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German Pages 325 [328] Year 1996
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Band
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann
Annette Gerok-Reiter
Wink und Wandlung Komposition und Poetik in Rilkes »Sonette an Orpheus«
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gerok-Reiter,
Annette:
Wink und Wandlung : Komposition und Poetik in Rilkes »Sonette an Orpheus« / Annette Gerok-Reiter. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 140) NE: GT ISBN 3-484-18140-0
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung ι. Forschungssituation 2. Methode
II.
Die Struktur des Zyklus ι. Schirmherrschaft des Orpheus ι. ι. Entstehung 1.2. Explication orphique de la Terre 2. Das musikalische Prinzip 2.x. Die lineare Abfolge 2.2. Symphonische Verfugung 3. Die »unerhörte Mitte« 3.1. Die Wiederkehr des Gleichen 3.2. Sei immer tot in Eurjdike
ι ι 6 15 15 15 17 28 28 37 44 46 59
III. Die Sprache der Form ι. Das Sonett 1.1. Die Spielregeln 1.2. Der Einsatz des Reims 1.3. Der Widerspruch im Rhythmus 2. Maß und Übermaß 2.1. Orpheus: der apollinisch-dionysische Gott 2.2. Diagnose der Gegenwart
68 68 68 83 90 100 100 106
IV. Die Poesie der Grammatik ι. Das Dichten von der Sprache her 1.1. Metamorphose der Wörter 1.2. Wortgenetische Technik 1.3. Die Dame und der Silberspiegel 2. Das lyrische Ich 2.1. Dekomposition des Subjekts 2.2. Die Pronominalstruktur
114 114 115 121 126 134 134 140 V
V.
ζ . y Orpheus und sein Adept 3. Komposition der Syntax 3.1. Syntaktisches Raffinement 3.2. Rhetorik von Evokativ, Imperativ, Frage und Sentenz . 3.3. Das Musik-Paradigma Exkurs: Valérys Eupalinos ou l'Architecte
146 159 159 171 183 186
Figur und Chiffre ι. Vergleich - Metapher — Chiffre/Figur 1.1. Das sinnliche Äquivalent 1.2. Spanische Tänzerin 1.3. Tänzerin: 0 du Verlegung 1.4. Die >umgestülpte< Metapher 2. Das Janusgesicht des Unsichtbaren 2.1. Die Krise der Dinge 2.2. La mort d'Arlequin Exkurs: Klees konstruktive Abstraktion 2.3. Die kinetische Einbildungskraft 2.4. Natur und Kunst: Bewegung und Figur 2.5. Das »Gespenst des Vergänglichen«
197 197 197 202 209 218 222 222 227 234 238 249 255
VI. Erinnerung ι. Motiventschlüsselung: Erinnerung als Korrelat der Evocatio 1.1. Lyrische Summe: Baum 1.2. Hermetik und Auflösung 2. Das gewußte Bild: Erinnerung als Korrelat der Anschauung 2.1. Technik der Enthaltsamkeit 2.2. Mnemotechnik contra Mimesis Exkurs: Baudelaires »mnémotechnie du beau« 2.3. Das »Herz-Werk« 2.4. »Wisse das Bild« 3. Weltinnenraum: Erinnerung als Katalysator der Epiphanie . 3.1. Die poetische Landschaft 3.2. Die Technik der Epiphanie
263 264 264 270 272 273 277 279 283 291 294 294 297
VII. Schlußbemerkung: Diktat und Komposition
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Literatur
307
VI
Einleitung
i. Fofschungssituation Die Rezeption der Sonette an Orpheus wurde bis in die fünfziger Jahre hinein von einer doppelten Hypothek belastet: von Rilkes zunächst keineswegs enthusiastischer Einschätzung seines Werks und von dem ebenso peripheren Interesse der Forschung. Die Parallele dieser anfänglichen Fehleinschätzung von Autor und Forschung beruht auf einem für die Literaturwissenschaft der Vorkriegsjahre signifikanten Irrtum. Nicht die Dichtung selbst, sondern Äußerungen und Biographie des Dichters bildeten Grundlage und Maßstab der ästhetischen Beurteilung. In der Tat stand für Rilke das überraschende »Diktat« der Sonette an Orpheus völlig im Schatten der Duineser Elegien. Deren Vollendung feiert er als das triumphale Ereignis des ertragreichen Februars 1922. In den Briefen aus dieser Zeit werden die Sonette an Orpheus zunächst nicht, dann nur zögernd erwähnt. Und selbst als der Zyklus mit 5 5 Gedichten seinen vollen Umfang erreicht hat, bezeichnet Rilke ihn noch als »kleinen Gedichtkreis« neben der »großen Hauptarbeit« der Duineser Elegien. 1 Rilkes spontane Einschätzung bemißt sich an dem unvergleichlichen Energieaufwand beiden Werken gegenüber. Zehn Jahre hatte er um die Duineser Elegien gerungen, Jahre voller Unruhe, Krisen und Zweifel. Mit dem Gelingen oder Scheitern der Elegien stand oder fiel, so meinte er, die Legitimation seiner dichterischen Existenz, seines Lebenswerks sowie seiner Lebensweise. 2 Doch Mühsal und existentielle Dringlichkeit bürgen per se keineswegs für die Qualität eines Kunstwerks. Noch weniger gilt der Um1
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Vgl. etwa die Briefe vom 9. 2. 1922 an Anton Kippenberg, 1 1 . 2. 1922 an Fürstin Marie von Thum und Taxis, 1 1 . 2. 1922 an Lou Andreas-Salomé, 20. 3. 1922 an E. de W. und vom 19. 5. 1922 an Lisa Heise. Siehe dazu die einschlägigen Biographien mit den entsprechenden Textdokumenten; grundlegend: Schnack, Rainer Maria Rilke. Chronik, S. 742-798, und von Salis, Rainer Maria Rilkes Schweizer Jahre, S. 94—1 }o; weiter: Leppmann, Rilke, S. 389—434, Prater, Ein klingendes Glas, S. 561—590, Holthusen, Rainer Maria Rilke, S. 132—152, Mason, Rainer Maria Rilke, S. 104—134, Steiner, Rainer Maria Rilke und die Schweiz.
ι
kehrschluß. Dies ist Rilke sehr bald bewußt geworden. Verbunden damit war die allmähliche >Rehabilitierung< der Sonette. Sie basierte auf einem bisher wenig beachteten, dennoch aber bemerkenswerten Phänomen. Erst über die akustische Rezeption lernte der Autor sein eigenes Werk kennen und schätzen. Am 20. April 1923 schreibt Rilke an Xaver von Moos: Ich dringe auch selber erst mehr und mehr in den Geist dieser Sendung ein, als die die Sonette sich darstellen. Was ihre Auffaßlichkeit angeht, so bin ich jetzt [. . .] völlig imstande, diese Gedichte, vorlesend, genau mitzuteilen, es ist nicht eines, das dann dem Verständnis des Zusammenhangs sich entzöge. Das, neulich, zu erproben, hat mich außerordentlich erfüllt und befriedigt.
Die Betonung der Hör- bzw. Leseerfahrung steht in Rilkes Korrespondenz keineswegs singulär.' Mit verblüffender Konstanz durchzieht sie alle Zeugnisse der Um- und Aufwertung der Sonette. Das akustische Wahrnehmen avanciert zum entscheidenden Medium eines vertieften Verständnisses. Was in der prononcierten Hörerfahrung zutage tritt, verweist auf ein Konstituens jeglicher Lyrik: den profilierten Aussagewert der Klänge, der Rhythmen, der akustischen Verhältnisse — Spurenelement ihrer altgriechischen Herkunft aus der Musik, an die der Gattungsname noch immer erinnert. Was jedoch mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert bis zum totalen Buchkonsum am Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend in Vergessenheit geriet, erscheint in den Sonetten, die dem Sängergott Orpheus unterstellt sind, von neuer, grundlegender Bedeutung. Ihr Sinngehalt erschließt sich in eminentem Maß über ihre musikalische Matrix. Erst die sinnliche Aktualisierung ihrer akustischen Verhältnisse offenbart die Schönheit, Subtilität und Aussagedimension des Werks. Dies wurde Rilke durch das Vorlesen zur frappierenden Erfahrung — einer Erfahrung, die sein ursprüngliches Urteil in Frage zu stellen und zu revidieren vermochte: Das Resultat der hörenden Annäherung an das eigene Werk bezeugt der bekann'
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Vgl. etwa die Briefe vom 8. 2. 1922 an Nanny Wunderly-Volkart: »—aber dann möcht ich mirs nicht vorwegnehmen, Ihnen die Gedichte selbst zu lesen, zumal das Vorlesen ihnen sehr zustatten kommt«; vom 14. 6. 1922 an Fürstin Marie von Thum und Taxis: »Und die Sonette, die ich neben ihrem älteren und erhabeneren Geschwister, den Elegien, etwas leicht nahm, haben erst S i e mir, Fürstin, hat mir die wunderbare Art Ihres Hörens, in ihrer ganzen Bedeutung geschenkt. Glauben Sie, Ihre Aufnehmung hat mir erst die Leistung, die da war, abgeschlossen und reich und beglückend vollendet«; vom 23. 6. 1922 an Dory von der Mühll: »Es war mir eine tiefe Bewegung, die Aufnehmung zu erleben, die die Fürstin T. den Elegien zu bereiten wußte! Einen Tag las ich ihr alle zehn, den folgenden die Fünfzig Sonette an Orpheus, deren innere Einheit und deren Zusammenhang mit den Elegien, die sie herrlich parallelisieren, mir erst über diesem Anhören fühlbar geworden ist«; und vom 23. 4. 1923 an seine Frau: »ich selbst habe diese Gedichte [. . .] erst jetzt, im Vorlesen, nach und nach begreifen und genau weitergeben gelernt [. . .]«.
te B r i e f an H u l e w i c z v o m 1 3 . N o v e m b e r 1 9 2 5 . Elegien
u n d Sonetten spricht
R i l k e darin - trotz ihres unterschiedlichen C h a r a k t e r s - dezidiert den gleichen R a n g zu: D i e Sonette an Orpheus seien »mindestens e b e n s o >schwer«< w i e die Duineser Elegien u n d » v o n der gleichen E s s e n z erfüllt [ . . . ] . E l e g i e n und Sonette unterstützen einander beständig«. D i e F o r s c h u n g hat i m G a n z e n ihrer B e u r t e i l u n g den allmählichen
Um-
schwung v o n Rilkes Einschätzung nachvollzogen, wenn auch, wie Beda A l l e m a n n festgehalten hat, mit g r o ß e n V e r z ö g e r u n g e n und a u s g e p r ä g t e r e m Pendelschlag. 4
S o hat die A n e r k e n n u n g
der Sonette an Orpheus
teraturwissenschaftlicher Seite die Duineser
Elegien
inzwischen
von
li-
eingeholt,
w e n n nicht s o g a r ü b e r f l ü g e l t . D a b e i heben die Interpreten in a u f f a l l e n d e r Ü b e r e i n s t i m m u n g die K a n t a b i l i t ä t , die musikalische Qualität und bezaubernde L e i c h t i g k e i t der Sonette an Orpheus h e r v o r ' — auch dies g l e i c h s a m in später N a c h f o l g e v o n R i l k e s akustischer S c h l ü s s e l e r f a h r u n g . A n g e s i c h t s des außerordentlichen
R a n g s , der den Sonetten
an Orpheus
inzwischen
ohne
4
Allemann, Zeit und Figur, S. 299^: »Die Wirkungsgeschichte erweist sich bei Rilke in besonders deutlicher Art als eine einzige Kette von > Verspätungen [ . . . ] . Die letzten kühnsten und im Rahmen der Probleme der modernen Lyrik entscheidenden Vorstöße Rilkes sind ausnahmslos erst von 1950 an der Öffentlichkeit zugänglich geworden [. . .]. Im Bereich der großen, heute verebbten Woge der Rilke-Nachahmung waren sie noch gar nicht sichtbar geworden. Dort hatte man sich im äußersten Fall an die Elegien gehalten — an eine Dichtung also, die unbeschadet ihrer Großartigkeit im Ganzen gesehen eher eine Liquidation des europäischen Symbolismus in seiner deutschen Ausprägung als den Gewinn einer neuen dichterischen Dimension bedeutet. Es mag damit zusammenhängen, daß in der Forschung die Aufmerksamkeit sich allgemach auf die Orpheus-Sonette verlagert hat, die Rilke selber anfänglich so sehr als bloßes Nebenprodukt der Elegien unterschätzte. Sie sind das unsichtbare Monument, das am Eingang zu der Lyrik von Rilkes fünf letzten Lebensjahren steht.«
'
Holthusen, Rilkes Sonette an Orpheus, S. 189, versteht die Sonette als »Konsequenz der Elegien«; Mörchen, Rilkes >Sonette an OrpheusKeimzellenprinzip< von Rilkes poetischer Verfahrensweise am prägnantesten zeigt. Besonderes Gewicht fällt weiter auf die Untersuchung der Pronominalstruktur und des lyrischen Ich, auf das Raffinement der Syntax und schließlich auf die Chiffrenbildung zwischen Abstraktion und Konkretion. Das sieht unweigerlich nach trockener Philologie aus. Und — zugegebenermaßen — die sprachliche Detailarbeit wird immer wieder Geduld abverlangen. Doch hat bereits Allemann darauf hingewiesen, daß in Rilkes 19 20
8
Vgl. den Br. v o m 10. 8. 1903 an L o u Andreas-Salomé. Schadewaldt, Die A n f ä n g e der Philosophie bei den Griechen, S. 362.
Spätwerk Poesie und Poetik untrennbar sind. 21 Die Poetik ist der Dichtung inhärent, nicht nur im Sinn thematischer Reflexionen, sondern weit mehr in der Typologie der sprachlichen Formen, in der sich die poetologischen Gesetzlichkeiten nicht in ihrem Anspruch, sondern in ihrer tatsächlichen Realisation zeigen. Diese unlösbare Korrelation von Komposition und Poetik kann an den Sonetten an Orpheus vorbildlich aufgezeigt werden: So konfrontiert etwa die Untersuchung der zyklischen Struktur unweigerlich mit der Ambivalenz zwischen der geforderten Kürze des symbolistischen Gedichts und seinem Anspruch auf universale Sinngebung. Die prekäre Dynamisierung der Sonettform wirft die Frage nach dem Verhältnis von Maß und Übermaß, apollinischem und dionysischem Element in Rilkes Dichtung auf - eine Grundfrage der Kunst schlechthin, die jedoch auch bei Rilke erst unter dem >Akut des Heutigen< ihre Relevanz gewinnt. In der Spannung zwischen der Dekomposition des neuzeitlichen Subjekts, das zum Skandalon der modernen Philosophie geworden ist, und der Rehabilitierung der Ich-Aussage in Rilkes später Dichtung steht die Untersuchung des lyrischen Ich. Worauf die komplexe Syntax und die didaktischen Redefiguren in den Sonetten zielen, kann nur im Rahmen jener fruchtbaren Diskussion um den modernen >WerkAkt des Lesens< und den spezifischen Rezeptionsanspruch eines Textes deutlich werden. Schließlich erfordert die Deutung von Rilkes Figurkonzeption und seiner eigenwilligen Chiffrensprache eine Auseinandersetzung mit der Maxime der V e r w a n d l u n g des Sichtbaren ins Unsichtbare^ mit den Möglichkeiten und Grenzen einer mimetischen und einer abstrakten poetischen Verfahrensweise. Rilkes kinetische Einbildungskraft, in Verbindung mit jenem neuralgischen Streitpunkt nach dem Stellenwert der Temporalität in seinem Werk, rückt dabei eingehend in den Blick - Aspekte, die es schließlich erlauben, nach der grundlegenden Funktion der Erinnerungstechnik des Spätwerks zu fragen. Insgesamt wird so eine vielschichtige Interpretation angestrebt. Doch es ist der Preis der wissenschaftlichen Analyse, dasjenige diachron aufsplittern zu müssen, was sich synchron im Gedicht entfaltet. Insofern hinkt jede Analyse hinter der Sinnvielfalt ihrer Vorlage hinterher. Besonders deutlich ist dieses Defizit etwa in den Interpretationen unter primär rhythmischem oder syntaktischem Aspekt oder bei der Isolation von Textstellen gemäß stiltypologischen Konstituenten. Die Interpretationen unter dem Primat einzelner Aspekte sind daher als bloßes Hilfsmedium anzusehen, unterwegs auf eine integrale Textdeutung hin. Der Wechselbezug von synchroner und diachroner Betrachtung, Detailanalyse und perspektivischem Weitwinkel bleibt verbindlich.
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Allemann, Zeit und Figur, S. 305.
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Bei all dem erfordert die implizite Korrelation von Komposition und Poetik gleichsam eine doppelte Leserichtung: Einerseits ist die Gültigkeit der poetologischen Kategorien, die das bisherige Werk geprägt haben, an den Sonetten an Orpheus zu überprüfen. Die Defizite sind festzuhalten, die Transformationen zu verfolgen, die Kontinuitäten hervorzuheben. Andererseits sind jedoch auch die neuen poetologischen Grundsätze, die sich aus der Komposition der Sonette an Orpheus erschließen lassen, aufzuzeigen. Inwieweit dabei die Konzeption des symbolistischen Gedichttypus in Frage gestellt oder sogar verlassen wird, ist zu klären. Bereits Valéry weist auf jenen inneren Widerspruch der poésie pure, der ihre autarke Organisation als Idee und somit ihre reale Annahme als Fiktion entlarvt: Poésie pure versteht er als »un système complet de rapports réciproques entre nos idées, nos images, d'une part, et nos moyens d'éxpression, de l'autre«; dies aber sei »un objet impossible à atteindre«, »état purement idéal«. 22 Sein Grundgedanke - die »Endlichkeit der Form als unendliche Aufgabe« 2 ' - enthält jenen Zündstoff, der von vornherein die geschlossene Form transzendiert, nicht nur in Hinblick auf die primäre, fortgesetzte Produktivität des Autors, sondern auch in Hinblick auf die sekundäre Produktivität des Lesers. Valérys Verständnis der Kunst als action, als Handlung und Inszenierung findet in verblüffender Parallele in den Sonetten an Orpheus seine Fortsetzung: ein Beispiel für jene doppelte Schwellenposition, die die Sonette an Orpheus einnehmen: sie tradieren nicht nur die Kategorien der symbolistischen >klassischen< - Moderne, sondern enthalten auch eine Bewegung, die diese Kategorien aufbricht. Dadurch eröffnen sie tendenziell eine neue Dimension des Sagens, eine Dimension, die erst eigentlich die Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg -»sieben Rosen später« und »mit wechselndem Schlüssel« — ausmessen wird. Für diese umfassenden Fragestellungen reicht jedoch eine allein werkimmanente Interpretation nicht aus. Der Blickwinkel ist zu erweitern und zu ergänzen. Denn so sehr die subtile Textanalyse die Grundlage der Untersuchung sein muß, so sehr würde eine einfache Äquivokation von Sache und Methode in die Irre führen. Das künstlerische Credo l'art pour l'art hat selbst bestimmte historische Voraussetzungen, die es relativieren: die Gefährdung der Individualität im beginnenden Massenzeitalter, der inflationäre Mißbrauch der Sprache — auch und gerade im politischen Bereich, die zunehmende Isolation und Außenseiterposition des Dichters, die Erforder" 23
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Valéry, Poésie pure. Notes pour une conférence, in: Œuvres, Bd. I, S. 1456—1463, hier S. 1457. Blumenberg, Sokrates und das >objet ambigui — Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, S. 303.
nisse der Arbeitsteilung und des Spezialistentums, die verlorene Verbindlichkeit überkommener Traditionen und Werte. Genauso ist auch jedes einzelne Gedicht verwurzelt in Geschichte und Gesellschaft, Ausdruck ihrer Antagonismen und Idiosynkrasien, grundiert durch einen »kollektiven Unterstrom«. 24 Sein spezifisches historisches und soziologisches Umfeld ist ihm affirmativ oder kontrastiv eingeschrieben. »Das absolute Gedicht — nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben«, betont Celan in seiner Büchnerpreisrede, 2 ' und ihm ist aus der geweiteten literarhistorischen Perspektive entschieden recht zu geben. Der weitgefächerte Kontext an biographischen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Bezügen, den die Sonette an Orpheus gemäß symbolistischer Poetik verschweigen, ja sogar oftmals unkenntlich machen, muß in die Überlegungen einbezogen werden. Nicht um die Sonette damit in ihrem Entstehungsprozeß begründen zu können, sondern um sie in ihren genetischen und epochalen Zusammenhängen zu verstehen. Ernst Zinn, dem die Rilke-Philologie so viel verdankt, bringt das Dilemma der poésie pure, das durch die Diskrepanz ihrer formalen Autarkie einerseits, der Notwendigkeit ihrer literaturwissenschaftlichen Erläuterung andererseits entsteht, auf den Punkt. 1948 schreibt er in bezug auf Rilkes Gedichte Der Geist Ariel und Zu einer Zeichnung John Keats im Tode darstellend·. »Was man >voraussetzungslos< nennt, sind solche Gedichte nicht. Aber man braucht die >Voraussetzungen< nicht zu kennen [. . .], um die Gedichte als >Gedichte< in sich aufnehmen zu können.« 26 Angesprochen ist wiederum die melodische Uberzeugungskraft der Rilkeschen Lyrik, ihr verführerischer Klangzauber, der den Genuß und die Lust am literarischen Text auch jenseits eines Begreifens erlaubt. Doch der philologischen Untersuchung, an deren Anfang durchaus jene Bezauberung stehen darf und soll, ist es nicht gestattet, der Sirenenstimme zu verfallen, sondern sie muß - gebunden an den Maßstab kritischer Urteilskraft — in die Zonen des Verstehens vorstoßen. Dazu sind die biographischen Bedingungen, die disparaten kulturellen Impulse, die Einbruchsteilen der Geschichte in Rechnung zu stellen.27 24 21 26 27
A d o r n o , Rede über Lyrik und Gesellschaft, S. 58. Celan, D e r Meridian, in: Ges. Werke, Bd. I I I , S. 199. Z i n n , Rainer Maria Rilke und die Antike, S. 234. Trotz ihres sprachstrukturellen Ansatzes richtet sich meine Arbeit somit entschieden gegen die These, Rilkes Dichtung bewege sich im ahistorischen Elfenbeinturm reiner Ästhetik. Diese These basiert zum einen auf dem V o r w u r f des Manierismus. Scharf hat ihn Christoph Meckel formuliert: »Die ständig gespreizte, fortwährend salonfähige und selbstgefällig gurrende Schöngeisterei, die prätentiöse Korrespondenz, das zeitraubende, delikate und feingestimmte Räsonieren über Bildungserlebnissse, Arbeitsschwierigkeiten, Liebe und Tod, manikürte G r a m matik und blendende Perfektion der Reime, die v o n unechten T ö n e n unerträglich glitschig klingende Manier seiner lyrischen Sprache - zum Teufel damit« (Rilke?,
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Ein unersetzliches Hilfsinstrument bietet in dieser Hinsicht Rilkes ausführlicher Briefwechsel. Ratsam ist es jedoch, diese >Werkbiographie< immer auch gegen den Strich zu lesen — als Dokument eines Grenzgangs zwischen Dichtung und Wahrheit, Intention und Realität, stilisierender Selbstdarstellung und hilflosem Eingeständnis. Darüberhinaus ist der kunst- und kulturhistorische Kontext einzubeziehen. Aspekte des französischen Symbolismus sowie der bildenden Künste bieten vielfach die Vergleichsfolie. Zentraler Bezugspunkt ist schließlich das Orpheusmotiv. Die Grundlage der Auseinandersetzung bildet dabei der traditionelle Orpheusmythos. Da die Orpheusgestalt jedoch in der Rilkeschen Anverwandlung und Umwandlung ihre besondere Bedeutung als poetologische Integrationsfigur verschiedenster Sprachphänomene erlangt, wurde davon abgesehen, Orpheus ein eigenes Kapitel zu widmen. Die charakteristischen Aspekte seiner poetologischen Valenz zeigen sich — leitmotivisch — erst in der direkten Analyse und unter den divergierenden Gesichtspunkten der einzelnen Kapitel, nicht in einem theoretischen oder summarischen Überblick. Schließlich zielen die Interpretationen in ihrer Vielschichtigkeit darauf, jene geschichtliche Spannung aufzudecken, die im Werk Rilkes zur Sprache kommt und die die wesentliche »Grundkategorie ist, auf die wir in poetologischen Reflexionen zu rekurrieren haben«.28 Dabei ist die historische
28
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S. 79). Bereits zu Rilkes Lebzeiten war der Manierismusvorwurf, verbunden mit der ablehnenden Beurteilung der >femininen< Persönlichkeit Rilkes, erhoben worden. K a r l K r a u s spricht in Briefen an Sidonie Nadherny v o n Borutin polemisch nur von »ihr«: »Maria« sei »ein schwankendes R o h r im Winde« (Rilke? Kleine H o m m a g e , S. 50—32, hier S. } i ) . D e r Manierismusvorwurf erneuerte sich in der Nachkriegszeit unter den Maßstäben der G r u p p e 47, die Hemingway mehr schätzte als Celan und eine Kahlschlagsliteratur forderte, wie sie G ü n t e r Eichs »Inventur« repräsentiert. Und schließlich wird die Manierismusdebatte in den späten 60er Jahren wieder virulent in politisch-gesellschaftskritischer Perspektive. — Rilkes Werk zeigt ohne Z w e i f e l eine extreme Fülle an sentimentalen, gestelzten oder krampfhaft wirkenden Manierismen. D o c h hat die Rilke-Forschung seit den 70er Jahren - nüchterner im Blick, kritischer in der Beurteilung und interessierter am sprachlichen Detail — versucht, das Innovative und Richtungsweisende von Rilkes Sprachgebrauch abzugrenzen gegen Kitsch, Prätentiöses, Mißlungenes. Beispiele f ü r die positiven Kategorien, die hierbei zum Tragen kommen, gibt wiederum Christoph Meckel: »die präzise und inspirierte Optik, die fast grenzenlose Musikalität in den Stücken ohne Manier, ein paar einfache Verse aus den letzten Jahren, de[r] A n f a n g des Malte Laurids B r i g g e , die unerhörte Weiträumigkeit der Duineser Elegien«; demgegenüber sei ihm »das zeitbedingte Marzipan [. . .] gleichgültiger geworden« (Rilke?, S. 80). Grundsätzlich jedoch gilt die Bemerkung Hans Carossas: » E s gibt Leute, die der Nachtigall ewig v o r w e r f e n , daß sie kein Adler ist [. . .]« (Rilke? Kleine H o m m a g e , S. 40). Allemann, Rilke und der Mythos, S. 2z. - E b e n deshalb wiegt schwerer als der Manierismusvorwurf der E i n w a n d , Rilkes Werk zeuge nicht von einem gesellschaftskritischen Bewußtsein. Die Frage ist jedoch, ob das Sammeln v o n politi-
D i f f e r e n z z w i s c h e n der G e g e n w a r t des Interpreten und der V e r g a n g e n h e i t des Werks im A u g e zu behalten. N u r im B e w u ß t s e i n der D i f f e r e n z kann es zu einer tatsächlichen K o n f r o n t a t i o n v o n E i g e n e m und F r e m d e m , somit schließlich
zu
jener
»Horizonterweiterung«
und
»Horizontverschmel-
zung« 2 9 k o m m e n , »durch die die V e r g a n g e n h e i t in die G e g e n w a r t hereingeholt und damit lebendig und f r u c h t b a r g e m a c h t w e r d e n kann«. J O Was R i l k e zu >sagen< hat, will v o m persönlichen S t a n d p u n k t u n d aus der historischen G e g e n w a r t eines jeden L e s e r s neu g e s e h e n , erfahren und beurteilt werden. E r s t e r und letzter A n h a l t s p u n k t der A n a l y s e bleibt der literarische Text. V o n i h m müssen alle weiteren F r a g e n a u s g e h e n , an ihn sind sie z u r ü c k z u sehen Aussagen des Autors oder das Herauslösen einzelner relevant erscheinender Textpassagen, wie es etwa Schwarz, Das verschluckte Schluchzen, und - trotz anderer Absicht — auch Grimm, Von der Armut und vom Regen, getan haben, die adäquate Vorgehensweise ist, um diesen Zusammenhang aufzudecken. Rilkes Äußerungen politischer Art zeigen erwartungsgemäß eine Spannweite von vernünftig bis katastrophal (katastrophal: etwa Rilkes Huldigungen gegenüber Mussolini in den »Lettres Milanaises«); ebenso kennzeichnet diese Spannweite aber auch die Schlußfolgerungen von Schwarz. So erscheint es absurd, wenn Schwarz die Aufzählung »Haus, / Brücke, Brunnen, Tor, K r u g , Obstbaum, Fenster - « der Neunten Elegie als konterrevolutionäre, vorkapitalistische Blut- und Bodendichtung bezeichnet (ebd., S. 103). Im Erbaulichen stecken bleibt der im Prinzip mit ähnlichen Mitteln arbeitende, nun aber vom >good will< geleitete Versuch von Zimmermann, die gesellschaftliche Relevanz bzw. »sanfte Moral« Rilkes nachzuweisen (Der Wahnsinn des Jahrhunderts, S. 1 5 7 - 1 6 5 , hier S. 157), um den Dichter umgekehrt von der »Verantwortungslosigkeit der Schöngeister« (S. 12) loszusprechen. Ebenso >gut gemeint 2 3 »Spiegel, du Doppelgänger des Raums! O Spiegel, in dich fort« SW II, 4 7 i f . , E n t w u r f zu 11,2, ι z . / i 5. Febr.
}. Sonstige Gedichte:
»Wir in den ringenden Nächten« SW II, 158, 9. Febr., vollendet (vgl. SW II, 474f-, E n t w u r f ) »Vasen-Bild« S W II, 1 3 8 , 1 1 . / 1 5 . Febr., vollendet »Mein scheuer Mondschatten spräche gern« S W II, 475, Mitte Febr., E n t w u r f
4. Prosa:
»Erinnerung in Verhaeren«, 1 2 . / 1 3 . Febr. »Der Brief des jungen Arbeiters«, 1 2 . / 1 5 . Febr.
die Einheit der Sonette einerseits in der stringenten A b f o l g e der Gedichte. Andererseits wird Orpheus als integrierende Bezugsfigur geltend gemacht. Oder aber man stützt sich allein auf das Kriterium der Sonettform. 8 Die
Während Mörchen wie J o h a n n a v o n Freydorf in der v o n Rilke festgelegten F o l g e der Gedichte eine »innewohnende L o g i k « zu erkennen meinen (Mörchen, Rilkes >Sonette an Orpheusspiralisch< in sich zurücklaufende Reihung ist, zu verwirklichen«. 9 Daran knüpft die Auslegung der zyklischen Struktur des Stundenbuchs von Cordula Gerhard an. 10 Zwar gäbe es im Stundenbuch kein sich entwickelndes Geschehen, sondern nur »ein statisches Kreisen um den sich ewig gleichen Mittelpunkt«; dies aber sei »Ausdruck des dichterischen Grunderlebnisses >SehnsuchtHymne, Harmonie und Freude< (»hymne, harmonie et joie«) sollen als reines Zusammentreffen universaler Beziehungen (»relations entre tout«) jene >hohe Symphonie< (»haute symphonie«) erzeugen, in der die Daseinsberechtigung der Literatur gründe. So entstünde jener >totale Rhythmus< (»rhythme total«), »lequel serait le poème tu, aux blancs; seulement traduit, en une manière, par chaque pendentif«. 35 Wie Mallarmé ist Rilke ein >Anhänger< des »stummen GedichtsheilenReifezeit< der Sprache auf deren historische Herkunft. Das Wurzelmotiv ist deshalb häufig geschichtliches Ursprungsmotiv. Als solches trat es bereits in der Stammbaummetaphorik (1,21) auf. In 11,27 wird es im autobiographischen Sinn auf die Kindheit bezogen. Auch in 1,26 sind die Bäume als Vermittler mythischer Vergangenheit Ursprung des orphischen Gesangs in der Gegenwart: Schließlich zerschlugen sie dich, von der Rache gehetzt, während dein K l a n g noch in L ö w e n und Felsen verweilte und in den Bäumen und V ö g e l n . D o r t singst du noch jetzt.
Die Verse 1,6 variieren das Ursprungs- und Vermittlungsmotiv: »Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden / Reichen erwuchs seine weite Natur. / Kundiger böge die Zweige der Weiden, / wer die Wurzeln der Weiden erfuhr.« Sie deuten den geschichtlichen Bezug als temporale Einheit von Toten und Lebenden. Ähnlich zielt die paradoxe Bildlichkeit von 11,23, konzentriert in der Genetivmetapher der letzten Zeile, auf die Erkenntnis der Identität in der Differenz als Voraussetzung eines integralen Bewußtseins: »Wir, gerecht nur, wo wir dennoch preisen, / weil wir, ach, der Ast sind und das Eisen / und das Süße reifender Gefahr.« Einen weiteren Aspekt des Baummotivs zeigt das Sonett 11,21. Auf die Gärten, »die du nicht kennst«, bezieht sich der rätselhafte Ausruf: »Daß du mit ihren, zwischen den blühenden Zweigen / wie zum Gesicht gesteigerten Lüften verkehrst«. In der komprimierten Bildlichkeit machen sich vorausgegangene, vielfältig durchdachte Erfahrungen geltend: 59 Die Zweige des 39
Dazu: Allemann, Zeit und Figur, S. 218—228. — Bereits 1 9 1 3 hatte Rilke das zugrundeliegende »Erlebnis« beschrieben: »Auch fiel ihm wieder ein, wie viel er darauf gab, in ähnlicher Haltung an einen Z a u n gelehnt, des gestirnten Himmels durch das milde G e z w e i g eines Olbaums hindurch gewahr zu werden, wie gesichthaft in dieser Maske der Weltraum ihm gegenüber war, oder wie, wenn er Solches lange genug ertrug, Alles in der klaren L ö s u n g seines Herzens so vollkommen
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Baums verstellen einen ungehinderten Blick in die Weite des Weltalls. In ihrer trennenden Funktion bestimmen und konturieren sie die Distanz, machen sie das Ubermaß der Weite spürbar. Erst die Kontur des Astwerks ermöglicht es der Ferne bzw. den »Lüften«, als »Gesicht« in Erscheinung zu treten. Indem der Baum verbirgt und im Verbergen offenbart, ist er »Maske«. Der Aspekt der Actio — »da stieg ein Baum« — wird durch den medialen Aspekt — der Baum läßt hervorkommen — ergänzt. In seiner medialen Funktion erlaubt der Baum die Erfahrung der présence absente, des »unendlichen Bezugs«, der sich dem »Besitz« verweigert. 40 Die für Rilkes Werk konstitutive Grundfigur der komplementären Spannung von Gegenwart und Abwesenheit prägt auch die Formulierungen der Sonette 1,2 »Die Bäume, die ich je bewundert, diese / fühlbare Ferne . . .« und 11,3 »wenn es dämmert, wie Wälder weit . . . / Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender / durch eure Unbetretbarkeit« sowie das mythische Bild in II, 12: Jeder glückliche R a u m ist K i n d oder E n k e l von Trennung, den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind.
Das Zusammenspiel von Baummotiv und Wind nutzt Rilke in verändertem Kontext und in komplexer Umdeutung zu einer subtilen Variation der Thematik. In der Schlußstrophe von II, 1 werden Luft und Baummetonymien bis zur Identität angenähert: Erkennst du mich, L u f t , du, voll noch einst meiniger Orte? D u , einmal glatte Rinde, R u n d u n g und Blatt meiner Worte.
Die Luft des Weltraums ist »voll noch einst meiniger Orte«, da sie den »eignen« Atem enthält. Dieser eigene Atem ist Bedingung der Möglichkeit von Sprache, Mittel der Artikulation: »Atmen, du unsichtbares Gedicht!« (II, 1). Wie Rinde, Rundung und Blatt dem Aufsteigen des Baums Gestalt geben, so erlaubt der individuelle Atem das »Aufsingen« (11,19) ' n Bildern der Sprache. Doch die persönlichen Worte haben ihre bildliche »Rinde« wieder eingetauscht, sie sind ins Schweigen des Weltalls zurückgesunken. In der Korrespondenz von individuellem Atem und der unbegrenzten Sphäre des »Weltraums« spiegelt sich das Verhältnis von Sprechen und ihm vorläufigem Schweigen. Die Struktur der présence absente kennzeichnet die poetische Sprache, die in der erfüllten Leere, dem Mallarméschen >stummen Gedicht aus weißen Stellen< ihren Ursprung hat.
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aufging, daß der Geschmack der S c h ö p f u n g in seinem Wesen war« (SW V I , io4of.). Verbunden mit dem Schicksalsmotiv taucht die Bildkonstellation in den einige Monate später entstandenen Versen auf: »Hinter den schuld-losen Bäumen / langsam bildet die alte Verhängnis / ihr stummes Gesicht aus« (SW II, 61). Vgl. den B r . v o m 22. 2. 1923 an Ilse J a h r . Z u r Alternative »Besitz« — »Bezug«: Fülleborn, »Besitz« und Sprache.
Alle bisherigen Aspekte fügt das Sonett II, 18 in großartiger Komposition zusammen. Es besingt den Tanz im Augenblick seiner Vollendung. Der »Wirbel am Schluß« wird als »Baum aus Bewegung« und schließlich als »Baum der Ekstase« beschrieben. Das Vergangene gewinnt Gegenwärtigkeit (»nahm er nicht ganz in Besitz das erschwungene Jahr«), das »Schwingen« konzentriert sich zum »Wipfel von Stille«, der »Wirbel« bringt die »ruhigen Früchte« hervor, der »Schluß« wird Ursprung. Der kontradiktorische Umschlag kennzeichnet den qualitativen Wechsel von der bloßen Steigerung zur »reinen Übersteigung«. Im ekstatischen Moment höchster Versammlung liegt der Entstehungsimpuls des Kunstwerks: A b e r er trug auch, er trug, dein B a u m der Ekstase. Sind sie nicht seine ruhigen Früchte: der K r u g , reifend gestreift und die gereiftere Vase? Und in den Bildern: ist nicht die Zeichnung geblieben [. . ,] 4 '
Auch der eruptive Anfang der Sonette an Orpheus gründet im ekstatischen Moment der Versammlung: »Da stieg ein Baum«. Das Steigen ist in diesem Moment übergangslos »reine Ubersteigung«, Umschlag in die Ganzheit des Seins, synonym der ordnenden Fülle orphischen Gesangs: »O Orpheus singt!« Und auch die >Früchte< reifen in diesem Augenblick: es sind die Gedichte des Zyklus. Über Motivanspielungen hinaus lassen sich Analogien ganzer Sonette und Sonettgruppen zwischen beiden Teilen feststellen: I,i und II, ι sowie 1,26 und 11,29 nehmen in ihrer den Zyklus eröffnenden sowie beschließenden Funktion deutlich Bezug aufeinander. In ihrem Zentrum steht Orpheus bzw. das durch ihn inaugurierte Gesetz der Verwandlung. Auch die vorletzten Sonette von Teil I und Teil II, die Wera gelten, weisen eine klare Symmetrie auf. Ebenso spielen die Sonette 1,2 und 11,2, wenn auch weniger deutlich, auf das frühverstorbene Mädchen an. Die inhaltlichen Leitfiguren, Orpheus und Wera, sind demnach durch markante Positionen der sie thematisierenden Sonette hervorgehoben. Mit ihnen erhält die Sonettfolge in jedem Teil vier >Eckpfeiler