentation der göttlichen Harmonie. Herder vermeidet also absichtlich die Problematisierung des Bösen oder die Darstellung des Schlechten oder des Zweideutigen. Für ihn als Philosophen bedeutet dies, dass er hinsichtlich der konkreten Erfahrungswelt und der Handlungen der Menschen optimistisch ist, wie das auch bei den anderen Philosophen der Zeit der Auf128 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

klärung der Fall ist. Für ihn als Theologen heißt dies, dass er den Menschen Hoffnung geben will. Nur das Aufbauende trägt zum Erhalt und zum Fortschritt bei, während das Zerstörende nichts aufbauen kann. Insofern verzichtet Herder auch darauf, sich mit dem personifizierten Bösen zu beschäftigen.

2.

Die Rückkehr des Teufels

Johann Gottfried Herders Position wird jedoch nicht von vielen Philosophen geteilt. Das Böse bleibt nach wie vor in der Welt und wird von den Menschen und Denkern auch als solches erfahren und begriffen. Viele andere Philosophen konzentrieren sich deshalb nicht darauf, was die menschliche Vernunft leisten kann, um das Böse zu überwinden oder es anzunehmen. Vielmehr wird die Existenz des Bösen als solches analysiert und dessen Ursprung interpretiert. Auch die Frage wie und warum der Mensch das Böse für sich annimmt oder gar zum Bösen wird, steht im Zentrum philosophischen Denkens. In diesem Zusammenhang stellt sich auch in der Philosophie wieder die Frage nach dem Teufel, dessen Existenz und Wesen. Anhand des Denkens von Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Jean-Jacques Rousseau soll im Folgenden die Rückkehr des Teufels in die Philosophie nachvollzogen werden.

Die Entdeckung des radikal Bösen bei Immanuel Kant Kant wendet sich in seinen Schriften wieder einer eingehenden Untersuchung des Bösen zu. Da Kants Hauptinteresse auf dem Erforschen der Vernunft und des vernunftgemäßen Handelns des Menschen liegt, erfolgt seine Auseinandersetzung mit dem Bösen im Hinblick auf seine Auseinandersetzung mit der Vernunft. a)

Die Freiheit als Wesen des Menschen

In seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht von 1784 sieht Kant, dass der Mensch in einem natürlichen »Antagonismus« (AK VIII, 20) lebt. Einerseits hat jeder Mensch einen natürlichen Hang zum Egoismus und zur Einsamkeit. 129 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Andererseits kann er aber seine Kräfte und Fähigkeiten nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen entfalten. Bleibt der Mensch allein, muss er sich zwar mit niemandem auseinandersetzen, aber er verkümmert. Ist er in Gemeinschaft mit anderen, so muss er sich anpassen, entwickelt aber auch Fähigkeiten, die er allein nicht ausbilden würde. Insofern erlebt der Mensch eine wechselseitige Begrenzung und Bereicherung. (Vgl. AK VIII, 20 f.) Diese menschliche Eigenheit nennt Kant auch die »ungesellige Geselligkeit« (AK VIII, 20) dank derer der Mensch nie in Harmonie mit sich selbst oder seinen Mitmenschen leben kann, sondern sich in jeder Hinsicht in einer permanenten Konfliktsituation befindet. In der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 differenziert er dieses Bild des Menschen noch mehr. So ist die Natur des Menschen zunächst »der subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt […] der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht« (AK VI, 21). Die Freiheit ist also dem Menschen wesenhaft. Dabei ist zunächst noch nicht deutlich, wie diese Freiheit aussieht, d. h. ob es sich um eine allgemeine, physische oder um die Willensfreiheit handelt. Die Freiheit bestimmt das Wesen des Menschen. Der Mensch ist also von Natur aus frei und fähig, die ihm eigene Freiheit zu gebrauchen. Wie er diese Freiheit gebraucht, d. h. auf welche Weise er welche Entscheidung in die Tat umsetzt, geht bereits über die Definition der Natur des Menschen hinaus. Dabei handelt es sich dann um konkrete Entscheidungen jedes Einzelnen, nicht aber um die menschliche Natur als solche. Insofern ist für Kant die Natur des Menschen weder gut noch böse. Jedem Menschen sind aber verschiedene Anlagen zu eigen, die sich auf den Gebrauch seiner individuellen Freiheit und seiner Fähigkeit des Wollens (vgl. AK VI, 28) beziehen. So unterscheidet Kant drei Anlagen, nämlich die Anlage für die Tierheit, für die Menschheit und für die Persönlichkeit. (Vgl. AK VI, 26) Die Anlage zur Tierheit beinhaltet drei wesentliche Merkmale, die dem Menschen zu eigen sind, die ihn aber noch nicht vom Tier als solchem unterscheiden. Es geht hier um die Erhaltung seiner selbst, um die Erhaltung seiner Gattung durch Fortpflanzung und um die Veranlagung zum Zusammenschluss in einer Gemeinschaft. (Vgl. AK VI, 26) Diese Anlagen entsprechen im Wesentlichen den Instinkten und Trieben der Tiere, nämlich dem Selbsterhaltungstrieb, dem

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Die Rückkehr des Teufels

Instinkt der Fortpflanzung und dem Herdentrieb. Diese Triebe liegen Mensch und Tier gemeinsam zugrunde. Durch die Anlage zur Menschheit unterscheidet sich der Mensch deutlich vom Tier. Im Gegensatz zum Tier erkennt der Mensch sich als Gleicher unter Gleichen. Dies bedeutet, dass grundsätzlich alle Menschen gleich sind und prinzipiell kein Mensch dem anderen überoder unterlegen ist (vgl. AK VI, 27). Allerdings hat jeder Mensch aber auch die Fähigkeit, sich mit anderen zu vergleichen und dadurch seinen eigenen Wert zu bestimmen. Die Möglichkeit des Erkennens als solches und im Besonderen der Selbsterkenntnis hat der Mensch dank seines Verstandes und seiner Vernunft. Letztere sind allein ihm zu eigen. Dadurch ist der Mensch als solcher bestimmt. Die Anlage für die Persönlichkeit beinhaltet nun für Kant die Fähigkeit des Menschen, das moralische Gesetz zu erkennen und es als Grund für seine Freiheit und somit als Grundlage für sein Urteilen und Handeln zu verstehen. (Vgl. AK VI, 27 f.) Dabei ist das moralische Gesetz ein eingeborenes Wissen um den richtigen Umgang mit sich und seinen Mitmenschen, das für alle und somit objektiv gültig ist. Es kann, so Kant, von jedem Menschen erkannt werden. (Vgl. AK V, S. 161) Das Erkennen des moralischen Gesetzes und die Achtung davor sind für Kant das, was die Persönlichkeit des Menschen ausmacht (vgl. AK VI, 28), nämlich seine Individualität. Subjektiv und somit zur Anlage wird die Persönlichkeit in jedem Einzelnen, wenn die Achtung des moralischen Gesetzes das Leben und Handeln des Einzelnen bestimmt. Diese drei Anlagen sind für Kant ursprünglich (vgl. AK VI, 28). Sie gehören notwendig zum Wesen des Menschen. Der Mensch kann sich keiner von ihnen entziehen und alle drei Anlagen spielen ineinander: Jeder einzelne Mensch erhält sich selbst und seine Art und hat den Drang zur Gesellschaft, in der er sich zunächst als Gleicher unter Gleichen fühlt, wobei ihm das moralische Gesetz als Richtlinie für sein Leben und Handeln dient. Insofern sind diese ursprünglichen Anlagen für Kant nicht nur allein gut, sondern sie sind an sich auch Anlagen »zum Guten« (AK VI, 28). Ausgehend von diesen Anlagen kann der Mensch zum Guten streben; seine individuelle Freiheit und sein Wollen können sich nach dem moralisch Guten richten. Doch auch Kant ist bewusst, dass der Mensch trotz seiner Anlagen zum Guten nicht ausschließlich gut ist oder handelt. Diesem Phänomen geht er auf den Grund. 131 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Wenn Kant bezüglich des Menschen von Anlagen zur Tierheit spricht, so beziehen sich diese auf den Bereich des Körperlich-Sinnlichen. Letzterer ist für Kant das, was den Menschen mit dem Tier verbindet. Hier ist alles zu fassen, was den Körper betrifft, auch Triebe und Instinkte. Der Körper des Menschen macht ihn zum weltlichen Wesen, seine Sinnlichkeit ist eine Anlage, die er mit dem Tier gemeinsam hat. Beides ist dem Menschen von Natur gegeben; er hat sich nicht dafür entschieden. Der Mensch kann diesen Bereich auch nicht beeinflussen. Er kann weder Größe und Gestalt, noch Triebe und Instinkte aus freiem Willen hervorrufen oder unterdrücken. Der Mensch wird in seinen Körper geboren, kann ihn zwar auf gewisse Weise beeinflussen, aber letztendlich nicht nach seinem eigenen Willen formen. Er kann seine Sinnlichkeit nicht »verantworten« (AK VI, 35), wie Kant es nennt. Die Freiheit des Menschen ist also hinsichtlich des Körpers reduziert. Das Physische des Menschen wird von der Natur bestimmt, ist also den Naturgesetzen unterworfen und insofern nicht vom Menschen bestimmbar. Insofern kann der Mensch als sinnliches Wesen nicht böse sein, wodurch Kant jede Verdammung des Sinnlichen für nichtig erklärt. Die Sinnlichkeit ist nicht der Hort des moralisch Bösen und er wendet sich dabei explizit gegen die Auffassung, die solches vertritt. (Vgl. AK VI, 34) Damit widerspricht Kant der Leibfeindlichkeit und der Auffassung, der Körper des Menschen, vor allem aber seine damit ausgelebte Sexualität, seien das, was den Menschen zum Bösen verleite oder gar das Böse selbst. Die Kategorien gut oder böse sind demnach nicht auf Tiere, Pflanzen oder Naturereignisse anzuwenden. Fauna und Flora gehorchen Naturgesetzen. Deshalb ist es für Kant auch nicht möglich, zerstörerische Naturereignisse wie z. B. Vulkanausbrüche oder Erdbeben als Zeichen des Bösen zu deuten. Dementsprechend wird auch dem Erdbeben von Lissabon von 1755, das von Voltaire noch als Böses gekennzeichnet wurde, in Kants Religionsschrift keine weitere Beachtung geschenkt. Gut und böse sind für ihn Charakterisierungen für ein Individuum und können deshalb allein für den Menschen gelten. Ebenso wie der sinnliche Bereich des Menschen den Naturgesetzen unterliegt, so gilt auch für die Vernunft ein Gesetz, dem sie folgt, um moralisch gut zu sein, nämlich das moralische Gesetz. Dieses Gesetz legt Kant in seiner Schrift Grundlegung zur Metaphysik

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Die Rückkehr des Teufels

der Sitten dar und die wohl bekannteste Variante des kategorischen Imperativs lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (AK IV, 421)

Das Handeln des Einzelnen und die Art und Weise, wie er handelt, soll also jederzeit die Möglichkeit beinhalten, dass jeder andere in derselben Situation ebenso handelt und dies nicht zum Schaden Anderer ist. Der kategorische Imperativ oder das moralische Gesetz bestimmt also einerseits eine Handlung zum Guten. Eine Maxime, die zerstört, würde als allgemeines Gesetz eine allgemeine Zerstörung mit sich führen. In diesem Sinne kann zwar gehandelt werden, jedoch würde dann das Handeln nicht lange andauern. Allein das Gute schafft und baut auf und beinhaltet somit die Möglichkeit, allgemein gültig zu sein. Demzufolge lässt allein ein Handeln gemäß einer guten, positiven, aufbauenden Maxime ein weiteres Handeln in der Welt zu. Kant appelliert mit seinem kategorischen Imperativ an die Vernunft, also an das reflektierte, abwägende, vorausschauende Nachdenken über die zu unternehmenden Handlungen. Dies geschieht im Hinblick auf die Mitmenschen, denn Handlungen an sich werden nicht allein ausgeführt. Sie finden immer mit Anderen, durch oder für Andere statt und sind somit immer in eine Gemeinschaft eingebunden. Außerdem handelt der Einzelne in dem Bewusstsein, dass auch Andere ebenso handeln könnten oder sollten wie er selbst. Der Einzelne, der in seinen Handlungen dem kategorischen Imperativ folgt, lebt also in dem Bewusstsein, für Andere ein Vorbild zu sein und so Verantwortung für sie zu tragen. Deshalb ist das moralische Gesetz nicht egoistisch, sondern altruistisch. Für Kant ist eindeutig, dass das moralische Gesetz wegweisend ist; dies sogar in einer Weise, dass das moralische Gesetz sich dem Menschen aufdrängt. (Vgl. AK VI, 36) Jeder reflektierte Mensch muss also eigentlich von selbst und durch eigenes Nachdenken für sich auf das moralische Gesetz stoßen. Es ist gemäß Kant so offensichtlich, dass es nicht gelernt oder von Anderen vorgegeben werden müsste. Jeder Mensch weiß grundsätzlich um seine Verantwortung und damit um seine Rolle als Vorbild. Dies bedeutet, dass der Mensch eigentlich moralisch gut sein müsste.

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Nachdenken über den Bösen

b)

Die Stufen des Bösen

Wenn also weder die Anlage zur Tierheit, noch die Anlage zur Menschheit als solche grundsätzlich Böses aufweisen, so kann das Böse, das doch vorhanden ist, nur noch der Anlage zur Persönlichkeit entspringen. Letztere impliziert, das der Mensch grundsätzlich frei ist, also auch in seinen Entscheidungen. Er ist zwar von Naturgesetzen und dem moralischen Gesetz bestimmt, außerdem noch von seinen unterschiedlichen Anlagen, hat aber in diesem Rahmen die Freiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden und dementsprechend zu handeln. Die Verkehrung der Anlagen Freiheit ist die Voraussetzung für das Böse, denn durch die feien Wahlmöglichkeiten des Menschen ist erst die Möglichkeit gegeben, das Böse zu wählen. Der Mensch kann für Kant deshalb nur selbst für das von ihm ausgehende Böse verantwortlich gemacht werden. So ist für Kant eindeutig, dass der Grund für das Böse allein in der Maxime liegen muss, die der Mensch sich frei als individuelle Lebensregel wählt und nach der er sein Leben und Handeln ausrichtet. (Vgl. AK VI, 21) Nur so können die verschiedenen Anlagen des Menschen dann trotz ihres grundsätzlich guten und neutralen Ursprungs, in ihr Gegenteil verkehrt werden und das, was zum Guten im Menschen angelegt ist, wendet sich zum Schlechten. So kann die Anlage für die Tierheit missbraucht und im individuellen Leben durch »Laster der Rohigkeit« (AK VI, 26) verdorben werden. Unter diesen Lastern versteht Kant die Völlerei, die Wollust oder die wilde Gesetzlosigkeit (vgl. AK VI, 27), also Maßlosigkeiten, die von einem zügellosen Umgang bei der Anwendung der Anlagen im täglichen Leben zeugen. Der Grund für dieses Verderben liegt für Kant nicht in der Anlage an sich, sondern im falschen Umgang mit derselben. Lässt sich der Mensch gehen und entscheidet sich dazu, seine natürlichen Bedürfnisse im Exzess auszuleben, so fällt er in Kants Augen noch unter das Tier. Das Tier folgt nur seinen Instinkten und weiß es nicht besser, während der Mensch über sich und sein Verhalten reflektieren kann und sich mäßigen sollte. Auch die Anlage für die Menschlichkeit kann missbraucht und in ihr Gegenteil gewendet werden. Ist dies der Fall, so spricht Kant vom »Laster der Cultur« (AK VI, 27), denn der Mensch in oder als Gemeinschaft entfernt sich von der Natur und schafft sich eine Kul134 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

tur, in der er lebt. Dieses Laster tritt durch das falsche Verständnis der menschlichen Anlage zur Gleichheit und deren falsche Anwendung hervor. Das bedeutet, dass dann der Egoismus des Einzelnen in der Gemeinschaft dominiert. Statt Gleichheit herrscht dann eine Angst vor der Überlegenheit des Anderen vor und somit kommen Eifersucht und Rivalität zum Vorschein, die zu Neid, Undankbarkeit, Schadenfreude etc. (vgl.) AK VI, 27) dem oder den Anderen gegenüber führen. Letztere bezeichnet Kant auch als »teuflische Laster« (AK VI, 27), denn hier sucht der Mensch wie der Teufel die Gemeinschaft, um anderen mutwillig zu schaden. Der Hang zum Bösen Nicht nur die absichtliche Verkehrung der natürlichen Anlagen führen laut Kant zum moralisch Bösen beim Menschen. Bei jedem Menschen besteht immerzu die Möglichkeit, dass er dem moralischen Gesetz, dem Grundsatz des Handelns, zuwider-handelt. Dann entzieht er sich aus freiem Willen seiner Rolle als Vorbild und damit seiner Verantwortung sich selbst und Anderen gegenüber. Da dies allgemein menschlich ist, spricht Kant von dem natürlichen »Hang zum Bösen« (vgl. AK VI, 29). Dies bedeutet nicht, dass jeder Mensch einen eingeborenen, notwendigen Hang zum Bösen besitzt, sondern dass jeder Mensch aufgrund seiner Freiheit und seines eigenen Wollens diesen Hang entwickeln kann. Wäre dieser eingeboren, so gäbe es keinen Unterschied zwischen gut und böse, und der Mensch hätte keine Möglichkeit zur freien moralischen Entscheidung. So aber hat der Mensch die freie Wahl, das moralische Gesetz zu befolgen oder nicht. Jedoch ist das Böse nur in der konkreten Handlung zu erkennen und für andere Menschen auch nur als solches zu bewerten, wenn sie die Auswirkungen sehen. Ein Hang an sich ist jedoch noch keine Handlung, wohl aber ein Wollen oder Denken, wie eine Tat auszuführen sei. Deshalb unterscheidet Kant hier auch zwei Möglichkeiten. Zum einen ist es die tatsächlich durchgeführte Handlung, die von außen her jedem ersichtlich ist. Zum anderen aber sieht Kant auch schon im Denken und Wollen eine Handlung. Bereits hier hat schon ein unmittelbarer Gebrauch der Freiheit stattgefunden, da der Einzelne sich entschieden hat, ob er sich dem moralischen Gesetz gemäß verhalten will oder nicht. Kant nennt letzteres »intelligibele That« (AK VI, 31) und hält dies für den Hang zum Bösen. Insofern liegt es beim Hang zum Bösen in der Verantwortung des Menschen selbst, ob 135 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

er diesem nachgibt oder nicht, indem er ihm gemäß handelt oder nicht. Kant bezeichnet diesen Hang auch als »das gute oder böse Herz« (AK VI, 29). Damit bezieht er sich zum einen auf das Gewissen des Menschen, das gut oder böse sein kann, zum anderen aber auch auf dessen Gefühlswelt. Das moralisch Gute oder Böse ist nicht allein in der Rationalität zu verorten. Da es hier um das konkrete Handeln des Menschen in der Welt geht, ist der ganze Mensch betroffen und involviert, also auch sein Gefühl. Kant sieht nun drei Stufen, in denen sich der Hang zum Bösen ausdrücken kann. Erstens spricht er von der »Schwäche« oder »Gebrechlichkeit« (AK VI, 29). In diesem Fall ist das moralische Gesetz zwar die Triebfeder des Handelns, der Einzelne weiß auch um das moralische Gesetz, jedoch traut er sich aus unterschiedlichen Gründen nicht, dies tatsächlich auszuführen. Die zweite Stufe bildet die »Unlauterkeit« (AK VI, 29). Hier wird zwar eine moralisch gute Handlung ausgeführt, jedoch geschieht dies aus verwerflichen Motiven. Das offensichtlich Gute ist hier das eigentlich Scheinheilige. Offensichtlich wird hier dem moralischen Gesetz gefolgt, es wird ihm aber trotzdem nicht Genüge getan. Die Stufe ist die »Bösartigkeit« (AK VI, 30). Sie tritt ein, wenn der Mensch absichtlich das moralische Gesetz nicht beachtet, bzw. es nicht als das höchste ansieht, was es in der menschlichen Vernunft gibt, obwohl er sich dessen bewusst ist. In diesem Fall handelt er aus freier Entscheidung dem moralischen Gesetz zuwider. Schwachheit, Unlauterkeit und Bösartigkeit – die drei Formen des Hanges zum Bösen – sind für Kant auch »angeborene Schuld« (AK VI, 38). Er spricht hier insofern von Schuld, als sich der Mensch absichtlich vom Guten entfernt. Die Schuld ist allen Menschen in gleicher Weise zu eigen, denn der Hang zum Bösen bewährt sich in allen Menschen in gleichem Maß. Dabei bewertet Kant Schwachheit und Unlauterkeit als unvorsätzliche, Bösartigkeit aber als vorsätzliche Schuld (vgl. AK VI, 38). Letztere wird noch dadurch verstärkt, dass der Mensch sich selbst hinsichtlich seiner Beweggründe für seine Handlungen betrügt, denn er hält sich für rechtschaffen und lauter, obwohl er absichtlich gegen das moralische Gesetz handelt. Gemäß Kant ist also eindeutig, dass es einen angeborenen Hang zum Bösen in jedem Menschen gibt. Jeder Mensch ist dem moralischen Gesetz unterworfen, kann aber durch seine Freiheit dieses moralische Gesetz jederzeit untergraben. Die Freiheit und damit die 136 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

Möglichkeit, sich dem Gesetz gegenüber widrig zu verhalten, ist in diesem Sinne dem Menschen angeboren. Das radikal Böse Die Freiheit des Menschen geht für Kant sogar soweit, dass der Mensch nicht nur einen Hang zum Bösen ausbildet, sondern das moralische Gesetz sogar noch untergraben kann. Dies ist durchaus auch bildlich zu verstehen, denn das moralische Gesetz ist für Kant die Wurzel allen Handelns. Als solche ist das moralische Gesetz zwar tief im Menschen verankert, kann jedoch aus freiem Willen angegriffen und beschädigt werden. Geschieht dies, so handelt es sich um das »radicale […], angeborene […] Böse« (AK VI, 32). Ein Untergraben des moralischen Gesetzes kann stattfinden, da der Mensch nicht nur dem moralischen Gesetz gehorchen kann, sondern auch seinen Trieben und Instinkten. Triebe und Instinkte hingegen zeugen von Egoismus, dem »Princip der Selbstliebe« (AK VI, 36) wie Kant es nennt, denn hier geht es um die reine Selbsterhaltung. Das moralische Gesetz hingegen verweist auf die Verantwortung gegenüber Anderen und somit auf die Gemeinschaft. Jeder Mensch ist sowohl dem Gemeinschaftlichen als auch dem Egoismus verpflichtet, jedoch können nicht beide, Gesetz und Prinzip, gleichermaßen als Triebfeder für seine Handlungen gelten, denn sonst wäre er zugleich moralisch gut und böse, was ein Widerspruch in sich wäre. Eines von beiden, moralisches Gesetz oder Prinzip der Selbstliebe, muss, so Kant, dem anderen untergeordnet sein, damit eine Eindeutigkeit in der moralischen Grundhaltung des Menschen vorherrscht. Für Kant steht nun fest, dass der Mensch nur dann moralisch gut ist, wenn das moralische Gesetz zur obersten Bedingung aller Handlung gemacht wird, dem sich das Prinzip der Selbstliebe unterordnet. Ist dies nicht der Fall, dann dominiert das Prinzip der Selbstliebe, also der Egoismus über das gemeinschaftliche Element. Insofern wird das moralische Gesetz dem Egoismus unterstellt und dadurch korrumpiert. Daraus entsteht das radikal Böse, das die Wurzel alles Guten, nämlich das moralische Gesetz, untergräbt. (Vgl. AK VI, 36 f.) Der reine Egoismus allein aber würde den Menschen nicht zum moralisch Bösen machen, sondern dies geschieht erst durch die Bevorzugung des Egoismus. Wenn dieser zur Grundlage allen Handelns wird, dann ist der Mensch moralisch böse. Für Kant ist diese Form des 137 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Bösen die »Bösartigkeit«, die er auch »Verkehrtheit des Herzens« oder »böses Herz« (AK VI 37) nennt. Jedoch liegt die Entwicklung in diese Richtung nach wie vor in der Hand des Menschen und in seiner Freiheit. Dank seiner Freiheit setzt der Mensch seine oberste Maxime, der zufolge er handelt, selbst. 19 Aber bereits der Hang zum Bösen ist moralisch böse für Kant. (Vgl. AK VI, 37) Hat der Mensch sich aus freiem Willen für das moralisch Böse entschieden, so kann dies nicht von anderen Menschen, also von außen, zum Guten gewendet werden. Wohl aber kann der einzelne Mensch sich selbst wieder ändern, denn Veränderungen – vornehmlich Veränderungen des Charakters – kommen nur aus dem einzelnen Menschen selbst. Erst die eigene Einsicht, dass man sein Leben falsch führt, kann einen Menschen dazu bewegen, dieses Leben zu ändern. Auch hierin besteht seine Freiheit. Kant zufolge führt die ursprüngliche Anlage des Menschen ihn zum Guten (vgl. AK VI, 43). Das moralische Gesetz gilt für den Menschen, es ist die empirische Grundlage allen konkreten Handelns. Jedoch ist die Ausbildung zum Guten auch mit Arbeit und Selbstdisziplin verbunden. Das Gute beim Menschen kommt nicht von selbst, es ist erarbeitet. Das Schlechte hingegen wiederfährt dem Menschen durch Faulheit und Laissez-faire; es stellt sich also von allein ein. Insofern erwirbt sich der Mensch, gemäß Kant, einen Hang zum Guten oder zieht sich den Hang zum Bösen zu. (Vgl. AK VI, 29) Jedoch kann der Mensch nicht moralisch schlecht sein oder bleiben. Da er das moralische Gesetz kennt, muss er auch anerkennen, dass er die Pflicht hat, sich zum Besseren hin zu verändern und zu entwickeln. Aus eigener Kraft muss er das moralische Gesetz zur obersten Bedingung seiner Handlungen machen und gut werden. Dies gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft als solche. Das Ziel liegt für Kant in einem ethischen gemeinen Wesen (vgl. AK VI, 96 f.), in welchem jeder Mensch sich der Befolgung des moralischen Gesetzes zum Wohle aller verpflichtet.

Schulte. Radikal. S. 327 ff. versteht dies als Subjektivierung des Bösen, denn Kant zufolge treibe erst die Vernunft das Böse hervor, indem sich das Individuum »bewusst und willentlich« (Schulte. Radikal. S. 336) für das Böse entscheide.

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Die Rückkehr des Teufels

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Das Teuflische und das Vorbild des Guten

Gerade in der christlichen Tradition sind sowohl das moralisch Gute als auch das Böse personifiziert, damit der Mensch sich an guten oder schlechten Vorbildern orientieren kann. Um seine Anlagen richtig zu nutzen und zum Guten zu wenden, bedarf es für den Menschen auch bei Kant Vorbilder, denn der Mensch lernt nicht von sich selbst. Damit die anderen Menschen dies verstehen und als Vorbild annehmen können, dem sie folgen, kann das Ideal der moralischen Vollkommenheit keine Abstraktion sein und bleiben, sondern es muss personifiziert als Mensch unter Menschen sein. Nur so verstehen die Menschen die Art und Weise, wie jemand lebt und handelt, der ihnen in moralischer Hinsicht überlegen ist. Außerdem wird diese moralische Vollkommenheit umso besser erkannt und verstanden, je mehr sie moralische Unvollkommenheit wie etwa Kränkungen und Missgunst ausgesetzt ist und je mehr Hindernisse sie überwinden muss, wie uns dies von der Person Jesus berichtet wird. (Vgl. AK VI, 61) Das Vorbild, das das »Ideal der moralischen Vollkommenheit« (AK VI, 61) verkörpert, ist bei Kant die Person Jesu. Insofern ist Jesus das »Urbild sittlicher Gesinnung« (AK VI, 61) und zugleich der Typus und das lebendige Beispiel des moralischen Menschen, dessen Beispiel alle Menschen folgen sollen. Jedoch ist für Kant dieses lebendige Beispiel, also die Personifikation des Ideals der Vollkommenheit, eigentlich nicht notwendig. Der Mensch besitzt die Vernunft und im selben Maße besitzt er eine moralische Vernunft. Das Ideal der Vollkommenheit ist in dieser moralischen Vernunft schon inhärent und somit als eingeborene Idee schon in jedem Menschen vorhanden. Aus diesem Grund braucht der Mensch eigentlich kein lebendiges Beispiel, das ihm vorlebt, wie er Gott moralisch wohlgefällig werden soll. Das Gegenteil ist der Fall: Da jeder Mensch das Vorbild des Ideals der Vollkommenheit in sich selbst trägt, hat jeder die Pflicht, selbst ein lebendiges Beispiel zu werden (vgl. AK VI, 63), das sich allen Widrigkeiten des Lebens standhaft widersetzt. Im Gegensatz dazu ist die Person Jesu lebendiges Vorbild, das dem Menschen dabei hilft, sein eigenes Wirken zu verbessern, da der Mensch nicht aus sich selbst heraus lernt, sondern immer wieder die Erfahrung des Beispiels benötigt. Der Gegensatz zu Jesus, dem Urbild sittlicher Gesinnung, ist für Kant das »teuflische […] Wesen« (AK VI, 35). Die Vernunft des Letzteren sei auch an sich böse, denn das moralische Gesetz sei, gemäß 139 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Kant, nicht in der teuflischen Vernunft enthalten. Insofern sind alle Handlungen des teuflischen Wesens allein vom Egoismus geprägt, was Kant die »Bosheit« (AK VI, 37) und dementsprechend gar die teuflische Bosheit nennt. Ohne den Ausgleich des moralischen Gesetzes als der Vernunft Inhärentes ist es dem teuflischen Wesen nicht möglich, sein Handeln zu verändern oder sein Wesen an sich zu verbessern. Das Gute ist hier nicht nur unterwandert, sondern geradezu ausgemerzt. Das teuflische Wesen hat dementsprechend auch nichts Menschliches, denn ihm fehlt die Freiheit, sich zu ändern und sich weiter zu entwickeln. Das teuflische Wesen, der Teufel, ist demzufolge kein Mensch, auch wenn ihm in der Darstellung menschliche Charakteristika zugeteilt werden. Ebenso wie Jesus braucht auch das teuflische Wesen eigentlich nicht in personifizierter Form in der konkreten Erfahrungswelt zu erscheinen. Als das absolut korrumpierte, böse Prinzip ist das Teuflische jederzeit vorstellbar. Der Mensch kann diesem nacheifern, jedoch ist ihm immer wieder die Möglichkeit gegeben, sich zu ändern. 20

In dieser Hinsicht interpretiert Kant die Bibel wie folgt (vgl. AK VI, 78–84). Die Geschichten, von denen die Bibel erzählt, seien die des guten Prinzips, das die Erde erschaffen hat und deren höchster Richter es fortan ist. Letzterer hat die Erde und alle Lebewesen, vor allem aber den Menschen, nach dem Prinzip der Freiheit erschaffen. Fortan regiert die Freiheit in der Natur und unter den Menschen und der höchste Richter lässt alles nach diesem Prinzip walten. Der Mensch ist nun derjenige, der ursprünglich über die Erde und alle Lebewesen herrschen soll. Zwei Prinzipien verbinden sich in ihm – das gute und das böse Prinzip. In der Bibel seien nun diese Prinzipien als eigenständige Personifizierungen außerhalb des Menschen verdeutlicht – das böse Wesen und die Person, die das gute Vorbild ist. Nach Kant hat sich der böse Geist der Welt bemächtigt und mit den Menschen dahingehend einen Vertrag geschlossen, dass sie zwar das gute Prinzip als höchste Kraft anerkennen, sich aber nichtsdestoweniger vom bösen Prinzip in Versuchung führen und verführen lassen. Jesus hingegen ist gemäß Kant nicht an diesen Vertrag gebunden, obwohl er in menschlicher Gestalt auf der Erde erscheint. Da Jesus sich auch nicht vom Bösen verführen lässt, muss er Armut, Demütigungen und Leiden ertragen. Schließlich erfährt er einen qualvollen Tod, wobei der Tod gemäß Kant das höchste menschliche Leiden ist. Aber gerade durch den Tod Jesu triumphiert wieder das Gute, nämlich die moralische Vollkommenheit über das Böse. Durch das Beispiel seines Lebens und seiner Standhaftigkeit erinnert Jesus die Menschen an das Prinzip der Freiheit, erlöst sie aus der Knechtschaft des Bösen und gibt ihnen dadurch ihre Freiheit zurück. Dennoch handelt es sich hierbei nicht um einen endgültigen Sieg über das Böse. Letzteres regiert immer noch in der Welt und ist nicht ausgemerzt.

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Das mythologisch begründete Böse bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Im Gegensatz zu Kant greift Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seiner Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 das gnostische Prinzip des Lichts und der Dunkelheit, die Widersacherin des Lichts ist, wieder auf und versucht auf dieser Grundlage das Böse in der Welt philosophisch zu erklären. Diesen Ansatz Schellings nennt Martin Heidegger sogar eine »Metaphysik des Bösen« (Heidegger. Schelling. S. 125 ff.) In seinen Ausführungen bezieht er sich auf einen außerpersönlichen Ursprung, von dem das Böse ausgeht, der nicht in der menschlichen Vernunft begründet ist. Schelling beruft sich hier auf den Ursprung in und durch Gott. Letzterer wird von ihm als solcher anerkannt und nicht in Frage gestellt. Nicht die menschliche Vernunft ist also Ursprung des Bösen in der Welt, sondern die Beziehung des Menschen zu Gott. 21 a)

Gott und die Schöpfung

Gott spielt in Schellings Schrift die entscheidende Rolle, denn Gott ist für Schelling lebendig, er ist »ein Leben« (Schelling. Freiheit. S. 91) und nicht ein Sein oder ein bloß gedachtes Prinzip. Insofern geht Schelling vom lebendigen Gott aus, wenn er seine Gedanken über den Menschen und das Böse ausführt. Gott wird von Schelling als »persönliche Existenz« (Schelling. Freiheit. S. 91) begriffen, also als lebendiges Wesen mit individueller Ausprägung. Jedoch ist Gott, Schelling zufolge, gerade als Existenz von einer Bedingung abhängig, die ihm Form und Leben erst ermöglicht. (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 91) Diese Bedingung ist Gott aber inhärent; er wurde nicht von jemandem geschaffen, sondern er erschafft sich selbst. Gott trägt den Grund seiner Existenz in sich selbst (vgl. Schelling. Freiheit. S. 52), aber er ist auch zugleich Urheber dieses Grundes (vgl. Schelling. Freiheit. S. 53). Die biblischen Geschichten werden von Kant letztendlich so verstanden, dass hier die Macht des Bösen lediglich gebrochen wird, der Mensch sich aber nach wie vor mit dem Bösen auseinander setzen muss. 21 Wehr. Böhme. S. 50 verweist darauf, dass der Gewährsmann für Schellings Denken, vor allem in dieser Schrift, eigentlich Jakob Böhme ist. Schelling folge dessen Vorstellungen und baue seine Darstellung des Bösen auf diesen auf. Allerdings bleibe Böhme bei Schelling unerwähnt.

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Nachdenken über den Bösen

Der Grund der Existenz Gottes ist Schelling zufolge die Natur, denn allein durch die Natur kann etwas in die Existenz treten und existieren. Das bedeutet, eine Potenz kann in einen Akt übergehen, eine Möglichkeit wird zu einer Wirklichkeit. Das absolute Sein kann nur aufgrund der Natur auch realisiert werden. Dabei ist Gott gleichzeitig Ursprung der Natur und aus der Natur entstandenes Leben. Gott ist der Anfang von allem, was ist, aber auch von sich selbst. Ihm wird die Fähigkeit zugesprochen, alles erschaffen zu können und gleichzeitig sich selbst erschaffen zu haben. Hierin liegt die Allmacht Gottes begründet. Er ist der sich selbst schaffende Schöpfer und der Schöpfer aller Dinge und Wesen und schafft somit einen Anfang in Raum und Zeit. Dies ist möglich, da, Schelling zufolge, das Sein im eigentlichen Sinne Wollen ist. Es ist der Wille, der alles Sein ermöglicht und auch alles Sein dauerhaft existieren lässt. Insofern ist für Schelling das Wollen das Ursein (vgl. Schelling. Freiheit. S. 46), der Beginn allen Seins, auch des Seins Gottes. Gott ist das Wollen, das alles in sich beinhaltet. Gott ist somit der »Urgrund« (Schelling. Freiheit. S. 98), denn er ist der eigentliche Grund für die Natur und alles konkrete Leben in ihr. Schelling bevorzugt jedoch den Begriff »Ungrund« (Schelling. Freiheit. S. 98), da hierdurch besser die Absolutheit und Einsheit Gottes vor jeglicher Schöpfung zum Ausdruck kommt. Da Schelling Gott als Lebendigen versteht, gilt für Gott auch der Grundsatz allen natürlichen Lebens. Dieser heißt für Schelling: »Alles Leben aber hat ein Schicksal und ist dem Leiden und Werden untertan.« (Schelling. Freiheit. S. 95) Das Leiden Gottes sieht Schelling darin, dass in jeder Religion der Begriff des menschlichen leidenden Gottes zu finden sei (vgl. Schelling. Freiheit. S. 95), was er aber nicht weiter ausführt oder belegt. Wichtiger ist ihm der Begriff des Werdens, der für ein absolutes Wesen nicht zutreffend erscheint. Ein Werden in dem Sinne, dass Gott nach etwas Unbekanntem oder Unerreichbarem streben würde, wie dies der Mensch tut, ist bei Schelling hinsichtlich des Werdens Gottes auch nicht gemeint. Vielmehr spricht er mit Blick auf Gott von einer »Verwirklichung durch Gegensatz« (Schelling. Freiheit. S. 95). In Gott selbst sind also Gegensätze, die zur Existenz kommen wollen und, da Gott allmächtig und der Schöpfer ist, auch zur Existenz kommen. Insofern ist es nicht Gott, der wird, sondern Gott, der ein Werden schafft. Schelling sieht nun diese Gegensätze als zwei Prinzipien, die in 142 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

Gott existieren, die aber in Gott auch unzertrennlich sind. Hierbei handelt es sich zum einen um das dunkle Prinzip, das Prinzip des Grundes. Dunkel ist es insofern, als hier das Chaos vorherrscht, das nichts Eindeutiges ist und somit zunächst nicht erklärbar und verstehbar ist. Allein durch das Gefühl, nicht aber durch den Verstand kann es begriffen werden. Zum anderen existiert das Prinzip des Lichtes, durch das dem Verstand alles deutlich wird. Dabei ist Gott im reinen Licht, denn das Dunkel geht erst aus Gott und aus dem Licht hervor (vgl. Schelling. Freiheit. S. 54). Durch diese Setzung der beiden Prinzipien greift Schelling in seiner Philosophie das gnostische Denken wieder auf. Das dunkle Prinzip und das Prinzip des Lichtes erinnern an das Reich der Finsternis und das Reich des Lichtes der Gnostiker, für die das Licht das Gute, das Dunkel das Böse repräsentiert. Ähnlich ist dies auch bei Schelling zu verstehen. Gott verbindet beide Prinzipien untrennbar in sich durch das Band der reinsten Liebe, da Gott selbst die reinste Liebe ist (vgl. Schelling. Freiheit. S. 68). Insofern ist er gemäß Schelling der gute Gott, der erschafft und fördert. Er schöpft quasi aus dem Chaos, um zu regeln und zu formen. Er ist die klare Erkenntnis und das geistige Licht (vgl. Schelling. Freiheit. S. 84) sowie die lebendige Einheit von wirkenden Kräften und somit auch die höchste Persönlichkeit (vgl. Schelling. Freiheit. S. 87), insofern er auch Geist ist. Als Urgrund oder Ungrund ist er nicht nur der Anfang sondern auch das Zentrum von allem (vgl. Schelling. Freiheit. S. 101). Gemäß Schelling ist Gott also die Persönlichkeit, die alles erschafft und allmächtig ist. Dabei ist Gott grundsätzlich gut, insofern als er wirkt und schafft und somit aufbaut und formt, obwohl er auch das dunkle Prinzip des Chaos in sich trägt. Letzteres scheint aber tatsächlich von Gott als Chaos, also als Un-Form gewollt zu sein. Deshalb liegt die Möglichkeit zum Dunklen und damit Bösen bereits im Urgrund/Ungrund begründet. Die Grundlagen der Welt sind für Schelling »Tätigkeit, Leben und Freiheit« (Schelling. Freiheit. S. 46). Dies sind die Eigenschaften, die Schelling Gott zuschreibt, denn er ist Tätigkeit und Leben und in seinem Schaffen und Sein die absolute Freiheit. Insofern spiegelt die von Gott erschaffene Welt auch diese Eigenschaften wider. Als Natur wird auch bei Schelling alles begriffen, was nicht absolut ist und somit in Raum und Zeit als Vielheit existiert. Jedoch kann nichts außerhalb von Gott existieren. Demzufolge muss es zu 143 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

einem Schöpfungsakt aus Gott heraus kommen und diesen nennt Schelling die »Scheidung der Kräfte« (Schelling. Freiheit. S. 56). Zu dieser Scheidung kann es nur deshalb kommen, da Gott zugleich den Grund seiner Existenz in sich trägt und Urheber dieses Grundes ist. Als Urheber des Grundes für die Existenz ist er Eins, ewig und allmächtig. Als Träger des Grundes seiner Existenz ist er ein Existierender, der (von sich selbst) geschaffen wurde. Die Möglichkeit der Scheidung liegt also bereits in ihm, ist aber nicht er selbst. Während Gott als Urheber des Grundes das Wollen ist, das erkennt, und somit auch Verstand 22, ist der Grund selbst lediglich eine »Sehnsucht« (Schelling. Freiheit. S. 54). Diese wird von Schelling als ein Wille, nämlich der Wille des Grundes, begriffen, in dem selbst zwar kein Verstand ist, der aber aus dem Willen des Verstandes, dem Willen der Liebe, hervorgeht. Insofern ist der Grund regellos, verstandeslos und dunkel (vgl. Schelling. Freiheit. S. 54); hier herrscht das Chaos, hier existiert keine Form. Im und als Grund ist dies aber der ursprüngliche Zustand, d. h. ohne konkrete Form und ohne Ziel. Dabei strebt der Wille der Liebe danach, alles zu einer Einheit – in diesem Falle mit dem Licht – zu bringen. Der Wille des Grundes hingegen strebt nach Vereinzelung und Formung als existierende Kreatur. (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 73) Die Finsternis des Grundes bedeutet für Schelling, dass dieses Chaos nicht begreifbar ist, da es ohne Verstand existiert. Jedoch wird alles, was existiert, aus diesem Chaos heraustreten und existieren, denn: »[a]lle Geburt ist Geburt aus Dunkel ans Licht« (Schelling. Freiheit. S. 55). Das Licht ist hierbei Gott, in dessen Licht alles Existierende geboren wird. Insofern kommen Form, Ziel und Regeln erst durch das Licht zustande, d. h. erst durch die Erschaffung einer konkreten Welt. Die Schöpfung kann entstehen, da der absolute Wille zum »freischaffende[n] und allmächtige[n] Willen wird« (Schelling. Freiheit. S. 55). Das Wollen Gottes als Urheber des Grundes wird zum Verstand, da Gott in sich eine reflexive und somit eine reflektierte Vorstellung von sich selbst erzeugt (vgl. Schelling. Freiheit. S. 55), die bereits ein Sich-Selbst-Erschaffen ist. Das Erschaffen seines Selbst ist der Akt des Verstandes. Das Selbst wiederum ist der Geist, das Reflektieren-Können, der durch den Verstandesakt geschaffen wird 22 Vgl. hierzu auch Peters. Religionsphilosophie. S. 63: »In Gott selbst vereinigt Schelling somit Wollen und Erkennen […].«

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Die Rückkehr des Teufels

und Gott zur Persönlichkeit macht. Jedoch entsteht alles, was im Positiven besteht, auch im Negativen und so entsteht auch als Gegensatz zum Geist Gottes der »Geist des Bösen« (Schelling. Freiheit. S. 70, S. 72) im Grund der Natur. Der Verstand gepaart mit der Sehnsucht wird zum schöpferischen Willen, der das Chaos der Natur formt, und somit beginnt die Schöpfung der Welt. Die Verbindung von Sehnsucht und Verstand ist jedoch keine bleibende. Selbst wenn die Schöpfung durch das Zusammenwirken beider zustande kommt, so bleiben sie weiterhin voneinander getrennt und wirken weiterhin jeder für sich (vgl. Schelling. Freiheit. S. 68). Schelling zufolge bleibt die Sehnsucht im Chaos und im dunklen Grund, während der Verstand im Licht bleibt. Die Sehnsucht allein kann nichts erschaffen, sondern sie hat bloß vage Vorstellungen, zu denen sie strebt. Durch den Verstand hingegen, werden Dinge, die dank des Verstandes als Idea (vgl. Schelling. Freiheit. S. 56) bestehen, auch zu Leib und damit konkret. Dennoch sind beide, Sehnsucht und Verstand, weiterhin miteinander verbunden, nämlich durch die Seele. Auch die Seele entsteht dank des Verstandes aus dem Grund heraus, ist aber somit vom Verstand verschieden. Die Seele ist damit unabhängig vom Verstand und hat ihr eigenes Wesen. (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 56 f.) Je nach Grad der Scheidung der Kräfte entsteht ein neues Wesen. Jedem Wesen, das aus der Natur entsteht, ist demzufolge auch eine Seele zu eigen. Letztere ist aber in jedem Wesen unterschiedlich stark ausgeprägt und dementsprechend für Schelling umso vollkommener, je individueller das entstandene Wesen ist, d. h. je weiter es vom Chaos und dem natürlichen Grund geschieden ist. Jedes Wesen, das entsteht, trägt nun auch beide Prinzipien in sich, nämlich das dunkle Prinzip der Natur und das helle Prinzip des Lichtes. Insofern besitzt jedes Wesen einen Eigenwillen, der ihm aus der Natur zukommt und den Verstand, der von Gott stammt. Beides jedoch ist nicht vollständig voneinander getrennt, sondern Schelling begreift diese beiden Prinzipien als eins, das sich in verschiedenen Ausprägungen zeigt. Je weiter sich die Kräfte der Natur aber scheiden, d. h. je individueller ein entstehendes Wesen wird, umso größer ist sein Eigenwille und umso weiter nähert sich dieser Eigenwille dem göttlichen Verstand.

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Nachdenken über den Bösen

b)

Der Mensch als Ebenbild Gottes

Schelling gemäß ist nun das individuellste Wesen, das deshalb mit dem Verstand Gottes eins ist, der Mensch (vgl. Schelling. Freiheit. S. 57 f.). Insofern ist der Mensch auch die Krone der Schöpfung, bzw. der vollkommenste Grad der Scheidung der Kräfte. Dies bedeutet dann für den Menschen: »Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Prinzips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft es Lichts.« (Schelling. Freiheit. S. 58) Auch der Mensch vereint die beiden Prinzipien in sich, die in Gott sind und auf deren Grundlage die Welt entstanden ist. Einerseits findet sich im Menschen das dunkle Prinzip des Grundes, nämlich die Sehnsucht, das Chaos und insofern auch die Natur oder das Natürliche. Andererseits findet sich aber auch das helle Prinzip des Willens, das schöpferische Prinzip, nämlich Verstand und Ordnung (vgl. Schelling. Freiheit. S. 58). Der Dunkelheit entspricht das Licht und dies im gleichen Grad der entsprechenden Scheidung. Der Mensch als Wesen, das aus dem vollkommensten Grad der Scheidung hervorgeht, ist somit gottähnlich (vgl. hierzu auch Schelling. Freiheit. S. 42) und nur deshalb ist es möglich, dass Gott sich in den Menschen offenbart. Die Selbstoffenbarung Gottes vollzieht sich nämlich Schelling gemäß nur in freien aus sich selbst handelnden Wesen und diese sind die Menschen. Sie unterscheiden sich von Gott, indem sie vollständig in ihm sind. Das heißt, sie sind eigenständige Persönlichkeiten, aber dennoch Gottes Geschöpfe, die auch in ihrer individuellen Ausprägung noch eine Verbindung zu Gott sind und haben. Der Mensch ist sogar das »Ebenbild Gottes« (Schelling. Freiheit. S. 58) in der Natur, ausgestattet mit dem göttlichen Verstand und dem dunkelsten Wesen seiner Natur, d. h. dem vollständigen Sein des Natürlichen. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch fähig, in der Welt zu handeln, wie auch Gott handelt. 23 Jedoch ist der Mensch nicht allmächtig, sondern kann lediglich in der ihm als konkretes Wesen in einer konkreten Welt vorgegebenen Begrenzung handeln. Jede Existenz braucht eine Bedingung, damit sie auch persönliche Existenz werden kann (vgl. Schelling. Freiheit. S. 91). Das bedeutet, dass jede Persönlichkeit einen Ursprung und einen Rahmen benötigt, um sich ausbilden zu können und zu reifen. Auch Gott als Peters. Religionsphilosophie. S. 63 versteht den Menschen bei Schelling als »das Medium, in dem und durch das sich das Kräftespiel [von Wollen und Erkennen] absolut verselbständigt.«

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Die Rückkehr des Teufels

Persönlichkeit, nämlich als absolute Persönlichkeit, also als absoluter Geist, benötigt eine solche Bedingung. Allerdings trägt er diese bereits selbst in sich. Jede andere Existenz ist nicht Bedingung ihrer selbst, sondern wird erst durch diese Bedingung zur Existenz. Es ist allerdings auch diese Bedingung, die den Menschen selbst zum Unzufriedenen macht, denn der Mensch strebt danach, sich diese Bedingung anzueignen, also selbst Schöpfer (seiner selbst) zu werden. Die Bedingung seiner selbst zu werden, würde bedeuten, vollkommen zu sein. Aber dieses ständige Streben nach der Vollkommenheit bleibt ein Streben, dessen Ziel niemals erreicht wird. Deshalb ist der Mensch ständig unzufrieden und Schelling nennt dieses ständige Streben nach Vollkommenheit gepaart mit der Unzufriedenheit des Nicht-Erreichens Traurigkeit, Schwermut und sogar Melancholie 24. Dieses Streben des Menschen ist für Schelling der Grund für seine Wendung zum Bösen hin. In Gott sind die beiden gegensätzlichen Prinzipien des Lichts und der Dunkelheit durch das Band der Liebe miteinander verbunden und somit untrennbar in ihm. Was den Menschen von Gott unterscheidet, ist, dass er fähig ist, das Band zwischen dem dunklen Prinzip der Natur und dem hellen Prinzip des Lichts aus eigenem Willen zu trennen. Da der Mensch Ebenbild Gottes ist, hat er auch die Fähigkeit zur Reflexion. Ebenso wie Gott zuerst sich selbst reflektiert, kann der Mensch sich selbst reflektieren und erkennt sein Selbst. Diese Reflexion, dieses Selbst ist Geist (vgl. Schelling. Freiheit. S. 59) und insofern ist auch der Mensch Persönlichkeit (vgl. Schelling. Freiheit. S. 64). Der Geist des Menschen ist mehr, als in der Natur und im Grund vorhanden ist. Insofern ist der Geist des Menschen von der Natur unabhängig. Der Mensch kann sich aber auch vom Licht trennen, denn der Geist ist Wille, der frei ist. Als Ebenbild Gottes in der Welt hat der Mensch nun die Freiheit, seinen Willen selbständig zu gebrauchen. Deshalb ist es ihm auch möglich, sich über das Licht zu erheben und letztendlich für sich die beiden Prinzipien zu trennen, die in Gott unauflöslich miteinander verbunden sind. Dies ist der »Mißbrauch der Freiheit« (Schelling. Freiheit. S. 60) und hierin liegt nun für den Menschen die Möglichkeit einer Entscheidung für das Gute oder das Böse. Schelling findet diese Unzufriedenheit aber auch in der Natur. Ihm zufolge strebt die ganze Natur, also jedes Leben danach und deshalb spricht er von der »Melancholie alles Lebens« (Schelling. Freiheit. S. 91).

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Nachdenken über den Bösen

Als Konsequenz seiner Freiheit hat der Mensch also einen »natürlichen Hang zum Bösen« (Schelling. Freiheit. S. 73), der ihm von Geburt an durch das dunkle Prinzip mitgegeben ist und der in ihm auch wirkt. Aus eigenem Willen kann der Mensch entscheiden, ob er das Band zwischen beiden Prinzipien bewahren oder zerreißen möchte, da dieses Band für ihn nicht notwendig, sondern frei ist (vgl. Schelling. Freiheit. S. 67). Dem Menschen ist also die Freiheit der Wahl gegeben und diese äußert sich in seinen konkreten Handlungen. Letztere sind notwendig und resultieren auch notwendig aus dem individuellen Wesen des jeweiligen Menschen. Schelling folgt hier in seinen Erläuterungen Kant, insofern als die freie Handlung »unmittelbar aus dem Intelligibelen des Menschen« (Schelling. Freiheit. S. 76) erfolgt, d. h. der Mensch freie Handlungen ausführen kann, weil er auch Geist ist und reflektieren kann. Demzufolge ist für Schelling das Wesen des Menschen seine Tat (vgl. Schelling. Freiheit. S. 77). Bewahrt der Mensch nun das Band der Liebe zwischen dem finsteren und dem hellen Prinzip, so bleibt er bei und in Gott, der Ursprung und Zentrum ist. Dann folgt der Mensch dem Licht und er handelt dem Prinzip des Lichts gemäß. Dies ist für Schelling die Religiosität. Die Handlungen des Menschen sind demzufolge dem Geist entsprechend, gottgemäß und gut. Zerreißt der Mensch aber das Band, so verlässt er Gott und somit das Zentrum. Er will sich dann selbst zum Zentrum machen. Der freie, handelnde Mensch will die Rolle Gottes einnehmen. Er handelt egoistisch (vgl. Schelling. Freiheit. S. 65: »selbtisch […]«), will selbst Schöpfer werden und über die Welt herrschen (vgl. Schelling. Freiheit. S. 83). Der Mensch will selbst erschaffen. Es ist nicht sein Ziel, das Sein Gottes zu zerstören, wie Safranski dies sieht (vgl. Safranski. Böse. S. 65), höchstens in dem Sinne, dass der Mensch sich von Gott abwenden will, nicht aber die göttliche Schöpfung zerstören will. Hierin sieht Schelling den Beginn der Sünde (vgl. Schelling. Freiheit. S. 83). Das Böse wird hier als die wissentliche und willentliche Abkehr des Menschen vom Licht und von Gottes Willen verstanden. 25 Diese Abkehr entsteht aus dem Missbrauch, den der Mensch von seiner Freiheit macht. Peters sieht »Die Realität des Bösen« sogar als »negative[s] Zeugnis der Gottesebenbildlichkeit des Menschen« (Peters. Religionsphilosophie. S. 63)

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Erstaunlich ist dabei, dass Schelling dem Menschen zwar die Freiheit zugesteht, die vor allem Willensfreiheit ist und sich auf das Ausführen seiner individuellen Handlungen bezieht, diese Freiheit jedoch einem Determinismus geschuldet ist, den der Mensch sich vor Beginn der Zeit – nämlich seines eigenen Lebens – selbst erwählt zu haben scheint (vgl. Schelling. Freiheit. S. 78 ff.). Schelling zufolge hat der Mensch die erste Entscheidung für sein Leben bereits vor Beginn der Zeit getroffen und diese ist die Entscheidung darüber, ob er während seines zeitlichen Lebens in Gott, also religiös, bleiben will oder ob er das Band zerschneidet und damit grundsätzlich dem Bösen anheimfallen will. Diese Entscheidung bestimmt sein zeitliches Leben, aber auch sein ewiges Leben. Insofern werden die freien Willensentscheidungen des Menschen in der Welt von seiner grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen Gott geleitet, weshalb seine Entscheidungen eigentlich nicht mehr frei zu nennen sind. Dieses Menschenbild führt dazu, dass jeder seine Handlungen mit einer außerzeitlichen Entscheidung entschuldigen kann und sich letztendlich niemand mehr für seine Entscheidungen verantwortlich fühlen muss. Allerdings klärt Schelling mit dieser Überlegung auch, dass dem Menschen ein gewisser Grundcharakter bereits angeboren ist. Auf dessen Grundlage bildet sich das Individuum aus und wird zur Persönlichkeit. Interessant ist in dieser Hinsicht auch, dass der Mensch aufgrund seiner ersten Entscheidung in der Ewigkeit diesen Grundcharakter beibehält, dies sogar noch nach seinem Tod, wenn er wieder der Ewigkeit angehören wird. Insofern wird dem Menschen seine Individualität zugestanden, die er auch nach seinem weltlichen Tod beibehält. Immerhin sieht Schelling auch, dass der Determinismus des Menschen überwunden werden kann. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, sich zu ändern, und dies in beide Richtungen. Der gute Mensch kann böse, der böse kann gut werden. Dies kann aber nur von einem Anderen ausgehen, denn Änderung bedarf der Hilfe von außen: »[…] einer Hilfe bedarf der Mensch immer […]« (Schelling. Freiheit. S. 81). Die Hilfe kann von einem anderen Menschen oder von Gott kommen. Jedoch auch der Mensch kann durch sich selbst zur Besserung gelangen. Ist er grundsätzlich böse, so sieht Schelling, dass noch ein eigenes besseres Wesen im Menschen als dessen Selbst existiert. Jenes bessere Wesen spricht zum Menschen durch die innere Stimme (vgl. Schelling. Freiheit. S. 81) und ruft ihn somit zur Ände149 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

rung auf. Schelling begründet hier das Gewissen, nennt dies aber nicht so und führt dies auch an dieser Stelle nicht weiter aus. Ist diese Änderung vollzogen und der Mensch vollständig zu Gott zurückgekehrt, ist er also religiös geworden, so findet der Mensch auch seinen inneren Frieden wieder. Schellings Menschenbild folgt dem christlichen Menschenbild, das in der Bibel entworfen wird. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, denn der Mensch repräsentiert die vollkommenste Scheidung der Kräfte. Insofern ist er perfekt, sogar so perfekt, dass er selbst Gott ersetzen möchte. Diese Darstellung des Menschen und die Erklärung seines Wesens sind in sich kohärent, jedoch auch anthropozentrisch in dem Sinne, dass nach dem Menschen nichts Neues mehr in der Welt kommen wird. Es kann kein weiteres Wesen mehr folgen, das anders oder besser sein wird, da bereits alles erreicht ist. Insofern ist Schellings Philosophie gemäß der Mensch als Wesen ewig in Zeit und Raum, was seine göttliche Ebenbildhaftigkeit in der Welt noch bekräftigt. c)

Das Böse und der Teufel

Schelling begreift das Böse nicht als selbständige Realität. Vielmehr ist es dem Guten, der Liebe untergeordnet. Als solches gehört es lediglich zum Guten dazu und ist unselbständig. Schelling nennt das Böse das »Unwesen« (Schelling. Freiheit. S. 101), um zu verdeutlichen, dass das Böse selbst kein Sein ist und kein Sein hat. Alles, was das Böse als Seiendes aufzuweisen scheint, ist in Wahrheit das Gute, denn nur Letzteres hat für Schelling einen Seinscharakter (vgl. Schelling. Freiheit. S. 38). Das Böse ist der Gegensatz zum Guten, der sich erst entwickelt, sobald das Gute existiert. Sobald das Böse aber durch das Selbst-Sein Gottes, also seine Offenbarung, erweckt ist, wird es allgemein (vgl. Schelling. Freiheit. S. 73) und somit ist es grundsätzlich existent. Als Gegensatz des Guten ist das Böse, Schelling zufolge, allerdings auch nicht Teil des Guten, sondern diesem untergeordnet. Es ist von ihm ausgeschlossen, ohne jedoch selbständig zu sein (vgl. Schelling. Freiheit. S. 101). In diesem Sinne ist das Gute oder Positive für Schelling die Einheit oder das Ganze, während das Böse die Trennung der Einheit und die Disharmonie darstellt (vgl. Schelling. Freiheit. S. 64). Demzufolge ist das Gute stets das Aufbauende, Schaffende, Sein-

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Die Rückkehr des Teufels

Gebende und Gestaltende, wohingegen das Böse all das ist, was das Gute zerstört, negiert und verhindert. Das Böse selbst ist, Schelling zufolge, nur ein Grund, der aber selbst nie zur Verwirklichung gelangen kann, wie sehr er auch danach strebt (vgl. Schelling. Freiheit. S. 70). Es ist an sich gesehen sogar lediglich ein Zustand, nämlich der Zustand einer Aktivität, die sich nicht in Konkretes umsetzen kann (vgl. Schelling. Freiheit. S. 96), also eines ständigen ziellosen Strebens. Aus dem Bösen heraus entsteht ein eigenes Leben, das aber nur vom Menschen in der Welt verwirklicht werden kann. Dieses vom Menschen verwirklichte Leben des Bösen ist jedoch kein wahres Leben, in dem Sinne, dass es aus sich heraus entstehen kann, sondern »ein Leben der Lüge, ein Gewächs der Unruhe und der Verderbnis« (Schelling. Freiheit. S. 60). Das Leben des Bösen ist die Umkehr des erschaffenen Lebens und deshalb ohne dieses nicht selbständig lebensfähig. Deshalb vergleicht Schelling das Böse mit einer Krankheit, die nur existiert, indem sie die Gesundheit korrumpiert, aber eben nicht selbständig auftreten kann, und folgt in seiner Definition des Bösen Franz Baader. Für letzteren beruht das Böse auf der Umkehrung der Prinzipien (vgl. Schelling. Freiheit. S. 61). Allerdings drängt das Böse danach, das wahre Leben zu zerstören. Trotzdem existiert das Böse nicht erst in Zeit und Raum. Wie auch schon Kant verwahrt sich Schelling ausdrücklich dagegen, dass die menschlichen Leidenschaften das Böse wären oder gar die Leiblichkeit schlechthin. Die Entstehung des Bösen beginnt, Schelling gemäß, in der Ewigkeit und somit ist das Böse auch Geist (vgl. Schelling. Freiheit. S. 81), nämlich der Geist des Bösen, entstanden als Gegensatz zu Gottes Geist. Der Mensch hat sich bereits in seinem ewigen, vorgeburtlichen Zustand durch die Tat für sein eigenes Wesen entschieden. Wenn er sich in diesem Zustand für das Böse entschieden hat, also das Band zwischen den beiden Prinzipien zerrissen hat, so kann hier von einem radikalen Bösen gesprochen werden, also ein Böses, das bereits in der Ewigkeit verwurzelt ist. Im Gegensatz zu Kant verlagert Schelling also das Radikale auf ein Geschehen außerhalb von Raum und Zeit, das aber seine Wirkung im konkreten Leben und während der Ewigkeit danach entfaltet. Das radikal Böse ist hier nicht ein wissentliches und willentliches Handeln gegen das Gute, sondern eine radikale Entscheidung für oder gegen Gott. Letztendlich aber sieht Schelling doch einen Sinn im Entstehen 151 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

des Bösen und im Missbrauch der Freiheit zum Bösen hin durch den Menschen. Das Ziel der Schöpfung sieht Schelling in der Vereinzelung, vor allem in der Vereinzelung des Menschen, der sich fortwährend zum Guten hin entwickeln soll. (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 96) Insofern muss der Mensch, der die helle wie die finstere Seite in sich trägt, sündig werden, damit er sich läutern und immer weiter zum Guten streben kann. Sowohl Sünde als auch der Tod sind also für Schelling Notwendigkeiten, die zum Leben dazugehören. (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 74) Der Tod befreit letztendlich den Menschen vom Bösen und lässt ihn als Individuum wieder ganz in das Licht und die Liebe Gottes eingehen. Auch hier ist das Ziel der Schöpfung, das Schelling zu erkennen meint, wieder ausschließlich auf den Menschen gerichtet, der als Ebenbild Gottes verstanden wird. Auch die Figur des Teufels wird bei Schelling erörtert. Er geht hier auf die christliche Tradition ein und sieht den Teufel nicht als unvollkommenes Wesen, sondern eher als das Wesen, das die höchste Vollkommenheit und somit das höchste Positive erreicht hat, dies allerdings nicht im Bereich des Geistigen, sondern vor allem im Bereich des Natürlichen. Schelling nennt den Teufel den »umgekehrte[n] Gott« (Schelling. Freiheit. S. 82). Insofern ist auch der Teufel Geist, allerdings ist er als Gegensatz zu Gott als Wesen entstanden und nicht fähig tatsächlich etwas zu erschaffen. Da der Teufel aber auch Schöpfer sein will, fällt er aus dem Licht ins Dunkle, also ins Böse (Vgl. Schelling. Freiheit. S. 62) Der Teufel ist bei Schelling also eher die Gestalt des Luzifer, der das Höchste wollte, aber aus Überheblichkeit gefallen ist. Die Kreaturen, die der Teufel erschaffen kann, sind Lügen und Trugbilder, der Schein, der nicht wahr ist und nicht existiert. Hiermit verführt er allerdings den Menschen, der nicht mehr in Gott ist. Insofern ist der Teufel für Schelling in erster Linie der Verführer, der den Menschen ins Nichtseiende und in die Imagination lockt (vgl. Schelling. Freiheit. S. 82), und nicht der ebenbürtige Widersacher Gottes.

Die Kultur als Keimzelle allen Bösen bei Jean-Jacques Rousseau Einen dritten und für uns letzten Erklärungsversuch, wie das Böse in die Welt kommt, liefert Jean-Jacques Rousseau. In seiner Schrift Discours sur les Sciences et les Arts« – Über Kunst und Wissenschaft von 1750 stellt er dar, wie aus dem natürlichen Menschen der urbane Ge152 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

sellschafter geworden ist und sieht hierin den Grund für den Verfall von Sitten und Moral und letztendlich für das Aufkommen des Bösen unter den Menschen. Dies wird in seiner Schrift Abhandlung über den Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen von 1755 erneut aufgegriffen und vertieft. Hier entwirft er das Bild des wilden Menschen, der dem zivilisierten gegenübersteht. Hieraus lässt sich eine Theorie des Bösen, seines Ursprungs und des Umgangs damit ableiten. a)

Der natürliche Mensch

In seiner 1750 erschienenen Schrift stellt Rousseau fest, dass die Natur des Menschen immer gleich ist, egal wie und wo er lebt. Sie ist es auch im Laufe der Zeit immer geblieben (vgl. Rousseau. Kunst. S. 11). Insofern gibt es nur den Menschen als solchen, der alle Anlagen und Fähigkeiten hat. Kein Mensch unterscheidet sich von einem anderen, alle sind grundsätzlich gleich, auch wenn dies äußerlich nicht so erscheinen mag. Aber diese äußerliche Erscheinung des Menschen und seine Umgebung prägen ihn und dementsprechend entfalten sich auch bestimmte Anlagen und Fähigkeiten des Menschen, während andere niemals zum Vorschein kommen. So sind Rousseau gemäß bei dem ländlichen Menschen Kraft und Tugend ausgeprägt. Der Mensch, der auf dem Land lebt, entspricht für Rousseau dem natürlichen, ursprünglichen Menschen. Seine Kraft ist die körperliche Kraft, der die geistig-moralische Tugendhaftigkeit entspricht. Beides ist unverstellt und natürlich, nämlich dem Wesen des Menschen entsprechend und ohne Verstellung. Insofern kann Rousseau sagen: »Der tugendhafte Mann ist ein Athlet, der nackt zu kämpfen liebt« (Rousseau. Kunst. S. 11). Der Athlet beweist seine körperliche Stärke und Gesundheit im Kampf. Dabei ist der Kampf Ausdruck für die Vitalität des natürlichen Menschen. Die Nacktheit bezieht sich nicht allein auf körperliche Nacktheit, sondern ist auch Sinnbild für jede Art von Natürlichkeit, Offenheit und vor allem Aufrichtigkeit. Der natürliche Mensch sagt, was er denkt, verhält sich seinen Gefühlen entsprechend und entbehrt in seinem Auftreten jeder Falschheit. Jeder Mensch weiß, wie der Andere zu ihm steht (vgl. Rousseau. Kunst. S. 11), denn der natürliche Mensch verstellt sich nicht in seinem Verhalten einem anderen gegenüber. Er zeigt seine Zu- oder Abneigung eindeutig. Vor allem kümmert sich der natürliche Mensch um seine 153 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

»natürlichen Bedürfnisse« und »menschlichen Pflichten« (Rousseau. Kunst. S. 31). Rousseau erwähnt hier nicht explizit, was er unter den menschlichen Pflichten versteht. Jedoch scheint es sich bei den menschlichen Pflichten um das Zusammensein mit anderen Menschen zu handeln. In erster Linie geht es hier wohl um das Sich-Kümmern-um-den-Anderen. Deshalb ist es Rousseau auch wichtig zu betonen, dass sich nichts Unnatürliches entwickeln kann, wenn der Mensch seine Zeit konkret den Mitmenschen und dem Eigentlichen widmet. Letzteres wird näher erläutert, denn für Rousseau sind das Vaterland, die Unglücklichen und die Freunde (vgl. Rousseau. Kunst. S. 31) das Eigentliche. Der natürliche Mensch widmet sich nicht nur seinen Bekannten oder Vertrauten, sondern hilft auch den Bedürftigen, die keine Unterstützung haben. Dabei bezieht er sich auf die Tradition und kümmert sich nicht um Dinge, die seiner Herkunft fremd sind. Insofern steht das Vaterland für einen gewissen Nationalstolz und die Hinwendung zu dem, was die Heimat bietet. Das Wesen des natürlichen Menschen wird in Rousseaus Schrift von 1755 weiter ausgeführt. 26 Rousseaus Betrachtungen zum Naturmenschen beziehen sich auf das, was den Menschen ausmacht. Er geht hier unmittelbar vom Naturmenschen aus, den er als ursprünglichen Menschen beschreibt. Der ländliche Mensch war bereits Grundlage seiner Analyse in der Schrift von 1750. Der Mensch im Naturzustand ist für Rousseau ein Tier. Er hat grundsätzlich dieselben Eigenschaften wie ein solches. Auch in seinen Bedürfnissen unterscheidet sich der Mensch nicht von den anderen Tieren. Allerdings sieht Rousseau Unterschiede, denn er stellt fest, dass der Mensch »am vorteilhaftesten […] ausgerüstet« (Rousseau. Ungleichheit. S. 85) ist, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Diese sind auch nicht groß, denn der wilde Mensch ist für Rousseau derjenige, der »einfach, gleichförmig und allein« (Rousseau. Ungleichheit. S. 99) lebt, isst, trinkt und vor allem viel schläft (vgl. Rousseau. Ungleichheit. S. 105), damit er die täglichen Gefahren, die in der Natur auf ihn lauern, meistern kann. Allerdings interessiert er sich nicht für etwaige evolutionäre Ursprünge des Menschen. Auch die Veränderungen, die der Mensch durchlaufen hat oder durchlaufen haben muss, um die heutige Gestalt anzunehmen, interessieren ihn nicht, und er ist kein Anhänger der Überlegungen, der Mensch sei zum Teil Tier und irgendetwas komme ihm von Gott zu. Insofern geht es ihm darum, was den Menschen als solchen ausmacht. Deshalb ist auch der Mensch im Naturzustand letztendlich von selber Gestalt wie der zivilisierte Mensch des 18. Jahrhunderts.

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Die Rückkehr des Teufels

Der Idealzustand, den Rousseau hier beschreibt, sieht den Menschen als Kämpfer von »robuste[r] und fast unverwüstliche[r] Körperbeschaffenheit« (Rousseau. Ungleichheit. S. 89), mit der die Natur ihn ausgestattet hat. Er beweist seine natürliche Stärke durch eine gute Konstitution, denn nur derjenige kommt durchs Leben, der sich auf natürliche Weise in der Natur behaupten kann. Rousseau ist sicher, dass die Natur dafür sorgt, dass alle Lebewesen, die nicht stark und robust sind, umkommen. Allein das, was robust ist, überlebt. Das Tier ist für Rousseau »eine kunstreiche Maschine« (Rousseau. Ungleichheit. S. 105), die von der Natur so ausgestattet ist, dass sie eigenständig überleben kann. Der Begriff Maschine erscheint allerdings im Zusammenhang mit der Natur und dem Natürlichen widersprüchlich. Was Rousseau hier als Maschine bezeichnet, kann nur den Körper und dessen Funktionen als solche umfassen. Dieser erscheint wie eine Maschine, z. B. wie ein Uhrwerk, das, einmal aufgezogen, beständig aus eigener Kraft weiterläuft und sich selbst immer wieder aufziehen kann. (Vgl. hierzu auch Descartes. Meditationen. S. 150/151) Auch besitzt das Tier als Maschine die Instinkte, die die eigene Lebenserhaltung fördern. Auch der Mensch wird als Maschine bezeichnet, denn auch er stammt aus der Natur. Allerdings hat er den Vorzug vor den Tieren, ein frei Handelnder – »insofern sein Wille frei ist« (Rousseau. Ungleichheit. S. 107) – zu sein. Dies bedeutet für Rousseau, dass der Mensch (Selbst-)Bewusstsein und einen eigenen Willen hat. Auch er folgt Instinkten, die ihm von Natur aus zu eigen sind, kann sich aber in einem gewissen Grad darüber hinwegsetzen und sich seinen natürlichen Neigungen und Instinkten widersetzen. Die Freiheit des Menschen spiegelt sich in seinen Handlungen wider. Er verspürt zwar auch in verschiedener Hinsicht einen natürlichen Drang, aber er hat die Freiheit, diesem nachzugehen oder nicht. Hierbei handelt es sich für Rousseau um »rein geistige Akte« (Rousseau. Ungleichheit. S. 107). Der Körper und seine Funktionen sind für Rousseau erklärbar und zwar auf rein mechanische Weise. Die geistigen Akte, das Bewusstsein sind dies jedoch nicht. Hier gibt es keine Gesetze und auch keine Mechanik, die das Funktionieren des Bewusstseins erklären könnten. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch auch fähig, seine elementaren Bedürfnisse überall, d. h. an jedem Ort der Welt, zu befriedigen. Er ist nicht auf einen bestimmten Ort, z. B. einen kleinen natürlichen Radius beschränkt, wie manche Tiere. 155 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Die Natur ist das Umfeld, in dem der Mensch lebt und wirkt, aber es ist ihm gegeben, über den Rand der Natur hinauszublicken. (Vgl. Rousseau. Ungleichheit. S. 83) Dies ist zum einen hinsichtlich seiner eigenen Natur gemeint. Der Mensch ist fähig, sich selbst so auszustatten, dass er überall überleben kann, und er kann sich jederzeit behelfen, indem er seine Instinkte durch Techniken und Entwicklung von Gerätschaften erweitert. Dank seiner Vernunft, die den Menschen vom Tier unterscheidet, kann auch der Naturmensch sich anpassen und individuelle Fähigkeiten und neue Techniken entwickeln. Dies geschieht, indem der Mensch seine Umwelt beobachtet und sie nachahmt. Schließlich eignet er sich das an, was er beobachtet hat. (Vgl. Rousseau. Ungleichheit. S. 87–89) Dies geschieht in Form von Anwendung von verschiedenen Verhaltensweisen oder durch die Entwicklung von Gerätschaften, die das natürliche Verhalten ersetzen und das eigene Überleben sichern. Dieses Beobachten, Nachahmen und Anwenden charakterisiert den Menschen bereits als Wissenschaftler, denn hier zeigt sich auf natürliche Weise die Methode der (Natur)Wissenschaften. Der Mensch ist also in seinem Naturzustand schon Wissenschaftler. Zum anderen kann der Mensch über die bloße Natur hinausgehen, indem er sich für etwas interessiert, was das reine Beobachten des Immanenten überschreitet. Ihm ist einerseits möglich, das Weltall zu beobachten und damit mehr zu erforschen als die ihn unmittelbar umgebende Natur. Andererseits zielt sein Interesse auf das Transzendent-Metaphysische. Hier wird ihm etwas bewusst, dass er allein durch seine fünf Sinne nicht erfahren kann. Es ist dem Menschen dank seiner Vernunft und seines Bewusstseins möglich, mehr von der Welt zu erfahren, als sie ihm unmittelbar preisgibt. Im Unterschied zum Tier ist dem Menschen außerdem noch die »Fähigkeit zur Vervollkommnung« (Rousseau. Ungleichheit. S. 107– 109) zu eigen. Der Mensch hat den Drang nach mehr in sich. Er hat Bewusstsein und kann unterscheiden zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Er kann sich Dinge vorstellen, die nicht existieren, und deshalb sieht er, was er noch besser machen könnte und wie er es noch besser machen könnte. Die Verbesserung strebt er an und will sie verwirklichen. Der Drang nach Vervollkommnung ist nun jedem Menschen als Einzelnem ebenso zu eigen wie dem Menschen als Gattung. Für Rousseau ist es letztendlich dieser Drang, der den Menschen ins Unglück stürzt. 156 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

Der Drang nach Vervollkommnung, der sich aus dem Bewusstsein des Menschen ergibt, führt nun beim Menschen dazu, dass er versucht, das perfekter zu machen, was schon da ist, nämlich die Natur. Mit dem Drang nach Vervollkommnung geht auch das Bewusstsein der Handlungsfreiheit einher und so fühlt der Mensch sich frei, seinen Drang nach Vervollkommnung in jeder Hinsicht auszuleben. Für Rousseau bedeuten diese Versuche, die Natur noch perfekter machen zu wollen, dass der Mensch sich gegen die Natur wendet und versucht, sich über sie zu erheben. Dabei vergisst er, dass die Natur, so wie sie ist, mit allem, was sie hervorgebracht hat, schon perfekt ist. Der Drang nach Vervollkommnung und das Bewusstsein der Handlungsfreiheit machen den Menschen überheblich gegenüber dem, was ist, und somit entsteht die vom Menschen gewollte und geschaffene Perfektion in Form von Unnatürlichem, Künstlichem und letztendlich von Abstraktion. Indem der Mensch sich durch die Abstraktion immer weiter von der Natur entfernt und sich letztendlich gegen sie wendet, entwickeln sich bei ihm mehr und mehr die Anlagen zum Bösen. Je abstrakter die Welt des Menschen wird, umso mehr prägen sich bei ihm die Anlagen zum Bösen aus. Animiert wird der Mensch in seinem Streben nach Vervollkommnung und Abstraktion auch von seinen Leidenschaften. Diese lebt er als Naturmensch nur in Bezug auf seine natürlichen Bedürfnisse aus, sie treten aber verstärkt zum Vorschein, sobald sich dem Menschen Neues bietet. Die Leidenschaften treiben ihn zu weiteren Fortschritten an und werden umgekehrt auch immer größer, je mehr Fortschritt der Mensch erreicht. Hierin sieht Rousseau die Grundlage für die Maßlosigkeit, die der Mensch ausleben und verwirklichen will. Ein wesentlicher Antrieb des Menschen, sich vom Naturmenschen aus weiterzuentwickeln, ist für Rousseau »die Kenntnis vom Tod« (Rousseau. Ungleichheit. S. 135) und die damit verbundene Angst vor dem Tod. Rousseau geht sogar so weit zu behaupten, dies sei der Fluch des Menschen. Erst der Mensch, der nicht mehr nur seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt, beginnt, über sein Leben und das Leben als solches zu reflektieren und setzt sich mit dem auseinander, was über das rein natürliche Leben hinausgeht. Insofern begreift er die Grenzen dieses Lebens und somit den Tod. Er begreift sich selbst in seiner Individualität, die begrenzt ist, und erfährt den Schrecken des eigenen Todes und der eigenen Begrenztheit. Er will dann etwas schaffen, das über diese Begrenztheit hinausgeht und ent157 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

weder ihn selbst als Individuum vor allen anderen Individuen herausstellt, oder etwas, das über seinen Tod hinaus in der Welt bleibt. Dies bringt Wissenschaft, Kunst und letztendlich den Fortschritt. b)

Der Mensch in der Gesellschaft

Kunst und Wissenschaft entwickeln sich nicht im ländlichen Bereich. Hier leben nach wie vor natürliche Menschen, die im Großen und Ganzen dem ursprünglichen Menschen an Kraft und Tugend entsprechen. Kunst und Wissenschaft sind Rousseau zufolge Schöpfungen der Urbanität und damit Ausdruck des Lebens der städtischen Gesellschaft. Allerdings geht Rousseau nicht weiter darauf ein, warum dem so ist. Immerhin haben viele Menschen, die zusammen auf engem Raum leben, auch viele Ideen, die sie gemeinsam entwickeln und vorantreiben. Insofern kann in kurzer Zeit viel Neues entstehen und ließe Raum für die Entwicklung von Kunst und Wissenschaften. Wo jedoch genau die Ursprünge derselben liegen, ist nicht klar. Auch wird diese Fragestellung nicht weiter von Rousseau behandelt. Die Vergesellschaftung und der Zusammenschluss der Menschen zu Gruppen, seien es kleine oder große, verändern den Menschen an sich. Menschen in Zusammenschlüssen sind für Rousseau unbeständig und handeln wider ihre und wider die Natur. Der natürliche Mensch ist allein und geht allein seinen Bedürfnissen nach. In einer Gesellschaft oder in einem Zusammenschluss aber sind Viele, die alle ihre Bedürfnisse haben, denen sie nachgehen wollen. Für Rousseau scheinen diese aber nicht einheitlich zu sein; der Mensch in Gesellschaft hat andere Bedürfnisse als der Naturmensch. Im Zusammenschluss ergänzen oder widersprechen sich diese, sodass es hier ständig zu Auseinandersetzungen und letztendlich zu Veränderungen kommt. In seiner Schrift von 1755 steht Gesellschaft sogar nur für die spezifisch höfische Gesellschaft und nicht jede Art von menschlicher Gesellschaft an sich. Die höfische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bringt keine lebendigen Naturmenschen mehr hervor. Hier sind die Menschen schon tot, also unnatürlich, wenn sie zur Welt kommen. Rousseau meint hier einen metaphorischen Tod. Der ›gesellschaftliche‹ Mensch ist Rousseau gemäß degeneriert, denn er ersetzt die Körperkräfte und seine natürlichen Fähigkeiten durch Erfindungen, die ihm Arbeit durch Geschicklichkeit erleichtern. (Vgl. Rousseau. Ungleichheit. S. 89) Insofern verzichtet er nach und nach auf das, 158 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

was ihm natürlich gegeben ist. Der Tod des gesellschaftlichen Menschen entspricht dem Abtöten seiner eigenen Natur. Diese ist – wenn überhaupt – nur noch rudimentär vorhanden und wird auch in der Gesellschaft nicht mehr benötigt. Ein gesellschaftlicher Mensch des 18. Jahrhunderts wäre umgekehrt auch nicht mehr fähig, in der Natur zu überleben oder sich gegen einen Naturmenschen zu behaupten. Auch ist der gesellschaftliche Mensch Rousseau zufolge verwirrt. Während das Leben des Naturmenschen seinen beschaulichen, gleichförmigen Gang geht, ist der ›moderne‹ Mensch ständig Neuem ausgesetzt. Er stößt immerfort auf neue Umstände, denen er sich anpassen muss, und muss immer wieder Veränderungen in seiner Umwelt, die aufgrund von Künsten, Wissenschaften oder Erfindungen entstanden sind, erfahren und diese mittragen. Dies widerspricht seiner Natur, und die ständigen Veränderungen widersprechen auch der Natur als solcher. Die Natur verändert sich zwar auch, jedoch verändert sie sich langsam in ihrem eigenen Rhythmus. Wenn Rousseau hier von einer ständigen Veränderung spricht, so meint er einen schnellen Rhythmus, der Schnelllebigkeit erzeugt und unnatürlich ist. Gerade die Kunst in jeder Form hat den Menschen verändert, nicht so sehr das Wesen des Menschen als vielmehr die Art, dieses Wesen zu zeigen oder zu verschweigen. Eine Diskrepanz zwischen Sein und Schein entsteht bei den Menschen. »Man wird nie wissen, mit wem man es zu tun hat« (Rousseau. Kunst. S. 11–13) – mit dieser Feststellung charakterisiert Rousseau den Menschen, der sich der Kunst und der für Rousseau damit verbundenen Künstlichkeit widmet. Hier bezieht sich Rousseau vor allem auf die Entwicklung der Mode, die sowohl das äußerliche Erscheinungsbild wie auch das Verhalten der Menschen prägt. Den Grund für diese Entwicklung des Menschen sieht Rousseau in dem Aufkommen des mit der Kunst einhergehenden Geschmacks. Das Unnatürliche, Gekünstelte versteckt das Wesen des Menschen als solches und den Charakter jedes einzelnen Menschen. Die Kunst beraubt den Menschen seiner Individualität. Das Äußere sowie das Verhalten des Menschen haben keine Aussagekraft mehr in Bezug auf sein »Inneres«. Die größte Auswirkung des Künstlichen, Inszenierten ist wohl die Unsicherheit dem Anderen gegenüber. Diese resultiert aus der Tatsache, dass niemand mehr weiß, wie der andere wirklich zu ihm steht, weshalb niemand mehr dem anderen trauen kann. Die Aufrich159 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

tigkeit fehlt und somit wird jeder des Anderen Konkurrent oder gar Feind. Der urbane Mensch lebt auch nicht mehr für sich selbst und aus sich selbst heraus; er folgt nicht mehr seinen »Eingebungen« (Rousseau. Kunst. S. 11), also seinem natürlichen Instinkt oder Gefühl. Vielmehr folgt er dem »Brauch« (Rousseau. Kunst. S. 11), also der gerade in der Gesellschaft vorherrschenden Mode. Insofern lebt der Mensch nur noch für die Anderen, jedoch nicht mehr in der Form, dass er für Andere da ist oder ihnen beisteht, sondern er richtet sich nach den Anderen. Er selbst wird somit nur noch zur Hülle seiner selbst, denn sein Leben und Wirken ist von Äußerlichkeiten geprägt. Er verliert seinen Charakter: Scheinheiligkeit, Hinterhältigkeit, Gleichgültigkeit, Doppelzüngigkeit und Tücke haben die Tugend des natürlichen Menschen in der Gesellschaft ersetzt. Die Mode des Umgangs, der alle folgen, das Künstliche und der damit einhergehende Verlust der Individualität machen die städtische Gesellschaft einer von Gleichen, die gleichförmig sind. Die Menschen werden zu einer Herde (vgl. Rousseau. Kunst. S. 11), ihr Verhalten und Aussehen wird einförmig, letztendlich tragen alle eine Maske. Das Böse im Menschen wird erweckt dank der Unsicherheit, die jeder Mensch seinem Mitmenschen gegenüber empfindet. Mit einher geht die Degeneration des Menschen. Diese besteht für Rousseau vor allem in der Bequemlichkeit, die er sich schafft. Zur Veranschaulichung dieser These werden das wilde und das domestizierte Tier herangezogen. Dabei ist das wilde Tier stärker und robuster als das domestizierte; es besitzt natürliche Eigenschaften, die dem gezähmten Tier fehlen. Ebenso ist es mit dem Menschen; sobald er »vergesellschaftet« (Rousseau. Ungleichheit. S. 103), also zivilisiert ist, verliert er seine ursprünglichen Eigenschaften. Er wird »schwach, furchtsam, kriecherisch« (Rousseau. Ungleichheit. S. 103). Diese Abkehr vom Natürlichen wird umso schlimmer, je mehr der Mensch zusätzlich dazu beiträgt, Tiere zu domestizieren, denn nicht allein er selbst unterliegt der Vergesellschaftung, er trägt auch noch dazu bei, dass andere natürliche Wesen verdorben werden. (Vgl. Rousseau. Ungleichheit. S. 101) Rousseau stellt auch fest, dass Wissenschaften und Künste die Seele des Menschen verderben (vgl. Rousseau. Kunst. S. 15) und damit seinen sittlichen Verfall beschleunigen. Durch seine aus Wissenschaften und Künsten resultierenden Erfindungen entfernt sich der Mensch immer mehr vom Natürlichen hin zum Abstrakten. Auch 160 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

das natürliche Wesen des Menschen wird immer mehr vernachlässigt; seine Bedürfnisse vermehren sich und werden immer abstrakter, je mehr Annehmlichkeiten er sich selbst schafft. Letztendlich werden auch sein Auftreten, seine Interessen und sein Verhalten immer abstrakter. Dabei wird deutlich, dass die von Rousseau beschriebenen Übel, die sich bei den städtischen oder höfischen Menschen ausprägen, zu jeder Zeit und an allen Orten die gleichen sind. Der städtische Mensch unterscheidet sich nicht vom ländlichen dadurch, dass er schlechte Eigenschaften hat, die dem ländlichen Menschen fehlen und die nur durch das Leben in der Stadt neu entstanden sind. Es gibt keine zwei Arten von Menschen. Der Mensch als solcher trägt alle Eigenschaften, die guten wie die schlechten, in sich. Sie sind nur mehr oder weniger ausgeprägt. Das Hervortreten der Übel hängt für Rousseau vom Grad der Bildung, also der Abstraktion vom Natürlichen ab. Dabei entwickeln sich Bildung und insofern auch Kunst und Wissenschaften vor allem durch die »eitele Neugier« (Rousseau. Kunst. S. 15) des Menschen und sind für Rousseau der eigentliche Grund von Verderbtheit und Verderben. Dahinter steht die Fähigkeit des Menschen, dass er kann. Es ist ihm möglich, etwas Neues zu schaffen und zu verwirklichen und diesem Schaffen sind lediglich die natürlichen Grenzen gesetzt. Diese zu überwinden wird dann sein Ziel; Neugier und Ehrgeiz treiben ihn noch mehr an. Dieses Können wird in einer immer größer und komplexer werdenden Gesellschaft zudem noch angestachelt durch das Können und den Willen Vieler, die alle versuchen, die Abstraktion des Künstlichen voranzutreiben und Grenzen auszutesten. Dies geht zu Lasten des Natürlichen. Damit einher geht der zunehmende Verlust des Menschlichen und der Menschlichkeit, also des Ethischen. Die Künste und Wissenschaften beschäftigen sich nicht konkret mit dem Anderen. Sie sind abstrakt und behandeln Menschen als Objekte und nicht als Subjekte. Nicht der Einzelne und sein individueller Charakter ist Thema der Wissenschaft und der Künste, sondern die Gattung Mensch und somit schematisierte Charakteristika werden ins Zentrum gerückt. Je mehr der Mensch weiß, so ist Rousseau zu lesen, desto mehr will er können und sich beweisen und dies ohne Rücksicht auf Andere und deren Individualität. Insofern hält es Rousseau für einen Schutz der Natur, dass der Mensch sich mit dem Erwerb von Wissen und Erkenntnis schwer tut (vgl. Rousseau. Kunst. S. 29) und so viel Mühe beim Lernen hat. 161 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Sobald der Mensch lernt, will er auch sein Können unter Beweis stellen. Jedoch ist es für Rousseau genau dieses Können und das KönnenWollen, das ihn pervertiert (vgl. Rousseau. Kunst. S. 29), insofern als er das verliert, was menschlich ist. Die Entstehung der Wissenschaften, die bei den Menschen die Laster und die Unmenschlichkeit fördern, schreibt Rousseau jedoch bereits den menschlichen Lastern zu. So entstehen erst aus den Lastern der Menschen die Wissenschaften, durch die die Laster der Menschen sich weiter ausbreiten und noch vertieft werden. So versteht Rousseau Aberglauben, Ruhmsucht, Hass, Schmeichelei, Lüge, Geiz und Neugier als Laster, aus denen sich die Wissenschaften Astronomie, Beredsamkeit oder Rhetorik, Geometrie und Physik entwickelt haben. (Vgl. Rousseau. Kunst. S. 31–33). Außerdem verdanken einige Wissenschaften ihr Entstehen nicht nur bestimmten Lastern der Menschen, sondern der Ungerechtigkeit und den Kriegen, die Menschen untereinander führen, im Allgemeinen (vgl. Rousseau. Kunst. S. 31). Wissenschaften sind somit Ausdruck von technischen Mängeln. Sie sollen Erfindungen liefern, mit denen Menschen geschädigt werden können, insofern dies die physischen menschlichen Kräfte übersteigt. Es fehlt ihm an natürlicher Kraft. Aus diesem Teufelskreis gibt es für den urbanen Menschen zunächst kein Entrinnen. Interessant ist auch, dass Rousseau in seiner Schrift von 1755 das Denken als einen Zustand »wider die Natur« (Rousseau. Ungleichheit. S. 99) bezeichnet. Der Naturmensch soll nicht nur »einfach, gleichförmig und allein« (Rousseau. Ungleichheit. S. 99) leben, wobei Denken für ihn keine Rolle spielt. Erst in der Gesellschaft beginnt der Mensch zu denken und entwickelt dies weiter zur abstrakten Reflexion, wie sie in der Philosophie zum Beispiel üblich ist. Rousseau verurteilt diese Art von Reflexion, die für ihn nichts Natürliches mehr hat, aufs schärfste, wenn er behauptet, dass »[…] ein grübelnder Mensch ein entartetes Tier ist.« (Rousseau. Ungleichheit. S. 99) Letztendlich habe sich die Philosophie aus abstrakter Reflexion und einer Suche nach Wahrheit entwickelt. Insofern stellt sie die höchste Stufe der Abstraktion dar, was Rousseau gemäß allerdings bedeutet, dass die Philosophie letztendlich nicht die Wahrheit liefert. Die Philosophie ist ihm zufolge die Wissenschaft, die lediglich verschiedene Unwahrheiten hervorbringt (vgl. Rousseau. Kunst. S. 31–33). Letztendlich stellt das Studium von Kunst und Wissenschaften für Rousseau eine Zeitverschwendung dar. Letztere kann überhaupt 162 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Rückkehr des Teufels

erst dadurch aufkommen, dass der Stadtbewohner zu viel Zeit hat. Rousseau klärt allerdings nicht darüber auf, warum zu viel Zeit vorhanden ist. Er spricht lediglich darüber, dass der Müßiggang gefördert wird. Letzterer lässt genügend Raum für das Studium der Wissenschaften und schließlich fördern die Wissenschaften wiederum den Müßiggang. Wie sie dies bewerkstelligen, führt Rousseau nicht weiter aus. Trotz aller Errungenschaften der Gesellschaft stehen dem Menschen immer noch natürliche Feinde entgegen. Neben den wilden Tieren, die in der städtischen und höfischen Gesellschaft nahezu ausgerottet sind, zählt Rousseau noch »Kindheit, Alter und Krankheit« (Rousseau. Ungleichheit. S. 95) auf. Kindheit und Alter sind sogenannten Schwächen für Rousseau, die aber jedes andere Tier auch betreffen. Die Kindheit des Menschen dauert zwar länger im Vergleich zu den Tieren, dafür aber werde der Mensch auch älter als alle anderen Tiere. Die alten Menschen werden von Rousseau weniger mild beurteilt. Er hält sie für faul und untätig, außerdem für zu schwach, sich ihre eigene Nahrung zu besorgen und deshalb auch für weniger hungrig. Bei dieser Darstellung handelt es sich um Stereotypen, die aneinander gereiht werden, ohne dass eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Alter stattfindet. Auch die Aussage, die Alten würden unbemerkt verlöschen, zeugt von großer Unkenntnis des Alters und familiärer Strukturen. Gleichzeitig aber zeigt dieses Denken in Stereotypen ein Desinteresse am Anderen, da der Mensch nicht in jedem Lebensalter gleich gewürdigt und damit der Ganzheitlichkeit des Menschen und des Lebens nicht Rechnung getragen wird. Kindheit und Alter werden hier nicht weiter durchdacht, beide Lebensabschnitte sind vom Leben des Menschen ausgegrenzt. Es scheint, als gehörten sie nicht dazu und müssten ertragen werden. Gerade hinsichtlich der Kindheit ist dies ein Widerspruch zu Rousseaus späterem Werk Emile aus dem Jahr 1762, in dem es um die wertschätzende Erziehung eines Kindes geht. Andererseits geht Rousseau hier auch vom Desinteresse des gesellschaftlichen Menschen an seinen Mitmenschen überhaupt aus. Dieses ist aber nicht allein der Urbanität und der Vergesellschaftung geschuldet. Rousseau zufolge lebt auch der Naturmensch am besten, wenn er allein ist. Insofern ist es wohl auch eine natürliche Veranlagung, wenn der Mensch sich nicht sonderlich um seine Mitmenschen kümmert. 163 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Die Krankheiten allerdings sind für Rousseau Zeichen des gesellschaftlichen Lebens und der Degeneration. Der natürliche Mensch wird nicht krank; er ist robust und stark. Der gesellschaftliche Mensch schafft sich seine Krankheiten selbst. Diese sind bedingt durch Stress, falsche Ernährung, Ausschweifungen jeder Art aber auch durch Sorgen des täglichen Lebens, die nicht nur die höfische, sondern auch alle anderen Lebensweisen in menschlichen Gesellschaften betreffen. Diese geradezu modern anmutenden gesundheitlichen Probleme stellen Leiden dar, die der Medizin geradezu davonlaufen, denn hier gibt es nicht genug Heilmittel für alle Leiden. Rousseau stellt seine These von der Entwicklung des Bösen durch den Fortschritt des Menschen gegen den allgemeinen Aufklärungsoptimismus. Der Mensch hat alle Anlagen, sowohl die guten als auch die bösen. Diese von Rousseau genannten Laster sind von Anfang an bereits dem Menschen zu eigen. Die Laster gehören zu seinem Wesen dazu, sie sind natürlich. Der Mensch ist nicht von Natur aus gut oder neutral. Allerdings entwickeln sich die Laster erst in Gesellschaft mit mehreren anderen Menschen, wenn die Gesellschaft zu groß und deren Einfluss zu dominant wird. Das Schlechte bildet sich aber erst aus, wenn er verunsichert ist und sich nur noch um sein eigenes Ansehen kümmert. Der Teufel selbst spielt bei Rousseau keine Rolle und er wird auch nicht erwähnt. Jedoch existiert auch bei Rousseau das personifizierte Böse. Dies ist bei ihm der Mensch selbst. Zwar ist der natürliche Mensch hier nicht gemeint, wohl aber der Mensch in größerer Gemeinschaft und insbesondere der Mensch als Gesellschafter. Die Oberflächlichkeit und Charakterlosigkeit, die innerhalb der Gesellschaft zur Schau gestellt wird, und damit die Ausprägung von Lastern und das Aufkommen der Abstraktion machen den Menschen zum Bösen und damit zum Un-Menschen.

3.

Die Vertreibung des Teufels

Auch im 19. und 20. Jahrhundert treibt der Teufel seinen Schabernack und spielt in philosophischen Untersuchungen eine Rolle. Mit der zunehmenden Säkularisierung, die auch im philosophischen Denken ihren Einzug findet, verliert die Rolle des Teufels selbst jedoch immer mehr an Bedeutung. Das Böse aber bleibt nach wie vor, sieht sich doch gerade der europäische Philosoph des 20. Jahrhunderts mit 164 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

existentiellen Unsicherheiten aufgrund von politischen und Finanzkrisen und immer größeren Abscheulichkeiten konfrontiert, die seine Zeit- und Artgenossen begehen: mehrere Kriege, darunter zwei Weltkriege und die mutwillige Vernichtung ganzer Völker, die immer größere und grausamere Ausmaße annehmen. Der Mensch selbst scheint die Rolle des Teufels zu übernehmen. Dem tragen auch die Philosophen Rechnung. Dabei verändert sich das Bild des Teufels. Der eindeutig absolut böse Widersacher Gottes existiert nicht mehr. Das Böse erscheint nun differenzierter und nimmt vielerlei Gestalten an, solange bis es selbst aus dem Denken verschwindet. Exemplarisch für diese Zeit sollen hier verschiedene Philosophen stehen. Jean-Paul Sartre sieht jeden Menschen selbst als Schöpfer und wird dafür von Hans Jonas verurteilt, der ihm unterstellt, selbst die Personifikation des Schelling’schen Teufels zu sein. Sören Kierkegaard erkennt die Verzweiflung als Auswirkung des Bösen und begreift den Teufel als höchsten Verzweifelten. Romano Guardini versteht die Kierkegaard’sche Verzweiflung als Schwermut, die es durch Dialog und Annahme zu überwinden gilt. Hannah Arendt sieht das Böse und das Teuflische als mangelnde Fähigkeit zum Dialog oder gar als Verweigerung dessen. Schließlich begreift Albert Schweitzer das Böse als naturgegeben und vertreibt den Teufel mit der Ehrfurcht vor allem Leben. Die ausgewählten Philosophen folgen nicht chronologisch aufeinander und bauen deshalb in ihrem Denken auch nicht unmittelbar aufeinander auf. Dennoch verbindet sie die Beschäftigung mit dem Bösen und die Art und Weise, wie sie hier zusammengestellt werden, soll darstellen, wie dessen Personifikation aus der Philosophie vertrieben wird und über einen vernünftigen Umgang mit dem Bösen nachgedacht werden kann.

Die Radikalisierung der Freiheit bei Jean-Paul Sartre Im Gegensatz zu allen anderen Denkern, die wir bisher erwähnt haben, fehlt bei Jean-Paul Sartre die metaphysische Ebene als Grundlage für seine Reflexion hinsichtlich des Guten und des Bösen. In seinem Aufsatz Der Existentialismus ist ein Humanismus 27 von 1946 27

Jean-Paul Sartre. Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: Jean-Paul Sartre.

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Nachdenken über den Bösen

stellt Sartre die Grundlagen seiner Philosophie vor und möchte gleichzeitig Vorurteile beseitigen, die andere hinsichtlich seines Denkens hegen. Hier macht er den Stellenwert des Menschen deutlich und weist auf, dass Gut und Böse seinem Denken zufolge rein innerweltliche Kategorien sind. a)

Das Handeln in Verantwortung

Da in Sartres Denken die metaphysische Ebene keine Rolle mehr spielt, sieht er auch kein Einwirken Gottes auf das menschliche Leben und somit keinerlei allgemeingültige Verbindlichkeit, die den Menschen generell oder von außen zu irgendetwas verpflichtet – so gibt es auch keinen universellen Ruf, der von einer höheren Macht an den Menschen ergeht. Der Mensch selbst ist von Gott getrennt. Sartre selbst nennt seine Reflexionen den »atheistische[n] Existentialismus« (Sartre. Existentialismus. S. 149) und schließt damit Gott oder jegliche Transzendenz aus dem menschlichen Leben aus. Grundlegend für Sartres Philosophie ist, dass »die Existenz der Essenz vorausgeht« (Sartre. Existentialismus. S. 149). Allein das konkrete Dasein des Menschen in der Welt und seine individuellen Erfahrungen machen den Menschen aus. Sartre fasst hier unter den Begriff ›Existenz‹ den ganzen Prozess des Seins, des Bewusstwerdens, des Wahrnehmens und des Analysierens. Letzterer bedeutet für ihn, »dass der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert.« (Sartre. Existentialismus. S. 149) Existenz ist demnach sowohl das reine Dasein in der Welt, als auch das reflektierte Sich-Beschäftigen mit sich selbst und mit der Welt. Dabei ist auch eine Reihung in Sartres Aufzählung zu erkennen, nämlich zunächst das bloße Existieren, das sich seiner selbst bewusst wird, sich danach seines Seins innerhalb einer Um- und Mitwelt bewusst wird und erst dann den Versuch einer eigenen Wesensbestimmung unternimmt. Dieser Prozess zeichnet die Erfahrung des Menschen mit sich und der Welt nach, ausgehend von dem, was der einzelne Mensch überhaupt erfahren und wissen kann. Das Wesen des Menschen an sich erschließt sich, gemäß Sartre, erst über konkrete Erfahrungen, die der Mensch mit Anderen macht.

Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–48. Reinbek bei Hamburg, 5. Auflage 2010. S. 145–192

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Die Vertreibung des Teufels

Der Mensch als solcher ist demnach für den Existentialisten grundsätzlich nicht definierbar; eine Definition des Menschen muss jeder Mensch für sich selbst leisten. Sie kann nur vom Individuum ausgehen. Wohl aber ist dem Existentialisten bewusst, dass der Mensch eine Aufgabe hat, und diese besteht im Werden. Da die metaphysische Instanz fehlt, ist es allerdings nur schwer nachvollziehbar, durch welchen Antrieb der Mensch werden soll. Sartre weist auch hier keinerlei Grundvoraussetzungen auf, wie z. B. einen Widerstreit von Gefühl und Verstand o. ä., der das Werden des Menschen begünstigt oder beeinflusst. Die Betrachtung Sartres lässt keinen Grund erkennen, warum der Mensch sich in einer ständigen Bewegung, dem Werden, befindet und nicht einfach stagniert. Sartre stellt lediglich fest, dass sich der Mensch im Werden befindet. Indem sich der Mensch seiner Selbst bewusst wird und über sich und die Welt reflektiert, wird ihm nämlich bewusst, dass er sein Leben selbständig gestalten kann. Sartre geht davon aus, dass jeder Mensch die Verantwortung für sich und sein Leben übernimmt und übernehmen muss und dieses eigenverantwortlich selbst gestaltet. Hier jedoch plädiert Sartre geradezu dafür, dass jeder Mensch sich bewusst für sein Werden und somit seinen individuellen Lebensweg entscheiden soll. Der innere Ruf, sich zu entwickeln, wird hier nach außen verlagert. Allein das Leben und das Bewusstsein um dieses Leben sollen den Menschen dazu auffordern, in der Welt zu handeln und etwas Sinnvolles aus seinem Leben zu machen. Jedoch haben nur die wenigsten Menschen seit ihrer frühesten Jugend ein konkretes Ziel und verfolgen einen konkreten Lebensplan, so wie dies im Leben von Sartre der Fall war. Bei den meisten Menschen entwickelt sich dies erst im Laufe des Lebens oder ergibt sich mit den Gegebenheiten. Dieses Sich-Treiben-Lassen oder Abwarten ist aber gerade kein verantwortungsvolles Leben im Sinne Sartres. Deswegen geht er dagegen an und ruft die Menschen dazu auf, ihr Leben bewusst und aktiv zu planen und selbständig zu gestalten. Allerdings übernimmt nun Sartre die Rolle desjenigen, der die Menschen aufruft oder aufzurufen scheint. Der Menschen an sich scheint nicht notwendig das Bedürfnis zu haben, von sich aus selbständig zu werden. Der Mensch, der von Beginn seines Lebens an allein auf sich gestellt mit der Welt konfrontiert ist, wird sich jedoch, Sartre gemäß, von selbst seiner Verantwortung für sich selbst und sein Werden be167 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

wusst. Diese Verantwortung ist nicht rein egoistisch allein auf ihn selbst bezogen zu verstehen, sondern betrifft auch zugleich alle anderen Menschen: »So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild vom Menschen, den ich wähle; mich wählend wähle ich den Menschen.« (Sartre. Existentialismus. S. 151)

Hier wird einerseits die Bedeutung von Verantwortung dargestellt, andererseits die Einzigartigkeit des Menschen und seiner Bestimmung aufgewiesen. Verantwortung übernimmt der Mensch, indem er sich seiner selbst und somit seiner Aufgabe in der Welt bewusst wird. Diese Verantwortung kann nicht geteilt oder abgegeben werden und ist insofern, wenn sie tatsächlich wahrgenommen wird, unermesslich. Dann nämlich fühlt sich der Mensch für alles verantwortlich – für sich selbst, für alle anderen, für alles, was ist und geschieht. Verantwortung ist demzufolge verbindlich, von größter Tragweite und höchstem Stellenwert. Sie wird zum Grundwert des Menschen überhaupt. Dies ist vor allem deshalb bei Sartre der Fall, weil der Mensch mit jeder Wahl, die er trifft, immer für sich und gleichzeitig auch für alle anderen Menschen entscheidet. Der Mensch kann sich nur selbst definieren, indem er sich durch seine Wahl quasi selbst erschafft. Indem er lebt, macht er sich selbst zu einer konkreten Ausformung der Möglichkeiten seines Seins und als solche schafft er sich wiederum seine eigene Definition. Insofern erschafft sich der Mensch ein Bild von sich selbst und da er sich quasi als Prototypen des Menschen schafft, erschafft er somit ein Bild des Anderen und letztendlich des Menschen überhaupt. Allerdings heißt dies auch, dass der Mensch die Welt nur aus sich selbst heraus versteht und aufgrund der eigenen Wahl (neu) erschafft. Jeder Einzelne wird zum Schöpfer seiner Welt und dies in konkreter und ethischer Hinsicht. Verantwortung bedeutet hier demnach auch Erschaffen ohne Grundlage. Es bedeutet das eigenständige Erschaffen seiner Selbst und der Menschheit auf der Grundlage dessen, was jedem Einzelnen konkret gegeben ist. Dies kann den Ausschluss jeglicher Traditionen, seien sie religiös, institutionell oder historisch nach sich ziehen. Insofern ist Sartres Forderung nach Verantwortung und Werden ein Kreisen um sich selbst. Dies kann nur zu einem absoluten Egoismus jedes Einzelnen führen, denn dann gibt es kein Miteinander der Menschen und 168 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

keine Gemeinsamkeiten mehr. Wie wir noch sehen werden, führt Sartre durch den absoluten Egoismus den Teufel durch die Hintertür wieder ein. In seiner Schrift postuliert Sartre auch: »der Mensch ist die Freiheit« (Sartre. Existentialismus. S. 155). Dabei sieht er die Freiheit als »Grundlage aller Werte« (Sartre. Existentialismus. S. 172). Der Mensch ist frei, da er sich von Gott lossagt, bzw. Sartre in seiner Philosophie keine Rückbindung an eine Transzendenz zulässt. Vielmehr erklärt Sartre sogar, der Mensch sei dazu »verurteilt, frei zu sein« (Sartre. Existentialismus. S. 155). Der Mensch hat sich zwar nicht selbst erschaffen, ist aber nun auf sich allein gestellt und selbst dafür verantwortlich, was aus ihm wird. Er muss sich also selbst schaffen. Was gemäß Sartre im Leben und für das konkrete Leben zählt, ist die Wahl. Der Mensch kann nicht umhin zu wählen (vgl. Sartre. Existentialismus. S. 169). Die Wahl betrifft sein Werden und seine Verantwortung. Nur durch die Wahl kann der Mensch werden, denn »der Mensch schafft sich, indem er […] wählt« (Sartre. Existentialismus. S. 170). Durch die Wahl wird der Mensch gemäß Sartre letztendlich zu seinem eigenen Schöpfer. In seiner Freiheit schafft er sich selbst und wird dadurch zu dem Menschen, der er selbst sein will. Hieran ist niemand außer ihm beteiligt. Allein der einzelne Mensch ist für sich und sein Werden verantwortlich. Das scheinbar willkürliche Erscheinen des Menschen in einer Welt, die er selbst in eigener Verantwortung zu gestalten hat, ist mit allgemeiner, großer Unsicherheit verbunden. Aufgrund dieser Unsicherheiten des Seins und des Werdens ist das grundsätzliche Sein des Menschen gemäß Sartre Verlassenheit, Angst und Verzweiflung. Verlassenheit ist es in dem Sinne, dass der Mensch vollkommen allein und auf sich gestellt ist, nämlich verurteilt zum Frei-Sein. Dabei bedeutet dieses Frei-Sein vor allem, dass er allein ist und sich in keiner Situation auf irgendetwas oder irgendjemanden verlassen kann. Er allein ist verantwortlich für alles, was ihn und seinen Umgang mit seiner Umwelt betrifft. Angst ist für Sartre das Gefühl der »totalen und tiefen Verantwortung« (Sartre. Existentialismus. S. 152). Die Angst ist hier vor allem eine Angst vor der Entscheidung oder Wahl vor dem Hintergrund vieler Möglichkeiten, wovon nur eine oder wenige verwirklicht werden können. Jede Wahl bedeutet, dass der Mensch sich auch gegen etwas entscheidet. Die Unsicherheit des Werdens beinhaltet aber auch, dass der sich selbst schaffende Mensch nicht wissen kann, was 169 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

die getroffene Wahl für seine Zukunft bedeuten wird. Insofern ist jede Wahl mit Unsicherheit verbunden und birgt das Risiko in sich, die falsche Wahl getroffen zu haben. Die Angst vor der Wahl ist gleichzeitig immer auch die Angst vor der Übernahme der Verantwortung für diese Wahl. Schließlich resultiert die Verzweiflung bei Sartre daraus, dass sich der Mensch auf nichts und niemanden verlassen kann, sondern nur noch allein auf sich selbst. (Vgl. Sartre. Existentialismus. S. 159) Alles, was nicht vom Menschen selbst und seinem Willen abhängt, ist Unsicherheit und damit unzuverlässig und kann somit seinem Willen zuwiderlaufen. Hier ist Verzweiflung als Mangel sich selbst gegenüber zu verstehen. Da aber der Mensch bei Sartre alleiniger Gesetz- und Wertgeber seiner selbst ist, kann er sich selbst gegenüber keinen Mangel verspüren. Trotzdem ist der Mangel als »Seins-Mangel« (Sartre. Sein. S. 969) da. Jedoch wird der Mangel bei Sartre auf den Anderen oder das Andere übertragen. Dies geschieht aber nicht in dem Sinn, dass der oder das Andere das Erstrebenswerte für den Menschen zu sein scheint. Vielmehr ist der einzelne wählende Mensch das Maß aller Dinge demgegenüber alles und jeder andere mangelhaft ist. Aus der Unberechenbarkeit der anderen Menschen und der Welt entsteht Unsicherheit. Allein durch die Mangelhaftigkeit des anderen, also durch dessen Unberechenbarkeit, erlebt der Einzelne Verzweiflung. In seiner Schrift Das Sein und das Nichts von 1943 kommt diese Überlegung zur Verzweiflung in Sartres Phänomenologie des Blicks zum Tragen, obwohl hier noch nicht explizit von Verzweiflung die Rede ist (vgl. Sartre. Sein. S. 539 ff.). Der Mensch kommt nicht durch sich selbst, an seine Leiblichkeit heran, sein Leib (en soi) ist ihm für sich selbst (pour soi) verschlossen. Erst durch den Blick des Anderen sieht sich der Mensch als Körper. Der Blick des Anderen verwandelt seinen Körper in bloßes Fleisch. Diese Verwandlung versteht Sartre als Nichtung des Ich. Damit ist gemeint, dass das Ich nicht mehr sein eigener Grund sein kann, der Mensch kann sich nicht mehr aus seinem Selbstbild heraus verstehen, wenn ihn ein anderer erblickt hat. Die von ihm selbst empfundene Leiblichkeit, mit der er sich auch identifiziert hat oder identifizieren kann, wird durch den Blick auf seinen Körper vernichtet. Nicht der Körper wird also vernichtet, sondern die Behauptung, dass der Mensch sein eigener Grund sein kann und damit auch der eigene Grund seines Körpers. Bekanntlich diffe170 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

renziert die französische Sprache nicht zwischen Körper und Leib, beides ist corps. Auch Sartre kommt allein mit dem Wort corps, Körper, aus. Der Körper ist zunächst immer der von außen wahrgenommene Körper eines anderen, er ist äußerlicher Körper. Auf diese Weise wird auch der eigene Körper zunächst nur extern und als äußerlicher, als der Körper eines Menschen von ihm selbst wahrgenommen. Der Mensch fühlt seinen Körper, ihn wahrnehmend ist er ein äußerlicher Körper, in den der Mensch im Unterschied zu andern Körpern eingeschlossen ist. Unter dem Blick des anderen wandelt sich aber sein Körper zu einem von einem Anderen erblickten Körper. Der erblickte Körper ist jetzt nicht mehr der für den Menschen äußerliche Körper, den er ansehen, fühlen und berühren kann, er wird ihm durch den Blick entrissen und muss als ein erblicktes An-sich (en-soi) nun von ihm verinnerlicht werden. Der ihm so entrissene Körper wird zu Fleisch, chair, das wiederum die Begierde oder Abscheu des Anderen hervorrufen kann, was wiederum den Anderen an den Menschen bindet oder ihn abstößt. Hier kommt es für Sartre zu der nicht mehr allein phänomenologisch, sondern nur noch dialektisch zu verstehenden Tatsache, dass der Mensch durch den Blick des anderen viel stärker mit sich selbst konfrontiert wird, als er das selbst bewerkstelligen könnte. Hätte Sartre bereits in Das Sein und das Nichts die Verzweiflung thematisiert, dann hätte der Mensch unmöglich die Begierde haben können, Gott zu sein (vgl. Sartre. Sein. S. 972). Verzweiflung, wäre sie an dieser Stelle bereits als solche thematisiert, wäre allerdings in dieser Hinsicht wesentlich mehr als nur die Mangelhaftigkeit des Anderen, wie es später in Der Existentialismus ist ein Humanismus ausgeführt wird. Vielmehr würde sie zudem noch durch die eigene Unzulänglichkeit zutage treten, die durch den Blick des Anderen gespiegelt wird. Was die Wahlfreiheit betrifft, durch die der Mensch sich selbst schafft, so thematisiert Sartre hier allerdings nicht, ob sich jede Wahl nur nach dem Guten wendet und der Mensch nur das wählt, was für ihn ›das Richtige‹ ist, wie wir dies z. B. bei Herder gesehen haben. Auch die Frage danach, was das Gute sein soll, bleibt unbeantwortet. Weiterhin äußert sich Sartre nicht dahingehend, woher der Mensch wissen kann, was für ihn das Richtige ist und wodurch seine Wahl motiviert wird. Jedoch ist für Sartre eindeutig: »der Mensch ist immer der glei171 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

che gegenüber einer sich verändernden Situation« (Sartre: Existentialismus. S. 170). Der wählende Mensch kann sich also niemals so sehr mit und durch seine Wahl verändern, dass er für sich oder für andere nicht mehr erkennbar ist. Der Mensch scheint bei Sartre einen Wesens-Kern zu haben, nämlich das Selbst, das immer gleich bleibt, egal, was und auf welche Weise es sich verändert. Das Selbst bleibt unangetastet und ist unantastbar. Sartre selbst äußert sich an dieser Stelle jedoch nicht weiter dazu, was das Selbst eigentlich ist und wie es zu verstehen ist. Wenn Sartre jedoch postuliert: »der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.« (Sartre. Existentialismus. S. 161),

dann liegt für ihn die Wirklichkeit des Menschen allein im Handeln. Was den Menschen ausmacht ist, Sartre gemäß, allein das, was der Mensch in der Welt tut und somit für die Welt sichtbar macht. Nur das, was verwirklicht und nach außen hin demonstriert wird, ist auch wirklich. Einerseits wird durch dieses Postulat der Mensch entmenschlicht, denn ihm wird die Wirklichkeit seiner Gesamtpersönlichkeit abgesprochen. Wenn nur das, was in der Öffentlichkeit – hier ist nicht die breite Öffentlichkeit gemeint, sondern jedes Öffnen eines Menschen gegenüber einem oder den Anderen – geschieht, existent und somit wirklich ist, so ist alles, was den Menschen ausmacht, was er aber nicht mitteilt, nicht wirklich und trägt nicht zu seiner Persönlichkeit bei. Nicht die Gedanken, die ein Mensch hat, die Träume, die er träumt, oder die Wünsche, die er hat, zählen und machen den Menschen zum Menschen. Letzterer muss in die Öffentlichkeit gehen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Nur das, was der Mensch anderen gegenüber von sich Preis gibt, ist er dann auch. Sartre sieht hier nicht, dass Handlungen in der Regel erst einer langen inneren Reife und Überlegung bedürfen, wenn sie nicht nur oberflächlich sein soll. Gerade diese Reife ist es, die den Menschen ausmacht und ihn sich entwickeln und somit werden lässt. Das, was er nach außen hin tut, ist erst der zweite Schritt, der die Anwendung dessen darstellt, was der Mensch für sich selbst überdacht hat. Es ist eine Art Probe, wie dies wirkt und was dies im Dialog mit anderen

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Die Vertreibung des Teufels

bewirkt. Sartre opfert seinem Bild vom menschlichen Schöpfer das facettenreiche Innenleben und die Privatheit des Menschen. In ähnliche Richtung gehen Sartres Überlegungen hinsichtlich der Liebe: »In Wirklichkeit gibt es für den Existentialisten keine andere Liebe als jene, die gelebt wird, es existiert keine andere Möglichkeit der Liebe als die, die sich in einer Liebe ausdrückt […]« (Sartre. Existentialismus. S. 162).

Nicht die Sehnsucht nach einer geliebten Person oder die intime Liebe zählen in Sartres existentialistischer Philosophie, sondern allein das, was ausgelebt wird, ist von Bedeutung. Die Liebe, wie auch das gesamte menschliche Leben, werden somit auf Äußerlichkeiten reduziert. Sartre entwickelt hier eine Weltsicht der Oberflächlichkeit. Um in seiner Ganzheitlichkeit wahrgenommen werden zu können, müsste jeder alles nach außen tragen und auf der Oberfläche ausleben. Nimmt der Mensch dies ernst, so muss er alles, was er denkt und fühlt, öffentlich zur Schau stellen, wenn er wirklich sein will. Dieses Denken scheint sich heute bereits weitestgehend durchgesetzt zu haben. Mit dem Erscheinen von Facebook, Instagram, Twitter oder ähnlichem und deren ausgiebiger Nutzung wird es jedem Menschen ermöglicht, sich in sogenannten sozialen Netzwerken einer größtmöglichen Anzahl von Menschen mitzuteilen oder sich in Szene zu setzen. Auch hier lebt der Mensch sich oberflächlich aus, wie dies von Sartre gefordert wird, und beweist damit, dass er wirklich ist. Er wird quasi materiell greifbar und somit für andere begreifbar. Eigentlich aber gehört der Materialismus, den Sartre an dieser Stelle so sehr hervorhebt, zu den üblichen Kennzeichen des Teufels, der hier wieder durch die Hintertür kommt. Andererseits liegt hier neben der merkwürdig anmutenden ZurSchau-Stellung der eigenen Person aber auch die konkrete Forderung vor, dass der Mensch handeln soll. Nicht der Verliebte, der sich Möglichkeiten der Annäherung vorstellt, lebt die Liebe. Nicht der Dichter, der seine Entwürfe immer wieder überarbeitet und nicht publiziert, ist ein Dichter. Nicht derjenige, der in seinem Kämmerlein die Welt verbessern will, trägt wirklich zur Weltverbesserung bei. Allein derjenige, der wirklich handelt – zusammen mit anderen – kann auch etwas bewirken. In diesem Sinne fordert Sartre mit seinen Schriften zum Engagement, zum persönlichen Einsatz, auf. Der Mensch muss sich engagieren. Nur so kommt es in der Welt zu Änderungen und zu Ver173 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

änderungen. Insofern fordert Sartre dazu auf, dass jeder Einzelne Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen für sein Handeln tragen muss. b)

Der neue Humanismus

Der Existentialismus ist ein Humanismus und dies bedeutet für Sartre, dass er etwas zutiefst Menschliches ist. Insofern entspricht Sartres Begriff des Humanismus all dem, was bisher gesagt wurde (vgl. Sartre. Existentialismus. S. 175 ff.). Der Mensch ist allein auf sich selbst gestellt. In der Abwesenheit einer Transzendenz ist er der alleinige Schöpfer und auch der alleinige Gesetzgeber, denn er bestimmt durch seine Wahl die Moral und die Ethik, denen er sich in seinem Handeln verpflichtet fühlt. Da Traditionen nicht mehr bindend sind, ist es an jedem Menschen selbst, sich seine eigenen Formen zu schaffen und zu verwirklichen. Der Mensch entscheidet sich für ein bestimmtes Leben, das er führen will und für bestimmte ethische oder moralische Vorstellungen, denen er sich unterwirft. Dabei sind letztere genauso in Freiheit von ihm selbst geschaffen, wie sein eigenes Leben. Gerade beim Begriff der Freiheit zeigt sich doch eine große Beliebigkeit und vor allem eine Unmöglichkeit, mit anderen Menschen in Gemeinschaft leben zu können. Wenn jeder sich seine eigenen Vorstellungen von Moral und Ethik selbst schafft, kann es zu keinem Konsens mehr kommen. Es sei denn, eine außergewöhnliche Persönlichkeit überzeugt alle anderen in der Gemeinschaft von seinen eigenen Vorstellungen und die anderen übernehmen diese, weil sie sie für richtig erachten. Dies ist aber dann keine Freiheit mehr, sondern eine Diktatur. Sartres Philosophie ist unmittelbar auf das Konkrete gerichtet. Die Verwirklichung des Einzelnen geschieht allerdings für Sartre durch das Sich-Entwerfen und die Suche nach Zielen (vgl. Sartre. Existentialismus. S. 176). Letztere sind für Sartre konkrete Ereignisse, für die der Mensch sich engagieren kann. Nicht das In-Sich-Gehen und Reflektieren über sich selbst und die Welt bringt den Menschen als Einzelnen und in der Gesellschaft weiter, sondern allein das Handeln in der Welt, das durch Engagement zum Einmischen in die Öffentlichkeit und zur Verbesserung der Welt führen soll. Allerdings fehlt bei Sartre jede Transzendenz im Leben und er scheint auch jede Verinnerlichung des Menschen durch Reflexion ab174 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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zuwerten. Dadurch, dass der Mensch zu seinem eigenen Schöpfer in der Öffentlichkeit wird, verliert er an Objektivität und Kritikfähigkeit sich selbst gegenüber. Wie ein Gott soll er sich seine Welt erschaffen, die er im Entwurf vorausgeplant hat. Insofern ist der Existentialismus, so wie ihn Sartre hier beschriebt, die Verwirklichung des eigenen Schöpfertums. Sartre zelebriert in seinen Schriften die Verabsolutierung der menschlichen Freiheit. Der Mensch im Existentialismus zerschneidet nicht nur freiwillig das Band, das ihn der Schelling’schen Philosophie zufolge mit Gott eint; er schafft Gott sogar radikal ab. Da nun für Sartre jeder Mensch absolut frei ist und sich und sein Leben frei gestaltet, ist es nur konsequent, wenn Sartre in seinem 1947 erschienenen Drama Geschlossene Gesellschaft bereits zu dem Schluss kommt: »[…] die Hölle, das sind die anderen.« (Sartre. Gesellschaft. S. 58) Hier kommt dann auch die Hölle ebenfalls wieder durch die Hintertür herein. Sartres Ansatz wird auch in Hans Jonas’ Werk Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes analysiert. Hans Jonas unternimmt in diesem Werk den Versuch, den Gnostizismus mit dem Existentialismus und dem Nihilismus zu vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen. Dabei konstatiert Jonas ebenfalls, dass es sich bei Sartre um ein Menschenbild handelt, das den Menschen als denjenigen darstellt, der nicht nur Freiheit hat, sondern selbst die Freiheit ist. Insofern ist der Mensch aber auch allein in der Welt; ihm ist keine Richtung mehr vorgegeben, der er folgen oder gegen die er sich richten kann. Jonas nennt das Leben des Menschen dementsprechend eine »kompasslose Aufgabe« (Jonas. Gnosis. S. 392), die verzweifelt ist und Angst einflößt. Dennoch sieht Jonas hierin keinen Unterschied zum gnostischen Denken. Vielmehr verweist er darauf, dass es auch im Bereich der Gnosis sehr wohl Positionen gibt, die den Menschen als freien erkennen. Dies führt dann in ethischer Hinsicht ebenfalls zu der Auffassung: »[…] nichts ist von Natur gut oder böse, die Dinge an sich sind indifferent, nur nach menschlicher Meinung sind Handlungen gut oder schlecht.« (Jonas. Gnosis. S. 392)

Sartres Position ist insofern weder neu, noch originell. Den entscheidenden Unterschied sieht Jonas jedoch darin, wie im Existentialismus, und somit bei Sartre, die Natur gesehen wird. Sieht sich der Mensch im gnostischen Denken einer ihm feindlichen Natur gegenüber, so ist 175 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

die Natur dem modernen Menschen gegenüber gleichgültig (vgl. Jonas. Gnosis. S. 399). Für Jonas heißt das, dass eine widrige Natur immer noch personifiziert und damit dem Menschen erkennbar ist. Die gleichgültige Natur hingegen ist für den Menschen nicht erkennbar. Sie ist nicht mehr Teil des Menschen, sondern Ort des freien Menschen, an dem er sich dennoch nicht orientieren kann. Letztendlich ist der Mensch ganz allein und dies ist für Jonas mehr noch als Verzweiflung, es ist der »bodenlose […] Abgrund« (Jonas. Gnosis. S. 399). c)

Der Teufel und der liebe Gott

Sartre ist einer der wenigen Philosophen, die ihrem Denken auch in literarischen Werken Ausdruck verliehen haben. In seinem 1951 erschienenen Theaterstück Le diable et le bon Dieu – Der Teufel und der liebe Gott wird das existentialistische Denken thematisiert. So wird gleich zu Beginn des Dramas die Freiheit des Menschen und die damit verbundene Fähigkeit, sich selbst zu erschaffen, indem Entwürfe verwirklicht werden, von der Hauptfigur Götz aufgegriffen, wenn dieser von sich behauptet: »[…] ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich bin.« (Sartre. Teufel. S. 42) Dennoch hält sich Götz sehr lange an die Konventionen der christlichen Kirche und damit an die Gebote Gottes. Insofern sind seine Überlegungen und Taten böse, solange er wider die Gebote Gottes handelt. Zunächst tut er das Böse, »weil das Gute schon getan ist« (Sartre, Teufel, S. 56) und auch aus dem Bewusstsein und der Erfahrung heraus, dass er dafür von Gott nicht gerade gestraft wird: »Ich habe das schlimmste Verbrechen begangen, und der Gott der Gerechtigkeit kann mich nicht strafen.« (Sartre. Teufel. S. 43) Aber auch in der Phase, in der Götz nur das Gute tun will, hält er sich ausschließlich an christliche Werte, nämlich »Das Gute ist die Liebe« (Sartre. Teufel. S. 81), und er will das Reich Gottes sofort beginnen lassen, indem er den Sonnenstaat, nämlich das Paradies auf Erden erschaffen will (vgl. Sartre. Teufel. S. 81/82). Er scheitert jedoch in seinem Bestreben, da er sich durch gutes Handeln lediglich beim Volk beliebt machen und von ihm geliebt werden will. Nicht das Gute zu verwirklichen ist demnach sein Ziel, sondern die Anerkennung, die dieses mit sich führt. Das Volk traut ihm nicht und nur eine vermeintliche Stigmatisierung verhilft Götz zur vorübergehenden Akzeptanz, was seine Anhänger letztendlich ins Verderben führt. 176 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Nachdem beide Wege nur Tod und Verderben für die Menschen gebracht haben, die um Götz herum waren und auf ihn gehört haben, wendet sich Götz von Gott ab. Er erkennt für sich: »Gott existiert nicht.« (Sartre. Teufel. S. 159) und entledigt sich der traditionell christlichen Vorstellungen von Gut und Böse. Nicht die Hinwendung auf ein Leben nach dem Tod ist für ihn von Bedeutung und somit wird ein gottgefälliges Leben hinfällig. Götz lenkt sein Streben von nun an allein auf das, was auf Erden passiert und hier wichtig ist, und auf die Menschen, mit denen er zusammen leben und wirken will: »Ich will ein Mensch unter Menschen sein.« (Sartre. Teufel. S. 163) Allerdings bleibt auch hier die Drohung, dass der Mensch letztendlich zum Feind des Menschen werden kann, wenn Götz wiederholt: »Kein Mittel mehr, den Menschen zu entrinnen.« (Sartre. Teufel. S. 159) Trotz der Absage an Gott und insofern auch der damit tradierten Werte, die das Gute und das Böse kategorisieren, bleibt für Götz die Einteilung in Gut und Böse weiterhin bestehen. Er stellt fest: »Die Menschen von heute werden als Verbrecher geboren. […] Auf dieser Erde und in dieser Zeit sind Gut und Böse untrennbar: Ich bin bereit, böse zu sein, um gut zu werden.« (Sartre, Teufel, S. 163)

Gut und Böse werden hier als Dichotomie und somit für das Leben und Handeln des Menschen als unabdingbar erkannt, jedoch wird nicht deutlich gemacht, auf welche Werte sich Gut und Böse gründen, wenn christliche Werte mit ihrer Letztbegründung in Gott wegfallen. Demzufolge gibt Sartre auch in seinem Theaterstück keine Antwort darauf, wie eine vom Menschen geschaffene Ethik aussehen könnte und welche Art von Ethik dies sein soll. Dennoch bleiben die Kategorien gut und böse. Wichtig ist für Sartre letztendlich auch in diesem Werk nicht, eine Ethik zu postulieren, sondern allein, dass sich der Mensch seiner Freiheit bewusst wird, um sich konkret in der Welt zu engagieren: »Der Weg, den Götz einschlägt, ist der Weg der Freiheit: er führt vom Glauben an Gott zum Atheismus, von einer ort- und zeitlosen abstrakten Moral zu einem konkreten Engagement.« (Sartre. Über Teufel. S. 169)

Sowohl in seinem philosophischen Denken als auch in seinem literarischen Werk weiß Sartre das Gute vom Bösen klar zu trennen. Indem sich der Mensch selbst schafft, gibt er sich auch selbst Werte

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und schafft somit eine eigene Ethik. An diese hält er sich in seinem Handeln. Der Mensch ist nicht der Widersacher Gottes, also der Teufel, der alles grundsätzlich verneint und somit das Chaos heraufbeschwört. Vielmehr ist gemäß Sartre sein Leben auf das Handeln in eine bestimmte Richtung, nämlich die Verwirklichung seines Entwurfs, ausgerichtet. Dass gute und böse oder schlechte Arten der Wahl existieren, ist dem Menschen dabei ebenso bewusst wie, was gut oder böse ist, denn er selbst hat seine Grundsätze festgelegt. Dementsprechend handelt er selbst gut oder böse. Die Frage bleibt allerdings, nach welchen Kriterien der Mensch seine individuelle Ethik erschafft. Ist Ethik ein Erkennen aufgrund von Erfahrenem oder doch innerhalb einer Gesellschaft anerzogen und angelernt? Sartre selbst gibt hierauf keine Antwort.

Die Flucht in Verzweifung und der Verfall in Schwermut Während bei Jean-Paul Sartre der Teufel als Personifikation des Bösen nicht mehr in Erscheinung tritt – weder philosophisch noch literarisch –, allerdings ungewollt oder unreflektiert eine Rolle spielt, findet bei Sören Kierkegaard noch ein Nachdenken über den Teufel in einer Weises statt, die gleichwohl über Sartre hinausreicht. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass Sartre Kierkegaard näher studiert hat, obwohl Kierkegaard für die Existenzphilosophie eine große Rolle spielt. Sartre glaubte mit seinem existentialistischen Ansatz auf die Verzweiflung verzichten zu können und gab damit der Figur des Teufels oder dem Bösen den Anschein des Oberflächlichen, der für die aktuelle Diskussion wichtig ist. Gleichwohl ist Kierkegaard mit seinen Überlegungen zu Angst und Verzweiflung auch für die moderne Diskussion von hoher Relevanz. Jedoch wird der Teufel hier nicht in erster Linie als der Böse, sondern als der Verzweifelte begriffen, der sich selbst verwirklichen will. Die Verzweiflung ist hier eine neue Begründung für das Böse, die auch für den Menschen und sein Verhalten zur existentiellen Erfahrung wird. Das Böse wird hierbei nicht als das rein Negative begriffen, sondern es wird als Reaktion auf einen Mangel verstanden.

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a)

Der Verlust des Teufels bei Sören Kierkegaard

In seinem Denken kommt Sören Kierkegaard dem mythologischen Denken Schellings wieder sehr nah, jedoch geht es bei ihm vorrangig um die Charakterisierung des Menschen. Trotzdem analysiert er in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode von 1850 anlässlich seines Nachdenkens über die Verzweiflung das Böse und spricht sogar vom Teufel. Obwohl das Böse oder gar der Teufel hier aber eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie bedeutsam für das Bild der Personifikation des Bösen, da dieses auch mit dem Begriff der Verzweiflung zusammenhängt. Der Mensch als Selbst Kierkegaard setzt sich in seiner Schrift mit dem Begriff des Selbst auseinander. Schellings Denken nachfolgend 28, will er diesen Begriff genauer begreifen und definieren. Dabei stellt er fest, dass der Mensch zwar Geist, aber noch kein Selbst ist. (Vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 13) Das Selbst definiert Kierkegaard zunächst folgendermaßen: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält.« (Kierkegaard. Krankheit. S. 13)

Ein Verhältnis ist für Kierkegaard eine Synthese (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 13), nämlich die dialektische Verbindung von zwei Gegensatzpaaren in einer Einheit. Diese Verbindung bezeichnet Kierkegaard auch als »negative Einheit« (Kierkegaard. Krankheit. S. 13). Der Mensch an sich ist ihm zufolge eine solche Synthese, und deswegen ein Verhältnis. Die zwei Seiten, die der Mensch dialektisch in sich vereint, sind die Endlichkeit und die Unendlichkeit oder das Zeitliche und das Ewige oder die damit verbundene Notwendigkeit und Freiheit. (Vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 13) Der Mensch ist das Verhältnis, also die Synthese, das den Gegensatz von Bedingtheit und Unbedingtheit in sich birgt. Insofern ist er zwar einerseits als Naturwesen an die Natur und ihre Gesetze gebunden, kann sich aber andeVgl. hierzu die Ausführungen von Joachim Ringleben. Freiheit und Angst. Heidegger zwischen Schelling und Kierkegaard. In: Heidegger und die christliche Tradition. Hrsg. v. Norbert Fischer, Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Hamburg 2007. S. 219– 244

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rerseits auf gewisse Weise davon befreien oder darüber hinwegsetzen. Dies geschieht z. B. durch den Bau von Maschinen, die dem Menschen in der Natur vorhandene Fähigkeiten verleihen, die er als solcher nicht hat, so wie das Flugzeug dem Menschen das Fliegen ermöglicht. Das, was den Menschen darüber hinaus auszeichnet, ist die Möglichkeit, dass sich dieses Verhältnis, das er ist, auch zu sich selbst verhalten kann. Dies ist ihm möglich, da der Mensch Geist ist. Der Geist ist die Reflexion. Als solcher ist er die Reflexion über sich, also über das Verhältnis, genauer gesagt, er ist das Reflektieren-Können, vor allem das über das eigene Sich reflektieren können. Die Reflexion ist dem Menschen zu eigen und findet permanent statt. Insofern ist der Geist ein Sein und somit ein Zustand und Kierkegaard kann feststellen, dass der Mensch Geist ist. Der Mensch kann also zu sich als Verhältnis ein Verhalten aufbauen. Er ist nicht nur in dieser negativen Einheit eingeschlossen, sondern er ist dank seines Geist-Seins fähig, davon Abstand zu gewinnen und diese Einheit zu erkennen und zu reflektieren. Hier entsteht etwas Neues, das zu der grundsätzlichen dialektischen Einheit hinzukommt, nämlich ein neues Verhältnis, das sich zu der Synthese, dem ursprünglichen Verhältnis, verhält. Dieses neue Verhältnis nennt Kierkegaard »das positive Dritte« (Kierkegaard. Krankheit. S. 13). Durch das Sich-Verhalten der Synthese zu sich entsteht etwas Neues, das bisher der Einheit der Synthese noch nicht innegewohnt hat, nämlich das Selbst. Erst die reflektierte Verbindung von Endlichkeit und Unendlichkeit schafft das Selbst. Dies bedeutet, dass der Mensch erst zum Selbst, d. h. zum Individuum wird, wenn er sich über sein An-Sich-Sein klar wird. Der Mensch als Selbst verhält sich nun zu sich selbst, zu seiner Synthese und dies immer wieder, nämlich »in jedem Augenblick« (Kierkegaard. Krankheit. S. 13), wie Kierkegaard es formuliert. Die Selbst-Reflexion findet in jedem Moment statt, ist also ständig in Bewegung und somit in Veränderung. Das Individuum ist niemals in einem (dauerhaften) Zustand, es ist somit kein Sein, sondern ein Werden. Dies macht aber ein wirkliches Begreifen-Können des Menschen so schwierig, denn das existierende Individuum verändert sich in jedem Augenblick. Insofern wird der Geist, der der einzelne Mensch ist, von einem Selbst bestimmt, das nicht ist, sondern sich ständig reflektiert und somit kein Sein oder keinen Zustand erreicht. Demzufolge ist das Selbst nicht, sondern es wird. Dabei handelt es sich nicht um ein solipsistisches um sich oder in 180 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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sich Kreisen. Vielmehr sind in dieses Sich-Verhalten zu sich selbst auch immer wieder die neuen Erfahrungen eingebunden, die das Individuum in der Welt macht und die einen Einfluss auf die negative Einheit seiner Synthese haben, nämlich auf Körper und/oder Seele. Insofern ist das Sich-Verhalten zu sich selbst auch ein Sich-Verhalten zu der Welt. Auch dieses ist in ständiger Veränderung und bleibt nie konstant. Die Existenz in der Welt ebenso wie das Umgehen mit der Welt ist kein Zustand, sondern ein ständiges Werden, das niemals die Form des Zustandes erreicht. Dieses Sich-Verhalten zu sich selbst ist gemäß Kierkegaard allein dem Menschen möglich, und keinem anderen Lebewesen sonst. Dem Menschen ist somit etwas zu eigen, das ihn auszeichnet und das ihn von allen anderen Dingen und Lebewesen unterscheidet. Kierkegaard zufolge kann diese besondere Auszeichnung des Menschen nichts Innerweltliches sein, sondern sie muss dem Menschen von außen zukommen. Dieses Außen ist für Kierkegaard Gott, der Schöpfer. Er ist die Macht, die alles setzt. Insofern setzt Gott auch das Selbst, also das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. 29 Der Mensch als Naturwesen und in der Natur Befangener wäre nicht fähig, sein Wesen als Synthese zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Jedoch kann er dies, denn diese Fähigkeit kommt ihm von Gott zu. Gott setzt das Selbst des Menschen sowie das Selbst als ständiges Sich-Verhalten. Erst durch das gesetzte Selbst erfährt der in der Endlichkeit und der Notwendigkeit befangene Mensch seine Unendlichkeit. Der Mensch wird sich erst durch das gesetzte Selbst und die damit verbundene Möglichkeit, sich selbst zu erkennen, dessen bewusst, dass er innerhalb eines raum-zeitlichen Gefüges existiert. Die Möglichkeit, dies zu erkennen, lässt den Menschen bereits über das Raum-Zeitliche hinausgehen, indem er darüber reflektieren Konrad Paul Liessmann sieht die Krankheit zum Tode als Werk, das »dezidiert von einem christlichen Standpunkt aus geschrieben« (Liessmann. Kierkegaard. S. 121) wurde und in dem das Pseudonym Kierkegaards, Anti-Climacus, »aus der Position des Glaubenden« (Liessmann. Kierkegaard. S. 121) heraus argumentiert. Uta Eichler begründet Kierkegaards christliches Gottesbild damit, dass Kierkegaard »das Werden des Menschen zu sich selbst als eine Aufgabe [begreift], die durch die Anstrengungen des Menschen allein nicht zu lösen ist.« (Eichler. Nachwort. S. 163) Somit begründet sie Kierkegaards Einführung des christlichen Gottes und des Christentums in seine philosophischen Reflexionen existentiell. Der Mensch braucht ein Gegenüber, um sich selbst zu begreifen und um werden zu können. Dies geschieht in einer Art Dialog.

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kann. Somit hat der Mensch die Grenzen des Bedingtseins überschritten und hat Teil am Ewigen. Dieses Ewige ist, was das Selbst des Menschen ausmacht, nämlich die Möglichkeit des Unbedingten, die Erfahrung außerhalb von Raum und Zeit. Diese Erfahrung kann der Mensch nicht aus eigener Kraft leisten, sie muss ihm gegeben sein, nämlich von der Macht, die selbst außerhalb von Zeit und Raum existiert, nämlich von Gott, der ewig ist. Allein durch Gott hat der Mensch an der Ewigkeit teil und ist sogar selbst ein Teil der Ewigkeit. Gott ist das Unbedingte, die Ewigkeit. Kierkegaard zufolge ist Gott Geist und, unabhängig von der Endlichkeit, ist Gott das Selbst. Dabei ist er nicht das Selbst, das im Werden begriffen ist, sondern das Selbst, das Zustand ist. Gott ist das Selbst, das ist. Jedoch ist dieses Selbst Gottes nicht gesetzt, es ist unabhängig. Gott ist allein durch sich selbst. Kierkegaard äußert sich in seiner Schrift Der Begriff Angst von 1844 auch hinsichtlich der Geschichtlichkeit des Menschen. Geschichtlich ist er Kierkegaard zufolge sowohl als Mensch als auch als Gattung. Um dies zu erläutern, bezieht sich Kierkegaard auf die Bibel, nämlich auf den Sündenfall des Adam als Urmythos der Existenz des Menschen. Die Auffassung von nicht weiter genannten Theologen, Adam sei von allen anderen Menschen verschieden, weist Kierkegaard hier weit von sich. Eine Interpretation des Urmythos in diese Richtung würde bedeuten, dass Adam für sich alleine und somit den anderen Menschen gegenübersteht. Er wäre dann »phantastisch aus der Geschichte geraten« (Kierkegaard. Angst. S. 34), hätte somit keinen Anteil mehr an der Geschichte des Menschen und eigentlich auch nicht mehr am Menschen selbst. (Vgl. Kierkegaard. Angst. S. 34) In dieser Hinsicht wäre Adam kein Mensch, der Urmythos eine reine Fiktion und in letzter Konsequenz wäre auch kein Mensch sündig. Jedoch ist jeder Mythos die Darstellung prinzipieller menschlicher Verhaltensweisen (vgl. Grätzel. Masken. S. 16 f.) Hier wird gerade das wiedergegeben, was jeden Menschen individuell ausmacht, und somit das, was den Menschen zum Menschen macht. Dies gilt auch für Adam, selbst wenn man ihn nicht als den ersten realen Menschen begreift, sondern als Figur eines oder mehrerer biblischer Erzähler: »Adam ist der erste Mensch, er ist gleichzeitig er selbst und die Gattung« (Kierkegaard. Angst. S. 35). Adam als Repräsentant aller Menschen, ist Mensch, auch wenn er der erste ist. Insofern ent182 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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spricht er prinzipiell allen Menschen; das Selbst- und Gattung-Sein Adams gilt dann auch für jeden Menschen. Adam, ebenso wie jeder Mensch, ist also Individuum. Er ist er selbst, Adam, und als solcher unverwechselbar und unersetzlich. Aber er ist auch die Gattung, d. h. das, was er ist, ist jeder Mensch. Adam hat Möglichkeiten und Fähigkeiten, die er gewiss nicht alle verwirklicht und auslebt, die aber so, wie bei ihm, in jedem Menschen vorhanden sind. Die individuelle Verwirklichung macht jeden Menschen wiederum zu ihm selbst. Adam steht hier also für den Menschen, er stellt das Verhalten aller Menschen dar, und da er den Mythos der ersten Sünde verkörpert, ist die Sünde auch generell menschlich. Als von Natur aus Selbst und Gattung-Seiender hat der Mensch den Zustand der Vollkommenheit in sich, was allerdings auch wieder ein Widerspruch ist (vgl. Kierkegaard. Angst. S. 35), denn der Mensch als Existierender kann nicht vollkommen sein, da er im Werden begriffen ist. Ein Widerspruch jedoch ist für Kierkegaard immer ein Ausdruck für eine Aufgabe, und eine Aufgabe stellt für ihn eine Bewegung dar. (Vgl. Kierkegaard. Angst. S. 35) Eine Bewegung aber, die auf dasselbe gerichtet ist, die also nicht voranschreitet und somit quasi in sich selbst dreht, ist für Kierkegaard eine »historische Bewegung« (Kierkegaard. Angst. S. 35). Dieser Gedankengang ist so zu verstehen, dass das Selbst-Sein des Menschen ein Werden ist. Insofern ist auch das Gattung-Sein des Menschen ein ständiges Werden. Das Werden des Selbst vollzieht sich nun im Rahmen der Fähigkeiten und Möglichkeiten, die dem Menschen als solchem zu eigen sind. Obwohl diese Fähigkeiten und Möglichkeiten unendlich sind, ist es doch keinem Menschen möglich, darüber hinaus zu gehen. Insofern bewegt sich das Werden des Menschen in einem gewissen Rahmen. Diese Bewegung wird dann spiralförmig, denn sie vollzieht sich in einer Zeitspanne, nämlich der Dauer des menschlichen Lebens. Diese Art von Bewegung wird historisch, denn sie beschreibt eine Geschichte, die Lebensgeschichte. Da das Individuum auch die Gattung repräsentiert, hat auch die Gattung Geschichte. Das Individuum nimmt also an der Geschichte der Gattung teil und kein Individuum steht außerhalb der Geschichte, d. h. niemand steht außerhalb der Geschichte der Menschheit. Jeder Mensch ist in der Geschichte, hat seine eigene Geschichte und, indem er an der Geschichte der Gattung teilnimmt, gestaltet er diese durch seine eigene Geschichte mit. Der Mensch ist also eingewoben in ein 183 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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»Beziehungsgeflecht« (Arendt. Vita activa. S. 226) von Geschichten, wie es Hannah Arendt später ausdrücken wird. Somit wird jeder einzelne Mensch wichtig und trägt Verantwortung für seine eigene Geschichte, aber er trägt auch in seinem Handeln Verantwortung für die Geschichte der Gattung und somit aller Menschen. Verzweiflung und Angst Wenn von Verzweiflung die Rede ist, so wird im allgemeinen Verständnis hierunter ein Gemütszustand verstanden, der zusammen mit den Begriffen Schwermut oder Melancholie häufig unter dem Namen Depression zusammengefasst wird. Es handelt sich hierbei um eine Abweichung von der sogenannten normalen seelischen Verfassung eines Menschen. Der Depressive ist krank, er passt nicht ins Bild eines gesunden, ausgeglichenen Menschen; er muss behandelt werden, damit eine Heilung seines Zustandes eintritt. Dies ist für Kierkegaard die »vulgär[e]« (Kierkegaard. Krankheit. S. 24) Betrachtung von Krankheit. Die vulgäre, unphilosophische Betrachtung bestimmt nämlich Körper und Seele als gesund Seiende. Erst in dem Moment, wenn die Krankheit eintritt, befindet sich der Mensch in einem vorübergehenden dialektischen Zustand, denn er ist zwar grundsätzlich gesund, aber als Gesunder ist er krank. Damit der Normalzustand des Gesunden wieder hergestellt werden kann, muss er von der Krankheit geheilt werden. Allerdings könnte der Mensch gemäß der vulgären Betrachtung auch an einer körperlichen Krankheit sterben. In diesem Falle würde es sich um eine Krankheit zum Tode handeln. Aus christlicher Sicht hingegen ist der Mensch nicht tot, wenn sein Körper stirbt. Das Christliche, das Kierkegaard nicht aus dogmatischer Sicht sieht, zeichnet sich durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod aus. Allein der Christ ist sich also seines ewigen Lebens bewusst und deshalb ist der körperliche Tod für ihn nicht das Letzte (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 10). Das menschliche Leben reduziert sich insofern nicht mehr nur auf die rein existentielle Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, sondern für den Christen geht es weit darüber hinaus. Der menschliche, körperliche Tod ist, so betrachtet, keinesfalls das Ende des Lebens, sondern der Tod wird lediglich als ein Übergang von einer Form des Lebens in eine andere verstanden. Dementsprechend kann aus christlich-philosophischer Sicht auch keine körperliche Krankheit zum Tod führen, wenn der Tod als das absolute Ende menschlichen Lebens definiert wird. Die philosophische 184 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Sicht baut für Kierkegaard unmittelbar auf der christlichen Sicht auf und wird von ihr bestimmt. Insofern ist für Kierkegaard der Mensch auch im philosophischen Sinne nicht tot, sobald sein Körper verstorben ist. Was nun wieder die Verzweiflung betrifft, so ist auch sie für Kierkegaard eine Krankheit, dies aber nicht im vulgären Sinn. Diese Krankheit kann aber nicht geheilt werden, denn für ihn ist sie die eigentliche »Krankheit zum Tode« (Kierkegaard. Krankheit. S. 14). Wenn für Kierkegaard die Verzweiflung die Krankheit zum Tode ist, im christlich-philosophischen Sinne jedoch keine körperliche Krankheit zum Tode führen kann, dann betrifft die Verzweiflung nicht den menschlichen Körper. Kierkegaard zufolge ist die Verzweiflung nämlich die »Krankheit des Selbst« (Kierkegaard. Krankheit. S. 20), also die Krankheit des Geistes. Insofern sind in Kierkegaards christlichphilosophischer Sicht Tod und Verzweiflung auf das Selbst, d. h. auf den Geist bezogen, und hierin besteht die ganze Schwierigkeit dieser Krankheit. Durch das Selbst hat der Mensch für Kierkegaard an der Ewigkeit teil. Eine Krankheit oder die Vorstellung vom Tod, die sich auf die Ewigkeit beziehen, können also in letzter Konsequenz nicht geheilt werden. Andererseits können sie auch nicht zum tatsächlich Letzten, dem Tod des Selbst, also den geistigen Tod führen, denn das Ewige vergeht nicht. Die Krankheit zum Tode, diese Krankheit des Selbst liegt für Kierkegaard im Verhältnis des Menschen zu Gott. Solange der Mensch bei Gott ist, d. h. solange der Mensch nicht als Existierender in der Welt und noch in Gottes Hand ist, solange ist er als Synthese im rechten Verhältnis (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 16). Sobald aber der Mensch als Existierender ins Leben und in die Welt eintritt, entlässt Gott den Menschen »aus seiner Hand« (Kierkegaard. Krankheit. S. 17). Das heißt, dass der Mensch als Existierender in die Freiheit entlassen wird und erst als Freier oder Freigelassener beginnt, sich zu sich selbst zu verhalten und damit zum Individuum zu werden. Die Freiheit des Menschen ist das Werden. Der Mensch als Existierender verharrt nicht in einem Zustand seines Seins, denn dieser Zustand ist der Ursprüngliche Zustand bei Gott, sondern er wird in jedem Augenblick. Mit der Freiheit erhält der Mensch auch seine Aufgabe, also einen Sinn des Lebens. Die Aufgabe des freien Men-

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schen heißt nun: Er selbst werden (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 32) 30. Allerdings birgt diese existentielle Freiheit auch eine große Gefahr in sich: Der freie Mensch, der wird, ist kein Selbst, denn er wird zum Selbst, bzw. soll zum Selbst werden. Dies bedeutet, dass die Freiheit des Werdens ein Missverhältnis ausdrückt. Der Mensch als Synthese, der aus Gottes Hand entlassen wird, ist nicht mehr im rechten Verhältnis, sondern muss dieses rechte Verhältnis erst wieder als Existierender herstellen. Das Sich-Verhalten der Synthese zu sich selbst ist gemäß Kierkegaard dieses Missverhältnis (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 15) der Freiheit des Werdens. Dieses Missverhältnis ist für Kierkegaard die Verzweiflung, nämlich die Krankheit des Selbst. Verzweiflung bedeutet demnach für Kierkegaard, nicht das Selbst zu sein. Der Mensch als Existierender ist die Synthese, die nicht im rechten Verhältnis ist. Dies ist die Krankheit. Dementsprechend ist Verzweiflung in erster Linie keine Krankheit mit körperlichen oder seelischen Auswirkungen, sondern sie bezeichnet den Abstand, den das existierende, freie Selbst von der Synthese in Gott hat, die im rechten Verhältnis ist. So erklärt sich auch die befremdlich anmutende Aussage Kierkegaards: »Das Sterben der Verzweiflung setzt sich ständig in ein Leben um« (Kierkegaard. Krankheit. S. 19). Verzweiflung, der Abstand zwischen dem, was sein soll, und dem, was wird, entsteht erst und nur im Existieren in der Welt. Wenn der Mensch verzweifelt ist, so bedeutet dies für Kierkegaard, dass er lebt. Verzweiflung heißt also leben, existieren. Das Sterben der Verzweiflung bezieht sich auf die Arten von Verzweiflung, die Kierkegaard konkret im Leben des Existierenden feststellt. Kierkegaard unterscheidet zwar drei Formen der Verzweiflung, die allerdings letztendlich doch nur ein und dieselbe Art der Verzweiflung sind. Hier ist zunächst die Verzweiflung »nicht man selbst sein, sich selbst loswerden zu wollen« (Kierkegaard. Krankheit. S. 14) von der Verzweiflung »verzweifelt man selbst sein« (Kierkegaard. Krankheit. S. 14) zu wollen unterschieden, ferner gibt es für

Hier liegt auch die Problematik, Kierkegaard eindeutig verstehen zu können, denn Kierkegaard selbst verwendet die Worte ausschließlich dialektisch. So bedeutet das Wort »Selbst« in seinem Sprachgebrauch einerseits das Selbst, das Geist ist, andererseits das Pronomen.

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Die Vertreibung des Teufels

Kierkegaard noch die allgemeine Verzweiflung (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 25). Der Mensch, der existiert und frei ist, ist grundsätzlich verzweifelt. Dies gilt für alle Menschen, denn als Werdende haben alle Menschen einen Abstand zu dem, was sie eigentlich sind. Problematisch wird diese Erkenntnis der allgemeinen Verzweiflung nur deshalb, weil sich die Menschen ihrer Verzweiflung nicht bewusst sind. Der Mensch versteht sich und sein Leben hauptsächlich in der allgemeinen, d. h. vulgären Betrachtung und sieht deshalb die körperlichseelische Gesundheit als seinen Normalzustand an. Kierkegaard muss feststellen, dass die meisten Menschen sich überhaupt nicht ihrer Bestimmung als Geist bewusst sind (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 29) und deshalb auch nicht gewahr werden, dass nicht Gesundheit, sondern die Krankheit, nämlich die Verzweiflung, ihr Normalzustand ist (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 24). Dieses Sich-Nicht-BewusstMachen der Verzweiflung ist aber bereits eine Form der Verzweiflung für Kierkegaard. (Vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 24) Die beiden anderen Formen der Verzweiflung, die Kierkegaard erwähnt, beziehen sich unmittelbar auf das Selbst, also auf die Bestimmung des Menschen als Geist. Dabei handelt die erste Form – verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen – von dem Selbst, das von Gott gesetzt ist. Der Mensch versucht, dieses Selbst loszuwerden, d. h. er will sich nicht mit dem Selbst auseinandersetzen, das in Gottes Hand sein eigenes Selbst ist und das er werden soll. Stattdessen sucht er Ausflüchte, die ihm ein Sein, also einen Zustand der Existenz vorgaukeln, das er nicht ist. Der Mensch als Existierender ist niemals, seine Existenz ist kein Sein, sondern ein Werden. Dies kann und will der Mensch aber nicht akzeptieren. So sucht er sich ein Sein, eine Rolle, die ihm ein Sein ist. Dies kann die Rolle eines bestimmten Amtes oder Berufs sein, aber auch die Zugehörigkeit zu einer anderen Person. Ein tatsächliches Verzweifeln darüber, dieses Sein, diese Rolle nicht zu sein, versperrt jedoch den Blick für das Wesentliche, nämlich dass in dem Nicht-Sein-Können der Rolle gerade die Chance liegt, wieder man selbst werden zu können und somit das eigene Selbst zu werden. Was wir hier die Rolle nennen, führt auch zu der zweiten Form der Verzweiflung, nämlich verzweifelt man selbst sein wollen. Das Selbst, das der Mensch werden will, ist hier keinesfalls das von Gott gesetzte Selbst, sondern es ist gerade die Rolle. Der Mensch glaubt, selbstbestimmt zu sein und handeln zu können, weshalb für ihn auch 187 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

feststeht, dass er sein Selbst setzen kann. Dieses selbstgesetzte Selbst will er sein und er verzweifelt tatsächlich, wenn er es nicht sein kann. Insofern sind diese beiden Formen der Verzweiflung eigentlich doch nur eine Form, sie bilden die Kehrseiten der Medaille und somit ist die Verzweiflung existentiell dialektisch. Auch die zuerst beschriebene dritte Form der allgemeinen unbewussten Verzweiflung lässt sich wieder auf die ersten beiden Formen zurückführen, denn auch hier handelt es sich um ein Sein-Wollen. Der Mensch will körperlich und seelisch gesund sein, er will sich allein unter der vulgären Bestimmung als Mensch an sich, also als Synthese verstehen. Damit aber spielt er eine Rolle, die er nicht ist. Der Mensch als Verzweifelter versucht also immer wieder sein eigentliches Selbst zu übergehen. Er will sein und verkennt, dass er nicht sein kann, sondern immer nur wird. Dieses Sein-Wollen aber ist das Sterben der Verzweiflung. Der Verzweifelte will das eigentliche Selbst vernichten, um das Selbst, das ist, zu sein. Indem er dies versucht, setzt er dieses Vernichten-Wollen immer wieder in Form von Leben um. Vom philosophischen Standpunkt aus gesehen kann der Mensch Kierkegaard zufolge nicht sterben. Deshalb setzt sich Kierkegaard auch damit auseinander, was mit dem Selbst passiert, wenn der körperliche Tod, der unvermeidlich ist, eingetreten ist. Kierkegaard sieht das Weiterleben des Selbst wie folgt: »[…] falls du dann verzweifelt gelebt hast […], dann ist für dich alles verloren, die Ewigkeit erkennt dich nicht, sie kannte dich nie […] sie setzt dich durch dein Selbst in der Verzweiflung gefangen.« (Kierkegaard. Krankheit. S. 30)

Hat der Mensch also versucht, sein Selbst eigenständig zu setzen und dies dann zu sein, ohne sein wirkliches Selbst zu werden oder es werden zu wollen, dann wird er auch als solches nach seinem körperlichen Ableben in Ewigkeit weiter existieren. Dies bedeutet aber auch, dass der Mensch keinen richtigen Eingang in die Ewigkeit findet, wenn er während seiner irdischen Existenz verzweifelt gelebt hat, denn er ist nicht sein ewiges Selbst geworden. Jedoch heißt dies andererseits auch, dass der Mensch auch nach seinem körperlichen Tod nach wie vor als Individuum bestehen bleibt. Die existentielle Synthese besteht zwar aus Körper und Seele, aber sie ist auch die Synthese aus Endlichem und Unendlichem, nämlich den abstrakten Formen von Körper und Seele. Der existierende 188 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Mensch ist demnach an die Dimensionen Zeit und Raum gebunden; und dies ändert sich Kierkegaard zufolge auch dann nicht, wenn der irdische Körper vergangen ist. Der Mensch bleibt immer die Synthese aus Raum-Zeitlichem und Ewigem, und somit trägt er Irdisches und Göttliches in sich. Setzt man nun die Ewigkeit mit dem Göttlichen gleich, so wird verständlich, warum die Ewigkeit das menschliche Individuum nach dessen Tod nicht erkennt, sondern letzteres in seinem Zustand der Verzweiflung verharrt. Der Mensch trägt Göttliches in sich und hat somit an Gott teil. Dies bleibt auch nach dem körperlichen Tod so. Der Mensch, seine Seele verbleibt als Individuum innerhalb des raumzeitlichen Gefüges; der Mensch existiert und hört damit auch nicht auf, nachdem sein Körper vergangen ist. Das Leben nach dem Tod ist somit für Kierkegaard weiterhin ein unendliches Suchen nach dem Selbst; der Sinn des Lebens endet nicht mit dem Tod, denn der Mensch als Werdender kann nicht sterben. Kierkegaard geht aber nicht nur der Frage nach, was Verzweiflung ist. Vielmehr fragt er auch danach, wie es zur Verzweiflung kommt und sieht den Grund darin, dass der Mensch sich von Gott löst. Hierzu beschäftigt sich Kierkegaard in seiner Schrift Der Begriff Angst von 1844 mit dem Problem der Erbsünde. Dabei stellt sich für ihn vor allem die Frage, woher die Erbsünde kommt und was sie ausmacht. Wichtig ist hier die Geschichte vom Sündenfall in der Bibel (vgl. Gen 3, 1–24), die für ihn die Urgeschichte des Menschen darstellt, der sündig wird und Schuld auf sich lädt und sich damit von Gott abwendet. Die Erbsünde, der Sündenfall, den Kierkegaard am Beispiel Adams thematisiert hat, setzt voraus, dass der Mensch, Adam sowie jeder andere, ursprünglich unschuldig ist. Im Gegensatz zur Krankheit, die gemäß Kierkegaard den dialektischen Zustand des grundsätzlich gesunden Kranken hervorruft, der aber wieder zur Gesundheit zurückkehrt, sind Schuld und Unschuld nicht gleichzeitig möglich. Die Unschuld wird durch die Schuld ersetzt. Unschuld ist der Ursprungszustand, der aber als solcher nicht erkannt wird. Sobald aber der Zustand der Schuld eingetreten ist, wird erkannt, dass dieser Zustand eingetreten ist und erst dann erkennt der Mensch, dass er vorher in einem anderen Zustand war, nämlich dem Zustand der Unschuld. (Vgl. Kierkegaard. Angst. S. 44) Der Übergang von einem Zustand in den anderen erfolgt nun durch den »qualitativen Sprung« (Kierkegaard. Angst. S. 45), also abrupt. 189 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Diese kryptisch anmutende Erklärung der Sünde wird deutlicher, wenn der Zustand der Unschuld mit Unwissenheit, der Zustand der Schuld mit Wissen gleichgesetzt wird, wie Kierkegaard es tut. (Vgl. Kierkegaard. Angst. S. 50: »Die Unschuld ist Unwissenheit.«) Insofern wird zunächst klarer, warum der Mensch nichts von seinem Zustand der Unschuld bemerkt, denn er weiß ja dann tatsächlich nichts davon. Die Frage bleibt, wie der Mensch vom Zustand der Unwissenheit zum Wissen gelangt. Dies ist möglich, da der unwissende Mensch Angst verspürt. Jeder Mensch ist eine Synthese aus Seelischem und Körperlichem. Diese Synthese wird durch ein positives Drittes konstituiert und vereint, nämlich durch den Geist. Der Unterschied zwischen dem Menschen im Zustand der Unschuld und dem Mensch im Zustand der Schuld besteht allein darin, dass der Geist im unschuldigen Zustand »träumender Geist« (Kierkegaard. Angst. S. 52) ist, während er im Zustand der Schuld erwacht ist. So gesehen ist sich der unschuldige Mensch des Geistes nicht bewusst, er kann sich also auch seines Selbst nicht bewusst sein. Jedoch ist der Geist immer aktiv. Er projiziert ständig etwas und dies ist seine eigene Wirklichkeit. Da diese Wirklichkeit nicht bewusst ist und nicht erkannt wird, ist sie auch ein Nichts, d. h. sie ist nicht existent, nicht reell. Trotzdem ist die Aktivität des Geistes da. Diese Präsenz wird wahrgenommen, aber da die Unwissenheit ihrer selbst nicht bewusst ist, weiß sie weder, was sie wahrnimmt, noch dass sie wahrnimmt. Der Geist ist ein »angedeutetes Nichts« (Kierkegaard. Angst. S. 50) und dieses Nichts erzeugt im unschuldigen Menschen Angst. Die Angst ist wie eine Art Unruhe im Menschen. Sie ist nicht dialektisch, wohl aber zweideutig. Kierkegaard beschreibt sie als »sympathetische Antipathie« und »antipathetische Sympathie« (Kierkegaard. Angst. S. 51). Der Mensch fühlt sich also unbewusst angezogen und gleichzeitig abgestoßen, worin die Zweideutigkeit besteht, dies aber von Etwas, das eigentlich für ihn Nichts ist. Wenn nun die Unschuld, wie Kierkegaard es in Anlehnung an die Bibelstelle beschreibt, ein Wort oder ein Verbot hört, das sie nicht versteht, denn sie ist Unwissenheit, dann fühlt sich die Unschuld ängstlich zu dem Wort hingezogen und gleichzeitig abgestoßen. Insofern verspürt der unschuldige Mensch eine Lust zu dem Wort oder dem Verbot hin. In diesem Moment ist die Unwissenheit aber schon Wissen. Zwar ist sie nicht Wissen um das gesprochene Wort, was es 190 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

ausdrückt und beinhaltet. Aber hier liegt für Kierkegaard doch schon das Wissen um die eigene Freiheit, denn der bis hierhin immer noch unschuldige Mensch weiß, dass er dem Wort oder dem Verbot auf den Grund gehen kann. Insofern hat der Mensch Angst vor dem Wort oder Verbot, das ihm die Wirklichkeit seiner Freiheit bewusst werden lässt. Hier aber wird dem Menschen auch die prinzipielle Möglichkeit des Könnens bewusst; er weiß darum, dass er kann und dass er unendliche Möglichkeiten des Könnens (vgl. Kierkegaard. Angst. S. 54) hat. Dies ist der äußerste Punkt der Unschuld für Kierkegaard, da, wo sich die Unschuld konzentriert. (Vgl. Kierkegaard. Angst. S. 53) An diesem Punkt ist der Mensch noch unschuldig, aber hier wird bereits klar, dass die Unschuld im nächsten Augenblick verloren sein wird, dass der qualitative Sprung stattfinden wird, nämlich von der Unschuld in die Schuld. Dieser Sprung ist letztendlich die Entscheidung. 31 Indem der Mensch sich der Wirklichkeit der Freiheit und der Möglichkeit des Könnens bewusst wird, wird er sich auch bewusst, dass er eine oder mehrere Möglichkeiten verwirklichen muss. Er ist nicht mehr im Zustand der absoluten Unwissenheit, sondern er weiß – auf unschuldige Art und Weise. Dieses Wissen weckt in ihm die Neugier auf Neues, auch wenn es gefährlich sein mag. Die Angst, so verstanden, ist also die Neugier, der sich der Mensch nicht entziehen kann und auch nicht will. Sie ist der Drang, etwas Neues wissen zu wollen, etwas Neues zu entdecken. Diesem Drang folgt der Mensch in jedem Falle, denn aufgrund des Bewusstseins der in ihm schlummernden Möglichkeiten reizt ihn das Neue mehr als alles, was er bisher kennt und was ihm sicher erscheint. Ist der Sprung getan, ist der Geist erwacht, dann ist die Angst nicht überwunden, sondern sie wird durch die Sünde wiederum mit in den schuldigen Zustand übernommen. Die Angst in existentieller Form bedeutet nun das Erkennen der Möglichkeiten und die Furcht vor der Notwendigkeit, sich für eine oder mehrere Möglichkeiten entscheiden zu müssen, die verwirklicht werden sollen, damit der Mensch seine existentielle Aufgabe erfüllt und wird.

Vgl. hierzu Béla Hamvas. Kierkegaard in Sizilien. In: Béla Hamvas. Kierkegaard in Sizilien. Berlin 2006. S. 111–123. S. 116 sieht die Entscheidung als Grundmotiv der Kierkegaardschen Philosophie, wenn er feststellt: »Die menschliche Existenz besteht nicht aus Erscheinungen, sondern aus Entscheidungen […] Den Mittelpunkt der Existenz bildet nicht die Erscheinung, sondern die Entscheidung.«

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Insofern ist der Begriff Angst bei Kierkegaard durchaus auch als etwas Positives zu verstehen. Dem entgegen steht bei ihm der Begriff der Schwermut, den er allerdings nur kurz anspricht. Schwermut nämlich bedeutet die Hemmung der Verwirklichung der Möglichkeiten. Trotzdem sagt Kierkegaard, Angst habe die gleiche Bedeutung wie Schwermut, nämlich in dem Moment, wenn die Freiheit im tiefsten Sinne zu sich selbst kommen solle (vgl. Kierkegaard. Angst. S. 51). Schwermut ist also nicht das Gleiche wie Angst, sie hat aber für den Menschen die gleiche Bedeutung: Der Mensch, der sich aus Schwermut (nicht) entscheidet, ist sich ebenfalls aller seiner Möglichkeiten bewusst. Jedoch ist die Furcht bei ihm so groß geworden, dass er sich für keine der ihm offen stehenden Möglichkeit entscheiden kann. Insofern verwirklicht er auch keine Möglichkeit. Die Schwermut ist hier das Gegenteil der Neugier, nämlich eine Lähmung jeder Entscheidung. Gibt der Mensch der Schwermut nach, so ist dies ein Nicht-Erfüllen seiner Aufgabe. Der Teufel und die Verzweiflung aus Trotz Hinsichtlich des Teufels schreibt Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode: »Die Verzweiflung des Teufels ist die intensivste Verzweiflung, denn der Teufel ist reiner Geist und insofern absolutes Bewusstsein und Durchsichtigkeit; im Teufel gibt es nichts Dunkles, das als mildernde Entschuldigung dienen könnte, seine Verzweiflung ist deshalb der absoluteste Trotz.« (Kierkegaard. Krankheit. S. 47)

Damit zeichnet Kierkegaard ein Bild des Teufels, das verwirrt, scheint es doch fast nichts mit der üblichen Darstellung des Teufels zu tun zu haben. Dabei ist bei Kierkegaard auch der Teufel verzweifelt, ebenso wie der Mensch. In Kierkegaards Terminologie bedeutet dies, dass der Teufel ebenfalls im Missverhältnis existiert. Auch er ist von Gott gesetzt und insofern ist er auch von Gott abhängig. Der Teufel existiert nicht aus sich selbst heraus. Da er verzweifelt ist, lebt er im Abstand von dem, was er eigentlich sein soll. Da die Verzweiflung des Teufels laut Kierkegaard die intensivste Verzweiflung ist, lebt der Teufel im größtmöglichen Abstand von dem, was er eigentlich sein soll. Hiermit steht Kierkegaards Bild vom Teufel noch ganz in der Tradition des Mythos vom gefallenen Engel, der sich vollkommen von Gott abwendet und sich damit am weitesten von dem entfernt, was er sein soll. 192 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

Auch ist der Teufel vom Menschen unterschieden. Während es die Aufgabe jedes Menschen ist, zu werden, hat der Teufel diese Aufgabe nicht. Er ist. Der Teufel hat kein Potential des Werdens in sich. Er muss keine Aufgabe erfüllen, er kann sein und er ist, was er werden will, denn er ist »reiner Geist« (Kierkegaard. Krankheit. S. 47). Der Teufel muss auch deshalb nicht mehr werden, denn als Geist hat er das absolute Bewusstsein, dass er Geist und somit ewig ist. Er ist sich dessen bewusst, was er ist, und deshalb ist er sich auch als Verzweifelt-Seiender bewusst. Zum einen wird auch hier wieder das traditionelle Bild des Teufels beschworen, denn der Widersacher Gottes kann in der Tat nur jemand sein, der selbst nicht mehr in einer Entwicklung steckt und somit in Abhängigkeit von Gott ist. Zum anderen aber ist der Teufel als reiner Geist keine Person. Kierkegaard verabschiedet sich hier also von der Personifikation des Bösen. Der Teufel als reiner Geist ist kein Selbst, denn er ist keine Synthese aus Endlichem und Unendlichem. Kierkegaards Definition zufolge hat der Teufel dann auch weder Körper noch Seele. Insofern hat er auch nicht mehr das Problem, dass er sich erst seines Geistes bewusst werden muss. Als reiner Geist ist der Teufel nicht an die Endlichkeit der Welt gebunden, sondern als Widersacher des ewigen Gottes ist er ebenso wie dieser mit der Ewigkeit verbunden. Insofern ist der Teufel trotz seiner Abhängigkeit Gott ebenbürtig. Da der Teufel reiner Geist ist, ist er sich seines Seins absolut bewusst. Er hat das Bewusstsein seines Selbst; er weiß um sein Sein und infolgedessen auch darum, dass er diesen Abstand zu Gott nicht überbrücken will, sondern dass er ist, was oder wer er ist und dass er dies vor Gott sein will, es also in vollem Bewusstsein ist. Hierdurch erklärt sich auch die Charakteristik Kierkegaards vom Teufel, die doch befremdend anmutet, nämlich, dass es im Teufel nichts Dunkles geben, er reine Durchsichtigkeit sein soll, wo er doch im allgemeinen Sprachgebrauch als »Fürst der Finsternis« gilt. Im Teufel gibt es gemäß Kierkegaard deshalb nichts Dunkles, da er sich seiner Selbst im vollsten, also klarsten Maße bewusst ist. Dies ist er vor Gott, was bedeutet, dass sein Selbst »durchsichtig in jener Macht [gründet], die es setzte« (Kierkegaard. Krankheit. S. 15) 32. Der Teufel,

Vgl. auch S. 55: »Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in jener Macht, die es setzte.«

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sein Selbst, sein Wesen ist also vollkommen eindeutig und dies begründet er in Gott. Da der Teufel auch vor Gott er selbst so sein will, wie er ist, ist er nicht nur der höchste Verzweifelte, sondern auch derjenige, der vor Gott und für sich selbst Verantwortung übernimmt. Dies tut er in der Form des Trotzes: »Ganz ohne Trotz ist keine Verzweiflung; Trotz liegt ja schon in dem Ausdruck selbst: nicht sein wollen.« (Kierkegaard. Krankheit. S. 56) Der Teufel weiß um sein von Gott gegebenes Selbst; er weiß darum, was oder wer er sein soll, aber er entscheidet sich ganz bewusst dagegen. Der Teufel trotzt seinem von Gott gegebenen Selbst, indem er es nicht sein will. Der Teufel setzt sich also ganz bewusst selbst, indem er sich bewusst von Gott absetzt. In diesem Bewusstsein interessiert es auch und gerade den Teufel nicht mehr, dass er vor Gott ist, dass Gott ihn ansieht (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 79), denn gerade er begnügt sich damit, »sich selbst anzusehen« (Kierkegaard. Krankheit. S. 79). Insofern erhält Kierkegaard hier auch das Bild aufrecht, dass der Teufel ein Egoist ist, der sich nicht um sein Verhältnis zu dem Anderen oder zu Gott kümmert. Der Teufel verweigert auch jede göttliche Hilfe, die ihn retten oder gar erlösen könnte. Da er sich selbst in vollem Bewusstsein so gesetzt hat, wie er ist, nämlich als Antipode Gottes, will er so bleiben, Gott zum Trotz. Auch beim Menschen findet Kierkegaard nun teuflische Züge, die er dann als dämonische Verzweiflung charakterisiert. (Vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 83) Hier verhält sich der Mensch ähnlich wie der Teufel: Er will sich bewusst selbst setzen, ignoriert seine Möglichkeit und seine Bestimmung zu werden, verweigert jede, auch göttliche, Hilfe und will das bleiben, was er zu sein glaubt, »dem ganzen Dasein zum Trotz« (Kierkegaard. Krankheit. S. 81). Insofern entspricht auch die dämonische Verzweiflung beim Menschen dem Egoismus und sie führt ihn letztendlich zu einer vollkommenen Gleichgültigkeit (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 83) den Anderen und dem Leben gegenüber. Kierkegaard personifiziert den Teufel hier zwar nicht, wohl aber überträgt er seine Züge auf den Menschen. Auch ist der Teufel bei Kierkegaard nicht der Verführer, der den Menschen dazu treibt, etwas zu tun, das er nicht soll oder das gegen Gott gerichtet ist. Die Ursünde oder Urschuld geschieht auch nicht, weil der Mensch von einem Anderen dazu aufgefordert wurde, sondern aus der jedem Menschen 194 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

selbst innewohnender Angst oder Neugier. Ebenso ist die dämonische Verzweiflung eine Form der Verzweiflung, die der Mensch aus sich selbst entwickelt. Der Teufel wird gemäß der Kierkegaard’schen Deutung eigentlich nicht gebraucht, denn das Verhältnis des Menschen zu Gott wird in keiner Weise vom Teufel beeinträchtigt. Er ist allein Ausdruck des trotzigen Willens, der sich bewusst gegen seine Aufgabe stellt. Kierkegaard selbst legt den Schwerpunkt seiner Ausführungen auf den Menschen und sein existentielles Werden und führt hier den Begriff der Verzweiflung in die Philosophie ein. Das Dämonische, für die Vernunft Unbegreifbare, wird somit entdämonisiert und begreifbar gemacht. Der Mensch wird nun für seine Entscheidung und sein Handeln selbst zur Verantwortung gezogen. b)

Die Schwermut bei Romano Guardini

Romano Guardini steht in seinem Denken Kierkegaard sehr nahe. In seinen Betrachtungen bezieht er sich häufig auf dessen Philosophie, in seiner Schrift Vom Sinn der Schwermut sogar explizit auf Kierkegaards Schriften und Aufzeichnungen aber auch auf Die Krankheit zum Tode 33. Hinsichtlich der Thematik des Bösen oder des Teufels geht er sogar noch darüber hinaus. Seine Überlegungen hierzu gründen auf dem von ihm eingeführten Begriff des Gegensatzes. Das Böse als Widerspruch Spricht Guardini von der konkreten Erfahrungswelt, so nennt er sie das »Konkret-Lebendige« (Guardini. Gegensatz. S. 17). Es geht ihm hierbei um das Verhältnis des Statischen zum Dynamischen. Das Konkrete bezeichnet das Statische, das, was materiell vorhanden ist und sich in seiner Form immer wieder erkennen lässt. Es ist das empirisch Da-Seiende. Dieses Konkrete ist aber dynamisch, d. h. es verändert sich im Laufe der Zeit und erfährt andere Zustände, Abnutzungen, Bewegungen etc., und ist insofern lebendig. Stephan Pauly. Subjekt und Selbstwerdung. Das Subjektdenken Romano Guardinis, seine Rückbezüge auf Søren Kierkegaard und seine Einlösbarkeit in der Postmoderne. Stuttgart, Berlin, Köln 2000. S. 258 ff. verweist zu Recht darauf, dass sich Guardini in seiner Schwermuts-Schrift ausdrücklich auf Kierkegaards Schriften und Aufzeichnungen bezieht. Pauly selbst stellt einen Vergleich zu Der Begriff Angst an, der von Guardini nicht explizit erwähnt wird, da Kierkegaard selbst die Angst »als den Kern der Verzweiflung« (262) sehe.

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Guardini stellt nun fest, dass der gesamte Bereich des LebendigKonkreten durch den Gegensatz strukturiert und beherrscht wird. (Vgl. Guardini. Gegensatz. S. 30) Der Gegensatz besteht darin, dass zwei Momente, die sich eigentlich ausschließen, dennoch in einem Verhältnis zueinanderstehen. Durch ein einheitschaffendes Element werden sie zu einem Ganzen. (Vgl. Guardini. Gegensatz. S. 30) Diese beiden Momente bedingen einander und lassen sich aufeinander beziehen. Sie »inexistieren« (Guardini. Gegensatz. S. 155), wie Guardini es ausdrückt, was bedeutet, dass beide Seiten unmittelbar miteinander verwoben sind und keine ohne die andere überhaupt bestehen kann. Guardini zufolge ist der Gegensatz Ausdruck für »die Grundpolarität des Lebens überhaupt.« (Guardini. Gegensatz. S. 158) Anders als bei Kierkegaard bezeichnet der Begriff des Gegensatzes keine Dialektik. Die Dialektik – gerade bei Kierkegaard – bezeichnet Zustände, die zwei sich anscheinend ausschließende Momente gleichzeitig beinhalten, wie z. B. »verzweifelt man selbst sein wollen« und »verzweifelt nicht man selbst sein wollen« (Kierkegaard. Krankheit. S. 14). Dies ist in Guardinis Philosophie des Gegensatzes nicht gemeint. Hier ist es eher so, dass ein Zustand erreicht ist, dieser aber im nächsten Moment wieder in sein Gegenteil umschlagen kann. Dennoch sind beide Zustände miteinander verbunden. Was im Gegensatz zueinander steht, entwickelt eine Polarität. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 76) Hier entsteht eine grundsätzliche Einheit, die sich in zwei Polen ausdrücken kann, aber auch jede Stufe zwischen diesen zwei Polen kann verwirklicht werden. Wichtig hieran ist, dass jeder Pol und jede Stufe dieser Einheit immer wieder verwirklicht werden kann, und da alles lebendig ist, vor allem alles, was den Menschen betrifft, ist der Mensch innerhalb dieser Einheit nie auf nur einen dieser Pole festgelegt. Das Lebendige ist durch Bewegung und Wandel bestimmt und insofern betrifft dieser Wandel auch die Verwirklichung innerhalb einer Einheit. Daraus resultiert auch eine lebendige »Spannung« (Guardini. Ethik. S. 76), eine Dynamik, die allem Lebendigen zugrunde liegt. Die Dynamik des Lebens ist nur deshalb überhaupt möglich, weil sich Leben immer zwischen zwei Polen abspielt und alles, was getan wird, hier in verschiedener Weise zwischen diesen zwei Polen seinen Ausdruck findet, zwischen denen es quasi hin- und herpendelt. Anlässlich seiner Vorlesung an der Universität München von 1950–1962 zur Ethik hat Guardini sich auch mit dem Bösen beschäf196 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

tigt. (Guardini. Ethik. S. 65–96) Dabei denkt er zwar auch das Böse nicht ohne das Gute, aber Gut und Böse sind für ihn kein Gegensatz. Guardini verwahrt sich auch gegen Auffassungen, die davon ausgehen, das Böse und das Gute gehörten zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Dementsprechend gelten für ihn auch allgemeine Aussagen nicht wie z. B., nur durch das Böse erhalte das Gute seinen wahren Wert. Auch wendet er sich gegen die gnostische Vorstellung der zwei Reiche, nämlich des guten und des selbständigen bösen Reiches, die einander gegenüberstehen. Das Gute ist für ihn selbständig und für sich stehend; das Böse hingegen ist niemals selbständig. Es ist somit nicht aus sich selbst heraus entstanden und insofern auch nicht erkennbar, sondern es wird nur dann als Böses deutlich, wenn es sich vom Guten abhebt. Das Gute jedoch ist an sich klar und deutlich. Es ist in jedem Menschen, sowohl als Idee als auch als Grundlage seines Handelns und ist also jedem Menschen bewusst. Das Gute ist somit dem Menschen eingeboren, und die Aufgabe des Menschen besteht darin, dies in der Welt zu verwirklichen. Das Gute ist absolut und wird von Guardini durch seine Unbedingtheit, seine Sinnforderung und seinen Inhalt charakterisiert. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 66 f.) Unbedingtheit bedeutet hier zum einen die Absolutheit der Existenz des Guten, zum anderen, was aber im ersten Sinne bereits enthalten ist, das Nicht-Bedingt-Sein von anderen Qualitäten und somit das Allein-Erkennbare. Das Gute ist immer mit einer Forderung verbunden, die kategorisch ist, denn das Gute fordert den Menschen auf, es zu verwirklichen, und dies nicht nur im Tun, sondern auch im Wollen. In diesem Sinne ist es die Pflicht des Menschen, und zwar die absolute Pflicht des Menschen – die erste und einzige –, der es, gemäß Guardini, zu folgen gilt. Durch die Verwirklichung des Guten in der Welt wird Sinn, denn der Charakter des Guten ist das Wirkende und Schaffende, also auch das Aufbauende. Erst und allein dadurch entsteht überhaupt etwas. Dieser Sinn betrifft gerade den Inhalt, das Verwirklichte des Guten, nämlich ein Handeln in der Welt. Der Inhalt des Guten, sein Wesen, ist Guardini zufolge alles, was für den Menschen und sein Leben – sowohl mit der Umwelt als auch innerhalb der Gemeinschaft – richtig ist und dies in positive Richtungen lenkt. Dies kann die Herstellung hochwertiger Werkzeuge ebenso ausmachen, wie der Umgang mit anderen Menschen oder der Natur. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 67) 197 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Dem Bösen hingegen fehlt Guardini gemäß all das, was das Gute beinhaltet, nämlich der Inhalt, der Sinn und das Wesen. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz verweist auch darauf, dass das Böse bei Guardini kein Prinzip sei und deshalb keine Begründung in sich selbst trage. (Vgl. Gerl-Falkovitz. Gut und Böse. S. 62) Das Böse ist kern- und wurzellos und kann auch nicht eigenständig definiert werden. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 80) Das Böse birgt also keinerlei Verpflichtung in sich. Ebenso wie das Gute gibt es auch hier unendlich viele Aspekte, in denen das Böse dem Menschen erscheinen kann. Aber im Gegensatz zum Guten ist das Böse nur dann ersichtlich, wenn es zum Guten in Bezug gesetzt wird. (Vgl. Beispiele in Guardini. Ethik. S. 68) Das Böse ist nämlich für Guardini das Un- alles Guten und somit die radikale Verneinung des Guten. Es hat an sich keine Existenz, sondern verneint und vernichtet das Existierende (vgl. Guardini. Ethik. S. 68). Das Gute ist also das Aufbauende und Existierende, das vom Bösen verneint wird. Allerdings kann auch das Böse in verschiedenen Weisen verwirklicht werden, indem es ein unterschiedliches Maß an Intensität erreichen kann. Demzufolge ist das Böse nie absolut, sondern immer nur relativ. Da Gut und Böse Guardini zufolge in keinem Verhältnis zueinander stehen, ist das Böse kein Gegensatz zum Guten. Vielmehr bilden Gut und Böse einen Widerspruch. Als ›Widersprüche‹ bezeichnet Guardini Zustände, Werte etc., bei denen es kein Verhältnis gibt, das beide miteinander verbindet und eine grundsätzliche Einheit bildet. Widersprüche schließen sich sogar gegenseitig aus. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 76) Hier ist nur noch die Entscheidung für die eine oder die andere Seite möglich. Es gibt kein Zwischen und keinerlei Abstufung zwischen zwei Widersprüchen. Das eine hebt das andere auf. Das Böse kann für Guardini nur dann – fälschlicherweise – als eigenständige Existenz aufgefasst werden, wenn man absichtlich das Gute verneint und sich der Forderung nach der Verwirklichung des Guten und der damit verbundenen Pflicht entziehen will. Der Mensch erkennt auch das Böse nur dann als eigenständig Existierendes an, wenn er der »Verführung« (Guardini. Ethik. S. 66) des Bösen erliegt. Dabei ist an dieser Stelle noch nicht ersichtlich, wie das Böse, das nur als Widerspruch und in Abhängigkeit des Guten existieren kann, die Möglichkeit hat, zu verführen. Was das Problem des Teufels betrifft, den Guardini hier Satan nennt, so ist auch er nicht als Gegensatz Gottes zu sehen. Ebenso wie das Böse nicht als eigenständiges Wesen existiert, so sieht Guar198 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

dini auch Satan nicht als die Personifikation dieses eigenständigen Bösen. Die Figur Satan versteht Guardini gemäß der Legende des gefallenen Engels. Somit war Satan also ein Geschöpf Gottes und ursprünglich gut. Jedoch hat er sich gegen Gott gestellt und die Legende sagt, dass dies geschah, als Gott von den Engeln erbat, sie mögen den Menschen zu Diensten sein. Die Abkehr von Gott versteht Guardini so, dass Satan Gottes Gerechtigkeit angezweifelt hat. Deshalb fällt Satan von Gott ab, der das absolut Gute ist, was nur zum Gegenteil, in Guardinis Diktion zum Widerspruch des Guten, also zum Bösen führen kann. Satan verkörpert aber weder das Prinzip des Bösen, noch das Sein des Bösen, denn Prinzipien sind für Guardini in ihrem Wesen aufbauend. Sie sind Grundsätze, auf denen weiter aufgebaut werden kann. Insofern fungieren sie als Fundamente und sind existent. Ebenso ist es mit dem Sein. Dieses ist und ist insofern existent. Als Existierendes ist es gut. Nur das Gute ist aufbauend und entwickelt sich, das Böse aber zerstört und nur da, wo etwas ist, kann auch zerstört werden. Auch wenn Guardini die Legende von Satan als gefallenen Engel bemüht, so bleibt doch letztendlich auch für ihn »unverstehbar« (Guardini. Ethik. S. 88), wie das Böse entstanden ist und warum es überhaupt im Leben der Menschen eine Rolle spielt. Für Guardini ist dies somit »das letzte Geheimnis der Freiheit« (Guardini. Ethik. S. 88). Trotzdem sucht Guardini nach Gründen für das Böse. Dieses liegt allein im Menschen und in seinem Handeln. Dass hier Böses geschieht, ist offensichtlich und auch, dass es jederzeit und überall anzutreffen ist. Guardini versucht also eine Analyse, was das Böse in die menschlichen Handlungen bringen kann. Die Person im Dialog Das Lebendig-Konkrete, das den Menschen ausmacht, ist für Guardini eine »geschlossene leib-seelische Einheit« (Guardini. Gegensatz. S. 18). Dabei wird der Leib bei Guardini ebenso verstanden wie bei Thomas von Aquin und bei Edith Stein (vgl. Stein. Aufbau. S. 46 f.), nämlich als be-geisteter Körper, also Körper, der durch den Geist erfüllt ist. Er ist somit selbständig und denkend. Zudem beheimatet der Leib noch die Seele und bildet mit ihr eine Einheit. Körper, Geist und Seele sind somit unzertrennlich, wirken beständig aufeinander ein und wirken als Einheit in der Welt. So bilden statisches und dyna199 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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misches Prinzip ein Ganzes, das nicht in einzelne Bereiche aufgeteilt werden kann, sondern das als Einheit berücksichtigt werden muss. Was den Menschen und das Lebendig-Konkrete als solches ausmacht, ist als eine Polarität von zwei gegensätzlichen Elementen gegeben, die aber eine Einheit bilden. Das Lebendig-Sein kommt aus dem Selbst heraus, der Mensch selbst ist das Dynamische, das Veränderungen und Wirkungen hervorruft. Da er seine ihm eigene Dynamik schaffen kann, ist er frei und begründet seine Autonomie. Frei ist der Mensch auch, da er geistig existiert. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 123) Dies aber weist vor allem auf die Handlungsfreiheit des Menschen hin. Demzufolge ist allein der Mensch Urheber seiner Handlung: er wird nicht von außen bestimmt. Allein der Mensch ist auch Person. Guardini zufolge ist er in sich geschlossen eins und kann sich und sein Leben frei gestalten. (Vgl. Guardini. Person. S. 127), denn der Mensch als Person kann von sich sagen »Ich bin« (Guardini. Person. S. 130). Person-Sein heißt also in erster Linie Selbstbewusstsein zeigen und ihr Sein in der Welt demonstrieren. Die Person macht aber auch aus, dass sie Charakter und Würde hat. Beides sind Eigenschaften und Grundbedingungen dafür, dass der Mensch sich selbst und seinem Leben Sinn geben kann. Charakter und Würde brauchen aber auch ein Fundament, auf dem sie sich bilden können. Insofern ist hinsichtlich der Bildung des Charakters keine Dynamik möglich, da dann eine große Beliebigkeit entstehen würde. Der Charakter des Menschen bildet sich also auf einem eindeutigen Fundament, nämlich auf der Grundlage des Guten und kann sich, davon ausgehend, weiter entfalten. Im Idealfall entwickelt er sich immer im Hinblick auf seine Verpflichtung, das Gute zu verwirklichen. Auch die Würde des Menschen basiert auf dem Guten, d. h. auf einer positiven Einstellung zum Menschen und auf einer grundsätzlichen Bejahung des Menschen als Person und dessen Anerkennung. Hinsichtlich der konkreten menschlichen Handlungen sind zunächst die »Antriebe« (Guardini. Ethik. S. 89) zu nennen, welche überhaupt erst menschliches Verhalten und Handeln begründen und anstoßen. Antriebe können Instinkte sein, aber auch Reflexe, Bedürfnisse, die der Mensch in jeglicher Hinsicht hat. Diese veranlassen den Menschen zwar zu ständigem Handeln, das förderlich für das eigene Leben ist und unter anderem auch dessen Gesundheit und Wohl200 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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ergehen gewährleistet. Allerdings wird der Mensch von vielen und vielfältigen Antrieben geleitet. Diese sind dann nicht mehr aufeinander abgestimmt und können mitunter gegeneinander arbeiten. Daher rührt eine »beständige Gefahr der Verwirrung und Zerstörung« (Guardini. Ethik. S. 90), denn die Antriebe können sich auch gegeneinander richten und auch Antriebe der Zerstörung sein. Dann ist eine Ordnung, die aufbauend ist und Aufbau bewirkt, nicht mehr gegeben. Vielmehr herrscht dann das Chaos, das das Böse begünstigt. Das Chaos, welches das menschliche Leben dann beherrscht und das Böse befördert, entsteht, da jeder Mensch in erster Linie auf sich bezogen ist. Jeder Mensch nimmt die Welt aus seiner Perspektive wahr und nur so begreift er sie. Die Antriebe, die in ihm – zumeist auch gegensätzlich – wirken, nimmt er zwar wahr, kann sie aber oft gar nicht einordnen und wird sich somit eigentlich selbst zum Rätsel. Da der Mensch seine eigene Ordnung und auch seine Unordnung selbst nicht versteht, liegt hier eine ständige Gefahr, das Böse zu tun. 34 Man muss jedoch Guardinis Analyse des Bösen als Widerspruch des Guten vor dem Hintergrund der Forderung und der Verpflichtung verstehen. Das »du sollst« und das »du darfst nicht« sind unmittelbare Forderungen, die den Menschen ansprechen. Dabei ist in Guardinis Ethik nicht sofort einsichtig, wer eigentlich diese Forderung stellt, also ob sie dem Menschen von außen zukommt, oder aus seinem Inneren. Im ersten Fall wäre es eine unmittelbare Forderung von Gott, im zweiten Fall eine ›innere Stimme‹, die wie das moralische Gesetz bei Kant dem Menschen eingeboren ist. Da aber das Gute als das allein Existierende aufgefasst wird, so kann die Forderung gemäß Guardini nur vom Guten ausgehen. In jedem Fall ist das Handeln des Menschen durch einen Ruf bestimmt, der zum Leben und Handeln auffordert und auf den der Vgl. Guardini. Ethik. S. 77: Guardini reflektiert auch darüber, was sich grundsätzlich ändern würde, wenn Gut und Böse nicht als Widerspruch, sondern als Gegensätze existieren würden. Für ihn ist dann allerdings klar, dass dies fatale Konsequenzen für den Menschen haben würde. Der Mensch wäre dann als Person in Gefahr. In diesem Falle würde der Mensch als solcher zu einem ambivalenten Wesen, das keine festen Grundlagen kennt. Er könnte dann jederzeit das Gute oder das Böse als Grundlage seines Seins haben und all sein Handeln wäre demgemäß. Demzufolge gäbe es für den Menschen dann keinerlei Verpflichtung zum Guten und kein Verbot des Bösen. Menschliches Handeln würde in diesem Falle für Guardini beliebig und sinnlos. Guardini spricht hier gar von einer Zerstörung des personalen Ernstes, was bedeutet, dass das Person-Sein des Menschen vernichtet wird.

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Mensch antwortet, indem er handelt. Insofern begreift Guardini das Leben als einen Dialog, den der Mensch sein ganzes Leben lang führt. Hieraus ergibt sich auch die Dynamik des Handelns innerhalb der Dynamik des Lebens. Dennoch behauptet sich der Mensch selbst und ist in der Regel egozentrisch veranlagt. Er bezieht alles, was er wahrnimmt, auf sich. Er ist, wie Guardini es ausdrückt, »Mitte des Daseins« (Guardini. Ethik. S. 90) und alles und jeder andere dreht sich nur um ihn. Der Andere aber sieht sich in derselben Lage, d. h. auch er sieht sich als Mittelpunkt der Welt. Dies wird aber häufig von keiner Seite berücksichtigt. Die Egozentrik überwiegt und somit wird der Andere nicht mehr als eigenständige Person gewürdigt und seine Rechte werden übergangen. Dies führt in vielen Fällen für Guardini sogar so weit, dass der Gegenüber ›versachlicht‹ wird, ihm also sein Recht als Person und somit die Gleichwertigkeit abgesprochen wird. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 91) Jedoch heißt menschliches Zusammenleben immer mit dem oder den Anderen in Dialog treten. Ebenso wie jeder einzelne Mensch im Dialog mit Gott ist, so sollen auch die Menschen miteinander kommunizieren. Nur so gelangen Menschen zum gegenseitigen Verständnis und Respekt und zur Verantwortung füreinander. Dies aber ist schwierig und erfordert eine Öffnung des eigenen Horizontes, in dem dann auch der Andere seinen Platz hat und in dem auch die Rechtmäßigkeit seines eigenen Egoismus anerkannt wird. So problematisch bereits der Dialog zwischen zwei Menschen ist, so kompliziert sich dies um ein Vielfaches, wenn es sich um Beziehungen zwischen und zu einer Vielzahl von Personen handelt, die alle egozentrisch veranlagt sind und sich selbst als Mittelpunkt der Welt sehen. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten, die unüberschaubar werden können. Auf vernünftige Art und Weise ist diesen nicht mehr Herr zu werden, obwohl gerade der Dialog die Form sein sollte, durch die Menschen ihre Konflikte regeln. Stattdessen werden Konflikte viel zu oft durch Kampf ausgetragen (vgl. Guardini. Ethik. S. 91). Der Kampf ist eigentlich eine Handlung, bei der sich Kontrahenten gegenüberstehen, die sich gegenseitig zerstören wollen. Insofern ist er negativ einzuschätzen. Guardini jedoch versteht den Kampf auch als »Ordnung bildendes Prinzip« (Guardini. Ethik. S. 91) positiv konnotiert. Als Prinzip verstanden, muss der Kampf gemäß Guardinis Denken also zwangsläufig gut sein und etwas bewirken, das einen 202 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Aufbau fördert. So ist der Kampf im positiven Sinn als Kräfte-Messen in jeder Form zu verstehen, angefangen vom Spiel und Wettkampf bis hin zum Überlebenskampf. Trotzdem bleibt der Kampf nach wie vor auch für Guardini ambivalent, da er Zerstörung und Unterdrückung fördert, gerade dann, wenn es nicht nur um spielerisches Kräftemessen geht. Geht man wie Guardini davon aus, dass der Kampf, in welcher Form auch immer, ein Lebensprinzip darstellt, so ist bei genauer Beobachtung des konkreten menschlichen Verhaltens letztendlich das Böse nicht mehr eindeutig vom Guten trennbar. Insofern gehört böses – also kämpferisches, zerstörendes – Handeln immer zum Leben des Menschen dazu. Es ist aus dem konkreten Leben nicht wegzudenken. Jeder Mensch muss also einen Weg finden, damit richtig und sinnvoll umzugehen. Guardini selbst schlägt deshalb hier zwei Haltungen vor, mit denen das Leben erträglich wird, nämlich Humor und Geduld (vgl. Guardini. Ethik. S. 92). Diese Haltungen führen dazu, dass der Mensch das Verworrene seines eignen Seins und der Beziehung zu seinen Mitmenschen akzeptiert und auf die Klärung des Verworrenen hofft und wartet. Auch soll der Mensch »nach bestem Wissen und Gewissen« (Guardini. Ehtik. S. 92) handeln und somit das Böse in seinen Handlungen weitestgehend vermeiden. Guardinis Ausführungen zufolge gründet das Gewissen nämlich auf etwas Gültigem (vgl. Guardini. Ethik. S. 125), das ihm zu eigen ist. Das Gültige ist für ihn das Gute, das, was aufbauend wirkt. Das Gute, das dem Sein und damit dem menschlichen Handeln Guardini gemäß zugrunde liegt, birgt aber auch gleichzeitig die Verpflichtung, das Gute in den Handlungen konkret umzusetzen. Guardini sieht nun das Gewissen als Instanz im Menschen, die mit dem Guten unmittelbar verbunden ist und durch die das menschliche Handeln in die richtigen Bahnen geleitet wird. (Vgl. Guardini. Ethik. S. 97) Jedoch weiß Guardini sehr wohl, dass das Gewissen auch »etwas Lebendiges« (Guardini. Ethik. S. 122) ist und wie alles Lebendige ist es dynamischen Prozessen unterworfen. So macht jeder im Laufe seines Lebens die Erfahrung, dass sich sein Gewissen verändert und dass Entscheidungen, für die man sich zu einer bestimmten Zeit schämt, zu einem späteren Zeitpunkt durchaus neutral oder gar positiv betrachtet werden oder umgekehrt. Das Gewissen entwickelt sich im Laufe des Lebens, es ist keine feststehende Konstante, die dem Menschen von außen zukommt. Für Guardini ist auch klar, dass das Gewissen »nicht bei allen Menschen 203 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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gleich entwickelt ist.« (Guardini. Ethik. S. 127) Auch dies gehört zum Prozess des Dynamischen und zeugt gleichermaßen von der Freiheit des Menschen. Für Guardini steht fest, dass das Gewissen erziehbar ist. Ebenso wie der Mensch in der Kindheit erzogen und geprägt werden muss, so muss auch das Gewissen erzogen werden. Erst dann wird es fähig, eigeninitiativ zu werden und sich selbst weiter-zu-bilden. Die Gewissensbildung hört also beim Erwachsenen nicht auf, der dynamische Prozess bildet sich weiter fort. Das Gewissen als Instanz des Guten beurteilt die menschlichen Handlungen. Das Gewissen entscheidet letztendlich über die Handlung(en). Es »urteilt und befiehlt« (Guardini. Ethik. S. 124), d. h. das Gewissen weist an, auf welche Weise das Gute verwirklicht werden kann und soll. Aber auch das Gewissen wird »beurteilt und [es] gehorcht« (Guardini. Ethik. S. 124). Beurteilt wird es von dem Sein, das das Gute ist, und das im permanenten Austausch, also im Dialog, mit dem Gewissen steht. So wird der Mensch ständig durch das Gewissen an- und aufgerufen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Mensch deshalb immerzu richtig handelt und das Gute verwirklicht. Im Gegenteil, sowohl dem Menschen als Handelndem als auch seinem Gewissen wird von Guardini zugestanden, dass beide sich irren können. Jedoch bleibt das Gewissen gemäß Guardini der Hort des Guten, d. h. allein dank des Gewissens weiß der Mensch grundsätzlich vom Guten, und er weiß, was richtiges und gutes Handeln ist. Da das Gewissen ständig im Werden begriffen ist, kann es den Ruf des Seins immer besser verstehen und ihn ins Konkrete umsetzen. Es ist aber auch durchaus möglich, dass sich das Gewissen dem Ruf verweigert und sich absichtlich dahin bildet, dass es sich allein dem Bösen öffnet. Dies gehört auch zur menschlichen Freiheit und der Möglichkeit, den Dialog mit sich selbst fortzuführen oder sich dagegen zu entscheiden und gegen sein Gewissen zu handeln. Das Böse kann also Guardini gemäß vom Menschen durch seine eigene Entscheidung gefördert oder gehindert werden. Ähnlich wie Kant ist für Guardini das Gute das Aufbauende, das allem, einschließlich der Natur des Menschen, zugrunde liegt. Dieses Gute wird aber vom Menschen entweder noch nicht eingesehen oder absichtlich vernachlässigt. Guardini zufolge entsteht das Böse, indem das Gute vom Menschen in welcher Weise auch immer negiert wird und der Mensch den Dialog mit sich selbst verweigert. 204 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Die Schwermut und ihre Annahme Was im menschlichen Leben nun vom Bösen und dessen Personifikation bleibt, ist bei Guardini die Schwermut. Sie ist die Last, mit der der Mensch umzugehen hat, da sie sein Handeln lähmt und sein Gewissen prägt. Dabei ist Kierkegaards Begriff der Verzweiflung als Synonym zu Guardinis Begriff der Schwermut zu verstehen. Schwermut ist für Guardini ein lebenslang anhaltender Zustand, eine grundsätzliche Gestimmtheit des Menschen. Guardini nähert sich der Schwermut an, indem er sie zunächst phänomenologisch beschreibt. Der Begriff »Schwermut« wird von Guardini vom Mittelhochdeutschen »swere muot« – schweres Gemüt abgeleitet. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 24) Das Gemüt – die Stimmung des Menschen – wird belastet und durch die Belastung sogar niedergedrückt; jede Energie, die der Mensch hat, vergeht – und dies bezieht sich ebenso auf innere Triebe und Gedanken wie auf Tätigkeiten, die sich nach außen richten, wie ein Werk vollbringen oder sich einer Aufgabe stellen. Dabei scheint Guardini diese Last als etwas Äußeres zu verstehen. Sie wird dem Menschen, seinem Gemüt von außen auferlegt, kommt also nicht vom Menschen selbst und ist ihm und seinem Wesen nicht zu eigen. Das belastete Gemüt hingegen ist nicht mehr fähig, sich gegen diese Last zu wehren oder sie gar zu besiegen. Im Gegenteil: dem Gemüt selbst entspringt eine »innere Fessel« (Guardini. Schwermut. S. 24), die jeden Elan schwächt, hemmt und sogar unterdrückt. Leben aber heißt handeln, initiativ sein und vorankommen. Der Schwermütige kommt nicht mehr voran, denn die Fesseln hindern ihn. Jede Aufgabe, die sich ihm stellt und die immer wieder eine Initiative von ihm fordert, wird für ihn zu einem unüberwindlichen Berg, denn es ist gerade diese Initiative, die dem Schwermütigen fehlt. Neben der inneren Fessel empfindet der Schwermütige auch eine große »Verwundbarkeit« (Guardini. Schwermut. S. 27), weil das Leben des Schwermütigen, vor allem sein Innenleben, von einer allzu großen Reichhaltigkeit geprägt ist. Dies bedeutet, dass der Schwermütige eine Vielzahl von inneren Gegensätzen erlebt, die sich als Widersprüche in seiner Haltung der Welt gegenüber, in seinen Ansprüchen oder Maßstäben ausdrücken und den Schwermütigen zu einem hochsensiblen Menschen werden lassen. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 25) Seine stark ausgeprägte Sensibilität lässt ihn aber an der Welt, an ihrem Voranschreiten und an der Art, 205 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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wie die Lebewesen von diesem Voranschreiten zum Teil überrollt werden, leiden. Der Schwermütige leidet mit allem und an allem. Dabei fehlt ihm dann im Leiden die Widerstandskraft. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 27) Er kann sich nicht mehr gegen das Leiden auflehnen – auch fehlt ihm die Initiative. Das Leiden ergreift ihn, er ist ihm wehrlos – da initiativlos – ausgeliefert und dies umso mehr, da der Schwermütige dem gegebenen Anlass gegenüber unverhältnismäßig stark leidet. Alles wird ihm zum Schmerz, sogar die eigene Existenz und die Existenz als solche. Der Mangel an Widerstandskraft dem Leiden gegenüber führt auch zu einem »Mangel an Selbstvertrauen« (Guardini. Schwermut. S. 28). Der Schwermütige ist nicht nur in seinen Initiativen und Handlungen gehemmt, er ist auch a priori davon überzeugt, dass er mehr Misserfolge hat als jeder Andere und dass er weniger wert ist als die Anderen. Gerade der Vergleich mit Anderen lässt den Schwermütigen seinen eigenen Schmerz und sein Leiden an sich selbst umso deutlicher gewahr werden und bestätigt ihn umso mehr in seiner geringschätzigen Meinung sich selbst gegenüber. Aber der Schwermütige sucht auch gerade diese negative Bestätigung. Es sei Teil des schwermütigen Seelenbildes, so Guardini, dass der Schwermütige dem Trieb erliege, sich selbst zu quälen. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 30) Der Schwermütige will die Zerstörung herbeiführen, die Zerstörung von allem, was ist, und vor allem die Zerstörung seiner selbst. Nicht der Aufbau und das Voranschreiten durch Handlung und Initiative treibt den Schwermütigen an, sondern die »große [Selbst]Verachtung« (Guardini. Schwermut. S. 29) und der »Untergang« (Guardini. Schwermut. S. 33) – vor allem der eigene. Dabei wirkt dieses zerstörende Wollen des Schwermütigen als suggestive Kraft, denn der Hochsensible verfängt sich immer stärkter im Negativen (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 30) Hier erkennt Guardini aber auch das, was das Phänomen der Schwermut so rätselhaft macht: nämlich dass das Leben sich hier gegen sich selbst wendet. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 33) Tatsächlich bleibt die Frage offen, warum jemand, der aus einer Initiative, einer positiven und aufbauenden Handlung heraus in die Existenz getreten und von aufbauenden Handlungen umgeben ist, sich gegen diese Initiativen und somit gegen das Leben selbst richtet und statt hier mitzuwirken und aufzubauen nur in der Zerstörung Genugtuung findet.

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Wie kommt dieser lebensfeindliche Impuls ins Leben? Guardini selbst bleibt eine Antwort schuldig. Der Schwermütige sucht zudem noch die Einsamkeit. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 34) Dieser Wunsch nach Sich-Verbergen und der Stille resultiert zum einen aus seiner eigenen Verwundbarkeit. Er, der am Leben, an der aktiven, aufbauenden Handlung leidet, zieht sich in die Passivität zurück, dorthin, wo er nicht vom allgemeinen Leiden der ihn umgebenden Lebewesen betroffen wird. Hier leidet er zwar noch an der eigenen Existenz, muss aber nicht auch noch das Leiden anderer ertragen. Andererseits fürchtet er sich aber auch davor, anderen weh zu tun; ihnen Leid zuzufügen, das er dann wiederum – in doppeltem Maße – ertragen muss. Noch ein Drittes treibt den Schwermütigen in die Einsamkeit, nämlich »das Problem des Ausdrucks« (Guardini. Schwermut. S. 38). Es ist dem Schwermütigen unmöglich, sein übervolles und reiches Inneres nach außen hin und schon gar nicht in Worte auszudrücken. Worte sind abstrakte Begriffe, welche Empfindungen und Erleben in beengte Bedeutungsinhalte zwängen. Diese Diskrepanz zwischen dem reichen, gegensätzlichen Inneren und dem begrenzten Wort kann der Schwermütige nicht überwinden. Er muss sich zurückziehen, da er auch unter dieser Verstümmelung leidet. Dieser Rückzug ins Verborgene kann sich in einer tatsächlichen Abwendung von der Welt vollziehen, aber auch in einem Aufbau von Fassaden. Guardini spricht hier von einem »Dasein voll Kulissen und Masken« (Guardini. Schwermut. S. 38), also einem Leben, das ein Scheinleben ist, in dem sich »Eigentliches hinter Uneigentlichem« (Guardini. Schwermut. S. 38) verbirgt. Der Schwermütige erscheint also in der Öffentlichkeit gar nicht als Schwermütiger, sondern vielleicht als fröhlicher Mensch oder gar als Dandy, wie es z. B. Kierkegaard selbst zeitweise tat. Das Leiden an der Welt, die Sensibilität wird hinter dieser Maske versteckt. So verbirgt der Schwermütige sein Wesen hinter etwas, was wie sein Wesen erscheint, dieses aber nicht ist. Dieses Aufbauen von Fassaden sowie das Problem des Ausdrucks sind für Guardini das, was der Schwermütige erlebt. So macht letzterer die Erfahrung einer »metaphysische[n] Leere« (Guardini. Schwermut. S. 26), da er gerade selbst das Eigentliche hinter dem Uneigentlichen sucht. Dies bedeutet, dass der Schwermütige, dessen Innenleben reich und deshalb voller Gegensätze und Widersprüche ist, ein solch reiches Inneres auch in den Dingen der Welt sucht. Er 207 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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sucht eine metaphysische Erfüllung, stößt aber nur auf die begrenzte Endlichkeit der von ihm wahrgenommen Dinge. Diese Erfahrung der Leere muss zur Enttäuschung und so wiederum zum Leiden werden. Die Suche nach der metaphysischen Erfülltheit beschränkt sich für den Schwermütigen nicht allein auf konkrete Dinge. So werden gerade auch Werte für den Schwermütigen wichtig, da diese – rein als Idee betrachtet – positiv sind. Angewendet in der begrenzten Lebenswelt können sie aber zerstörend wirken (vgl. Guardini. Schwermut. S. 30 f.), und dies geschieht beim Schwermütigen in der Weise, dass er nach dem Positiven, dem Höheren des Wertes strebt, dieses Höhere aber nur mit seinem eigenen Untergang erreichen kann. Das Streben nach Höherem ist aber auch zugleich ein Drang nach Innerlichkeit und Tiefe (vgl. Guardini. Schwermut. S. 41). Indem der Schwermütige eine metaphysische Bedeutung der Welt und der Dinge sucht, geht er ihnen auf den Grund, um ihr Wesen zu erkennen. Durch dieses Ergründen sucht er nach dem Eigentlichen und dem Einheitlichen, nämlich nach dem, was das Vielfältige der Dinge und der Welt ausmacht und es vereint. Der Schwermütige sucht also nicht das, was sich allen zeigt, was leicht zu durchschauen und zu erkennen ist, sondern nach dem Verborgenen, schwer Er- und Begreifbarem, dem »Dunkel« (Guardini. Schwermut. S. 42) wie Guardini es nennt, das zu allem dazu gehört und alles vervollständigt. Insofern hat der Schwermütige für Guardini die »tiefste Beziehung zur Fülle des Daseins« (Guardini. Schwermut. S. 43) und hier liegt auch ein Wendepunkt, den Guardini setzt, nämlich die Wende von der Beschreibung des doch eher negativ gesehenen Phänomens der Schwermut hin zu einer positiven Bedeutung dieses Phänomens. Der Schwermütige hat, trotz der Lähmung des Lebens, die er erfährt, eine tiefere Einsicht ins Sein der Dinge und der Welt und somit auch ins Dasein; er weiß um den Reichtum, den das Dasein dem Menschen bietet, da er nicht voran- und deshalb unter Umständen vorüberschreitet, sondern durch sein Stehen- und Steckenbleiben in die Tiefe geht. Dieser Drang nach Tiefe drückt sich auch in der »Sehnsucht nach Liebe« (Guardini. Schwermut. S. 44) aus, nämlich nach dem platonischen »Ziel des Eros« (Guardini. Schwermut. S. 45), dem Höchsten Gut. Der Schwermütige sucht und begehrt eine tiefe, wesentliche und allumfassende Liebe, die ohne Anfang und Ende ist und die keine Bedingungen stellt. Es ist das Ewige, das Absolute, das Metaphysische, was er in der Liebe zu finden wünscht. In der Welt findet er 208 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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lediglich die begrenzte Form der Liebe zwischen den Menschen, die ihm nicht genügt, da sie endlich und deshalb vergänglich ist. An dieser Bedingtheit und Enge der Liebe aber verzweifelt er. 35 Genauso ergeht es ihm mit der Schönheit. Auch hier sucht er das Absolute, das Metaphysische, findet aber das Endliche und das Vergängliche. So sind Liebe und Schönheit für den Schwermütigen die höchsten Werte, die zu erstreben sind, denn in ihnen ist das Ideal des Absoluten enthalten und somit auch die höchste Lebenserfüllung. Die Nicht-Realisierbarkeit dieses Ideals in der Welt lässt den Schwermütigen aber an der Welt verzweifeln und so bleibt ihm nur noch der Untergang, nämlich der eigene, der Untergang seiner menschlich-irdischen Existenzform. Diese beiden Bewegungen – das Streben nach der Erfüllung einerseits und der Untergang andererseits – nennt Guardini die »Grundtriebe des Lebens« (Guardini. Schwermut. S. 46). Für den Schwermütigen sind diese Grundtriebe deshalb besonders bestimmend, weil der Schwermütige zwar nach dem Absoluten strebt, dies zwar sein höchstes Ziel ist, ihm jedoch die Unmöglichkeit bewusst ist, dieses Ziel zu erreichen. Hier tritt wieder das tiefe Leiden, das Verwundbare zutage, denn der Schwermütige leidet besonders unter dem Bewusstsein des Vergeblichen seines Strebens. Für ihn ist es keine objektive Unmöglichkeit, sondern das Bewusstsein des eigenen Versagens, das er immer wieder erlebt. Dieses persönliche Versagen aber, das für ihn der Grund für sein Scheitern ist, wird nun zugleich zum Grund für seinen Wunsch nach dem eigenen Untergang. Trotz der eher negativen Darstellung der Schwermut, sieht Guardini einen Sinn, den die Schwermut erfüllt. Für ihn ist sie »Anzeichen, dass es das Absolute gibt« (Guardini. Schwermut. S. 48). Das Streben des Schwermütigen nach dem Absoluten beweist, dass dieses tatsächlich existiert, wobei dem Menschen aber auch bewusst wird, dass er selbst oder die Welt dieses Absolute nicht ist, sondern nur das Begrenzte. Dennoch ist er fähig, das Absolute und dessen Existenz wahrzunehmen. An dieser Stelle beendet Guardini die rein philosophische Spekulation und erweitert sie durch die theologische Komponente, indem er dem Absoluten einen Namen gibt: Gott. Der Vgl. hierzu auch Céline. Voyage. S. 17, der diese Verzweiflung an der Bedingtheit und Enge der Liebe ausdrückt, indem er seinen Romanhelden Ferdinand sagen lässt: »[…] l’amour c’est l’infini mis à la portée des caniches […]« (die Liebe, das ist die Unendlichkeit auf die Größe eines Pudels beschränkt).

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Sinn der Schwermut besteht also für Guardini darin, die Nachbarschaft des Menschen zu Gott unmittelbar zu erfahren. Insofern vollzieht Guardini an dieser Stelle die Umkehrung, welche die negative Stimmung der Schwermut zu einem Wissen um die Möglichkeit einer Überschreitung der eigenen Grenzen macht. Gleichzeitig ist die Schwermut für Guardini auch ein Ruf Gottes, der an den Menschen ergeht (vgl. Guardini. Schwermut. S. 48). Das Erkennen des Absoluten, das Erkennen Gottes ist für den Menschen nur deshalb möglich, weil Gott von ihm erkannt werden will. Dies wird für Guardini allein aufgrund der Schwermut geleistet. So ist es der Ruf Gottes, der dem Schwermütigen erklingt und der ihn auffordert, Gott in sein Dasein aufzunehmen (vgl. Guardini. Schwermut. S. 48). Indem Guardini die Schwermut religiös begründet, wird deutlich, dass für ihn der Sinn der Schwermut nicht allein im Metaphysischen, sondern vor allem im religiösen Glauben liegt. 36 Auch hier tritt der Charakter des Dialogs wieder zum Vorschein. Im Gegensatz zu Kierkegaard, bei dem der Mensch »allein vor Gott« in Verantwortung werden soll (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 7), steht der Mensch bei Guardini in einem dialogischen Verhältnis »vor Gott und mit ihm« (Guardini. Schwermut. S. 53). Der Mensch ist nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit Gott, der ihn unterstützt. Wenn Guardini schlussfolgert, der Mensch sei »vor Gott stehend, fähig und bestimmt, seinen Anruf zu vernehmen und ihm zu antworten« (Guardini. Schwermut. S. 56), so verweist er hier eindeutig auf einen Dialog zwischen Gott und dem Menschen. Dieser erfolgt nicht durch einfaches Gehorchen, sondern durch aktives In-dieWelt-Treten, also durch Handeln. Obwohl Guardini der Schwermut einen positiven Sinn zuschreibt, bleibt der Schwermut das Belastende. So ist sie für Guardini »die Not der Geburt des Ewigen im Menschen« (Guardini. Schwermut. S. 48), womit Guardini auf den Schmerz verweist, die eigene Begrenztheit zu überwinden oder zu durchbrechen. Dieser Schmerz wird dann beim Menschen als Schwermut empfunden. Der Schwermütige ist sich also der Grenzerfahrung, nämlich seiner Begrenztheit und des Wissens um das Absolute, in besonderer Weis bewusst und leidet darunter, indem er es als Beunruhigung (vgl. Auch Pauly. Selbstwerdung. S. 263 vermerkt zu Recht, dass die Originalität von Guardinis Denken gegenüber Kierkegaard darin besteht, dass ersterer das Phänomen der Schwermut detaillierter beobachtet und darin einen Sinn erkennt.

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Guardini. Schwermut. S. 49) in Form von Beseligung und Bedrohung (vgl. Guardini. Schwermut. S. 50) zugleich erfährt. Beseligung wegen des Wissens um das Ewige, Bedrohung wegen des Schmerzes, welchen das Durchbrechen dieser Begrenztheit verursacht. Guardini führt hier aber nicht nur eine Analyse des Problems der Schwermut durch, sondern gibt auch konkrete Hinweise darauf, wie mit diesem Gemütszustand umgegangen werden kann. Indem er sich auf Kierkegaard bezieht, spricht er von einer »guten« und von einer »bösen« Schwermut (vgl. Guardini. Schwermut. S. 50), wobei es ihm hier um den Umgang mit der Schwermut geht. Ein »guter« Umgang mit der Schwermut besteht für Guardini darin, das Wesen der Schwermut zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Das bedeutet, dieses Streben nach dem Absoluten, Ewigen als Teil der Persönlichkeit anzunehmen und das erkannte Absolute in die Tat und ins Konkrete umzusetzen und es zu verwirklichen, da gleichzeitig das Absolute zur Verwirklichung drängt. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 50) Dies geschieht bei jedem Handeln, bei jeder Entscheidung und bei jedem Umbruch im Leben. Hierdurch antwortet der Mensch auf den Ruf und zeigt, dass er im Dialog mit Gott, dem Absoluten, ist. Das Bewusstsein des Ewigen drückt sich aber auch in der Gesinnung, also im Verhalten des Menschen aus. Im Besonderen geschieht die Umsetzung des Ewigen ins Konkrete durch ein Schaffen und Werden, also durch einen kreativen Akt. Aber auch hier zeigt sich wieder die hemmende Komponente der Schwermut, denn der Kreative, der auf seine Weise Leben gibt, fühlt dem Nicht-Schwermütigen gegenüber eine Scham. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 51) Es ist wieder das Gefühl des Ungenügens, die der Schwermütige trotz seines Schaffen-Könnens verspürt und die ihn vom vorausschreitenden Menschen unterscheidet. Diese Unwertigkeit resultiert aus der Angst vor der Fülle der Möglichkeiten, die das Ewige bietet, die der Schwermütige zu schaffen fähig ist und die er in die begrenzte Form des Endlichen bringen muss. Im Schaffen überwindet der Schwermütige die Grenze zwischen dem Endlichen und dem Absoluten und lässt etwas Neues entstehen. Wenn der Schwermütige dieses Schaffen jedoch nicht bewerkstelligt, dann kehrt sich der »gute« Umgang mit der Schwermut zum »bösen«. Der Schwermütige ist sich bewusst, dem Drang des von ihm erkannten Absoluten nach Verwirklichung nicht stattgegeben zu haben. Er hat somit das Bewusstsein an seiner Aufgabe gescheitert 211 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

zu sein, versagt zu haben (vgl. Guardini. Schwermut. S. 51), und dies nicht nur einmal, sondern immer wieder aufs Neue. Insofern erwächst aus dem »bösen« Umgang mit Schwermut Hoffnungslosigkeit und immerwährende Verzweiflung (vgl. Guardini. Schwermut. S. 52), wobei Guardini »Verzweiflung« im Sinne einer tieferen Art der Schwermut, nämlich einer ausweglosen Schwermut verwendet. Ist dies der Fall, so verweigert der Mensch den Dialog. Dieser Art Kreislauf kann sich der Schwermütige nur entziehen, wenn er die Verantwortung erkennt, die ihm selbst bei seinem Scheitern zufällt und er dann die Verantwortung für sein Scheitern übernimmt. Das Scheitern, das eine Schuld des Unterlassens ist, kann für Guardini allein in religiöser Hinsicht, nämlich durch die Reue vor Gott bewältigt und überwunden werden. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 51 f.) Nur das Bereuen, Gott nicht in sein Leben eingelassen und dort verwirklicht zu haben, verhilft dem Schwermütigen zu dem Neuanfang, der voranschreitenden Handlung, die immerzu und jederzeit von ihm gefordert wird. Dem Schwermütigen wird seine Aufgabe, das Absolute zu erkennen und zu verwirklichen, auf besondere und schmerzhafte Weise bewusst, da er darunter auf vielfältige Weise leidet. Gerade deswegen kann vor allem er Gefahr laufen, dieser Situation in seiner Wirklichkeit nicht gerecht zu werden. So ist er zum einen versucht, sich in das rein Immanente zurückzuziehen, d. h. sich nur dem Endlichen zu widmen, zum anderen, sich nur dem Transzendenten, Absoluten zu öffnen und darüber das Weltliche zu vergessen. (Vgl. Guardini. Schwermut. S. 53 ff.) Eine solche Einseitigkeit in die eine wie in die andere Richtung trägt aber der Fülle des Lebens, die er in sich selbst verspürt und die er zu erkennen weiß, in keiner Weise Rechnung. Insofern als der Schwermütige die Existenz des Absoluten, des Metaphysischen verspürt, ist er in besonderer Weise ausgezeichnet, denn ihm wird – wenn auch auf äußerst schmerzliche Weise – seine Situation als Mensch bewusst, nämlich das Streben nach Höherem, das aber vom Natürlichen begrenzt wird. Diese Situation ist nicht allein ihm vorbehalten, denn Guardini sieht den Sinn eines jeden Menschen und des menschlichen Daseins überhaupt darin, die »lebendige Grenze« (Guardini. Schwermut. S. 56) zu sein, und die Grenze zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten, zwischen dem Natürlichen und dem Metaphysischen. Die Besonderheit des Schwermütigen ist, dass er sich wohl dieses Lebens im »Grenz-

212 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

bereich« (Guardini. Schwermut. S. 49) bewusst ist, nicht aber dessen, dass er dadurch den Sinn seines Seins erfährt. So ist für Guardini die schwermütige Erfahrung eigentlich eine grundsätzlich menschliche Erfahrung. Jeder Mensch ist sich der mannigfaltigen Erfahrungsmöglichkeiten in metaphysischer Hinsicht und der Entwicklungsmöglichkeiten in existentieller Hinsicht bewusst und auch dessen, dass er sich selbst mit jeder Entscheidung, die er trifft, als konkret Existierender in eine bestimmte Richtung entwickelt. Auch weiß jeder Mensch, dass er innerhalb seiner Existenz aufgrund von Voraussetzungen und Gegebenheiten nur begrenzt fähig ist, seine Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Dies soll aber nicht zur Verzweiflung über die eigene Begrenztheit führen, sondern zu Annahme dieser Begrenztheit im Wissen darum, dass die Möglichkeiten zur Erweiterung des eigenen Horizontes und damit der eigenen Grenzen besteht. Die Erfahrung des Metaphysischen in der Gestimmtheit der Schwermut stellt insofern eine Bereicherung des Lebens dar und soll auch als solche verstanden und angenommen werden. Der beste Umgang mit der Schwermut und mit dem menschlichen Leben überhaupt muss also heißen: Lerne dich in deiner Eigenart zu akzeptieren und mache das Beste aus deinem Leben! – oder wie Guardini es in seinem später erschienenen Aufsatz Die Annahme seiner selbst formuliert hat: »Ich soll sein wollen, der ich bin; wirklich ich sein wollen, und nur ich.« (Guardini. Annahme. S. 15) Der Dialog und das Handeln des Menschen als Antwort auf einen Ruf spielen bei Guardini eine große Rolle, vor allem in der Bekämpfung des Bösen, das bei ihm das Zerstörerische und Abbauende im Gegensatz zum Guten, dem Aufbauenden, ist. Mit diesem Denken hat Guardini u. a. Hannah Arendt beeinflusst, die im Denken das Mittel gegen das Böse erkannt hat, wie wir im Folgenden sehen werden.

Der Dialog wider das Böse bei Hannah Arendt Seit dem Reichstagsbrand 1933 (vgl. Arendt. Verstehen. S. 50) interessiert sich Hannah Arendt für das Politische. Für sie bedeutet das Politische vor allem das Zwischenmenschliche. Der Reichstagsbrand und die daraufhin öffentlich beginnende Judenverfolgung, also der Verlust eines normalen zwischenmenschlichen Umgangs miteinan213 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

der, irritieren Hannah Arendt derart, dass sie von da an versucht zu verstehen, wieso Menschen sich gegenseitig Böses antun können. Dabei verändert sich bei ihr im Laufe ihres Denkens die Bedeutung des Begriffs des ›Bösen‹. Spricht sie in der Vita activa noch vom »radikal Bösen« in Anlehnung an Kant, so hat sie spätestens seit dem Bericht Eichmann in Jerusalem den Begriff der »Banalität des Bösen« populär gemacht, der so häufig missverstanden und angegriffen wurde. Hier vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in ihrem Denken hinsichtlich des ›Bösen‹, der wegweisend für das Nachdenken über das Böse überhaupt wird. a)

Das Böse und der Dialog

Das radikal Böse ist für Hannah Arendt alles, was sich dem »Bereich […] menschlicher Angelegenheiten« (Arendt. Vita. S. 31) entzieht. Es ist das, was den Menschen selbst ent-menschlicht, und das, wodurch andere Menschen ent-menschlicht werden. In der Vita activa ist das radikal Böse für sie Synonym für alle Untaten, seien es Untaten, die aus Gewalt heraus entstehen, oder Untaten, die Folgen der Nationalökonomie als Wissenschaft sind. Handeln und Untat »Handeln allein ist das ausschließliche Vorrecht des Menschen« (Arendt. Vita. S. 33 f.) – mit dieser Aussage begründet Hannah Arendt in ihrem Werk Vita activa ihre Anthropologie. Der Mensch ist das handelnde Wesen, und diese Qualifizierung als Handelnder beinhaltet mehr, als sie zunächst vermuten lässt, denn sie ist von wesentlicher Bedeutung für Arendts Ausführungen über das Böse. In erster Linie ist das Handeln das, was den Menschen von allem anderen unterscheidet, was auf der Erde existiert, obwohl er doch auch vieles damit gemeinsam hat. So liegt z. B. seine Verbundenheit mit dem Tier in dessen grundlegender Eigenschaft, dem Arbeiten. Arbeiten bedeutet für Hannah Arendt in erster Linie das Sich-amLeben-erhalten durch Ernährung, Stoffwechsel und Fortpflanzung. Insofern charakterisiert die Arbeit das Leben als solches und auch das Überleben. Auch der Mensch arbeitet in diesem Sinne. Er gehört nicht zu einer anderen Art Lebewesen, die sich von allen anderen unterscheidet, sondern er ist selbst Lebewesen in diesem Sinn. Dennoch ist seine Stellung eine andere. Das Arbeiten verbindet ihn zwar

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Die Vertreibung des Teufels

mit allen anderen Lebewesen, aber allein das Handeln macht ihn zum Menschen. Auch die Fähigkeit des Menschen zum Herstellen einer Welt von Dingen, die er sich selbst schafft, unterscheidet ihn von allen anderen auf der Welt existierenden Lebewesen. Jedoch ist er durch diese Fähigkeit mit einer Existenz verbunden, die über das irdische Sein hinausgeht. Hannah Arendt versteht das reine Herstellen als Fähigkeit eines Gottes, nämlich eines göttlichen Demiurgen (vgl. Arendt. Vita. S. 33), denn Neues zu erschaffen ist eine göttliche Eigenschaft und insofern ist der Mensch hier mit dem Göttlichen verbunden. Durch das Erschaffen-Können einer neuen Welt, die aus Gebrauchsund Kulturgegenständen besteht, kreiert der Mensch seine eigene Welt. Dies tut er, Hannah Arendt zufolge, damit etwas von ihm überlebt und im besten Fall von seiner individuellen Anwesenheit auf der Erde zeugt. Wäre ein Mensch nun der alleinige Hersteller seiner eigenen Welt aus Dingen, die er mit niemandem teilt, so könnte er selbst zum Gott seiner Welt werden. Dieser Fall kann aber nicht eintreten, da der Mensch immer mit anderen Menschen zusammenlebt und somit eine Pluralität bildet. Pluralität bedeutet, dass jeder Mensch sich mit vielen anderen Menschen die Erde und die Welt von Dingen teilt, sich aber dennoch von jedem anderen Menschen unterscheidet, weil er ein Individuum ist. Jeder Mensch ist für Hannah Arendt einzigartig und als einzigartiger nimmt jeder Mensch seinen individuellen Standpunkt in der Gesellschaft der anderen Menschen, in der Welt und der Welt gegenüber ein. Die Pluralität der Menschengemeinschaft bedingt das Handeln; sie macht es notwendig. Handeln selbst heißt für Hannah Arendt, dass der Mensch initiativ wird. Jeder Mensch hat von Geburt an die Fähigkeit, immer wieder Neues zu beginnen. Dies bezieht sich nicht nur auf äußerliches Handeln, wie z. B. das sich Bewegen. Hannah Arendt geht hier viel weiter, indem sie auch Denken uns Sprechen als Handeln versteht. Jeder Mensch muss aber auch initiativ werden, um auf den Anderen zuzugehen, um sich mit ihm auszutauschen. Und auch während eines gemeinsamen Austausches sind die Menschen immer wieder initiativ, sonst wäre der Austausch nach einer ersten Initiative – einer Kontaktaufnahme – beendet. Jeder Mensch ergreift also ständig die Initiative, er beginnt ständig Neues, auch wenn ihm das nicht oder nicht mehr bewusst ist. Da jeder Mensch als solcher gleiche Grundvoraussetzungen hat, 215 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

nämlich arbeiten, herstellen und handeln zu können, ist ein Konsens der Verständigung möglich. Die Individualität jedes Menschen und somit seine Einzigartigkeit erfordert aber eine explizitere Auseinandersetzung mit dem Anderen und mit den Anderen, um das zu verstehen, was der andere meint, und um sich mit dem anderen austauschen zu können. Handeln beinhaltet also mehr als bloßes Tun. Es zeigt sich nicht nur in äußerlichen Gesten, sondern auch im Sprechen und im Denken. Sprechen an sich ist für Hannah Arendt eine Handlung, und somit ist jeder Satz, der begonnen wird, bereits eine Initiative – ein Neubeginn. Das Miteinander-Sprechen von zwei oder mehreren Personen ist ein ständiges Neu-Beginnen, das sich als Handlung und Reaktion ausweist. Dieselbe Art von Handlung und Reaktion findet auch im innerlichen Bereich statt – nämlich im Denken. Auch das Denken wird von Hannah Arendt als Sprechen verstanden, denn hier ›spricht‹ das Ich mit sich selbst. (Vgl. Arendt. Böse. S. 81) Jeder Mensch befindet sich also nicht nur äußerlich innerhalb einer Pluralität, sondern er selbst ist bereits im Plural. Das Verhalten und das Verhältnis des Einzelnen zu den anderen und zu sich selbst findet in der Kommunikation statt, die niemals aufhört. Allein die Kommunikation mit sich selbst und mit den anderen macht den Menschen zum Menschen. Mensch-Sein bedeutet also für Hannah Arendt miteinander kommunizieren können und zwar auf die Weise, dass sich Individuen in ihrer Einzigartigkeit anderen Individuen verständlich machen (können). Jedoch birgt die Definition von Handeln als Neuanfang in der Gemeinschaft zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist jedes Handeln ein Neuanfang, aber ein Ende ist nicht absehbar. Eine Handlung, die begonnen wird, wird nicht abgeschlossen, sondern sie hat Folgen. Da auf jede Handlung eine Antwort erfolgt, wird jede Handlung weitergetragen. Dies kann zu guten Taten werden oder schwerwiegende Konsequenzen mit sich führen. Ein gesprochenes Wort kann große Emotionen auslösen oder keinen Eindruck hinterlassen. Wie eine Handlung sich entwickelt, ist nicht absehbar, ein Ende gibt es nicht. Zum anderen geschehen Handlungen in der Gemeinschaft, d. h. dass jeder immerzu handelt, sei es als Initialhandlung oder als Reaktion. So entsteht das »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Arendt. Vita. S. 226), in das jeder, der handelt, seinen Faden einschlägt. Kein Mensch lebt für sich allein; jeder hat ein persönliches 216 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

und soziales Umfeld, aus dem er hervorgeht und das er sich selbst auch wieder schafft. Gerade die Pluralität macht es aber auch unmöglich, begonnene Handlungen zu beenden oder deren Folgen abzusehen. In einer Gemeinschaft von einzigartigen Individuen ist jede Reaktion möglich; nichts kann vorausgesehen werden. Immerhin sieht Hannah Arendt eine Möglichkeit, Handlungen in gewisser Weise abzuschließen, wenn auch nicht endgültig und insgesamt. Eine Handlung, die zu Kränkungen oder Missverständnissen geführt hat, kann durch Bereuen einerseits und durch Verzeihen andererseits abgeschlossen werden. Bereuen muss derjenige, der gekränkt hat. Ihm muss klar sein, welche Handlung er begangen hat, die bei dem anderen zur Kränkung oder zum Missverständnis geführt hat. Diese Einsicht ist Voraussetzung dafür, dass der Mensch bereuen kann. Er denkt über sein Verhalten nach und kommt zu einem ethischen/moralischen Urteil. Auf dieses reagiert er wiederum. Wenn das Urteil so ausfällt, dass er sich seiner Tat schämen muss, so kann er bereuen. Dieses Bereuen kann von der anderen, gekränkten, Seite akzeptiert werden. In diesem Fall verzeiht der eine dem anderen seine Tat und es kommt zu einem Abschluss. Wichtig ist hierbei, dass nicht die Handlung als solche verziehen und damit abgeschlossen werden kann. Diese bleibt nach wie vor bestehen und kann auch in andere Richtungen weitere Kreise ziehen. Verziehen werden kann nur dem, der bereut. Insofern kommt lediglich ein bestimmtes Sich-Verhalten zum Abschluss, damit zwischen zwei Menschen neue Initiativen entstehen können. Erst das Verzeihen ermöglicht einen Neuanfang in menschlichen Angelegenheiten. Nun gibt es aber Handlungen, die nicht verziehen werden können. In diesen Fällen ist auch eine Strafe eigentlich nicht mehr möglich, obwohl sie die einzige Alternative ist, die Hannah Arendt neben dem Verzeihen als Möglichkeit zur Beendigung einer Handlung sieht (vgl. Arendt. Vita. S. 307). Solche unverzeihlichen Handlungen bezeichnet Hannah Arendt in Anlehnung an Kant als »das radikal Böse« (Arendt. Vita. S. 307). Dabei handelt es sich hier eigentlich auch nicht um Handlungen, denn für Hannah Arendt gilt, dass Handlungen zwischen Menschen stattfinden und deshalb auch immer wieder verziehen werden können. Eine unverzeihliche Handlung geht über das Zwischenmenschliche hinaus, obwohl es Menschen betrifft. Hannah Arendt spricht hier von Völkermorden, insbesondere von der systematischen Ermordung der Juden im 2. Weltkrieg. Das radikal Böse, von dem Hannah Arendt spricht, ist von Kants Begriff insofern un217 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

terschieden, als es für sie nicht nur eine Handlung bezeichnet, die wider besseres Wissen geschieht, sondern absichtlich Schaden zufügt, der im zwischenmenschlichen Bereich nicht mehr gut zu machen ist. Das, was nicht verziehen werden kann, ist nämlich für Hannah Arendt hier das Unmenschliche, die »Untat« (Arendt. Vita. S. 308). Unmenschlich kann eine Tat aber eigentlich nicht sein, denn eine Tat wird immer von Menschen begangen. Dennoch gibt es Untaten. In diesem Fall entscheidet sich der Mensch aber nicht, absichtlich wider sein besseres Wissen zu handeln, wie dies für Kants Begriff des radikal Bösen gilt. Vielmehr begeht er eine Tat, die sich außerhalb der menschlichen Angelegenheiten befindet. Die Un-tat wird zwar von Menschen begangen, diese wenden sich aber von der menschlichen Gemeinschaft ab oder sie verzichten absichtlich auf ihre eigene Menschlichkeit und somit ihre Individualität: »[…] das radikal Böse [hat] mit Recht und Unrecht nichts mehr zu tun […], [es taucht] nicht mehr zwischen Menschen [auf] […], [es ist] überhaupt mit anthropologischen Kategorien – und alle ›moralischen‹ Kategorien sind anthropologische Kategorien – nicht mehr zu fassen […].« (Arendt. Denktagebuch I. S. 116, Juli 1951)

Die Un-tat befindet sich nicht nur außerhalb der menschlichen Angelegenheiten, sie zerstört das Zwischenmenschliche. Zum einen wird jeder Mensch, Täter oder Opfer, durch die Untat entmenschlicht und somit zum Nicht-Menschen erniedrigt. Gemeinsames Handeln erlischt, wenn Menschen das Menschliche, nämlich das gemeinsame Handeln in jeder Form, freiwillig ablegen oder wenn es ihnen von Anderen abgesprochen wird. Nicht-Menschen oder Un-Menschen handeln nicht, sie verhalten sich lediglich zueinander, so wie jedes andere Lebewesen. Zum anderen wird durch die Un-tat keinerlei Beziehung zwischen Menschen aufgebaut, sie wird geradezu zerstört. Jede Untat richtet sich gerade gegen das Zwischenmenschliche. Insofern vernichtet sie jede Beziehung, die Menschen miteinander haben können. Statistik und Durchschnitt Nicht nur die Untat macht den Menschen zu einem Sich-Verhaltenden. Dieses Phänomen des sich freiwillig seines Menschseins Entledigens ist für Hannah Arendt auch ein historischer Vorgang. Menschliches Leben ist die Auseinandersetzung mit anderen und die Anerkennung von deren Individualität und Einzigartigkeit. 218 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

Die Moderne hat die Wissenschaft der Nationalökonomie hervorgebracht. Historisch gesehen wurde diese Wissenschaft notwendig, da, gemäß Hannah Arendt, sich Inhalte bestimmter Bereiche verschoben haben, während die Tradition die gleiche geblieben ist. So geht sie in ihren Ausführungen zurück auf die griechische Polis, den Ursprung der politischen Tradition, die bis heute erhalten geblieben ist. So existiert in der Staatsform der Polis eine genaue Trennung zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum, die unabdingbar ist, um Rolle und Ort der Person genau bestimmen zu können. Das Private ist der Raum, in dem der Mensch zurückgezogen ist. Es ist die Sphäre der Intimität, der Bereich, in dem der Mensch geschützt und beschützt ist. Der private Raum hat auch die Funktion, diese Intimität zu gewährleisten. (Vgl. Arendt. Vita. S. 48–49) Im Beispiel der Polis ist der private Raum gleichzusetzen mit dem Haus, in dem die Hausgemeinschaft, bestehend aus Familienangehörigen und Sklaven, vom Familienoberhaupt, dem Familienvater, geleitet und dominiert wird. Die private Sphäre ist gekennzeichnet von der Notwendigkeit und deshalb von der Tätigkeit der Arbeit. Dies bedeutet, dass alles, was unbedingt zum Leben im Sinne von Über-leben benötigt wird, im privaten Bereich angesiedelt ist, nämlich sowohl die Ernährung des Einzelnen und der Familiengemeinschaft als auch der wirtschaftliche Bereich, das Haushalten im Sinne von Organisation und – wie wir heute sagen würden – die Finanzverwaltung. Zum anderen betrifft das Notwendige das Überleben der Gattung. Dies ist die Rolle der Frau, die Kinder gebiert und sie erzieht. Der weibliche Teil der Bevölkerung der Polis gehört ausschließlich dem privaten Raum an. Im privaten Bereich gibt es eine klare Rollenverteilung: Der Familienvater steht der Hausgemeinschaft vor, er herrscht über sie. Die Familiengemeinschaft ist ein Zusammenleben von Ungleichen. Da auch Sklaven zu dieser Gemeinschaft zählen, ist innerhalb der Hausgemeinschaft eine hierarchische Ordnung vorzufinden, in der jeder seine bestimmte Rolle hat und sie auch einnimmt. Dem privaten Raum ist der öffentliche Raum entgegengesetzt. Der öffentliche Raum hat bei Hannah Arendt zwei Bedeutungen. Zum einen versteht sie darunter die Allgemeinheit, d. h. eine große Anzahl von Menschen, die einander beachten und Beachtung finden. Die Person, die sich im öffentlichen Raum befindet, präsentiert sich diesen anderen Menschen. Sie tritt in Erscheinung und wird somit für 219 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

jeden sichtbar und hörbar. Öffentlich-Sein heißt auch Sich-unter-dieMenschen-Begeben. Dabei ist nur das oder derjenige wirklich, der sich der größtmöglichen Öffentlichkeit aussetzt. Je mehr Menschen von etwas oder von einer Person erfahren, umso bewusster ist die Wahrnehmung davon und umso mehr wird die in Erscheinung-tretende Person auch als wirklich seiend erkannt. Zum anderen bedeutet der öffentliche Raum auch die Welt, nämlich die Welt der vom Menschen hergestellten Dinge. Diese stehen allen Menschen gemeinsam zur Verfügung und schaffen somit eine Verbindung zwischen den Menschen, die sie gemeinsam nutzen. Im Beispiel der Polis ist der öffentliche Raum auch das Reich der Freiheit. Voraussetzung hierfür ist auch die Freiheit im Sinne einer Unabhängigkeit von jeglicher Notwendigkeit. Der öffentliche Raum der Polis ist dementsprechend lediglich den Männern vorbehalten, deren Existenz durch ihren privaten Raum gesichert ist. Einen privaten Raum zu haben, bedeutet Eigentum zu besitzen, nämlich ein Haus und ein Grundstück, was die Voraussetzung für die Freiheit ist. Gleichzeitig muss dieses Eigentum auch so gesichert sein, dass der Eigentümer sich keine Sorgen um die finanzielle Situation machen muss. Der Besitz von Eigentum in Form eines Hauses oder eines abgeschlossenen Grundstücks garantiert gerade deshalb die Freiheit, weil der Besitzer einen Ort hat. Im Konkreten bedeutet dieser Ort das Grundstück, das durch Mauern abgeschlossen ist und somit Grenzen aufweist. Im übertragenen Sinne heißt dies, dass sich der Besitzer verorten kann, dass er seinen Platz hat. Er hat seinen bestimmten Ort, seinen Platz im Leben gefunden; er hat seinen Platz eingenommen. Nur weil er den bestimmten Ort hat, an dem er seine bestimmte Rolle einnehmen kann, ist er frei. Freiheit bezeichnet für Hannah Arendt keine absolute Freiheit von allen Zwängen. Vielmehr ist der Mensch nur dann frei, wenn er seine Rolle kennt und seinen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann. Er hat dann die Freiheit der Wahl, wie er diese Rolle ausfüllen und seinen Platz verwenden will. Dem freien Mann stehen drei Lebensweisen – bioi, wie Hannah Arendt sie in Anlehnung an Aristoteles nennt – zur Wahl, die er im öffentlichen Raum erfüllen kann. So ist eine Lebensweise »das Leben, das im Genuss und Verzehr des körperlich Schönen dahingeht« (Arendt. Vita. S. 23). Die zweite »das Leben, das innerhalb der Polis schöne Taten erzeugt« (Arendt. Vita. S. 23) – der bios politikos. 220 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Schließlich ist die dritte Lebensweise diejenige des Philosophen, »der durch Erforschen und Schauen dessen, was nie vergeht, sich im Bereich immerwährender Schönheit aufhält« (Arendt. Vita. S. 23) – der bios theoretikos. Allein schon an der griechischen Bezeichnung ist erkennbar, dass die zweite Lebensweise – der bios politikos – der Bereich des im eigentlichen Sinne Politischen ist. Da diese Lebensweise sich in Taten, also im Handeln äußert, ist für Hannah Arendt das Handeln das eigentlich Politische. Das Politische findet demnach nur in der Freiheit von Menschen statt, die ihre Rolle an ihrem Platz einnehmen und im übertragenen Sinne bedeutet dies, dass nur derjenige frei ist, der seinen eigenen Standpunkt hat und für diesen eintritt. Das Politische gehört in den öffentlichen Raum, der sich auch durch die Gleichheit auszeichnet. Alle freien Männer, die sich im öffentlichen Raum bewegen und eine freie Lebensweise wählen, sind gleich in dem Sinne von gleich-gesinnt. Sie erfüllen dieselben Voraussetzungen und haben nun dasselbe Ziel: nämlich sich in und vor der Öffentlichkeit besonders auszuzeichnen. Der öffentliche Raum ist, Hannah Arendt gemäß, der Raum der Besten. Wichtig ist auch hier der Aspekt der Pluralität, denn das Sich-Auszeichnen geschieht in Konkurrenz mit vielen, von denen keiner dem anderen gleicht. Es findet vor den Augen vieler statt, die alle ihre eigene individuelle Rolle und ihren eigenen Platz haben. Im übertragenen Sinn kann man hier auch sagen, dass jeder freie Mann seinen eigenen Standpunkt hat, von dem aus er sich selbst und den anderen beurteilt. Freiheit bedeutet dann zwar Gleichgesinnt-, aber dennoch Individuell-Sein. Da Handeln und Sprechen, das im ursprünglichen Sinne als Handeln verstanden wird, für Hannah Arendt zusammengehören, sind diese die zwei Formen der politischen Tätigkeit. (Vgl. Arendt. Vita. S. 35 f.) Das Politische besteht also in zweierlei: Zum einen aus dem Bereich des Öffentlichen, nämlich dem Unter-Menschen-Sein; es besteht aus Personen, die gleiche Voraussetzungen erfüllen, gleiche Ziele verfolgen und somit gleichgesinnt sind, ohne deshalb ihre eigene Individualität einzubüßen; Personen, die eine Rolle und einen Platz und somit ihren eigenen Standpunkt haben. Zum anderen besteht es aus dem Miteinander-Sprechen und gemeinsam Handeln der Personen. 37 37 Vgl. hierzu auch: Harms. Arendt und Jonas. S. 332: »Das Handeln in der Pluralität ist die Grundlage der Politik, nicht also eine so oder so schicksalsmäßig vorgegebene politische ›Ordnung‹«.

221 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

In der Moderne sind nun gemäß Hannah Arendt der Bereich der Familie und des Haushaltens, in dem die Notwendigkeit des Arbeitens vorherrscht, und der Bereich der Freiheit, in dem im eigentlichen Sinne gehandelt wird, im traditionellen Sinne geblieben. Beide Bereiche werden dem öffentlichen oder dem privaten Bereich zugeordnet. Doch das, was ursprünglich dem privaten Bereich zugeordnet war, nämlich die Familie und das Haushalten, wächst in der Moderne in den öffentlichen Bereich, und umgekehrt findet nun das Handeln nur noch im Privaten und nicht mehr im Öffentlichen statt. Es entsteht ein neuer Bereich, der dies alles beinhaltet, nämlich der gesellschaftliche Bereich. Die Gesellschaft, die sich in der Öffentlichkeit entwickelt, wird in der Moderne als Familienkollektiv gesehen, das ein gemeinsames Haushalten in der Öffentlichkeit notwendig macht. Um die beste Methode des gemeinsamen Haushaltens zu erforschen, hat sich nun auch eine neue Wissenschaft entwickelt: die Nationalökonomie. Eine der wichtigsten Methoden dieser Wissenschaft ist die Statistik (vgl. Arendt. Vita. S. 53). Mit dieser Methode sollen große Zahlen zusammengefasst werden, um diese verständlich und begreifbar zu machen. Durch die statistische Berechnung ergibt sich ein Durchschnitt, der die großen Zahlen repräsentiert. Dadurch erscheinen sie nicht mehr so unübersichtlich, sondern sie reduzieren sich auf einen begreifbaren Wert. Durchschnittsberechnungen speisen sich also aus einzelnen Werten, die, jeder für sich genommen, individuell und einzigartig sind. In der Gesamtheit ergibt sich dann für alle diese individuellen Werte ein Mittelwert, der stellvertretend für alle Werte steht und sogar einzelne Werte repräsentieren kann. Paradoxerweise wird aber gerade dann dieser abstrakt-formale Durchschnittswert als das Normale betrachtet, an dem sich jeder Einzelwert zu orientieren hat. Das führt dazu, dass alles, was von diesem Durchschnitt abweicht, dem Normalen nicht mehr entspricht. Für Hannah Arendt ergibt sich somit, dass das Individuelle zum A-normalen wird. Insofern fallen auch natürliche menschliche Verhaltensweisen oder Charaktereigenschaften aus der berechneten Normalität: kein Individuum entspricht mehr der durchschnittlichen Norm. Dies verhält sich ebenso hinsichtlich jedes Ereignisses. Ein Ereignis ist gerade dadurch bestimmt, dass es einzigartig ist und dass es somit aus dem Alltäglichen – dem Durchschnittlichen – hervorsticht. Das Ereignis, das im Alltäglichen passiert oder das historische Ge222 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

schehen kennzeichnet, konstituiert erst geschichtliche Verläufe und macht somit die Erinnerung an etwas Außergewöhnliches überhaupt erst möglich. Die Norm, der Durchschnitt oder das Alltägliche vergehen im grauen Einerlei. Das Außergewöhnliche, das menschliches Leben und Handeln und Leben überhaupt erst ausmacht, wird durch eine Anwendung des Durchschnittswertes einerseits verharmlost und verflacht. Andererseits zeigt sich hierin auch der Wunsch, das Außergewöhnliche berechnen zu können und gleichzeitig berechenbar zu machen und damit dessen mögliche Gefahr zu bannen. Letztendlich kommt hier die Angst vor dem Leben zum Tragen und ein heimlicher Wunsch, das unberechenbare Leben ausrotten zu wollen – bewusst oder unbewusst. Statistiken eliminieren das Lebendige und das Menschliche. Sie sind nur die Illusion der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit und somit ein Trugschluss. Trotz dieses Wissens werden viele Bereiche des Lebens und somit das Leben selbst unter Statistiken gezwungen. Macht und Gewalt Spricht man von Gewalt, so ist dieser Begriff häufig auch eng mit dem Begriff der Macht verbunden. Hannah Arendt bemerkt sogar, dass diese beiden Begriffe nahezu synonym verwendet werden. (Vgl. Arendt. Vita. S. 281) Im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch ist für sie jedoch der Begriff ›Macht‹ vom Begriff ›Gewalt‹ deutlich zu unterscheiden. Im ursprünglichen Sinne und in dem Sinn, den Hannah Arendt verwendet, bedeutet Macht eine Kraft, die zwischen Menschen existiert, die miteinander handeln. Macht gehört zu jedem Handeln, sie ist es, die das Handeln überhaupt erst ausmacht. Die Macht kann sich in alle Richtungen auswirken, da Menschen Individuen sind und somit unvorhersehbar und unberechenbar. Dementsprechend sind auch die Folgen des menschlichen Handelns als Teil von Macht nicht absehbar. Macht, die sich in einer Gemeinschaft entwickelt, ist also nicht nur positiv, auch wenn sie innerhalb der betreffenden Gemeinschaft so wahrgenommen werden kann. Von außen gesehen kann diese Macht innerhalb der Gemeinschaft aber durchaus auch negativ oder neutral wirken. So halten vor allem links- oder rechtsradikale Gemeinschaften, peer-groups in der Schule und an Arbeitsstätten ihre Macht für förderlich und positiv, während sie in ihrer Macht als Gruppe für andere, vor allem für Außenstehende, schädlich ist. 223 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Hannah Arendt hingegen sieht Macht an sich lediglich als eine Wirkweise, die nicht spezifisch auf eine Qualität wie zum Beispiel gut oder böse festgelegt ist. Handeln wiederum findet zwischen Menschen statt, die etwas Gemeinsames tun oder miteinander sprechen. Allein das gemeinsame Wirken, das im Handeln stattfindet, ist für Hannah Arendt das wahre Politische. Politik ist dann Gemeinsamkeit, die unmittelbar ist und die etwas bewirkt oder bewirken kann. Im Gegensatz zu Macht und Handeln ist Gewalt keine gemeinschaftliche Aktion und birgt auch keine Gemeinsamkeit in sich. Sie kann zwar zwischen mehreren Menschen entstehen, aber sie ist keinesfalls der Ausdruck eines Miteinanders. Wer sich in Gewaltstrukturen befindet, wer Gewalt ausübt oder erleiden muss, der erlebt das Gegeneinander. Gemäß Hannah Arendt ermöglicht Gewalt zwar eine Form von Herrschaft eines oder mehrerer Menschen über andere. Hier ist aber keine Gleichberechtigung mehr vorhanden, denn Gewalt basiert auf Ungleichheit und einer Unfähigkeit zum Dialog. Insofern ist Gewalt für Hannah Arendt kein Handeln und somit auch nicht politisch. Gemäß Hannah Arendt ist Gewalt prä-politisch. Hannah Arendt sieht sogar eine Parallele zwischen der Gewalt und dem radikal Bösen. Hinsichtlich des radikal Bösen, notiert sie in ihrem Denktagebuch: »Das radikal Böse ist Jegliches, was unabhängig von Menschen und den zwischen ihnen bestehenden Relationen gewollt wird.« (Arendt. Denktagebuch I. S. 341. April 1953)

Das radikal Böse liegt außerhalb des Menschlichen und hat nichts mit dem Menschlichen zu tun hat. Dies gilt auch für die Gewalt, obwohl sie von Menschen ausgeübt wird, denn sie setzt sich über das eigentlich Menschliche hinweg. Insofern kann Gewalt auch als Antrieb für die Untat bezeichnet werden und ist dementsprechend dem radikal Bösen zuzuordnen. Insofern ist nicht die Macht oder der Missbrauch von Macht das, was zum radikal Bösen führt, denn Macht entsteht immer nur in der Gemeinsamkeit zwischen Menschen. Vielmehr erzeugt die Gewalt das Böse, denn sie kann von einem Einzelnen ausgeübt werden, der sich über alles Menschliche hinwegsetzt.

224 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

b)

Das Gewissen

Nach dem Eichmann-Prozess, den Hannah Arendt als Berichterstatterin beobachtet, ändert sie ihre Einstellung hinsichtlich des Bösen. Das radikal Böse ist seit ihrem Bericht Eichmann in Jerusalem von 1963 nicht mehr das schlechthin Böse, das keine Steigerung mehr erfahren kann. Es wird in dieser Bedeutung von der ›Banalität des Bösen‹ ersetzt. Die Ursachen für dieses schlimmstmögliche Böse stellt sie allerdings erst in ihrer Vorlesung Über das Böse von 1965/66 in aller Deutlichkeit heraus. Der Ursprung des Bösen Der Ausgangspunkt für Hannah Arendts Überlegungen Über das Böse ist Winston Churchills Feststellung: »›Scarcely anything, material or established, which I was brought up to believe was permanent and vital, has lasted. Everything I was sure, or was taught to be sure, was impossible, has happened‹« (Arendt. Böse. S. 10).

Mit den Worten Churchills verweist Hannah Arendt hier auf den generellen permanenten Wechsel, dem alles unterliegt, sei es lebendig, als Materie anwesend, ideell oder aber institutionell geordnet. Die Annahme, irgendetwas sei beständig und nicht diesem Wechsel unterworfen, ist demnach von vorneherein falsch. Gerade auf das Ideelle bezogen, nämlich auf Werte, Moral oder religiöse Inhalte, scheint es dennoch so, als ob diese allgemeine Gültigkeit besäßen und deshalb immer und überall in gleichem Maße von Dauer wären. Hier einen Wandel wahrzunehmen oder auch nur zuzugeben, widerspricht der allgemeinen Vorstellung. Jedoch muss Churchill feststellen, dass einfach alles möglich ist und dementsprechend auch alles passieren kann. Die festgefügten Regeln, nach denen der Mensch zu leben glaubt, können jederzeit von ihm auch wieder gebrochen werden. Nichts, was den Menschen betrifft, ist von Dauer; keine Vorschrift ist wirklich unbegrenzt gültig. Dies gilt auch und gerade für Werte und Moral, die doch eigentlich als ideelle Ordnungen unantastbar zu sein scheinen. Ein Nachdenken über das Böse betrifft aber gerade diese Werte, von denen doch angenommen wird, sie seien allgemein gültig und unanfechtbar. Weil diese Annahme aber ein Trugschluss ist, liegt hier die eigentliche Wurzel allen Übels. Nicht zuletzt hat Kant zu dieser

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Überzeugung beigetragen, wenn er am Ende der Kritik der praktischen Vernunft darlegt, wie schon oben zitiert: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.« (AK V, S. 161)

Kant zufolge weiß jeder Mensch selbst, was moralisch ist und was nicht, was Recht und Unrecht ist und kann somit eindeutig gut von böse unterscheiden. Dieses Wissen bezeichnet Kant als das »moralische Gesetz« (AK V, S. 161), das allgemeingültig bei jedem Menschen auf die gleiche Weise zu finden ist. Für Kant steht fest, dass dieses moralische Gesetz dem Menschen eingeboren ist. Dieses Gesetz sei ein natürliches Wissen darum, was Recht und Unrecht ist. Demzufolge wäre die Rechtsprechung staatlicher, politischer oder gar religiöser Institutionen vom Menschen konstruiert – auf der Grundlage des »natürlichen Empfindens«, das aus dem moralischen Gesetz erwächst, aber in jeweiliger historischer Ausprägung. Die absichtliche Zuwiderhandlung gegen das moralische Gesetz wird von Kant als das radikal Böse charakterisiert. Dass dem nicht so ist, hat Churchill klar erkannt und es wurde spätestens seit den Gräueltaten des 20. Jahrhunderts definitiv in Frage gestellt. Alles ist möglich, weil der Mensch es kann. Was für den Menschen im Rahmen der ihm gegebenen Möglichkeiten machbar ist, kann er bewerkstelligen. Weil er es kann, wird er dies auch versuchen, um die Grenzen, die das moralische Gesetz zieht, zu überschreiten. Und die Geschichte des Menschen zeigt immer wieder, dass es ihm möglich ist, seine Grenzen zu überwinden. Dies wird nicht enden, bis er an seine Grenzen stößt, die körperlich oder geistig unüberwindbar sein werden. Gewissen und die Gesellschaft In ihrer später erschienenen Vorlesung Über das Böse verwendet Hannah Arendt weiterhin den Begriff des radikal Bösen. Hier begründet sie sogar das Phänomen des radikal Bösen und sieht die Ursache dafür darin, dass der Mensch verzweifelt ist (vgl. Arendt. Böse. S. 44). Verzweiflung ist hier auch im Sinne Kierkegaards zu verstehen. Insofern drückt die Verzweiflung ein Fehlen, nämlich einen Mangel, aus. Der Mensch ist verzweifelt, weil ihm etwas fehlt. Es ist jedoch 226 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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nicht klar definiert, was genau den Menschen fehlt und da Hannah Arendt explizit jede Verbindung zur Transzendenz ablehnt – nicht unbedingt aus einem Unglauben heraus, wohl aber, da sie dazu nichts Genaues aussagen kann – muss sich das Fehlen bei ihr auf etwas beziehen, was der Mensch innerhalb der konkreten Erfahrungswelt nicht hat, wohl aber haben könnte. Hier ist Vieles zu finden, denn kaum ein Mensch ist wirklich mit sich selbst, seine Aussehen, seiner Herkunft oder seinem Leben zufrieden. Diese generelle Unzufriedenheit ist nun die Grundlage für die Verzweiflung, von der Hannah Arendt spricht und aus der letztendlich der Neid resultiert (vgl. Arendt. Böse. S. 44). Weil der andere nicht das Manko hat, das man selbst hat, oder weil der andere das hat, was einem selbst auf der Welt (zum Glücklichsein) fehlt, neidet der Mensch das dem Anderen. Hieraus zieht der Verzweifelte die Berechtigung, dem anderen zu schaden, und dies ist die Grundlage für die Un-Tat. In ihrem Denktagebuch stellt Hannah Arendt im Februar 1966 mehrere Gründe für das Böse dar. Zum einen finden wir hier die Hybris (vgl. Arendt. Denktagebuch II. S. 653). Als Beispiel hierfür nennt sie den gefallenen Engel. Derjenige, der sich über das (absolut) Gute erheben will, ist dem Untergang geweiht, denn das (absolut) Gute kann nicht mehr übertroffen werden. Zum anderen sieht sie die Perversion eines Guten zum Bösen. (Vgl. Arendt. Denktagebuch II. S. 653) Das Gute an sich braucht keine Verbesserung oder Veränderung mehr. Deshalb kann falsch verstandenes Gutes und übertriebenes Gutes schnell zu etwas Schlechtem werden. In diesem Fall ist es nicht mehr gut. Neid (vgl. Arendt. Denktagebuch II. S. 653) ist ebenfalls dem Bösen zuzurechnen, denn Neid oder Missgunst führen dazu, dass man dem Anderen nicht mehr wohlwollend begegnet, sondern auf dessen Versagen hofft oder es gar veranlasst. Missraten (vgl. Arendt. Denktagebuch II. S. 653), jemanden absichtlich falsch beraten und damit beeinflussen, zählt auch zum Bösen. Hinsichtlich dieses Gedankens bezieht sich Hannah Arendt allerdings auf Shakespeares Richard III., also eine literarische Vorlage. Aber auch Literatur stellt menschliches Leben dar, indem sie dessen bewusst gestaltetes Abbild ist, und somit dient auch die literarische Vorlage als Beispiel für menschliches Verhalten. Auch Kants angeblicher »schlechter Wille« (Arendt. Denktagebuch II. S. 653 f.) wird zitiert, obwohl es diesen Begriff bei Kant nicht gibt. Anscheinend rekurriert Hannah Arendt hier auf den Egoismus, 227 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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der absichtlich mit dem kategorischen Imperativ bricht. Den Abschluss bildet »Nietzsches Ressentiment« (Arendt. Denktagebuch II. S. 654), das mit dem Neid vergleichbar ist. Das Böse entsteht für Hannah Arendt entweder aus einem Unwillen zum Guten oder aus einer Übertreibung des Guten. In beiden Fällen wird das Gute nicht beachtet oder nicht als allgemeiner Wert wahrgenommen. Da bei all diesen Ausführungen jeweils ein Grund vorherrscht, der das Böse im Menschen nährt und der genau bestimmbar ist, spricht Arendt bei diesen Fällen auch vom radikalen Bösen im Wortsinn. Es gibt eine Wurzel des Bösen, die beim Menschen u finden ist und die ganz klar erkennbar ist. In der Vorlesung ist das radikal Böse aber für Hannah Arendt nicht mehr das größtmögliche Böse. Letzteres sieht sie inzwischen in den Verbrechen der Nazi-Diktatur. Diese Verbrechen sind das, was nie hätte geschehen dürfen. 38 Es sind Verbrechen, die Menschen gegen ihresgleichen verübt haben, die jeglichen moralischen Empfindens entbehren. Von außen betrachtet lassen diese Verbrechen den Betrachter sprachlos, denn das Entsetzen darüber ist so groß, dass die Verbrechen nicht weiter kommentiert werden können und es jedem im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlägt. Sprachlosigkeit in jeder Form ist für Hannah Arendt das wirkliche Böse. Das Nicht-Sprechen-Können aber ist auch ein Nicht-HandelnKönnen und somit befinden sich diese Verbrechen außerhalb der menschlichen Angelegenheiten; sie sind gemäß dem, wie es Hannah Arendt noch in der Vita activa definiert, radikal böse, nämlich nicht mehr menschlich. Und dennoch sind oder waren es Menschen, die anderen Menschen dies angetan haben. Aber eben hierin liegt der Unterschied – sie haben es getan und nicht gehandelt. Tat und Handeln werden hier unterschieden. Indem die Opfer zu Un-Menschen reduziert wurden, mussten die Täter im Umgang mit ihnen nicht mehr handeln in dem Sinne, der für Hannah Arendt von Bedeutung ist. Die Opfer sind aus dem Bereich der Pluralität ausgeschlossen und jede Initiative von ihrer Seite wird nicht mehr als Handlung wahrgenommen.

38 Vgl. Arendt. Verstehen. S. 61: »Dies hätte nie geschehen dürfen.« Sowie Arendt. Denktagebuch I. S. 7: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen […] das, wofür man die Verantwortung nicht übernehmen kann […].«

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Aber auch die Täter bilden keine Pluralität und ergreifen gegenüber den Opfern keine Initiative mehr. Das Tun gegen die Opfer ist ein sprachloses; die Beziehung zwischen Täter und Opfer besteht aus reiner Gewalt. Gewalt aber ist kein Handeln; sie ist ein sprachloses Sich-Verhalten gegen die Mitmenschen. Dies kann nur geschehen, weil die Opfer nicht als Menschen gesehen werden. Allerdings spielt bei der gewalttätigen Sprachlosigkeit paradoxerweise gerade die Sprache und die Fähigkeit des Sprechens eine wichtige Rolle. Dabei geht es nicht in erster Linie um das zwischenmenschliche Miteinander-Sprechen, sondern um die Form der Kommunikation mit sich selbst, nämlich das Ich und sein Gewissen. Hannah Arendt zufolge liegt das dem Menschen eigene Wissen um gute und schlechte Taten, um Recht und Unrecht, nämlich im Gewissen jedes Einzelnen. Dabei ist das Gewissen gerade der Andere in jedem Menschen. Eine Beziehung zwischen dem Ich und seinem Gewissen existiert für Hannah Arendt in Form eines inneren Dialoges. Das Gewissen ist für den Menschen die »Stimme in sich« (Arendt. Böse. S. 26), die mit ihm spricht, die »das Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst« (Arendt. Böse. S. 48) führt. Für Hannah Arendt ist das Gewissen gleichzusetzen mit dem Bewusstsein, und als solches ist es als »die Fähigkeit, mit deren Hilfe wir uns selbst kennen und wahrnehmen« (Arendt. Böse. S. 49) charakterisiert. Nur und erst im Dialog erfährt der Mensch, dass er ist und wer er – zumindest für sich selbst – ist. Auch und gerade hier erfährt der Mensch, Hannah Arendt zufolge, die Pluralität. m Rückgriff auf die antike Polis und das griechische Denken zeigt Hannah Arendt, dass die Begriffe ›Gewissen‹ und ›Bewusstsein‹ etymologisch zusammengehören, aber keine moralische Konnotation haben. Gutes und schlechtes Handeln der oberen Gesellschaftsschicht der Polis, nämlich der frei Handelnden, den anderen Teilen der Bevölkerung gegenüber bezieht sich niemals auf Einzelne, denen gegenüber man in irgendeiner Weise verpflichtet wäre, sondern immer nur auf ganze Schichten der Bevölkerung. Ein ›schlechtes Gewissen‹ gegenüber einer Einzelperson ist in der griechischen Antike nicht bekannt. Erst als ein monotheistischer Gott die polytheistische Götterwelt – die aus heutiger Sicht sich selbst, vor allem aber den Menschen gegenüber höchst unmoralisch handelt – ablöst, wird das Gewissen vom Bewusstsein geschieden. Daraufhin fungiert das Gewissen als 229 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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moralisches Organ, das den Ruf Gottes empfängt. (Vgl. Arendt. Böse. S. 68) Das Gewissen wird somit die Instanz im Menschen, die unmittelbar mit Gott verbunden ist. Da Hannah Arendt aber metaphysische Betrachtungen im Allgemeinen außen vor lässt, stellt sich nun auch für sie die Frage, wie das Gewissen wirkt, wenn es nicht als ›Organ Gottes‹ verstanden wird. Bereits im antiken Denken seien Belohnungs- oder Bestrafungsmuster zu erkennen, die denjenigen des Christentums entsprechen. 39 Jedoch enthält sie sich jeder Deutung, warum diese Vorstellungen sich im Christlichen und – aus christlicher Sicht – im Heidnischen ähneln. Bedeutsam ist für sie, dass nun, im »Zeitalter der Massen«, wieder eine Säkularisierung des Gewissens stattfindet. 40 Hier ist der Glaube an ein Leben nach dem Tod aus ihrer Sicht vollständig verloren gegangen und deshalb greifen auch die nachweltlichen Belohnungs- und Bestrafungsmuster nicht mehr. Allerdings sieht sie nun vor allem die Gefahr, dass dem Gewissen die ihm wesentliche Funktion entzogen wird, da nicht nur die nachweltliche Furcht und Hoffnung verloren gegangen ist, sondern damit einhergehend auch die innerweltliche. (Vgl. Arendt. Böse. S. 69) Wer sich allein auf das innerweltliche Leben bezieht, der erhält die Reaktionen auf sein Handeln unmittelbar. Insofern muss er sich nicht mehr darum sorgen, dass sein Handeln weitreichende Konsequenzen mit sich führt, die in der Ewigkeit auf ihn zurückkommen. Diese Sichtweise ist aber, Hannah Arendt zufolge, ein Trugschluss. In Hannah Arendts ›säkularisiertem‹, politischen Denken ist das Gewissen nach wie vor vorhanden und aktiv. Seine Funktion, ein Urteil zu fällen über das Handeln des Einzelnen, bleibt bestehen. Dies ist für Arendt deshalb möglich, weil jeder Mensch »Zwei-in-Einem« (Arendt. Böse. S. 70) ist, nämlich er und das Selbst. Jeder Mensch steht mit seinem Selbst in Beziehung und dies in Form des inneren Dialoges. Nur durch diesen inneren Dialog kommt der Mensch weiter Vgl. Arendt. Böse. S. 68. Arendt spricht hier von der »Lehre von der Hölle, vom Fegefeuer und Paradies […], samt Jüngstem Gericht, Belohnungen und Bestrafungen, der Unterscheidung zwischen verzeihlichen und unverzeihlichen Sünden […]« 40 Roskoff erkennt diese Säkularisierung des Gewissens bereits im 19. Jahrhundert. Dank der Schriftsteller der Weimarer Klassik und ihres Humanitätsbegriffes sei der Glaube an den Teufel schon im 19. Jahrhundert fast vollständig verschwunden. Es sei demnach das eigene Gewissen, das dem Einzelnen verdeutliche, was Gut und Böse ist. (Vgl. Roskoff. Geschichte. S. 568 ff.) 39

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und kann sich entwickeln. Im Gegenzug dazu ist der Mensch aber auch durch diesen inneren Dialog sein eigener Partner und somit Zeuge seiner Handlungen. Für Hannah Arendt ist das Denken genau dieser innere Dialog. (Vgl. Arendt. Böse. S. 72) Das Gewissen ist keine Instanz mehr, die den Menschen mit einer äußerlichen Transzendenz verbindet oder ihm gar von dieser Transzendenz eingegeben wurde. Vielmehr zeigt sich in Form des Gewissens das Bedürfnis des Menschen, Dinge des Lebens zu besprechen – in diesem Fall mit sich selbst – und sie damit besser zu verstehen und zu verarbeiten. Das Sprechen und somit auch die Fähigkeit des inneren Dialoges werden somit zur »spezifisch menschliche[n] Eigenschaft« (Arendt. Böse. S. 73). Der Dialog mit sich selbst ist aber im Gegensatz zu Kants Auffassung keinesfalls ein Zwiegespräch mit einem vermeintlich ›besseren Ich‹ oder mit einem allgemein gültigen, natürlichen Wissen, das dem Menschen eingeboren wäre. Das Gewissen entsteht aufgrund des ›Zwischen‹, das Menschen zusammenhält. Dieses ›Zwischen‹ ist für Hannah Arendt alles, was Menschen miteinander gemeinsam haben, seien es konkrete Gegenstände, mit denen sie sich umgeben, oder Themen, über die sie gemeinsam reden. Aber auch Regeln, Verträge, Gesetze oder Verhaltenskodizes gehören für sie in diesen Bereich des ›Zwischen‹, denn diese sind von Menschen gemeinsam gemacht worden, um ein Zusammenleben zu garantieren und aufzubauen. Diese Regeln und Gesetze, die ein bestimmtes, keinesfalls allgemeingültiges oder gar natürliches ›Zwischen‹ konstituieren, gelten nur in diesem bestimmten Fall, solange diese Abmachung zwischen den Menschen gültig ist. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 180) Hier besteht also eine genaue Definition. Dieses ›Zwischen‹ ist für Hannah Arendt aber der Maßstab, an dem alles gemessen wird, v. a. auch Recht und Unrecht. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 179) Hier spiegeln sich keine göttliche Gebote wider, sondern das Zwischen ist von Menschen konstruiert. Es besteht lediglich an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Dauer. Dieses ›Zwischen‹ bewahrt seine Gültigkeit einerseits, wenn Menschen zusammenkommen, andererseits aber wird es auch im Menschen selbst reflektiert, nämlich in seinem Gewissen. Für Hannah Arendt ist eindeutig: »Es [das Gewissen] entspricht immer und richtet sich immer nach der Realität als dem Reich des Zwischen« (Arendt. Denktagebuch I. S. 181). Die innere Stimme, die in jedem Menschen den Dialog führt, integriert also etwas von außen und spie231 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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gelt die Regeln der Gesellschaft wider. Insofern ist das Gespräch mit sich selbst eine innere Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und jede Überlegung bezüglich dessen, was Recht und Unrecht ist, bezieht sich auf die innerhalb der Gesellschaft herrschenden Konventionen. Nur so ist es zu erklären, keinesfalls aber zu rechtfertigen, wieso Menschen in totalitären Staaten sich für aufrichtig und gut halten können, weil sie sich ›regelkonform‹ verhalten, obwohl sie objektiv betrachtet Verbrechen gegen die Menschheit begehen. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 181) Deshalb kommt Arendt auch zu der Schlussfolgerung: »Diese Leute [die Handlanger der Nazis] waren keine gewöhnlichen Verbrecher, sondern ganz normale Zeitgenossen, die mit mehr oder weniger Enthusiasmus Verbrechen begangen hatten, einfach weil sie das taten, was man von ihnen verlangt hatte.« (Arendt. Böse. S. 23)

Das Gewissen repräsentiert das jeweils gültige ›Zwischen‹ und somit die Bewertung dessen, was Recht und Unrecht ist. Unrecht wird so Recht und auch vom Gewissen nicht mehr bestraft oder verurteilt. Die Massengesellschaft, aber auch jedes totalitäre System charakterisiert sich auch und vor allem, laut Hannah Arend, durch »[d]as fast automatische Abwälzen von Verantwortung« (Arendt. Böse. S. 21). Verantwortung sollte allgemein für alles übernommen werden, kann es aber nur, wenn man sich persönlich involviert fühlt und Recht und Unrecht, das man selbst verursacht, annimmt. Was Recht und Unrecht ist, wird innerhalb einer Gesellschaft zumeist im engeren Rahmen durch die Erziehung, im größeren Rahmen durch staatliche, kirchliche, ethische Institutionen bestimmt. Nun gibt es aber dennoch, auch und gerade in Unrechtssystemen, Menschen, die dem Unrechtsstaat Widerstand leisten, die sich der Gesellschaft widersetzen und Unrecht anprangern. Diese sind Außenseiter dieser bestimmten Gesellschaft. Sie stellen sich gegen die geltenden Normen und gehorchen dem durch diese Normen gebildeten Gewissen nicht mehr. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 181) Jedoch stehen diese Kämpfer nicht allein, von allen anderen Menschen ausgestoßen. Auch sie sind mit einer Gemeinschaft durch ein Zwischen verbunden, nämlich mit einer Gemeinschaft von Gleichdenkenden, die eigene Maßstäbe besitzt. (Vgl. Arendt. Denktagebuch I. S. 181) Diese Gemeinschaft mag nicht innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu finden sein. Sie kann auch aus längst verstorbenen historischen Gestalten bestehen. Wichtig ist, dass sich 232 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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durch das ›Zwischen‹, das diese Gemeinschaft zusammenhält, ein anderes Gewissen konstituiert. Insofern handelt ein Widerstandskämpfer zwar gegen das Gewissen, das ihm in der Gesellschaft gegeben ist, nicht aber gegen ein anderes gemeinschaftliches Gewissen. Hannah Arendt entschuldigt durch diese Überlegungen nichts. Für sie wird aufgrund ihres Nachdenkens lediglich deutlich, wie es passieren kann, dass Menschen, die zu eigenem Denken und Urteilen fähig sind, Gräueltaten gegenüber anderen Menschen verüben können, ohne sich unmittelbar schuldig zu fühlen oder ihrem Tun Einhalt zu gebieten. Sie fühlen sich deshalb nicht schuldig, da sie sich innerhalb eines Systems bewegen, das ihnen keine Schuld zuweist und ihre Taten billigt, wenn nicht sogar vorschreibt. Jedoch ist es Aufgabe und Pflicht eines jeden Menschen, eigenständig zu denken und zu urteilen. »Wer sich dem Selberdenken verweigert, handelt verantwortungslos« (Stangneth. Denken. S. 116), fasst Bettina Stangneth Hannah Arendts Appell deshalb auch zusammen. Safranski verweist darüber hinaus auf Arendts Grundsatz, der Einzelne sei auch für seinen Gehorsam verantwortlich (vgl. Safranski. Böse. S. 284), womit sie den blinden Gehorsam Obrigkeiten gegenüber anprangere. 41 Auch im Gehorsam muss der Mensch sein eigenständiges Denken bewahren. Eigenständiges Denken und Urteilen bedeutet auch, über den Rand des eigenen gesellschaftlichen Horizontes hinauszublicken und Vergleiche mit anderen Gesellschaften anzustellen. Die Fähigkeit zu Denken ist vor allem die Fähigkeit, sich immer wieder zu hinterfragen, und nur dadurch kann sich der Mensch weiterentwickeln. Wie auch das Leben und der Mensch selbst, so ist das Gewissen, das sich im Menschen entwickelt hat, nicht statisch, sondern formbar. Es ist die Aufgabe des Menschen, sein Gewissen als moralische Instanz zu schärfen und somit fähig und bereit zu sein, Unrecht zu erkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Das wurzellose Böse Sprechen in jeder Form ist das, was den Menschen ausmacht und ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Wenn jemand absichtlich Böses tut, verweigert er jedoch das Darüber-Sprechen innerhalb Vgl. hierzu die Ausführungen von Florian Salzberger. »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen«. Hannah Arendts Philosophie des Umgangs im Anschluss an die Narrativitätskonzeption ihres Spätwerkes. Freiburg, München 2016

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der Gemeinschaft mit anderen, denn er will seine Tat verbergen und nicht öffentlich dafür bestraft werden. Das Bewusstsein, etwas Falsches getan zu haben, ist bei dem Täter also durchaus präsent. Es wird aber dadurch verdrängt, dass man nicht darüber spricht. Dasselbe Phänomen findet sich, wenn es um das menschliche Gewissen geht. Die Kommunikation mit sich selbst, d. h. das Miteinander-Sprechen von Ich und Gewissen erfolgt, für Hannah Arendt, in Form einer Geschichte, die von einer Seite erzählt und von der anderen Seite beurteilt wird. So konstituiert sich das Denken und dadurch wird das Geschehen aufgearbeitet. 42 Nur erzählend ist der Mensch fähig, das, was er getan hat und was gleichermaßen in einer Geschichte enthalten ist, zu begreifen und zu verarbeiten. Nur durch den inneren Dialog erinnert sich der Mensch auch an seine Taten. Die Reue, die jemand empfindet, nachdem er eine schlechte Handlung begangen hat, resultiert aus dem ständigen Sich-Erzählen der Handlung und Abwägen, dass sie schlecht war. Findet dieser Dialog mit sich selbst nicht statt, denkt der Mensch also nicht über sich und sein Handeln nach, dann gibt es auch keine Reue. Im Denken und im Dialog liegt auch das Vermögen der Erinnerung, denn erst, wenn eine Handlung durchdacht ist und verarbeitet wird, kann sich der Einzelne daran erinnern. Ein Mensch, der Böses getan hat und vergisst, was er getan hat, setzt sich selbst weder mit der Tat noch mit sich selbst auseinander. Insofern lässt er keine Tiefe des Denkens in Bezug auf sein Handeln zu und schlägt, wie Hannah Arendt es ausdrückt, keine »Wurzeln« (Arendt. Böse. S. 77). Der Mensch verweigert (sich) in diesem Fall jede Erinnerung an seine Tat. Dennoch ist und bleibt auch derjenige noch menschlich, der sich weigert zu denken und zu erinnern. Allerdings handelt es sich dann um eine »gänzlich gedankenlose Kreatur« (Arendt. Böse. S. 77). Das Sprechen findet zwar statt, aber nur noch mit anderen, nicht mehr mit sich selbst. Die Weigerung des Denkens und Erinnerns führt aber auch dann zu einer Verflachung in der Konversation mit anderen. Gefährlich ist dies zunächst nicht, höchstens sehr oberflächlich. Wenn Menschen sich nicht an schlechte Handlungen erinnern und sie auch nicht bereuen, wird dies allerdings gefährlich. Deshalb ist für Hannah Arendt das 42 Vgl. Arendt. Böse. S. 75, sowie 81: »[…] jeder Denkprozess ist eine Tätigkeit, bei der ich mit mir selbst über das spreche, was immer mich gerade angeht.«

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»größte Böse […] nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.« (Arendt. Böse. S. 77)

Es ist also nicht das größtmögliche Böse, wenn der Mensch weiß, was Recht und Unrecht ist, sich aber absichtlich für das Unrecht entscheidet Die schlimmste Form des Bösen, die unter Menschen vorherrschen kann, ist die des Nicht-Erinnerns oder des Vergessens unrechter Taten, denn »[w]enn ich mich weigere zu erinnern, bin ich eigentlich bereit, alles zu tun« (Arendt. Böse. S. 76). Nicht allein die Erinnerung hält den Täter von schlimmeren Taten ab, sondern vor allem das Nachdenken über die Tat, die man begangen hat, und deren Beurteilung im Gesamtzusammenhang. Das wurzellose Böse kann sich weiter fortpflanzen, da niemals ein Urteil darüber gesprochen wird und insofern niemals Konsequenzen folgen. Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Gemeinschaft: »Die größten Übeltäter sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben, und ohne Erinnerung kann sie nichts zurückhalten.« (Arendt. Böse. S. 77)

Durch die Erinnerung werden Geschehnisse vertieft. Alles, woran sich ein Mensch erinnert, schlägt quasi Wurzeln in seinem Gedächtnis und weist somit Grenzen auf, die nicht überschritten werden dürfen. Ohne diese Wurzeln gibt es auch keine Grenzen. Nur so kann sich böses Handeln entfalten und unaufhaltsam verbreiten. Dennoch kann vergeben werden. Das Vergeben ist für Hannah Arendt wichtig, denn es bedeutet, dass etwas abgeschlossen werden kann, was die menschlichen Beziehungen betrifft. Jedoch kann nicht die Handlung an sich vergeben und damit abgeschlossen werden. Eine ausgesprochene Kränkung bleibt bestehen, auch wenn der Person vergeben wurde, die die Kränkung ausgesprochen hat. Deshalb ist Vergebung zwar wichtig, aber nicht die Handlung kann vergeben werden, sondern allein der Person kann vergeben werden. (Vgl. Arendt. Böse. S. 78, S. 101) Eine Person wird dadurch charakterisiert, dass sie denkt und sich erinnert. Die Person reflektiert ihr Tun und urteilt darüber. (Vgl. Arendt. Böse. S. 85) Nur so hat sie in ähnlichen Situationen die Möglichkeit, sich gleich oder anders verhalten zu können. Jedoch ist nicht jeder Mensch eine Person, nur weil er Mensch ist. Die Person hat, gemäß Hannah Arendt, ›moralische‹ Eigenschaften »im Sinne der

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Moralphilosophie« 43. Dies bedeutet, dass der Mensch als Person im Allgemeinen des moralischen Urteilens fähig und damit auch fähig ist, sich zu ändern, wenn er es will. Moral ist für Hannah Arendt nicht allein auf die Philosophie beschränkt. Zwar zieht man dank des philosophischen Denkens Rückschlüsse auf und Erkenntnisse hinsichtlich der Moral, jedoch entsteht für Hannah Arendt bereits durch das Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst das moralische Wissen. Hierunter versteht Hannah Arendt moralische Grundregeln oder die moralische Grundregel, die allen Menschen gemeinsam ist. (Vgl. Arendt. Böse. S. 75) Sie gibt nicht an, welche Regel sie meint, und man könnte hier kontextbedingt darauf schließen, dass auch sie sich auf Kants moralisches Gesetz bezieht. Wichtig ist an dieser Stelle, dass alle Menschen kraft ihres Denkens und des inneren Dialogs, den alle mit sich selbst führen, auf diese Regel oder Vorschrift stoßen. Insofern scheint auch hier die moralische Vorschrift so allgemein gültig zu sein, dass jeder Mensch sie findet, solange er mit sich und mit Anderen kommuniziert. Moral ist also kein spezifisch philosophisches Gebiet und gehört auch keiner anderen wissenschaftlichen Disziplin an, sondern sie ist, wie Hannah Arendt es nennt, »prä-philosophische Bedingung« (Arendt. Böse. S. 75) und somit eigentlich Grundvoraussetzung für jedes Handeln und jede andere Wissenschaft. Handelt es sich aber um den speziellen Fall des wurzellosen Bösen, so reflektiert der Mensch gerade nicht über das, was er getan hat. Er verhält sich nicht moralisch; vielmehr gibt er sein Person-Sein freiwillig auf. 44 Das wurzellose Böse kann deshalb nicht vergeben werden, da »es keine Person mehr [gibt], der man je vergeben könnte.« (Arendt. Böse. S. 78) Der Mensch, der sein Person-Sein freiwillig aufgibt, entkleidet sich auch freiwillig aller seiner persönlichen Eigenschaften. Er macht sich selbst zur Un-Person und damit zum Niemand: 43 Arendt. Böse. S. 53: »Die Eigenschaft, eine Person im Unterschied zu einem nur menschlichen Wesen zu sein, gehört nicht zu den individuellen Eigenheiten, Gaben, Talenten oder Fehlern, mit denen Menschen geboren werden und die sie gebrauchen oder missbrauchen können. Das Personhafte eines Individuums ist genau seine ›moralische‹ Eigenschaft […] im Sinne der Moralphilosophie […].« 44 Vgl. Arendt. Böse. S. 101: »Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, dass sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. […] sie hätten […] immer nur Befehle befolgt.«

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»Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Person zu sein.« (Arendt. Böse. S. 101)

Alles, was der Mensch braucht, um ein menschliches und menschenwürdiges Leben zu führen, findet er um sich herum und in sich. Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, wie er sein Leben gestalten will und zu welcher Person er sich macht. Versäumt er dies, so macht er sich selbst zum unfreien Gehorchenden, zum Niemand. Es ist aber nicht nur so, dass der Mensch mit seinem Gewissen in ständigem Zwiegespräch ist. Vielmehr ist er auch der Zeuge seiner Handlungen. (Vgl. Arendt. Böse. S. 71) Das Mit-Sich-Selbst-Sprechen ist bereits eine Handlung, aber hier werden auch sämtliche Handlungen ›besprochen‹, wie Hannah Arendt es nennen würde, die der Mensch nach außen hin vollführt. Sind diese Handlungen schlecht oder gar absichtlich böse, so muss der Mensch damit umgehen und damit leben. Er muss dann mit einem Täter böser Taten zusammenleben, und diese Gemeinschaft wird er für den Rest seiner Tage nicht mehr los. Fraglich ist nun, ob jemand, der sich freiwillig zur Un-Person gemacht hat, sich überhaupt dessen bewusst ist, dass er sein Leben als Täter mit einem Täter verbringt, denn die Un-Person wird von Hannah Arendt als jemand definiert, der sich seines moralischen Urteils und seiner Verantwortung vollkommen entledigt. Um einen anderen oder gar sich selbst als Täter schlechter Taten zu begreifen, braucht der Mensch ein eigenes Wertsystem, anhand dessen er seine Urteile hinsichtlich gut und böse fällen kann. Dies aber fehlt ja gerade, da die Un-Person, der Niemand sich auf das übergeordnete Wertsystem anderer verlässt und dieses gedanken- und urteilslos für sich übernimmt. Hannah Arendt führt nicht weiter aus, ob sich ein Mensch dessen bewusst ist, dass er sich zur Un-Person gemacht hat. Orientierung an Beispielen Der »Horror des Bösen« (Arendt. Böse. S. 150), von dem Hannah Arendt spricht, beginnt mit dem freiwilligen Verzicht auf eigenständige Urteile und somit mit dem Verzicht, eine Person zu sein. Gerade aber diese freiwillige Urteilslosigkeit veranlasst den Menschen dazu, alles zu tun, was Andere wollen, egal, ob es gut ist oder schlecht, und so verbreitet sich das wurzellose Böse. 237 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Ist der Einzelne aber selbst keine Person mehr, so gestattet er auch seinen Opfern nicht mehr, eine Person zu sein. Somit wird jedem Menschen sein höchstes weltliches Gut abgesprochen. Dies führt zu einem Gleichgültig-Sein und zu einem Gleichgültig-Machen. Durch die Herabwürdigung des Menschen zu einem a-moralischen, un-persönlichen Wesen verliert jeder Mensch seine Einzigartigkeit – er wird banal, wenn er seine Werte aufgibt. Das Böse wird banal, nämlich wurzellos und unmenschlich und insofern un-persönlich. Es hat nichts mehr mit menschlichen Angelegenheiten zu tun, bei denen sich einzigartige Persönlichkeiten miteinander auseinandersetzen. Vielmehr begegnen sich Menschen ohne (moralische) Werte, die sich zum Ziel gesetzt haben, jeden Wert und damit jede Persönlichkeit vernichten zu wollen. Dies ist das schlimmstmögliche Böse. Jeder Mensch ist aber für sich und sein Handeln selbst verantwortlich. Dies kann er durch seine Freiheit zur Wahl selbst bestimmen. Das Bewusstsein von Recht und Unrecht wird durch die Gemeinschaft geprägt, mit der sich jeder Mensch umgibt. Diese muss nicht zwangsläufig die Gesellschaft sein, in der er lebt. Wichtig ist deshalb, dass sich jeder Mensch Vorbilder – Hannah Arendt nennt es »Beispiele« (Arendt. Böse. S. 149) – sucht, an denen er sich orientiert. Beispiele können Eltern oder Personen sein, mit denen man unmittelbar zu tun hat, aber auch Zeitgenossen, die man persönlich gar nicht kennt, historische Persönlichkeiten, die schon lange verstorben sind, oder fiktive Personen. Wichtig dabei ist, dass jeder Mensch sich seine Vorbilder frei wählt, die somit auch zu seiner Gewissensbildung und zur Erweiterung seiner Denkfähigkeit beitragen. (Vgl. Arendt. Böse. S. 149) Die Gefahr, der sich jeder Mensch hierbei stellen muss, ist die »Indifferenz« (Arendt. Böse. S. 150) gegenüber der Gemeinschaft, mit der er sich umgibt. Es darf bei der Wahl der Beispiele nicht darum gehen, einer Gemeinschaft angehören zu wollen, koste es, was es wolle. Es ist aber vor allem die Angst vor dem Alleinsein, die zum Unwillen oder gar zur Unfähigkeit führt, sich seinen Umgang zu wählen und sich mit der Gruppe, mit der man sich umgibt, kritisch auseinander-zu-setzen. (Vgl. Arendt. Böse. S. 150) Diese Angst, alleine sein zu müssen oder nicht beliebt zu sein, darf aber nicht überwiegen. Sonst verhält sich der Mensch nur noch, wenn er sich einer Gruppe anschließt, und verweigert somit jedes Urteil über diese Gruppe und ihre Aktivitäten. Diese Angst muss überwunden werden, damit jeder sein eigenes 238 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

Gewissen schulen und für sich erhalten kann und somit fähig bleibt, eigenständige Entscheidungen zu treffen. c)

Das gewissenlose Böse

Hannah Arendts Vorlesung Über das Böse basiert auf den Erfahrungen und Beobachtungen des Eichmann-Prozesses. In ihrem Bericht Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen prägt sie nun den Begriff der Banalität des Bösen, indem sie ihr Denken an diesem aber auch an anderen Beispielen wiederfindet. Zur Normalität der Person Hannah Arendt weist von Anfang an darauf hin, dass es ihr bei Eichmann um »die Person des Angeklagten, ein Mensch aus Fleisch und Blut mit einer individuellen Geschichte« (Arendt. Eichmann. S. 54) geht. So erscheint Eichmann demnach in erster Linie als ein Mensch, dem seine Einzigartigkeit zugestanden wird und mit der Einzigartigkeit auch eine Teilhabe an menschlicher Normalität. Wenn Hannah Arendt in ihrer Schrift Eichmann in Jerusalem zu dem Schluss kommt, dass das hier verkörperte Böse nicht radikal, sondern banal ist, so liegt das auch daran, dass Eichmann einen Typus Mensch repräsentiert, der auf gewisse Weise ›normal‹ zu sein scheint. Damit Eichmann überhaupt vor ein Gericht gestellt und verurteilt werden kann, muss er von psychiatrischen Gutachtern untersucht werden. Diese müssen seine ›Normalität‹ bezeugen, was sie offiziell auch tun. So gibt es sogar Stimmen, die ihn für »normaler […], als ich es bin« (Arendt. Eichmann. S. 99) oder »nicht nur normal, sondern höchst vorbildlich« (Arendt. Eichmann. S. 99) halten. Auch von Seiten eines Pfarrers wird Eichmanns Charakter positiv bewertet. (Vgl. Arendt. Eichmann. S. 99) Widersinnig scheint jedoch, dass genau dieselben Psychiater sich aber laut eines später veröffentlichten Artikels in der ›Saturday Evening Post‹ in eine ganz andere Richtung geäußert haben sollen. So sei Eichmann hier eine »perverse, sadistische Persönlichkeit« (Arendt. Eichmann. S. 99) und hätte einen »unersättlichen Mordtrieb« (Arendt. Eichmann. S. 99). Diese Analyse hat allerdings nichts mit ›Normalität‹ zu tun, und aufgrund dieser Aussagen hätte Eichmann niemals gerichtet werden dürfen, denn diese Persönlichkeit wäre offenkundig geistig gestört und damit nicht im juristischen Sinne schuldfähig gewesen. 239 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

Hannah Arendt urteilt über diese unterschiedlichen Aussagen deshalb wie folgt: »Sollte dies stimmen, dann hätte er ins Irrenhaus gehört.« (Arendt. Eichmann. S. 99) Ein perverser Mensch mit Mordtrieb kann nicht als normal gelten, denn er gehört keiner Norm an, auf die die bürgerliche Gerechtigkeit Anwendung finden würde. Jedoch wird die Frage, was normal ist, von keiner Seite – weder von Seiten der Psychiater, noch von Hannah Arendt in ihrem Bericht – beantwortet. Hannah Arendt jedoch steht eigentlich fassungslos vor der Person Eichmanns. Ihr ist bewusst, dass Eichmann zwar durchschnittlich ist, aber keinerlei auffällig negative Charaktereigenschaften aufweist, die man angesichts seiner Taten erwarten könnte. Im Gegenteil, er ist »weder schwachsinnig noch eigentlich verhetzt, noch zynisch« (Arendt. Eichmann. S. 100). Eigentlich hat er überhaupt keine persönlichen Eigenschaften, denn er verhält sich lediglich. Das, was er tut oder getan hat, resultierte aus dem Bedürfnis heraus, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dabei war es jedoch für Eichmann belanglos, in welcher Art von Gesellschaft er aufgenommen wurde und durch welche Qualifikation er seinen Platz erhielt, behauptete und verbesserte. Allein der Wunsch nach Aufnahme in eine Gesellschaft und die Angst, alleine bleiben zu müssen, treiben ihn in alle möglichen, doch recht unterschiedlichen Verbünde. Deutlich wird dies bereits an seinem Werdegang. Aus der bürgerlichen Gesellschaft war er ausgeschlossen, da er keinen ordentlichen Schulabschluss, damit keine richtige Berufsausbildung und also keine Möglichkeit hatte, eine erfolgreiche berufliche Laufbahn einzuschlagen. Seit seiner Kindheit aber war er in Vereinen und Verbänden in Gemeinschaften mit anderen eingebunden. Hierbei handelte es sich um ein Sammelsurium verschiedener Vereine, und immer wieder auch um solche, die nicht die Eigenständigkeit der Persönlichkeit, sondern Gehorsam und Sich-Verhalten förderten. 45 Als junger Mann schließlich tritt er nur deshalb bei der SS ein, weil er sich in der Freimaurerloge Schlaraffia unmöglich gemacht hat und ihm deshalb eine Mitgliedschaft verwehrt blieb. Die Wahl zwischen Freimaurerei und SS erscheint grotesk, unterstreicht aber die Be45 Vgl. Arendt. Eichmann. S. 106. Arendt zählt hier u. a. den Christlichen Verein Junger Männer, den Wandervogel, den Jungfrontkämpferverband, die Deutsch-Österreichische Frontkämpfervereinigung auf.

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Die Vertreibung des Teufels

liebigkeit der Wahl der Vereine, denen Eichmann beitritt, zumal er anscheinend völlig uninformiert über Ziele und Inhalte der NSDAP war (vgl. Arendt. Eichmann. S. 107). Als Mitglied der Partei findet Eichmann eine soziale Stellung und eine Rolle. Hier wird ihm die Möglichkeit geboten, eine Karriere zu machen und in einer Gesellschaft anerkannt zu werden. Dass er die Karriere auf Kosten von Menschenleben macht, stört ihn dabei nicht. Viel schwerwiegender ist für ihn allerdings, dass er nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« keinen Halt mehr hat. Er befindet sich in keiner Struktur mehr, in der er sich auf Befehle verlassen kann, die er lediglich befolgen und ausführen muss. Er selbst bedauert: »nunmehr ein führerloses und schweres Eigenleben« führen zu müssen und dass er sich »an keiner Stelle irgendwelche Richtlinien geben lassen konnte, dass von keiner Seite Befehle und Weisungen kamen, keinerlei einschlägige Verordnungen heranzuziehen waren« (Arendt. Eichmann. S. 106) und er nun »ein bisher nicht gekanntes Leben« (Arendt. Eichmann. S. 106) kennenlernen muss. Der Zusammenbruch des »Dritten Reiches« und der damit einhergehende Zusammenbruch einer Gesellschaft, in der Eichmann eine Karriere hatte, bedeutet wiederum den Verlust seines Platzes in einer Ordnung und der Möglichkeit durch Sich-Verhalten Karriere zu machen. Allein auf sich gestellt, wird noch deutlicher, dass Eichmann geradezu unfähig ist, selbständig zu denken oder zu handeln. Doch was ist die Normalität bei einem Menschen, der sich selbst außerhalb der menschlichen Angelegenheiten sieht und freiwillig auf das verzichtet, was ihn als Menschen auszeichnet? Hier sieht Hannah Arendt das große Dilemma, auf das während des Prozesses nicht eingegangen wurde. Dieses Dilemma entsteht, wenn nicht klar ist, was der Mensch als solcher ist, nämlich seine sogenannte Normalität, und wie der Verhaltenskodex der Gesellschaft beschaffen ist, in der er lebt, nämlich die sogenannte Normalität des alltäglichen Lebens. In einer Gesellschaft von Lügnern ist ein Mensch, der sich dem anpasst und lügt, normal, während es für die meisten anderen nicht normal ist, dass er lügt – oder es zumindest nach einem allgemeinen ethischen Maßstab nicht sein sollte. Dieselbe Problematik sieht Hannah Arendt auch bei Eichmann. Innerhalb des NS-Regimes war Eichmann normal, da alle sich in der SS so verhalten haben wie er – und dieses Sich-Verhalten sogar noch gelobt und gefördert wurde. Doch nach allgemeinen ethischen Maßstäben betrachtet war und ist diese Ver-

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Nachdenken über den Bösen

halten keinesfalls normal. Ethisches Verhalten war jedoch innerhalb des NS-Regimes die Ausnahme. (Vgl. Arendt. Eichmann. S. 100) Die ›Normalität‹ des NS-Regimes war eine vollkommen unethische, während Eichmann nun in einer ›Normalität‹ gerichtet wird, die gerade ethische Werte hochhält. Wenn also Psychiater Eichmann für ›normal‹ erklären, wirft das Fragen auf, nach welchen Kriterien sie seinen Charakter bewerten oder ob sie die gesamte Problematik der Normalität erfasst haben. Diese Fragen werden aber weder gestellt, noch beantwortet. Unfähigkeit zu handeln und zu sprechen Da Sprechen Hannah Arendt zufolge auch Handeln ist, wird diese nicht vorhandene Selbständigkeit Eichmanns noch deutlicher, wenn er von sich selbst sagt: »Amtssprache ist meine einzige Sprache« (Arendt. Eichmann. S. 125) Damit macht er bereits deutlich, dass er eigentlich keine eigene Sprache hat. Das Fehlen von Sprache ist ein Zeichen für fehlende Individualität, da Eichmann unfähig ist, sich mit eigenen Worten auszudrücken und somit seinem Charakter Ausdruck zu verleihen. Amtssprache bedeutet hier die Sprache der Bürokratie, also die Sprache des Niemand, denn die Bürokratie der modernen Welt ist für Hannah Arendt die »Herrschaft des Niemands« (Arendt. Vita. S. 51). Beherrscht wird derjenige, der sich der Bürokratie fügt und von ihr vereinnahmen lässt, jedoch ist dies ein Beherrschtwerden ohne Herrscher und somit ohne Person, die die Verantwortung für ihr Herrschen übernimmt. Hier wird eine Hierarchie gebildet, in der Menschen sich zurechtfinden (müssen) und arbeiten, während die Spitze der Hierarchie nicht von einem Menschen eingenommen wird, sondern von einem Abstraktum. Der Niemand ist un-menschlich und deshalb fehlen hier sämtliche menschliche Verhaltensweisen. Demgegenüber kommt dem Herrscher innerhalb einer hierarchischen Struktur immer in doppelter Weise Verantwortung zu, nämlich einmal in der Form von Sorgfaltspflicht gegenüber seinen Untergebenen, und in Form von Vorbildlichkeit. Jeder, der einer Hierarchie vorsteht, ist Vorbild in dem Sinne, dass die hierarchische Struktur nach seinen Vorstellungen gebildet und mit Inhalten gefüllt wird, aber auch in dem Sinne, dass er selbst das Vorbild ist, das als Leitfigur die Regeln und Verhaltenskodizes lebt, die er von seinen Untergebenen erwartet. Der Niemand der 242 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Bürokratie übernimmt keine Verantwortung und auch keine Vorbildfunktion. Die Sprache der Bürokratie bringt dies zum Ausdruck. Amtssprache – oder wie es auch heutzutage in der Umgangssprache heißt: Beamtendeutsch – ist eine Sprache, die nicht für Menschen verständlich ist und die, folgt man Hannah Arendts Ausführungen, auch nicht für Menschen gemacht ist. Direkte Ansprachen, wie das Personalpronomen, fehlen ebenso wie die Identifikation des Handelnden, nämlich das bestimmte Subjekt. Das Sprechen als Amtssprache findet in Konstruktionen statt, z. B. in Befehlen, Passiv-Konstruktionen oder der Verwendung des unpersönlichen ›man‹. Dementsprechend bedient sich derjenige, der lediglich auf diese konstruierte, formalisierte Sprache rekurriert, selbst eines Konstrukts. Auch lässt er sich selbst dazu machen, und er lässt zu, dass er dazu wird, indem er die konstruierte Sprache als Ausdruck seines Charakters übernimmt. Aber es ist nicht allein die Amtssprache, die Eichmanns Charakter geprägt hat. Hannah Arendt nennt seinen Umgang mit der Sprache sogar einen »heldenhafte[n] Kampf […], in dem er regelmäßig unterlag« (Arendt. Eichmann. S. 124). Wenn er sich ausdrückt, so in »Redensarten oder Schlagworte[n]« (Arendt. Eichmann. S. 124–125), denn er ist unfähig, richtige, eigenständige Sätze zu bilden. Er gibt lediglich »endlose […] Sätze« von sich »die niemand verstehen kann, weil sie ohne alle Syntax Redensart auf Redensart häufen« (Arendt. Eichmann. S. 125). Auch die Redensarten und Klischees, die Eichmann von sich gibt, zeugen von seinem unselbständigen Wesen. Eichmann verrät sich durch seine Sprache. Er reiht Unzusammenhängendes aneinander und Hannah Arendt kommt zu dem Schluss, »dass diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft« (Arendt. Eichmann. S. 126) ist. Für Hannah Arendt geschieht Denken in dialogischem Sprechen, zwischen dem Ich und seinem Gewissen. Wenn Hannah Arendt Eichmann diesen Dialog abspricht, so schreibt sie ihm ein gewissenloses Wesen zu. Aber nicht nur Gewissenlosigkeit zeichnet Eichmann aus, sondern auch, wie Hannah Arendt es ausdrückt, ein »absoluter Mangel an Vorstellungskraft« (Arendt. Eichmann. S. 126). Dieser bezieht sich auf alles, was außerhalb seines eigenen Erfahrungs- und Erlebnishorizontes liegt. Eichmann verfügt nur über eine sehr beschränkte Sichtweise der Dinge und über einen geringen Horizont. Da er selbst mit seinem Gewissen nicht im Dialog steht, handelt es

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Nachdenken über den Bösen

sich bei ihm um den absoluten Egoisten. Nur eine Sichtweise ist für ihn möglich, ein dialogisches Prinzip ist bei ihm undenkbar. Da Eichmann bereits selbst nicht fähig ist, eine andere Perspektive zu entwickeln und einzunehmen, kann er auch die Perspektiven anderer nicht verstehen und dementsprechend nicht akzeptieren. Eichmann ist unfähig, sich an die Stelle anderer zu versetzen und deren Standpunkt zu verstehen. Die menschliche Eigenschaft der Einfühlung oder Empathie ist ihm fremd. Insofern ist er nicht fähig zu einem gemeinschaftlichen Miteinander – nicht mit sich selbst und schon gar nicht mit den anderen. Und deshalb ist er auch unfähig zu handeln. Das personifizierte Böse Obwohl Hannah Arendt großen Wert darauf legt, die Person Eichmann zu entdämonisieren und als Mensch darzustellen, gibt es in ihrem Text Indizien, die darauf verweisen, dass Eichmann die Personifikation des Teufels ist. Bisher wurde bei der Figur Eichmann das Fehlen von Empathie, die Unfähigkeit zum Dialog, die Handlungsunfähigkeit und -unwilligkeit und damit die Unfähigkeit zur eigenen Initiative sowie ein absoluter Egoismus festgestellt. Dies alles sind Zeichen des UnMenschlichen. Mehr noch: Dieses menschenverachtende, absichtlich un-menschliche Verhalten ist ein erstes Indiz für das Prinzip des absolut Bösen. Hinsichtlich des absolut Bösen und dessen Personifikation, dem Teufel, notiert Hannah Arendt im Juni 1953 in ihrem Denktagebuch, dass es zwei Formen gibt. Zum einen erwähnt sie Satan, den gefallenen Engel. Er ist der Widersacher Gottes in der Legende, der sich über ihn erhoben hat und deshalb zu Fall gebracht wurde. Zum anderen wird Diabolos zitiert. Er ist der Verleumder, vor allem aber wird er im Johannes-Evangelium auch als der »Bringer des Todes« oder »Mörder« (Arendt. Denktagebuch I. S. 377) bezeichnet. Durch die Attribute, die Hannah Arendt Eichmann zuschreibt und die Tatsache, dass er Menschen ermorden ließ und somit zum »Bringer des Todes« geworden ist, wird er in Hannah Arendts eigener Einschätzung zur Personifikation des Bösen, zum Teufel in Person. Hannah Arendt formuliert es auch so: »[n]un saß der Teufel selbst auf der Anklagebank« (Arendt. Eichmann. S. 117). Jedoch nimmt sie das Schwerwiegende dieser Aussage selbst wieder zurück, indem sie

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Die Vertreibung des Teufels

Eichmann das Dämonische wieder abspricht und in ihm den »Hanswurst« (Arendt. Eichmann. S. 132, Arendt. Verstehen. S. 64) sieht. Allerdings verkennt Hannah Arendt die Figur des Hanswurst. Der Hanswurst und sein Bezug zum Harlekin ist letztlich eine verharmloste Form des Teufels, in der das Böse lächerlich gemacht wird. (Vgl. Grätzel. Masken. S. 158 f.) Der Hanswurst ist also auch der Teufel, allerdings in einer maskierten Form. Diese Figur ist sogar klassisch z nennen, wenn man an Mephisto in Goethes Faust denkt. Hannah Arendts Versuch, Eichmann zu entdämonisieren und sein Handeln und seine Person zu verstehen, gelingt nicht. Was sie sieht und erfährt, ist der Un-Mensch, die Un-Person Eichmann, dessen Taten so sehr außerhalb der menschlichen Angelegenheiten sind, dass er zur Personifikation des »banalen« Bösen wird. Die »Banalität des Bösen«, auf die wir im Folgenden noch genauer eingehen werden, ist also durchsetzt von satanischen Elementen. Deshalb muss Arendts Versuch einer Entdämonisierung von Eichmann in der Hinsicht gewürdigt werden, dass sie das Teuflische an normalen Persönlichkeitsmerkmalen festmacht. Insofern ist Eichmann für sie eine im Grunde normale Person, deren Normalität durch das Mitläufertum ins Teuflische umschlägt, wie wir noch sehen werden. Die Rolle der Intellektuellen in der NS-Diktatur Das scheinbar Lächerliche, das Hannah Arendt in der Figur Eichmanns gefunden hat, resultiert aus der Feststellung, dass Eichmann keine Heldenfigur und kein Anführer war, sondern lediglich ein Handlanger, der sich darauf berief, Befehle ausgeführt zu haben. Dieses Lächerliche wird aber sehr ernst, sobald sich viele Menschen so verhalten, also freiwillig ihr Menschsein aufgeben, das eigenständige Denken einstellen und andere Menschen nicht mehr als Menschen ansehen. Insofern findet eine Verflachung statt, denn die Tiefe, die im Dialog entsteht, verschwindet. Hierin liegt nun das wahre Unheil, denn laut Hannah Arendt kommt »das Unheil […] aus der Verflachung – zum Unheil gehört, dass es organisiert und d. h. dass die Vielen involviert sind.« (Arendt. Denktagebuch II. S. 623) Die Vielen waren vor allem die Menschen im »Dritten Reich«, die herrschten und beherrscht wurden. Hinsichtlich der »Mörder im Dritten Reich« (Arendt. Böse. S. 79) muss Hannah Arendt allerdings feststellen, dass viele von ihnen Intellektuelle waren. Sie führten ein normales Familienleben, erzogen ihre Kinder zu einem Bewusstsein 245 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

von Recht und Unrecht und beschäftigten sich mit Literatur, Kunst und Musik. (Vgl. Arendt. Böse. S. 79) Dies ist umso verwunderlicher, als es in jeder Gesellschaft in der Regel gerade die Intellektuellen sind, die Vorbilder sein und Beispiele geben sollen. Sie werden als Menschen mit eigenständigem Denken und Handeln charakterisiert und gelten gar als Eliten, denen nachgeeifert werden soll. Die Beschäftigung mit Literatur, Kunst oder Musik setzt eine (Allgemein-)Bildung und eine Tiefe voraus, die jeden gesunden Menschenverstand scheinbar übertrifft. Gleichzeitig verweist diese Beschäftigung auch darauf, dass interpretatorische Fähigkeiten besonders geschult sind und kritische Reflexion vorhanden ist. Gerade Intellektuelle stehen für eigenständiges Denken und kritischen Umgang mit Gegebenem. Mit Enttäuschung muss Hannah Arendt aber feststellen, dass es sich bei diesen Menschen zwar um Intellektuelle handelt, diese aber nicht dem Ideal des Intellektuellen entsprechen. Die Tätigkeit des Denkens scheint bei ihnen nicht stattgefunden zu haben; sie rezipieren lediglich passiv und lassen sich gleichschalten. (Vgl. Arendt. Verstehen. S. 58) Zum einen bemerkt sie, dass auch diese Intellektuellen Gräueltaten begangen haben. Entweder haben sie diese befürwortet und gebilligt oder sie haben sie selbst, teilweise als Ideengeber, teilweise als direkte Akteure ausgeführt. Auch oder gerade sie waren damit der »Banalität des Bösen«, also dem gedankenlosen Verhalten, verfallen und haben sich somit von ihrer Rolle als kritische Vorbilder entfernt. Zum anderen findet Hannah Arendt auch einen Beweis für nicht vorhandene Denktätigkeit darin, dass von den Intellektuellen nichts Regimekritisches, zum Widerstand Taugliches produziert wurde. (Vgl. Arendt. Böse. S. 80) Auch die Intellektuellen des »Dritten Reiches« haben keine eigenständige Kultur aufgebaut. Das, was für sie die nationalsozialistische Kultur war, war tatsächlich ein Sammelsurium aus nordischen Sagen und römischer Machtdemonstration. Eine eigene produktive kulturelle Auseinandersetzung wurde von diesen Intellektuellen nicht unternommen. Die Intellektuellen des »Dritten Reichs« haben ihre Rolle als Kritiker wissentlich und willentlich abgegeben und somit zur Verflachung des Denkens und der Kultur als Ausdruck dieses Denkens im Wesentlichen beigetragen. Insofern sind die Mörder des »Dritten Reiches«, ebenso wie Eichmann selbst, der kein Intellektueller war, die Personifikation des Bösen. 46 46

Im Dezember 1967 reflektiert Hannah Arendt über die Atombombe. Hier wird der

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Die Vertreibung des Teufels

Die Banalität des Bösen Eichmann wird von Hannah Arendt in verschiedener Weise dargestellt. Er ist ein Mensch, ein Individuum mit einer einzigartigen Geschichte. Jedoch verhält er sich so, als lehne er genau dieses Einzigartigsein ab und damit auch die Verantwortung für sein Handeln und sein Unter-den-Menschen-Sein. Er will aufgehen in einer Masse, in der ihm befohlen wird und in der er diese Befehle weitergeben kann. Dadurch aber verliert er sein Mensch-Sein, er verliert seine Sprache, sein Denken, er verliert die Dialogfähigkeit und die Fähigkeit zur Empathie. So verliert er jede Menschlichkeit und erhält die Qualitäten des personifizierten Bösen, des Teufels. Mit diesen zweifelhaften Qualitäten steht er allerdings nicht allein, sondern verkörpert in der Welt des Nazi-Regimes die Normalität. Insofern ist Eichmann als Un-Mensch und als personifiziertes Böses der Typ eines jeden Menschen, der sich zugunsten seiner Vorteile, seiner Karriere oder aus anderen Gründen auf einen puren Egoismus und damit aus den menschlichen Angelegenheiten zurückzieht. Und Hannah Arendt stellt fest: »Das Beunruhigende an der Person Eichmann war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren oder sind.« (Arendt. Eichmann. S. 400)

Dieser Typ Mensch tritt gerade in Krisenzeiten nur allzu häufig auf und dieser Typ Mensch repräsentiert die »Banalität des Bösen« (Arendt. Eichmann. S. 371), ein Begriff, der so sehr missverstanden wurde. Ist für Hannah Arendt das unaussprechliche und unmenschliche Böse in der Vita activa noch radikal, so ist nun dieses unaussprechlich Böse, vor dem »das Wort versagt« und an dem »das Denken scheitert« (Arendt. Eichmann. S. 371), zur Banalität geworden. Banalität in diesem Zusammenhang heißt aber nicht, dass das Böse Feind, um dessentwillen die Bombe erfunden wurde, als Teufel bezeichnet [vgl. Arendt. Denktagebuch II, S. 673]. Es findet also eine Entmenschlichung von Personen statt, um den Bau der alles vernichtenden Bombe rechtfertigen zu können. Folgerichtig schließt Hannah Arendt aber auch, dass nun diejenigen zum Teufel werden, die die Bombe erfunden haben [vgl. Arendt. Denktagebuch II. S. 673: »we become the devil«], da der Gegner nicht der Teufel, sondern der Mensch ist. Die Erfindung der Atombombe, deren Einsatz nicht nur zum Verstummen der Menschheit, sondern zum absoluten Verstummen des Seins auf der Welt und zum Auslöschen jeglichen ›Zwischens‹ führen würde, ist teuflisch und deshalb »[t]he model of all violence« [Arendt. Denktagebuch II. S. 673].

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Nachdenken über den Bösen

verharmlost werden soll, dass es zu etwas gemacht wird, das nicht mehr zum Fürchten ist und deshalb ignoriert werden kann. Der Begriff Banalität zeigt, dass das radikal Böse nicht mehr außerhalb der menschlichen Angelegenheiten steht, sondern es befindet sich mitten unter ihnen. 47 Das Böse ist banal, da es alltäglich ist. Purer Egoismus, Gedankenlosigkeit, mangelnde Dialogfähigkeit und fehlende Empathie – die sich zumeist in Eifersucht und Neid ausdrücken – sind Eigenschaften, die jeder Mensch an sich selbst kennt und die von jedem Menschen jederzeit ausgelebt werden (können). Susan Neiman zufolge bedroht dieses Böse nicht die Vernunft des Menschen. Allerdings zeigt das banale Böse im Arendt’schen Sinne von »der Weigerung, sich der Vernunft so zu bedienen, wie wir es sollten.« (Neiman. Böse. S. 442). Und es bedarf nicht einmal besonderer Umstände und totalitärer Systeme, damit der Mensch diese Eigenschaften ausprägt. Was sprachlos macht, sind nicht diese Charaktereigenschaften, sondern das Übergehen ethischer Maßstäbe. Und hier liegt auch die Gefahr des Bösen, denn diese Tatsache wird nicht beachtet. Das Böse ist nicht ein Teufel oder der Teufel, der im Nebulösen als Widersacher Gottes herumspukt, auch ist es nicht der teuflische Verführer, die Schlange, der den anscheinend schwachen Menschen zu Untaten verleitet. Das Böse ist in jedem Menschen. Wann immer der Mensch sich von seinen Mitmenschen abwendet oder gar auf brutale Weise gegen sie wendet, personifiziert er selbst das schlimmstmögliche Böse. Dies ist eine Gefahr, die sich Menschen nicht wirklich bewusst machen, aber die sie beständig bedroht. Mit ihrem Bericht zu Eichmann will Hannah Arendt gerade auf die Allgegenwart des Bösen aufmerksam machen. d)

Vom Überschreiten der Grenzen

Hannah Arendt wurde für ihren Bericht scharf kritisiert und angegriffen. Die Kritik richtete sich aber hauptsächlich gegen zwei Punkte. Zum einen gegen Arendts Darstellung der Judenräte und ihrer Rolle während des NS-Regimes, zum anderen gegen den – Vgl. hierzu auch Neiman. Böse. S. 441 f.: »Verneint wird damit [mit der Banalität des Bösen] vor allem, daß [sic!] wir übernatürliche Mächte, göttliche oder teuflische, zu seiner [des Bösen] Erklärung anführen müssen.«

47

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Die Vertreibung des Teufels

falsch verstandenen – Begriff von der Banalität des Bösen, der im Allgemeinen für eine Verharmlosung dessen galt, was niemals hätte geschehen dürfen. Es ist hier nicht der Ort, über die Darstellung der Rolle der Judenräte zu diskutieren, und auch über die Bedeutung des Begriffes ›Banalität des Bösen‹ wurde bereits gesprochen. Worauf jedoch nicht verwiesen wurde, ist eine bestimmte Gefahr, die mit der Banalität des Bösen in Zusammenhang steht. Hannah Arendt weist uns darauf hin: »Es liegt in der Natur menschlicher Angelegenheiten, dass, ist eine Tat erst einmal in Erscheinung getreten und in der Geschichte der Menschheit verzeichnet worden, sie potentiell in der Menschheit fortbestehen bleibt, auch wenn ihre Aktualität längst in die Vergangenheit gesunken ist.« (Arendt. Eichmann. S. 396)

Menschen handeln, indem sie etwas tun. Ihre Taten gleichen einem Ausprobieren. Dabei werden dem Menschen Grenzen gesetzt, z. B. natürliche, d. h. von der äußeren Natur her oder aus der körperlichen Natur des Menschen heraus, oder der Mensch setzt sich selbst Grenzen, z. B. religiöse oder ethische Werte, die es einzuhalten gilt. Jedoch ist der Mensch auch ein Getriebener und so versucht er permanent, die ihm gegebenen Grenzen zu überwinden und zu überschreiten. Dabei ist jede Grenze, die er einmal überschritten hat, eine aufgehobene Grenze, da der Mensch nun weiß, dass es sich hierbei eigentlich nicht um eine Grenze gehandelt hat. Die Überwindbarkeit von Hindernissen gibt ihm die Gewissheit, dass er jede Grenze überschreiten kann, vielleicht nicht sofort, aber in Zukunft, wenn die dazu benötigten Hilfsmittel verbessert wurden. Jede überwundene Grenze ist ein ›Sieg‹, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Der Mensch kann von hier aus weitergehen. Hier aber liegt genau die Gefahr. Der Mensch, der einmal eine Grenze überschritten hat, weiß, dass diese Grenze für ihn nicht mehr gültig ist. Er bricht auf, um weitere Grenzen zu überschreiten. Hannah Arendt sieht deutlich: »wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war« (Arendt. Eichmann. S. 396).

Es liegt eine Gefahr in jeder Überschreitung von Grenzen, vor allem aber auch die Gefahr, dass zu weit gegangen wird. Auf diese Gefahr hat Hannah Arendt in ihrem Werk hingewiesen, ist jedoch von ihren Kritikern überhört worden. 249 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

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Deshalb ist es umso wichtiger, heute auf Hannah Arendts Mahnruf zu hören und bei jeder Grenzüberschreitung zu prüfen, inwieweit das Menschliche einer wie immer gearteten Idee geopfert wird.

Die Bedeutung der Ehrfurcht bei Albert Schweitzer In Albert Schweitzers philosophischem Denken finden sich nun ähnliche Kritikpunkte wieder, die auch schon Rousseau geäußert hat. Auch Schweitzer hält die Kultur und die Philosophie dafür verantwortlich, dass der Mensch sich zum Schlechten verändert. In einigen Punkten nähert er sich hiermit an Rousseau an – ob bewusst oder unbewusst – andere Punkte, die bei Rousseau lediglich angedeutet sind, führt er weiter aus. Aus seiner Kulturkritik entwickelt Schweitzer jedoch, im Gegensatz zu Rousseau, einen ethischen Ansatz, nämlich denjenigen der Ehrfurcht vor dem Leben. Mit dieser Haltung dem Leben gegenüber wird zudem noch das geschätzt, was das Leben als ganzheitliches zu bieten hat. a)

Die falsche Kultur und Weltanschauung

Albert Schweitzers akademisches Leben beginnt mit der Philosophie, obwohl er vor allem durch seine medizinische und humanitäre Leistung bekannt ist. Die Philosophie wird auch für alle seine akademischen, geistigen und praktischen Tätigkeiten das Fundament bilden. Philosophie ist für Schweitzer nicht nur die Achse seines eigenen Lebens und Denkens; er versteht sie auch als den Mittelpunkt allen kulturellen Lebens überhaupt. Wo Philosophie versagt, versagt die Kultur. Schon in seiner frühen Promotion von 1899 Die Religionsphilosophie Kant’s [sic] wird Kultur zu einem Kernbegriff seines Denkens. In der Kritik an Kants Philosophie, insbesondere an seiner Ästhetik, stellt Albert Schweitzer heraus, dass Kant sein Denken nicht in den Rahmen eines Kulturdenkens einspannen konnte. Insbesondere in seiner Kritik am Begriff des Erhabenen wird dieser Mangel deutlich: »Die notwendige organische Verbindung des Schönen mit dem Erhabenen ist nirgends durchgeführt. Gemeinsam sind beiden nur die Voraussetzungen: sie bedürfen beide der Kultur, jedoch das Erhabene in erheblicherem

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Die Vertreibung des Teufels

Maße als das Schöne. Auch der ethische Charakter dieser vorausgesetzten Kultur […] kommt für das Schöne in weit geringerem Maße zur Geltung.« (Schweitzer. Religionsphilosophie. S. 256)

Schweitzer macht schon in dieser frühen Schrift deutlich, dass das Wiederfinden der Freiheit, des eigentlichen Symbols des Erhabenen, keine rein subjektive Leistung des Menschen sei, sondern diejenige seiner Kultur. Erst hier vervollständige sich für Schweitzer die Ethik des Menschen und seine Sittlichkeit als ein »geistiges Naturverstehen« (vgl. Grätzel. Schweitzer. S. 49–50). Sein philosophisches Denken entwickelt Schweitzer in seinem Werk Kulturphilosophie weiter, dessen 1. und 2. Teil, nämlich Verfall und Wiederaufbau der Kultur und Kultur und Ethik, zu seinen Lebzeiten 1923, der 3. Teil Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben im umfangreichen Nachlass erschienen ist. Der geplante 4. Teil Der Kulturstaat ist nie verfasst worden. Kultur an sich bedeutet für Schweitzer in erster Linie Fortschritt (vgl. Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 33). Dieser vollzieht sich einerseits in materieller, andererseits in geistiger Hinsicht und zwar sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch bei jedem Einzelnen selbst. Dieser Fortschritt besteht im Allgemeinen darin, den »Kampf ums Dasein« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 33) herabzusetzen. Dies heißt stetig bessere Lebensbedingungen für den Menschen zu schaffen, damit dieser sich für sich und als Gesellschaft weiterentwickeln kann. Im Kampf ums Dasein steht dem Menschen zum einen die Natur gegenüber. Sie kann dem Überleben des Menschen als solchem und im Allgemeinen, z. B. durch Naturkatastrophen, schädlich sein. Aber auch der Mensch steht sich selbst feindlich entgegen. Hass, Neid, Intrigen etc. hindern einzelne Menschen am eigenen Fortschritt und behindern letztendlich die Gesellschaft. Dieser Kampf ums Dasein kann aber nach und nach durch die Kultur verringert werden, die Fortschritt ist und Fortschritt bringt und die von der menschlichen Vernunft geleitet wird. Der materielle Fortschritt ist für Schweitzer demzufolge die »Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 33). Dank der Vernunft erforscht der Mensch die Natur, und er erhält hier genaue Kenntnisse. Diese nutzt er dann, um sich die Naturkräfte in Form von Maschinen nutzbar zu machen. Der geistige Fortschritt ist für Schweitzer die »Herrschaft der Vernunft über die menschlichen Gesinnungen« (Schweitzer. Kultur251 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

philosophie. S. 33), nämlich die unterschiedlichen Leidenschaften und Vorurteile der Menschen. Diese sollen durch die Vernunft reguliert werden. Dabei sollen nicht die Leidenschaften zugunsten der Rationalität gebändigt und unterdrückt werden. Wohl aber soll der Mensch dank seiner Fähigkeit zu denken und zu analysieren dazu gebracht werden, seinen Egoismus zu zügeln und sich in Altruismus zu üben. Der geistige Fortschritt, der von Schweitzer auch der ethische genannt wird (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 34), ist für ihn der bedeutendere. Nur hierdurch erzieht der Mensch sich selbst hin zu einem besseren Wesen, das letztendlich im Frieden mit anderen Menschen leben und die Welt zu einem Ort machen kann, wo es niemandem an etwas mangelt und jeder den anderen unterstützt. 48 Als Philosoph möchte Schweitzer deshalb eine Lebensphilosophie bieten, die allgemein gültig und deshalb auch für jeden verständlich ist. Sein philosophisches Ansinnen soll deshalb nicht nur für einen Teil der Bevölkerung gelten und verständlich sein. Vielmehr möchte er die gesamte Weltbevölkerung damit ansprechen. Er sucht also nach einem neuen philosophischen, vor allem aber ethischen Weg, der den geistigen Fortschritt im Allgemeinen weiterbringen kann. Um einen neuen und besseren Weg der Philosophie und vor allem der Ethik aufzuweisen, beginnt er in seiner Schrift Kulturphilosophie mit der Beschreibung dessen, was er die »Tragödie der abendländischen Weltanschauung« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 75) nennt. Sein erster Kritikpunkt betrifft die allgemeine Welt- und Lebensbejahung in der abendländischen Philosophie. Schweitzer zufolge existiere hier die Gewissheit der Welt- und Lebensbejahung. Es wird also davon ausgegangen, dass die Welt und das Leben auf der Welt eine Bedeutung haben. Somit wird allem ein positiver und guter Grundcharakter zugewiesen und alles, was geschieht, birgt einen Sinn in sich. Alles sei deshalb von Grund auf gut und hätte auch deshalb einen Sinn. In diesem Sinne beinhaltet der Begriff der Welt- und Lebensbejahung, dass die Welt einen Sinn habe und dass dieser Welt-Sinn

Vgl. hierzu auch Müller. Ethik. S. XII: »Für Schweitzer ist das Streben des Menschen nach geistigem Fortschritt, also das stete Bemühen um ethische Weiterentwicklung des je einzelnen Menschen, und in der Folge auch der menschlichen Gesellschaft als ganzer, das entscheidende Ziel von Kultur, in dessen Dienste jeder technische Fortschritt zu stehen habe.«

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Die Vertreibung des Teufels

dazu beitragen könne, auch der Menschheit als solcher und jedem Individuum einen Lebenssinn zuzusprechen. Letzterer sei allumfassend und einzigartig. Diese Annahme führe allgemein zu einer »optimistisch-ethischen Deutung der Welt« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 78). Mit dieser Art von Weltanschauung verleiht das abendländische Denken dem menschlichen Leben selbst Sinn. Solche Weltanschauungen können Ideologien sein, wie z. B. der Kommunismus, oder auch Vermutungen wie z. B. die philosophiegeschichtliche Annahme, dass die Geschichte der Menschheit auf ein Endziel zuläuft, oder dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Diese unterschiedlichen Weltanschauungen bestimmen die Art und Weise, wie Menschen ihr eigenes Leben begreifen und welchen Sinn sie demgemäß ihrem Leben zusprechen. Dem jedoch widerspricht Schweitzer. Für ihn sind dies nur Annahmen und Interpretationen, die von den Philosophen gemacht werden und die jeder Grundlage entbehren. Schweitzers zweiter Kritikpunkt betrifft die Begriffe Welt- und Lebensanschauung und die Bedeutung, die diesen Begriffen beigemessen wird. Indem er Weltanschauung und Lebensanschauung einander gegenüberstellt, bemerkt er, dass letztere sehr häufig zweitrangig behandelt wird. Als Weltanschauung bezeichnet Schweitzer den »Inbegriff der Gedanken, die die Gesellschaft und der Einzelne über Wesen und Zweck der Welt und über Stellung und Bestimmung der Menschheit und des Menschen in ihr in sich bewegen.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 59) Weltanschauung ist für ihn die Art und Weise, wie der Einzelne die Welt sieht und über sie denkt; sie ist nicht im Sinne einer Ideologie zu verstehen. Der Begriff Weltanschauung geht aber über den Einzelnen noch hinaus und bezieht sich ebenfalls auf die gesamte Gesellschaft. Im Unterschied zur Weltanschauung ist Lebensanschauung für Schweitzer eine aus der persönlichen Erfahrung des Lebens entstandene Sinn- und Wertschätzung. Der Sinn kann also nicht aus der Weltanschauung entnommen werden. Weltanschauung ist für Schweitzer eine mögliche Interpretation von Welt, deren Sinn und dem Sinn, der dem Menschen in der Welt zukommt. Die Lebensanschauung darf also nicht aus der Weltanschauung hervorgehen oder mit ihr identifiziert werden, denn die Weltanschauung kann sich ständig ändern und somit ständig den Sinn des Lebens verändern, der nicht einzigartig und allgemein gültig wäre. Für Schweitzer aber ist es offensichtlich, dass die Weltanschauung sich 253 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

aus der Lebensanschauung entwickeln muss, nämlich aus der Art und Weise, wie der Einzelne sein eigenes und das Leben im Allgemeinen sieht und welchen Sinn er ihm durch diese Sicht zuweist. Es ist für Schweitzer unmöglich, »der Welt, wie sie ist, […] einen Sinn beizulegen, in dem die Zwecke und Ziele des Wirkens des Menschen und der Menschheit sinnvoll sind.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 79) Er kann in der Welt »nichts von einer sinnvollen Evolution [entdecken], in der unser Wirken eine Bedeutung bekommt« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 79). Die Natur ist sinnfrei. Sie wirkt und lebt aus ihr selbst heraus. Der Mensch als Produkt der Natur kann also daraus für sich keinen Sinn entwickeln. Ein dritter Kritikpunkt betrifft die Entwicklung der Philosophie selbst. Die Geschichte der abendländischen Philosophie besteht nun für Schweitzer aus vielen unterschiedlichen Welt- und Lebensanschauungen. Diese wurden jedoch ihm zufolge niemals hinterfragt. Und alles, was sich an Fragen aus diesen Annahmen ergibt, wird immer spezifischer und theoretischer und beschäftigt sich immer weniger mit dem menschlichen Leben und dem Leben als solchem. Insofern scheint Albert Schweitzer, dass das tatsächliche Leben in der abendländischen Philosophie immer weniger Beachtung findet. Philosophie wurde letztendlich immer mehr zum Philosophie-Treiben. Letzteres wurde demzufolge immer weniger elementar und immer unnatürlicher, denn es verlor jede Verbindung mit den grundsätzlichen Fragen des Lebens und fand seine Befriedigung in der Bearbeitung von rein akademischen, nämlich theoretischen philosophischen Fragen. Letztendlich bedauert Schweitzer, dass diese Art zu Philosophieren ohne jede Weltanschauung von statten geht – das Leben wird der Theorie untergeordnet. Für Schweitzer jedoch besteht die Aufgabe der Philosophie und vor allem diejenige der Ethik darin, Kultur zu gründen. Dies kann allerdings ein reines Betreiben von Philosophie im Theoretischen nicht leisten – es schafft keine Kultur und insofern muss es versagen. Die abendländische Philosophie schafft unbeständige Fragmente und die abendländische Kultur bleibt für Schweitzer »fragmentarisch und ungesichert« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 75) – und letztlich ohne jegliche Weltanschauung. Das offenkundige Bedürfnis der Menschen nach etwas, das mehr Gehalt und Tiefe bietet, wird von so-genannter »Metaphysik« erfüllt, die von Persönlichkeiten repräsentiert wird, die – wie Schweitzer es nennt – »über besondere psychische Erlebnisse zu verfügen glauben« (Schweitzer. Kulturphilo254 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

sophie. S. 76), also Scharlatane sind. Letztendlich geht Schweitzer sogar so weit darzulegen, dass die positive Weltanschauung, die zu seiner Zeit aller Lebensanschauung vorsteht und von den meisten Philosophen unterstützt wird, zum Versagen der Philosophie geführt hat und sogar einer der Gründe für den Weltkrieg war. 49 b)

Wesen und Aufgabe der Philosophie

Trotz aller Kritik streitet Schweitzer die Welt- und Lebensbejahung als solche nicht ab. Jedoch sucht er nach einer Welt- und Lebensbejahung und somit nach einer Ethik, die der Mensch braucht, »um des wertvollen Wirkens willen« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 75). Dies bedeutet, dass die Ethik dem menschlichen Leben einen wirklichen Sinn und eine wirkliche Bedeutung geben muss und beides soll allgemein gültig sein. Die Philosophie als solche und ihre Aufgabe sollte aber laut Schweitzer ein »Ringen um Weltanschauung« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 78) sein 50, nämlich gerade um die allgemein gültige Weltanschauung. Um dorthin zu gelangen, muss der Mensch sich bewusst machen, dass die abendländische Philosophie nur ein Teil der Philosophie ist, die in der Welt gelehrt wird. Was Schweitzer als Tragödie der Philosophie bezeichnet, bezieht sich allein auf die europäische Philosophie, die vielleicht weltweit bekannt sein mag, jedoch nicht das allgemeine Denken repräsentiert. Betrachtet man nun z. B. die Philosophie, die in Indien vorherrschend ist, so findet Schweitzer den Weg der »Weltanschauung der Welt- und Lebensverneinung« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 79). Diese erscheint ihm vom Wesen her realistischer und wahrhaftiger als die abendländische »optimistisch-ethische Deutung der Welt«, auf die er »in jeder Weise« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 79) verzichten will. Wenn Schweitzer jedoch eine Weltanschauung finden will, die allgemein gültig sein soll, muss er einen Sinn in der Welt finden, denn eine Weltanschauung braucht immer einen Sinn als Grundlage. 49 Vgl. Müller. Ethik. S. XI verweist sogar darauf, dass die »These vom Verfall der Kultur« der Ausgangspunkt für Albert Schweitzers Überlegungen ist. Diesem »Niedergang der Kultur« will Schweitzer mit seiner Ethik entgegenwirken. 50 Müller. Ethik. S. XIV fasst hier zusammen: »[…] es sei ihr [der Philosophie] nicht gelungen, eine umfassende Weltanschauung zu ersinnen, welche als Fundament einer solch steten Beschäftigung des Menschen mit sich und der Welt hätte fungieren können.«

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Nachdenken über den Bösen

Letzterer kann aber weder aus der konkreten Welt noch aus der Natur stammen. Da der Mensch diesen Sinn in der Welt dank seiner Vernunft schafft, muss dieser Lebenssinn durch seine eigene Anschauung seiner selbst und des Lebens geschaffen werden. Deshalb muss auch die Weltanschauung aus der Lebensanschauung hervorgehen. Um aber zu einer Lebensanschauung zu gelangen, muss der Mensch sich zunächst, nach Schweitzer, von jeder Art von Weltanschauung befreien. Hierzu muss der Mensch eine Haltung einnehmen, die Schweitzer ›Resignation‹ (vgl. Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 80) nennt. Dieser Begriff bezeichnet keineswegs eine negative Weltsicht oder eine pessimistische Einstellung der Welt gegenüber. Resignation im Sinne Schweitzers bedeutet ein Sich-freiMachen von jedem Begriff, der eine Bedeutung von Welt im Sinne einer positiven Interpretation eines Welt-Sinns in sich birgt. Resignation bedeutet also ein Sich-Frei-Machen von Weltanschauung. Durch diese Art von Resignation kommt der Mensch zu einer neutralen Einstellung der Welt gegenüber. Wenn der Mensch dann keinen von außen vorgegebenen Sinn mehr erfüllen muss, kann er sich auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist, nämlich das Leben selbst. Dadurch gelangt Schweitzer zu der Feststellung, dass das Leben selbst eigentlich nur eines kennt, nämlich den Willen zum Leben 51. Alles in der Natur und vor allem die Natur selbst hat diesen Willen zum Leben. Wir können diesen z. B. in jedem Frühling erleben oder jedes Mal, wenn zwischen Steinen und Beton Gräser zu sprießen beginnen. Dies sind einfache Beobachtungen, die jeder in der Natur und im Leben machen kann. Und aus diesen Beobachtungen resultiert die Feststellung, dass der Wille zum Leben überall vorhanden ist. In der Resignation kann der Mensch sich dieses Willens zum Leben bewusst werden. Sie ist keine rein kognitive oder vernunftgeleitete Methode, sondern eher eine intuitive Art der Lebens-Erfahrung. Sie resultiert nicht allein aus dem Denken, sondern aus dem gelebten Leben, dem Erfahren und dem Beobachten. Durch die Resignation gelangt der Mensch zu einer inneren Lebensgewissheit, nämMüller. Ethik. S. XXV f. verweist auf die Beeinflussung Schweitzers durch Schopenhauer, die sich in der Verwendung dieses Begriffes zeigt. Ebenso wie bei Schopenhauer sei das Erkennen des »Willens zum Leben« nicht rein rational, sondern verdanke sich in erster Linie dem Erleben: »Der Mensch erlebt in sich, in seinem je individuellen Lebenswillen, den universellen Lebenswillen […]« (Müller, 2012, S. XXVI).

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Die Vertreibung des Teufels

lich dem Willen zum Leben. (Vgl. Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 82) Diesen Willen zum Leben erfährt der Mensch nun in allem Lebendigen und auch in sich selbst. Durch diesen Willen erfährt der Mensch gleichzeitig noch mehr, denn in diesem Lebenswillen liegt zugleich der Sinn seines Lebens: »Mein Leben trägt seinen Sinn in sich selber« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 82). Hiermit hat Schweitzer die Lebensanschauung gefunden, die jedem Denken und jeder daraus resultierenden Weltanschauung tatsächlich zugrunde liegt. Wer nun über sich selbst und über den Willen zum Leben, der in ihm und in der ihn umgebenden Welt ist und an dem er selbst teilhat, nachdenkt, kommt laut Schweitzer notwendigerweise zu der Schlussfolgerung: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 308) Der Mensch muss sich also auch mit der Koexistenz des Lebens, das leben will, auseinandersetzen und darüber nachdenken. Begreift der Mensch den Willen zum Leben in sich und den Willen zum Leben in jedem lebendigen Wesen, wird er letztendlich ehrfürchtig gegenüber dem Leben an sich und allem Leben, das ihn umgibt, denn er erkennt die Vielheit und die Einzigartigkeit dieses Lebens. Hieraus resultiert dann für Albert Schweitzer die Weltanschauung, die er »Ehrfurcht vor dem Leben« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 82) nennt und die für ihn »die unmittelbarste und zugleich tiefste Leistung meines Willens zum Leben« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 82) ist. Durch die Ehrfurcht vor dem Leben kommt der Mensch – sowohl intuitiv als auch durch Nachdenken – zu einer Lebens- und Weltbejahung, die gehaltvoll ist, da sie das Leben selbst einbezieht. Gleichzeitig ist sie auch universell, da sie von jedem verstanden und erlebt werden kann. Die Ehrfurcht vor dem Leben ist der Dualismus von Erkennen und Wollen, von Denken und Gefühl. Beides muss notwendigerweise miteinander verbunden sein, um zu einer Lebens- und Weltbejahung zu gelangen. Letztere mündet gar in einer Ethik, denn die Ehrfurcht vor dem Leben ist für Schweitzer das »Grundprinzip des Sittlichen« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83). Aufgrund dieses Prinzips kann jeder Gut und Böse voneinander unterscheiden, denn wer die Welt und das Leben mit Ehrfurcht begreift, erkennt, »dass das Gute in dem Erhalten, Fördern und Steigern von Leben besteht und dass Vernichten, Schädigen und Hemmen von Leben böse ist.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83) Somit kommt Schweitzer zu einer einfachen, aber grundlegen257 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Nachdenken über den Bösen

den Auffassung von Gut und Böse. Das Gute ist das Aufbauende, während das Böse das Zerstörende ist. Das Böse kann demnach auch bei Schweitzer nicht als Selbständiges gesehen werden, da es nur dort zerstören kann, wo etwas existiert, nämlich da, wo etwas bereits aufgebaut ist. Schließlich erkennt Schweitzer: »In der Ehrfurcht vor dem Leben geht mein Erkennen in Erleben über.« (Schweitzer, Kulturphilosophie, S. 82), denn »ich [gebe] meinem Leben und allem Willen zum Leben, der mich umgibt, einen Wert, halte mich zum Wirken an und schaffe Werte.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 82)

Indem der Mensch über sein Leben und das Leben als solches nachdenkt, kommt er zu dem Schluss, dass das Leben selbst wertvoll ist, und dies erweckt in ihm das Gefühl der Ehrfurcht. Insofern geht das Erkennen in Erleben über und der Mensch beginnt, den Wert seines Lebens, aber auch den Wert jeden anderen Lebens zu schätzen und schützen zu wollen. Dementsprechend fördert er das Leben, wo er kann, und wirkt aufbauend. Wenn der Mensch sich des Willens zum Leben bewusst wird, erlebt er auch, dass dieser Wille zum Leben nicht nur bei anderen einzelnen Lebewesen zu finden ist, sondern dass es einen universellen Willen zum Leben gibt, der alles umgibt. Dies ist für Schweitzer das Äußerste, was die Erkenntnis begreifen kann. Dies bedeutet für ihn, dass »Welt- und Lebensbejahung und Ethik irrational« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 84) sind. Irrational sind diese Welt- und Lebensbejahung insofern, als sie nicht mehr nur rational zu begreifen sind, sondern hauptsächlich vom Gefühl her. Sie sind aber auch deshalb irrational, weil somit der Mensch über das rein Rationale hinausgeht und auch philosophisch zur Mystik gelangt. Es ist für Schweitzer eindeutig: »Versucht man ohne dieses Irrationale auszukommen, so entsteht leblose und wertlose Weltanschauung und Lebensanschauung.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 84) Es ist offensichtlich für Schweitzer: »[a]lle wertvolle Überzeugung ist irrational und hat enthusiastischen Charakter« (Schweitzer. Kulturphilosophie S. 84), denn nur durch Gefühl und Begeisterung kann etwas wirklich umgesetzt werden. Insofern bestätigt Schweitzer noch die Bedeutung von Intuition und Gefühl für das Leben jedes Menschen. Denn nur durch das Gefühl kann der Mensch das Konkrete übersteigen. Insofern ist für Schweitzer »[a]lle tiefe Weltanschauung […] Mystik« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83) und 258 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

»[…] alles Denken, wenn es sich zu Ende denkt, in Mystik ende[t]« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83). Das, was Schweitzer als Metaphysik bezeichnet, kann also nicht das Bedürfnis nach Spiritualität der Menschen befriedigen, denn Metaphysik ist für ihn ein theoretisches Konstrukt. In der Welt herrscht der universelle Wille zum Leben und derjenige, der über die Welt nachdenkt und sie erlebt, wird notwendigerweise zur Mystik kommen: »Der Weg zur wahren Mystik führt durch das rationale Denken hindurch zum tiefen Erleben der Welt und unseres Willens zum Leben hinauf« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 84–85), »[d]enn in Welt- und Lebensbejahung und in Ethik erfülle ich den Willen des universellen Willens zum Leben, der sich in mir offenbart.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83)

Für Schweitzer ist die Ehrfurcht vor dem Leben der Weg, wie Philosophie universell und allgemein gültig werden kann. Dieser Begriff kann jeden in der Welt erreichen; er ist allgemein verständlich. Gleichzeitig wird dies auch zu einer tieferen Bedeutung des Lebens führen und so appelliert Schweitzer: »Wir müssen alle durch Denken religiös werden.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 85) 52 Religiosität ist hier in einem allgemeinen Sinn zu verstehen und beschreibt die Beziehung, die Albert Schweitzer mit dem Begriff Ehrfurcht umschreibt. Die Ehrfurcht vor dem Leben ist nicht allein eine Weltanschauung, eine Lebens- und Weltbejahung oder eine theoretische Form der Ethik, sondern zugleich ein Appel, bewusst in der Welt zu handeln. Schweitzer bekräftigt seine Überzeugung, wenn er sagt: »Bejahung des Willens zum Leben, der um mich herum in die Erscheinung tritt, ist nur dadurch möglich, dass ich mich selber an anderes Leben hingebe. Aus innerer Nötigung, ohne den Sinn der Welt zu verstehen, wirke ich Werte schaffend und Ethik übend in der Welt und auf die Welt ein.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83)

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Mensch von nun an nur Gutes tut und fördernd in der Welt dem Leben gegenüber agiert. Vielmehr ist er dazu aufgerufen, bewusst zu handeln. Dies bedeutet, dass er sich selbst bewusst macht, wenn er vernichtet und hemmt und die Verantwortung für diese Handlungen und die Konsequenzen übernimmt. Auf die bleibende Schuldproblematik haben bedeutende Vgl. hierzu Müller. Ethik. S. XXVII: »Mystik ist für Schweitzer nun aber kein Antipode zum Denken, sondern eine Weise des Denkens, ja sogar die tiefste bzw. vollendete Denkweise.«

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Nachdenken über den Bösen

Schweitzer-Kommentatoren immer wieder zu Recht hingewiesen, zuletzt Claus Günzler: »So ungewöhnlich Schweitzers Ansatz in der Geschichte der Ethikentwürfe ist, so hilfreich kann er für die Klärung der Gegenwartssituation sein […]: Wir können auch mit noch so plausibel begründeten Richtlinien nicht schuldfrei agieren, sondern müssen das, was wir tun, im Bewusstsein der damit verbundenen Konflikte tun und in Eigenverantwortung prüfen, welches Maß an Schuld wir auf uns zu nehmen bereit sind.« (Günzler. Wohlergehen. S. 286 f.)

Für Schweitzer ist es auch offensichtlich, dass die Philosophie und hier vor allem die Ethik Kultur begründen muss. Durch die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben soll den Menschen ihr eigenes Leben bewusst werden und auch das Leben all dessen, was sie umgibt. Nur so kann auch eine Kultur entstehen, die reich und tief ist – und in gewisser Weise auch ganzheitlich, da sie auf bewusste und verantwortungsvolle Weise entsteht. Die Ehrfurcht vor dem Leben macht dem Menschen nämlich seine Verantwortung bewusst und führt somit, Albert Schweitzer gemäß, zu »einer […] Veredelung unserer individuellen, sozialen und politischen Gesinnung« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 85). Aber Schweitzer zielt nicht nur auf eine Veredelung der Gesinnung. Denken und Nachdenken über die Welt allein genügt nicht; es muss auch zu verantwortungsvollen Taten führen, denn: »[…] die Weltanschauung [ist] die Keimzelle aller Ideen und Gesinnungen, die für das Verhalten des Einzelnen und der Gesellschaft bestimmend sind.« (Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 86) Kultur ist nun Schweitzer zufolge Ausdruck des Handelns der Menschen in der Welt. Somit ist Kultur die gelebte Philosophie und Ethik. Deshalb müssen Philosophie und Ethik dazu beitragen, Kultur aufzubauen. Dann erst werden Theorien zu einer zielgerichteten Aktivität. Der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben sollte insofern zu einer Kultur der Ehrfurcht und des Respekts führen, die erhält, anstatt unnötig zu zerstören und die Verschiedenheit des Seienden und der Lebewesen akzeptiert. Dies wäre ein großer intellektueller und ethischer Fortschritt im Sinne Schweitzers. Hiervon ausgehend könnte eine Kultur entstehen, die gehaltvoll und tiefgründig und ganzheitlich wäre. In Albert Schweitzers Denken ist das Gute grundlegend für alles Existierende. Auch das Fortbestehen und das Sich-Entwickeln-Kön260 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Die Vertreibung des Teufels

nen gehört zum Guten, das weiterhin in der Welt herrscht. Das Böse ist alles, was das Existierende vernichtet und hemmt. Dies kommt nicht allein dem Menschen zu, denn bereits in der Natur selbst und bei allen anderen Lebewesen kommt es immer wieder zu Behinderungen und Zerstörungen. Gut und Böse sind hier zunächst keine moralischen Kategorien, sondern Eigenschaften des Natürlichen und somit alles Lebendigen. Erst der Mensch erkennt das Gute und das Böse in der Natur und für ihn wird diese Erkenntnis zum moralischen Kriterium. Letzteres bestimmt sein Handeln. Wenn er also das natürliche Prinzip des Guten und Bösen seinem Handeln zugrunde legt, so handelt er, Schweitzer zufolge, verantwortungsbewusst und verantwortungsvoll dem Leben gegenüber. Das Böse kann nicht vollständig verschwinden, denn es ist in der Natur gegeben. Dieses Wissen macht Schweitzers Kategorisierung von Gut und Böse so allgemein gültig und damit für jeden nachvollziehbar. In der Natur gilt das Prinzip des Fressens und Gefressen-Werdens, um zu überleben. Jedoch töten Karnivoren nur so viele Tiere, wie sie brauchen, um davon satt zu werden. Damit rotten sie keine anderen Lebewesen vorsätzlich aus. Der Mensch tut dies bewusst oder unbewusst, da er mehr verbraucht, als er zum tatsächlichen Überleben braucht. Auch hat der Mensch Charaktereigenschaften wie z. B. Neid, Rachsucht oder Habgier, die er bewusst oder unbewusst ausspielt, um seinen eigenen Artgenossen zu schaden. Aber der Mensch ist auch fähig, sich dies bewusst zu machen und das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Dann kann er eine Haltung dem Leben und der Natur gegenüber einnehmen, nämlich die Ehrfurcht vor dem Leben, durch die er den Wert allen Lebens zu schätzen lernt und das Leben respektiert. Dadurch kann er abwägen, welche Schuld des Zerstörens, Tötens und Hemmens er auf sich nimmt, und welche er bewusst vermeidet. Der Teufel als Personifikation des Bösen oder als Widersacher eines absolut Guten kommt bei Schweitzers natürlicher Ethik nicht mehr vor, weil das Böse Teil der Natur ist und der richtige Gebrauch der Vernunft diesen natürlichen Kern immer im Auge hat. Leben ist deshalb für Schweitzer immer ein Abwägen, bis hin zu dem tragischen Konflikt, dass sich Leben nur auf Kosten anderen Lebens erhalten kann.

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IV) Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Die Philosophen und literarischen Topoi, die bisher vorgestellt wurden, geben Erklärungen dahingehend, dass das Böse in der Welt vorhanden ist, wie es entsteht und wie es verstanden werden kann. Das Böse wird dabei nicht negiert, sondern gehört zum Leben und Sein des Menschen dazu. Vor allem die Philosophien suchen nach Erklärungen für das Böse, führen aber auch Überlegungen dazu an, wie das Böse vielleicht nicht gerade bezwungen, aber doch durch den Menschen selbst oder durch das Denken und das Anwenden der menschlichen Vernunft im Zaum gehalten werden kann. Dass der Andere zum Bösen gemacht wird, wurde vor allem in den literarischen Topoi des Paktes mit dem Teufel und dem künstlichen Menschen deutlich. In der Literatur ist in diesen beiden Fällen der Andere der Böse, der zwar als Mensch in Erscheinung tritt, aber doch kein Mensch ist. Im Falle des Paktes mit dem Teufel gehört er einer anderen Macht an, als künstlicher Mensch einer vermeintlich anderen Spezies. Tatsächlich aber werden im Alltag immer wieder andere Menschen als die Bösen gesehen, z. T. öffentlich angeprangert und verteufelt. Dies kann den Nachbarn betreffen, der sich nicht so verhält, wie es der Andere erwartet, die Mitschüler, die nicht die richtige Markenkleidung tragen, Menschen, die einer anderen politischen Gesinnung oder Religion angehören oder Flüchtende, die in einem fremden Land Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen. Die Verteufelung des Anderen geschieht, obwohl es sich bei ihnen um andere Menschen handelt, die weder über- noch unnatürlich sind, und obwohl jeder Mensch des eigenständigen Denkens und des Gebrauchs seiner eigenen Vernunft fähig ist. Im Folgenden soll nun der Versuch einer philosophischen Erklärung unternommen werden. Dies geschieht vor dem Hintergrund der bisher aufgeführten Autoren und Philosophen und der Erkenntnisse, die aus den Einzelinterpretationen gewonnen wurden. Auf262 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und die Gemeinschaft

bauend auf der Zusammenführung letzterer wird der Mensch in seiner Gemeinschaft mit anderen Menschen und sich selbst, sein Bezug zum Anderen und schließlich der Andere und der Umgang mit ihm betrachtet. Dies soll zeigen, warum der Mensch von seiner Vernunft einen so schlechten Gebrauch macht und warum wir den Bösen zwar los sind, die Bösen aber weiterhin bleiben.

1.

Der Mensch und die Gemeinschaft

Niemand ist in seinem Leben allein. Jeder lebt zu jeder Zeit von Menschen umgeben in einer Gemeinschaft. Familie, Nachbarn, Freunde, Kollegen, aber auch Menschen, die der Mensch nicht kennt, die ihn umgeben, weil er sich an einem Ort befindet, an dem sich diese Menschen auch befinden, wie z. B. im Restaurant, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei einem Konzert etc. gehören zu dieser Gemeinschaft. Dieses bewusste oder unbewusste, gewollte oder ungewollte Zusammensein mit Anderen ist von großer Bedeutung für den Menschen selbst und für sein Leben.

Das Beziehungsgeflecht In seiner Dissertation L’Action – Die Tat spricht Maurice Blondel gleich zu Beginn in seiner Einführung davon, dass der Mensch handelt und somit in der Welt ist, »ohne das Leben gewünscht zu haben, ohne richtig zu erkennen, weder wer ich bin noch ob ich überhaupt bin.« (Blondel. L’Action. S. 27) Diesen Zustand charakterisiert er auch als »das Gespenst, das ich für mich selber bin.« (Blondel. L’Action. S. 27) Martin Heidegger thematisiert die von Blondel beschriebene existentielle Erfahrung mit seiner These der Geworfenheit des Menschen (vgl. Heidegger. Sein. S. 179) in Sein und Zeit. 53 Der Mensch weiß nicht, woher er kommt, und findet sich in einer Alltäglichkeit wieder, in deren unpersönlichen Charakter er immer wieder verfällt. Zwischen einem individuellen Sein und einem entpersönlichten Man

Die Ähnlichkeit der Gedanken ist frappierend. Allerdings ist eine gegenseitige Beeinflussung nicht nachweisbar.

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Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

hin- und hergeworfen sucht der Mensch nach seinem wahren Selbst, das ihm nicht bewusst ist. Dem widerspricht Hannah Arendt, denn für sie ist jeder einzelne Mensch »in eine Geschichte verstrickt« (Arendt. Vita. S. 239–240) 54 und verfällt deshalb niemals der Unpersönlichkeit. Das Verstricktsein in Geschichten macht jeden Menschen zum Einzigartigen. Der Beginn jeder individuellen Geschichte eines Menschen ist seine Geburt. Diese findet bereits innerhalb von Geschichten Anderer statt. Es ist von Bedeutung, dass jeder Mensch in die bereits bestehende Geschichte von zwei anderen Menschen hineingeboren wird und damit zugleich in ein »Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten« (Arendt. Vita. S. 226), wie Hannah Arendt es formuliert, das durch die Geschichte der Eltern besteht und das sich durch die Geburt des neuen Menschen weiterentwickelt. Der Mensch ist nicht von ungefähr in die Welt geworfen, auch wenn es ihm so scheint. Er ist auch nicht allein. Er ist umgeben von einer Familie, die ihm den Start in ein Leben mit anderen Menschen ermöglicht. Er ist umgeben von dem sozialen Umfeld, das sich diese Familie bereits durch ihre Geschichte geschaffen hat. Er ist auch umgeben von Menschen, mit denen er nichts zu tun hat, die er aber trotzdem bewusst oder unbewusst wahrnimmt und die zu der Geschichte gehören, in die er hineingeboren ist. Zu all diesen Mitmenschen steht der neugeborene Mensch in Beziehung. Es sind ihre Geschichten, die bereits vorhanden sind, die um die Geburt herum weiterlaufen und die fortan das Leben des Neugeborenen bestimmen oder begleiten werden. Das Beziehungsgeflecht, in das der Mensch hinein-geboren wird, ist die Grundlage für sein ganzes Leben. Er wird diese Verbindungen sicherlich nicht sein ganzes Leben lang beibehalten, aber durch dieses Beziehungsgeflecht lernt der Mensch den Umgang mit anderen Menschen. Zunächst lernt er, dass er nicht allein in der Welt ist. Dann aber erfährt er, dass es verschiedene Arten von Beziehungen zwischen Menschen gibt. Gleichzeitig erlebt er, dass auch er imstande ist, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, die er nicht kennt. Somit erweitert er selbständig das Beziehungsgeflecht, in das er von Geburt an eingebunden ist.

54

Vgl hierzu Schapp. Geschichten. S. 158: »[…] das Verstricktsein in Geschichten«

264 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und die Gemeinschaft

Auf direkte oder indirekte Weise hat der Mensch immer etwas mit anderen Menschen zu tun. Durch den Umgang mit Menschen, durch das Sich-Verhalten zu ihnen und das gemeinsame Handeln mit ihnen gestaltet der Mensch seine Gegenwart, seine Vergangenheit und seine Zukunft. Von Bedeutung ist hierbei auch die Möglichkeit, dass sich der Mensch seinen Umgang wählen kann. Das Beziehungsgeflecht, in das er hineingeboren wird, bietet zwar eine erste Orientierung in der Welt. Dann aber ist der Mensch frei, sich sein eigenes Umfeld aufzubauen, das seinen Vorstellungen von einem gelungenen Leben entspricht.

Das Erleben Dank der Vernunft ist es dem Menschen möglich, sich selbst, sein Leben und das Leben, das ihn umgibt, aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten. Er kann Abstand davon gewinnen, indem er analysiert und bewertet. Er hat das Bewusstsein und damit nicht nur die Möglichkeit zur Distanz, sondern auch das Vermögen, sich zu erinnern. Das Erinnern geschieht in Bildern, Worten, Gedanken. Es spielt sich auf vielfältige Weise ab, die jedoch immer von zwei grundsätzlichen Komponenten abhängen, nämlich vom Erleben einerseits und vom Erzählen darüber andererseits. Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, das Geschichten vom Erleben erzählt und sich selbst in Geschichten befindet. Das Erleben geschieht als etwas erleben oder als etwas mit jemandem erleben. Erleben soll hier nicht als etwas Besonderes verstanden werden, im Sinne von besonderen Erlebnissen. In erster Linie ist es ein Er-leben; es geht um das alltägliche Leben, das gelebt wird und voranschreitet. Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob es sich um einen routinierten Tages-, Wochen oder Jahresablauf, um allmählich voranschreitende Veränderungen oder um einmalige Ereignisse handelt. Das Erleben des Menschen ist der Umgang mit Dingen, Abläufen oder Eindrücken verschiedener Art. Er geht damit bewusst um oder beachtet sie nicht. In jedem Fall verhält er sich dazu oder handelt; in dem Sinne, als Verhalten eine passive, Handeln eine aktive Art von Umgang mit etwas ist. 265 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Jeder Mensch erlebt seinen Tag und letztendlich sein Leben, indem er lebt und dieses Erleben auf die eine oder die andere Weise erfährt. Dadurch wird die Lebenszeit mit Erfahrungen gefüllt und gestaltet. Gleichzeitig wird eine erfüllte Vergangenheit geschaffen. Der Mensch kann aber auch etwas mit jemandem erleben. Dann ist noch einer oder sind noch mehrere andere Menschen an dem Erleben beteiligt. Auch hier kann der Mensch sich verhalten oder handeln, also ent-individualisierten Praktiken nachahmen oder etwas mit Menschen gemeinsam machen, wie Hannah Arendt dies unterscheidet. Allein das Handeln ist für sie von Bedeutung. (Vgl. Arendt. Vita. S. 33 ff.) Nur Handlungen konstituieren demnach das wahre Erleben von Welt und nur durch das gemeinsame Miteinander-Tun entwickeln sich Geschichten und Geschichte. Jedoch entwickeln sich Geschichten nicht allein durch Handeln, wie Hannah Arendt dies ausführt. Geschichten entwickeln sich auch, wenn Menschen nicht mit anderen Menschen zusammen sind oder wenn sie sich verhalten, anstatt zu handeln. Das reine Beobachten von etwas oder jemandem ist ebenso sehr Erleben wie das Imitieren von Modeerscheinungen. Jeder Umgang, ob passiv oder aktiv, mit etwas oder jemandem konstituiert das Erleben von Welt, das sich in Geschichten ausdrückt. Zur Geschichte wird das Erleben aber vor allem durch Sprache und durch Bilder gemacht. Die Bilder, die aus den Sinneseindrücken gewonnen werden, spiegeln das Erlebte und die Eindrücke wider, konstituieren und verarbeiten sie, wobei Wichtiges wiederholt und Unwichtiges vergessen wird. Das Sprechen fasst das Erleben in Worten zusammen, und im Sprechen strukturiert sich das Erleben. Das sich Vergegenwärtigen des Erlebens durch Sprache muss nicht mit dem tatsächlich Erlebten übereinstimmen. Auch hier wird Wichtiges von Unwichtigem unterschieden, Peinliches ausgelassen, Leistungen überhöht und letztendlich pointiert. Das erzählte, wiederholte Erleben wird zur Geschichte, an die sich der Mensch erinnern kann. Hierdurch verbindet er die Geschichte(n), aus der/denen er hervorgegangen ist, mit seiner eigenen Geschichte. Das, was vom Erleben übrigbleibt, sind letztendlich Geschichten, die jemand einem Anderen oder einer Gemeinschaft (oder sich selbst) erzählt. Das Erleben findet aber immer in Gemeinschaft statt, nämlich entweder mit Anderen oder mit sich selbst.

266 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und er selbst

2.

Der Mensch und er selbst

Obwohl der Mensch von anderen Menschen umgeben ist, Beziehungen zu ihnen entwickelt und vor allem durch diese Beziehungen sein Leben erlebt und gestaltet und Geschichten schafft, hält sich der Mensch für einen Jemand, der allein auf der Welt ist. Dies kann von Anfang an so sein oder sich erst allmählich entwickeln. Und mit dieser Vorstellung geht der Mensch sein Leben an und gestaltet es, indem er Beziehungen zu anderen Menschen aufbaut, sich verhält und handelt, Ansprüchen genügt, Ziele formuliert und realisiert. Diese Ansicht entwickelt sich mit der allmählichen Ausbildung des Bewusstwerdens des Menschen. Indem der Mensch sein Bewusstsein begreift und sich seiner selbst bewusst wird, ist er sich vor allem seiner selbst bewusst.

Die Erfahrung des Mangels Dass der Mensch viele Mängel an sich wahrnimmt, ist eine altbekannte und vieldiskutierte These. Angefangen bei Voltaire bis hin zu den Anthropologen Max Scheler oder Arnold Gehlen ging es dabei immer und geht es immer noch vor allem um biologische Mängel. Das Wesen Mensch ist nicht stark genug, denn viele andere Tiere sind ihm an körperlicher Stärke bei Weitem überlegen. Das Wesen Mensch ist nicht schnell genug, auch hier wird er von vielen Tieren deutlich überholt. Dem Wesen Mensch fehlen viele Instinkte, die es zum Überleben in der Natur benötigen würde und auch diese sind bei allen Tierarten besser ausgeprägt. Im Vergleich zum Tier ist der Mensch, rein biologisch betrachtet, wesentlich schlechter ausgestattet. Ausgesetzt in der Natur und auf sich allein gestellt hätte er nur sehr geringe Überlebenschancen. Dies mag wahr sein, jedoch stehen dem Menschen zum Überleben andere Mittel zur Verfügung. Auch dies ist nicht neu: Der Mensch hat Verstand und Vernunft und diese tragen dazu bei, dass er anpassungsfähig ist. Er muss sich nicht ausschließlich am selben Ort aufhalten, der ihm die bestmögliche Futterquelle und Lebensumstände bietet. Vielmehr weiß der Mensch, die Natur für sich und sein Überleben nutzbar zu machen. Somit ist er nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden, sondern kann sich in der gesamten Welt aufhalten. 267 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Mehr noch als die Diskussion um die vermeintlichen biologischen Mängel, beschäftigt den Menschen jedoch – ob bewusst oder unbewusst – ein anderer Mangel. Sören Kierkegaard hat diesen in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode deutlich formuliert und auf die menschliche Existenz als solche bezogen. Kierkegaard stellt hier den Abstand des Menschen von Gott dar und somit den Abstand, den der Mensch von seinem wahren Selbst hat, das er von Gott hat. Das Selbst, als das der Mensch sich in der Welt wahrnimmt, stimmt aber nicht mit diesem idealen wahren Selbst überein. Dennoch erkennt der Mensch den Abstand seines konkreten Selbst zu dem idealen Selbst und dies führt zur existentiellen Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst und mit seiner Lebenssituation. Deshalb versucht er, den idealen Zustand seines Selbst zu erreichen, indem er sich entwickelt. Daraus lässt sich folgern, dass das konkrete Selbst Ausdruck eines Mangels ist, den der Mensch nun auszugleichen versucht. Indem der Mensch aufgrund seiner Unzufriedenheit seinen Mangel erkennt und daran arbeitet, kann er sich verändern und entwickeln. Gleichzeitig ist er als konkretes Selbst frei, sich im Rahmen seiner konkreten Möglichkeiten in alle Richtungen zu entwickeln. Beschränkungen erfährt er dabei vor allem in biologischer oder geistigintellektueller Hinsicht. Aber soziale, gesellschaftliche oder kulturelle Grenzen können von jedem Menschen zu jeder Zeit überwunden werden. Die Möglichkeiten zur Veränderung sind jedem Menschen jederzeit gegeben. Dies betrifft auch die Entwicklung des eigenen Charakters sowie der eigenen Einstellung anderen Menschen und dem Leben in der Welt gegenüber. Für Kierkegaard birgt diese Freiheit des Menschen aber gleichzeitig die Verzweiflung, denn der Mangel und die Unzufriedenheit, die zur Entwicklung des Menschen beitragen, lösen ein VerzweifeltSein über gerade diesen Mangel aus. Der Mensch, der nicht sein Selbst ist und dies auch nicht erreichen zu können scheint, verzweifelt an dieser Gegebenheit. Aber auch ein Mangel, der nicht allein vom Bezug zum Göttlichen und Religiösen abhängig ist, wird dem Menschen tagtäglich bewusst. Es ist der Mangel zwischen dem, was er ist, lebt und erlebt und dem, was er gerne wäre und erleben würde. Auch hier hat der Mensch ein Idealbild von sich und seinem Selbst, das für ihn einen Abstand von seinem tatsächlichen Leben aufweist. Auch hier wünscht sich der Mensch vielleicht, eine andere Erscheinung zu haben. Er wünscht, in einem anderen Umfeld mit anderen Möglich268 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und er selbst

keiten geboren worden zu sein. Oder er wünscht, sein Leben radikal ändern zu können. Dies alles wünscht der Mensch, weil er die Vorstellung hat, dann ein besseres, glücklicheres Leben zu führen. Das konkrete Leben, das er führt, ist ihm nicht gut genug. Er ist unzufrieden mit dem, was er ist und was er hat. Diese Unzufriedenheit mit dem Konkreten birgt ebenfalls Verzweiflung in sich. Durch ein anderes Aussehen, eine andere Art von Leben – so hofft der Mensch – wird ihm das zuteil, was er wünscht: nämlich ein glückliches Leben. Dabei sind es gerade der Mangel und die daraus resultierende Unzufriedenheit, die den Menschen antreiben sich zu entwickeln und somit zu verändern. Dies nicht nur im Konkreten, sondern auch im Religiösen, Spirituellen, Mystischen und letztendlich im Ethischen, nämlich in der Art, wie der Mensch mit sich und mit anderen umgeht und handelt. Nur indem der Mensch sich Ziele setzt, kommt er weiter und entwickelt sich. Das Sich-Entwickeln und die Möglichkeit, sich entwickeln zu können, machen den Menschen als solchen aus. Menschliches Leben ist von Veränderungen geprägt, die entweder ihn selbst betreffen oder das Umfeld. Das Erreichen eines Zieles oder eines Ideals stellt nur ein vorläufiges Glück dar. Letztendlich macht auch das Leben in einem Idealzustand unzufrieden, da der Mensch sich dann nicht mehr entwickeln kann oder will.

Die Neugier Mit dem Bewusstsein wird dem Menschen deutlich, dass er ist. Er nimmt die ihn umgebende Welt mit allen Sinnen wahr und reagiert darauf. Vieles muss er erfahren und lernen. Durch Ausprobieren begreift er die Welt um sich herum. Warum aber tut er das? Der Mensch wird in eine Umgebung hineingeboren, die ihm vollkommen fremd ist. Diese muss er erst für sich erschließen und erkennen. Dank seines Verstandes und seiner Vernunft nimmt er diese Umgebung auf vielfältige Weise wahr, denn er muss sich ständig auf Neues einstellen. Sobald er aber etwas Neues erkannt und begriffen hat, dient ihm das Bekannte als Grundlage für alles, was er an neuen Erfahrungen und Erkenntnissen gewinnt und woran er sich orientiert. Auf Unbekanntes wird nun nicht in erster Linie rational reagiert, sondern in zweierlei Hinsicht: Entweder gar nicht oder mit einem Gefühl. Im ersten Falle ist dem Menschen überhaupt nicht bewusst, dass 269 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

außerhalb dessen, was er kennt, überhaupt noch etwas Anderes existiert. Er hat Konkretes oder Abstraktes erfahren oder davon gehört und bewegt sich nun innerhalb der ihm bekannten Welt, ohne sich darum zu kümmern, ob es noch andere Lebensumstände oder -möglichkeiten gibt. Auch die Frage danach stellt sich gar nicht. Das, was kommen mag, kommt bei dieser Haltung auf den Menschen zu und er geht damit auf seine individuelle Art und Weise um. In diesem Fall bezieht sich der Mensch immer nur lediglich auf das, was er bereits kennt. Wird ihm etwas Neues von jemandem Anderen herangetragen, so nimmt er dies zur Kenntnis, stellt darüber hinaus aber auch keine weiteren Fragen. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn jemand noch nie im Ausland gearbeitet hat, und auf jemanden trifft, der von dieser Erfahrung berichtet. In der Regel werden hier keine weiteren Fragen gestellt, wenn Ersterer kein Interesse am Arbeiten im Ausland oder keine Erfahrung damit hat. Dies ist keine Haltung des Desinteresses, sondern der mangelnden Erfahrung. Letztere lässt den Menschen neutral auf Unbekanntes reagieren. Die Reaktion auf Unbekanntes mit Angst wird detailliert von Kierkegaard beschrieben. Er bezieht diese Reaktion nicht allein auf bestimmte konkrete Situationen, sondern steigert das Bewusstsein der Angst bis zu einer Lebensangst, die grundsätzlich alles Neue betrifft. Grundsätzlich sind Kierkegaards Beobachtungen hierzu plausibel, wobei diese Angst vor Neuem auch neutral ausgedrückt werden kann und dann einer Anspannung gleicht. Der Mensch reagiert mit einem unsicheren Gefühl auf Neues, wenn dies sich zum Teil innerhalb dessen bewegt, was er kennt, oder wenn Anspielungen gemacht werden, die lediglich auf etwas hindeuten, was in seinem Erfahrungsbereich liegt und möglicherweise darüber hinausgehen könnte. In diesem Falle ist ihm nicht vollständig bewusst, was kommen wird, und er kann sich nicht darauf einstellen. Bewusst ist ihm nur, dass etwas Neues auf ihn zukommen wird, das über das bisher von ihm Gekannte und Erlebte hinausgeht. Der Mensch reagiert in dieser Situation vor allem aus seinem Gefühl heraus. Zuerst regt ihn dieses Neue in positiver oder negativer Weise auf, erst dann kann er versuchen, sich rational darauf einzustellen. Es handelt sich hierbei zunächst um ein Gefühl der (An-) Spannung. Etwas klingt im Menschen an und lässt ihn nicht mehr in Ruhe. Dieses Neue ist zwar zum Greifen nahe, aber nicht fassbar, da es noch unbekannt ist. Um es begreifen zu können, muss der Mensch aber das Neue erfahren und somit begreifen wollen. Dies bedeutet, 270 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und er selbst

dass der Mensch den Schritt auf das Neue zu machen muss. Er muss sich und die Begrenzung des Bekannten überwinden; er muss also über sich selbst hinausgehen. Dieses Gefühl, das der Antrieb für das Über-sich-Hinausgehen ist, um Neues zu entdecken, hat Kierkegaard als existentielle Grunderfahrung beschrieben und ›Angst‹ genannt. Im positiven Sinne ist diese Grunderfahrung aber Neugier. Diese treibt den Menschen letztendlich dazu an, Neues kennenzulernen, sich auf bestimmten Gebieten zu spezialisieren, sich zu verbessern und letztendlich sich überhaupt erst zu entwickeln und weiterzuentwickeln.

Das Können Bemerkt der Mensch, dass er sich selbst überwunden und sowohl seine eigenen als auch Grenzen überhaupt überschritten hat, dann wird er dies immer wieder versuchen. Es wird ihm bewusst, dass er seine Neugier, die eine existentielle Grunderfahrung ist, nur befriedigen kann, wenn er dieser Neugier nachgibt und selbst immer wieder unter Beweis stellt, dass er sich selbst überwinden kann. Hierin liegt das Können des Menschen, denn es ist ihm möglich, immer wieder seine Grenzen zu überwinden und so über sich hinauszugehen. Für Edith Sein ist das »Ich kann« also das Können, die Freiheit des Menschen (Stein. Aufbau. S. 79). Der Mensch kann sich nun in zwei Richtungen entwickeln. Zum einen kann er sich in die Zukunft entwickeln. Dies tut er, indem er sich weiterentwickelt, Neues entdeckt und seinen Horizont öffnet. Somit gewinnt er in zunehmendem Maße an Wissen und Erfahrung und erlebt einen Fortschritt in seinem Sein. Zum anderen aber kann er auch in seinem Fortschreiten innehalten. In diesem Fall denkt er über das nach, was er getan hat. Er hinterfragt sich und seine Handlungen und beurteilt diese. Eventuell führt dieses Überdenken zu neuen Verhaltensweisen in der Zukunft. In jedem Fall aber gewinnt der Mensch durch Nachdenken und Hinterfragen an Tiefe und geht auch somit über sich hinaus. Ob der Mensch sich nun durch Fortschreiten oder durch Nachdenken entwickelt, er probiert so lange aus, seine Grenzen zu überwinden und somit sein Können unter Beweis zu stellen, bis ein Ende erreicht ist. Dieses kann einerseits aus dem Menschen selbst heraus kommen, indem ihn ein Weiterkommen nicht mehr interessiert, oder 271 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

es ihm hierzu an geistigen oder körperlichen Fähigkeiten mangelt. Andererseits können ihm auch von außen Grenzen gesetzt werden, die es ihm unmöglich machen, sein Können weiter auszutesten. In der Regel ist es aber so, dass der Mensch immer versuchen wird, seine Grenzen auf die eine oder die andere Weise zu überschreiten. Dies gilt auch und vor allem für Grenzen, die ihm von außen auferlegt werden. Dabei kann es sich um physische Grenzen handeln, aber auch um ethische und moralische Grundsätze. Vor allem letztere erscheinen dem Menschen aber nicht so zwingend wie die natürlichen Grenzen, die ihm Körper, Geist und Psyche setzen. Die körperlichen Grenzen kann der Mensch bis zu einem gewissen Grad ausreizen. Durch Übungen und Training kann er körperlich stärker werden und seine Kondition kann besser werden. Auch Doping kann die körperliche Leistungsfähigkeit bis zu einem gewissen Grad steigern. Der Wille des Menschen hat ebenfalls einen erheblichen Anteil an seinen körperlichen Fähigkeiten, ist er doch in Extremsituationen fähig, weit über seine eigentlichen Kräfte hinauszugehen. Dennoch erfährt der Mensch hier immer wieder einen Punkt, an dem er seine körperlichen Leistungen nicht mehr weiter steigern kann. Der Körper und dessen Konstitution setzt dem Menschen eine natürliche Grenze. Ähnlich verhält es sich hinsichtlich der psychischen Fähigkeiten des Menschen. Der Mensch hält viel aus, kann auch in Extremsituationen mehr aushalten, als ihm vorher bewusst war, jedoch gibt es auch hier eine natürliche Grenze. Ist diese überschritten, wird der Mensch von der psychischen Überforderung – z. T. dauerhaft – gequält. Auch die geistig/intellektuellen Grenzen sind dem Menschen natürlich gegeben. Er kann sich zwar auch hier durch verschiedene Trainingsmethoden verbessern, dies aber nur bis zu einem gewissen Grad. Mit den ethischen und moralischen Grenzen verhält sich dies jedoch anders. Schon als Kind und erst recht in der Pubertät versucht der Mensch, die ihm gegebenen Vorschriften und Anweisungen immer wieder zu übergehen. Dies gilt nicht nur für Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie sie in Gesetzen vorgeschrieben werden, sondern auch für die Ethik, die Grundlage für den bewussten Umgang mit sich selbst und mit dem Anderen ist. Dabei ist die Ethik die Lehre vom und damit Ausdruck des Ethischen in jedem Menschen, nämlich der natürlichen Fähigkeit des richtigen Sich-Verhal-

272 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Mensch und er selbst

tens überhaupt, gegenüber sich selbst und gegenüber Anderen. Der Mensch nimmt das Ethische jedoch nicht als Grenze wahr. Tatsächlich erhebt die Ethik den Anspruch, allgemein gültig zu sein, d. h. für jeden Menschen aus jedem Kulturkreis auf der ganzen Welt zu gelten. Dieser Allgemeinheitsanspruch ist jedoch so umfassend, dass er für die einzelnen Menschen entweder zu groß oder zu klein ist. Die Ethik wird also entweder zu einem unerreichbaren Ziel erhoben oder als banale Tatsache angesehen, die nicht weiter bedacht werden muss. Beide Positionen führen nun aber dazu, dass die Ethik für den Menschen nicht greifbar wird. Deshalb werden in menschlichen Gemeinschaften Regeln und Normen gesetzt. Diese beinhalten auch nur zum Teil den Allgemeinanspruch der Ethik, nämlich nur die ethischen Regeln, die genau für das Leben in dieser Gemeinschaft passen und ein gelingendes Zusammenleben gewährleisten können. Da diese Normen aber als Regeln und Grenzen gesetzt und deshalb gerade auch nicht natürlich sind, sieht der Mensch hier, von Neugier getrieben, die Möglichkeit diese ethischen Gesetze zu brechen und sie zu überwinden. Reizt der Mensch aber die ethischen Grenzen aus, so stößt er an keine natürliche Grenze. In diesem Bereich ist allein der Andere die Grenze des Menschen, denn es geht bei der Ethik um den Umgang mit dem Anderen. Der Andere kann der andere Mensch oder die Gemeinschaft sein. Aber der Andere ist auch der Andere im Menschen selbst, nämlich das Selbst, das sich zu sich selbst verhält, wie Kierkegaard es ausdrückt (vgl. Kierkegaard. Krankheit. S. 13), oder das Gewissen, dessen Funktion als Gesprächspartner von Hannah Arendt analysiert wurde (vgl. Arendt. Böse. S. 48). Auch das Gewissen des Menschen setzt die Grenzen für sein Verhalten. Jedoch selbst wenn sein Gewissen ihm bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen gegenüber seiner Mitwelt verbietet, so kann der Mensch dennoch versuchen, diese auszuführen. Es ist u. a. der Natur genau dieser Neugier geschuldet, dass Menschen immer wieder versuchen, gerade die ethischen Grenzen zu überschreiten, um zu erfahren, dass sie es können und welche Konsequenzen ihnen drohen, wenn sie es tatsächlich tun. Werden vom Anderen keine eindeutigen Grenzen gesetzt, so geht das Ausreizen immer weiter. Nur so erklären sich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gegen die Würde von Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Und nur so erklärt sich Safranskis Besorgnis hinsichtlich eines zukünftigen »Bio-Faschismus […, der] 273 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Arbeit am Menschenmaterial im Geiste grenzenloser Machbarkeit« (Safranski. Böse. S. 279), womit er auf die Erforschung der Möglichkeiten verweist, menschliche Gene zu verändern. Dabei teilt auch Safranski die Befürchtung, die Ethik – er spricht von Moral – solle die Wissenschaft und ihr Treiben zukünftig nicht mehr hinterfragen, sondern lediglich das Tun der Wissenschaft im Nachhinein begründen. (Vgl. Safranski. Böse. S. 280) Und Hans Jonas beschwört sogar die pessimistische Vision des »ethische[n] Vakuum[s]«, da sich in einer Welt, die sich zu sehr auf Technik und menschliche Errungenschaften verlässt, »größtes Können mit geringstem Wissen davon, wozu« (Jonas. Verantwortung. S. 57) paart. Am Menschen testet der Mensch, wie weit er im ethischen Bereich tatsächlich gehen kann, weil er es kann. Jede Grenze, die der Mensch einmal überschritten hat, ist aber keine Grenze mehr. Der Mensch wird entweder nicht mehr dahinter zurückgehen oder wissen, dass diese überschrittene Grenze kein Hindernis mehr darstellen wird. Gerade wenn es um ethische Grenzen geht, versucht der Mensch, diese so weit wie möglich zu überschreiten. Deshalb wird er versuchen, die ethischen Grenzen bis zum Letzten auszureizen. Dies hat schon Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess festgestellt: »[…] wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war.« (Arendt. Eichmann. S. 396)

3.

Der Bezug nach außen

Ebenso wie der Mensch sein eigenes Können ausprobiert, will er sich an dem Können des oder der anderen messen und er will sich mit ihnen messen. Auch hier werden Grenzen ausgetestet und zu überwinden versucht.

Die fragliche Existenz des Anderen Dem Menschen wird bewusst, dass er denkt, dass er fühlt und dass er wahrnimmt. Es wird ihm auch bewusst, dass andere Menschen außer ihm existieren, die auf sein Leben und Wesen Einfluss nehmen – im Positiven oder im Negativen oder manchmal auch nur dadurch, dass sie keinen Einfluss nehmen. 274 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Bezug nach außen

Der Mensch setzt sich aber immerzu in Bezug zu diesen anderen Menschen, die er durch alle Sinne tagtäglich wahrnimmt. Allerdings erfährt und erlebt auch er zunächst lediglich deren äußeres Erscheinungsbild. Auf den ersten Blick erkennt der Mensch also nur einen ihm Ähnlichen, der ihm gegenübersteht. Sieht er sich einer großen Menge dieser Anderen ihm Ähnlichen gegenüber, so erkennt er auch hier bloß eine äußerliche Ähnlichkeit. Hieraus kann sich der Zweifel entwickeln, ob die anderen außer mir überhaupt wirklich existieren oder ob sie nur eine sinnliche Täuschung sind. Sollten sie wirklich existieren, so stellt sich weiterhin die Frage, ob sie auf dieselbe Art existieren, wie der Mensch, nämlich als Menschen mit ähnlichem oder gar demselben Denken, Fühlen und Wahrnehmen. Schon Descartes hegte diesen Zweifel und fragte sich, ob er es wirklich mit Mitmenschen zu tun hatte oder es sich hier nicht eher um Automaten mit Hut handelte, die ihn umgeben würden. (Vgl. Descartes. Meditationen. S. 56–57) E. T. A. Hoffmann trieb diesen Zweifel in seiner Erzählung Der Sandmann auf die Spitze, denn hier verliebt sich sein sentimentaler, lebensfremder Held Nathanael tatsächlich in einen Automaten. Um die Jahrtausendwende spielten Filme wie Matrix ganz eindeutig mit der Angst, die Anderen seien nichts weiter als manipulierte Körperlarven. Dieses Science-FictionSzenario wird inzwischen sogar so ernst genommen, dass sich auch Philosophen damit beschäftigen. Die Angst vor der Illusion ist nahezu übermächtig, das Vertrauen in das wahre Leben schwindet immer mehr. Bei dieser rein äußerlichen Betrachtung aber bleiben dem Einzelnen das ganze reiche Innenleben der Anderen, nämlich Gedanken, Vorstellungen, Träume etc., sowie deren eigene Selbsteinschätzung verborgen. Nur wenn der Andere sich offenbart, ist es möglich, seine wahre Persönlichkeit wahrzunehmen und ihn als Mitmenschen zu erkennen. Der unmittelbare Austausch mit dem Anderen und das Kennenlernen des Anderen und seiner Eigenarten führen dazu, dass der Mensch die Persönlichkeit des Anderen auch wahrnimmt. Nur im unmittelbaren Austausch mit Anderen kann der Mensch auch erkennen, ob der Andere tatsächlich seine Persönlichkeit offenbart oder ob er sich verstellt. Letzteres wird umso deutlicher, je mehr Andere er kennt und je mehr unmittelbare Erfahrungen er mit Anderen hat. Nur so kann der Mensch auch charakterliche Veränderungen und Entwicklungen des Anderen wahrnehmen. 275 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Je weniger der Mensch aber den Anderen kennt und erfährt und je mehr er mit Zahlen statt mit Persönlichkeiten konfrontiert wird, desto fremder und gleichgültiger ist ihm der Andere. Die Beziehungslosigkeit lässt den Menschen an der Realität des Anderen zweifeln.

Der Vergleich Im persönlichen Umgang kann der Mensch den ihm Ähnlichen als solchen erkennen. Somit nimmt er ihn auch in dessen Einzigartigkeit wahr und erkennt gleichzeitig die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Anderen von anderen Ähnlichen. Er analysiert dies und es liegt in der Natur des Menschen, mit der Analyse auch Vergleiche anzustellen. Deshalb vergleicht sich der Mensch mit dem ihm Ähnlichen, auch wenn dieser ihm fremd ist und er keine Beziehung zu ihm aufbaut. Dabei vergleicht der Mensch den äußeren Schein des Anderen mit der eigenen Wahrnehmung von sich selbst. Es wird also eine scheinbar objektive Wahrnehmung eines Ähnlichen, aber doch Fremden, mit einer subjektiven des eigenen Selbst verglichen, denn der Mensch nimmt den äußerlichen Anblick des Anderen wahr, wohingegen er von sich selbst in erster Linie ein Bild hat, das nicht von seinem Anblick geprägt ist. Der Mensch selbst hat ein Bild von sich, das sich vor allem aus eigenen Gedanken und Gefühlen sowie den Reaktionen von Anderen auf das eigene Äußere und Verhalten zusammensetzt, ähnlich denen, die Sartre anhand des Blickes beschreibt. (Vgl. Sartre. Sein. S. 539 f.) Jeder Mensch wird sich also bewusst, dass er selbst denken, fühlen und wahrnehmen kann, aber er hat in der Regel nur eine sehr vage Vorstellung davon, wie er selbst aussieht, wie sein Verhalten wirkt und welche Präsenz er in der Welt hat. Dies gilt auch für seine Außenwirkung. Der Blick in den Spiegel reicht nicht aus, um das tatsächliche Aussehen und die tatsächliche Wirkung permanent ins Bewusstsein zu rufen und dort zu verankern. Das Äußere der Anderen sowie deren Reaktion in Bezug auf einen selbst wird im Positiven wie im Negativen zum Spiegel des eigenen Aussehens und Wirkens, ist aber häufig verzerrt. Vergleicht der Mensch nun sich selbst, also das Bild, das er sich von sich selbst macht, mit dem Anderen, nämlich mit der äußeren Wahrnehmung des Anderen, so kommt es zu Missverständnissen. 276 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Bezug nach außen

Einerseits überträgt jeder sein eigenes Denken, Fühlen und Wollen auf den anderen, den er gut zu kennen vermeint oder gar nicht kennt. Der Mensch denkt, fühlt und will in einer bestimmten Weise und meint, dieses Denken, Fühlen und Wollen in eben derselben Weise in einem ihm Ähnlichen wiederzuerkennen. Da Menschen sich ähnlich sind, lassen Mimik und Gestik von außen auf gleiches Denken oder gar gleiche Charakterzüge schließen. Dies aber ist bereits eine Interpretation des Anderen, die auf eigenen, individuellen Erfahrungen basiert, die der Mensch in dieser Hinsicht vor allem mit sich selbst macht, aber auch mit Anderen gemacht hat. Insofern kann die Interpretation des Anderen zwar richtig sein, der Mensch kann sich hier aber auch irren. Innerhalb desselben Kulturkreises sind diese Kongruenzen sehr wahrscheinlich, doch auch diese sind nicht zwangsläufig. So kommt es auch hier häufig zu Fehlinterpretationen des Verhaltens des Anderen. Je unterschiedlicher aber die Kulturen sind, aus denen zwei Menschen stammen, die aufeinandertreffen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit von Fehlinterpretationen. Häufig werden diese kulturellen Missverständnisse auch nicht überwunden, denn jeder hält seine Interpretation aufgrund der eigenen Erfahrung für richtig und ein wahrer Austausch mit dem Anderen findet nicht statt. Andererseits überträgt der Mensch die Vorstellung von seiner eigenen Erscheinung auf den oder die Anderen. Hält er sich zusammen mit jungen Menschen auf, so hält er sich selbst auch für jung, unter Sportlern hält er sich für sportlich, unter schönen Menschen für schön. Es kann hier aber auch genau das Gegenteil bewirkt werden. Dann nämlich hält sich der Mensch im Vergleich zu jungen Menschen für alt, im Vergleich zu Sportlern für behäbig oder im Vergleich zu schönen für hässlich. Der Mensch misst und verhält sich immer mit und zu den anderen Menschen, auf die er trifft. Häufig ist dieses Sich-Messen unverhältnismäßig hinsichtlich seines eigenen Äußeren und seiner Wirkung, denn kein Mensch hat ein objektives Bild von sich selbst. Die Erfahrung des Mangels oder gar der eigenen scheinbaren Mangelhaftigkeit wird dem Menschen vor allem durch den Vergleich mit dem Anderen erkennbar. Da der Mensch dank des Vergleichs zufrieden oder unzufrieden mit sich ist, hat der Vergleich dann wiederum Auswirkungen auf die weitere äußerliche oder charakterliche Entwicklung des Menschen. Das Vergleichen ist allerdings nie neutral, sondern es ist ein 277 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

Sich-Messen-mit einem oder mehreren Anderen, bei dem immer eine Bewertung stattfindet. Dies geschieht nicht nur in körperlichgeistiger, sondern auch in materieller Hinsicht. Einerseits bewertet der Mensch rational, indem er sich ein gedankliches Urteil über das Verglichene bildet. Andererseits urteilt er auch irrational, nämlich indem er Gefühle gegenüber dem Anderen entwickelt. Diese können Gefühle der Abneigung oder der Zuneigung sein. So ist das Interesse von Menschen an Anteilnahme oder gar an Klatsch und Tratsch dieser Zu- oder Abneigung gegenüber einem Anderen aufgrund eines Vergleiches geschuldet. Der Mensch gönnt oder neidet dem Anderen sein Anders-Sein oder sein anderes Leben. Der Vergleich bietet dem Menschen grundsätzlich die Möglichkeit, sich seiner eigenen Stellung in der Welt und seines eigenen Wertes bewusst zu werden. Insofern liegt im Vergleich, im Erkennen des eigenen Mangels und im Schaffen von Beziehungen jeder Art die Möglichkeit, sich selbst auch zu verändern oder sich zu entwickeln.

4.

Der Andere

Dem Anderen wird vom Menschen beim Vergleich Zu- oder Abneigung, also Sympathie oder Antipathie entgegengebracht. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen, in jedem Fall aber stellen Sympathie und Antipathie schon ein Urteil eines Menschen einem Anderen gegenüber erzeugen.

Der gute und der böse Andere Wird der Andere mit Sympathie bedacht, so will der Mensch ihn für sich gewinnen. Der Andere soll dann zu dem Kreis derer gehören, mit denen der Mensch sich gerne umgibt und die der Mensch schätzt und respektiert, weil er sie akzeptiert. Der Andere ist dann als Ähnlicher dem Menschen gleich oder das Wesen und Leben des Anderen wird für den Menschen sogar erstrebenswert. In letzterem Fall führt die Sympathie mit dem Anderen bereits zu einer Veränderung oder Entwicklung des Menschen. Der Andere soll dann in das Leben des Menschen integriert werden, in bestimmten Fällen wünscht sich der Mensch sogar eine Verschmelzung mit dem Anderen. Der Andere ist, ebenso wie der 278 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Andere

Mensch selbst, der Gute, denn er gleicht dem Menschen, der sich grundsätzlich auch für den Guten hält. Dabei ist der Andere, der gut und dem Menschen sympathisch ist, auch gleichzeitig gut für den Menschen und deshalb auch gut zu dem Menschen. Demzufolge ist auch der Mensch selbst gut zu dem Anderen. Er respektiert den Anderen und seine Eigenheiten, und er erkennt ihn als Gleichwertigen an. Er orientiert sich in seinem Verhalten und Handeln an dem, was dem Anderen guttut. Der Mensch reizt sein Können dem Anderen gegenüber nicht aus, denn dies könnte dem Anderen schaden. Der Andere ist somit die natürliche Grenze für das Verhalten des Menschen. Durch Sympathie und den Wunsch nach Integration werden also ethische Verhaltensregeln grundsätzlich gewahrt. Wird dem Anderen jedoch mit Antipathie begegnet, so ist der natürliche Wunsch des Menschen, den Anderen von sich abzugrenzen. Der Mensch erkennt zwar noch die Ähnlichkeit des Anderen mit ihm selbst, stellt jedoch kaum tatsächliche, konkrete Gemeinsamkeiten, vielmehr aber viel zu viele Unterschiede zum Anderen fest. Der Andere ist dann auch wirklich der Andere und nicht mehr der Ähnliche, denn er ist eigentlich grundverschieden. Die Abgrenzung des Anderen führt auch zu dessen Ausgrenzung. Diese erfolgt zunächst aus der Gemeinschaft, die den Menschen umgibt, indem der Andere aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Schließlich wird der Andere aus dem Leben des Menschen selbst verbannt. Ist die Ab- und Ausgrenzung des Anderen aber nicht möglich, weil er zum Beispiel zur Familie gehört oder Kollege am Arbeitsplatz ist, so wird der Andere mit dem Attribut der absoluten Verschiedenheit bedacht. Er muss zwar ertragen werden, aber er ist einfach anders, er passt zwar vermeintlich nicht in die Gruppe, muss aber geduldet werden. Da der Mensch sich selbst grundsätzlich als der Gute wahrnimmt, kann dieser geduldete Andere nur der Böse sein, der auf zerstörerische Weise die Gruppe stört. Ist er dies, so ist er nicht gut für den und zu dem Menschen. Vielmehr will er ihm schaden oder generell Schaden stiften, denn er ist ja böse. Der Andere wird somit zur Bedrohung für den Menschen oder gar für die Gemeinschaft, in der er lebt. Die Qualifizierung des Anderen als Bösen und als Bedrohung gibt dem Menschen allerdings die Rechtfertigung, sich selbst zu schützen oder auch die Gemeinschaft der ihm Sympathischen zu 279 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

schützen. Dazu ist letztendlich jedes Mittel recht. Der böse Andere wird nicht respektiert oder geschätzt. Der Andere gibt dem Menschen keine Grenze für dessen ethisches Handeln mehr vor. Vielmehr muss der böse Andere bekämpft und eliminiert werden und zu diesem Zweck muss der Mensch sein ganzes Können unter Beweis stellen. Der Mensch beruft sich also auf sein Recht, sich vor dem Schadenden zu schützen und damit beruft er sich auch auf seinen Selbsterhaltungstrieb. Dies gibt ihm vermeintlich die Berechtigung, die von seiner Gemeinschaft und vom Anderen gesetzten ethischen Grenzen zu überschreiten und sie sogar auszulöschen.

Der schlechte Gebrauch der Vernunft Der Andere wird für den Menschen deshalb zum Bösen, weil er ihm vermeintlich schadet oder ihm schaden könnte. Dies ist das subjektive Urteil des Menschen gegenüber einem Anderen. Das Schaden wird als böse angesehen, das Gut-Tun als gut. Diese grundsätzliche Bestimmung von Gut und Böse wurde auch von Albert Schweitzer wieder in Erinnerung gerufen. (Vgl. Schweitzer. Kulturphilosophie. S. 83) Sie ist elementar, da sie eine natürliche Erfahrung ist. Ebenso ist das Sich-Selbst-Schützen vor jeglichem Schaden zu verstehen. Es liegt im Wesen des Menschen, dass er alles von sich abwenden will, was ihm nicht guttut und was schädlich für ihn ist. Insofern ist auch der Eigenschutz eine natürliche Reaktion auf eine wie auch immer geartete (vermeintliche) Bedrohung. An dieser Stelle könnte nun die Vermutung aufkommen, dass die menschliche Handlung allein natürlich bedingt sei. Das Natürliche im Menschen betrifft dann die Eigenschaften, die sich aus der Disposition des Körpers entwickeln. Alle Handlungen wären in diesem Falle nur ein Verhalten. Dementsprechend folge der Mensch nur einem Schema, das von der Natur und den Naturgesetzen vorgegeben sei. Er hätte keinerlei Einfluss mehr auf sein Verhalten. Eigene persönliche Entwicklungen wären demzufolge nicht mehr möglich. Jedoch ist der Mensch nicht allein von der Natur und ihren Gesetzen bestimmt. Er hat die Möglichkeit, sich seines Verstandes und seiner Vernunft zu bedienen. Letztere gehen über das rein NatürlichInstinkthafte hinaus. Der Mensch ist überhaupt erst fähig, das Natürlich-Instinkthafte, also das Verhalten, zu erkennen, weil er Vernunft und Verstand hat. 280 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Andere

Vernunft und Verstand zu haben bedeutet vor allem, dass der Mensch von dem rein natürlich Gegebenen durch rationales Erfassen Abstand gewinnen kann. Dieses rationale Erfassen heißt, dass der Mensch das ihm von Natur aus Gegebene beobachten und analysieren kann und schließlich darüber ein Urteil fällt. Der Mensch folgt also nicht blind seinen natürlichen Instinkten und Trieben. Sein Handeln wird für ihn zum Gegenüber, das er objektiv analysieren und beurteilen kann. Hierin liegt die Möglichkeit von Entscheidungen. Zum einen kann der Mensch sein eigenes Urteil für richtig befinden oder für falsch. Es ist ihm aber auch wiederum möglich, das gefasste Urteil zu revidieren, wenn er merkt, dass er sich getäuscht hat. Dies ist möglich, weil er auch über die eigenen Gedanken reflektieren kann und diese zu einem Gegenüber machen kann. Er ist nicht auf ein Urteil festgelegt. Zum anderen aber kann der Mensch aufgrund seines Urteils Konsequenzen für sein eigenes Verhalten und seine Handlungen ziehen. Diese Konsequenzen kann er konkret anwenden und mitteilen und sie somit seinen Mitmenschen verständlich machen, die dann wiederum im Miteinander-Sprechen die Möglichkeit haben, sich selbst mitzuteilen und eigene Entscheidungen oder die des Anderen zu verändern. Dank der Vernunft kann sich der Mensch so über die Naturgesetze hinwegsetzen und eine eigenständige Persönlichkeit entwickeln. Diese Individualität kann und soll der Mensch nach außen demonstrieren. Dank der Vernunft ist der Mensch auch in der Lage, sich seine Sympathie oder Antipathie für den Anderen bewusst zu machen und diese zu analysieren. Der Mensch kann darüber nachdenken, warum ihm jemand sympathisch ist oder nicht. Seine eigenen Gefühle werden dann für ihn zum Gegenüber, den er objektiv analysiert. Dementsprechend ist es ihm auch möglich, sein Verhalten dem Anderen gegenüber anzupassen oder zu verändern. Findet der Mensch den Anderen sympathisch, so wird er in der Regel nicht den Versuch unternehmen, ihn auszugrenzen. Er wird seine Zuneigung für ihn auch nicht zu analysieren suchen. Dies ist nur dann der Fall, wenn sich der sympathische Andere doch als Schadender erweist. Wird dem Anderen jedoch Abneigung entgegengebracht, so wird er in der Regel auch ausgegrenzt. Dies geschieht als natürliche Reaktion, die nicht analysiert wird. Jedoch entsteht diese Reaktion des Ausgrenzen-Wollens auch, 281 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Vom falschen Umgang mit Menschen – Versuch einer Erklärung

wenn der Mensch den Anderen als jemanden erkennt, der ihm etwas Neues bringt, etwa eine neue Erfahrung, eine neue Kultur oder Ähnliches. Dieses Neue kann positiv oder negativ sein. Für den Menschen selbst aber kann jedes Neue, ob negativ oder positiv, etwas sein, das ihn zu bedrohen scheint. Aus der Neugier, die der Mensch gegenüber dem sympathischen Anderen entwickelt, wird in diesem Fall Angst vor dem Neuen, das vermeintlich bedroht. Dann zieht sich der Mensch allein auf seine eigenen Erfahrungen, auf das ihm Bekannte, zurück. Es geht hier im konkreten Fall vor allem um Vorurteile dem Anderen gegenüber, die häufig nicht aus der eigenen Erfahrung resultieren oder unbegründet sind. Diese Vorurteile können den Anderen als Person, seine Herkunft oder seine Religion betreffen. Der Mensch, der Vorurteilen verfallen ist, ist nicht gewillt, diese zu analysieren und zu beurteilen, was ihm an Neuem geboten wird. Er sieht dann nur sich selbst und seine Erfahrungen als Maßstab für alles an, was er als richtig erachtet, denn nur diese sind in seinen Augen die richtigen Erfahrungen. Er findet auch nicht das beim Anderen vor, was er erwartet. Dabei geht die Erwartung wie selbstverständlich von dem aus, was der Mensch selbst ist oder hat. Das Neue oder Andere ist das Unerwartete, das nicht gewollt wird oder auch nicht erwünscht ist. Demzufolge verschließt sich der Mensch gegenüber allem Neuen und verweigert sich damit für jede weitere Entwicklung. Da der Andere aufgrund der Vorurteile nicht als der Ähnliche oder Andersartige erwünscht ist, verzichtet der Mensch auch darauf, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen, um sich von sich selbst und seinen Vorurteilen distanzieren zu können und um den Anderen überhaupt kennen zu lernen. Der Mensch weigert sich geradezu, Abstand von seinen Vorurteilen zu gewinnen, indem er sie hinterfragt, und damit verweigert er jede Möglichkeit, seine eigenen Grenzen zu überwinden und sich zu entwickeln. Durch diese Weigerung, etwas zu Hinterfragen und Neues anzunehmen, und durch das Festhalten an eigenen Vorurteilen wird aber der Andere zum Bösen. Vorurteile und nicht hinterfrage Meinungen führen zu blinder Nachahmung und gedankenlosem Sich-Verhalten beim Einzelnen, bei größeren Gruppen und in der Gesellschaft. Wenn Behauptungen nicht immer wieder von jedem Einzelnen hinterfragt werden, dann werden öffentliche Vorbilder, die Behauptungen verbreiten, dank ihrer öffentlichen Bedeutung kritiklos imi282 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

Der Andere

tiert. Manipulationen werden dann auch nicht mehr durchschaut. Schließlich führt eine Vernachlässigung des kritischen Denkens, in der Gesellschaft überhaupt zu einer Vernachlässigung der Fähigkeit, eigenständig und eigenverantwortlich zu denken und dementsprechend zu handeln. Gerade in Bezug auf Unbekanntes und Unbekannte muss ständig eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Reflektion und den Äußerungen Anderer stattfinden. Sonst entsteht beim Menschen ein schlechter Gebrauch der Vernunft, der sich als Verzicht auf Vernunft enthüllt. Im Verzicht auf Vernunft liegt der Ursprung des Bösen mit seiner modernen Ausprägung, dass nur die Anderen Böse sind.

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V) »Die Hölle«

Der »böse Andere« erscheint oder wird bemüht, wann immer Menschen ungeprüften Vorurteilen anhängen oder sich der eigenen Verantwortung für eine Situation oder ein Urteil entziehen wollen. Es bleibt sich dann gleich, ob es sich beim »bösen Anderen« nun um eine wirkliche Person, das personifizierte Böse oder gar den Teufel selbst handelt. In diesem Fall wird sogar eine wirkliche Person verteufelt, indem sie zum Verführer gemacht wird. Dabei ist es gerade nicht der Andere, der böse ist. Die Philosophen, die hier angeführt wurden, sprechen sich dafür aus, dass das Böse Teil der menschlichen Konstitution ist. So liegt für Leibniz die Möglichkeit des Bösen in der Endlichkeit des Menschen. Kant sieht den menschlichen Egoismus, Schelling die aus der Freiheit des Menschen resultierende Hybris als Nährboden des Bösen. Letzteres wird bei Sartre greifbar, wenn der Mensch sich von jeder allgemeinen Ethik zu lösen scheint, um sein Leben und Wirken aus eigener Kraft selbst zu gestalten. Eine Art von Mangel, aus dem die Verzweiflung oder die Schwermut entspringt, und die Unfähigkeit, sich dem Anderen mitzuteilen, lassen auch bei Kierkegaard und Guardini Raum für das Böse. Für Hannah Arendt ist es schließlich der Verzicht des Menschen auf eigenständiges Denken und Urteilen und die Unfähigkeit zum Dialog, die das Böse hervorrufen. Rousseaus Wilder vereint ebenso Gutes und Böses in sich, letzteres wird aber erst erweckt, verstärkt und begünstigt, wenn der Mensch in Gesellschaft lebt und Kultur schafft. Auch Herder sieht die Ambivalenz des Menschen gewährleistet, ist aber der festen Überzeugung, dass das Böse immer wieder durch das Gute ausgeglichen und damit überwunden wird. Allein das Gute setzt sich, seinem Denken zufolge, durch und nur das Gute führt zum Fortschritt. Letztendlich stimmen alle zitierten Philosophen darin überein, dass das Böse sich nicht ausschließlich im Anderen findet, der den 284 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

»Die Hölle«

Menschen dazu bringt oder ihn gar dazu verführt, Böses zu begehen. Das Böse findet sich auf natürliche Weise in jedem Menschen selbst und jeder Mensch tut Böses ebenso wie er Gutes tut. Es ist das Verdienst Albert Schweitzers daran zu erinnern, dass Gut und Böse von Natur aus existent sind. Die Ethik ist deshalb gerade nicht aus gesellschaftlichen Konventionen entstanden, sondern ihr liegt ein allgemeingültiges Sein zugrunde. Dieses ist natürlich und somit dem Menschen eingeboren. Deshalb ist Ethik allgemeingültig und erfahrbar. Mit seiner Definition des Guten und des Bösen fußt Schweitzer auf der Vorstellung eines natürlich Ethischen. Nun bleibt allerdings die Frage, warum sich viele Philosophen auch Gedanken über den Teufel machen oder in der Literatur das Böse personifiziert wird und die Gestalt des Anderen annimmt. Der Teufel wird verstanden als der Antipode Gottes. Insofern stellt er seinen Gegenspieler dar. Er hat sich von Gott, der das Gute präsentiert, so weit wie überhaupt möglich entfernt. Somit veranschaulicht er den Weg, der nicht eingeschlagen werden soll, und repräsentiert im Ethischen die Handlungen, die nicht begangen werden sollen. Als Personifikation ist dies, gerade im philosophischen Bereich, leichter verständlich zu machen. Auch ist der Teufel entweder Teil oder eigenständiger Gegenspieler des Guten und hat somit Anteil an der Welt der Menschen. Auch dies ist eine Begründung für die Existenz des Bösen. Eine literarische Figur hingegen ist immer eine Darstellung eines menschlichen Charakterzuges oder einer Verhaltensweise. Im Beispiel der Faust-Variationen, repräsentiert die Mephisto-Figur den schlechten Umgang mit anderen Menschen und so repräsentiert Mephisto eigentlich Fausts falschen Umgang mit Menschen. Mephisto wird zu Fausts Doppelgänger. Folglich ist die Personifikation des Bösen als Mephisto tatsächlich ein dramaturgischer Effekt, der dazu dient, Menschen zu belehren. Durch den Doppelgänger sollen zunächst Faust, in Böses Mädchen Blanche oder in Die Wohlgesinnten Max von Aue und letztendlich der Leser oder Zuschauer sich selbst in ihrer Ambiguität erkennen. Gleichzeitig lernen sie dabei, dass das Böse ein natürlicher Teil der eigenen Person ist und der richtige Umgang damit in der eigenen Verantwortung liegt. Das Beispiel der Variationen der künstlichen Menschen zeigt die Verantwortungslosigkeit im Umgang mit Anderen. In den genannten Beispielen ist dies vor allem die Verantwortungslosigkeit im Umgang

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»Die Hölle«

mit Neuem. Letztendlich aber zeigt sich hierin die Verantwortungslosigkeit gegenüber der eigenen Schöpfung. Die Phantasie des vom Menschen geschaffenen Wesens wird auch deshalb in der Literatur ausgelebt, weil der Held sich bei und mit den Menschen, mit denen er lebt, nicht wohl fühlt oder sie ihn nicht interessieren. Aber trotzdem lebt der Mensch in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Er wird in eine Gemeinschaft hineingeboren, lebt in einer Gemeinschaft und sucht sich eine Gemeinschaft, wann immer er etwas Neues beginnt und dafür seine Gemeinschaft verlassen muss. Mit und in dieser Gemeinschaft erlebt er sein Leben, denn niemand ist in seinem Leben allein. Mit und in dieser Gemeinschaft gibt jeder seinem Leben einen Wert und eine Bedeutung. Diese Sinngebung ist möglich dank der Vernunft, denn durch sie kann der Mensch von dem Erlebten Abstand gewinnen. Er kann sein Erleben und sein Handeln analysieren und bewerten. Es ist dem Menschen dank der Vernunft möglich, sich selbst und sein Leben aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten, diesem in einem Urteil einen Wert und eine Bedeutung zu geben und somit einen Sinn beizumessen. Dank dieser Distanzierung und Bewertung wird das Erleben des Menschen zur Geschichte, die entweder sich selbst oder Anderen erzählt wird. Aus den einzelnen Geschichten, die jemand einem Anderen oder einer Gemeinschaft mitteilt und die bestimmte Momente, Tagesabläufe oder längere Zeitabschnitte darstellen, wird am Ende des Lebens des einzelnen Menschen eine zusammenhängende individuelle Geschichte, nämlich seine Lebensgeschichte (vgl. auch Arendt. Vita. S. 231). Aus der Sicht des einzelnen Menschen ist er selbst in seiner Geschichte immer der Held, um den sich das Erlebte dreht. Die Anderen werden für ihn Nebendarsteller. Dies ist auch dann so, wenn jemand von einem Anderen erzählt, der somit Mittelpunkt der Geschichte ist. Die Bewertung und Sinngebung des Lebens erfolgt aber immer in Gemeinschaft und immer in Geschichten. Dementsprechend nimmt jeder Mensch immer Distanz zu sich selbst und zu dem Erlebnis, von dem er berichtet, und interpretiert dies. Als Held seiner Geschichte sieht der Mensch vor allem sich selbst und in der Regel ist der Held einer Geschichte immer gut und hat auch immer Recht. Selbst wenn er sich irrt, so kommt er dennoch auf den richtigen Weg zurück und erkennt das Recht, das er verteidigt. 286 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

»Die Hölle«

Deshalb kommt es ihm so vor, als sei er alleine auf der Welt. Gerade wenn er sich denkend nur mit sich selbst beschäftigt, kreist er nur um sich. Ihm selbst fehlt die objektive Perspektive auf sich und auf die Wirkung seiner Erscheinung in Gemeinschaft. Er hat ein bestimmtes Bild von sich entwickelt, mit dem er mehr oder weniger zufrieden ist, und er lebt in Situationen, mit denen er mehr oder weniger zufrieden ist. Vor allem aber ist der Mensch neugierig und versucht immer wieder, die eigenen oder gesetzten Grenzen zu überwinden. Dabei will er sein Können unter Beweis stellen, denn ihm ist bewusst, dass er im Rahmen seiner körperlichen und intellektuellen Fähigkeiten viele Möglichkeiten hat. Jeder steckt sich immer wieder neue Ziele, die er erreichen will, und setzt alles daran, diese auch zu erreichen. Solange der Mensch nicht auf ein definitives Verbot oder eine definitive Grenze stößt, wird er sein Können ausprobieren. Dies gilt vielleicht nicht für jeden einzelnen Menschen, aber für die Menschheit als solche. Dieses Ausprobieren des menschlichen Könnens betrifft alle Bereiche des Lebens. Da sich der Mensch allein fühlt, kommen ihm Zweifel hinsichtlich der anderen Menschen. Sie scheinen ihm zwar ähnlich, aber es fragt sich, ob sie ihm auch gleich sind. Erst durch das Kennenlernen des Anderen im gemeinsamen Erleben und miteinander Erzählen wird der Andere als Gleicher erkannt und als ebenbürtiger Mensch anerkannt. Mit dem Erkennen des Anderen beginnt aber auch sofort das Vergleichen mit dem Anderen. Ebenso wie der Mensch sich dank seiner Vernunft selbst und seinem Leben einen Wert und eine Bedeutung gibt, so bewertet und beurteilt er auch den Anderen, sobald er sich mit ihm auf irgendeine Weise vergleicht. Dabei fällt die Beurteilung zunächst immer aufgrund einfacher Kriterien aus, nämlich ob der Andere einem selbst gut tut oder schadet. Dementsprechend wird der Andere kategorisiert und dann auch behandelt. Der gute Andere wird geschätzt, anerkannt und seine Grenzen werden respektiert. Dem vermutet »bösen Anderen« dürfen wir in jeder unserem Können möglichen Weise Schaden zufügen. Die Beurteilung des Anderen erfolgt in Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft, und auch dies geschieht in Form von einer Geschichte oder von Geschichten, die über den Anderen erzählt werden. Dabei glauben wir diese Geschichten und je weniger wir den Anderen kennen, umso weniger hinterfragen wir, was wir hören. Der Andere 287 https://doi.org/10.5771/9783495824214 .

»Die Hölle«

ist uns also in seinem Sein und Handeln scheinbar bekannt, tatsächlich kennen wir ihn aber nicht. Ob aus Angst vor der eigenen Ausgrenzung oder weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, es ist die fehlende Bereitschaft, in einer wirklichen Gemeinschaft zu leben, die sich durch gegenseitige Anerkennung und interessierten Dialog auszeichnet, die jeden Menschen immer noch davon abhält, sich seiner Vernunft zu bedienen, eigenständig zu denken und den Anderen wirklich kennen zu lernen. Sowohl die literarische Personifikation des Bösen als Anderer als auch das Nachdenken über das Böse der Philosophen thematisieren, dass das menschliche Leben aus Entscheidungen und Handlungen besteht. Beides beruht auf der Individualität des Einzelnen und seiner Fähigkeit, sich seiner Vernunft zu bedienen. In der Literatur wird dies anhand von Charakteren verdeutlicht, die Philosophie fordert durch Herausarbeiten von Prinzipien und deren Verdeutlichung anhand von konkreten Beispielen zum eigenständigen Nachdenken auf. Jede Entscheidung und jede Handlung liegen in der Verantwortung jedes Einzelnen. Auch dies wird in Literatur und Philosophie deutlich. Es reicht also im Leben nicht aus, sich verführen und sich von jemand Anderen einfach gedankenlos mitreißen zu lassen und ihm schließlich die Schuld für die eigene Unzufriedenheit oder gar das eigene Scheitern zu geben. Nicht der »böse Andere« ist verantwortlich für das Tun und Lassen des Menschen. Vielmehr muss sich jeder Einzelne bewusster seiner eigenen Vernunft bedienen. Nur so kann er sich seiner Verantwortung für sein Verhalten und seine Handlungen selbst bewusst werden und diese übernehmen, und seine Welt und sein Leben aktiv gestalten. Den Anderen als Bösen zu stilisieren und zu brandmarken ist eine Flucht vor dem eigenständigen Denken und vor der eigenen Verantwortung. Sollte er seinen eigenen Lebensmöglichkeiten auf diese Weise ausweichen, so mag jeder für sich erkennen: Die Hölle, das bin ich selbst.

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Danksagung

Das vorliegende Werk ist als Habilitationsprojekt mit dem Titel Die Personifikation des Bösen als anti-aufklärerisches Prinzip begonnen worden. Um dieses Projekt voranzutreiben, wurde mir die Unterstützung des Frauenbüros der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Form eines 2-jährigen Postdoc-Stipendiums zuteil, wofür ich mich an dieser Stelle nochmals bedanke. In den darauffolgenden 10 Jahren förderte die NoMaNi-Stiftung meine Forschungen diesbezüglich und auch weitere Forschungen durch eine Projektstelle. Der Stiftung gilt mein herzlicher Dank für das in mich gesetzte Vertrauen und die mir damit gegebenen Möglichkeiten. Lebenswege ändern sich ebenso wie Denkwege. Deshalb danke ich allen, die mich in den vergangenen Jahren begleitet und unterstützt haben und mir neue Perspektiven im Leben und im Denken eröffneten. Danke an meinen Mann Stephan und meine Familie. Ich danke dem Verlag Karl Alber, Herrn Trabert und Frau Markovic für die Anregungen und die Drucklegung. Mein besonderer Dank für die gelungene künstlerische Gestaltung des Titelbildes gilt Dr. Fiona Dowling.

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