Wiederverwendung von Antike im Mittelalter: Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers 9783110200829, 9783110184266

In the Middle Ages, imaginative re-use was made of architectural components from classical antiquity such as columns, ca

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Inhaltsverzeichnis
Laudatio Arnold Esch
Wiederverwendung von Antike im Mittelalter
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Wiederverwendung von Antike im Mittelalter: Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers
 9783110200829, 9783110184266

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Arnold Esch Wiederverwendung von Antike im Mittelalter

Akademieunternehmen „Griechische Christliche Schriftsteller“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Hans-Lietzmann-Vorlesungen

Herausgegeben von Christoph Markschies und Martin Wallraff Heft 7

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Arnold Esch

Wiederverwendung von Antike im Mittelalter Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018426-5 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dbb.de abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Rainer Engel, Berlin Für die Umschlaggestaltung wurden Abbildungen eines Mosaiks aus der Hagia Sophia (Istanbul; 9. Jh.) und des Codex Vat. Graec. 1209, fol. 65r (Rom; 4. Jh.) verwendet. Das Mosaik zeigt den Erzengel Gabriel, die Handschrift den griechischen Bibeltext Exodus 14,26 f. Datenkonvertierung: Readymade, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten (Allgäu)

Vorwort Mit der Serie der Hans-Lietzmann-Vorlesungen erinnern die BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften, die HumboldtUniversität zu Berlin und die Friedrich-Schiller-Universität Jena an den Kirchenhistoriker, Philologen und christlichen Archäologen Hans Lietzmann (1875-1942). Wir erinnern an Lietzmann, indem wir zu diesen Vorlesungen Gelehrte seiner interdisziplinären Weite einladen, deren Œuvre in die eine oder andere Beziehung mit der Lebensarbeit Lietzmanns gebracht werden kann. Arnold Esch ist zwar nicht der erste Historiker, aber der erste Mediävist in dieser Vorlesungsreihe, wiewohl er klassische Archäologie studiert hat, nach eigenem Bekunden durch Hermann Heimpel aus der Antike ins Mittelalter gelockt wurde und trotzdem – beispielsweise in einem Aufsatz über Kaiser Friedrich II. und die Antike oder über die Geschichte der Limesforschung1 – nie ganz von ihr gelassen hat. Hans Lietzmann wird man dagegen nicht zum Mittelalterhistoriker stilisieren können, und er teilt die Zurückhaltung vieler seiner evangelischen Kollegen gegenüber dieser Epoche, indem er bei seinen Veröffentlichungen von der Antike gleich in die Reformationszeit springt (wenn man einmal vom Hilfsbüchlein über die Zeitrechnung absieht2). Aber trotz dieser Unterschiede fallen mir auf Anhieb drei Vergleichspunkte ein, die Arnold Esch mit Hans Lietzmann verbinden: 1

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A. Esch, Friedrich II. und die Antike, in: Friedrich II. Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom im Gedenkjahr 1994, hg. v. A. Esch u. N. Kamp (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 85), Tübingen 1996, 201-226. H. Lietzmann, Zeitrechnung der römischen Kaiserzeit, des Mittelalters und der Neuzeit für die Jahre 1-2000 nach Christus (SG1085), Berlin 1934.

VI

Vorwort

Erstens verbindet Esch und Lietzmann ein dezidiertes Interesse an der Bereitstellung und Erschließung von Quellen im Rahmen von sogenannten Langzeitvorhaben. Lietzmann leitete in den Jahren 1930 bis 1942 die „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ und die übrigen Editionsarbeiten auf dem Gebiet der spätantiken Religionsgeschichte an der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Arnold Esch trug seit dem Jubiläumsjahr 1988 als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom Verantwortung für die bekannten Langzeitunternehmen des Hauses, beispielsweise für die Nuntiaturberichte und das Repertorium. Ein solches Engagement für die textliche Grundlage aller historischen Arbeit war immer schon umstritten, nicht erst in gegenwärtigen Zeiten. In einem programmatischen Aufsatz über „Stand und Tendenzen der Mediävistik“ hat Arnold Esch nicht nur den wunderschönen Satz formuliert: „Etwas Zeitgemäßeres als gute Quellenerschließung gibt es nicht“3, sondern auch ein Ideal einer gesunden Mischung von schlichter Quellenedition und neuen Fragestellungen an die alten Texte entworfen, dem sich auch Lietzmann verpflichtet fühlte. Durch das Œuvre beider Wissenschaftler zieht sich, wenn ich das so formulieren darf, eine erfrischende positivistische Note, beispielsweise dann, wenn in einem Aufsatz von Esch die Schwankungen im stadtrömischen Weinkonsum in den Jahren nach 1470 auf einer Tabelle dokumentiert sind4, oder wenn Lietzmann die methodische Scharlatanerie der zu Recht längst vergessenen Schallanalyse mit philologischer Exaktheit entlarvt. Zweitens scheint mir eine besondere erzählerische Kompetenz die Arbeiten von Esch und Lietzmann zu verbinden: Wenn man liest, wie Arnold Esch die Umstände und Gefahren der Reise 3

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A. Esch, Stand und Tendenzen der Mediävistik, in: Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. O. G. Oexle (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 2), Göttingen 1996, (7-44) 13. A. Esch, Ein Gang durch das Rom der Hochrenaissance, in: ders., Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten, München 2003, (44-64) 58.

Vorwort

VII

nach Rom beschreibt, die vier Dutzend Stühle im Hospiz um den Nußbaumtisch auf dem Großen St. Bernhard einem vor Augen malt und stadtrömische „Hotelkategorien“ bis hin zum „Bed-and-Breakfeast“-Äquivalent trotz erheblicher Probleme bei der Interpretation der Abrechnungsmodalitäten rekonstruiert5, fühlt man sich selbst auf dem Wege, und wenn er mit seinen Lesern durch das Rom der Hochrenaissance spaziert und vor dem Hotel „Gastliche Kuh“ am Campo de’ Fiori Halt macht oder die römischen Landschaften im Caffè Greco an der Spanischen Treppe einfühlsam interpretiert, sieht man sich unmittelbar in die Szenerie hineingenommen. Aber nicht nur vom Reisen, einem seiner bevorzugten Themen, weiß er ebenso bildreich wie detailliert zu erzählen, auch in scheinbar ganz schlichten wissenschaftsgeschichtlichen Aufsätzen dominieren die einprägsamen Bilder: Die großen deutschen Quelleneditionen des neunzehnten Jahrhunderts beschreibt er als „riesige Mähdrescher, die ganze Überlieferungslandschaften flächig abfraßen und gleich anschließend wohlsortierte, dichtgepreßte Bündel bearbeiteter Überlieferung ausstießen: CIL Band VI 1,2,3“6. Hans Lietzmann hat spät, erst nach vielen Jahren philologischer Arbeit, begonnen, seine scharfsinnigen, reich dokumentierten und luziden Analysen durch eine Erzählung zu ergänzen, und er tat es in den vier Bänden seiner „Geschichte der Alten Kirche“7 ebenfalls mit starkem Bezug 5

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A. Esch, Deutsche Pilger unterwegs ins mittelalterliche Rom. Der Weg und das Ziel, in: ders., Wege nach Rom (wie Anm. 4), (9-29) 14; ders., Preise, Kapazität und Lage römischer Hotels im späten Mittelalter. Mit Kaiser Friedrich III. in Rom, in: ebd., (30-43) 41. A. Esch, Die Gründung deutscher Forschungsinstitute in Rom 18701914, in: ebd., (120-151) 127. H. Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Bd. 1. Die Anfänge, Berlin 1932; Bd. 2. Ecclesia catholica, Berlin 1936; Bd. 3. Die Reichskirche bis zum Tode Julians, Berlin 1938 (Nachdruck Berlin 1999); von den ersten beiden Bänden erschien eine englische Übersetzung, vermutlich wurde ihr Erscheinen wegen des Kriegsausbruchs 1939 eingestellt. – Vgl. Lietzmanns Wort über seinen Vorgänger Hase, das auch für ihn selbst gilt: „Der alte Hase konnte wirklich noch erzählen und

VIII

Vorwort

auf die Details, in „Andacht zum Unbedeutenden“, wie das sein Lehrer Usener formuliert hatte. Drittens und letztens, so scheint mir, verbindet Hans Lietzmann und Arnold Esch eine gewisse Skepsis gegenüber der in Deutschland verbreiteten Attitüde, daß das notwendige Methodenbewußtsein der Geschichtswissenschaft „bisweilen etwas kräftig zur Schau gestellt und immer mit dem Charakterwort ‚Strenge‘ verbunden wird“8. Beide griffen mit spitzer Feder auf, wenn bestimmte Zugangsweisen zur Vergangenheit als neu ausgegeben werden, wiewohl sie es eigentlich gar nicht sind9. Beide votieren für eine am Sachproblem orientierte Integration verschiedener Methoden und gegen einseitige Zugriffe auf das Material. Und beide haben trotz ihrer Skepsis gegenüber allzu überbordender Methodenreflexion höchst anregend über methodologische Probleme des Faches geschrieben, Esch beispielsweise über Probleme der historischen Periodisierung10 und unsere etwas leichtfertige Kategorisierung von Personen als „überlebt“, „nachgeboren“ oder eben „modern“11, Lietzmann in seinen Auseinandersetzungen mit Bultmann, Fuchs und Lohmeyer. Und beide haben in

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nicht bloß über der Welt schwebend philosophieren“ (Brief Nr. 745 vom 19. 5. 1931, vermutlich an den Kröner-Verlag, in: K. Aland, Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann [1892-1942], Berlin 1979, 664); vgl. D. Wyrwa, Hans Lietzmanns theologisches Verständnis der Kirchengeschichte, in: G. Besier / C. Gestrich (Hgg.), 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, Göttingen 1989, 387-418 und E. Pältz, „Für Recht und Freiheit“. „Aufrichtigkeit und Treue“. Zum Lebenswerk und Vermächtnis des Jenaer Theologen Karl August von Hase (1800-1890), in: Beiträge zur Hase’schen Familiengeschichte Bd. 1, Mainz 1994, 9-46. Esch, Stand und Tendenzen (wie Anm. 3), 9. Esch, Stand und Tendenzen (wie Anm. 3), 12. A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: ders., Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994, 9-38. Zeitalter und Menschenalter (wie Anm. 10), 16.

Vorwort

IX

besonders eindrücklicher Weise die kontrollierte Phantasie für ihre historischen Analysen eingesetzt: Man schafft es kaum, sich von Arnold Eschs Idee zu lösen, daß aus dem antiken Pompeji ohne den Vesuv-Ausbruch ein unbeachtetes italienisches Landstädtchen namens Santa Maria delle Grotte12 geworden wäre, in dem alle Antiken unter dem Schutt der folgenden Bebauung verschwunden wären, und lacht Tränen über Hans Lietzmanns Fälschung einer byzantinischen Legende, mit der der bereits erwähnte Papst der Schallanalyse als Scharlatan entlarvt wurde. Die jährlich stattfindende Reihe der Hans-Lietzmann-Vorlesungen ist 1995 als Initiative der Theologischen Fakultät und des Instituts für Altertumswissenschaften der Friedrich-SchillerUniversität Jena begründet worden. Seit dem Jahr 2000 findet die Vorlesung auch in Berlin an der Akademie der Wissenschaften statt. Arnold Esch hat am 3.12.2003 in Jena und am Tag darauf in Berlin gesprochen. Daß beide Orte des akademischen Wirkens von Hans Lietzmann des großen Kirchenhistorikers bis heute dankbar gedenken, wird ab diesem Heft durch die gemeinsame Herausgeberschaft des Berliner und des Jenaer Patristikers ausgedrückt. Besonderer Dank gebührt wiederum dem Verlag de Gruyter für die kompetente und zügige Betreuung der Drucklegung. Berlin, im September 2004

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Siehe unten S. 13 f.

Christoph Markschies

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Wallraff, Laudatio Arnold Esch . . . . . . . . . . . . .

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Arnold Esch, Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausgewählte Bibliographie zur Spolien-Forschung . . . . .

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Bildlegenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Laudatio Arnold Esch von Martin Wallraff

Das wohl bedeutendste Buch, das Hans Lietzmann in seiner Jenaer Zeit geschrieben hat, hatte ein wichtiges Kapitel römischer Kirchengeschichte zum Gegenstand, nämlich „Petrus und Paulus in Rom“, in erster Auflage erschienen 19151. Zu den bemerkenswerten Resultaten gehört, daß die verehrte cathedra Petri, für die es schon früh ein eigenes Fest gab (am 22. Februar), zunächst nichts mit dem Bischofsstuhl zu tun hat, erst recht nicht mit dem späteren (Lehr-)Stuhl, also dem Lehramt der Päpste (man denke etwa an die dogmatischen Festlegungen des Papstes, cum ex cathedra loquitur, wie das Erste Vatikanische Konzil formulierte). Vielmehr liegen die Wurzeln im antiken Totenkult, bei dem Mahlzeiten am Grab abgehalten und dabei für die Verstorbenen Plätze freigelassen wurden2 – ein ganz ungewöhnlicher Transformationsprozeß von 1

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H. Lietzmann, Petrus und Paulus in Rom. Liturgische und archäologische Studien, AKG 1, Bonn 1915, Berlin 21927. Lietzmann, Petrus und Paulus in Rom, 21927 (wie Anm. 1), 3-21. Solche Kathedren sind auch in christlichen Friedhofsanlagen in großer Zahl vorhanden und erhalten (vgl. Th. Klauser, Die Cathedra im Totenkult der heidnischen und christlichen Antike, LF 9, Münster 1927; J. Dresken-Weiland / W. Drews, Art. Kathedra, RAC 20, Lfg. 157 / 158, Stuttgart 2003, [600-682] 665-668), vor allem in einer der römischen Katakomben, dem sogenannten coemeterium maius an der Via Nomentana. Mit dieser Feststellung ist die Tür aufgestoßen zu faszinierenden religionsgeschichtlichen Forschungen, die gerade in den letzten Jahren wieder viel Frucht gebracht haben und auch weiter bringen können, vgl. etwa É. Rebillard, In hora mortis. Évolution de la pastorale chrétienne de la mort aux IVe et Ve siècles dans l’occident latin, BEFAR 283, Rom 1994; ders., Religion et sépulture. L’Église, les vivants et les

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Martin Wallraff

der Antike ins Mittelalter hat hier stattgefunden: der Symbolgehalt der „Kathedra“ wurde wieder- und weiterverwendet und doch ganz neu geschaffen. In mancher Hinsicht ist Lietzmanns Buch natürlich heute weitgehend überholt. Die erste Auflage mußte erscheinen, ohne daß der Verfasser die gewünschte Prüfung seiner Resultate vor Ort vornehmen konnte: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte die geplante Reise. Erst im Oktober 1924 konnte er dies bei einem längeren Romaufenthalt nachholen, übrigens wenige Wochen nach seinem Umzug von Jena nach Berlin. Dabei gelang es ihm, den Archäologen Armin von Gerkan zur Mitarbeit an seinem Projekt zu gewinnen, den späteren Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom3. Die zweite Auflage des Buches von 1927 enthält die genauen Aufnahmeblätter und archäologischen Erklärungen der christlichen Anlagen unter S. Sebastiano und der Grotten der Peterskirche. Während der erste Teil seinen Wert behalten hat, ist der zweite, St. Peter betreffende Teil durch die spektakulären Ausgrabungen unter der Kirche in den 40er Jahren weitgehend obsolet geworden4. Lietzmann hat den Beginn dieser Grabungen noch erlebt, und es ist sicher nicht zu viel gesagt, daß sein Buch dazu einen wesentlichen Anstoß gab, auch wenn er persönlich mit den Vorgängen nicht unmittelbar zu tun hatte (und angesichts der politischen Umstände auch nicht haben

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morts dans l’Antiquité tardive, Paris 2003; U. Volp, Tod und Ritual in den christlichen Gemeinden der Antike, SVigChr 65, Leiden / Boston 2002. Vgl. zu von Gerkan den Nachruf von F. W. Deichmann, Armin von Gerkan. 1884-1969, MDAI.R 77, 1970, VII-XVI, sowie: Archäologenbildnisse. Porträts und Kurzbiographien von klassischen Archäologen deutscher Sprache, hg. von R. Lullies, Mainz am Rhein 21991, 226 f. Vgl. den Grabungsbericht B. M. Apollonj Ghetti / A. Ferrua / E. Josi / E. Kirschbaum, Esplorazioni sotto la confessione di San Pietro in Vaticano eseguite negli anni 1940-1949, 2 Bde, Rom 1951 sowie aus der umfangreichen Literatur dazu zuletzt H. G. Thümmel, Die Memorien für Petrus und Paulus in Rom. Die archäologischen Denkmäler und die literarische Tradition, AKG 76, Berlin / New York 1999.

Laudatio Arnold Esch

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konnte)5. Doch selbst im Lichte dieser Ausgrabungen, teilweise auch durch die undurchsichtigen Vorgänge dabei, sind viele der von Lietzmann gestellten Fragen im Zusammenhang des Romaufenthalts der beiden christlichen Apostel nach wie vor ungelöst. Wie es etwa dazu kommt, daß Petrus und Paulus gemeinsam am 29. Juni gefeiert werden und daß sie gemeinsam einen Kultort an der Via Appia bei der heutigen Kirche S. Sebastiano haben – darauf weiß bis heute niemand eine Antwort. Wenn man hier weiter kommen will – und ich denke, etwas weiter könnte man noch kommen –, dann gibt es auch heute keine Alternative zu dem von Lietzmann eingeschlagenen Weg, daß nämlich Ergebnisse der Liturgiewissenschaft, der Theologie und vor allem: der Geschichtswissenschaft und Archäologie zusammengetragen und reflektiert aufeinander bezogen werden. Die Verbindungslinien von dem bisher Gesagten zu Arnold Esch und seiner Lietzmann-Vorlesung 2003 sind vielfältig und offenkundig, und Rom, die Stadt, spielt dabei nicht die geringste Rolle. Arnold Esch war dort von 1988 bis 2001 Direktor des Deutschen Historischen Instituts (dessen Gründung übrigens eng mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften verbunden ist6). Doch mit diesem nüchternen Satz ist bei weitem nicht alles gesagt, eigentlich das meiste noch nicht gesagt über seine Beziehungen zu diesem renommierten Institut und seiner historischen Arbeit, vor allem fast noch gar nichts gesagt über Arnold Esch und Rom. Wenn ich mitteile, daß er auch nach seiner Emeritierung keineswegs daran dachte, seinen Wohnsitz nach Deutschland zu verlegen (ich sage bewußt nicht: zurückzuverlegen), daß er also weiterhin buchstäblich in Sichtweite des Tibers wohnt, mit einem

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Vgl. K. Aland, Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892-1942), Berlin 1979, 44 f. Vgl. R. Elze, Hundert Jahre Deutsches Historisches Institut in Rom, in: Deutsches Historisches Institut Rom. Istituto Storico Germanico, Rom 1988, (13-49) 15 f.

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Martin Wallraff

Wort: daß er in Rom zuhause ist, dann ist schon etwas mehr gesagt. Wir dürfen ihn uns aber dort nicht als einen vorstellen, der angekommen ist, ans Zentrum der Welt gelangt, gewissermaßen auf der Spitze der Peterskuppel sitzend und von dort aus urbem wie orbem und vor allem natürlich die Weltgeschichte von höchster Warte überblickend. Beileibe nicht dies: wir finden ihn ganz unten, im Unterholz der Geschichte, manchmal auch der Campagna Romana oder beider gemeinsam. Wir finden ihn dort, „Wege nach Rom“ suchend (so der Titel seiner jüngsten, soeben erschienenen Aufsatzsammlung)7, immer neue Annäherungen und Wege nicht nur der Kaiser und Päpste, sondern auch der Pilger, Künstler, Vagabunden und vieler anderer, eine ungeheuer bunte Reihe. Führen wir uns ein paar wenige aus den vielen Begegnungen auf Eschs eigenem Weg nach Rom vor Augen! Zuerst begegnet uns Papst Bonifaz IX., gewiß keiner der „großen“ Päpste, doch einer, in dessen Pontifikat das anzufangen beginnt, was Rom in der Neuzeit bedeutend machen sollte: die Gestaltung des neuen Rom nach dem Exil der Päpste in Avignon und damit nach der schwersten Krise der Stadt seit dem Ende der Antike8. Beiläufig sei bemerkt, daß es sich bei dem grundlegenden Buch um ein Erstlingswerk handelt: die überarbeitete Göttinger Dissertation von Arnold Esch, zu deren Vorbereitung erste umfangreiche Archivarbeiten in Rom nötig waren und erste intensive Kontakte mit dem dortigen Historischen Institut, in dessen hochangesehener Reihe die Arbeit erschien. 7

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A. Esch, Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten, München 2003. Die vorige bedeutende Aufsatzsammlung ist A. Esch, Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart, München 1994. Ein bis 2000 vollständiges Schriftenverzeichnis findet sich in: Italia et Germania. Liber Amicorum Arnold Esch, hg. von H. Keller / W. Paravicini / W. Schieder, Tübingen 2001, 603-617. Unter den seither erschienenen Publikationen sei besonders auf A. Esch, Art. Rom. I. Geschichte und Deutung, DNP 15 / 2, Stuttgart 2002, 841-863 verwiesen. A. Esch, Bonifaz IX. und der Kirchenstaat, BDHIR 29, Tübingen 1969.

Laudatio Arnold Esch

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Weiterhin begegnet uns ein Wuppertaler „Mechaniker“ (wir würden heute sagen: ein Existenzgründer) vom Anfang des 19. Jahrhunderts namens Arnold Volkenborn in seinen Lebenserinnerungen – und mit ihm entsteht ein lebendiges Bild von Pietismus und Frühindustrialisierung9. Beiläufig sei gesagt, daß uns in diesem Aufsatz, der Probevorlesung im Habilitationsverfahren, zugleich ein Blick gelingt in die Familiengeschichte des Verfassers und in deren soziokulturelle Hintergründe. Esch ist Pfarrerssohn und entstammt einer Pfarrer- und Kaufmannsfamilie vom Niederrhein: Protestantismus und Unternehmergeist als Wurzeln. Es begegnen uns „Handwerker, Arbeitssuchende und Vagabunden in den Akten eines deutschen Hilfsvereins in Rom 18961903“10 – und in ihnen ein Italien-Erlebnis „von unten“ ganz abseits aller hehren Bildungsziele und Romideale, mitunter wohl auch gescheiterte, an ihr tragisches Ende gekommene Ideale und Bildungsbemühungen. Beiläufig sei hier gesagt, daß es sich nicht um irgendeinen Hilfsverein handelt, sondern um den der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom, einer Gemeinde, der sich Arnold Esch als Historiker11, aber nicht nur als solcher auch heute verbunden weiß. 9

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A. Esch, Pietismus und Frühindustrialisierung. Die Lebenserinnerungen des Mechanicus Arnold Volkenborn (1852), NAWG.PH 1978 / 3, Göttingen 1978, bes. 64, Anm. 16 über die persönliche Verbindung des Verfassers zum Gegenstand seiner Arbeit. A. Esch / D. Esch, Namenlose auf Italienreise. Handwerker, Arbeitssuchende, Vagabunden in der Dokumentation eines deutschen Hilfsvereins in Rom 1896-1903, in: ders., Wege nach Rom (wie Anm. 7), 152-178 (umfangreichere Erstveröffentlichung: dies., Italien von unten erlebt. Hilfesuchende und ihre Schicksale in den Registern des Hilfscomités der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom 1896-1903, in: Deutsches Ottocento. Die deutsche Wahrnehmung Italiens im Risorgimento, hg. von A. Esch / J. Petersen, BDHIR 94, Tübingen 2000, 287-325). Vgl. A. Esch / D. Esch, Anfänge und Frühgeschichte der deutschen evangelischen Gemeinde in Rom 1819-1870, QFIAB 75, 1995, 366-426; dies., Dänen, Norweger, Schweden in Rom 1819-1870 im Kirchenbuch der deutschen evangelischen Gemeinde, in: Ultra terminum vagari.

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Martin Wallraff

Noch viele Begegnungen wären zu machen, und dabei kämen immer wieder erfrischende Perspektiven auf scheinbar Bekanntes zum Vorschein, Überraschendes im scheinbar Banalen und nicht zuletzt: neues Quellenmaterial, virtuos ausgewertet. Zollregister, Notarsakten, Listen einer Bevölkerungszählung12, keine Quellengattung, die ihm zu dürr, kein Text, der ihm zu langweilig, und vor allem: kein Mensch, der ihm zu unscheinbar oder zu „normal“ wäre, um damit Geschichte zu schreiben – und wie! Denn auch im tiefsten Unterholz bleibt der Blick immer aufs Ganze gerichtet. Die Meisterschaft seiner Geschichtsschreibung besteht darin – ich drücke es mit Eschs eigenen Worten aus –, „im Kleinen ein Großes und im Detail ein Ganzes zu begreifen“13: Im Heiligenleben der Francesca Romana die Anfänge der Renaissance in Rom, in einem antiken Meilenstein, versetzt von der Via Appia in ein nahes Zisterzienserkloster, das Weiterleben der Antike im Mittelalter, in Preislisten von Hotels den mittelalterlichen Pilgerbetrieb14 und so fort.

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Scritti in onore di Carl Nylander, hg. von B. Magnusson u. a., Rom 1997, 81-88. A. Esch, Im Heiligen Jahr am römischen Zoll. Importe nach Rom um 1475, in: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen, hg. von J. Helmrath / H. Müller, München 1994, 869-901; ders., Un notaio tedesco e la sua clientela nella Roma del rinascimento, Archivio della Società romana di storia patria 124, 2001, 175-209 (die Abschiedsvorlesung im Deutschen Historischen Institut 2001, auch auf deutsch gedruckt unter dem Titel „Streit ist immer gut. Aus dem Alltag der Renaissance in Italien: Ein deutscher Notar und sein römischer Kundenkreis“, Frankfurter Allgemeine vom 20.10.01); ders., Ein Gang durch das Rom der Hochrenaissance, in: ders., Wege nach Rom (wie Anm. 7), 44-64. A. Esch, Rom und Bursfelde. Zentrum und Peripherie, in: ders., Wege nach Rom (wie Anm. 7), (82-105) 82 (Erstveröffentlichung in: 900 Jahre Kloster Bursfelde. Reden und Vorträge zum Jubiläum 1993, hg. von L. Perlitt, Göttingen 1994, 31-57). A. Esch, Die Zeugenaussagen im Heiligsprechungsverfahren für S. Francesca Romana als Quelle zur Sozialgeschichte Roms im frühen Quattrocento, QFIAB 53, 1973, 93-151; A. Esch, Ein verloren ge-

Laudatio Arnold Esch

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Daß Arnold Eschs Wissenschaftsprosa außergewöhnlich schön und farbig zu lesen ist, brauche ich nach dem Gesagten kaum noch hervorzuheben, doch am schönsten, so möchte man beinahe sagen, ist in seinen Aufsätzen das, was er nicht sagt oder schreibt. Es ist die Gabe, das Einzelne und das Kleine als einzelnes und kleines zu beschreiben in aller Farbigkeit und Liebenswürdigkeit und ihm seine Würde als einzelnes und kleines zu lassen, ohne daß der Zusammenhang mit dem Großen aufdringlich und oberlehrerhaft eingebimst werden müßte, obwohl er doch da ist in jeder Zeile und oft beinahe noch mehr zwischen den Zeilen, der Blick aufs Große, vom Detail aufs Ganze. Auch hier ließen sich Parallelen zu Hans Lietzmann finden, ja sie liegen auf der Hand, ich möchte aber eine andere Parallele herausstellen, die zum Thema der Vorlesung überleitet. Esch wie Lietzmann sind Meister des Wortes, gewiß, insofern bester protestantischer Tradition verpflichtet, aber dem einen wie dem anderen ist immer klar, daß Geschichte nicht nur Wortgeschehen ist, sondern sich ebenso in Monumenten, Bildern, Objekten niederschlägt, als Theologe fühle ich mich versucht zu sagen: „inkarniert“ – und vielleicht können wir auch so sagen, wenn wir an die Lebendigkeit denken, die archäologische Zeugnisse in ihrer Landschaft, die tote Steine unter Arnold Eschs kundiger Hand gewinnen. Statt die vielen Ehrungen aufzuzählen, die Esch zuteil geworden sind, statt zu erwähnen, daß er Dekan und Rektor in Bern war15, möchte ich in diesem Zusammenhang nur die

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glaubter Meilenstein der Via Appia. Weitere Kriterien für die Provenienz von Spolien in mittelalterlichen Kirchen Italiens, Epigraphica 35, 1973, 96-101; A. Esch / D. Esch, Mit Kaiser Friedrich III. in Rom. Preise, Kapazität und Lage römischer Hotels 1468 / 69, in: A. Esch, Wege nach Rom (wie Anm. 7), 30-43 (Erstveröffentlichung: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hg. von P. J. Heinig u. a., Historische Forschungen 67, Berlin 2000, 443-457). Die Antrittsrede zum Berner Rektorat ist publiziert unter dem Titel: A. Esch, Die Anfänge der Universität im Mittelalter, Berner Rektoratsreden, Bern 1985.

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Martin Wallraff

jüngste und, wie mir scheint, nicht unbedeutendste Anerkennung seiner Arbeit nennen: Er ist zum korrespondierenden Mitglied der Zentraldirektion des Deutschen Archäologischen Instituts gewählt worden. Damit wird anerkannt und geehrt, was seine Arbeit seit den Tagen seines Studiums auszeichnet, nämlich die Souveränität, mit der er die Sicht des Historikers mit der des Archäologen zusammenzubringen weiß. Wie das geschieht – darüber soll er gleich selbst zu Wort kommen. Last but not least: Es gehört sicher nicht primär zu den wissenschaftlichen Verdiensten Arnold Eschs, daß und wen er geheiratet hat. Geschadet aber hat es seiner wissenschaftlichen Arbeit nicht, daß er mit einer promovierten Altphilologin verheiratet ist, einer begeisterten Historikerin mit Freude an Epigraphik, an Musikinstrumenten der Renaissance und vielem anderen, darunter nicht zuletzt auch an Theologie. Eine Reihe von gemeinsamen Publikationen zeugt von der Fruchtbarkeit dieser Beziehung in jeder Beziehung16. Doris Esch ist Begleiterin „in jedem Gelände“, wie es in der Widmung des Buches über die römischen Straßen17 heißt. Sie beide auf Entdeckungsfahrt in der Campagna Romana – das ist eine Szene, die ich mit größter Freude vor meinem geistigen Auge entstehen lasse, besser kann Interdisziplinarität nicht gelebt werden. Doch auch noch so intensive Lebensbezüge ändern nichts an einer Maxime, die Arnold Esch einmal programmatisch formuliert 16

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Siehe oben die Anm. 10, 11 und 14, ferner A. Esch / D. Esch, Die Grabplatte Martins V. und andere Importstücke in den römischen Zollregistern der Frührenaissance, RJ 17, 1978, 211-217; dies., Die römischen Jahre des Basler Landschaftsmalers Samuel Birmann (181517), ZSA 43, 1986, 151-166. Vgl. auch D. Esch, Musikinstrumente in den römischen Zollregistern der Jahre 1470-1483, in: Studien zur italienischen Musikgeschichte XV, hg. von F. Lippmann, Analecta musicologica 30, Laaber 1998, 41-68. A. Esch, Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom; mit Hinweisen zur Begehung im Gelände, Mainz 1997.

Laudatio Arnold Esch

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hat und die auch das Œuvre Lietzmanns prägte: „Interdisziplinarität muß“ zunächst einmal „… im eigenen Kopf stattfinden“ und darf nicht zum reinen Modebegriff und zum Lippenbekenntnis verkommen18. Für diese Maxime bietet die vorliegende HansLietzmann-Vorlesung ein hervorragendes Beispiel.

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A. Esch, Stand und Tendenzen der Mediävistik, in: Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. O. G. Oexle (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 2), Göttingen 1996, (7-44) 17, siehe auch unten S. 13.

Wiederverwendung von Antike im Mittelalter Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers von Arnold Esch

Die Wiederverwendung antiker Bauglieder und Skulpturen, sogenannter Spolien, sei im folgenden nicht so sehr als thematischer Überblick ihres Vorkommens, sondern als methodisches Problem ihrer Erforschung behandelt, wobei die Fülle der Erscheinungen auf elementare Einsichten zurückgeführt werden soll1. Dem Namenspatron dieser Vorlesung, Hans Lietzmann, war – in seinem Forschungsbereich – die Thematik als solche nicht unvertraut: für seinen Beitrag „Das Problem der Spätantike“ nahm er die Spolien des Konstantinsbogens in Rom (eines der frühesten Beispiele massiver Spolienverwendung) geradezu zum Ausgangspunkt. Die neugeschaffenen und die wiederverwendeten Reliefs dieses Bogens miteinander vergleichend, stellte er trajanische und konstantinische Auffassung des Herrschers einander gegenüber, um daraus dem Leser die in der Spätantike neu wirkenden Kräfte plastisch zu entwickeln2. Denn aus Spolienverwendung läßt sich viel herausholen. 1

2

Ein gewisser Überblick über Praxis und Motive der Spolienverwendung wird darum hier vorausgesetzt. Zur Spolienforschung als methodischem Problem Überlegungen bereits in meinem Beitrag Reimpiego dell’antico (1999). H. Lietzmann, Das Problem der Spätantike, Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1927, Nr. 31, mit Gedanken auch über die Unterschiede der Spoliierung in Spätantike und Renaissance, S. 345. Zu den Spolien des Konstantinsbogens (die schon Raffael und Giorgio Vasari bemerkten) zuletzt F. De Caprariis, L’Arco

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Arnold Esch

„Wiederverwendung“ ist per definitionem ein Thema zwischen den Fächern. Der Schatz, der vom einen Fach, der Klassischen Archäologie, verwaltet wird, gerät, wenn wiederverwendet, in den Blick und die Kompetenz anderer, der Historiker und Kunsthistoriker. Die mittelalterliche Wiederverwendung antiker Stücke ist gleichwohl zunächst wenig thematisiert worden. Seit den späten 70er Jahren aber steigerte sich das Interesse allmählich zu einer Flut von Publikationen3. Dieser Weg sei hier nicht im einzelnen verfolgt. Das anfängliche Zögern erweckt den Eindruck, als ob beide Seiten, Archäologie und Mediävistik, sich nicht für zuständig oder jeweils den anderen für zuständig hielten, bis dann endlich die Hemmung abnahm: Salvatore Settis spricht geradezu von einem „Niemandsland, in dem sich Archäologe und Kunsthistoriker nur mit Schwierigkeit orientieren“4. Ich möchte in diesem Beitrag zu präzisieren versuchen, wo diese Schwierigkeiten liegen, welches die spezifischen Stärken und Schwächen der Fächer bei der Behandlung des Phänomens Wiederverwendung sind und wie diese Schwierigkeiten vielleicht gemeinsam überwunden werden könnten. Archäologe und Historiker haben nicht einfach – wie der Unterschied von Fächern gern definiert wird – unterschiedliche Gegenstände, unterschiedliche Ausschnitte von Wirklichkeit, die sie dann einfach arbeitsteilig aneinandermontieren könnten: sie haben eben auch unterschiedliche Fragehaltungen, unterschiedliche Perspektiven, unter denen sie die gleichen Gegenstände in den Blick nehmen. Darum reden sie, wenn sie über „Nachleben der Antike“ miteinander ins Gespräch kommen, oft aneinander

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di Costantino. Due Problemi, Rendiconti dell’Accademia Nazionale dei Lincei. Classe di Scienze morali, ser. IX 14, 2003, bes. 469-481. Das zunehmende Forschungsinteresse wird aus der – chronologisch geordneten – Bibliographie im Anhang ersichtlich. Unter den frühen Beiträgen zum Thema selbst seien hervorgehoben (neben dem erstaunlichen Marangoni 1744) Kähler 1937, Adhémar 1939, Deichmann 1940, Hamann-MacLean 1949 / 50, Wegner 1958. Settis, Les remplois (1997), 67.

Wiederverwendung von Antike im Mittelalter

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vorbei – wie häufig bei interdisziplinärem Gespräch geschieht, wenn nicht beachtet wird, daß Interdisziplinarität nicht zwischen Spezialisten, sondern nur in einem Kopfe stattfinden kann, im eigenen nämlich. Unterschiedlich ist schon die Blickrichtung: für den Archäologen ist die Spolie ein Stück, das aus der Antike entfernt wurde; für den Historiker und den Kunsthistoriker hingegen ein Stück, das aus der Antike rezipiert wurde. Der Archäologe, der zur Wiedergewinnung der antiken Kunst deren disiecta membra auch aus späteren (mittelalterlichen) Kontexten zusammensuchen muß, wird sich dem Thema „Wiederverwendung“ darum anders nähern als der Historiker, der gerade wissen will, wie es weitergegangen ist, und darum nach neuen Zusammenhängen Ausschau hält. Wenn im folgenden der Kunsthistoriker nicht immer eigens vom Historiker getrennt wird, dann vor allem wegen der gleichen Blickrichtung. Nehmen wir zur Verdeutlichung einen Fall, der sozusagen ganz dem Archäologen gehört und den Unterschied der Perspektiven darum besonders hervortreten lassen könnte: Pompeji, antikes Leben abrupt angehalten am 24. August des Jahres 79 n. Chr., unter Asche konserviert und darum mittelalterlicher Wiederverwendung nicht zugänglich. Da wissen wir eigentlich alles, kennen die Monumente (sogar bis in die Risse des vorigen Erdbebens), ja wissen sogar, welche Zahlen sich der Bankier Lucius Caecilius Iucundus gerade notiert hatte. Was der Archäologe sich sonst erst zu erarbeiten hat, nämlich einen bestimmten Zeithorizont zu rekonstruieren und spätere, nachantike Weiterentwicklung abzustreifen: hier hat das der Aschenregen besorgt und dem Archäologen sozusagen eine genau datierte Zeitebene versiegelt. Der Historiker hingegen, der auch in der Vergangenheit Zukunft sieht, kann, in Gedanken, sogar auf diesen – scheinbar völlig abgeschlossenen – Fall den Prozeß der Geschichte loslassen, sozusagen den angehaltenen Film der Geschichte weiterlaufen lassen und sich vorstellen, wie, wenn Pompeji nicht verschüttet worden wäre, der antike Bestand sich verringert und verwandelt hätte. Und so sei dem Historiker kurz das Gedankenspiel des weiter-

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Arnold Esch

lebenden Pompeji gestattet. Jener Bankier hätte noch am selben Abend seine Zahlen gelöscht. Mit dem Ende der Antike würde die schriftliche Überlieferung als erste verloren gegangen sein (und zwar vollständig: also keine „Villa dei Papiri“!). Auch die Statuen hätten nicht lange überlebt, weil sie sich zur Wiederverwendung wenig eigneten. Vom Jupitertempel wäre vielleicht nur ein Kapitell geblieben, weil es sich, ausgehöhlt zum Taufbecken, in die Hauptkirche rettete. Im zusammengebrochenen Innern der Forums-Basilika und rings auf anwachsendem Boden würden sich die Viehställe einer agrarisch gewordenen Welt eingenistet haben. In den verfallenden Gewölben des Amphitheaters hätte sich, weil als Ort eines Martyriums geltend, eine Kirche eingerichtet, künftige Pfarrkirche eines Stadtviertels. Und heißen würde das unbeachtete Landstädtchen nicht Pompeji, sondern – nach den zahlreichen halbversunkenen antiken Gewölben – sagen wir: S. Maria delle Grotte. Gedankenspiele gelten, zugegeben, als unseriös. Aber indem er den historischen Ausleseprozeß in Gedanken nachvollzieht, veranschaulicht sich der Historiker einige seiner prinzipiellen Erkenntnisse, die er für das Verständnis des Phänomens „Wiederverwendung“ braucht, etwa: daß aus dem Nachlaß der Antike die verschiedenen Teile nicht gleiche, sondern völlig unterschiedliche Chancen der Überlieferung hatten; daß eine Überlebens-Chance nur das hat, was spätere Zeiten sich an-eignen; und daß überhaupt alles in wechselnde, neue Kontexte eingeht – oder eben untergeht5.

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Über die Reduzierung historischen Bestandes A. Esch, ÜberlieferungsChance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, Historische Zeitschrift 240, 1985, 529-570 (hier: 529 f.) und Ders., Chance et hasard de transmission. Le problème de la représentativité et de la déformation de la transmission historique, in: Les tendances actuelles de l’histoire du moyen âge en France et en Allemagne. Actes des colloques de Sèvres (1997) et Göttingen (1998), hg. von J.-Cl. Schmitt / O. G. Oexle, Paris 2002, 15-29.

Wiederverwendung von Antike im Mittelalter

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Die Verwendung von Spolien setzt früh ein, schon in der Spätantike6. Ob die massive Spolienverwendung des 4. und 5. Jahrhunderts noch klassizistische Tendenzen oder, in ihrer Anordnung, bereits eine neue Baugesinnung anzeige (so Deichmann gegen Krautheimer in der bekannten Kontroverse am Beispiel von S. Sabina)7, kann natürlich nicht vom Historiker beurteilt werden. Ebenso wie die interessante Frage bei einigen spätantiken Kirchen, ob es sich bei ihren Baugliedern noch um neu für diesen Bau gearbeitete Stücke handelt oder bereits um Spolien (z.B. San Salvatore in Spoleto: doch blieb das selbst unter Fachleuten kontrovers). Und das ist sozusagen die Ur-Frage: noch liegt damals beides ununterscheidbar in eins geschlossen, kann ein Bauglied noch Neufertigung oder schon Spolie sein – dann strebt beides rasch auseinander, ist in Fertigung, Funktion, Stellenwert fortan das eine vom anderen zu unterscheiden. Der Historiker kann hier nur den größeren historischen Rahmen, die Voraussetzungen zur Deutung des Phänomens beitragen: kaiserliche Gesetzgebung zum Schutz der Tempel8, dann Freigabe zur Materialentnahme; Schrumpfung der Bevölkerung und damit erhöhte Verfügbarkeit spoliierbarer Bauten, usw. Und auch nach dem Ende spätantiker kaiserlicher Baugesetzgebung wird man fragen müssen: wer darf denn Material entnehmen? Wer hat überhaupt Zugriff auf verwertbare Monumente? Auch eine Ruine ist nicht einfach eine res nullius. 6

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Deichmann, Spätantike Architektur (1975); Brenk, Spolia from Constantine (1987); Alchermes, Late Empire (1994); Brandenburg, Spätantike Architektur (1996); Kinney, Spolia (1997). Konstantinsbogen s. o. Anm. 2. Krautheimer, Sixtus III. (1961); Deichmann, Spätantike Architektur (1975). Kunderewicz, Code Théodosien (1971); Geyer, Baugesetzgebung (1993); H.-R. Meier, Alte Tempel (1996); zuletzt A. Anguissola, Note alla legislazione su spoglio e reimpiego di materiali da costruzione ed arredi architettonici, I sec. a. C.-VI sec. d. C., in: Senso delle rovine (2002), 13-29; P. Cattani, La distruzione delle vestigia pagane nella legislazione imperiale tra IV e V secolo, in: ebd. 31-44.

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Der Höhepunkt gezielter Spolienverwendung fällt erst in die Zeit zwischen der Mitte des 11. und der Mitte des 13. Jahrhunderts, ist ein Kennzeichen romanischen Kirchenbaus: „gezielt“ im Vergleich zur Praxis des frühen Mittelalters, das die antiken Stücke oft ganz additiv, ohne Anspruch auf Einheitlichkeit und Stimmigkeit, regellos wie Bauklötze aufeinandertürmte (und schon mit dem bloßen Säulenschaft Schreckliches anrichten konnte: etwas untergeschoben, wenn zu kurz, zugespitzt, wenn für das Kapitell zu dick, die gefüllten Kannelluren zuoberst statt zuunterst). Seit der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts wird hingegen stärker auf Qualität, passende Maße, Einheitlichkeit des antiken Materials geachtet. Ja, Spolien werden bisweilen sogar ergänzt, ihre Kymatien (Zierstäbe) in getreuer Imitation verlängert, wenn das antike Gesims über dem Kirchenportal nicht reichte oder einen gefälligen seitlichen Abschluß haben sollte (Abb. 4) – womit wir der Frage besonders nahe kommen, inwieweit der Anblick von Spolien stilbildend wirken, die Antike dem Mittelalter die Hand führen konnte. Solch wörtliche Imitation will nicht immer gelingen, zumal der ursprüngliche Sinn, sozusagen die Etymologie der antiken Zierleisten, oft unverstanden blieb (was ein Eierstab oder ein Blattstab bedeutete, war ja vielleicht noch zu begreifen, aber ein lesbisches Kymation?). Da gibt es Fälle, die unantik, wie mittelalterliche Neuschöpfung wirken und doch vielleicht nur eine wenig kanonische, aber doch antike Vorlage hatten: ein lesbisches Kymation in seltsamen Zwischenformen etwa aus der darin so einfallsreichen flavischen Zeit; ein Eierstab ganz unantik schematisch, bei dem, wie manchmal in severischer Zeit, der Zusammenhang von Ei und Einfassung verlorengegangen ist9. Kurz: wenig vertraute Spielformen, die auch unter den Archäologen nur dem Spezialisten bekannt sind – ob Imitation oder Neuschöpfung vorliegt, wäre für unser Urteil aber wichtig! Oder es wurde, wenn

9

M. Wegner, Ornamente kaiserzeitlicher Bauten Roms. Soffitten, Köln / Graz 1957, Varianten 48 ff.

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man nur eine einzelne Gesimsspolie hatte und dazu ein Pendant brauchte, ein ganzes Stück all’antica gearbeitet, damit das eine Portal nicht weniger hermache als das andere10. „Gezielt“ wird die Spolienverwendung aber auch in der Placierung der Spolien an hervorgehobener Stelle, an Portal, Apsis, Campanile; in der demonstrativen Vorweisung ihres antiken Charakters; in der – über den künstlerischen Aspekt hinausweisenden – Bedeutung, die ihnen gegeben wird11. Insofern sah Jacob Burckhardt im Cicerone (1855) die Spolienverwendung zu eng und tat ihr Unrecht, indem er sie verächtlich als Indiz für Mangel an künstlerischer Produktivität und Phantasie abtat12. Daß Spolienverwendung an sich schon Inferiorität, ja ein Bewußtsein von Inferiorität anzeige, ist ja verbreitete Meinung.

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Ergänzte und imitierte Gesimse sorgfältig untersucht z. B. (Genua) bei Müller, Trophäen (2002), 189 ff.; am Beispiel eines Ornamentmotivs Peroni, Acanthe remployée et imitée (1993); weitere Fälle Esch, Spolien (1969), 14-16. All das ist inzwischen am Beispiel einzelner Monumente ergebnisreich untersucht, z. B. vorbildlich für Pisa: Duomo di Pisa (1995); Peroni, Spolia (1996); Capitelli di mitologia (1992); vgl. die für Pisa nachweisbaren Spolien-Provenienzen zit. in Anm. 29. Zur Antikenrezeption zuletzt M. Seidel, Nicola Pisano. Bauskulptur, Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 43, 1999, 253-332, bes. 290 ff. Am lohnenden Beispiel anderer Städte (Modena!) und Regionen (das byzantinische, normannische, staufische Süditalien: Settis 1988, Pensabene 1990, Todisco 1993, de Lachenal 1996, Bruzelius 1999) s. die Bibliographie im Anhang. J. Burckhardt, Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, hg. von B. Roeck / C. Tauber / M. Warnke, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 2: Architektur und Sculptur, München / Basel 2001, z. B. S. 75 („Die Benutzung antiker Baureste, an die man sich einmal gewöhnt hatte, ersparte zudem den folgenden Baumeistern die eigenen Gedanken …“); S. 78 („Wo der gänzliche Mangel an antiken Säulen die Baumeister schon frühe genöthigt hatte, mit eigenen Mitteln das Mögliche zu leisten, da erscheinen sie viel selbständiger“); S. 82 (wenn der Spolienvorrat aufhört, „beginnt von selbst ein anderer Styl“).

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Die anspruchsvolle Spolienverwendung des hohen Mittelalters war wählerisch. Aber sonst ist es im Prinzip gleichgültig, ob das antike Stück in analogem Sinn wiederverwendet wird (das Kapitell wieder als Kapitell, der Sarkophag wieder als Sarkophag), oder aber umfunktioniert: das Gesims wird zersägt zu Konsolen oder umgedreht zur Sitzbank; eine Kassettendecke kann man wie eine Waffel zerteilen; antike Säulentrommeln lassen sich, beispielsweise in den Mauern von Kreuzfahrerburgen, als Binder so dicht nebeneinander packen, daß sie mit ihren Kanneluren wie Zahnräder ineinandergreifen; Inschriften lassen sich wegen ihrer glatt gearbeiteten beschrifteten Oberfläche gut als Kirchenfußboden verlegen. Verfolgen wir einmal aus dem immensen Nachlaß der Antike zwei ganz unterschiedliche Typen in ihr nachantikes Schicksal hinein: das Kapitell und den Meilenstein. Ein Kapitell (wenn man es nicht, analog, wieder als Kapitell verwendet, oder zur Basis macht) kann man ausmeißeln zu Taufstein, Weihwasserbecken (Abb. 19), Reliquienbehälter, Brunnenmund, Wappenträger. Nicht weniger läßt sich aus einem Meilenstein machen, ohne die Inschrift zu tilgen: er wird zur Säule, zum Türsturz, zum Altarträger, zum Tischfuß (Abb. 8), zum ländlichen Kreuzessockel; ja ausgehöhlt wird er zum Taufbecken, zum Opferstock, zum Getreidemaß, zum Brunnentrog, zum Sarkophag. Man könnte fast sagen: am Ende sind Kapitell und Meilenstein nicht mehr so weit voneinander entfernt wie am Anfang. Das sind die Einzelfälle. Aber in Kirchen und Krypten finden sich ganze Wälder von Spoliensäulen, ganze Kollektionen von Kapitell-Typen, ganze Lager von Sarkophagen. Und wenn man näher zusieht (doch hat dieser Spolien-Blick die große Gefahr, daß man Bauwerke nur noch punkthaft und nicht mehr als Ganzes wahrnimmt), wird man weitere Antike feststellen, die in jahrhundertelangem Alltag längst abgegriffen und angeglichen ist und doch Spolie. Kurz: die Antike ist in Italien allgegenwärtig – und so ist ein Corpus der Spolien unmöglich und auch unnütz. Um das uferlose Spolienmaterial zu durchdringen und daraus Erkenntnis

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zu ziehen, bedarf es vielmehr einer Fragestellung, getrennt oder gemeinsam. Da mag der Archäologe beispielsweise nach der Auswahl der Stücke, der Kunsthistoriker nach ihrer neuen Placierung, der Historiker nach den Motiven der Wiederverwendung fragen – oder alle drei nach den eigenen, spezifischen Ansätzen. Und das sei hier versucht. Der Phantasie der Wiederverwendung sind also, wie wir sahen, keine Grenzen gesetzt. Obenan aber steht natürlich die Wiederverwendung im kruden Sinn: in Reichweite des eigenen Bauplatzes sozusagen eine Kollektion vorgefertigter Bausteine zu finden, war hochwillkommen, und wenn das nicht reichte, konnte man immer noch die nächstgelegene römische Ruine umwerfen. Denn die antiken Monumente sah man nicht nur mit bewunderndem, sondern auch mit verwertendem Blick. Und diese ganz pragmatische Art der Wiederverwendung, die mit ästhetischer Wertschätzung, interpretatio christiana und anderen vielberedeten Auswahlkriterien nicht das mindeste zu tun hat und doch auch über das Schicksal antiker Stücke entschied, beginnt früh und ist da vor allem dem Historiker vor Augen: die spätantiken Notmauern, die in den Germanenstürmen aus großen Städten mit ihren langen Stadtmauern nun befestigte Réduits machten (nur noch um Forum und Kapitolstempel, um das Amphitheater , oder ähnliche Schrumpfungen13) und zu ihrer Errichtung ganze Gräberstraßen abräumten, demontierte Ehrenbögen, Inschriften, Altäre kunstlos aufeinandertürmten (Abb. 3). Die in Frankreich im frühen 19. Jahrhundert niedergelegten Notmauern füllen ganze musées lapidaires! Da wurden dekorative

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C. Bruehl, Palatium und civitas. Studien zur Profantopographie spätantiker civitates vom 3. bis zum 13. Jahrhundert, 2 Bde, Köln / Wien 1975-1990; A. Esch, Die Stadt in der Defensive. Städtebauliche Entwicklung zwischen Antike und Mittelalter, in: Stadt und Land. Die Geschichte einer gegenseitigen Abhängigkeit, hg. von M. Svilar, Kulturhistorische Vorlesungen der Universität Bern, Bern / Frankfurt 1988, 87-113; Clemens, Tempore Romanorum (2003), Kap. II passim.

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Elemente nur noch funktional, sozusagen kubisch nach ihrem Defensiv-Wert taxiert: ausladende Gesimse würden bei Beschuß wegsplittern und den Verteidigern um die Ohren fliegen, also lieber nicht verwenden; Statuen lassen sich, zerschlagen, höchstens zum Stopfen von Fugen nehmen; flache Grabreliefs sind ideal, je größer desto besser. Kurz: wir müssen uns darüber im klaren sein, daß Antike früh auch nach solchen Kriterien ausgelesen (und somit überliefert) worden sein kann. Man kann zunächst auch den Extremfall der Wiederverwendung einbeziehen, zumal er für den Archäologen wie den Historiker gleichermaßen interessant ist: die Umnutzung von ganzen Bauwerken. Aus einem antiken Theater läßt sich durch bloße Vermauerung der Arkaden der schönste und zugleich festeste Stadtpalast schaffen; auch ein Triumphbogen, ja ein Aquäduktbogen läßt sich noch bewohnen14. Doch haben die einzelnen Gattungen einen unterschiedlichen Umnutzungswert: der Tempel einen relativ geringen, nicht so sehr weil er in besonderer Weise das Heidnische verkörperte (der Westen hatte darin weniger Berührungsängste als der zelotische Osten), sondern weil seine Cella nur für Gottheit und Priester gedacht war und einer christlichen Gemeinde als Raum nicht genügen konnte15; Thermen hingegen einen relativ hohen, weil sie eine ganze Folge von Räumlichkeiten boten, die als Raum konzipiert und auch so zu nutzen waren16. Umnutzung konserviert (was im übrigen auch für die Gegenwart gilt: Musealisierung erhält einen verlassenen Bau für eine Generation, Umnutzung erhält ihn auf Dauer) – und so ist eine Typologie der Nutzungsmöglichkeiten zugleich eine Typologie der ÜberlebensChancen. 14 15

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Arco di Malborghetto nördlich von Rom, Arco di Dolabella in Rom. F. W. Deichmann, Frühchristliche Kirchen in antiken Heiligtümern, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 54, 1939, 105-136; Cantino Wataghin, Riuso cristiano (1999); dazu zahlreiche Einzeluntersuchungen. Umnutzung dieser Gattung an nordalpinen Beispielen: Clemens, Tempore Romanorum (2003), 111-130.

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Jedenfalls macht Wiederverwendung das antike Stück aus einem antiquarischen zu einem historischen Objekt, das darum auch historisch aufgefaßt werden muß. Wiederverwendete Stücke sind per definitionem in einem Kontext zu sehen: wenn man eine Spolie aus ihrem mittelalterlichen Ensemble herauslöst und ins Museum verbringt, dann ist sie (anders als ein nachlässiger Sprachgebrauch das manchmal so sagt) keine Spolie mehr, sondern ein beliebiges antikes Einzelstück, das man auch soeben irgendwo draußen auf dem Felde gefunden haben könnte: ein antikes Stück ohne „Zwischengeschichte“ sozusagen, das nur überlebt hat, aber kein Nachleben hatte – also für den Archäologen Interesse behält, für den Historiker Interesse verliert. Die deutsche Sprache unterscheidet fein zwischen Über-leben und Nach-leben (das als „Nachleben der Antike“ ja auch zum Lehnwort in anderen Wissenschaftssprachen wurde). Man „überlebt“ eine Katastrophe und steht dann herum; was danach kommt, ist damit nicht gesagt. „Nachleben“ ist weit mehr: das Nachlebende wirkt weiter fort, ändert sich und anderes, lebt – wie eben die Antike im Mittelalter noch lebendig ist, nachlebt; oder wie Hamann-MacLean so schön gesagt hat: die Antike stand hinter dem Mittelalter wie Athena hinter Herakles, nämlich „immer im richtigen Augenblick“17. Im Bereich des Rechts, der Philosophie, der Kirche ist das von untergründigerer, aber umfassenderer Wirkung als im bescheidenen Bereich des Spolienwesens. Nur daß der Vorgang – wenn man erst einmal begreiflich macht, daß diese Wiederverwendung gewollt und nicht zufällig ist – hier deutlicher zutage tritt, zugänglicher wird: gewissermaßen „Nachleben der Antike“ in usum scholarum. Was den Archäologen dazu bewegt, in der Spolie meist bloß ein weiteres antikes Stück zu sehen, ohne den nachantiken Kontext groß zur Kenntnis zu nehmen, ist zunächst einmal das Gefühl der Unzuständigkeit; bisweilen aber auch noch ein Gefühl des Unwillens und der Belustigung über so viel unverstandene freche Aneignung. Überwunden ist natürlich die polemische Haltung der 17

Hamann-MacLean, Antikenstudium (1949 / 50), 236.

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Humanisten, die in jeder Spolie eine Demütigung, eine Knechtung der Antike sahen – aber da ist es noch verzeihlich: sie waren noch zu nah, noch im Handgemenge mit dem Mittelalter. Ihnen und auch Späteren (vielleicht auch noch heute einigen Archäologen) juckte es in den Fingern, den historischen Prozeß rückgängig zu machen: Spolien-Kirchen einfach abzureißen und die Antike wieder hervorzuholen – so wie im 18. Jahrhundert Giovanni Lodovico Bianconi beim Anblick der Kathedrale von Pisa mit ihren vielen Spolien schrieb: „Son persuaso che se si demolisse questo gran tempio, vi si scoprirebbero infinite anticaglie condannate qui dalla barbarie ad una perpetua notte“ („Ich bin überzeugt, daß, wenn man diese große Kirche abreißen würde, eine Unmenge alter Stücke zutage träte, die von der Barbarei [des Mittelalters] hier zu ewiger Nacht verdammt wurden“)18. Aber den mittelalterlichen Kontext, in den die Antike Aufnahme gefunden hat, zu zerstören, führt nicht zurück zur Antike, sondern bestenfalls ins Museum. Nein: Wiederverwendung der Antike im Mittelalter ist nicht „perpetua notte“, ist nicht Tod, sondern neues Leben, neue Wirkung, neues Abenteuer! Aus Kirchen wieder Tempel herauszuschlagen mag angehen, wenn sie noch in situ stehen wie die Kathedrale von Syrakus oder die Kathedrale von Pozzuoli. Alles andere wäre eine Demontage nicht nur des Mittelalters, sondern auch der fortlebenden Antike. Der zum Brunnen umfunktionierte antike Sarkophag ist nicht langsamer Tod der Antike, sondern ihr Weiterleben; der von Kindern blankgerittene Marmorlöwe, der von gläubigen Frauen abgegriffene (weil als Engel gedeutete) antike Putto, die aus Spolien gefügte Bank für die abendliche Teichoskopie der Alten am Tor eines Städtchens, der römische Meilenstein in freier Landschaft als Anschlagsäule für dörfliche Fußballspiele und Patronatsfeste19 – all das ist Leben, und glücklicherweise weiß man das in Italien. 18

19

E. Tolaini, Forma Pisarum. Problemi e ricerche per una storia urbanistica della città di Pisa, Pisa 1979, 21992, 3. So der 40. Meilenstein der Via Salaria: Esch, Römische Straßen (1997), 117, Anm. 43.

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Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: damit sei nicht gesagt, daß jeder Archäologe beim Anblick einer Spolie sogleich beklage, daß sie nicht längst herausgelöst und ins Museum „gerettet“ sei. Es waren neben Kunsthistorikern ja auch Archäologen, historisch denkende (und nicht nur in innerer Stilkritik kreisende) Archäologen wie Friedrich Wilhelm Deichmann, Max Wegner oder Salvatore Settis, die die Spolienforschung vorangetrieben haben. Andererseits bagatellisiere man den Unterschied der Ansätze aber auch nicht mit der Behauptung, zu so viel historischer Sensibilität reiche es wohl noch bei jedem Archäologen. Der Umgang mit dem historischen Ensemble war lange Zeit nämlich wenig behutsam: bis vor wenigen Jahrzehnten noch grub man einfach auf die antike Schicht hinab, räumte die nachantiken Schichten als Grabungsschutt beiseite und entfernte die mittelalterlichen Transformationen (ich beklage das nicht als Mediävist, sondern als Historiker)20; legte Amphitheater, die im Mittelalter zu ganzen Stadtquartieren geworden waren21, so brutal frei, daß sie heute eine offene Wunde im historischen Siedlungsgewebe sind (man verschone uns mit der Freilegung der Amphitheater von Lucca oder Florenz): wenn ausgegraben und die Wiederverwendung rückgängig gemacht, sehen Amphitheater alle gleich aus und verlieren ihre historische Aussage. Nicht daß sich, wie man vielleicht glauben könnte, mit dem Aufkommen der Mittelalterarchäologie der mediävistische Blick auf die antiken Reste sozusagen von selbst eingestellt hätte. Die Mittelalterarchäologie (eine Wortverbindung, die noch in den Fünfzigerjahren als Widerspruch in sich, oder als Verunreinigung, gegolten haben würde, so sehr war der Begriff „Archäologie“ dem klassischen Bereich reserviert) hat sich in Italien später entwickelt 20

21

In Rom ist das Umdenken bezeichnet durch die Grabungen (Kaiserfora, Crypta Balbi) unter den Soprintendenten A. La Regina und E. La Rocca. Instruktive Beispiele bei Clemens, Tempore Romanorum (2003), 82111.

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als im Norden, weil im Süden die dark ages ganz so dark nicht waren. In Italien hatte man auch für das Frühmittelalter nicht nur Pfostenlöcher, sondern Steinbauten, Fresken, Schriftquellen, so daß der Kunsthistoriker in seiner Zuständigkeit gewissermaßen gleich dort anschließen konnte, wo der klassische Archäologe aufhörte22. Was dann hier von der Mittelalterarchäologie zusätzlich ergraben wurde – Agrarlandschaft, bäuerliche Siedlung, materielle Kultur usw. – schuf nicht, wie häufig im Norden, überhaupt ein erstes Bild, sondern ergänzte in Umrissen bereits Bekanntes auf das willkommenste, zumal seit die junge Disziplin aus den kleinteiligen, lokal begrenzten Ansätzen herauswuchs. Daß auch die Mittelalterarchäologie breit auf antike Reste und ihre Wiederverwendung trifft, ist in Italien unvermeidlich. Aber im Bereich der Spolienforschung bleibt für Kunsthistoriker und Historiker der klassische Archäologe der bevorzugte Gesprächspartner. Was zwischen klassischem Archäologen und [Kunst-]Historiker überwunden werden muß, ließe sich vielleicht als antiquarisches Denken bezeichnen – „antiquarisch“ (nicht „archäologisch“) in dem engen, pejorativen Sinn, daß man einen Gegenstand nur in seiner Zeitebene sieht, nicht aber diachron in seiner ganzen historischen Erstreckung. Daß dem Archäologen innerhalb des Altertums historische Entwicklung bewußt ist, ist ja keine Frage, schließlich ist die Archäologie eine historische Disziplin. Hier geht es aber um die Fähigkeit und die Bereitschaft, dem Gegenstand der eigenen Forschung auch an anderer Stelle, in anderer Zeit wiederzubegegnen. Der alte Goethe hat dieser Fähigkeit und Bereitschaft, in dauerndem Wandel (nicht nur rückblickend, sondern auch in die Zukunft hinein) zu denken, einmal drastisch Ausdruck gegeben. Zum Grab des in Weimar gestorbenen Dichters Christoph Martin Wieland, das durch ein Eisengitter geschützt werden 22

Zur Entwicklung der Mittelalter-Archäologie in Italien S. Gelichi, Introduzione all’archeologia medievale. Storia e ricerca in Italia, Roma 1997, 32001; A. Esch, Il Centro e la cultura archeologica, in: Omaggio al medioevo. I primi cinquanta anni del Centro italiano di studi sull’alto medioevo, a cura di E. Menestò, Spoleto 2004, 237-248.

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sollte, meinte er, er sehe diese „Eisenstäbe um das Wielandsche Grab schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer künftigen Kavallerie blinken“ – und er fügte erklärend, beinahe entschuldigend hinzu: er sehe das so, weil er „in Jahrtausenden lebe“23. Drastischer und konkreter können wir uns für unser Thema nicht sagen lassen, daß alles, buchstäblich alles, der Gefahr und der Chance der Wiederverwendung ausgesetzt ist. Was umgekehrt den Archäologen am Tun des Historikers befremdet, ist, daß der gewissermaßen die Löcher interpretiert, die er, der Archäologe, gerade zustopft. Man denke sich eine jener monumentalen antiken Wände (wie die rückwärtige Umfassungswand des Augustusforums in Rom24, Abb. 15), in die nachantike Jahrhunderte bei der Umnutzung der Gebäude ihre historischen Verletzungen eingegraben haben: Balkenlöcher für nachträglich eingezogene Etagen, nachträglich eingebrochene oder wieder vermauerte Fensteröffnungen, Aufmeißelungen zum Gewinnen der Metallverdübelung im Innern der Quadern, die Schleifspuren von Radnaben usw. – die zweidimensionale Oberfläche einer Mauer gewinnt historische Tiefendimension, die Dimension der Zeit scheint projiziert auf eine Mauerfläche. Kurz: Geschichte wird ablesbar auf antiken Wänden, „Palimpsest-Wänden“ (um es mit Richard Krautheimer zu sagen). Der Archäologe muß seinerseits den historischen Prozeß, wie er sich auf solchen Wänden abbildet, erst wieder auf die ursprüngliche Zeitschicht zurückführen, indem er die nachantiken Narben wegdenkt, auf die es dem Historiker gerade ankommt. Der Archäologe merkt auch bald, daß der Historiker zwar eine allgemeine Vorstellung vom Wandel der Dinge und dem Zustandekommen neuer Zusammenhänge hat, aber eine geringe 23

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Goethe am 5. Juli 1827 zu Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, II. Abteilung 12, Frankfurt am Main 1999, 247 f. Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin 7. 6.–14. 8. 1988, Berlin 1988, 149 ff., Abb. 66, vgl. 65 und 72. Vgl. das Beispiel Abb. 14.

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Vorstellung von dem, was da wiederverwendet wurde, vom antiken Bauwerk also und zumal von der einzelnen Spolie. Die Spolie spricht zum Archäologen nämlich sehr vernehmlich, sagt ihm deutlich, was sie einmal war. Denn wenn man den Aufriß eines antiken Tempels vor Augen hat, die antiken Säulenordnungen kennt mit der Abfolge ihrer Bauglieder, dann weiß man genau, wo eine wiederverwendete Metope, wo ein Gesimsfragment (oder auch nur ein Stück lesbischen Kymations) oder der schräg geschnittene Block eines Geison ursprünglich am Bau gesessen hat. So kann man (um aus vielen möglichen ein besonders drastisches Beispiel zu nennen) das venezianische Kastro auf Paros – eine wahre Spolien-Orgie des 13. Jahrhunderts – in Gedanken (aber bitte nur in Gedanken!) demontieren und daraus das antike Gebäude (bzw. mehrere Gebäude: den Athena-Tempel und eine Porticus an der Agora, Abb. 13) leicht wiedererrichten25. Ebenso aus dem Turm der Abtei S. Guglielmo al Goleto ein darin verbautes Grabmal. Man kann über manche dieser Bauklotzgebilde nur sagen, was Goethe einmal auf seiner italienischen Reise über einen Spolienbau gesagt hat: „zusammengeflickt, nicht dumm, aber toll“26. Wichtig daran ist auch, daß die Leichtigkeit, mit der in der Architektur der Vorgang der Spoliierung sozusagen in einem gedanklichen Bauklotz-Spiel rückgängig gemacht werden kann, es 25

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G. Gruben, Art. Paro, Enciclopedia dell’arte antica 4, Suppl. 2 (197194), Roma 1996, 258-264. Das folgende Beispiel: F. Coarelli, Su un monumento funerario romano nell’abbazia di S. Guglielmo al Goleto, Dialoghi di Archeologia 1, 1967, 46-71 (Grabbau des M. Paccius Marcellus). Oder der im Ehrenbogen von Civita Castellana verarbeitete Grabbau (Abb. 23). Italienische Reise, 27. Okt. 1786, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, I. Abteilung 15 / 1, Frankfurt am Main 1993, 130, zum sog. Clitumnus-Tempel. Mit „einflicken“ bezeichnet übrigens auch Albrecht Dürer Karls des Großen Spolienverwendung in Aachen: Tagebuch der niederländischen Reise, 7. Okt. 1520: Albrecht Dürer schriftlicher Nachlass. Familienchronik, Gedenkbuch, Tagebuch der niederländischen Reise, Briefe, Reime, Auswahl der theoretischen Schriften, hg. von E. Heidrich, Berlin 1918, 59.

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dem lange Zeit dominierenden Archäologen (die Archäologie ist ja schließlich älter als die Kunstgeschichte) überflüssig gemacht hat, sich mit dem neuen Kontext zu beschäftigen, in den „seine“ Stücke hineingeraten waren. Was die Sache gleichwohl so odios machte, war das Faktum, daß architektonische Spoliierung ja das antike Monument zerstört, in Einzelstücke auflöst, während literarische Spoliierung27 den alten Kontext nicht antastet. Wenn wir heute bei einer Architektur-Spolie von einem „Antiken-Zitat“ sprechen, so hätten die Humanisten, mit ihren literarischen Antiken-Zitaten, einen solchen Vergleich weit von sich gewiesen: der antike Text bleibt heil, der antike Bau wird zerstört. Gehen wir nun einen Schritt weiter in unserer Frage, worin sich die Perspektiven von Archäologe und Historiker unterscheiden (oder aber auch überschneiden), und bleiben zunächst noch, um den Vergleich ganz konkret zu halten, bei der Feststellung der ursprünglichen Provenienz wiederverwendeter Stücke. Nicht nur ihr ursprünglicher Sitz am antiken Bau läßt sich feststellen: nicht selten läßt sich auch der Ort der Herkunft lokalisieren. Aus den stilistischen Formen und den genauen Abmessungen wiederverwendeter Stücke ist beispielsweise zu ersehen, daß einige Spolien in Salerno aus Pozzuoli und aus Paestum stammen müssen (immerhin 70 km nördlich bzw. 40 km südlich von Salerno)28; charakteristische Figuralkapitelle (Abb. 5) und ein Delphinfries in Pisa müssen aus den Caracalla-Thermen in Rom und der sogenannten Basilica Neptuni beim Pantheon in Rom geholt worden sein, ja in einer Pisaner Urkunde von 1158 hat sich ein Vertrag zwischen dem Erzbischof und römischen Lieferanten de lapidibus vendendis, reducendis seu hedificandis erhalten, sehr wahrscheinlich antike

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Als spoliorum cupidus bezeichnet sich Wibald von Stablo 1149 (Brief CXLVII) zur Rechtfertigung seiner Lektüre klassischer Autoren (spolia hier im ursprünglichen Sinn als Beute): Migne, PL 189,1252; vgl. Settis, Les remplois (1997), 82 f. Esch, Spolien (1969), 20; mit weiteren Beispielen nachweisbarer Provenienz, 18-26.

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Stücke29. Eine an der Kathedrale von Pisa wiederverwendete antike Inschrift, die das collegium fabrorum tignariorum Ostiensium, die Zunft der Schiffszimmerleute von Ostia nennt, zeigt damit an, daß sie aus Ostia herbeitransportiert wurde: in der Tat ließen sich dort an der Tibermündung bequem Schiffe mit antiken Stücken jeden verwendbaren Zuschnitts beladen, und dementsprechend viel Antike ist, nachweislich, von dort wie von Rom aus exportiert worden30. Oder ein weiteres Indiz für die Ermittlung des antiken Standorts: Meilensteine, die man gern als Säulen in Kirchen wiederverwendete, geben durch ihre (auffallenderweise nicht getilgte) Inschrift mit Meilenangabe ihren ursprünglichen Aufstellungsort genauestens zu erkennen. Der Meilenstein sagt: 42. Meile der Via Salaria, und wurde dann zur Säule in der Krypta des Doms von Rieti; Meilenstein 54 der Via Appia, und wurde dann wiederverwendet in der Abtei Fossanova31 (Abb. 8). Ja, um auf der weiten Skala von Indizien für die Feststellung der Provenienz die unterste Stufe zu bezeichnen: noch die leise Krümmung eines Quaders erlaubt, den Radius des spoliierten Rundbaus zu errechnen und so vielleicht das Rundgrab an naher Römerstraße zu identifizieren, das diesen Quader lieferte – und damit vielleicht den Radius der mittelalterlichen Apsis vorbestimmte, die nun der Krümmung der wiederverwendeten Quadern folgte32. 29

30

31 32

Pisa erweist sich als besonders ergiebiger Fall für die Bestimmung der Herkunft von Spolien: Tedeschi Grisanti, Fregio (1980); Dies., Capitelli (1990); Dies., Marmi (1990); Kinney, Baths of Caracalla (1986); Cattalini, Capitello da Roma (1982); Vertrag von 1158: N. Caturegli, Regesto della Chiesa di Pisa, Regesta Chartarum Italiae 24, Roma 1938, 320, Nr. 460; Inschrift aus Ostia: CIL XIV 9 (eine weitere aus dem Campo Santo: XIV 292). Dazu die oben Anm. 11 zitierte Literatur. Zum Spolienexport etwa Lanciani, Scavi (1902-12); Fedele, Commercio (1909). Esch, Meilenstein (1973). So bei der Apsis der Burgkapelle des Kastro von Paros (s. o. Anm. 25); so bei S. Alessandro an der Via Valeria in Corfinio (bei Sulmona): F. van Wonterghem, Superaequum-Corfinium-Sulmo, Forma Italiae IV 1, 1984, 137 ff.

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Die Beispiele ließen sich vermehren – aber hier geht es um anderes: um das, was Archäologe und Historiker daraus machen. Der Archäologe wird diese verschleppten Stücke, in Gedanken, wieder zurückführen an ihren ursprünglichen Standort, wird „sein“ Monument – etwa das Macellum von Pozzuoli – damit wieder vervollständigen. Den Historiker interessiert, im Gegenteil, gerade die Distanz, die räumliche und ideelle Distanz zur ursprünglichen Aufstellung und zur ursprünglichen Funktion. Nach der räumlichen Distanz zu fragen, mag trivial wirken. Aber sie läßt erkennen, wieviel den Erbauern etwa der Kathedrale von Pisa solche Stücke wert waren, da sie sie über solch große Strecken herbeischafften – und ihren antiken Charakter dann absichtsvoll sichtbar ließen. Mittelalterliche Steinmetzen hätten das bestoßene Relief ja leicht abarbeiten, hätten die dekorierte Unterseite des Architravs ja unsichtbar nach hinten statt sichtbar nach vorn drehen können; hätten beim bloßen Quader durch richtiges Versetzen wenigstens den Gußkanal oder gar die Anathyrose (die leicht ausgehöhlte Lagerfläche der nur auf ihren Kanten ruhenden Blöcke, sichtbar auch in Abb. 3) verschwinden lassen können33, oder hätten Inschriften mit der beschrifteten Seite nach innen versetzen können! Aber nein: sie wollten die antiken Stücke eben nicht auf ihren bloßen Materialwert reduzieren, nicht bloß „Steine“ haben; wäre es ihnen darum gegangen, dann wäre es doch billiger gewesen, einen romanischen Pfeiler hochzumauern statt eine kolossale antike Säule heranzutransportieren. Sie wollten offensichtlich mehr. Auf die Motive der Spolienverwendung – für den Historiker wohl die wichtigste Frage überhaupt – wird noch zurückzukommen sein. Gerade wenn das antike Material nicht einfach am Orte aufgelesen, sondern von auswärts beschafft wurde, weil die Nachfrage das Angebot überstieg oder auf besondere Herkunft Wert gelegt wurde, erhebt sich die Frage: wer hat die Stücke denn ausgewählt? 33

Doch mag in solchen Fällen manchmal auch einfach Unverstand oder Gleichgültigkeit im Spiel gewesen sein.

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Was machte der Auftraggeber womöglich an Vorgaben? Vielleicht „ein Gesims, das mindestens 3,45 m lang ist“; oder: „es muß aus ganz weißem Marmor sein“; oder aber: „egal was, es muß nur aus Rom sein“; oder: „egal was, aber es muß aus richtig rotem Porphyr sein“ (schon in solchen Vorgaben spiegelten sich die Motive der Spolienverwendung). Oder: „Das Stück muß möglichst viele Zierleisten (Kymatien) übereinander haben, mindestens vier“; oder einfach: „10 Säulen, aber bitte alle gleich dick und hoch“. Oder man bestellte einfach Antike pauschal, wie jene Ladung, die 1158 der Erzbischof von Pisa bei zwei Römern orderte34 und die vermutlich wohlsortiert Schäfte, Kapitelle, Gesimse, Quadern, Keilsteine umfaßte. Beiseitegelassen sei der Sonderfall der Cosmaten, die, in anspruchsvollerer Weise, Antike schon zugerichtet und verarbeitet lieferten, Antike als Vorbild wie als Rohmaterial35. Natürlich streiften die Bauleute auch selbst durch die Gegend auf der Suche nach geeigneten antiken Stücken: ivit Romam ad spiorandum [!] pro marmo; ivit cum magistris operis ad inveniendum marmora per districtum Urbis36. Die Provenienz von Spolien wird bisweilen auch in erzählenden Quellen erwähnt37, wobei – sozusagen den Aufwand des Transportes rechtfertigend – die Bedeutung der antiken Stücke ausdrücklich angesprochen wird: Abt Desiderius, der 1066 für den Neubau von Monte Cassino aus Rom Säulen samt Kapitellen und Basen kauft; Abt Suger, der gegen 1137 für den Neubau von St. Denis einen begehrlichen Blick auf die kolossalen Säulen 34 35

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37

S. o. Anm. 29. Noehles, Tuscania (1961 / 62); Claussen, Marmorkünstler (1987); Ders., Marmi (1989). L. Fumi, Il duomo di Orvieto e i suoi restauri, Roma 1891, Anhang Nr. 42 (1321) bzw. 174 (1350). O. Lehmann-Brockhaus, Schriftquellen zur Kunstgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts für Deutschland, Lothringen und Italien, Berlin 1938. Zu den bekannten Fällen Monte Cassino und St.-Denis etwa H. Bloch, Monte Cassino in the Middle Ages, Vol. 1, Cambridge Mass. 1986, 72, bzw. Brenk, Sugers Spolien (1983).

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in palatio Diocletiani warf (doch unterblieb dieses – vielleicht nur imaginäre – Transportprojekt). Diese Beispiele sind allzu bekannt. Auch andere, geringere Texte beziehen sich, wenn sie von der Beschaffung von Baumaterial etwa für den Bau der eigenen Klosterkirche sprechen, bisweilen deutlich auf Spolien38 – auch wenn oft nicht zu erkennen ist, worauf es der schreibende Abt eigentlich abgesehen hat: auf den Lobpreis Gottes (das Wunder unverhofft aufgefundenen Baumaterials), die Beschreibung des Bauvorgangs, oder ob ein genuines Antikeninteresse herauszulesen ist. Da spricht die Spolie selbst deutlicher. Ein weniger bekannter Fall zeigt, daß Angaben über die Provenienz von Spolien reine Mystifikation sein können und für den Archäologen, der Spolien an ihren Ursprungsort zurückführen will, völlig untauglich. Wenn der deutsche Pilger Ludolf von Sudheim von seiner Orientfahrt (um 1340) berichtet, Venedig sei ganz aus den Steinen von Troja erbaut worden, wie Genua ganz aus den Steinen von Athen: kein Stein, keine Säule in Venedig, die nicht aus Troja stamme (in civitate Venetiae non est aliqua columna lapidea vel aliquod bonum opus lapideum sectum nisi de Troia ibidem deportatum)39, so stimmt das natürlich nicht. Es ist einfach das, was den Reisenden damals auf venezianischen Schiffen erzählt wurde, wenn sie die nördliche Ägäis passierten (um das interessant zu finden, mußte unser Pilger nicht einmal den Troja-Krieg des Konrad von Würzburg gelesen haben). Denn das entsprach der Ursprungslegende Venedigs, wonach die Stadt von Trojanern gegründet worden sei40. Gründungslegende und 38

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40

Hagiographische Texte bei Clemens, Tempore Romanorum (2003), 248-267. Ludolphus de Sudheim, De itinere terrae sanctae, ed. W. A. Neumann, in: Les Archives de l’Orient latin, II. Documents, Paris 1884, 331. Dies ist die ursprüngliche Gründungslegende der offiziellen venezianischen Chronistik, wie Carile gezeigt hat, und wurde erst später, von den Humanisten, durch die Bezugnahme auf Rom, also den Mythos der seconda Roma, verdrängt (A. Carile / G. Fedalto, Le origini di Venezia, Bologna 1978, 55 ff.); für Genua hingegen ist eine Athen-Tradition lokal nicht nachzuweisen: Müller, Trophäen (2002), 105.

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Spolienverwendung miteinander kurzzuschließen, einander beglaubigen zu lassen, war das Natürlichste von der Welt. Zwar wissen wir, daß für den Bau von S. Marco venezianische Schiffe auf offizielle Anweisung immer wieder Spolien aus dem ägäischen Raum herbeitransportierten41 – aber deren Herkunft aus Troja ist natürlich reine Mystifikation. Ebenso wie die Behauptung eines anderen Pilgers 1395, daß die Tore der Marienkirche von Athen – also des Parthenon auf der Akropolis – Spolien aus Troja seien42, nicht auf wirkliche Spoliierung Trojas zurückweist, also nicht tatsächlich von dort abtransportiertes Material belegt, sondern einzig und allein Aussage über Vorstellungen der eigenen Zeit ist: Kontinuitäts-Ideologie, Mirabilien Athens aus dem Munde des griechischen Cicerone von 1395. Immerhin führen auch solche Aussagen auf ein weiteres Thema, das uns der wichtigen Frage, warum Antike denn wiederverwendet wurde, schon näher bringt, nämlich: wie Antike im Mittelalter wahrgenommen wurde. Das sei hier freilich nur auf unsere begrenzten Zwecke bezogen. Wir setzen bei Spolien ja voraus, daß sie als „antik“ erkannt (oder doch dafür gehalten) wurden, und müssen uns doch zunächst einmal darüber klar sein, daß die Zeitgenossen mit „antik“ natürlich nicht das verbanden, was ein archäologisches Oberseminar heute davon weiß. Sie bezogen das in der Regel nicht auf eine historisch definierte Epoche, mit Solon vorn und Diokletian hinten, mit Griechen und Römern in der Mitte und Barbaren an den Rändern. Den meisten war das eine eher mythisch als historisch aufgefaßte Zeit, eine Welt fern und heidnisch, der gute Trajan und der böse Nero frei – ohne chronologische Anbindung – darin herumtreibend. Es wäre interessant zu wissen, wie Spolien als solche erkannt und wie ihre offensichtliche 41

42

La Basilica di San Marco in Venezia, a cura di C. Boito, Venezia 1888, Quelle S. 390; Corpus der Kapitelle der Kirche von San Marco in Venedig, hg. von F. W. Deichmann, Wiesbaden 1981, 1 f. und 5 f. L. le Grand, Relation du pèlerinage à Jérusalem de Nicolas de Martoni notaire italien (1394-1395), Revue de l’Orient latin 3, 1895, 651.

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Andersartigkeit artikuliert wurde, z. B. ob mit zeitlicher („alt“) oder mit räumlicher („sarazenisch“) Entfernung auf Distanz gebracht43. Und mit welchen Ausdrücken scheuer oder distanzierter Bewunderung man die antiken Stücke bedachte, die man auslas und wiederverwendete: vielleicht „schön“, „fremdartig schön“, „magisch schön“, „alt“, „altehrwürdig“, „außergewöhnlich“, „gewiß nicht von uns gemacht“. Daß Spolien tatsächlich Stücke sind, die sich auch für unseren geschulten Blick in aller Regel als antik erweisen, sollte jedenfalls zu denken geben. Antiken-Wahrnehmung mit ungeschultem Auge und aus ungelehrtem Mund hat immer ihren besonderen Reiz, sagt aber meist mehr über das beobachtende Subjekt als über das beobachtete Objekt aus, sogar bei unverwechselbaren Großbauten: daß ein Amphitheater gemeint sei, ist kaum noch zu erkennen44. Und wenn der englische Pilgerführer Ye solace of Pilgrimes die Umwandlung heidnischer Tempel in christliche Kirchen anspricht (Of dyvers templis of fals goddis turnyd to servyse of seyntis) und sogar die Wiederverwendung einzelner antiker Stücke in mittelalterlichen Kirchen erwähnt (chaunge on to bettir use)45, dann ist das nicht Identifizierung oder auch nur Wahrnehmung von Spolien, ja wohl nicht einmal eigene Beobachtung, sondern dem Autor erzählt als Beleg für den Triumph des Christentums über das Heidentum: die

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Nachweise „sarazenisch“ zusammengestellt bei Clemens, Tempore Romanorum (2003), 420 ff. Wiederverwendete Stücke meist tatsächlich antik (sieht man ab von den häufig vermauerten Stücken langobardischen Flechtbands, zusammengestellt im Corpus della scultura altomedievale, Spoleto 1959 ff.). A. Esch, Staunendes Sehen, gelehrtes Wissen. Zwei Beschreibungen römischer Amphitheater aus dem letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, Zeitschrift für Kunstgeschichte 50, 1987, 385-393; und jetzt Basso, Architettura e memoria dell’antico (1999): Amphitheater Pula 262-267, Verona 288-297. John Capgrave, Ye Solace of Pilgrimes. A description of Rome, ed. by C. A. Mills, London 1911: Wiederverwendung von Steinquadern I, 11 und 20, ganzem Tempel I, 10.

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Spolie nicht als Nachweis für das Nachleben der Antike, sondern als Todesanzeige. Doch hat es auch den bewundernden Blick auf das antike Stück immer gegeben. Das Wenige, was in mittelalterlichen Texten expressis verbis über den Eindruck antiker Architektur oder Skulptur auf den Betrachter gesagt wird, ist längst bekannt und oft analysiert worden. Allerdings: was gebildete Kleriker, Dichter, Gelehrte damals als Eindruck von antiker Kunst literarisch in Worte zu fassen verstanden, sagt uns wenig über den Alltag der Antiken-Perzeption und Antiken-Rezeption: ländliche Kirchen mit viel wiederverwendeten Stücken – etwa die Pieven im südlichen Umbrien (Abb. 7) – sind ja nicht von an Vitruv geschulten Architekten oder bekennenden Antikenliebhabern errichtet worden! Wie aber diese niedere Ebene alltäglicher Antiken-Wahrnehmung zu fassen kriegen? Der Historiker – den sein Metier häufig in die Niederungen des Alltags führt – kann dazu ein wenig beitragen mit einer Quellengattung, die so unansehnlich und abweisend ist, daß andere sie gewiß nicht zur Kenntnis nehmen: Grenzbeschreibungen mit ihren topographischen Angaben in mittelalterlichen Kauf- und Pachturkunden46. Denn daraus ersehen wir, wie in freier Landschaft antike Reste, die sich wegen ihrer unverwechselbaren Gestalt und Dauerhaftigkeit besonders gut als Grenzmarken eigneten, von ländlichen Notaren, schlichten Grundeigentümern oder um Auskunft befragten Bauern mit eigenen Worten (und nicht in archäologischer Fachsprache) bezeichnet wurden: ohne antiquarische Absicht, aus rein praktischem Anlaß, denn ohne solche aktuelle Funktion als Grenzmarke hatte Antike im ländlichen Alltag des Mittelalters keine Chance, wahrgenommen zu werden und in Schriftquellen hineinzufinden. Dauerhaftigkeit, denn ein 46

Für den städtischen Bereich zuletzt Sommerlechner, Urkunden (2001); für den ländlichen Bereich Esch, Antike in der Landschaft (1996); erweitert Ders., Monumenti antichi nelle descrizioni medievali di confini nei dintorni di Roma, Arte Medievale 2003 (im Druck).

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antikes Monument konnte man nicht, wie einen Grenzstein oder einen Baum, in einigen Nachtstunden beiseiteräumen; Ansehnlichkeit, denn zwischen den Feldern und Hütten frühmittelalterlicher Agrarlandschaft blieb ein antikes Monument in seiner – nun unverstandenen – Gestalt und Dekoration ganz unverwechselbar. Und so begegnen in Grenzbeschreibungen Bezeichnungen antiker Ruinen wie monumentum, mausoleum, balneum Veneris, oder Zahlentoponyme wie septem camere, cento archi (was natürlich nicht genau „7 Kammern“ oder „100 Bögen“ bedeutet, sondern „befremdlich viele“, etwa im Inneren einer römischen basis villae); columnae marmoreae, statua oder leones marmorei (antike Skulpturen, einige sind sogar noch identifizierbar), und andere auffallende Begriffe und Flurnamen. Archäologie aus dem Archiv sozusagen, und das ist ja auch schon beachtet worden47. In der Sabina, aus der durch die reiche Überlieferung von Kloster Farfa besonders viele solcher Grenzbeschreibungen erhalten sind, war die Landschaft übersät mit römischen Villen, die spätestens mit dem frühmittelalterlichen Siedlungswandel des incastellamento48 aufgegeben wurden und sich als Bezugspunkt für Grenzbeschreibungen anboten. Und das waren ja nicht nur schlichte agrarische Gutsbetriebe, sondern repräsentativ ausgestattete Sitze, man denke an die ausgedehnte Villa bei Meile 32 der Via Salaria, die Dutzende wertvollster Statuen lieferte: Götter, Musen, Dichter, Satyrn, die glücklicherweise bald unter die Erde gerieten, sozusagen unter dem Flurnamen des dort sich einnistenden Kirchleins 47

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Von Linguisten vor allem wegen der Toponyme, etwa: G. B. Pellegrini, Attraverso la toponomastica urbana medievale in Italia, in: Topografia urbana e vita cittadina nell’alto medioevo in Occidente, XXIa Settimana di studi del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo, 1973, Spoleto 1974, 401-476; für den ländlichen Bereich Del Lungo, Toponomastica archeologica (1996). P. Toubert, Les structures du Latium médiéval. Le Latium méridional et la Sabine du IXe siècle à la fin du XIIe siècle, 2 Bde, Rome 1973; die anregenden Thesen sind seither in zahlreichen Tagungen diskutiert worden.

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Madonna dei Colori verschwanden (und heute den Kernbestand der Ny Carlsberg-Glyptothek in Kopenhagen bilden)49. Ansehnliche antike Reste genug, um Landschaft und Besitzverhältnisse zu gliedern. Das sei hier nur angedeutet, aber wenigstens darauf aufmerksam gemacht, daß via romana in solch einer Notariatsurkunde nicht, wie interpretiert worden ist, „Römerstraße“ bedeutet, sondern „Romstraße“, „Straße nach Rom“, also nicht schon eine antike Straße anzeigt. Und daß mausoleum nicht ein Mausoleum sein muß, balneum nicht eine Thermenanlage, ein caput Serapi nicht ein Serapiskopf! Aber irgend etwas Antikes wird es gewesen sein: das Außergewöhnliche bezeichnet mit dem außergewöhnlichen Wort. Man kann solche Grenzbeschreibungen geradezu zum Anlaß für Wanderungen durch Ruinenlandschaften nehmen, Wanderung „vom Bad zu den Säulchen und zum Monument“, und dann wieder zurück zur „Eiche mit den zwei großen Ästen am Wald“50, und wird dabei neben dem Vergnügen sogar historische Erkenntnis haben. Man muß sich nur darüber im klaren sein, daß es zwei völlig verschiedene Dinge sind, mit einem Landnotar durch die zerfallenden Monumente der frühmittelalterlichen Sabina zu wandern oder mit Pausanias den Zerfall ländlicher Kultstätten und Siedlungen in der kaiserzeitlichen Peloponnes zu beobachten, obwohl Pausanias von archaischer Kultstätte zeitlich ebenso weit entfernt ist wie ein karolingischer Landnotar von einem hadrianischen Mausoleum. Pausanias wußte noch jeden Überrest (von Efeu zersprengte Tempel, Statuenbasen ohne Statuen, von einstiger Stadt nur noch Reste des Marktes und der Mauern zu erkennen51: „Verfall bei Pausanias“ wäre ein anziehendes Thema!) zu deuten und einzuordnen. Nicht so unser Notar: er will uns das ja auch gar nicht erzählen, es bedarf der methodischen Überlistung, be49 50 51

Esch, Straßen (1997), 104-106. Beispiele Esch (wie Anm. 46). Pausanias, Periegesis, edd. H. Hitzig / H. Blümner, Leipzig 1896-1910, z. B. VIII 13,2; 38,5; 42,13; IX 33,7.

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vor es auch nur zu indirekter Aussage kommt. Und es bedarf des Historikers. Bei literarischen Texten muß man an die mittelalterliche Nennung antiker Monumente natürlich anders herangehen. Dazu sei hier nur bemerkt, daß die Unart des Historikers (und Philologen), solche Beschreibungen leicht als topisch oder phantastisch abzutun (als hätten im Mittelalter alle nur voneinander abgeschrieben oder nur noch mit dem inneren Auge gesehen), bisweilen auch darin ihren Grund hat, daß der Historiker den Denkmälerbestand ungenügend kennt: bei näherem archäologischen Zusehen bezieht sich vieles durchaus auf reale Monumente innerhalb und außerhalb der Städte, ja die Ergebnisse moderner Stadtarchäologie bestätigen es womöglich noch im Nachhinein52. Bemerkenswert ist, daß nördlich der Alpen Amphitheater verschiedentlich noch bis ins 12. Jahrhundert (und darüber hinaus) als amphitheatrum oder arena bezeichnet werden und erst dann phantastische Benennungen erfolgen. Nur auf eine dieser Grenzbeschreibungen sei hier näher eingegangen, weil sie besonders viele Antiken enthält: die angebliche Schenkung von Besitz beim 10. Meilenstein der Via Aurelia durch Gregors des Großen Mutter Silvia an das Kloster SS. Andrea e Gregorio in Clivo Scauri53. In Wahrheit handelt es sich um eine Fälschung wohl des frühen 12. Jahrhunderts, die, gerade weil sie Besitzverhältnisse um 600 vorspiegeln will, mit dem Antiken-Vokabular der eigenen Zeit zusätzlich zu den wirklich existierenden Toponymen absichtsvoll noch weitere antik klingende hinzuphantasierte (wie Petrus Diaconus, von dessen Antikenkenntnissen und Antiken-Phantasien wir durch Herbert Bloch wissen54, für seine 52

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Beispiele bei Clemens, Tempore Romanorum (2003) Kap. III, z. B. 302 ff., 318 f., 334 ff., 361 f.; Amphitheater: ebd. 105 ff., 418. J. B. Mittarelli, Annales Camaldulenses, Venetiis 1755, App. I, 297 ff.; vgl. P. Kehr, Italia Pontificia I, Berlin 1906, 104. Bloch, Graphia (1984); Routenverzeichnisse: E. Caspar, Petrus Diaconus und die Monte Cassineser Fälschungen. Ein Beitrag zur Geschichte des italienischen Geisteslebens im Mittelalter, Berlin 1909, 171-174.

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Fälschungen zugunsten Montecassinos zum Ersinnen antik klingender Ortsnamen notfalls einfach antike Routenverzeichnisse ausschrieb – so als nähme man heute Stationen-Namen aus einem Fahrplan, damit es möglichst echt klingt). In dieser Urkunde von angeblich 603 ist sozusagen alles beisammen, womit man im 12. Jahrhundert – einem besonders antikennahen Jahrhundert – Altertum beglaubigen konnte: Rundgrab und Marmorbrücke, septem und centum, alte Pflasterung und alte Bögen, Serapis und Nymphen, Grotte und Sarkophag. Man glaubt, durch eine Landschaft römischer Landvermesser zu spazieren, wie wir sie aus illuminierten Agrimensoren-Codices vor Augen haben. Vieles mag da tatsächlich herumgelegen haben, potentielle Spolien, falls man dort, etwa beim Übergang der Via Aurelia über den Arrone, eine Kapelle gebaut hätte. Und so würde damals wohl auch ein Landpfarrer, ein plebano, auf die Spolien an seiner Pieve gezeigt und sie schlicht benannt haben: caput leonis (bei einer der gern vermauerten Löwen-Protomen – und vielleicht fügte er noch hinzu: id est fortitudo); angelus (bei einem eingefügten Fragment eines Eroten-Sarkophags oder eines Sarkophags mit weinlesenden Putten – das war eine gängige interpretatio christiana); sol (die abgeschnittene Stirnscheibe eines pulvinar, des gerollten Polsterkissens von Sarkophagdeckel oder Altar, in Latium gern wiederverwendet und als Sonne leicht auszudeuten). Oder er weist auf ein Inschriftfragment mit PIVS (aus der Zeile PIVS FELIX AVGVSTVS) – viel mehr als dies, oder CAESAR (Abb. 10), wußte man im Mittelalter aus antiken Inschriften mit ihren vielen Abkürzungen auch nicht zu entziffern55, und doch wurden sie an vielen Kirchen sichtbar – auch verkehrt herum – vermauert, statt mit der beschrifteten Seite nach innen, denn auch ein unverstandenes 55

I. Calabi Limentani, Sul non saper leggere le epigrafi classiche nei secoli XII e XIII, in: Annali della Facoltà di lettere e filosofia dell’Università di Milano 23, 1970, 253-282. CAES[ ] s. Abb.; ein ausgesägtes [C]AESAR eingefügt auch in das Grabmal Papst Hadrians V. († 1276) in S. Francesco in Viterbo.

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antikes Stück vermittelte im Hochmittelalter noch auctoritas und nicht nur vetustas56. (Hätte man die Inschrift am Grabmonument der „Igeler Säule“ bei Trier deuten können, dann hätte man erkannt, daß es sich, anders als man glauben wollte, nicht um das „Hochzeitsdenkmal“ der ersten christlichen Kaiserin Helena handelte – und hätte es nicht verschont57). Inschriften eigneten sich schon wegen ihrer geraden Kanten gut, in aufgehender Mauer verwendet zu werden: darum im Corpus Inscriptionum Latinarum die zahlreichen Inschriften als Spolien aus mittelalterlichen Kirchen (18 Inschriften[fragmente] allein von der Kathedrale in Pisa, rund 30 von der Abtei Venosa, 12 allein aus dem Fußboden der Kathedrale von Ferentino) statt nur aus Ruinen und Grabungen; darum auch die frühe Aufmerksamkeit von Humanisten und Renaissancemalern, die die antiken Inschriften bequem vor Augen hatten und sie in ihre Syllogen und Bilder aufnahmen58. Daß sie sich – z. B. wenn Francesco di Giorgio Martini ein in S. Angelo 56

57 58

Settis, Auctoritas (1988). Ein inhaltlicher Bezug der Spolien-Inschriften zum Bauwerk, eine bewußte Wahl also, läßt sich in aller Regel denn auch nicht feststellen. Doch könnte z. B. die Nerva TraianusInschriftspolie in S. Clemente in Rom (über dem Hauptportal innen) und der Inschriftrest Martyr – wohl Spolie aus der Widmungsinschrift des 4. Jhs. – in der Rückenlehne des Bischofsthrones (s. Claussen, Kirchen [2002], 342 f.) auf den Märtyrertod des Clemens unter Trajan anspielen: über die besondere Rolle von S. Clemente zur Zeit der Kirchenreform und die programmatische Ausstattung der Kirche jüngst P. Carmassi, Die hochmittelalterlichen Fresken der Unterkirche von S. Clemente in Rom als programmatische Selbstdarstellung des Reformpapsttums. Neue Einsichten zur Bestimmung des Entstehungskontexts, Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 81, 2001, 1-66. Clemens, Tempore Romanorum (2003), 202. Etwa Jacopo Bellini: A. Schmitt, Antikenkopien und künstlerische Selbstverwirklichung in der Frührenaissance. Jacopo Bellini auf den Spuren römischer Epitaphien, in: Antikenzeichnung und Antikenstudium in Renaissance und Frühbarock. Akten des Internationalen Symposiums, 8.–10. September 1986 in Coburg, hg. von P. Harprath / H. Wrede, Mainz 1989, 1-20; Mantegna s. bei Anm. 102.

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in Perugia wiederverwendetes Spolien-Kapitell zeichnete oder der Holmensis eine in S. Maria in Araceli in Rom wiederverwendete antike Säule59 – dann allein für das antike Stück und nicht für seinen Spoliencharakter interessierten, versteht sich. Nicht nur das dekorativ gestaltete antike Stück, sogar schon der schlichte, einzelne antike Quader erregte Bewunderung: durch sein schimmerndes Material (die Kostbarkeit des Steinmaterials wird in den Schriftquellen gern hervorgehoben, etwa mit der Bezeichnung lapis de Pario, „parischer Marmor“, auch wenn es bloß lokaler Kalkstein war, aber eben antik bearbeitet); Bewunderung aber auch für seinen präzisen Schnitt: darum in den Quellen der Begriff lapis quadrus oder quadratus60. Der Quader lud zur Wiederverwendung ein, nicht nur weil er gut zu verbauen, sondern weil er ansehnlich war – und wahrhaftig: schon ein einzelner antiker Quader als Spolie in einer Bruchsteinmauer kann noch heute wie eine Epiphanie der Antike wirken! Oder wie eine französische Quelle des 12. Jahrhunderts, die Chronik der Grafen von Anjou, über eine antike Quadermauer im Vergleich zu Mauerwerk ihrer eigenen Zeit sagt: murus in quadris lapidibus, modernorum parcitatem accusans – „eine Mauer aus Quadern, die die Schäbigkeit der jetzigen [Erbauer oder Mauern] bloßstellt“61. Da haben wir einmal ausdrücklich ein Werturteil über den gewöhnlichen, nicht ornamentierten antiken Werkstein – und damit die Rechtfertigung seiner Wiederverwendung. Denn ansehnlich war die Antike schon durch ihr Material: man konnte ihre Marmore und Buntmarmore wiederverwenden in der Gestalt, in der man sie vorfand – aber auch zu gänzlich Neuem verarbeiten. Beispielsweise, wie in den Fußböden der Cosmaten, eine antike (oder mittelalterliche) Inschrift als Rahmen nehmen 59

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Florenz, Uffizi Inv. 335A r bzw. Stockholm, Codex Holmensis fol. 42v; beide im CENSUS s. Anm. 85. Beispiele zusammengestellt bei Esch, Spolien (1969), 44; weitere mittelalterliche Urteile s. Weigel, Spolien (1996). Chronique des comtes d’Anjou, publ. par MM. Marchégay et Salmon, Societé de l’histoire de France, Paris 1866-1871, 336 (ad 1149).

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und in ihre Oberfläche (auch ohne die Lettern zu entfernen) Muster aus zugerichteten antiken Buntmarmoren einlegen (Abb. 6); eine Porphyrsäule wie eine Wurst in Scheiben geschnitten lieferte schöne regelmäßige rotae, neben Quadraten aus Serpentin, Dreiecken aus Giallo Antico, usw.; der augenfällige Materialwert des (immer aus antiken Ruinen stammenden) Buntmarmors wurde zu neuer Form gestaltet62. Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Schriftquellen des Historikers, der ohnehin mehr mit alltäglichem Kontext als mit spektakulären Einzelstücken zu tun hat. Da der Historiker, Allesfresser , der er ist, innerhalb der Schriftquellen mit einem viel breiteren Spektrum an Quellengattungen umgeht als alle Nachbarfächer, begegnet er der Antike bisweilen auch in weniger anziehenden Zusammenhängen: nicht nur, wo sie gesucht und bewundert, sondern auch wo sie verschmäht, erniedrigt, ja vernichtet wurde. Wenn man in den Auszahlungsanordnungen der Camera Apostolica findet, daß aus den Ruinen von Ostia nicht nur Baumaterial für Neubauten im Rom des Quattrocento herbeigeschafft, sondern aus diesen antiken Marmorquadern auch Kanonenkugeln für die päpstliche Artillerie gedrechselt wurden63, dann kann man sich 62

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Zur Antikenverarbeitung der Cosmaten Noehles, Fassade (1961 / 62); Esch, Spolien (1969), 26-29; Claussen, Magistri (1987); Claussen, Kirchen (2002); an ihren Portiken: Pensabene / Pomponi (1991 / 92); in vorcosmatischen Pavimenten: Guidobaldi, Pavimenti (1983). Dafür wiederverwendete Inschriften s. Buchstabenreste auf den weißen – geraden oder gekrümmten – Marmorstreifen in Fußboden oder vertikalen Inkrustationsplatten (Abb. 6). Aber auch frühmittelalterliche Inschriften wurden von den Cosmaten so, ohne Tilgung der Buchstaben, wiederverwendet: Architrav Dom Civita Castellana (Inscriptiones medii aevi Italia, Vol. 1: Lazio-Viterbo, a cura di L. Cimarra et al., Spoleto 2002, 47); Fußboden Abtei Farfa (Claussen, Magistri [1987], Abb. 39). Zahlung an 2 marmorariis pro octingentis lapidibus bumbardarum existentium in Ostia 1423: A. M. Corbo, Artisti e artigiani in Roma al tempo di Martino V e di Eugenio IV, Roma 1969, 113; Reste der römischen Brücke am Aventin 1484 verarbeitet (Diario della città di Roma di Stefano Infessura, ed. O. Tommasini, Roma 1890, 147); daß es sich nicht um eine weitere Schmähung des Papstes handelt, zeigt der

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wirklich fragen, ob das noch „Wiederverwendung der Antike“ sei. Vielleicht nenne man es besser nicht Wiederverwendung, sondern Recycling von Antike. Ohne Aufhebens recycelt wurden natürlich auch antike Ziegel (Hypokausten boten ja ganze abräumbare Stapel fast neuwertiger Ziegel), überhaupt alles, was man vorfand: daß man Schuhwerk zum Klopfen über einen marmornen Kaiserkopf ziehen kann, erheiterte sogar Goethe64. Dieses bloße Nehmen und Aufbrauchen allgegenwärtiger Antike war Alltag, „Verwertung“ von Antike in der ganzen Breite des Wortsinns. Die Arbeit des Archäologen berührt das nicht mehr, ist ihm mehr Anlaß zu Unwillen als zu Erkenntnis. Aber es ist doch nicht unwichtig, daß die gleichen Päpste, die Antike als spektakuläres Einzelstück schützten, Antike in der Masse unbedenklich vernichteten. Und dieses Verhalten, von der Ausschlachtung bis zur Vernichtung, nimmt ja, anders als man glauben könnte, mit der Renaissance nicht ab, sondern drastisch zu: die Päpste der Renaissance haben, allein durch ihre Neubauten, mehr Antike vernichtet als alle voraufgehenden Päpste zusammen. Und auch danach wird es nicht besser: man ersehe nur einmal aus den Transportrechnungen der Zeit Pauls V., wie ungeniert man immer noch antike Bauten wie Diokletiansthermen, Nerva- und Vespasiansforum ihres architektonischen Schmucks beraubte – abgesehen von den antiken Spolien, die damals beim Abreißen von Alt-St. Peter frei wurden und in S. Maria Maggiore und Quirinal nun dritte Verwendung fanden65, allerdings nicht mehr als ostentativ vorgewiesene Antike.

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Fund solcher Kanonenkugeln dort: Bollettino d’Arte, Suppl. 4, 1982, 152, Abb. I 1. Türkische Kanonenkugeln „aus den Säulen von Alexandria-Troas“ sah bei Troja noch Heinrich Schliemann, s. sein Ithaka, die Peloponnes und Troja, Leipzig 1869 (Neudruck 1963), 209. Goethe am 14. April 1829 zu Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, II. Abteilung 12, Frankfurt am Main 1999, 360. Fonti per la storia artistica romana al tempo di Paolo V, a cura di A. M. Corbo / M. Pomponi, Pubblicazioni degli Archivi di Stato, Stru-

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Während die schriftlichen Zeugnisse zur Wahrnehmung von Antike im Spätmittelalter zunehmen, nimmt die materielle Wiederverwendung, die das antike Stück absichtsvoll sichtbar läßt und sich nicht bloß als Baumaterial einverleibt, nach der Mitte des 13. Jahrhunderts stark ab. Am einheitlich durchgegliederten gotischen Baukörper kann die Spolie keinen Eigenwert mehr haben66. Im Früh- und Hochmittelalter hingegen bleibt uns, umgekehrt, meist kein anderer Weg, als vom Befund, von der Spolie selbst auszugehen, oder anders gesagt: unsere Erkenntnisse aus der Auswahl und Anordnung der Spolien selbst abzuleiten. Was hat das Mittelalter vorzugsweise wiederverwendet, und was hat es verschmäht? Dafür muß man natürlich eine Vorstellung vom antiken Formenschatz haben, vom ursprünglichen Bestand des reichen Nachlasses der Antike – und diesen Überblick hat nur der Archäologe. Das gilt vor allem für die Gattung der Statuen. Man muß auch die kennen, die es nicht bis zum Ende des Mittelalters geschafft haben, um die Kriterien des Ausleseprozesses festzustellen. Die Überlebens-Chance antiker Statuen im Mittelalter über der Erde war unvorstellbar gering. Die Fülle von Statuen in den Museen läßt uns leicht vergessen, daß sie erst durch nachmittelalterliche Grabungen wieder ans Licht kamen. Während im Bereich der antiken Literatur die von Spätantike und Frühmittelalter vorgenommene Auslese irreversibel war, das Verlorene definitiv verloren, ließ sich im Bereich der antiken Kunst viel Verlorenes nachträglich durch Grabungen wiedergewinnen, was zunächst verlorengegangen war. Aber möglich war das erst nach Ende des Mittelalters.

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menti 121, Roma 1995, z. B. S. 52 f.; für die voraufgehende Zeit zahlreiche Beispiele in Lanciani, Scavi (1902-12); für das Cinquecento Gloton, Transformation (1962), und B. Jestaz, L’exportation des marbres de Rome de 1535 à 1571, Mélanges d’archéologie et d’histoire 75, 1963, 415-466. Zu diesem Aspekt Poeschke, Architekturästhetik (1996).

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Denn die Statue, vor allem die nackte, galt als Symbol des Heidentums schlechthin, als idolum, vor dem die Märtyrer zum Opfer gezwungen worden waren und das darum umgestürzt werden mußte, wie es auf Fresken und Mosaiken dargestellt wurde (diese Thematik gab dem mittelalterlichen Künstler Gelegenheit, sich an die Darstellung einer nackten Statue zu wagen, den antiken, paganen Charakter durch Nacktheit und Kontrapost kennzeichnend, Abb. 18)67. Darum wurden Statuen vorsätzlich vernichtet, exorzisiert, verstümmelt, vergraben, gesteinigt (Abb. 22)68. Heimliche Bewunderung und leises Grauen, wie sie beim Anblick einer Venus-Statue schlichtes Volk überkommen konnten, sind eindringlich beschrieben in Prosper Merimées Novelle „La Venus d’Ille“ (und die Statue richtet dann ja auch schreckliche Dinge an, deren sie nicht der Antiquar, aber die Landleute für fähig hielten!). Aber auch wiederverwenden ließen Statuen sich schwer, nicht einmal als Baumaterial (eine Venus hat bekanntlich wenig gerade Kanten), oder als Baumaterial höchstens, wenn zu Kalk gebrannt69. Bisweilen retten sich Statuen durch interpretatio christiana: ein Pan konnte als Johannes der Täufer (auch er ja von wüstem Aussehen) mißdeutet werden – mit der Umdeutung brauchte man Pan nicht mehr zu fürchten, konnte nun mit ihm leben, mußte seine Statue nicht mehr zerschlagen. Sarkophagreliefs mit dem schlafenden Endymion konnte man als ruhenden Jonas deuten oder als Schlaf und Erwachen zum Ewigen Leben, und einen MusenSarkophag einfach als Darstellung der Tugenden (auf die korrekte

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Beispiele s. W. Haftmann, Das italienische Säulenmonument, Leipzig / Berlin 1939; Himmelmann, Antike Götter (1986). Zuletzt Gramaccini, Mirabilia (1996); Fälle zusammengestellt bei Esch, Spolien (1969), 33 ff. Kalkbrennen: zuletzt P. Lenzi, „Sita in loco qui vocatur calcaria“. Attività di spoliazione e forni a Ostia, Archeologia Medievale 25, 1998, 247-263; I. Lori Sanfilippo, La Roma dei Romani. Arti, mestieri e professioni nella Roma del Trecento, Nuovi Studi Storici 57, Roma 2001, 232-235.

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Zahl, 7 oder 9, kam es da nicht an). Oder: Athena stehend vor Hera gedeutet als Verkündigungs-Engel vor Maria, scheint eben darum die einzige verschonte Nord-Metope des in eine Marienkirche verwandelten Parthenon, wie Gerhart Rodenwaldt wahrscheinlich gemacht hat70 (derselbe, mit dem Hans Lietzmann die Studien zur spätantiken Kunstgeschichte herausgab). Natürlich begegnet man interpretatio christiana auch in der Kleinkunst, bei der Wiederverwendung geschnittener Steine: ein Frauenköpfchen aus Lapislazuli als Kopf Christi am Herimannkreuz in Köln (um 1050) zu finden, ist so erstaunlich, daß man sich sogar fragen kann, ob überhaupt interpretatio christiana vorliegt, oder ob man nicht einfach ein besonders schönes Stück einsetzte71. Für die Wiederverwendung antiker Gefäße gab es einen eigenen Weiheritus: benedictio super vasa reperta in antiquis locis72 – bei heidnischen Statuen hingegen konnte solcher Exorzismus schwerlich genügen. Eine Venus-Statue einfach so zu übernehmen und öffentlich aufzustellen, konnte noch im 14. Jahrhundert völlig daneben gehen: der bekannte, gut dokumentierte Fall jener Statue, die nach der Auffindung zunächst in Siena auf den Hauptbrunnen des Hauptplatzes gesetzt worden war, nach einer Niederlage aber, als idolatria bereut, in Stücke geschlagen und nachts auf dem Territorium der feindlichen Florentiner vergraben wurde73.

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G. Rodenwaldt, Interpretatio christiana, Archäologischer Anzeiger 1933, 402-408; Sarkophage s. Anm. 80. Zur Wiederverwendung antiker Stücke in der Kleinkunst s. etwa die Literatur zusammengestellt bei Esch, Reimpiego (1999), 96, Anm. 56. W. Krämer, Zur Wiederverwendung antiker Gefäße im frühen Mittelalter, Germania 43, 1965, 327-329. Der (durch Ghibertis Bericht und Sienas Stadtratsbeschluß gut dokumentierte) Fall zuletzt bei Gramaccini, Mirabilia (1996), 206 ff.; doch kann ich der Identifizierung mit der Zeichnung im Codex Escurialensis fol. 54v (ebd. 215 f.) nicht folgen.

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Weniger verfängliche Statuen, etwa überarbeitete Torsi, hatten aber längst schon Aufstellung sogar in der Stadtsymbolik gefunden74. Die Spannweite des Umgangs mit der antiken Statue reicht noch weiter. Daß Arnolfo di Cambio für die „gotische“ Madonnenstatue am Grabmal des Kardinals Guillaume de Braye in Orvieto (†1282) eine antike Sitzstatue vom Typ Tyche oder Abundantia wiederverwendete (sie nicht etwa nachschuf, sondern buchstäblich eine vorgefundene antike Statue wiederverwendete und der heidnischen Göttin dann ein – nun wirklich selbstgefertigtes – Jesuskind in die Hand drückte), wurde erst jüngst von Angiola Maria Romanini erkannt (Abb. 21)75 und von den Kunsthistorikern, die trotz der Antikennähe dieses großen Bildhauers doch noch einige spezifisch arnolfische Unterschiede zum antiken Vorbild erkennen wollten, mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Man wüßte gern, wie weit das den Zeitgenossen des Bildhauers bekannt (oder ob eine interpretatio christiana des Versatzstücks vorausgegangen) war. Weniger überzeugen die zahlreichen, angeblich im staufischen Süditalien überarbeiteten antiken Porträtköpfe, auf jeder StauferAusstellung werden es mehr. Die Archäologen halten sie gern für mittelalterlich, die Kunsthistoriker für antik – was an sich kein gutes Zeichen ist, aber doch ein Kompliment an die Antikennähe der Skulptur im staufischen Süditalien sein könnte. Das müssen beide Seiten unter sich ausmachen, der Historiker – gerade zu Friedrich II. immer wieder befragt und auf dessen „Menschenbild“ und Herrschaftsauffassung angesprochen – kann da wenig beitragen. Unbestreitbar ist, ebenso wie in Friedrichs großen Manifesten kaiserlicher Ideologie, die intendierte Antikennähe, die gewollte Angleichung an antike Formen auch ohne wörtliche Imi-

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S. unten Anm. 89. Romanini, Vierge De Braye (1994). Andere Fälle sind leichter erkennbar. Daß auch die Antike bereits Wiederverwendung von Statuen kannte, zeigte Blanck, Wiederverwendung (1969).

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tation76. Gezielte Wiederverwendung antiker Statuen aber ist nicht einmal an der programmatischen Schaufassade des Brückentors von Capua nachzuweisen77. Und doch sagt uns das Tor in seiner antikischen Formensprache: So spricht der Kaiser! Friedrich selbst ruht in einer Spolie. Sein Porphyrsarkophag im Dom von Palermo ist aus einer großen Porphyrsäule gearbeitet, die sein Großvater Roger II. aus Rom beschafft hatte, um daraus die Königsgräber der normannischen Dynastie arbeiten zu lassen (die seltsame Verjüngung der Sarkophagtröge erklärt sich aus der Verjüngung verarbeiteter Säulen)78. Eigentlich stand das den Normannenkönigen nicht zu, war Porphyr dem Kaiser reserviert79. Roger griff also hoch – und die Kaiserwürde seines Enkels rechtfertigte die Usurpation des Materials gewissermaßen im Nachhinein. Porphyr war übrigens immer Spolie, denn seit die Steinbrüche des Mons Porphyreticus in Ägypten im 7. Jahrhundert von den Muslimen erobert worden waren und nicht mehr ausgebeutet wurden, war man im Abendland auf Porphyr angewiesen, der schon in der Antike herbeigeschafft und verarbeitet worden war. Für den Bereich der Reliefs (der größte Bestand waren Sarkophagreliefs) und in der Kleinkunst stellt sich die Problematik der Wiederverwendung anders dar, bereitete die Integration weniger Schwierigkeiten – und das wiederum erhöhte die ÜberlieferungsChance. Sarkophage wurden massenhaft wiederverwendet, als Grablege vom Kaufmann bis zum Kaiser, als Reliquienbehälter (und somit auch Altarträger), als Brunnentrog; Sarkophagreliefs konnten sogar kopiert und als Türsturz über Kirchenportalen 76

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Die neueste Bibliographie zum Thema bei A. Esch, Reimpiego e imitazione dell’antico, in: Enciclopedia Federiciana I (im Druck). Anders Meredith, Arch at Capua (1994); hingegen programmatische Spolienverwendung nachweislich am Caroccio-Monument: Guarducci, Carroccio (1984); vgl. Esch, Friedrich II. und die Antike (1996), 206 ff. und 211 ff. Deér, Porphyry Tombs (1959), App. I. S. unten Anm. 95 und 96.

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verwendet werden80 (Abb. 9). Und Objekten antiker Kleinkunst begegnet man nicht nur in der Ausschmückung liturgischen Geräts durch herrscherliche Stiftung, sondern auch auf niederster Rezeptionsebene: Verlangen nach römischen „Antiquitäten“ (Gemmen, ja einzelne Mosaiksteinchen) trifft man selbst in frühmittelalterlichen Siedlungsschichten des dänischen Ribe81. Doch müssen die Bereiche von Relief und Kleinkunst hier beiseite bleiben. Für die Vollplastik hingegen gilt, und das sei noch einmal betont, daß ihre Überlebens-Chance über der Erde verschwindend gering war – auch in Rom selbst mit seiner einst riesigen Statuenpopulation82, von denen so wenige übrigblieben, daß man sie dann alle mit Namen benannte und sie zu den Lebenden sprechen ließ („Statue parlanti“). Aber nicht nur das: der ursprüngliche Statuenbestand war nicht einfach verringert, sondern in seiner Zusammensetzung, seinen Proportionen, ein völlig anderer geworden: nicht repräsentativ, sondern in spezifischer Auslese. Wir gehen bei der Beurteilung eines überlieferten Bestandes unreflektiert zu sehr von der Vorstellung aus, da habe wohl irgendwann einmal die allesverzehrende Zeit zugeschlagen und den ursprünglichen Bestand zwar drastisch, aber einigermaßen unter Wahrung der Proportionen („von jedem ein bißchen“) reduziert. Wir bedenken zu wenig, daß bei solchen Reduktionen nicht nur der (über den Menschen erhabene) Überlieferungs-Zufall spielt, sondern eben auch die (vom Menschen irgendwo mitbedingte) unterschiedliche Überlieferungs-Chance wirkt, die eine Textgattung, eine Skulpturengattung, eine Baugattung hat83 (Fachliteratur mehr als Pan80

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Colloquio sul reimpiego dei sarcofagi (1984); Esch, Spolien (1969), 4750; Herklotz, Sepulcra (1985), bes. 104 ff.; Settis, Continuità (1986), bes. 399 ff. und 480 f.; und zuletzt die Beiträge von W. Cupperi, P. L. Tucci und T. Barbavara di Gravellona in: Senso delle rovine (2002), 141-217. Clemens, Tempore Romanorum (2003), 231 f. Zahlen bei Th. Pekáry, Der römische Bilderstreit, Frühmittelalterliche Studien 3, 1969, 13-26. Esch, Überlieferungs-Chance (wie Anm. 5): am Beispiel von Archäologie und Kunstgeschichte 567 ff., von literarischen Gattungen 552 ff.

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egyrik, bekleidete Männerstatuen mehr als unbekleidete Frauenstatuen, Marmorstatuen mehr als Bronzestatuen84, Saalbauten mehr als Tempel-Cellae, usw.), und die sich aus den Bedürfnissen und Vorlieben der nachantiken Generationen bestimmt. Von dem, was nicht unter die Erde gerät, wird überleben nur, was spätere Generationen für verwertbar halten, um-nutzen, sich an-eignen, wiederverwenden. Das ist eine der elementaren Einsichten, auf die wir es hier absehen. Das aber heißt: die Renaissance mußte zunächst von einem Antiken-Bestand ausgehen, den ihr das odiose Mittelalter ausgelesen hatte. Für das große Unternehmen „The Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance“ (das von Humboldt-Universität, Warburg Institute, Bibliotheca Hertziana und Getty Research Institute gemeinsam geförderte „Verzeichnis von Werken antiker Kunst und Architektur, die in der Renaissance bekannt waren“) ist es zentral wichtig, eine genaue Vorstellung zu haben von dem mittelalterlichen Filter, der nur Weniges in ganz spezifischer Auslese durchließ, das dann „in der Renaissance bekannt“ war85.

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Das war sogar schon dem Mittelalter bewußt, wie die Mirabilia urbis Romae (Volgarefassung) zeigen: die „Philosophen“ Praxiteles und Phidias wünschen sich ihre memoria (Rossebändiger auf dem Quirinal) nicht aus Metall per la malitia et avaritia ke inverrà co’ li abitatori de Roma, sondern aus Marmor (Codice topografico della città di Roma, a cura di R. Valentini e G. Zucchetti, Bd. 3, Roma 1946, 131); s. auch A. Thielemann, Roma und die Rossebändiger im Mittelalter, Kölner Jahrbuch 26, 1993, 85-131. Ähnlicher Fall s. Esch, L’uso dell’antico (2001), 17 f. Über das Konzept Ph. P. Bober, The Census of Antiquities Known to the Renaissance. Retrospective and Prospective, in: Roma centro ideale della cultura dell’Antico nei secoli XV e XVI, a cura di S. Danesi Squarzina, Milano1989, 372-381; über Fortgang und Ergebnisse unterrichtet die von H. Bredekamp und A. Nesselrath herausgegebene Zeitschrift Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike; aus der Sicht des Historikers Esch, A Historian’s Evaluation (1996).

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Jedenfalls darf niemals vergessen werden, daß dieser Ausleseprozeß ein eminent historischer Vorgang ist, der in die Kompetenz auch des Historikers fällt. Und eben darum muß der übrig gebliebene Bestand historisch aufgefaßt werden, sagt er über das auslesende Mittelalter nicht weniger aus als über die ausgelesene Antike. Freilich: was dabei ausgeschieden wurde, was das Mittelalter also nicht rezipierte, kann wiederum nur der Archäologe aus seiner Kenntnis des ursprünglichen Bestands beurteilen. Man muß für unsere Fragestellung nicht einen Phidias von einem Polyklet unterscheiden können, und nicht eine römische Kopie von einem griechischen Original, sondern man muß die Typologie der Statuen kennen, ihre Attribute und deren Interpretierbarkeit. Und wie der Ausleseprozeß ein historischer Vorgang ist, so stehen auch die Phasen wechselnder Intensität von Antikenwahrnehmung und Spolienverwendung in historischen Zusammenhängen. Für die auffallende Zuwendung zu antiken Stücken im Hochmittelalter hat man jüngst eine überraschende Erklärung zu geben versucht, die, sozusagen in Makro, das Phänomen aus einer großen Ursache fern aller Kunst ableitete und der Diagnose des Kunsthistorikers, Spolienverwendung sei am ehesten dem romanischen Baustil entsprechend, eine materielle Grundlage unterzuschieben versuchte: „objects not ideas“, wie der Kunsthistoriker Michael Greenhalgh formulierte. Demnach hätte die starke Bevölkerungsvermehrung, die in der Tat Europa und zumal Italien vom 11. bis zum 13. Jahrhundert erfaßte, durch die Niederlegung der zu eng gewordenen antiken Stadtmauern und das Expandieren der Städte längs der alten, von römischen Grabmälern gesäumten Ausfallstraßen die Verfügbarkeit antiker Stücke drastisch erhöht, und das wiederum habe zu intensiverer Antikenwahrnehmung und Spolienverwendung geführt86. Gewiß hat die verstärkte Bautätigkeit und das Abtragen jener spätantiken Notmauern, die in Krisenzeiten Baustücke und Reliefs 86

Greenhalgh, Survival (1989), bes. 1 ff. und 62 ff.; dazu Esch, Bevölkerungsvermehrung (1990).

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hastig wiederverwendet hatten und nun freigaben, zu mehr verfügbarem Material geführt. Aber Bevölkerungskurve und „curve of interest“ an der Antike in solch direkte Beziehung zu setzen, ist denn doch allzu kurzgeschlossen. Wäre Spolienverwendung nur eine Frage des Angebots, also der Verfügbarkeit herumliegenden Materials, dann würden sich viele Fragen von vornherein erübrigen. Aber man hat Antike eben nicht nur aufgelesen, man hat sie auch gesucht: Verfügbarkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Aneignung von Antike – und manchmal nicht einmal das. Denn auffallend, ja bewegend, ist doch gerade, daß Städte, die über keine oder nur wenig Antike verfügten, Verlangen danach hatten und sich um die Beschaffung antiker Stücke bemühten. Venedig etwa, als nachantike Gründung ganz ohne Antikenvorrat, besorgte sich davon allein für S. Marco ganze Schiffsbäuche voll. Auch von Pisa, das nur wenige antike Monumente besaß, hörten wir bereits, daß es sich massiv Bauglieder beschaffte, ja es legte dabei sogar Wert darauf, daß die Stücke nicht irgendwoher, sondern aus Rom stammten87, um so seine Romanitas pisana zu demonstrieren. Die Rivalin Genua, wo monumentale Bauten, von denen die lokalen Spolien herrühren könnten, bisher nicht nachgewiesen sind, versah die Portale aller vier Kirchenneubauten des 12. Jahrhunderts mit Türstürzen aus antiken Gesimsen und vermauerte an seiner Kathedrale seit dem frühen 13. Jahrhundert ostentativ nicht weniger als 19 (wohl gleichfalls importierte) Sarkophage88. Auch Florenz war nicht gerade mit antichità gesegnet – und doch wird es zum Zentrum der Frührenaissance! Umgekehrt gab es Städte wie Rom, in denen Antike in Fülle verfügbar war und doch, von einigen Eruptionen 87

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Indizien für die Provenienz s. o. bei Anm. 28; Romanitas pisana: G. Scalia, „Romanitas“ pisana tra XI e XII secolo, Studi medievali IIIa ser. 13, 1972, 791-843; vgl. Settis, Continuità (1986), 395 f. und 432. Dufour Bozzo, Reimpiego (1979); Dagnino, Scultura (1987); Müller, Trophäen (2002): dazu meine Besprechung in Kunstchronik 57, 2004, 521-525. Für Import spricht auch, daß es sich bei den Genueser Spolien meist um Einzelstücke handelt, die zeitlich und qualitativ stark differieren.

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heftiger Antikenverklärung abgesehen, über lange Phasen keine nachhaltige Wirkung ausübte: sonst hätte die Renaissance ja früh in Rom beginnen müssen. Schon diese einfache Gegenprobe zeigt, daß das Argument der Verfügbarkeit kein großes Gewicht haben kann. Interessanter als das Angebot ist eben – wie so oft in unseren historischen Fächern – die Nachfrage, hier: die Nachfrage nach Antike, denn sie läßt Wahrnehmung, Empfänglichkeit, Absicht sichtbar werden, die der Wiederverwendung eine Bedeutung, eine geistige Dimension geben. Und so werden wir auf einfache Erklärungen wohl doch verzichten und bei den guten alten (mühsamen) geistesgeschichtlichen Deutungsversuchen bleiben müssen. Nein: Antike muß man nicht haben, Antike muß man wollen! Und man wollte sie. Antike ist in Italien integrierender Bestandteil städtischer Identität, die literarische Gattung des „Städtelobs“ endet hier immer irgendwo bei den Römern (oder, Rom noch überholend, bei den Trojanern). Und auch nördlich der Alpen konnte eine Stadt mit zentralörtlichen Funktionen das Bedürfnis nach mehr repräsentativer Ausstattung und auf Caesar zurückreichender Gründungslegende empfinden – was nicht ausschloß, daß lebendige Großstädte wie Köln dabei gleichwohl ihre eigenen antiken Monumente schonungslos auffraßen. Italienischen Städten konnte anderes einfallen als Caesar: Mantua besinnt sich früh auf seinen großen Sohn Vergil, Padua auf Livius, Sulmona auf Ovid (wer keinen Heros hat, erfindet sich einen)89; und wenn man nach ihren Gebeinen suchte, dann natürlich in antiken Sarkophagen. Wiederverwendete Antike verleiht einem Bau – in Rivalität mit einer anderen Kathedrale, einer anderen Kommune – neben 89

Neben der reichen lokalen Literatur s. etwa die Beiträge von C. Frugoni, M. Miglio, M. Greenhalgh, G. Cantino Wataghin in: Memoria dell’antico (1984-86), Bd. 1; zu den einzelnen Statuen Gramaccini, Mirabilia (1996), Teil II; Esch, L’uso dell’antico (2001), bes. 13 ff.; s. auch Herklotz, Antike Denkmäler (1999). Norden: Clemens, Tempore Romanorum (2003), 342 ff., mit interessanten Abweichungen vom Caesar-Typus.

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Schönheit und Monumentalität auch Alter und somit Rang: sogar der einzelne erhaltene und vermauerte Buchstabe einer monumentalen römischen Inschrift kann dazu noch beitragen. Bemerkenswert die programmatische Spolienverwendung, die „politische Archäologie“90: wie häufig die Spolie zum Hoheitszeichen einer italienischen Kommune wurde und wie häufig man sie als Trophäe nach siegreichem Feldzug ausersah – wie häufig sie also dem Historiker begegnet. Als Hoheitszeichen, bei dem Urteile gesprochen, der Amtseid geleistet, das Eichmaß genommen, Gesetze verkündet werden (Abb. 11 u. 12): denn das antike Stück belegte sichtbar Alter und Bedeutung der Stadt. Als Trophäe (und das ist ja die ursprüngliche Bedeutung von spolia, „Beute“, spolia opima): denn oft war es das ansehnlichste Stück, dessen man habhaft werden konnte, ja vielleicht war es sogar das Hoheitszeichen der unterlegenen Stadt gewesen (wie die Reiterstatue des Regisole in Pavia, 1315 von den Mailändern entführt und von den Pavesen zerschlagen zurückgekauft), symbolträchtig wie die gern weggeführten Kirchenglocken, Torflügel oder Hafenketten, nur schöner91. Daß man sich gegenseitig auch Antiken raubt, weil sie dem Gegner etwas bedeuten, weil man ihn damit ins Herz trifft: daß die Antiken also im Herzen der Kommune sind, das ist es, was wir erkennen müssen. Dieser Antikenbezug diente freilich einer Gegenwart und nicht antiquarischen Zwecken, hatte legitimie90

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So P. E. Schramm, Kaiser, Rom und renovatio. Studien und Texte zur Geschichte des römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum Investiturstreit, Studien der Bibliothek Warburg 17, Leipzig 1929, 215; zum historischen Hintergrund am Beispiel Roms die Beiträge in: Rom im hohen Mittelalter. Studien zu den Romvorstellungen und zur Rompolitik vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, hg. von B. Schimmelpfennig / L. Schmugge, Sigmaringen 1992. Zum Trophäen-Charakter von Spolien (in Genua zwar selten, aber zu Fragestellung und Forschungsstand:) zuletzt Müller, Trophäen (2002), 47 ff.; Beispiel Pavia: Heydenreich, Regisole (1959); C. Saletti, Il Regisole di Pavia, Biblioteca di Athenaeum 35, Como 1997.

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rende Funktion und kalkulierte gewiß auch magische, apotropäische Wirkung ein. Daß die antiken Skulpturen dann nach Jahrhunderten bisweilen kaum noch (oder nur unter Beiziehung des Archäologen) als solche zu erkennen sind, das hat Antike so an sich, wenn sie einem Alltag dient: ein italienischer Marktplatz ist schließlich kein Museum. Jedenfalls wiesen diese ostentativ wiederverwendeten antiken Stücke in der ihnen zugelegten Bedeutung weit über ihren augenscheinlichen Wert hinaus, ob es nun lokale Antike oder importierte Antike war. In den Spolien-Trophäen der italienischen Seerepubliken spiegeln sich dem Historiker geradezu deren Kriegsschauplätze und Handelsräume wieder: Heiliges Land (die Rivalität zwischen Venedig und Genua reichte bis dort), Konstantinopel (allein schon die 1204 von den Venezianern hier erbeutete Antike!), ägäische Inseln, adriatische Küste. „Dieser Engel [gemeint ist die zentrale weibliche Figur oder der Genius auf einem antiken Sarkophag] wurde im venezianischen Golf in der Stadt Korcˇula erbeutet“ (iste angelus captus fuit in gulfo Venetiarum in civitate Scurzole), heißt es in monumentaler Inschrift unter einem Jahreszeitensarkophag (Abb. 16), der zum Zeichen des Seesiegs eines Doria über die venezianische Flotte (1298 vor der Insel Korcˇula) in die Fassade der Familienkirche S. Matteo in Genua eingelassen wurde und zugleich Grabstätte des Siegers war92. Ein weiteres Motiv also unter den zahlreichen Motiven von Spolienverwendung. Die Frage nach den Motiven der Spolienverwendung darf für den Archäologen außer Betracht bleiben, für Kunsthistoriker und Historiker steht sie geradezu im Mittelpunkt. Sie sei, da nicht beide Seiten gleichermaßen angehend, hier nur noch knapp und nicht in allen ihren Facetten behandelt93. 92

93

Müller, Trophäen (2002), 116-122, 126 f., 244; die Siegesinschrift verläuft quer über die ganze Fassadenbreite; die Grabschrift klein auf dem Sarkophagdeckel (aber schon links außerhalb beginnend, dazu S. 119). Zum Spektrum der Motive Esch, Spolien (1969), bes. 42 ff.; Settis, Continuità (1986), 391 ff.

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Natürlich steht an erster Stelle der Wunsch, zur Beschleunigung und Verbilligung der eigenen Bauvorhaben auf sozusagen schon vorgefertigte Blöcke zurückgreifen zu können. Was oben über die bequeme Verfügbarkeit herumliegender antiker Bauglieder gesagt wurde – daß diese objektive Voraussetzung gewiß der häufigste Anlaß zur Spolienverwendung war, aber nicht der einzige und schon gar nicht der interessanteste –, das gilt auch hier. Daß sich ein Stück, das da herumlag und gerade Kanten hatte, zur Wiederverwendung geradezu aufdrängte, ist zwar gewiß richtig. Aber schon jene Beobachtung, daß lapis quadr[at]us in mittelalterlichen Quellen mehr besagt als bloß gerade Kanten und bequeme Verwendbarkeit, sondern die Ansehnlichkeit des antiken Quaders anspricht, besagt doch, daß selbst die Verwendung bloßer Quadern mehr sein konnte als bloßes Recycling: ‚unzerstörbar‘, sagt von solchen Quadern Hermann von Reichenau; ‚fugenlos kompakt‘‚ urteilt Otto von Freising; ‚unersetzlich‘, sagen die Colonna im Prozeß gegen Bonifaz VIII.; ‚nicht so schäbig wie heute‘, hörten wir aus dem Anjou des 12. Jahrhunderts94. Bezeichnet dies gewissermaßen die unterste Stufe der Spolienverwendung, so wäre ein oberer Grad auf der Stufenleiter wachsenden Bewußtseins im Umgang mit der Spolie etwa ihre legitimierende Funktion. So vor allem – und vom Historiker besonders wahrgenommen – die „ideologische“ Wiederverwendung, die Instrumentalisierung zu politischen Zwecken. Beide Universalgewalten, Kaisertum wie Papsttum, haben sich die Antike auch in 94

Hermann von Reichenau, Chronicon (MGH.SS 5, 132 [ad 1053]); Otto von Freising / Rahewin, Gesta Friderici, III 46 (ad 1158 Mailand); Klageartikel der Colonna (1303-11): P. Petrini, Memorie prenestine disposte in forma di Annali, Roma 1795, 430; weitere Esch, Spolien (1969), Anm. 164; Anjou: s. oben Anm. 61. Oder 1084 über den mörtellosen Quaderverbund („mit Eisen[klammern] und Blei[verguß]“) im flandrischen Oudenburg: Clemens, Tempore Romanorum (2003), 388 f.; und an der Porta Nigra in Trier (ex incredibili lapidum magnitudine ferro iunctorum compacta) Otto von Freising, Chronicon I 8, vgl. Esch, L’uso dell’antico (2001), 24.

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ihren sichtbaren Überresten dienstbar gemacht. So wenn Porphyr, gleichsam der Purpur unter den Steinen und darum dem Kaiser vorbehalten, bewußt von den Päpsten (dann auch von den Normannenkönigen) spoliiert, gewissermaßen usurpiert wird95 gemäß dem – aus der angeblichen Konstantinischen Schenkung abgeleiteten – Anspruch des Dictatus pape Gregors VII. Quod solus [papa] possit uti imperialibus insigniis96 (daß Porphyrmaterial in nachantiker Zeit immer Spolie war, wurde schon gezeigt). An den großen Kirchenneubauten im Rom der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts setzt das – durch die Kirchenreform selbstbewußt gewordene – Papsttum massiv und überlegt Spolien ein. Aber auch die kaiserliche Seite bedient sich der Spolie: antike Stücke werden sogar nach Norden geschafft, in karolingischer Zeit nach Aachen, in ottonischer Zeit bis nach Magdeburg97. Rom, hier oben einst zurückgeschlagen von den Germanen, wird jetzt von ihnen in kleinen Stücken hierhergeholt! Das ist nicht bloßes Antikenzitat, das ist translatio Romae und vom Historiker zu erklären. Allerdings: ob man sich mit Provinzialrömischem begnügte, oder ob es Stadtrömisches sein mußte, das kann, wenn schriftliche Quellen fehlen, nur der Archäologe am Objekt entscheiden (und auch das nicht mit letzter Sicherheit: so durchgängig gut waren die stadtrömischen Werkstätten nicht, so durchgängig schlecht – oder retardiert – nicht die in der Provinz, daß es darüber stets zu einhelligem Urteil käme). Im Historiker wird, wenn einer weitab gefundenen Spolie vom Archäologen „stadtrömische Arbeit“ 95 96

97

De Blaauw, Papst und Purpur (1991); Deér, Porphyry Tombs (1959). Das Register Gregors VII., hg. von E. Caspar, MGH.Epp.sel. II 1, Berlin 1920, 201-203, VIII. Meckseper, Spolien (1996): offensichtlich aus Italien, nicht aus dem nahen römischen Rheinland, wo Spolienverwendung natürlich anders zu bewerten ist. Für den karolingischen Norden zuletzt Effenberger (1999) und H. Brandenburg, Zwei Marmorkapitelle aus der kaiserlichen Pfalz Ingelheim im Landesmuseum zu Mainz. Zur Frage der Spolienverwendung im frühen Mittelalter, in: Munus. Festschrift für H. Wiegartz, hg. von T. Mattern, Münster 2000, 47-60.

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attestiert wird, sogleich die Frage zu rumoren beginnen, warum man denn damals, statt sich mit lokalen oder nächstbenachbarten Baustücken zu begnügen, auf römische Provenienz Wert gelegt habe. Nur sollte man dabei auf die von den Archäologen leicht vergebene Herkunfts-Zuweisung „stadtrömisch“, die ja in erster Linie Qualitäts-Urteil ist, nicht allzu Vieles, nicht ganze translationes Romae bauen (denn darauf läuft es beim Historiker oft hinaus). Der Wert des Falles Pisa98 liegt eben darin, daß die – von der Kommune gewollte – stadtrömische Herkunft der Spolien von den Archäologen nicht durch stilkritische Diagnose allein, sondern durch handfeste Nachweise belegt werden konnte: unverwechselbare Figuralkapitelle, ein Fries teilweise in Rom verblieben, Inschriften aus Ostia. Und nur der Archäologe kann beurteilen, ob man innerhalb des verfügbaren antiken Materials wahllos alles übernahm oder aber eine bestimmte Antike auswählte: ob man zum Beispiel in Venedig anders als in Rom oder im 13. Jahrhundert anders als im 12. Jahrhundert, sagen wir, strengeren Formen oder aber antoninischem ‚Barock‘ oder aber Frühchristlichem den Vorzug gab. Man hat diese Frage, deren Beantwortung natürlich viel aussagen würde, selten gestellt, eine solche Option nie nachgewiesen. Nur komme man dem Historiker nicht mit der These, dem Ghibellinen sei mehr „das Klassische“ (und somit womöglich die Spolie), dem Guelfen mehr „das Gotische“ angemessen99. Bei aller Vielfalt der Motive, die man in mittelalterlicher Spolienverwendung feststellen oder vermuten kann, vergesse man aber nicht das eine: die schiere Bewunderung für die ungewöhnliche Schönheit des antiken Stückes ohne weitere Beimengung von Legitimierungsabsichten oder interpretatio christiana (wie sie dem Mediävisten bisweilen allzu leicht einfallen). Dieser letzte und höchste Beweggrund darf vor allem im 12. und frühen 13. Jahrhundert nicht ausgeschlossen werden. Ob man von kirchlicher 98 99

S. o. bei Anm. 29 und 87. Vgl. Esch, Friedrich II. und die Antike (1996), 224 f.

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Seite daran auch einmal Anstoß nahm und, wie im literarischen Ambiente nachweisbar100, tadelnd ein Ciceronianus es, non christianus vorbrachte, so als schlössen Bewunderung für die heidnische Antike und christlicher Glaube einander aus, wissen wir nicht. Gegebenenfalls wäre wohl auch leichter eine Entgegnung eingefallen (das heidnische Stück zu höherer Ehre Gottes in geweihter Mauer geknechtet und ähnliche Schutzbehauptungen). Oder man hat eine interpretatio christiana erst im Nachhinein erdacht: angesichts der erstaunlichen Reihung römischer Grabsteine an der Kathedrale von Benevent, doch wohl in dekorativer Absicht vermauert (Abb. 17), werden die Gläubigen gewiß gefragt haben, was diese 17 Halbfiguren denn wohl bedeuteten – und gewiß werden sie eine befriedigende Antwort erhalten haben. Auf die genaue Zahl kam es dabei nicht an, auch ein römischer Kindersarkophag mit 6 Putten wird zu Augsburgs „Sieben Kindlein“. Aber es mag doch sein, daß die Auffindung von 2 Grabsteinbekrönungen mit 3 bzw. 4 (insgesamt also 7) wahrhaft kümmerlichen Büsten und ihre Vermauerung in die – auch sonst äußerst spolienhaltige – spätmittelalterliche Landkirche von Rotthof bei Passau, vielleicht erst in frühhumanistischer Zeit, zu einem (seltenen) Siebenschläfer-Patrozinium geführt hat. Wirklich Anstoß an „heidnischen“ Spolien scheint erst die nachtridentinische Kirche genommen zu haben101 – und solche kirchliche Spolien-Polemik wurde zum Anlaß der ersten kompetenten Spolien-Monographie: der Apologie Giovanni Marangonis Delle cose gentilesche e profane trasportate ad uso e adornamento delle chiese, Rom 1744.

100

101

H. Fuhrmann, Cicero und das Seelenheil, oder Wie kam die heidnische Antike durch das christliche Mittelalter?, Lectio Teubneriana 12, München / Leipzig 2003. H. Jedin, Das Tridentinum und die bildenden Künste, Zeitschrift für Kirchengeschichte 74, 1963, bes. 331 ff. Am Beispiel des Spinola-Grabmals mit seinen „Fabeln“, „Götzenopfern“, „nackten Frauen“ (es war ein Dionysos-Sarkophag, was der Visitierende sah) Müller, Trophäen (2002), 166 f. und 240 f.

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Daß Archäologe und Historiker dasselbe Sujet, ja dasselbe Bild aus unterschiedlicher Perspektive betrachten und dabei beide Wichtiges sehen, sei zum Abschluß an den Bildern eines Malers gezeigt, der für sein Antiken-Interesse, ja seine archäologischen Kenntnisse bekannt ist: Andrea Mantegna. Was in vielen seiner Bilder – beispielsweise dem Hl. Sebastian im Louvre, dem Hl. Sebastian in Wien – im Vordergrund so an Antiken herumliegt, ist mit perfekter Sachkenntnis und äußerster Detailtreue gemalt: Figuralkapitelle, Relieffragmente, selbst die Zierstäbe in ihrer kanonischen Form; ja sogar Inschriften sind mit solcher Treue abgebildet, daß das Corpus Inscriptionum Latinarum sie teilweise identifiziert hat. Man glaubt geradezu, das gemalte Inventar eines Museums vor sich zu haben (oder sagen wir weniger anachronistisch: das gemalte Inventar einer frühen Antikensammlung in Padua oder in Rom, wie wir sie aus Nachlaß-Inventaren der Zeit kennen). Das ist Mantegna der Archäologe, der Altertümer ausstellt und in der Kostümierung der Figuren mit akademischer Korrektheit und antiquarischem Purismus eine bestimmte Zeitebene – die römische zur Zeit Christi – zu rekonstruieren sucht. Das mußte man damals einfach können, um vor den humanistischen Ratgebern auftraggebender Fürsten noch bestehen zu können – und Mantegna selbst wollte das auch gar nicht anders. Der Historiker sieht an den gleichen Bildern anderes: den – weniger beachteten – Hintergrund nämlich, wo Mantegna häufig Stadtmauern darstellt, an denen er absichtsvoll die Wirkung der Zeit, der Geschichte, sichtbar macht102. Da sieht man, etwa in der Begegnungsszene in Mantua oder dem Gethsemane-Bild in London, gewaltige Stadtmauern dargestellt (man hat gemeint, Mantegna habe die Stadtmauern von Rom vor Augen gehabt, oder die Landmauer von Konstantinopel103, die Hans Lietzmann

102 103

Esch, Mauern bei Mantegna (1984). M. Vickers, Mantegna and Constantinople, Burlington Magazine 118, 1976, 680-687; doch ist Rom viel wahrscheinlicher.

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beschäftigt hat), jedenfalls Mauern von besonderer Art, denen die Geschichte schon einiges angetan hat: man sieht alte Tore zugemauert und neue geöffnet; antike Triumphbögen umfunktioniert zum Stadttor, und die vermauerten Bögen eines Aquädukts zur Stadtmauer; sieht Mauerbreschen mit helleren Ziegeln geflickt (und damit wir solche Baunähte auch wirklich merken, sind sie von Mantegna durch Triefspuren frischen Mörtels hervorgehoben); da werden auf antike Bossenquadern nachantike Ziegellagen gepackt; ja da werden an Mauern sogar eingefügte Spolien – Reliefs, beschriftete Altäre, Bossenquadern – ins Bild gebracht (Abb. 24). Und das ist nun Mantegna der Historiker: Mauern als historisches Konglomerat, als Ergebnis eines historischen Prozesses – geradezu Porträts von Mauern, denen Mantegna die Narben ihrer Geschichte eingräbt und ihnen so eine historische Tiefendimension gibt, ja noch mehr: hier wird Wiederverwendung (von ganzen antiken Monumenten oder einzelnen antiken Stükken) selbst zum Thema! Aber es bleibt als Thema im Hintergrund, buchstäblich im Hintergrund von Mantegnas Bildern. Und das ist vielleicht auch der richtige Platz, wenn wir unser Thema, die Spolien, in den größeren Zusammenhang der Begegnung des Mittelalters mit der Antike einordnen wollen. In dieser größeren Thematik hat Spolienverwendung gewiß einen geringeren Stellenwert als manche anderen Bereiche in dieser Begegnung, mit ihren Rückgriffen auf die Antike in Literatur und Dichtung, in Philosophie und Naturwissenschaft und Recht. Aber Spolienverwendung läßt in besonders anschaulicher Weise ein breites Spektrum in den Motiven der Wiederverwendung von Antike zutage treten. Hier wurde nur zu zeigen versucht, was dieser Ausschnitt auszusagen vermag, wenn Archäologen und Historiker ihre Kompetenzen, ihre Perspektiven zu gemeinsamer Erkenntnis zusammenführen, ohne dabei ihre spezifischen Methoden unzulässig zu vermengen.

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Bildlegenden 1. Spolien-Alltag. Ein antikes Gebälkstück irgendwann als Schwelle verlegt im südlichen Durchgang der Porta Maggiore in Rom. Die tiefe Radspur der lange darüber hinweggehenden Wagen hat das Stück, mit Perlstab und Eierstab, fast schon zerteilt. 2. Spolienverwendung in Italien: massenhaft auch wo nicht augenfällig. Corfinio bei Sulmona, Basilica Valvense mit Oratorio di S. Alessandro und Torre episcopale, frühes 12. Jh.: Spolien von der Nekropole der hier vorbeiziehenden Via Valeria. Pfeile (von links): Inschrift / Inschrift / Rankenfragment / Inschrift / Rosette / Inschrift / Inschrift / Inschrift / Rankenplatte / Rankenplatte / Inschrift. 3. Spätantike Notmauer aus wiederverwendetem Material. Seit den Germanenstürmen des 3. Jhs. n. Chr. wurden, besonders in den Städten Nordgalliens und Oberitaliens, vielfach Notmauern angelegt, die den weiten Mauerring auf ein Réduit (z. B. zwischen den öffentlichen Gebäuden des Stadtzentrums) zurücknahmen. Zu diesem Zweck wurden in aller Hast ganze Gräberstraßen abgeräumt, Ehrenbögen demontiert und auch dekorative Elemente rein funktional aufeinandergetürmt (hier erkennbar Reliefs, Inschriften und die – ursprünglich natürlich nicht sichtbare – Anathyrose, die leichte Aushöhlung der nur auf ihren Kanten ruhenden Blöcke). Französische musées lapidaires bestehen bisweilen zum großen Teil aus solchen im frühen 19. Jh. niedergelegten Notmauern (als Intendant der historischen Altertümer kümmerte sich Prosper Mérimée darum). Hier die sogenannte Gallienus-Mauer in Verona. 4. Antikes Gesims, wiederverwendet und ergänzt, über dem Portal der Zeno-Kapelle in S. Prassede in Rom. Um dem Gesimsstück in seiner neuen, abgelösten Verwendung einen gefälligen Abschluß zu geben, hat der Steinmetz des frühen 9. Jhs. die Zierleisten der Front noch um die – ursprünglich natürlich unbearbeiteten – seitlichen Schnittflächen herumgeführt, Eierstab und Zahnstab möglichst getreu, aber vereinfacht imitierend (Zahnstab ohne die „Brillen“ des antiken Vorbilds, Eierstab nicht hinterarbeitet).

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5. Spolienbeschaffung auf weite Entfernung. Eines von drei Figuralkapitellen (mit Adlern, geflügelten Blitzen, Köpfen als Abakusblüte), die nach Typus und Abmessungen aus den Caracalla-Thermen in Rom stammen müssen: wiederverwendet und ‚restauriert‘ im frühen 12. Jh. in Pisa (Dom), das auf stadtrömische Provenienz seiner Spolien Wert legte. 6. Antike verarbeitet. Monumentale antike Inschrift verwendet zur Aufnahme von (wohl aus spoliierten Buntmarmoren geschnittenen, jetzt verlorenen) Einlagen, ohne daß die antiken Buchstaben getilgt worden wären: am romanischen Campanile der in die Thermen von Albano eingebauten Kirche S. Pietro. 7. Spolien vom Ort. Italienische Landkirche im Hochzeitsschmuck: Pieve S. Pudenziana di Visciano bei Narni. Spolien sind auch die beiden Inschrift-Blöcke, die den Bogen des Giebelfensters tragen. 8. Der verloren geglaubte 54. Meilenstein der Via Appia, im 13. Jh. verarbeitet zum Träger des Waschbeckens vor dem Refektorium im Kreuzgang der Zisterzienserabtei Fossanova bei Terracina. Zu erkennen sind die untere Rahmung der trajanischen Inschrift und die Zählstriche LIIII, nämlich 54. Meile ab Rom der hier in 10 km Entfernung vorbeiziehenden Konsularstraße. 9. Imitierte Spolie: Sarkophag mit Meer-Kentauren und dem Porträt des Verstorbenen im Clipeus als Türsturz an der Kathedrale von Calvi Vecchia bei Capua. 10. Inschriften werden, schon wegen ihrer glatten Oberfläche, in großer Zahl wiederverwendet, ohne Tilgung der Buchstaben, auch verkehrt herum, und in aller Regel ohne erkennbare Auswahl. Hier, in der Abtei S. Maria del Piano (nordöstlich Tivoli, 12. Jh.) am Campanile, aber hatte man es offensichtlich auf den eigens herausgeschnittenen Namen abgesehen, auch wenn der Inschriftrest CAESI gar nicht zu CAESAR zu ergänzen ist. Ein ähnlicher Inschriftausschnitt [C]AESAR findet sich am Cosmaten-Grabmal Papst Hadrians V. († 1276) in S. Francesco in Viterbo. 11. Antiken als Hoheitszeichen. Grabinschrift der älteren Agrippina (gest. 33 n. Chr., CIL VI 886, Musei Capitolini). Aus dem Augustusmausoleum aufs Kapitol geschafft und dort, durch Erweiterung der ursprünglich zur Aufnahme der Urne dienenden Höhlung, zum Getreidemaß der römischen Kommune umfunktioniert, mit Einmeißelung der Wappen von Kommune und amtierenden Kon-

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servatoren und zweier Repräsentanten der städtischen Miliz an der rechten Außenseite (14. Jh.). Spoliensäule als Gerichtszeichen in Bari (auch die Löwenfigur könnte, nach Todisco, eine im 12. Jh. überarbeitete antike Skulptur sein). Die radialen Furchen, die aussehen, als habe die Säule Rippen, sind der Abrieb der Glieder einer damals am Säulenhals befestigten Kette, wie sich das häufiger beobachten läßt, z. B. Abrieb der Sperrkette im Durchgang des Trajansbogens in Benevent. Spolien-Orgie. Das venezianische kastro auf Paros, im 13. Jh. errichtet aus dem demontierten Athena-Tempel und einer Porticus an der Agora der antiken Stadt; hier: die Bastion unter der Burgkapelle. Säulen werden in solchen Festungsmauern als Binder manchmal so dicht gepackt, daß ihre Kanneluren wie Zahnräder ineinandergreifen. Spuren nachantiken Lebens an antiken Wänden. An den Arkaden des Kolosseums, in das sich im Mittelalter stellenweise Werkstätten, Wohnungen, Magazine, Kulträume einnisteten, bilden sich Umnutzung und Verwertung in Vertiefungen ab, deren Form interpretierbar ist: Aushöhlungen, um Balken zum Sperren des Durchgangs senkrecht oder waagerecht einrasten zu lassen (und das auf unterschiedlichem Niveau, je nach Epoche); Vertiefungen zum Aufnehmen von Zwischenböden, Vordächern, Wandfächern, Anbinde-Ringen usw. Am auffallendsten die brutalen Aufmeißelungen, mit denen man früh an Metallklammern und Bleiverguß im Innern der Quadern zu gelangen suchte: diese Löcher liegen darum immer in den Fugen. Palimpsest-Wände. Die Dimension der Zeit projiziert auf eine Mauerfläche : nachantike Einbauten ablesbar auf antiken Wänden. Auf der Umfassungswand des Augustusforums in Rom werden, neben den Spuren des Dachstuhls von Mars Ultor-Tempel und benachbarter antiker Bauten, auch die – wieder zugemauerten – Spuren der im Frühmittelalter eingebauten Klosterkirche S. Basilio (später SS. Annunziata) sichtbar, nämlich (rechte Bildhälfte): Eingangsportal, rechts daneben Nische für Seitenaltar, darüber zwei gotische Fenster; die lange horizontale, etwas hellere Eintiefung darüber war das Auflager für das Tonnengewölbe der quer liegenden Kirche; links darüber zwei Glockenfenster (J. Ganzert / V. Kockel, in: Kaiser Augustus und die römische Republik, Ausstellungskatalog 1988, S. 160-162).

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16. Antike als Trophäe. Jahreszeitensarkophag als Grabstätte und Kriegstrophäe des genuesischen Admirals Lamba Doria (†1323) eingelassen in die Fassade der Familienkirche S. Matteo in Genua. Von den zwei zugehörigen Inschriften nennt die eine Lambas Seesieg über die Venezianer bei Korcˇula 1298, spielt die andere ausdrücklich auf die (damals leicht überarbeitete, nun als Engel gedeutete) zentrale Frauenfigur des Spoliensarkophags an: Iste angelus captus fuit in gulfo Venetiarum in civitate Scurzole. 17. Ein Fries von 17 Halbfiguren vermauert am Campanile der Kathedrale von Benevent (12. Jh.). Es handelt sich um 8 römische Stücke vom Typ Freigelassenengrabstein, wie man sie an den Ausfallstraßen (hier: der Via Appia) leicht auflesen konnte, mit je ein bis drei Figuren. Von der genannten Zahl wird man bei der Deutung absehen dürfen: wenn interpretatio christiana vorliegt (oder nachträglich erwartet wurde), können es ruhig auch die 24 Ältesten der Apokalypse oder die Vorfahren Christi oder die 12 Apostel plus die beliebtesten Ortsheiligen gewesen sein – das nahm man nicht so genau wie ein heutiges Handbuch der christlichen Ikonographie. 18. Die antike Statue wahrgenommen als heidnisches idolum und als solches erkennbar gemacht durch Nacktheit, starke Binnengliederung des Körpers, Kontrapost. Hier zerbricht das idolum Apolis, auf den Mosaiken von Monreale bei Palermo (12. Jh.), vor den Heiligen Castus und Cassius; während auf den Mosaiken von S. Marco in Venedig (13. Jh.) eine Episode aus dem Leben des Hl. Philippus die – dem Künstler vielleicht nicht unwillkommene – Gelegenheit bot, eine Mars-Statue darzustellen. 19. u. 20. Wiederverwendung antiker Statuen. Nur eine umfassende Kenntnis des antiken Statuenrepertoires läßt erkennen, daß auch hier Spolienverwendung vorliegt. Das ungewöhnliche Weihwasserbecken in der Kathedrale von Sessa Aurunca (13. Jh.) – ein Hund an marmornem Baumstumpf, daraufgesetzt ein ausgehöhltes Kapitell – konnte als mittelalterliche Arbeit angesehen und etwa als Lechzen der unerlösten Kreatur nach dem heilbringenden Wasser gedeutet werden, bis Noehles (Sessa, 1962) darin die Reste einer Meleagergruppe erkannte: der Jäger ging, bis auf geringe Fußspuren in der Standplatte, verloren; geblieben war nur der Baum als Statuenstütze und der treuherzig zu seinem Herrn (und nun ins Leere) aufblickende Hund. So setzte man einfach ein antikes

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Kapitell auf die Statuenstütze, höhlte es aus und hatte so ein originelles Ensemble, zu dessen Rechtfertigung es im staufischen Süditalien wohl nicht einmal der interpretatio christiana bedurfte. Rechts die vollständige, Skopas zugeschriebene Gruppe, hier der vatikanische Typus. Für die Madonnenstatue am Grabmal des Kardinals de Braye (†1282) in S. Domenico in Orvieto verwendete Arnolfo di Cambio eine antike Sitzstatue vom Typ Tyche oder Fortuna Annonaria: eigene Arbeit ist nur das Bambin Gesù, das Arnolfo der heidnischen Göttin auf den Schoß setzte. Wiederverwendung besonderer Art. Die antike Venus-Statue wurde nicht vernichtet, sondern vor S. Matthias in Trier durch Aufhängung an Ketten wie eine Hexe von der kraftspendenden Erde abgehoben und mit diffamierender Inschrift versehen (… ich war geehret als ein Gott / ietz steh ich hie der Welt zu Spot), von den Gläubigen mit Steinen beworfen. So blieb von der Venus wenig. (Landesmuseum Trier). Spolien-Verarbeitung der Frührenaissance. Ein demontierter römischer Grabbau aus dem Bereich der Via Flaminia verarbeitet zum Ehrenbogen für Kardinal Rodrigo Borgia (den späteren Alexander VI.), bei Civita Castellana. Die spoliierten, ursprünglich geraden Ornamentquadern (Akanthusranken, Bukranien, Inschrifttafel mit Rahmung aus lesbischem Kymation und Perlstab) mußten für den Bogen erst rund zugerichtet werden und wurden durch Randschlag (beim Stierschädel wurde das Kinn hinterarbeitet) gegeneinander abgesetzt. Die Ehreninschrift mit Borgia-Wappen zitiert sogar die antike Grabinschrift („Für Rodrigo Borgia … haben die Bewohner die Reste des verfallenen Grabes des P. Glitius …“: von CIL XI 3097 aus dem Genitiv wieder in den Dativ zurückversetzt!). Der Bogen sollte in der Diskussion über den Triumphbogen in der Architektur-Theorie der Renaissance stärker beachtet werden. Gemalte Spolien. Für die historische Auffassung von Mauerwerk, die aus Andrea Mantegnas Darstellung von Stadtmauern spricht (geflickte Breschen einer Belagerung, zugemauerte Bögen, Baunähte, nachantike Ziegellagen über antiken Quadern), ist es kennzeichnend, daß erstmals auch Spolien ins Bild gebracht werden, hier: Bossenquader mit Randschlag, Altar (?) mit Inschrift und Profil, gerahmte Tafel, alles zusammengepackt in einem Mauerkonglomerat: Hl. Sebastian im Louvre (um 1480), Hintergrund.

Abbildungsnachweis Deutsches Archäologisches Institut in Rom, 11 (Inst.-Neg. 60.774), 16 (68.1363), 17 (30.601), 20 (66.2280). Alinari: 18 (Nr. 33276). Photo Verfasser: 1, 2, 6, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 15, 23. Rheinisches Landesmuseum Trier: 22. Reproduktionsphotos: 3 nach Brusin, Atti R. Istituto Veneto 1939 / 40 tav. 12; 4 nach Müller, Trophäen (2002) Abb. 21; 5 nach Tedeschi Grisanti, Capitelli (1990) fig. 5; 12 nach Gramaccini, Mirabilia (1996) Abb. 93; 19 nach Noehles, Sessa (1962) Abb. 60; 21 nach Romanini, Vierge de Braye (1994) Abb. 1; 24 nach Bellonci / Garavaglia, L’opera completa del Mantegna (1967) tav. 29.

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